Drittes Buch Der Ring der Gegenzeit

Erster Teil - Die Märtyrer der Sternendisharmonie -

1

An jenem Tag stürzte rauschender Regen hernieder, daran erinnere ich mich gut. In der Erdachsenverwaltung hatte es eine Störung gegeben: Das Fest des Großen Sommergewitters sollte erst in einer Woche stattfinden. Die Regengerten peitschten die Fenster, den Boulevard entlang flossen schäumende Ströme.

Ich stieg eilends zur Terrasse des achtzigsten Geschosses hinauf und bot mein Gesicht genießerisch dem unprogrammierten Wolkenbruch dar. Im Nu war ich bis auf die Haut naß. Und als Mary mich rief, reagierte ich nicht. Bestimmt ärgerte sie sich. Auch sonst hatte ich nie einen Wettermantel angezogen, bevor ich in den Regen hinauslief, und das hatte ihr stets mißfallen.

Erneut rief sie. »Eli! Eli! Komm herunter! Romero will mit dir sprechen.«

Da sie Romero erwähnte, folgte ich ihr. Mitten im Zimmer stand Pawel. Selbstverständlich war das sein Abbild, nicht er selbst, aber die Stereoübertragung hat solche Vollkommenheit erlangt, daß zumindest ich den Eindruck körperlicher Anwesenheit habe. Ich möchte dem Gesprächspartner immer die Hand drücken.

»Lieber Admiral, schlechte Nachrichten!« sagte Romero.

Ich bin schon seit zwanzig Jahren nicht mehr Admiral, dennoch nennt er mich nie anders.

»Wir haben endlich geklärt, warum die Expedition unserer Freunde Allan Krus und Leonid Mrawa gescheitert ist. Tief betrübt muß ich Ihnen mitteilen, daß die ursprüngliche Hypothese, es handele sich um eine zufällige Havarie, widerlegt ist. Auch die Vermutung, Allan und Leonid hätten falsch kalkuliert oder unüberlegt gehandelt, hat sich nicht bestätigt. Postum sind all ihre Anordnungen von der Großen Akademischen Maschine gutgeheißen worden. Unsere armen Freunde haben unter den entsetzlichen Bedingungen, in die sie geraten waren, das Beste getan.«

»Wollen Sie sagen, Pawel…«, begann ich, doch er ließ mich nicht aussprechen. Er war derart erregt, daß er seine stete Höflichkeit außer acht ließ.

»Ja, genau das, Admiral! Gegen sie wurden Kampfhandlungen geführt, und sie vermuteten das nicht einmal. Sie meldeten eine spontan eingetretene tragische Situation, während wir gezielte Schläge dechiffriert haben. Sie redeten von Naturphänomenen, während es in Wirklichkeit der Widerstand eines tückischen Feindes war, der unerbittlich Barrieren auf ihrem Wege errichtete. Das waren keine Naturwunder, lieber Admiral, das war Krieg! Unsere erste Expedition zum Galaxiskern hat auf einem Sternenschlachtfeld ihr Ende gefunden, nicht in einem Spiel der Elemente, das ist die traurige Wahrheit über die Fahrt von Allan Krus und Leonid Mrawa.«

Romero drückt sich stets hochtrabend aus. Seit er in den Großen Rat gewählt und zum Haupthistoriographen der Interastralen Union ernannt wurde, hat sich dieser spaßige Charakterzug noch verstärkt. Vielleicht war eine solche Redeweise im Altertum gang und gäbe, mich jedenfalls erbost seine Art manchmal, dieser Stil ist zu hoch für die Dinge des Alltags. Hier jedoch war er angebracht. Vom Untergang der ersten Expedition zum Galaxiskern durfte man anders nichts sprechen. Ich fragte: »Wann werden die Toten beigesetzt?«

»In einer Woche. Admiral, Sie sind der erste, dem ich die Neuigkeiten mitgeteilt habe, und ohne Zweifel erraten Sie, warum wir uns zunächst an Sie wenden!«

»Nur dies unterliegt keinem Zweifel: Ich habe keine Ahnung!«

»Der Große Rat will mit Ihnen konferieren.« Romero sprach so ausdrucksvoll, als vertraue er mir ein Geheimnis an, das nicht minder wichtig wäre als die Lösung des Rätsels um den Untergang der Expedition. »Wir bitten Sie, über das, was ich Ihnen mitgeteilt habe, nachzudenken.«

»Das will ich tun«, sagte ich, und Romeros Gestalt löste sich auf.

Ich zog mir den Wettermantel über und begab mich erneut in den Garten des achtzigsten Geschosses hinauf. Bald darauf gesellte sich Mary zu mir. Ich legte meinen Arm um sie, und wir schmiegten uns aneinander. Der klare Morgen hatte sich in düsteren Abend verwandelt, weder die Wolken noch die Bäume des Boulevards, noch etwa die Gewächse des sechzigsten Geschosses waren zu sehen. Allein der Regen war jetzt in der Welt, glänzend, stimmgewaltig, wohlklingend, derart berauscht von sich selbst und ungestüm, daß ich bedauerte, keine Flügel zu haben. Ich hätte gegen die Ströme dieses frohlockenden Wassers ankämpfen mögen, Flüge mit den Aviettes vermitteln kein so starkes Gefühl.

»Ich weiß, woran du denkst«, sagte Mary.

»Ja, Mary«, antwortete ich. »Vor genau dreißig Jahren bin ich bei ebenso einem Fest des Sommergewitters in den Wasserströmen umhergejagt, und du warfst mir vor, ich zöge eine Schau ab in der Luft.

Wir sind älter geworden, Mary. In dem Geflecht der elektrischen Entladungen könnte ich mich heut nicht mehr behaupten.«

Mitunter erschreckte es mich, um wieviel besser Mary meine Empfindungen versteht als ich selbst. Sie lächelte bekümmert.

»Du hast etwas anderes gedacht.

Es tut dir leid, daß du nicht in jenem Winkel des Weltalls gewesen bist, wo unsere Freunde ums Leben gekommen sind. Du bildest dir ein, die Expedition hätte keine derartigen Verluste erlitten, wärest du dabeigewesen.«

Ich diktiere diesen Text in einem anderszeitlichen Existenzkokon. Was das bedeutet, erkläre ich später.

Vor mir schwebt in einem Kraftfeld bewegungslos eine durchsichtige Kapsel mit dem ewig unverweslichen Leichnam des widerwärtigen Verräters, der uns in einen ausweglosen Abgrund stürzte. Die Raumbildschirme zeigen die Landschaft einer unvorstellbaren, unzulässigen Welt, die Hölle eines katastrophalen Sternenstrudels. Von dieser ungeheuerlichen Welt weiß ich völlig sicher, daß sie nicht mein, nicht menschlich ist, feind nicht nur allem Lebendigen, sondern allem Vernünftigen. Und ich glaube nicht mehr, daß meine Anwesenheit eine Garantie gegen Verluste ist.

Ich trage die Verantwortung für unsere Expedition, und ich führe sie bewußt einen Weg, an dessen Ende wahrscheinlich der Tod steht. Das ist die Wahrheit.

Sollten diese Aufzeichnungen durch irgendein Wunder zur Erde gelangen, so mögen die Menschen wissen : Ich sehe die drohende Wahrheit in ihrem ganzen Ausmaß, und im ganzen Ausmaß bin ich mir meiner Schuld bewußt. Rechtfertigungen habe ich nicht. Das ist keine Verzweiflung, sondern Einsicht.

Doch an jenem Tag auf der schönen grünen Erde, der unerreichbar, unvorstellbar fernen Erde, antwortete ich meiner Frau zur lauten Musik des sommerlichen Wolkenbruchs voller Trauer: »Ich möchte manches, Mary! Die Wünsche verstärken das Beharrungsvermögen der Existenz, zunächst schleppen sie uns vorwärts, dann verzögern sie unser Welken. Jugend und Alter wünschen mehr, als möglich ist. Ich sage dir, ich bin zu alt für meine Wünsche. Uns bleibt eins, meine Freundin: still dahinzuwelken. Still dahinzuwelken, Mary!«

2

Ich war nicht auf dem Kosmodrom, als das Sternenflugzeug aus dem Perseus landete, der Gedenksitzung des Großen Rates blieb ich fern. Die Raumbildschirme in meinem Zimmer schaltete ich nicht ein. Mary schilderte mir die erhabene Trauer der Zeremonie, als die sterblichen Überreste der Astronauten auf die Erde übergeführt wurden. Weinend war sie vom Kosmodrom zurückgekommen. Ich hörte sie an und ging dann schweigend in mein Zimmer.

In den ersten Jahren unserer Bekanntschaft halte mein Verhalten sie gekränkt, und sie hätte mich gefühllos gescholten. Jetzt verstand sie mich. Krankheiten gibt es schon lange nicht mehr auf Erden, selbst das Wort »Arzt« ist außer Gebrauch. Aber nur als Krankheit läßt sich der Zustand bezeichnen, in den mich der Bericht über Allans und Leonids Expedition stürzte. »Es ist erschütternd«, hatte Romero gesagt, als er mir die Rolle gab, in der alle Ereignisse aufgezeichnet sind vom Start auf dem Dritten Planeten im Perseus bis zur Rückkehr der Schiffe mit den toten Besatzungen zur Basis. Das war mehr als erschütternd. Davon mußte man schwer krank werden.

Wahrscheinlich wäre ich auch nicht zur Beisetzung gegangen, wenn ich nicht erfahren hätte, daß Olga zur Erde gekommen war. Sie hätte es mir nicht verziehen, wäre ich der Bestattung ihres Mannes ferngeblieben.

Außerdem wollte ich die alten Freunde gern wiedersehen – Orlan und Gig, Oshima und Grazi, Kamagin und Trub. Sie waren mit Olga auf deren »Orion« angereist, um an der Feier im Pantheon teilzunehmen.

Dennoch zögerte ich lange, ehe ich mich entschloß, das Haus zu verlassen. Die Trauerzeremonie schreckte mich. Romero hatte angedeutet, daß man von mir eine Rede erwarte, doch ich konnte allenfalls sagen, daß die Toten kühne Kosmosfahrer gewesen waren und ich sie sehr liebgehabt hatte.

Im Pantheon hatten sich die Verwandten und die Freunde der Toten eingefunden. Olga weinte, den Kopf an meiner Schulter. Zärtlich streichelte ich ihr graues Haar. Länger als wir alle hatte sie der zerstörenden Wirkung des Alters widerstanden. Das Leid hatte sie gebrochen. Gepreßt murmelte ich, um nicht stumm zu bleiben: »Olga, du solltest deine Haarfarbe ändern, das ist doch ganz einfach.«

Wie sonst nahm sie meine Worte ernst. Ihr trauriges Lächeln schnürte mir das Herz ab.

»Leonid gefiel ich so, wie ich bin, und sonst habe ich niemanden, für den ich mich hübsch machen könnte.«

Mit Olga war Irina gekommen, ihre Tochter. Ungefähr fünfzehn Jahre hatte ich sie nicht gesehen, ich erinnerte mich ihrer als eines unberechenbaren, unscheinbaren Mädchens, das äußerlich und charakterlich Leonid glich. Früher hatte ich mich oft gewundert, wie wenig Besonnenheit, Ruhe, Fähigkeit, sich in beliebige Rätsel zu vertiefen, eiserne Entschlossenheit unter dem Mantel gütiger Höflichkeit Irina von ihrer Mutter geerbt hatte. Nun stand eine schlanke, gebräunte, impulsive Frau vor mir mit so großen schwarzen Augen, deren Weiß bläulich war, daß man schwer den Blick von ihnen abwenden konnte. Ich fand, daß sie noch mehr als früher Leonid ähnelte und nicht nur äußerlich. Heute, da sich schwerlich etwas wiedergutmachen läßt, erkenne ich, wie sehr ich mich in Irinas Charakter täuschte. In der langen Kette von Ursachen, die zu dem Unheil führten, hat auch dieser mein Fehler eine Rolle gespielt.

Ich umarmte Irina und sagte: »Ich habe deinen Vater sehr liebgehabt, Mädchen.«

Sie machte sich los und blitzte mich mit ihren Augen an. Die abgegriffene Wendung »mit den Augen anblitzen« ist in diesem Falle die einzig treffende, anders vermag ich mich nicht auszudrücken. Sie blitzte mich also an und antwortete unerklärlich herausfordernd: »Auch ich habe meinen Vater liebgehabt. Und ich bin kein Mädchen, mehr, Eli.«

Ich hätte über ihre Worte nachdenken, mich in ihren Ton hineinfühlen sollen, vieles wäre dann anders verlaufen. Aber Lussin und Trub näherten sich, und mir stand nicht der Sinn nach unberechenbaren Frauen. Lussin drückte mir kummervoll die Hand, der alte Engel schloß mich in die schwarzen Flügel. Die Unsterblichkeitsrezepte, die uns die Galakten eifrig verabfolgen, helfen meinen Freunden ebensowenig wie mir. Lussin hält sich prächtig, sein dürrer Körper hat zuviel Sehnen und Knochen und zuwenig Fleisch seinesgleichen altert lange nicht. Trub dagegen sieht wie ein Greis aus. Nie hätte ich gedacht, daß es ein so schönes Alter geben könne, ein so mächtiges Hinfälligwerden. Voller Zärtlichkeit spreche ich diese gegensätzlichen Worte »mächtig« und »Hinfälligwerden« aus, voller Schmerz sehe ich den toten Trub, als stehe er wie auf der Trauerfeier vor mir riesengroß, schwarzflüglig, mit grauem Haarschopf und dichtem grauem Backenbart…

»Kummer!« sagte Lussin. »So ein Kummer, Eli!«

»Ringsum waren Feinde!« schollerte Trub. »Allan und Leonid erforschten, die rätselhaften Erscheinungen wissenschaftlich, anstatt zu kämpfen! Du hättest gekämpft, Eli, davon bin ich überzeugt! Schade, daß ich nicht dabeigewesen bin! Ich hätte sie dies und das aus der Erfahrung der Schlachten auf dem Dritten Planeten gelehrt!«

Zu uns traten Orlan und Grazi. Auf Planeten, wo Menschen sind, erscheinen sie stets zusammen. Das ist rührend naiv, ein Galakt und ein Zerstörer demonstrieren, daß die erbitterte Feindschaft, die vor Millionen Jahren ihre Völker trennte, von herzlicher Freundschaft abgelöst worden ist. Nach alter Weise habe ich Orlan einen Zerstörer genannt, obwohl ihnen die Bezeichnung »Demiurgen« zuerkannt wurde.

Sie sind ungeheuer stolz auf den neuen Namen, der so etwas wie Mechaniker oder Erbauer bedeutet, jedenfalls Schöpfer und nicht Zerstörer. Das Wörtchen »Demiurg« umreißt zwar genau die Rolle der ehemaligen Zerstörer in unserem Sternenbund, dennoch glaube ich nicht, daß die zur Schau gestellte Freundschaft Orlan und Grazi leichtgefallen wäre, besonders dem Galakten nicht. Die Astropsychologen behaupten, wie man den Menschen keine Liebe zu üblen Gerüchen und schlechten Handlungen einimpfen könne, so lasse sich auch den Galakten nicht anerziehen, künstliche Organe und Gewebe zu dulden, die Demiurgen aber haben nur ihren Namen gewechselt, keineswegs die Struktur ihrer Körper, die fast durchweg künstliche Organe und Gewebe enthalten.

»Sei gegrüßt, Eli, mein alter Freund und Führer!« sprach der Galakt feierlich, wobei er mir nach Art der Menschen die Hand darbot. Meine Finger verschwanden in seiner Pranke wie in einem Kasten.

Ich murmelte eine passende Antwort. Was den hochtrabenden Ausdruck anlangt, so vermögen die Galakten, selbst einem Romero den Rang abzulaufen. Orlan beschränkte sich darauf, sein bläuliches Gesicht grüßend erstrahlen zu lassen, den Kopf hoch zu erheben und krachend zwischen die Schultern zu ziehen. Alle miteinander betraten wir den Saal. Im Pantheon finden bekanntlich seit langem keine Beisetzungen mehr statt, in Ausnahmefällen wird der offene Sarg mit dem Toten zunächst zur allgemeinen Besichtigung mitten im Saal aufgestellt. An Allans und Leonids Expedition hatten hundertvierzehn Menschen teilgenommen, acht Demiurgen, drei Galakten und zwei Engel. Die Katastrophe, von der beide Sternenflugzeuge ereilt wurden, hatte die Lebewesen und die Mechanismen in ein unteilbares Gemisch verwandelt. Eine Urne mit ihrer Asche wurde hereingebracht, eine Handvoll toter Materie, der ehemalige geistige und dienstliche Bund der Besatzungsmitglieder war zur stofflichen Einigkeit der Atome geworden, aus denen sie sich zusammengesetzt hatten. Voller Bitterkeit dachte ich in diesem Augenblick, daß wir alle auf den verschiedenen Sternen in bezug auf die uns bildende Materie Brüder sind, doch nur im Tode ist unsere innere Einheit spürbar.

Die Urne wurde von Romero und Oleg hereingetragen der eine vertrat den Großen Rat, der andere die Astronauten. Auch ich war gebeten worden, die Urne zu tragen, aber Zeremonien, wo man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, sind nichts für mich. Desgleichen hatte ich es von vornherein abgelehnt, etwas zu sagen. Romero hielt eine kurze Rede, und dann erklang Musik. Bei der Musik muß ich verweilen. In dem merkwürdigen Konglomerat von Ursachen, die zu unserem heutigen Hin und Her in dem wilden Sternenstrudel des Kerns führten, spielte sie ebenfalls eine Rolle. Es erklang die Symphonie »Dem Andenken eines Freundes« von Zbyszek Polanowski.

Unzählige Male habe ich erklärt, daß ich nur individuelle Musik mag, die vertonte Harmonie meiner eigenen Stimmung. Wahrscheinlich liegt das daran, daß es mir schwerfällt, mich auf fremde Gefühle einzustimmen, Melodien für die Allgemeinheit empfinde ich als Befehl, als Vorschrift, so und nicht anders zu fühlen, als Verbot, ich selbst zu sein.

Für »Dem Andenken eines Freundes« von Zbyszek mache ich die einzige Ausnahme. Diese Symphonie ist mir stets willkommen. Sie ist in mir, dringt nicht auf mich ein. Sie ist mein, immer mein, und an diesem Tag klang sie so wehmütig, so eindringlich, daß ich selbst diese gramvolle und mannhafte Musik wurde; in ihren Tönen verschmolz ich mit den Freunden, mit der Welt. Ich blieb ich selbst und war alle Menschen, die gesamte Welt zugleich. Wahrscheinlich hatte es Zbyszek Polanowski auf diesen Effekt abgesehen.

Und wenn er sich das tatsächlich zum Ziel gesteckt hatte, dann hatte er es erreicht.

Romero und Oleg traten zu mir, als ich mich noch in der durch die Symphonie hervorgerufenen Bestürzung befand. Romero sagte: »Ich muß Ihnen mitteilen, lieber Admiral, daß der Große Rat beschlossen hat, eine zweite Expedition zum Galaxiskern auszurüsten. Zum Oberkommandierenden des Sternenflugzeuggeschwaders hat er Sternenfahrer-Kapitän Oleg Scherstjuk ernannt, unseren gemeinsamen Freund.«

Oleg ergänzte rasch, ohne mir Gelegenheit zu geben, ein Wort einzuflechten: »Ich habe mich nur unter der Bedingung einverstanden erklärt, das Oberkommando zu übernehmen, Eli, wenn Sie an der Expedition teilnehmen!«

Ich hätte genauso kategorisch ablehnen müssen, wie ich frühere Vorschläge beantwortet hatte, Sternfahrten zu befehligen oder daran teilzunehmen. Seit der Befreiung des Perseus und Asters Tod auf dem Dritten Planeten waren Mary und mir ferne Reisen gleichgültig. Wir waren auf die grüne Urmutter Erde zurückgekehrt, um sie nie mehr zu verlassen. So hatten wir vor zwanzig Jahren beschlossen und uns immer daran gehalten.

Es war eine Überraschung für mich selbst, als ich sagte: »Ich bin einverstanden. Kommen Sie heut abend zu mir. Wir wollen beraten.«

3

Mary wollte zu Fuß nach Hause gehen. Der Tag war trüb, dunkle Wolken trieben am Himmel. Auf dem Ring-Boulevard ließ der Wind die Blätter tanzen.

Tief atmete ich die kalte Luft. Ich liebe solch trockenes, heftiges, energisches, vom Rauschen des Windes und dem Leuchten der gelb gewordenen Bäume erfülltes Wetter; der Herbst ist für mich die beste Zeit.

Mary sagte leise: »Wie schön sie ist, unsere liebe alte Erde! Werden wir sie wiedersehen, oder verschwinden wir für ewig in den Sternenweiten?«

»Du kannst hierbleiben«, versetzte ich vorsichtig.

Ironisch blickte sie mich an. »Das könnte ich, gewiß. Aber brächtest du es fertig, ohne mich…«

»Nein, Mary, ich brächte es nicht fertig«, bekannte ich ehrlich. »Ohne dich zu sein wäre genauso, als müßte ich ohne mich sein, als wäre ich außerhalb meiner selbst. Das ist mein Schicksal: die Hälfte meines Ganzen zu sein. Kein besonders angenehmes Gefühl.«

»Laß wenigstens heute die dummen Witze, Eli!«

Sie runzelte die Brauen.

Eine Weile gingen wir schweigend. Ah und zu schaute ich sie zaghaft an. So viele Jahre sind wir zusammen, aber immer noch fürchte ich ihre Stimmungsumschwünge. Schließlich fragte ich sie nach ihrer Meinung über die Ursachen der Katastrophe von Allans Expedition.

»Ich meine das genaue Gegenteil von dem, worauf Pawel beharrt«, antwortete sie abfällig. »Ihr Männer seid ein komisches Volk. In jedem Rätsel sucht ihr eine böse Absicht. Der kriegerische Geist ist so tief in euch verwurzelt, daß ihr bereit seid, ohne weiteres anzunehmen, die Natur kämpfe unaufhörlich gegen uns und sei darauf erpicht, uns in die Knie zu zwingen. Es ist ein leichter Weg, der Natur unsere eigenen Fehler zuzuschreiben, aber wohl kaum ist es der richtige!«

»Ihr Frauen seid schuld, daß wir kriegerisch sind, ihr bringt uns so zur Welt«, gab ich zurück. »Dennoch hast du Romeros Argumente nicht überzeugend widerlegt.«

Sie antwortete mit gewohnter Schärfe: »In dem Bericht habe ich nur unverständliche Fakten und oberflächliche Vermutungen über deren Ursachen gefunden. Ich habe nichts zu widerlegen.«

Ihre Worte beeindruckten mich schwerer, als ich an jenem Tag zuzugeben bereit war.

Am Abend war unser Salon voll. Olga, Romero.

Oleg, Orlan und Lussin hatten Sessel bekommen.

Trub und Grazi hatten sich unter Schwierigkeiten auf den Sofas niedergelassen. Den Engel störten die Flügel, und der drei Meter lange Grazi vermied es ängstlich, sich zu erheben, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Romero berichtete in seinem zeremoniellen altertümlichen Stil von dem Eindruck, den der Bericht über den Untergang der ersten Expedition zum Galaxiskern im Großen Rat hinterlassen hatte. Die zweite Expedition sollte die unsichtbaren Gegner aufspüren und die Möglichkeilen eines friedlichen Verkehrs mit ihnen erkunden. Das würde kein Kriegszug sein, sondern eine Friedensmission. Sämtliche Ressourcen des Sternenbundes standen zur Verfügung, um die neue Expedition auszurüsten.

»Stellen Sie nun Ihre Fragen, Admiral, und äußern Sie Ihre Zweifel«, schloß Pawel.

Ich hatte Zweifel: Die Ramiren, die zu suchen sich die erste Expedition aufgemacht hatte, waren nicht gefunden. Die Räuber-Planeten, von denen die Sternenflugzeuge verfolgt worden waren, hatte Allan als Lebewesen bezeichnet, doch der Beweis, daß sie real lebendig waren und keine Absonderlichkeiten der toten Natur, fehlte. Den Bezirk der »staubigen Sonnen«, in deren Peripherie die Expedition umgekommen war, hielt Allan für die Wohnstatt einer vernunftbegabten Zivilisation, aber es war nicht gelungen, auch nur einem einzigen ihrer Vertreter zu begegnen, also blieb ihre Existenz bloße Hypothese.

Die Versuche, zum Kern vorzudringen, waren auf Widerstand gestoßen. Was wollte das schon besagen?

Der Widerstand konnte physische, uns bislang unbekannte Gründe haben, denn niemand würde behaupten, daß wir im Universum alles erforscht hätten. Romero wollte mir antworten, doch ich wandte mich an Oleg: »Du bist Oberkommandierender des zweiten Geschwaders. Wie stehst du zu meinen Zweifeln?«

Er antwortete zurückhaltend. »Sie lassen sich nur auf einem Wege ausräumen: indem wir nun von neuem zum Kern fliegen und klären, was da hindert, in ihn einzudringen.«

Ich mußte Oleg immer wieder anschauen. Er glich seinem Vater und glich ihm auch wieder nicht. Von der Mutter hatte er die zarte weiße Haut, die fast durchsichtig wirkte. Er errötete, wenn er antwortete, und die Röte lief wie eine Flamme von den Wangen zur Stirn, zu den Ohren und zum Hals. Mädchenhaft war seine Erscheinung: der schöne Kopf, die langen goldenen Locken, die übrigens nicht so kraus waren wie einst die von André, die schmalen Schultern, die schlanke Taille, die dünnen langen Finger. Oft trügt das Äußere, für Oleg, der zum Oberkommandierenden des zweiten Geschwaders ernannt worden war, traf das besonders zu. Unter den Kapitänen für große Sternenfahrt zählte er zu den unerschrockensten und erfolgreichsten. Olga hatte ihn als Admiral für die längst geplante Expedition zu den Hyaden empfohlen, und er wäre schon zu dem Haufen dieser in einen Abgrund stürzenden Sterne gejagt, hätte sich nicht die Katastrophe mit Allan ereignet. Der Große Rat hatte die Fahrt zu den Hyaden wegen der neuen Expedition zum Kern abgesagt.

»Deine Antwort befriedigt mich«, entgegnete ich.

»Und nun berichten Sie, was es Neues bei der Vorbereitung zu der Expedition gibt!« Romero erklärte, daß die Expedition auf dem uns allen bekannten Dritten Planeten im Perseus vorbereitet werde, unter der Leitung von André und dem Demiurgen Ellon. Auf den Sternenflugzeugen würden außer den Tanew-Annihilatoren auch die biologischen Geschütze der Galakten installiert, desgleichen Vorrichtungen, die die Ausmaße der Sternenflugzeuge und sämtlicher sich auf ihnen befindlicher Körper veränderten. Aber die wichtigste Neuerung seien Mechanismen, die die Raummetrik rings um das betreffende Sternenflugzeug umgestalteten. Jedes Schiff sei nun eine Art Dritter Planet, der in seiner Umgebung beliebige Krümmungen vornehme. Wäre Allans Geschwader mit Gravitationsschnecken-Mechanismen ausgerüstet gewesen, wäre viel Unheil verhütet worden. Die Metrikgeneratoren konstruiere Ellons Gruppe.

»Ellon, Ellon… Kennst du ihn, Orlan?«

»Ich habe Ellon vorgeschlagen«, erwiderte Orlan stolz. »Im Perseus gibt es keinen zweiten Demiurgen, der ein so begabter Konstrukteur wäre.«

Ich bemerkte, daß Grazi mißmutig den Kopf wiegte.

»Ein Letztes«, setzte ich fort. »In welcher Eigenschaft soll ich nach Meinung des Großen Rates an der Expedition teilnehmen? Altertümlich ausgedrückt:

Welches Amt soll ich bekleiden?«

»Sie sollen die Seele und das Gewissen der Expedition sein, Eli«, sagte Oleg.

»Schlecht organisiert ist jene Expedition, wo Seele und Gewissen von den übrigen Expeditionsmitgliedern getrennt sind.« Mein Einwand rief Gelächter hervor, obwohl ich ernst gesprochen hatte.

Romero sagte versöhnlich: »Da Sie nun schon einmal den Terminus Amt verwendet haben, so wollen wir es als wissenschaftliche Leitung bezeichnen – es hat einst solch einen Begriff gegeben, lieber Admiral.«

»Haben Sie selbst die Absicht, an der Fahrt teilzunehmen, Pawel?«

»Der Große Rat wird mir sicherlich gestatten, die Erde zu verlassen »

Nach der Beratung setzte ich mich zu Grazi. »Als Orlan sich lobend über Ellon äußerte, seufztest du, Grazi. Bist du mit seiner Einschätzung nicht einverstanden?«

Der Galakt erstrahlte wohlwollend. Seinesgleichen lächelt so gern, daß er bei jedem Anlaß diesen freudigen Gesichtsausdruck verschenkt.

»Nein, Eli. Mein Freund, der Demiurg Orlan, hat Ellon völlig zutreffend als einen genialen Ingenieur charakterisiert. Aber schau, Eli…« Er stockte, indessen er weiterlächelte. »Du kennst unsere Einstellung in den künstlichen Organen. Ellons Organismus hat einen viel höheren Grad an Künstlichkeit als die übrigen Demiurgen; ich fürchte, sogar sein Gehirn enthält künstliche Elemente, obwohl Orlan das bestreitet.«

Ich lächelte ebenfalls, jedoch auf Menschenart ironisch. Der Abscheu der Galakten vor künstlichen Organen ist mir immer wie eine spaßige Absonderlichkeit vorgekommen. Grazis Erklärung ließ ich an meinen Ohren vorbei schwirren. Jeder Mensch macht Fehler, ich habe wahrscheinlich mehr als andere gemacht. Und obwohl sie auf den ersten Blick harmlos waren, wirkten sie sich doch verhängnisvoll aus!

4

Wie furchtbar hatte sich André verändert! Olga hatte mich gewarnt, doch ich hatte gelacht, als sie sagte, ich würde ihn nicht wiedererkennen. Das konnte es nicht geben, daß mir mein bester Freund fremd geworden sein sollte. Und selbstredend erkannte ich André sofort, als die »Orion« über dem Anlegeplatz des Dritten Planeten schwebte und er durch die weit offenen Schiffstüren gestürzt kam. Aber ich war erschüttert.

Ich hatte André als erschöpften, vom Wahnsinn noch nicht erholten, aber lebendigen, sogar energischen Mann mittlerer Jahre verlassen. Jetzt umarmte mich ein Greis, ein geschäftiger, nervöser, weißhaariger, runzliger, vorzeitig hinfällig gewordener Greis.

»Ja, ja, Eli!« sagte André auflachend, da ihm meine Bestürzung nicht entging. »In unmittelbarer Nachbarschaft mit den unsterblichen Galakten altern wir seltsamerweise besonders schnell. Schuld ist wahrscheinlich die teuflische Gravitation auf diesem Planeten, das Zusammenrollen und Auseinanderwickeln des Raumes ist der biologischen Harmonie ebenfalls nicht förderlich. Erinnerst du dich an Vagabund? Jenes mächtige Gehirn, dem du unbedingt den riesigen Körper eines verspielten Drachens geben mußtest’.’«

»Ich hoffe, er ist am Leben?«

»Doch, doch! Aber den Drachenweibchen stellt er schon lange nicht mehr nach. Sein Denkvermögen ist übrigens in Ordnung.« Wir betraten den Planeten. Die Fahrt der »Orion« zum Perseus schildere ich nicht, für die folgenden Ergebnisse sind meine Eindrücke von diesem Flug ohne Bedeutung. Ich erwähne nur, daß Oleg noch auf der Erde bleiben mußte, um die Besatzungen für die Schiffe auszuwählen. Er hatte vor, mit dem nächsten Transport im Perseus einzutreffen. Ich will auch nicht sämtliche Begegnungen beschreiben, die ich auf dem Dritten Planeten hatte, sie sind allein für Mary und mich interessant. Ich verweile lediglich, obwohl das für die nachfolgenden Ereignisse ohne Belang ist, bei der Landschaft des Dritten Planeten.

Mary und ich flogen in einer Aviette, wie wir sie auch auf der Erde haben. Das furchtgebietende Antlitz der kosmischen Festung der Zerstörer würden wir nie vergessen – nackte Bleioberfläche mit goldenen Findlingen. Jetzt sahen wir blaue Wälder, glitzernde Seen und Flüsse.

»Ich möchte hier herunter.« Mary wies auf einen Hügel, dessen Gipfel die andrängenden Büsche noch nicht erreicht hatten.

Wir verließen die Aviette und spürten zum erstenmal, daß wir uns auf dem Planeten von einst befanden. Die Gravitationsschirme der Aviette hatten uns vor seiner schrecklichen Anziehungskraft geschützt, im Bezirk der Station war sie nicht stärker als auf der Erde, doch hier wurden wir buchstäblich zu Boden gedrückt. Ich vermochte mich nicht gerade aufzurichten, in meinem Kopf rauschte es, nach dem zweiten Schritt taumelte ich. Mary stützte mich, da sie die Überlastung besser ertrug.

»Jenen Marsch von der Landungsstelle zur Station würde ich nicht mehr überstehen«, sagte ich und versuchte zu lächeln.

»Erkennst du den Platz, Eli?« fragte sie.

»Nein.«

»Am Fuße dieses Hügels ist unser Sohn gestorben…«

Die Vergangenheit erhob sich vor mir. Zaghaft blickte ich Mary an. Sie lächelte. Ihr Lächeln überraschte mich, so viel stille Freude lag darin. Zögernd sagte ich: »Ja, das ist die Stelle. Aber komm nun!«

Sie wies mit der Hand in die Runde, »In meinen Träumen habe ich diesen goldenen Hügel und die tote Wüste ringsum oft gesehen! Und stets war mir bewußt, wie leidenschaftlich Aster wünschte, daß die metallischen Landschaften ungestüm zu leben begännen. Erinnerst du dich, wie er sich einen Lebensspender nannte? Auf dem Nickelplaneten war es leicht, dort ist die Gravitation niedrig. Auch hier gelang es, dem Metall Leben einzuimpfen. Ich wollte wissen, wie sich unsere neuen Gewächse fühlen, die speziell für Gegenden mit erhöhter Anziehungskraft gezüchtet wurden.«

»Sind das die Gewächse, mit denen ihr euch im Institut für Astrobotanik befaßtet?«

»Ich allein habe mich damit befaßt, Eli! Sie sind meine Schöpfung speziell für den Dritten Planeten, mein Denkmal für unseren Sohn. Aster würde zufrieden sein. Sein Wunsch ist Wirklichkeit geworden.

Kehren wir nun zur Station zurück.«

Die beiden anderen Ereignisse, die ich erwähnen will, stehen unmittelbar mit der Expedition im Zusammenhang. Unter denen, die uns begrüßten, fehlte Vagabund.

Lussin rannte zu ihm, sobald er Boden unter den Füßen hatte. Lussin ist gewissermaßen der Schöpfer dieses seltsamen Wesens, und er ist so stolz darauf wie auf keines seiner anderen Werke. Vagabund war krank, Medikamente halfen nicht mehr. Lussin teilte traurig mit, daß Vagabund zu menschlich sei, obwohl er einen nichtmenschlichen Körper habe, und ebensowenig wie den Menschen lasse sich ihm solide Langlebigkeit, geschweige denn Unsterblichkeit verleihen.

»Will sehen. Sehr. Dich«, äußerte Lussin in seiner üblichen abgehackten Sprechweise. Und am nächsten Morgen begaben wir uns zu dem Drachen.

Äußerlich hatte sich Vagabund fast überhaupt nicht verändert. Die fliegenden Drachen magern nicht ab und werden nicht dick, sie fahlen nicht aus, ergrauen nicht, erschlaffen nicht. Vagabund war noch wie beim Abschied – bläulichorange, mit mächtigen Tatzen und riesigen Flügeln. Aber er flog nicht mehr. Als er uns erblickte, kam er aus seiner Höhle gekrochen und rutschte uns mühsam entgegen. Die wellenähnlichen Falten verlagerten sich so geschwind wie früher auf dem Rücken und an den Flanken, der massive Rumpf schlängelte sich mit der früheren Eleganz, der lange, mit festen Schuppen gepanzerte Schwanz stellte sich zur Begrüßung kerzengerade, polternd durchschnitten die Flügel die Luft. Doch alle diese bekannten Bewegungen waren trügerisch, sie konnten den Vagabund nicht über den Boden erheben aus einem fliegenden Drachen war er ein kriechender geworden.

Auch weniger Feuer ging von ihm aus. Die Flamme, nach wie vor purpurn, war kleiner, und der blaugraue Rauchdünner. Ich ironisiere nicht, ich sage es tief bekümmert.

»Gruß dem Ankömmling!« vernahm ich die lange nicht gehörte heiser lispelnde Stimme. »Ich freue mich, dich zu sehen, Admiral! Setz dich auf meinen Rücken, Eli.«

Ich hockte mich auf eine Tatze und stieß ihn scherzhaft mit dem Fuß in die gepanzerte Flanke. »Du bist noch stark, Vagabund, wenn du auch die jungen Drachen sicherlich nicht mehr überholst.«

»Genug geflogen, genug gelaufen, genug geflirtet jeder Begriff meines heutigen Seins verlangt den Zusatz ,genug’«, konstatierte er ungerührt und blickte mich mit den vorgewölbten gelbgrünen Augen klug und traurig an. »Ich beklage mich nicht, Eli. Ich habe vollauf gelebt. Alle Freuden, die die Existenz in einem lebendigen Körper vermitteln kann, habe ich ausgekostet. Je stärker die Freuden, desto kürzer sind sie.

Ich werde bald sterben. Sei versichert, ich werde die Ruhe nicht verlieren, wenn die Stunde kommt, da ich vom Leben Abschied nehmen muß.«

In dieser Tonart wollte ich das Gespräch nicht fortsetzen. Fröhlich wippte ich auf der harten Tatze »Auf der Erde sind neue Methoden zur Stimulierung des Organismus erarbeitet worden. Wir probieren sie an dir aus, und dann wirst du mich über dem Planeten spazierenfliegen. Wehe, wenn du mich wie damals wieder abwirfst!«

Er lächelte ironisch. Immerhin ist er der einzige Drachen, der über ein Mienenspiel verfügt die anderen sperren einfach, Dampf ausstoßend, den Rachen auf, und man weiß nicht, ob sie bloß gähnen oder einen verschlingen wollen.

Niedergeschlagen kehrte ich heim. Ich fühlte mich schuldig vor dem Drachen. In seiner früheren Verkörperung, in der Gestalt des regierenden träumenden Hirns, hätte er zehnmal länger leben können als wir.

Ich hatte ihn mit einem Körper ausgestattet, aber die Freuden körperlichen Seins sind kurz und enden mit dem unabwendbaren Tod. Obwohl spät, fragte ich mich jedoch eindringlich, ob ich richtig gehandelt habe.

Das zweite wichtige Ereignis war die Begegnung mit Ellon.

Zu sechst gingen wir in Ellons Werkstatt Mary, Olga, Irina, Orlan, André und ich. Früher war ich oft in das Innere des Planeten hinabgestiegen, wo seine ungeheuren Mechanismen konzentriert sind, aber in solche Tiefe war ich noch nie vorgedrungen. André sagte, wir brauchten mit dem Lift nur dreihundert Kilometer abwärts zu fahren, aber mir kam es so vor, als wären wir tausend und mehr Kilometer abgestürzt.

Wenn die Sündervorausgesetzt, die Hölle besaß keine Schnellaufzüge – kriechend in solche Tiefen hätten vordringen müssen, so wäre schon die Höllenfahrt eine geringere Strafe gewesen als das spätere Kochen im Schwefelkessel.

In einem riesigen sonnenhellen Saal empfing uns Ellon. Ich muß ihn beschreiben. Er steht vor mir. Ich trete zu ihm und sehe ihn unverwandt an. Ich versuche zu ergründen, woran es liegt, daß er unweigerlich diesen Eindruck machte. Und ich frage mich, ob sich die Empfindung bei eingehendem Betrachten nicht ändert, bei langem Studieren. Gar nichts ändert sich.

Alles ist richtig. Es gibt keine Fehler. Wenn ich in meinem Leben ein Wesen getroffen habe, das im vollen Sinne des Wortes ungewöhnlich ist, so heißt es Ellon!

Zunächst einmal ist er genauso wie alle Zerstörer wie alle Demiurgen, korrigiere ich mich, um keinen von ihnen zu beleidigen -, und schon allein dies ist ungewöhnlich für unseren Menschenblick. Er kam mir nicht entgegen, er wandte nur den Kopf auf dem langen, schlangenhaften Hals. Orlan hebt ihn und läßt ihn zwischen die Schultern klappen, Ellon würdigte uns keines Grußes. Er weiß einfach nicht, was Begrüßen ist, er ist in solchem Anstand nicht unterrichtet.

Er beschränkte sich darauf, uns stumm anzusehen.

Nein, das war kein Ansehen – er durchbohrte, blendete, vernichtete uns mit den phosphorig lohenden Augen; solche hochtrabenden Vergleiche sind in diesem Falle angebracht.

Orlan wirkte verschüchtert. Ich hatte ihn in Schlachten gesehen, bei diplomatischen Verhandlungen und auf wichtigen Konferenzen, stets war er ruhig, objektiv, entschlossen und unerschrocken gewesen.

Ich hatte geglaubt, ihn gut zu kennen. Nun war er mir völlig unverständlich. Er hob nicht den Kopf, sondern zwängte ihn zwischen die Schultern, und seine Stimme er sprach für uns in ausgezeichneter Menschensprache klang ängstlich, fast schmeichlerisch.

»Ellon, die Menschen sind gekommen, um deine Arbeiten kennenzulernen«, sagte Orlan in diesem sonderbaren Ton. »Hoffentlich stört dich unser Besuch nicht?«

»Seht und begeistert euch!« antwortete Ellon in ebenso vortrefflicher Menschensprache, und mit einer weiten Geste seines langen knochenlosen Armes umfaßte er den Raum. Sein Mund grinste breit, das bläuliche Gesicht rötete sich, wahrscheinlich vor Vergnügen.

Doch zu sehen gab es nichts. Ringsum waren Mechanismen, und um sie herum huschten Demiurgen.

Der ganze Planet stellt eine Ansammlung von Mechanismen dar, äußerlich war nicht festzustellen, wodurch sich diese im Saal von denen unterschieden, die die Tausendkilometerschichten des Planeteninneren bilden. Orlan spürte unsere Unzufriedenheit und sagte: »Es wäre besser, du würdest Erläuterungen geben.

Ellon.«

Flatternden Schritts ging Ellon an den Saalwänden entlang und tippte die Mechanismen an, deren Bestimmung und Konstruktionsbesonderheiten er erklärte. Den Kopf hatte er um volle hundertachtzig Grad nach hinten, zu uns, gedreht, das macht ihm sonst kein Demiurg nach. Ich hörte Ellon nicht zu, ließ jedoch ihn, sein Gesicht, nicht aus den Augen.

Nicht seine Erklärungen versuchte ich zu verstehen, sondern den Klang der Stimme. Das erschien mir seltsamerweise wichtiger. Von den Mechanismen hätte ich ohnehin wenig begriffen, da ich ein schlechter Ingenieur bin. Und je länger ich Ellon anschaute, desto ungewöhnlicher fand ich ihn.

Er lachte, brach in lautloses Gelächter aus. Seine Erläuterungen waren zweifellos ernsthaft, hochqualifiziert, seine Grimasse jedoch war spöttisch. Sein Krötenmund war doppelt so groß wie bei anderen Demiurgen und beängstigend beweglich. Und über der lippenlosen dunklen Höhlung, die, sich verzerrend, von einem Ohr zum anderen zu strömen schien, leuchteten starre blauviolette Augen. Ich bin nicht zaghafter Natur und nicht charakterschwach, dennoch war ich fast hypnotisiert von der Kombination teuflisch sarkastischer Grimassen und unheilvoller Augen.

Nach dem Rundgang durch den Saal sagte Ellon (nur diese Worte habe ich mir von all seinen Erläuterungen gemerkt): »Weder die Menschen noch die Demiurgen und schon gar nicht die Galakten haben jemals so vollkommen ausgerüstete Schiffe gehabt.

Hätten wir wenigstens eins dieser Sternenflugzeuge besessen, als die Geschwader der Menschen in den Perseus eindrangen, wären die Ereignisse anders verlaufen.«

Ich fragte trocken: »Betrübt es dich, Ellon, daß die Ereignisse nicht anders verlaufen sind?«

Er lachte eine Weile lautlos, bevor er antwortete:

»Es betrübt mich nicht, und es entzückt mich nicht.

Ich konstatiere lediglich eine Tatsache.«

Olga stellte Ellon eine Frage, doch Irina, die auf merkwürdige Weise ungestüm emotional wie ihr Vater und technisch gründlich wie ihre Mutter ist, fiel ihr ins Wort.

Ich führte André beiseite. »Die von den Demiurgen geschaffenen Mechanismen sind großartig, davon bin ich überzeugt. Aber wer befehligt sie? Kalkulieren wir nicht falsch?« Ungeduldig unterbrach er mich. Wahrscheinlich ist allein dies von dem alten André übriggeblieben: Er erhascht einen Gedanken beim halben Wort und macht mit den Gesprächspartnern nicht viel Umstände.

»Keine Bange! Ellon konstruiert die Mechanismen, ich befehlige sie. Die Startfelder sind auf meine individuelle Gehirnstrahlung geschlossen. Und wenn sich das Geschwader in Marsch setzt, überlasse ich die Lenkung Oleg und den Schiffskapitänen.«

Wir fuhren an die Oberfläche. Im Lift rief Irina begeistert: »Wie wunderbar er ist, der Demiurg Ellon!

Mit den anderen hat er kein bißchen Ähnlichkeit!«

Sie senkte die Stimme, damit Orlan sie nicht hörte.

»Sie kommen mir alle wie Mißgeburten vor Ellon allein ist eine Schönheit! Und welche Vollkommenheit der technischen Konstruktionen! Eli, erlauben Sie mir, auf dem Schiff in Ellons Gruppe zu arbeiten?«

»Wo du willst«, antwortete ich. Ellon fand ich allerdings weit häßlicher als die anderen Demiurgen.

Im Hotel sagte Mary zu mir: »Ich habe kein Recht, mich in die Anordnungen des wissenschaftlichen Leiters der Expedition einzumischen, doch meinen Mann darf ich kritisieren. Ich bin unzufrieden mit dir.

Eli.«

»Bin ich schlecht gekleidet, Mary? Oder war ich wieder einmal taktlos? Habe ich jemanden beleidigt?«

»Ellon flößt mir Schrecken ein«, sagte sie seufzend.

»Er ist so fürchterlich, daß er schön ist in seiner Häßlichkeit, da muß ich Irina beipflichten. Aber ihm Tag für Tag auf dem Schiff zu begegnen… Und wie Irina ihn angesehen hat! Wäre er unseresgleichen, würde ich sagen, sie ist rasend verliebt.«

»Mag sie sich verlieben«, sagte ich großzügig. »Ich selbst war, du wirst dich erinnern, einst in Viola verliebt, ebenfalls ein nichtmenschliches Wesen. Derlei Gefühle sind schon allein deshalb unschädlich, weil sie keine Perspektive haben. Und es ist unmöglich, daß wir Ellon nicht mitnehmen – er ist ja erklärtermaßen ein technisches Genie. Ich fürchte, in dir regt sich menschlicher Chauvinismus, doch in unserer Epoche der Sternenbrüderschaft müssen alle Arten von Chauvinismus erbarmungslos ausgerottet werden. Ich hoffe, ich habe dich mit dieser eisernen Formel überzeugt!«

»Dein hoffnungsloses Schulterzucken hat mich überzeugt«, antwortete sie traurig lächelnd. »Beachte meine Stimmungen nicht. Sie rühren nicht von klugen Erwägungen her wie bei dir und Olga, sondern von törichten dunklen Vorahnungen…«

Ich habe später oft an dieses Gespräch gedacht, das ich mit Mary im Hotel auf dem furchtgebietenden Dritten Planeten des Perseus führte.

5

Nein, ich verfertige keinen Bericht für die Nachkommen! Ich sagte schon, daß ich nicht sicher bin, ob meine Aufzeichnungen zur Erde gelangen. Ich versuche, den Sinn der Ereignisse zu begreifen. Ich befrage mich, ob ich richtig gehandelt habe. Und immer wieder trete ich zu dem toten Körper des Verräters, der reglos im Kraftfeld hängt, nie mehr kann er die einmal eingenommene Pose ändern, und sage mir:

Eli, hier stimmt was nicht, du mußt dir über all dies Klarheit verschaffen, mußt dir Klarheit verschaffen, Eli! Aber ich erlange diese Klarheit nicht, ich bin zu rational. Das ist paradox, was will man machen, eine der ungewöhnlichen und von uns nicht gleich verstandenen neuen Wahrheiten lautet nämlich: Je logischer eine Überlegung, desto weiter ist sie von der Wahrheit entfernt. Die Welt, in der wir heute reisen, ist den Gesetzen der Physik unterworfen, unsere Logik wird von ihr nicht anerkannt. Zu spät haben wir diese Welt begriffen. Und ich bin nicht sicher, ob uns das so tief, wie es erforderlich wäre, eingegangen ist. Die Vorbereitung und die Abreise der Expedition will ich nicht beschreiben. Auf der Erde ist man darüber im Bilde:

Wie wir unser Geschwader auf fünfzehn Sternenflugzeuge beschränkten (elf ohne Bemannungen, gigantische fliegende Lager wurden von Automaten gesteuert, vier, die »Steinbock«, die »Widder«, die »Schlangenträger« und die »Stier« hatten Besatzungen und Kommandeure: Oshima, Olga, Kamagin und Petri); wie ich gestattete, Vagabund an Bord des Flaggschiffes »Steinbock« zu nehmen, obwohl Oleg sich nicht schlüssig war, ob es Sinn habe, einen siechen Drachen auf eine weite Reise mitzuschleppen; wie wir auf der »Steinbock« Ellons Laboratorium einrichteten; wie das Geschwader ins Sternbild Schütze eilte, in die dichten dunklen Wolken, die den Galaxiskern unserem Blick entziehen; wie wir, tausendfach das Licht überholend, drei Jahre lang zum Galaxiskern unterwegs waren und über den Dritten Planeten des Perseus auf ihm regierte nach wie vor Andrémittels Raumwellen Verbindung zur Erde hielten; wie im vierten Jahr die Überlichtverbindung abbrach und wir für den Perseus und die Erde gleichsam ins Nichtsein sanken.

Mit diesem Augenblick beginne ich die Schilderung unserer Abenteuer im Galaxiskern.

Die Raumwellengeneratoren fielen gleichzeitig und vollständig aus. Wir empfingen keine Depeschen vom Dritten Planeten mehr, sandten unsere Informationen nicht ab. Die Mechanismen waren in Ordnung, verändert hatte sich der Raum. Der Kosmos war derselbe, unvermindert energisch verschlangen ihn die Schlünde unserer Annihilatoren, wandelten ihn nach wie vor in Gas- und Staubwolken um, alles ringsum war genauso und war doch unfaßbar anders geworden.

Die Impulse der Generatoren drangen nicht nach außen durch, und sie empfingen keine Signale von außen. Es war, als wären wir unvermutet taub und stumm geworden.

Die Sehkraft hatten wir nicht eingebüßt. Die Geräte fixierten von fern das Auftauchen eines Räuberplaneten, eines Planeten, wie er Allans Geschwader überfallen hatte. Der Unterschied bestand nur darin, daß Allan im Moment des Überfalls Verbindung mit der Basis im Perseus hatte, während wir dieser Möglichkeit beraubt waren. Und wir nahmen Allans Depesche voller Zweifel auf, daß kein toter kosmischer Herumtreiber sie verfolge und schon gar nicht ein gigantisches Schiff, das unsere Sternenflugzeuge in der Größe genauso übertreffe, wie ein Berg eine Maus übertreffe, sondern ein rätselhaftes kosmisches Wesen, das keineswegs seine Absicht verhehle, das gesamte Geschwader einzuholen und zu verschlingen, Die Vorstellung von einem seltsamen Sternenflugzeug entsprach dennoch mehr all dem, was wir von der Welt wußten.

Aber ob das nun ein Sternenflugzeug war oder ein kosmisches Wesen, wir alle wurden von Unruhe erfaßt, als die Analysatoren in der Ferne den rätselhaften Planeten entdeckten und leidenschaftslos meldeten, daß er uns verfolge. Wir flogen damals am Rande der dunklen Wolken, die den Kern verdeckten. Das Wort »Rand« ist relativ, Milliarden von Kilometern rundherum erstreckte sich ein Gasnebel, kalt, halb durchsichtig, unerhört trostlos, die Sterne schimmerten matt in dem glutroten Halbdunkel. Mary sagte seufzend zu mir: »Mächtig verqualmt dieser Weltallwinkel!« Der raubgierige Planet erstand als orangefarbener Fleck im glutroten Nebel und wurde rasch größer. Wir flogen im Überlichtbereich er jagte im Einsteinschen Raum dahin. Hinter uns dehnte sich eine Schleppe zu Staub verwandelter Leere hinter dem Planeten war der Raum sauber. Wir vernichteten Raum, der Planet jagte in ihm mit Überlichtgeschwindigkeit dahin, mit solch ungeheurer Geschwindigkeit, daß er uns einholte. Die Gesetze der Physik, so schien es uns, gingen zum Teufel. Erst jetzt begreifen wir allmählich, wie dürftig unsere Kenntnisse von den Naturgesetzen sind.

Der Planet, der uns nachjagte, war größer als die Erde. Tausende unserer Sternenflugzeuge hätten auf seiner Oberfläche Platz gefunden, aber Tausende wären in seinem Inneren verschwunden. Seine Flugbahn änderte sich merkwürdig, verriet ein unbestreitbares Ziel: das Geschwader einzuholen. Genau wie Allan hätten wir von freiem Willen sprechen können, der den Flug des Räubers bestimmte. Aber nach wie vor waren wir der Meinung, daß uns kein Wesen ereilte, sondern ein Schiff, in dessen Innerem, an den Pulten uns unbekannter Mechanismen, sich vernunftbegabte Wesen verborgen hielten. Auf unsere Rufe reagierten sie nicht. Man brauchte keinen superscharfen Intellekt, um unsere Signale zu dechiffrieren, das war eine Aufgabe für Schüler, nicht für kosmische Ingenieure.

Aber der Planet schwieg, schwieg und verfolgte uns, verfolgte uns unbegreiflich, mit Überlichtgeschwindigkeit im gewöhnlichen Lichtraum.

Oleg stellte eine Stereoverbindung zwischen den Bemannungen aller Sternenflugzeuge her.

»Allan rettete sich vor dem räuberischen Planeten, indem er den Aktivstoff eilends annihilieren ließ«, sagte Oleg. »Der Verfolger vermochte die neugeschaffene Leere nicht zu überwinden. Aber nachdem Allans Geschwader drei Viertel der Vorräte verloren hatte, wurde es später mit anderen Schwierigkeiten nicht fertig. Sollen wir Allans Abwehr wiederholen?«

Einmütig sprachen sich alle dagegen aus. Wir waren stärker als Allans Geschwader ausgerüstet und konnten den seltsamen Verfolger näher an uns heranlassen, als es Allan gewagt hatte. Es galt festzustellen, ob dies ein Überfall war oder eine neue Kontaktform.

Das war nur im Experiment möglich.

Wenn unsere Stereofilme dereinst auf die Erde gelangen, werden die Menschen begreifen, was uns empörte. Wir trennten eins der Fracht-Sternenflugzeuge, das wir zuvor entleerten, vom Geschwader. Der Planet stürzte sich darauf wie ein Fuchs auf ein Rebhuhn. Die Filme haben festgehalten, was wir sahen die Explosion, die Flamme, die dichte Wolke zunächst leuchtenden, dann dunkel werdenden Staubs. Und den Planeten, der wie ein Weberschiffchen von einem Wolkenrand zum anderen huschte und gierig, mit der gesamten Oberfläche, den Staub schluckte. Der gigantische Staubsauger mühte sich mächtig, die Reste des Sternenflugzeugs zu vertilgen, und der Raum lichtete sich.

»Ein ekelhaft gieriger Mund in der Leere!« rief Mary entrüstet.

Wir saßen im Observationssaal und beobachteten das Schauspiel, das die Beseitigung des dem Räuber hingeworfenen Schiffes bot.

»Eher ein kosmischer Müllschlucker, liebe Mary«, ließ sich Romero hören und fügte mit einem Seufzer hinzu: »Es ist nur schlecht, daß dieser kosmische Hauswart merkwürdigerweise geneigt ist, uns als unnützen Müll zu betrachten.«

Wie wahr Romeros Bemerkung war, wußten wir erst später zu schätzen, als klar wurde, daß der Planet in dem Gasnebel, wohin unser Geschwader vorgedrungen war, nicht nur so einfach dahinjagte, sondern unterwegs das Gas ringsum aufsaugte und auf diese Weise dem Nebel zu Leibe rückte. In jenen Stunden stand uns nicht der Sinn nach den Funktionen eines kosmischen Müllschluckers. Romero und ich wurden zu Oleg gerufen. Auch Orlan und Grazi waren in den Kommandeurraum gebeten worden. Ellon hatte die Einladung abgelehnt, indem er Arbeit im Laboratorium vorschützte. Im Unterschied zu den Galakten empfinden die Demiurgen eine Abneigung gegen Beratungen, für Sitzungen sind sie ein allzu sachliches Volk.

Oleg interessierte eins: Sollten wir fliehen oder den Überfall abwehren?

»Fliehen, fliehen!« sagte Grazi eilends.

Mir ist aufgefallen, daß die unsterblichen Galakten einem Kampf stets aus dem Wege gehen, sofern das irgendwie möglich ist. Ihre Unsterblichkeit schätzen sie weit mehr als wir unsere vergängliche Existenz. In diesem Falle waren wir jedoch alle mit Grazi einer Meinung. Streit gab es, als es darum ging, auf welche Weise wir fliehen wollten. Ich lehnte die Benutzung von Aktivstoff nicht kategorisch ab. Wir hatten mehr davon als Allan. Und daß diese Methode äußerst wirksam ist, hatte ebenfalls Allan bewiesen, der eben auf diese Art dem Räuber entwischt war. Man pflichtete mir jedoch nicht bei. Und jetzt, da ich manches weiß, was wir damals nicht wußten, kann ich mich nur freuen, daß ich in der Minderheit blieb. Grazi schlug die auf den Planeten der Galakten weitverbreitete Methode der Volumenverringerung großer Gegenstände vor. Orlan protestierte. Die Kürzung der Maßstäbe sei eine langsame Operation, die Menschen ertrügen den Zustand der anderen Maßstäblichkeit schlecht, und für die Demiurgen mit ihrer erhöhten Künstlichkeit sei es geradezu gefährlich, die Körpergrößen zu verändern. Überdies gäbe es keine Garantie, daß der Räuber nicht auch auf die verkleinerten Schiffe Jagd machen werde. Mit Staub und Gas werde er ideal fertig. Würden wir ihm nicht die Aufgabe erleichtern, uns möglichst rasch zu verschlingen?

»Bleibt die Gravitationsschnecke«, erklärte Orlan überzeugt. »Wir haben die Sternenflugzeuge mit Mechanismen ausgerüstet, die die Metrik verändern können. Wir tauchen in die Nichteuklidheit und lassen den kosmischen Räuber auf der anderen Seite des gekrümmten Raums zurück. Was meinst du dazu, Ellon?« fragte er, ohne einen Beschluß abzuwarten.

Der auf dem Bildschirm aufleuchtende Ellon bekräftigte, daß es nichts Einfacheres als eine Gravitationsschnecke gäbe. Er fügte hinzu, es sei nicht notwendig, daß das Geschwader Reißaus nehme, es sei besser, den Räuber in einen Gravitationstunnel zu schleudern.

»Der Planet fliegt wie eine Kugel hinaus, die bergab rollt! Und er kann von Glück reden, wenn seine Absorbierer unbeschädigt bleiben«, versicherte er und riß den Mund in einem Anfall stummen Gelächters so weit auf, das nicht nur ich fürchtete, der Unterkiefer werde abbrechen. Im Unterschied zu dem Galakten freute sich Ellon über die Aussicht auf ein Scharmützel mit dem Gegner, die Kriegslust war für ihn genauso charakteristisch wie die technische Begabung.

Ich fuhr in Ellons Labor hinunter. An den Kommandogeräten schritt hüpfend, wie es alle Demiurgen tun, Ellon auf und ab; an dem Pult, das wie die altertümlichen Pianos mit Tasten versehen war, tat Irina Dienst, ihr Blick folgte dem Demiurgen. An der gegenüberliegenden Wand lag Vagabund, er nahm fast drei Viertel der Fläche ein. Als er mich bemerkte, schnaubte er freundschaftlich zwei Rauchfontänen aus den Nüstern und ließ zur Begrüßung ein paar Blitze auf den Zacken der Korona springen. Sie gerieten ihm weit weniger verästelt und prächtig als in seiner Drachenjugend. Ich nickte ihm zu und stellte mich hinter Irina.

»Schalte die erste Krümmung ein«, befahl Ellon, und Irinas Finger trommelten auf den Tasten.

Indessen hatten sich die vierzehn Sternenflugzeuge so nah bei der »Steinbock« versammelt, daß mir die Enge gefährlich erschien. Ich komme dagegen nicht annähern sich Schiffe auf eine Distanz von visueller Sichtbarkeit, so gerate ich in Angst. Aber ohne diese Konzentration hätte sich kein nichteuklidischer Zaun um die Flotte errichten lassen das brauchte man mir nicht zu erklären. Die erste Krümmung, die Irina eingeschaltet hatte, schuf einen solchen schützenden Zaun. Und dann schlug Ellon vor, sich an dem Anblick zu weiden, wie sich der dumme Planet oder die Wesen, die in ihm hausten, die Stirn aufschlugen. Ich weiß nicht, ob Planeten eine Stirn haben, jedenfalls berannte er blindwütig die Krümmung. Ellons lachender Mund verkrampfte sich vor Begeisterung, die drohenden Augen funkelten. Das phosphoreszierende Gesicht hielt er ständig dem Bildschirm zugewandt den trüben Sternen im Nebeldunst und dem grell leuchtenden Planeten, der auf uns zuraste und immer wieder zurückgeworfen wurde. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Ellon das Schicksal nicht so lange und nicht so verwegen versucht hätte.

»Schalte den Ableittunnel ein!« befahl Ellon, und Irina trommelte wieder auf den Tasten. Jetzt konnten wir uns von der Leistungsfähigkeit der Metrikgeneratoren überzeugen. Der Planet glitt nicht auf Grund des Beharrungsvermögens im gekrümmten Raum passiv hinaus, bei unserem ersten Erscheinen im Perseus hatten wir erbittert dagegen angekämpft -, sondern wurde durch einen mächtigen Schub unbarmherzig geschleudert. Ellon war nicht ansprechbar, er bog sich vor lautlosem frohlockendem Gelächter.

»Hier handelt es sich nicht um eine einfache Änderung der Metrik!« sagte ich zum Drachen.

Der Drachen wand sich noch besser als Ellon, begeistert versprühte er matte Blitze und schlug mit dem Schwanz.

»Selbstverständlich, Eli! Das Problem eines Tritts in den Hintern so kann man das in der Menschensprache nennen. Mich widerte die passive Raumkrümmung schon an, als ich noch Hauptgehirn war.

Ich verspürte immer den Wunsch, den Sternenflugzeugen, die hinausbefördert wurden, einen zusätzlichen Impuls zu geben. Ellon hat meinen alten Traum wahrgemacht. Höchst wirkungsvoll, nicht?«

Ich stimmte zu: Ja, sehr wirkungsvoll. Der Drachen schnaubte eine glutrote Brandfahne, und ich prallte zurück. In einem geschlossenen Raum hätte er sich nicht gar so rauchig freuen dürfen. Ich ging zu Irina.

»Eli, Eli!« sagte sie mit einer Stimme, wie ich sie noch nie von ihr gehört hatte. »Was für ein Mensch!

Was für ein wunderbarer Mensch!«

Ich hätte entgegenhalten können, daß das Wunderbare an Ellon gerade darin bestand, daß er kein Mensch war, aber ich schwieg. Bevor ich das Labor verließ, warf ich einen Blick auf die drei. Seit jenem Tag ist viel Zeit verstrichen, wieviel, weiß ich nicht vielleicht ein Jahr, vielleicht Millionen Jahre, beliebige Zeit hat in unserer Welt an unserer heutigen Anderszeitigkeit vorübersausen können. Doch dieses Bild sehe ich so deutlich wie damals: Auf dem Fußboden wand sich der frohlockend qualmende Drachen, an den Bildschirmen tänzelte der sich vor schweigsamem Lachen biegende, mit seinem blauen Gesicht phosphoreszierende Ellon, während die bleiche Irina, eine Hand am Herzen, ihn anschaute, entzückt anschaute…

6

Auf diese Weise drangen wir in die dunklen Wolken ein, die den Kern verhüllen. Zunächst versagten die Raumwellengeneratoren, und wir verloren die Verbindung zu der Basis auf dem Dritten Planeten, dann griff uns der räuberische Planet an, und Ellon ließ ihn zur Hölle fahren. Er verschwand spurlos aus unserem Kosmosbezirk, war in unserer Welt nicht mehr vorhanden, so meldeten die Analysatoren. Jetzt scheint mir, als wäre er einfach aus unserer Zeit herausgefallen, als sei er in anderen Jahrhunderten, anderen Jahrtausenden, vielleicht Jahrmillionen gewesen vergangenen oder künftigen, das ist unwichtig, wichtig ist nur, daß wir nicht mehr gleichzeitig in dieser Welt waren. Ich sagte, war einfach aus unserer Zeit herausgefallen. Diese Einfachheit macht mich schwindeln Sie ist unfaßbar. Verderblich. Eine mörderische Einfachheit – das ist die treffende Definition für unser neues Verständnis jener Ereignisse.

Die Bildschirme zeigten Tag für Tag ein und dasselbe düstere Bild-Nebel und Rauch und in dem Rauch wie Gespenster vereinzelte Sterne. Die Sternenwelt existierte nicht, die fernen Gestirne durchdrangen die Finsternis nicht, nur diejenigen, denen wir uns näherten, traten vage aus dem Nebel hervor und erloschen ebenso vage, wenn wir uns entfernten. Und dies waren merkwürdige Sterne, sie blinzelten, schnauften, ihr mattes Erglänzen war wie ein Seufzen. Derart verwandelt waren sie im Nebelrauch undeutliche Lichter im gigantischen staubigen Kosmosverlies.

Woche für Woche, Monat für Monat jagten wir in der dunstigen Finsternis dahin, hielten unentwegt, den uns begegnenden Sternen ausweichend, Kurs auf den Kern. Und erst als bei einem Gestirn wir nannten es das Rote, die Analysatoren einen einsamen Planeten mit Bedingungen entdeckten, die für Leben günstig waren, änderte das Geschwader den Kurs und tauchte in den Einsteinschen Raum. Bisher waren alle Sterne, die wir getroffen hatten, ohne Planeten gewesen. Diesen ersten konnten wir nicht unbeachtet lassen.

Der Stern wirkte nur aus der Ferne rot. Er färbte sich mehr und mehr blau, je näher wir kamen. Es war dies ein schönes Gestirn, jung, energisch, lebenspendend. Der Planet, der sich um solch eine Sonne drehte, war zu beneiden. Unsere Analysatoren zeigten an, daß es Leben auf ihm gab. Aber unsere Signale fanden kein Echo. Die Sternenflugzeuge schwebten wie helle Monde über ihm, selbst ein stark kurzsichtiges Auge mußte sie wahrnehmen, doch nicht einmal das schien dort vorhanden. Oleg befahl dem Haupt-Erkundungstrupp, auf dem Planeten zu landen. Jedes Sternenflugzeug hat seinen Erkundungstrupp, den Haupterkundungstrupp leitete ich. Zu ihm gehörten Trub und Gig-Aufklärer und Krieger, die beide fliegen konnten; Romero- Historiker und Kenner der Zivilisationen fremder Sterne; Mary – Astrobotanikerin; Lussin – Astrozoologe; Irina mit ihren Geräten sowie Orlan und Grazi. Ausnahmsweise bezog ich Vagabund mit ein. Oleg wunderte sich, der schwerfällige alte Drachen würde die Beweglichkeit des Trupps einschränken. Und wo sollte man einen Schutzanzug für dieses Ungetüm hernehmen? Ich war nicht der Meinung, daß Vagabund uns hinderlich sein würde, und was den Schutzanzug betraf, so atmen die Drachen, genau wie die Demiurgen, ganz vortrefflich verdünnte Luft, ertragen weitaus besser als wir Hitze und Kälte, nicht ohne Grund hatte sich der junge Lussin mit Drachen über feuerspeienden Vulkanen aufgeschwungen. Und Vagabund hatte es nötig, sich einmal im Freien zu tummeln. Die Sternenflugzeuge sind riesengroß für Menschen, Demiurgen und Galakten, aber die Konstrukteure haben nicht bedacht, daß auch einmal eine gigantische fliegende Echse in die Schiffslisten eingetragen werden könnte. Vagabund hatte auf dem Schiff nicht einmal zum ungebundenen Herumkriechen Raum genug.

Oleg hörte höflich zu, lächelte höflich, schüttelte die goldenen Locken. Er, der so sehr einem hübschen Mädchen gleicht, ist ein verschlossener Mensch.

Sachlich erteilt er Befehle, denen sich widerspruchslos sowohl der ruhige Petri als auch der heftige Oshima, der hitzige Kamagin und die vernünftige Olga fügen, ganz zu schweigen von den übrigen. Aber außer den Befehlen bringt er kaum ein Wort heraus. Aufmerksam hörte er zu, seine Repliken sind meist nur ein Lächeln, und wenn er doch antworten muß, dann tut er es mit Entscheidungen, nicht mit Erwägungen. So auch diesmal.

»Wie du meinst«, sagte er.

Wir landeten auf dem Planeten.

Aus der Ferne hatte er uns nicht in Verwunderung versetzt. Auf den galaktischen Reisen hatten wir Welten zu Gesicht bekommen, die ungewöhnlicher waren. Eine kosmische Standardkugel: Größe ungefähr wie der Mars; Atmosphäre – der irdischen ähnlich; Berge, Meere, Wolken, wahrscheinlich auch Grün und Tiere, vielleicht auch vernunftbegabte Wesen. Jeder von uns trug ein Signaldechiffriergerät, Irina hatte außerdem noch Spezialapparate mit. Trub und Gig hatten die Dechiffriergeräte, die ihnen angeboten wurden, ausgeschlagen. Die braven Freunde hegen eine Abneigung gegen Mechanismen. Ihren Beifall finden nur Entlader und Granaten.

Eine merkwürdige Welt breitete sich unter uns, als unser Planetenflugzeug auf einen Hügel niederging, der mitten in einer Ebene ragte. Solch eine Welt kannten wir noch nicht. Sie äußerte sich in zwei Farben Schwarz und Rot. Auf roter Erde flössen rote Flüsse, dehnten sich kleine rote Seen, von roten Felsen stürzten rote Wasserfälle. Und vor dem Hintergrund dieses aufdringlichen Bacchanals in Rot erstreckten sich schwarze Wälder und Felder mit schwarzen Bäumen, schwarzen Sträuchern und schwarzen Gräsern. Über den schwarzen Wäldern flogen schwarze Vögel, durchs Gestrüpp huschten schwarze Tiere, in dem roten Wasser schwammen schwarze Fische. Die Wolken über uns waren schwarz und hatten feuerrote Ränder.

Wenn sie sich verdichteten, wurde alles Rote schwarz, wenn sie sich lichteten, färbte sich das Schwarze rot.

»Wahrscheinlich sieht so der Vorhof der Hölle aus.

Findest du nicht, Eli?« murmelte Trub und kraulte sich mit den Krallen verblüfft den Backenbart.

»Was können Engel von der Hölle wissen?« entgegnete ich.

»Alles Anorganische scheint hier rot zu sein, alles Organische vorzugsweise schwarz«, bemerkte Mary.

»Das werden wir feststellen«, versprach Trub und schwang sich auf.

Grazi nickte erhaben, er war der gleichen Meinung.

Sie wurde sogleich widerlegt. Der Engel jagte einem Vogel nach, der Ähnlichkeit mit unseren Gänsen hatte, und näherte sich ihm rasch. Da legte der Vogel die Flügel an und stürzte ab. Stürzte ab und wurde vor aller Augen flammendrot. Trub landete neben ihm und rief uns.

»Das ist er, das ist er! Er hat sich in einen Stein verwandelt! Er tut, als wäre er ein Stein!« behauptete Trub und stieß den roten Batzen wütend mit den Füßen und den Flügeln, ohne daß es ihm gelang, ihn von der Stelle zu rücken. Der Stein war so fest mit dem Boden verwachsen, als liege er da seit Jahrtausenden.

Mary sagte angewidert: »Sogar die Töne sind hier schwarz!« Hier klang tatsächlich alles dumpf und ausdruckslos. Ich hatte das Empfinden, als wären auch die Gerüche schwarz. Die rote Erde, das rote Wasser und die schwarzen Gewächse rochen gleich – nichts hatte ein eigenes Aroma, es gab weder eigentümliche Düfte noch eigentümliche Töne, alles klang und duftete irgendwie unklar, nichts ließ hellen Klang oder scharfen Geruch erkennen. Ich stieß mit dem Fuß gegen den roten Stein, den Trub für einen verwandelten Vogel hielt, Romero pochte geschäftig mit seinem metallischen Spazierstock an das metallische Dechiffriergerät. Wir vernahmen weder Metall noch Stein – es war, als stießen feste Watteklumpen gegeneinander.

Trub wollte über dem Wald nach anderen Vögeln Ausschau halten, aber es gab keine Vögel mehr, und der Wald schwand, sobald sich Trub ihm näherte, wurde kleiner, duckte sich, wurde Erde, wechselte die schwarze Farbe mit roter.

»Gig«, sagte ich zu dem Anführer der Unsichtbaren. »Deinem Freund glückt die Aufklärung nicht.

Würdest du ihm helfen?«

»Sofort ziehe ich mir die Uniform an, Chef!« rief der wackere Gig und stob dem Engel nach. Fliegend verschwand er.

Trub segelte verdutzt dahin, wir sahen ihn gut, Gigs Fluglinie erkannten wir nur an dem plötzlich sinkenden Wald, dem Wechsel von schwarzer zu roter Farbe.

»Die Abschirmung der Unsichtbaren ist hier wirkungslos«, sagte der erstaunte Orlan. »Und wir waren überzeugt, daß sie vollkommen sei.«

Irina bestätigte das. Wir wußten nicht, ob uns jemand beobachtete, der Vernunft besaß, doch wenn er uns beobachtete, dann war Gig für ihn genauso sichtbar wie Trub, der sich nie abschirmen ließ.

»Man duldet uns in einem Abstand bis zu zweihundert Metern«, erklärte Irina. »Von zweihundert bis hundert Metern verödet alles eilends. Je schneller wir uns nähern, desto schneller ist die Verödung. Die Hundertmetergrenze ist unüberwindbar. Dahinter ist nur rote, versteinerte Erde.«

Irinas Erklärung war rätselhaft und erklärte gar nichts. Indessen stürzte Gig zum Fluß. Der Anblick der entfliehenden Welt hatte das kriegerische Skelett in Wut versetzt. Das friedlich zwischen den roten Ufern fließende rote Flüßchen schnellte zur Seite, verließ sein Bett und floh wie von Sinnen über die Steine.

Eine Steilwand hinunter ergoß es sich als Wasserfall.

Das Flüßchen war ein Lebewesen, ein hurtiges, geschicktes, maßlos erschrockenes Lebewesen, diesen Eindruck hatten wir alle. Und als der unsichtbare Gig es dennoch einholte, verschwand es augenblicklich.

Da war das Bett, da waren die Spuren von dem dahineilenden Wasser, aber das Flüßchen war weg. Es war nicht weggeflossen, nicht versickert, hatte sich auch nicht wie ein Gespenst verflüchtigt, sondern war Stein geworden.

Gig entledigte sich der Abschirmung und ging bei uns nieder. »Chef, ich bin empört!« rief er und klapperte verlegen mit den Knochen. »Solche Feiglinge wie die hiesigen Bäume sind mir noch nie begegnet.

Und was für Tricks machen die Flüsse? Kannst du mir erklären, Orlan, warum das tolle Flüßchen vor mir ausgerissen ist?« Orlan vermochte genausoviel zu erklären wie ich, und ich verstand gar nichts. Trub kreiste immer noch über dem verödeten Wald, und Gig gesellte sich, diesmal ohne Abschirmung, zu ihm. Die Empörung des Unsichtbaren wechselte bald in Begeisterung über.

Allmählich fand er Spaß daran, daß sich bei seinem Nahen alles in Stein verwandelte. Das fliegende Skelett zog immer größere Kreise, bis es schließlich hinter dem Horizont verschwand. Der Engel folgte ihm. Ich trat zu Vagabund.

Der Drachen hatte versucht, ein Stück zu fliegen.

Schwerfällig hatte er sich etwa zehn Meter hoch erhoben und war auf einer Anhöhe niedergegangen.

Schlapp ausgestreckt blies er dicken Rauch von sich und ließ matte Blitze müde funkeln. Einen feuerspeienden Donnerschleuderer, der er genetisch war, konnte man ihn wahrhaftig nicht nennen. Ich bedauerte schon, daß ich ihm erlaubt hatte, an unserer waghalsigen Expedition teilzunehmen. Als ich ihm in die vorgewölbten grünlichorangefarbenen spöttischen Augen blickte, schlug meine Stimmung um. Vagabund hatte einen verteufelt klugen Blick.

»Ein komischer Planet. Allerhand Rätsel gibt er uns auf, findest du nicht, Vagabund?«

»Nur eins«, antwortete er.

»Eins? Ich nenne dir gleich drei: die lebendigen Flüsse und Bäume, ihre Angst vor uns, ihr blitzschnelles Versteinern. Daß auch die Vögel versteinern, will ich gar nicht erwähnen.«

»Nur eins«, wiederholte er. »Ich habe das Gefühl, als wäre ich mir selbst begegnet, meinem früheren Selbst… Ich errate die Anwesenheit eines denkenden Gehirns, doch ich vermag keine Verbindung zu ihm herzustellen…«

Auf dem ausgestreckten Flügel des Drachens saß Lussin.

»Und was sagst du?« fragte ich ihn.

»Merkwürdig«, sagte er nach kurzem Überlegen.

7

Zum Nachdenken war keine Zeit. Trub brauchte Anweisungen, Gig wartete auf Befehle, alle verlangten Erklärungen. Ärgerlich sagte ich zu Irina: »Die Geräte taugen nicht viel, da sie nicht imstande sind, eine so einfache Tatsache festzustellen, was lebendig und was tot ist auf diesem verflixten Planeten.«

Sie kniff herausfordernd die Augen zusammen.

Und sie blickte nicht, sondern schleuderte Blicke.

Wenn man ihr einen Vorwurf machte, rechtfertigte sie sich nicht, sondern ärgerte sich. Olga hatte es nicht geschafft, ihrer Tochter Gehorsam anzuerziehen.

»Nicht meine Geräte irren sich. Irrig ist Ihre Vorstellung von dem, was einfach und was kompliziert ist auf dem Planeten.«

Ich betrachtete ihr zornentflammtes Gesicht, und sie mäßigte ihren Ton.

»Erlauben Sie mir, zur ,Steinbock‘ zu fliegen. Ich hole von Ellon ein anderes Schutzanzugmodell, das eine bessere Abschirmung garantiert.«

»Für die Unsichtbaren oder für uns?«

»Für jeden, der unsichtbar sein möchte.«

»Nein«, antwortete ich schroff. »Ich kehre selbst zur ,Steinbock‘ zurück. Ich muß mich mit dem Leiter der Expedition beraten. Sie bleiben einstweilen hier.«

Pawel schaute mich zaghaft an und schüttelte den Kopf.

»Sie sind unzufrieden?« fragte ich ihn erstaunt.

»Wäre es nicht besser, wir kehrten alle zurück, lieber Admiral? Offen gestanden habe ich wenig Lust, die Nacht auf diesem Planeten zu verbringen.«

»Was beunruhigt Sie?«

Er zuckte vielsagend die Schultern. »In jedem von uns steckt der anfällige Adam, mein liebenswürdiger Admiral. Wir sind in der Lage, Sterne zu entzünden, den Raum zusammenzurollen und geradezubiegen, was, wenn man den Alten glauben will, nicht einmal ihre Götter vermochten. Aber kaum stehen wir Auge in Auge der Natur gegenüber, da erwachen die alten Ängste in uns, da sind wir nicht mehr als ein winziges Teilchen der Welt, nicht Herr, sondern Spielball der Elemente.«

Er überzeugte mich nicht. Freilich war der Planet seltsam, aber waren anderen Sternenfahrern nicht weit seltsamere Himmelskörper begegnet? Und wenn ich Pawels Vorschlag dennoch zustimmte (das war das vernünftigste, wie die nachfolgenden Ereignisse bewiesen), dann nicht aus Verständnis für seine nächtlichen Ängste und schon gar nicht deshalb, weil ich die Zukunft voraussah, sondern weil es mir einfach überflüssig schien, die Absonderlichkeiten einer zwar interessanten, aber doch kleinen Welt auf unserem Weg durch die Sternenräume zu erforschen. Wir hatten wichtigere Aufgaben. Und genau dies meldete ich Oleg nach unserer Rückkehr.

Oleg hörte mich höflich lächelnd an. Er brauchte keine Fragen zu stellen, alles, was wir auf dem Planeten getan und wovon wir gesprochen hatten, war auf die Sternenfahrzeuge übertragen worden. Sein abweisendes Lächeln war allerdings unangebracht. Absichtlich sage ich abweisend. Ein Lächeln ist wie eine Hand, ist es böse, versetzt es Schläge, ist es gutmütig, gleicht es einem freundschaftlichen Händedruck, ist es freudig, wirkt es anziehend. Olegs Lächeln verweist einen auf seinen Platz, betont den Abstand. Auf der »Widder«, der »Stier« und der »Schlangenträger«, die von Olga, Petri und Kamagin befehligt werden, besteht ein herzliches Verhältnis zwischen den Kapitänen und der Besatzung. Ich beschloß, bei passender Gelegenheit mit Oleg darüber zu sprechen. Eine Gelegenheit bot sich. Ich riet, eine Konferenz der Kapitäne der Sternenflugzeuge einzuberufen und gemeinsam zu entscheiden, ob der erste von uns entdeckte Planet erforscht werden soll.

»Du bist doch der Meinung, daß es nicht erforderlich sei, Eli«, entgegnete er.

»Was meine ich nicht alles! Ich kann mich auch irren. Ellons Meinung zu dieser Frage kann wichtiger sein als meine. Instrumentale Erkundung ist Sache seiner Gruppe. Vielleicht hat er etwas Interessanteres als die Schutzanzüge vorzuschlagen, die die Unsichtbarkeit gewährleisten?«

»Große Konferenzen sind nicht erforderlich«, sagte Oleg kühl. »Wir entfernen uns aus diesem Bezirk.« Da sagte ich freimütig: »Oleg, warum bist du immer so reserviert? Glaube mir, das berührt nicht nur mich unangenehm.«

Er zögerte mit der Antwort. »Es geht nicht anders, Eli.«

»Wieso nicht?«

Zerstreut blickte er vor sich hin. Das maskierende höfliche Lächeln hatte er abgelegt. Er war der schlichte offene Junge, den ich auf der Erde gekannt hatte.

»Eli, ich mag Ellon nicht«, sagte er.

»Niemand mag Ellon.«

»Du irrst dich, Eli.«

»Mit Ausnahme von Irina«, korrigierte ich mich.

»Für mich ist das eine hinreichend wichtige Ausnahme«, bekannte er finster. »Wir verstanden uns gut, bevor sie mit Ellon zu arbeiten anfing. Sie ist ihm, mag er auch ein hervorragender Geist sein, allzusehr ergeben. Und Ellon betont unaufhörlich, besonders in ihrer Gegenwart, daß ich ihm in der Funktion, nicht in der Bedeutung überlegen bin.«

»Bei den Menschen ist ein Zusammenstoß auf dieser Grundlage unmöglich.«

»Ellon ist in der Zerstörergesellschaft erzogen worden, wo es ein sehr ausgeprägtes Ranggefühl gab. Innerhalb einer Generation läßt sich die Psychologie nicht ändern, Eli.«

»Wir sprechen nicht von deinem Verhältnis zu Ellon, sondern zu allen«, erinnerte ich.

»Ich kann Ellon nicht von den anderen trennen. Du kennst das Sternenfahrergebot, Eli: Verhalte dich gegen alle Kameraden gleich kameradschaftlich. Doch ich bin außerstande, ihn wie Romero, Orlan oder Grazi zu behandeln. Für mich gibt es nur einen Ausweg-Freundschaften zu vermeiden. Vielleicht habe ich unrecht, jedenfalls werde ich mich Ellon nicht als Freund aufdrängen.«

Ich wollte Oleg keine Predigt über Sternenfreundschaft halten, und ich lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. »Dein Vater sann einst über die Probleme der Sternenharmonie nach. Er verfaßte sogar eine Symphonie unter dem Titel ,Die Harmonie der Sternensphären’. Wenn ich nicht irre, handelte sie von dem Kreislauf der Welten, von den Menschen und den Himmelsbewohnern – von unseren heutigen Problemen eben. Aber da gab es nicht allein Musik, sondern noch andere Ingredienzien Druck, Hitze, Kälte.

Überlastung, Schwerelosigkeit…«

Oleg kannte die Biographie seines Vaters genau.

»Die Symphonie fiel bei der Uraufführung auf der Erde durch, die Himmelsbewohner auf der Ora gerieten ebenfalls nicht in Begeisterung. Wahrscheinlich war sie verfrüht. Ich fürchte, auch wir sind verfrüht, Eli.

Einstweilen setzt sich die Sternenharmonie nur mühsam durch. Und mit den Ingredienzien der Harmonieerstaunlicher als Hitze und Kälte , werden wir es sicherlich noch zu tun bekommen.«

Unser Gespräch wurde von dem Alarmsignal unterbrochen. Oleg und ich eilten in den Kommandeursaal. Die Analysatoren meldeten, daß sich mit dem Roten Stern Seltsames tue. Er schien einem Überfall ausgesetzt zu sein. Alle vier Schiffsmaschinen wählten einhellig, wie wir später feststellten, und unabhängig voneinander eben diesen ungeheuerlichen Terminus »Überfall« aus der Unmasse von Begriffen, die ihr Gedächtnis speichert.

Wir ließen kein Auge von den Sternen-Bildschirmen. Aus der Ferne, dem Bezirk, auf den wir Kurs nahmen, kam ein gewaltiger Strahlungsstrom, ein gigantisches Strahlenbündel, das genau auf den Roten zielte. Der Strom dahinjagender Energie war von so hoher Intensität, daß er uns wie eine blasse Silhouette vorkam, wie ein schwach leuchtendes Band, das die Sterne leicht beschattete. Und hätten wir nicht deutlich gesehen, was mit dem Roten geschah, wäre uns nicht klargeworden, welche Macht in dem Strahlenbündel steckte.

Oleg wandte sich mir, bleich geworden, zu. »Welch Glück, Eli, daß wir uns dem Planeten näherten! Befänden wir uns jetzt jenseits des Roten, würde sich unser Geschwader in ein Plasmawölkchen verwandeln!«

»Was gedenkst du zu unternehmen, Oleg?« fragte ich. »So schnell wie möglich fliehen?«‘ »Wir werden uns dem Roten nähern, Eli. Wir müssen wissen, was geschieht. Selbstverständlich lassen wir äußerste Vorsicht walten.«

Er gab Befehl, und das Geschwader steuerte, im Einsteinschen Raum verbleibend, auf den Stern zu, der von irgend jemand oder irgend etwas vernichtet wurde. Ich saß im Sessel und schaute düster auf die Bildschirme. Die Meldungen der Analysatoren beunruhigten. Ich dachte an den Untergang der ersten Expedition zum Galaxiskern. Die Erinnerungen an dieses Geschwader quälten nicht allein mich in diesen Augenblicken.

Die letzten Aufzeichnungen in Allans Bordjournal besagten, daß ein Strom verderbenbringender Teilchen auf ihre Sternenflugzeuge hereingebrochen sei und Allan und Leonid Kaum waren sie in sauberem Raum und hofften der unbegreiflichen Gefahr entronnen zu sein, da wurden die Schiffe erneut von solchen Strömen ereilt. Es war, als hätten die unbekannten, auf jeden Fall aber unsichtbaren Generatoren des verderbenbringenden Strahls, dem Geschwader folgend, das Ziel geändert.

So war es mehrere Male gegangen. Dann brachen die Aufzeichnungen ab, und die Schiffe mit den toten Besatzungen, die vor ihrem Ableben noch Zeit gefunden hatten, den Automaten den entgegengesetzten Kurs zum Perseus aufzugeben, waren zurückgekehrt. Der Kern hatte sie auf diese Weise nicht an sich herangelassen. Die Zielgerichtetheit der Schläge, die sonst unerklärliche Richtungsänderung der schmalen Ströme ließen auf der Erde dann vermuten, daß die erste Expedition, ohne es zu ahnen, Kampfhandlungen ausgesetzt gewesen war.

Jetzt bot sich ein analoges Bild, mit dem Unterschied nur, daß der Strahl nicht gegen uns gerichtet und unermeßlich mächtiger war. Da der Stern beschossen wurde, nicht die Sternenflugzeuge, war auch mehr Energie erforderlich. Das Bild war real und in seiner Realität undenkbar: ein Energiestrom ohne Ende, ein streng paralleler Strahl, ein ungeheuerlicher, unaufhörlich wirksamer Laser.

»Krieg!« sagte ich unwillkürlich. »Wie unerhört mächtig muß man sein, um auf diese Weise Sterne zu beschießen!«

»Es steht noch nicht fest, ob dies eine bewußte Handlung und keine elementare Naturerscheinung ist«, entgegnete Oleg. Er konnte nicht zugeben, daß wir es mit einem Beschuß aus dem All zu tun hatten.

»Es wäre zu entsetzlich! Ein Krieg gegen ein eingedrungenes Schiff des Gegners, das wäre immerhin verständlich. Empörend, widerwärtig, verbrecherisch, ja, aber letztlich widerspräche es nicht den Verhaltensgesetzen von Lebewesen. Aber warum einen toten Stern bekämpfen? Weshalb? Wieso?«

»Ich vermag keine deiner Fragen zu beantworten, Oleg«, sagte ich unlustig. »Doch ich bin sicher, daß wir, wenn wir heute nicht wahrhaft gigantisch vorsichtig sind, in ein Unglück geraten, das weit schlimmer ist als das, von dem Allans Geschwader betroffen wurde, nicht einmal unsere Leichen würden in die Heimat zurückgeschleudert. Vorsicht ist übrigens nicht gleichbedeutend mit Feigheit, ich rufe nicht zur Umkehr auf, fügte ich hinzu.

Oleg tat alles, um das Geschwader von dem schrecklichen Strahl fernzuhalten. Die Besatzungen taten Dienst auf den Gefechtsstationen. Wir waren bereit, unverzüglich sämtliche Abwehrmittel einzuschalten, falls der Strahl auf uns gerichtet wurde, die Raumannihilatoren, die Metrikgeneratoren, die Gravitationsschnecken. Ich zweifelte schon damals nicht, daß diese ganze, uns so mächtig erscheinende Abwehr nicht mehr als eine Fliegenklatsche gegen eine Atomgranate war. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß wir am Rande eines Abgrunds taumelten. Wir kamen nur deshalb nicht um, weil man uns ignorierte. Der Schlag galt dem Stern, nicht dem Geschwader.

Der ungeheuerliche Strahl drang in ihn ein wie eine Harpune in den Körper eines Wals, wie ein Degen in die Brust eines Duellanten. Der Stern quoll, zerbarst.

Wir hatten ihn drei Wochen lang umkreist, da hatte er riesige Protuberanzen verspritzt, die wie Spieße aus ihm stachelten – staubige Strahlen hatten sich nach allen Seiten gereckt. Jetzt war er eine einzige ungeheure Protuberanz, die verblassend auf uns zujagte, in Rauch und Asche, und im eigenen Staub verschwand.

Der Strahl verging ebenso plötzlich, wie er entstanden war. Der Stern toste weiter, aber das war schon ein anderer Stern. Ein gutes Drittel seiner Substanz verbreitete sich, einmal ausgestoßen, auch weiterhin und verdichtete den ohnedies dichten Nebel. In der Optik wäre der Stern von keinem Planeten aus mehr zu sehen gewesen. Glutroter Staub verhüllte die Gestirne der fernen Bezirke. Die Staubwolke jagte wie nach einer Explosion dahin und dehnte sich weiter und weiter aus.

Mit dem Planeten, auf dem wir noch wenige Stunden zuvor geweilt hatten, war es aus und vorbei.

Wenn er als Himmelskörper auch noch bestand, so waren doch die seltsamen Lebensformen, die wir auf ihm entdeckt hatten, vernichtet. Die leidenschaftslosen Analysatoren zeigten das präzise an. Die gesamte dem Roten zugewandte Oberfläche des Planeten hatte sich mit einer glasartigen aufgeschmolzenen Masse überzogen. Vielleicht hätten sich auf der anderen Seite Reste von Leben finden lassen, aber dort tobten Brände. Für uns stand fest, daß auch wir ausgelöscht worden wären, wenn wir diese schreckliche Nacht auf dem Planeten verbracht hätten.

Die Natur des Strahls, der so unerwartet erschienen war und so plötzlich geendet hatte, blieb unaufgeklärt. Es gab darin triviale Photonen, Neutronen, Protonen, Neutrinos, Rotonen, sogar die wenig erforschten Ergonen und sicherlich auch noch unbekannte materielle Mikrokonstruktionen. Unbegreiflich war die Wechselwirkung aller dieser Teilchen im Strahl, ganz abgesehen von den Ursachen für sein Erscheinen oder seiner Bestimmung. Ein natürlicher Prozeß, der einen so ungeheuerlichen Hyperlaser schuf, war undenkbar. Aber wenn das tatsächlich ein Beschuß gewesen war und kein elementar verlaufender Prozeß, dann erhob sich die Frage, warum der Stern beschossen worden war. Und wer hatte ihn beschossen?

Oleg berief den Rat der Schiffskommandeure ein.

Olga, Kamagin und Petri erschienen.

Die Konferenz wurde auf alle Schiffe übertragen.

Oleg fragte: »Was denken die Kommandeure über die Ereignisse, die sich auf dem Roten abgespielt haben?«

»Eine kosmische Katastrophe mit riesigem Energieverbrauch«, sagte Olga. »Ich habe ein paar Berechnungen angestellt. Die Energie des Stroms, der aus dem Kern ausgestoßen wurde, hätte ausgereicht, um zehn neue Planeten zu schaffen. Es ist wenig wahrscheinlich, daß man irgendwo ein künstliches Geschütz von solcher Leistungsfähigkeit herstellen konnte. Ich neige zu der Ansicht, daß wir auf einen neuen kosmischen Prozeß gestoßen sind.«

»Wenn das ein kosmischer Prozeß ist, so ist er gefährlich«, äußerte der vorsichtige Petri. »Durchstieße ein solcher Strahl unser Geschwader, bliebe nicht einmal die Erinnerung an uns übrig! Mich macht seine Zielgerichtetheit stutzig. Er kam von weit her und traf genau den Stern. Eine derartige Genauigkeit ist für einen natürlichen Prozeß wenig wahrscheinlich.«

»Ein kosmischer Krieg!« rief Kamagin aus.

»Meine Freunde, sehen Sie denn nicht, daß eine Schlacht im Gange ist und der unglückliche Rote Angriffsobjekt wurde? Sie fragen, warum jemand ein totes Gestirn überfällt? Haben die Menschen denn nicht totes Gestein feindlicher Forts und Festungen erstürmt, haben sie nicht Städte und Staaten zerstört, Wälder und Gewässer, um den Gegner der Zufluchtsstätten und Nahrungsquellen zu berauben? Wir kennen nicht die Ziele des Krieges, wissen nicht, wer ihn führt, wissen nicht, welchen Nutzen jemand von der Vernichtung des Roten hat, aber daß dies ein Krieg ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Und seine Ergebnisse sehen wir allzu deutlich Degradation des Hauptgestirns, Untergang erstaunlicher, einzigartiger Lebensformen!«

»Wenn das ein Krieg ist, so gilt es zu bestimmen, auf wessen Seite wir stehen«, erklärte Oshima. »Wer sät das Böse, wer leidet unter dem Bösen? Und dann müssen wir den Träger des kosmischen Bösen schlagen, müssen wir uns zur Verteidigung der Leidenden erheben!« Mit der gleichen Entschlossenheit fügte er hinzu: »Was mich betrifft, so schmerzen mich die seltsamen Wesen, die den Planeten besiedelt hatten.

Der Schlag war gegen sie gerichtet, und sie hatten nicht die Macht, mit einem Gegenschlag zu antworten. Ihr Leben ist seltsam, aber es ist Leben, und es bittet um Schutz.«

Dem Rat der Kapitäne wohnen stets Orlan und Grazi bei. Oleg forderte auch sie auf, sich zu äußern.

Sie besaßen zuwenig Angaben, um Schlußfolgerungen zu ziehen. Oleg vertrat ebenfalls keine bestimmte Meinung. Wir durften keine Fehler machen, Fehler kämen uns teuer zu stehen. Sollte dies ein kriegerischer Akt sein, so würden wir uns nicht Hals über Kopf einmischen. Zunächst einmal müßten die Kräfte und die Ziele des Gegners erkundet werden. Wären im Kosmos aber unbekannte Elemente entfesselt, so gelte es um so mehr, sich vor ihnen in acht zu nehmen, um nicht unversehens in eine ungeheure Feuergrube zu geraten.

»Uns interessiert deine Meinung, Eli«, sagte Oleg zum Schluß. »Du bist der wissenschaftliche Leiter der Expedition, dein Wort ist entscheidend.«

»Mein Wort entscheidet gar nichts, denn ich bin mit allen einverstanden«, erklärte ich. »Alle Meinungen sind begründet, ich vermag keine kategorisch vorzuziehen. Kamagins Analyse und Oshimas Wünsche gefallen mir am besten. Aber ich würde es nicht riskieren, nach ihrem Programm vorzugehen. Ich unterstütze den Oberbefehlshaber. Wir forschen weiter, kategorische Entscheidungen schieben wir auf.«

»Dann setzen wir den Flug zum Kern fort«, resümierte Oleg. »In die örtlichen Kämpfe schalten wir uns nicht ein, wir beobachten nur.«

Nach der Sitzung machte mir Kamagin Vorwürfe.

»Eli, früher waren Sie entschlossener! Und früher erklärten Sie sich nicht eilends mit allen einverstanden.

Sie warteten immer mit eigenen Lösungen auf, die so kühn waren, daß einem schwindelte. Sie sind alt geworden, Admiral!« Voller Zärtlichkeit blickte ich Eduard an. Er war nicht gealtert.

Er war genau sechsmal so alt wie wir und doch jünger als jeder von uns. Klein, flink, breitschultrig, mit hübschem Gesicht, dunklem Haarschopf und dunklen lebhaften Augen, hatte er sich jenen tapferen Sinn bewahrt, der ihn einst mit primitiven Vorlicht-Sternenflugzeugen in den Kosmos geführt und ihm die Möglichkeit gegeben hatte, die Prüfungen einer dreihundertjährigen kosmischen Odyssee zu durchstehen. So war er immer noch, knabenhaft mutig, und noch genauso trieb es ihn ins Kreuzfeuer der Ereignisse. Sein Name, der mit goldenen Lettern im Pantheon eingekerbt ist, führt die Reihe großer galaktischer Kapitäne an, die im Unterschied zu ihm schon lange tot sind. Er war der Prominenteste von uns Teilnehmern der zweiten Expedition zum Kern. Freundschaftlich legte ich ihm die Hand auf die Schulter.

»Lieber Eduard, ich habe tatsächlich Angst. Ich kann nicht vergessen, daß wir auf der Suche nach den Ramiren sind, einem geheimnisvollen Volk, von dem wir nur wissen, daß es mächtiger ist als wir. Könnten die Ereignisse, deren Zeugen wir geworden sind, nicht eine Form ihrer Tätigkeit in den Bezirken sein, die an den Kern grenzen?«

Kamagin hörte mir mißtrauisch zu. »Eine vernünftige Zivilisation befaßt sich mit der Vertilgung von Sternen, wobei sie alle Arten von Leben in der Umgebung dieser Sterne zum Untergang verdammt? Vernunft zieht gegen Vernunft zu Felde? Haben Sie nicht zu hoch gegriffen, Eli?«

»Ich weiß nicht. Womöglich sind die Ramiren nicht allein. Können Sie das ausschließen? Befeinden sich vielleicht mächtige Zivilisationen, die den Raum um den Kern bewohnen? Sie erwähnten die Vernichtung von Saaten und die Vergiftung von Flüssen in den vormaligen Kriegen der Menschen. Sind Überfalle auf Sterne nicht in gewisser Weise ein Äquivalent dazu? Aktionen gemäß der Macht des Akteurs…«

»Gut, handeln wir gemäß unserer Machthaben wir einstweilen Angst«, sagte, sich verabschiedend, Kamagin und lächelte freundschaftlich, damit ich seine Entgegnung nicht als Beleidigung auffaßte.

Olga wurde von Irina aufgehalten, dann trat sie zu Mary. »Bist du zufrieden mit meiner Tochter, Eli?« erkundigte sie sich.

»Es fragt sich, ob sie mit mir zufrieden ist«, tat ich scherzend ab. »Sie mag mich nicht besonders, aber Streit haben wir nicht. Was meint Oleg?«

»Der hat an Irina nichts auszusetzen. Allerdings erklärte er das sehr trocken. Mich beunruhigt, daß Oleg und Irina uneins sind.«

»Das liegt an Ellon«, mischte sich Mary ein.

»Irina geht in ihrer Arbeit im Labor völlig auf, sagte ich ausweichend. »Wahrscheinlich kann sie Oleg nicht soviel Aufmerksamkeit widmen wie früher.«

Oleg hatte befohlen, die Tanew-Annihilatoren in Gang zu setzen. Wir jagten in den Überlichtraum hinaus. Der Rote mit seinem vergehenden Planeten blieb hinter uns zurück.

Zweiter Teil - Die Untergehenden Welten -

1

Oleg rief mich in den Kommandeursaal.

Das Schiff führte Oshima, Oleg sprach mit Ellon Wichtiges mußte sich tun, wenn Oleg den Wunsch verspürt hatte, Ellon zu sich zu bestellen, und jener bereit war, das Laboratorium zu verlassen.

Auf den Sternenbildschirmen war es dunkel, im unendlichen Dämmer der unendlichen Nebel zeigte sich der Kern, bis zu ihm waren es höchstens noch dreitausend Lichtjahre. Seitlich flimmerte der kleine Fleck einer kugelförmigen Sternansammlung. Die Landschaft setzte mich nicht in Erstaunen ich hatte sie die ganze letzte Woche gesehen.

»Wir haben eine Grube vor uns im Raum«, sagte Oleg. »Die Gerade zum Kern ist länger als der Umweg auf einer Kurve. Und die Gerade ist unstetig. Je näher wir dem Kern kommen, desto weiter fort ist er.

Der Kern kann sich nicht entfernen, folglich fallen wir in ein Loch in der Metrik.«

Von Löchern und Einbruchstellen im Raum hatte ich schon gehört, diese Theorie war im Kurs für Astronavigation behandelt worden. Daß der Raum euklidisch nur in der Abstraktion ist, war jedem bekannt. Aber noch nie war ein galaktischer Reisender solchen »Löchern in den Löchern«, wie sie genannt wurden, begegnet. Man vermutete, daß in eins von ihnen das Sternbild Hyaden glitt, es entfernte sich auf unbegreifliche Weise von seiner Umgebung. Oleg hatte eine Expedition zu den Hyaden führen sollen, um der Hypothese auf den Grund zu gehen, aber diese Expedition wurde, wie ich bereits erwähnte, unserer Fahrt zum Kern wegen abgesagt.

»Bedeutet dies, daß wir, obwohl wir den Kurs beibehalten, nicht zum Kern gelangen?« fragte ich.

»Das Licht des Kerns passiert die Grube«, antwortete Oleg. »Ob wir das im Überlichtbereich schaffen?

Was geschieht, wenn sich dort kein physischer Raum findet, der in den Tanew-Annihilatoren annihiliert werden kann? Dann fallen und fallen wir ins Bodenlose!«

»Soweit ich mich Ngoros Theorie entsinne«, sagte ich, »läßt sich ein Loch in der Metrik auch durch eine Zeitverzögerung an diesen Stellen erklären.«

»Das wäre noch schlimmer, Admiral«, entgegnete der Demiurg. »Eine Zeitverzögerung ist genauso ein Loch, bloß kommt man aus dem noch schlechter heraus als aus einem räumlichen. Ich bin entschieden gegen das Eintauchen in die Lücke!«

»Der Umgehungskurs führt durch die kugelförmige Ansammlung. Einen anderen Weg gibt es nicht«, sagte Oleg nachdenklich.

Ich wies auf die Sternenbildschirme. Nirgends war der Kosmos mit Brettern vernagelt. Warum nicht links an der kugelförmigen Ansammlung vorbeifliegen oder über oder unter ihr? Drohte denn auch dort Gefahr?

»Das ist es ja, daß Gefahr droht. Der Kosmos ist nirgends mit Brettern vernagelt, da hast du recht, Eli. Aber die Schiffsmaschine weist darauf hin, daß die Umgebung des Kerns reich an ebensolchen Metriklücken ist wie die, die sich vor uns aufgetan hat. Wir legen den Kurs nach der Gesamtheit der Sterne fest, nicht nach einem willkürlich gewählten. Und plötzlich haben die Sterne, die sich rechts und links vom Kurs befanden, begonnen, sich sehr rasch zu entfernen. Dieses Auseinanderlaufen erreicht eine Geschwindigkeit von Tausenden Lichtjahren in der Woche. Die Sterne sind keine Schiffe, sie können sich nicht aus dem optischen Raum lösen. Und eine Rotverschiebung des Lichts tritt nicht auf, folglich auch kein reales Auseinanderlaufen. Bleibt nur ein Schluß in diesen Bezirken fällt das Licht in Metriklöcher, wo sich die Inertiallinien kolossal verlängern.«

»Und die Sterne, die wir hinter uns lassen?«

»Das ist alles normal, Eli. Wir lassen ja keine Löcher in der Metrik hinter uns! Nein, der einzig sichere Weg führt durch die kugelförmige Ansammlung, einen anderen sehe ich nicht.«

»Darf ich gehen?« fragte der Demiurg. »Meine Meinung kennen Sie.«

Er empfahl sich. Oleg und ich blickten schweigend auf die Sternenhalbsphäre vor uns. Der Kugelsternhaufen war vor zwei Wochen auf den Bildschirmen erschienen, inzwischen hatten wir uns ihm im Überlichtbereich fast auf hundert Lichtjahre genähert. Er war noch weit, aber die Schiffsmaschine wußte schon eine ganze Menge von ihm. Kugelförmiger Sternenschwarm, ungefähr zwei Dutzend Lichtjahre im Querschnitt, rund fünf Millionen Sterne der späten Klassen, eilt vom Kern weg, senkrecht zur Galaxisebene, Geschwindigkeit: fünfzig Kilometer in der Sekunde. Die Geschwindigkeit war nicht groß, aber wenn man sie mit dem Alter der Sternenexistenz multiplizierte? Innerhalb von zweihundert Millionen Jahren einer geringen Frist nach kosmischen Maßstäben würde er die Galaxis ganz und gar verlassen! Er bewegte sich nicht im Raum, er floh!

Und noch eins hatten die Schiffsmaschinen bemerkt: Der mörderische Strahl, der den Roten durchbohrt hatte, war aller Wahrscheinlichkeit nach von dieser Ansammlung ausgegangen. Auf der Strahltrasse gab es keine anderen Gestirne, die ihn hätten generieren können. Sonstige Quellen, außer einem Stern der Ansammlung, entfielen, wenn man die Bahn nicht mit krummen Linien zeichnete. Und nun erwies sich, daß die Ansammlung auch das einzige zugängliche Tor zum Kern war.

»Ein Pfropfen im Flaschenhals«, sagte Oleg ärgerlich. »Oder ein Haifischmaul voller leuchtender Sternenzähne, bereit, den ungebetenen Ankömmling zu verschlingen.«

»Einen anderen Ausweg haben wir nicht?«

»Einen anderen Ausweg haben wir nicht«, bestätigte er mißmutig.

Das Geschwader schwenkte zur kugelförmigen Ansammlung ab.

Viele Male habe ich den Sternenhimmel in den offenen Haufen der Plejaden und des Perseus beschrieben. Auch diesen würde ich gern, ohne Scheu vor Wiederholungen, ausführlich schildern. Wenn ich es nicht tue, dann nur deshalb nicht, weil das Bild, das sich mir bot, zu denen gehörte, die man gemeinhin unbeschreiblich schön nennt. Die kugelförmigen Haufen, jetzt weiß ich das, sind mit den offenen nicht zu vergleichen. Man stelle sich ein Himmelsgewölbe mit zweihundert irdischen Monden, tausend Venussen und hunderttausend Siriussen vor, an dem außerdem noch deutlich die übrigen fünf Millionen Sterne funkeln, denn nicht einer ist weiter als zehn Lichtjahre entfernt, dann wird man begreifen, daß es unmöglich ist, diese Pracht zu beschreiben. Ein Detail allerdings muß ich hervorheben. Ich sage »Detail«, dabei beruht darin vielleicht das Wesen der Erscheinung, die Kugelhaufen benannt ist. Der innere Raum ist hier völlig durchsichtig, derart durchsichtig, daß die leeren Kosmosbezirke dagegen wie Staubwolken wirken. Wir, die wir uns aus dem Nebel gelöst hatten, freuten uns ganz besonders an der Weite ohne Staub und Gas.

Wenn die »Steinbock« dereinst zur Basis zurückkehrt, können sich die Menschen und unsere Freunde an den Stereofilmen weiden, die die majestätische Schönheit und verblüffende Sauberkeit dieser der Galaxis entfliehenden Sternenwelt festgehalten haben.

Selbst denjenigen, die nichts von irgendwelchen Musiken der Sternensphären hören wollten, kamen unwillkürlich solche Vergleiche in den Sinn wie Sternenharmonie, Symphonie der Gestirne derart identisch mit bezaubernder Musik war dieses bezaubernde Reich des Lichts und der Reinheit.

Viele Sterne hatten Planeten. Sorgfältig fixierten wir jeden. Sie besaßen ideale Bedingungen für Eiweißleben : mäßig heiße Sonnen ich sagte schon, daß die Sterne hier hauptsächlich später Klassen waren, gelborange, rötlich-, durchsichtigen Kosmos. Atmosphären, die den irdischen ähnelten, Wasser und Festland.

Aber nirgends waren vernunftbegabte Zivilisationen aufzuspüren, nicht einmal einfachste Lebensäußerungen fanden sich. Schöne leblose Welten so glitten sie an uns vorbei. Mary hätte einen der prächtigen Planeten besucht, um ihn mit Leben zu infizieren, wären wir dazu aufgelegt gewesen. Doch keiner von uns vergaß, daß wir uns durch dieses Sternentor, das geradezu ein Paradeeingang war, in eine andere Welt begaben. Was erwartete uns?

»Das Paradies, bevor es besiedelt wurde«, sagte Mary seufzend, die durch den Vervielfacher einen Planeten beobachtete.

»Ein Paradies für den Export«, scherzte ich düster.

Ich spielte darauf an, daß der Sternhaufen mit einer Geschwindigkeit von zwei Zehntausendsteln des Lichts aus dem Schoß der Galaxis flüchtete.

»Wenn du die Flucht des Haufens der Tätigkeit irgendwelcher vernunftbegabter Kräfte zuschreibst, begabst du sie dann nicht mit allzu großer Macht?«

»Ich stelle Fragen, ohne vorher die Antworten zu programmieren«, parierte ich.

Im stillen programmierte ich selbstverständlich die Antworten. Ich strapazierte mein Gehirn mit schwierigen Problemen. Alle bekannten Kugelhaufen waren auf allen Achsen gleichmäßig weit vom Kern entfernt, dieser entfernte sich ebenfalls von ihm. Warum verdunstete der Galaxiskern, um es einmal so auszudrücken, Kugelhaufen? Was zwang sie, an die Peripherie zu fliehen, während bei den einzelnen Sternen dergleichen nicht zu beobachten war? Von welchen Kräften wurden die Gestirne so sorgfältig gemischt, daß die Kugelhaufen durchweg aus Sternen später Klassen bestanden, die für das Eiweißleben am günstigsten sind? Warum traf man bei ihnen so oft, hundertmal öfter als bei gewöhnlichen Sternen, Planeten an?

Die Kugelhaufen fliegen nur nach außen, senkrecht zu der Ebene, wo sich in der Galaxis die Hauptmasse der Sterne befindet, überlegte ich mir. Es ist, als suchten sie das Weite. Warum? Tausende Warum! Wo mögen die verflixten Ramiren stecken? Sie wüßten sicherlich der Rätsel Lösung.

Ellon hatte einen Spezialauftrag – auf den Planeten des Kugelhaufens sollte er nach dem Mechanismus fahnden, der den Roten beschossen hatte. Er entdeckte keine Anzeichen für einen Superlaser. Das Wesentlichste fehlte: eine mächtige Zivilisation, der solche Geschütze angemessen wären. Tag für Tag glitten wir bei kleiner Fahrt der Annihilatoren durch die glänzende Welt, verstaubten sie mit dem in den Schiffsschlünden verbrannten Raum – und fingen nicht das schwächste Signal auf, das gegen diese interstellare Umweltverschmutzung protestierte. Eine großartige Welt, eine nutzlose Welt, sagten wir uns. Es gab kein Leben in ihr, ihre Schönheit war für niemanden da.

Sie strahlte für sich, in sich. Solche Verschwendungssucht fanden wir unverzeihlich. Eine nutzlose Welt, sagten wir wieder voller Wehmut.

2

Wir passierten das Sternentor des Kerns und gerieten erneut in vernebelten Raum. Der Kern qualmte wie ein schlechtes Feuer, weit und breit war er von Gaswolken verhüllt. Gigantische Massen gasförmigen Wasserstoffs stoben, wie sturmgetrieben, vom Kern aus in alle Richtungen. Bald lichteten, bald verdichteten sie sich. Olga brachte die fällige Berechnung: Die in den lokalen Sternen konzentrierte Materie war in der Masse geringer als die im interstellaren Raum versprühte. Die Berechnung erschien ihr erstaunlich, sie bekannte, daß das Ungewöhnliche der Erscheinung sie wundere und freue. Ich wunderte mich nicht und freute mich nicht. Ich mag Staub weder auf der Erde noch im Kosmos.

Mary sagte unwillig: »Warum hat man dich zum wissenschaftlichen Leiter der Expedition ernannt? Du liebst die Wissenschaft nicht! Niemals begeistert dich ein neuer Fakt an sich.«

»Dafür liebe ich die Wissenschaftler und kann ihre Entdeckungen ertragen, und das ist gar nicht so wenig«, antwortete ich. »Im übrigen hast du recht: Mich begeistern nur gute Fakten, nicht einfach neue.«

Rechts vom Kurs erschien ein kurzperiodischer Cepheid. Das war ein typischer Flackerstern, dessen Volumen und Leuchtkraft sich rasch änderten. Ich hätte keine Aufmerksamkeit an ihn verschwendet, obwohl an ihm Seltsamkeiten entdeckt wurden, die normalen Cepheiden nicht eigen waren. Oleg aber ist stärker wissenschaftlich interessiert. Auf Ellons Bitte lenkte er das Geschwader zu dem veränderlichen Stern »Wir haben auf der Fahrt viele Cepheiden gesehen«, sagte ich zu Ellon. »Warum fesselt dich gerade dieser?«

»Er ist einem Kollaps nahe«, antwortete der Demiurg. »Über kurz oder lang kann der Stern zu einem Punkt schrumpfen. Es wäre unverzeihlich, würden wir uns ein solches Ereignis entgehen lassen.«

Und Vagabund bekannte, daß es immer sein Traum gewesen sei, sich einem kollabierenden Stern zu nähern. Einige Male habe er von fern den Kollaps von Sternen außerhalb des Perseus beobachtet, und das sei immer so grandios gewesen, daß sich seine Gehirngefäße zusammenzogen. Wenn er des Lebens eines mächtigen Gefängniswärters überdrüssig war, habe er sich vorgestellt, auf einen Kollapsar versetzt zu sein und mit ihm umzukommen, wobei er die gigantische Katastrophe von innen beobachtet. Das sei großartig gewesen – nicht der eigene Untergang, selbstverständlich, sondern das Bild des vergehenden Sterns.

»Vagabund, du bist ein unverbesserlicher Romantiker«, sagte ich, und das war kein Tadel.

Olga sandte eine neue Berechnung. Der Aufenthalt in der Nähe des Kollapsars war nicht ungefährlicher, als von dem Strahl ereilt zu werden, der den Roten getroffen hatte. Nur die intensive Arbeit der Materieannihilatoren konnte eine Katastrophe verhüten, falls sich der Stern vor dem Kollaps in eine Supernova verwandelte, das heißt ungefähr ein Viertel seiner Masse hinausschleuderte. Oleg ließ die Annihilatoren vorbereiten und erteilte den bei dieser Operation üblichen Befehl zur Gefechtsbereitschaft, obwohl es sinnlos gewesen wäre, gegen den Stern zu kämpfen; in den Bezeichnungen für unsere technischen Operationen spiegeln sich die menschlichen Tätigkeiten von einst.

Aber der Stern verwandelte sich nicht in eine Supernova. Er war einst schon eine Supernova gewesen, die Explosion hatte sich viele Jahrhunderte vor unserem Erscheinen zugetragen. Jetzt war von dem Gestirn nur ein Rudiment des früheren Sternengiganten übrig, ein dichtes, seinen Glanz und sein Volumen fieberhaft veränderndes Sternchen, dessen Masse freilich dreimal so groß war wie die unserer Sonne. Und dieses Rudiment kollabierte vor unseren Augen. In allen Einzelheiten erblickten wir eine Antiexplosion, wie sie noch nie ein Mensch aus der Nähe beobachtet hatte.

Das Geschwader umkreiste den Stern als kompakte Gruppeverwandelte sich für eine Weile in seinen Begleiter. Er wirkte zunächst ganz normal, äußerlich deutete nichts auf die unabwendbare Katastrophe hin. Doch plötzlich begann er einzustürzen. Das geschah buchstäblich »plötzlich«, denn zwischen dem ruhigen Zustand und der Implosion lag nur ein Augenblick. Der Stern implodierte, stürzte in sich zusammen. Er schrumpfte, raste seiner Tiefe, seinem Zentrum zu. Oleg befahl, näher heranzufliegen. Und während wir auf den Stern zuflogen, schien er von uns abzurücken. Sein Durchmesser, der im Moment der Implosion ungefähr drei Millionen Kilometer betragen hatte, verringerte sich auf eine Million, auf hunderttausend, tausend… Der Stern wurde kleiner als die Erde, aber die ungeheuren Kräfte preßten ihn weiter zusammen. Er erreichte die Größe des irdischen Mondes und hörte nicht auf zu schrumpfen, wurde eine sich mehr und mehr verringernde Kugel, die so maßlos dicht war, daß ein Kubikzentimeter von ihr schon Milliarden, wenn nicht gar Trillionen Tonnen wog. Und dann ging der Stern unter, sein Durchmesser betrug nur drei, vier Kilometer, ein winziger Punkt nach kosmischen Maßstäben, er funkelte noch, rötete sich dann, wurde dunkel, und der Stern verschwand in der Unsichtbarkeit, in der absoluten Unsichtbarkeit, für Wellen, für Teilchen, für Kraftfelder. Das Kügelchen mit der ungeheuer verdichteten Masse war nicht mehr vorhanden, es gab ein schwarzes Loch in der Leere, ein unheilvolles Loch, das alles in sich hineinsaugte, was sich ihm näherte.

Oleg befahl dem Geschwader zu bremsen. Es war gefährlich, weiterzufliegen. Im Gravitationsfeld des »schwarzen Lochs« hätten uns weder die Materieannihilatoren noch die Metrikgeneratoren oder die Gravitationsschnecken retten können.

Zum Glück fixierte die Schiffsmaschine alle Felder unterwegs. Hätte Oleg nicht stoppen lassen, wären die Bremsmotoren automatisch eingeschaltet worden, sobald sich die Gravitationsfelder des Kollapsars einer gefährlichen Größe näherten.

Plötzlich tauchte rechts ein kosmischer Körper auf, vermutlich ein Sternenflugzeug. Wir trauten unseren Augen nicht. In diesem unerforschten Universumswinkel war alles zu erwarten, keine noch so merkwürdige Naturerscheinung hielten wir für unwahrscheinlich, doch eine Begegnung mit einem Sternenflugzeug, einer künstlichen Anlage vernunftbegabter Wesen, war unvorstellbar. Aufgeregt stürzten wir zu den Rundblickbildschirmen. Die Analysatoren bestätigten leidenschaftslos: Ein Sternenflugzeug näherte sich uns.

Ich ging in den Kommandeursaal. Es handelte sich tatsächlich um ein Schiff und keinen kosmischen Herumtreiber. Und es entfernte sich von dem Kollapsar! Bei dem Abstand zu dem Stern, der sich zu einem Klumpen konzentrierte, hätte es unweigerlich in seine furchtbare Umarmung gezogen werden müssen, hätte es mit derselben Geschwindigkeit auf ihn stürzen müssen, mit der er in sich zusammenfiel. Doch es riß aus! Kam uns entgegengejagt. Kein Motor der Welt vermochte eine Triebkraft zu entwickeln, die der Anziehungskraft des Kollapsars derart überlegen war!

»Vielleicht ist das ein Antikollapsar ein Körper der gleichen Masse, aber mit negativer Gravitation?« vermutete Oleg.

»Dann würde es sich selbst zu Photonen zerfetzen«, murmelte Oshima am Vervielfacher.

Oleg entgegnete, daß es bei einem Kollaps zu erstaunlichen Prozessen komme, unter denen auch die Geburt von Antimassen sein könne, die mit den Antigravitationskräften zusammenhängen: Innerhalb des Körpers äußerten sie sich als Gravitation, außerhalb desselben, unter den Körpern von gewöhnlicher Masse, als Abstoßung. Er kam der Wahrheit nahe, die dennoch völlig anders war.

»Bestimmt hat Olga im Hinblick auf den Unbekannten schon alle Berechnungen vorgenommen«, bemerkte ich. »Auf der ,Widder‘ ist die Schiffsmaschine stets dreifach ausgelastet. Fragen wir Olga.‘ Olga hatte eilends gerechnet. Die Ergebnisse besagten, daß es kein fremdes fliegendes Schiff gab. Es war da, wir sahen es, ungestüm kam es auf uns zu, und doch war es nicht vorhanden!

»Unsinn!« rief ich ärgerlich. »Oleg, Gespenster und Erscheinungen habe ich gründlich satt. Und nun wieder ein Phantom, allerdings ein kosmisches, kein planetares.«

»Phantome sind ebenfalls physische Gebilde, real existierende Objekte, nur nicht das, was sie scheinen«, bemerkte Oleg. »Dies aber gibt es einfach nicht, obwohl es da ist. So ist Olgas Mitteilung zu verstehen.«

Unsere Schiffsmaschine bestätigte Olgas Meldung.

Alle auf den Unbekannten gerichteten Suchfelder zeigten an, daß an der Stelle, wo er sich befand, nichts war. Ein echtes Gespenst kam auf uns zugeflogen, weit gespenstischer als diejenigen, die wir mit den Phantomgeneratoren schufen.

Ich begab mich zu Ellon.

Bei ihm waren bereits Orlan und Grazi, und der Drachen hatte sich über die ganze Länge des Fußbodens ausgestreckt. Ellon hielt in schwungvoller Rede inne, als ich eintrat.

»Ellon«, sagte ich, »wir sehen in der Optik einen fremden Körper, den die Suchfelder nicht entdecken.

Kannst du dieses Paradox in einer Sprache uns faßlicher Begriffe erklären?«

»In einer Sprache uns faßlicher Begriffe nicht«, antwortete Ellon. Er lachte nicht, wie er es sonst tat, wenn er den Effekt seiner Erklärungen im voraus genoß. Hier war der Effekt an sich schon so bedeutsam, daß er ihn nicht mit diabolischem Gelächter zu betonen brauchte.

»Und in einer Sprache ungewöhnlicher Begriffe, Ellon?«

»Das Sternenflugzeug, das wir sehen, existiert nicht in unserer Zeit.« Ich tauschte Blicke mit Orlan und Grazi, dann schaute ich den Drachen an. Sie verstanden nicht mehr als ich. Abseits saß Irina, das gerötete Gesicht, die glänzenden Augen und das Nicken bei jedem von Ellons Worten deuteten darauf hin, daß sie glaubte, alles sei ihr völlig klar.

»Es existiert nicht in unserer Zeit? In welcher Zeit jagt es denn auf uns zu, zum Teufel?«

»Für uns aus unserer Zukunft in unsere Gegenwart.«

»Nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart?«

Ellons Erklärung gehörte zu denen, die eher verdunkeln als erhellen.

»Aus der Vergangenheil in die Gegenwart fliegen wir. Genauer, unaufhörlich schieben wir unsere Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Die Zeit ist reaktiv mit uns verbunden – sie stößt uns vorwärts, in die Zukunft, während sie selbst in die Vergangenheit entflieht. Der Flug des Unbekannten ist ein Schuß aus der Zukunft in die Gegenwart. Seine Zeit springt nicht reaktiv von ihm zurück, sondern jagt mit ihm, wie die Pulverladung im Kanonenrohr zusammen mit dem Geschoß, in derselben Richtung.«

»Ein Schuß aus der Zukunft in die Gegenwart?«

Ich überlegte. »Aber wir sehen doch das fremde Sternenflugzeug, Ellon, und sehen es in unserer Gegenwart, sehen es bereits seit zwei Stunden, und indessen ist die Gegenwart, die wir vor zwei Stunden hatten.

Vergangenheit geworden. Anders gesagt, das Sternenflugzeug existiert in der Gegenwart und in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft.«

Ich glaubte, Ellon bei Widersprüchen ertappt zu haben. Aber der Demiurg hatte seine Konzeption gut durchdacht.

»In der Gegenwart sehen wir seinen Schatten, der aus der Zukunft fällt. Das Schiff, wie es sich uns darstellt, ist nichts als ein Schatten, der das Erscheinen des realen Objekts vorwegnimmt. Der Schatten wird kürzer, das heißt, das Sternenflugzeug nähert sich der Gegenwart aus der Zukunft. Sobald der Schatten mit dem Objekt zusammenfällt, erscheint es körperlich.«

»Und es fliegt nicht aus der Gegenwart in die Vergangenheit weiter?«

»Ich denke, seine Energie reicht nicht aus, um Null der Zeit, genannt »Gegenwart« oder jetzt« oder, der gegebene Augenblick’, zu durcheilen.«

»Hörst du, Oleg?« fragte ich mittels Stereophon »Wenn Ellons Hypothese richtig ist, dann droht dem Geschwader beim Zusammenstoß mit dem fremden Schiff keine Gefahr: Den Punkt, an dem wir uns gerade befinden, wird es erst in unserer Zukunft erreichen jetzt treffen wir nur seinen Schatten dort. Wir brauchen die Begegnung mit ihm ebensowenig zu fürchten, wie Dschingis-Khan eine Begegnung mit unseren Sternenflugzeugen zu fürchten brauchte. Hast du irgend etwas verstanden?«

Oleg antwortete, daß er einen nahen Kontakt mit dem fremden Schiff tunlichst vermeiden wolle, gleichgültig, in welcher Zeit es sich aufhalte.

An Ellons Hypothese fand ich allmählich Gefallen Es handelte sich einfach darum, daß das Sternenflugzeug von dem Kollapsar forteilte. Bei einem Kollaps ändert sich der Lauf der Zeit Zukunft und Vergangenheit werden in einem Punkt zusammengezogen. Es heißt, vor den Augen eines Sterbenden rolle sein ganzes Leben ab. Bei einem untergehenden Stern tritt in Sekundenschnelle nicht nur die ganze Vergangenheit an, sondern auch die ganze Zukunft. Wie man sich das anschaulich vorstellen soll, weiß ich nicht, jedenfalls läßt sich das aus der Theorie folgern. Wie sich die Masse ungeheuer verdichtet, so auch die Zeit.

Und wenn sich im Moment einer gigantischen Zeitverdichtung ein Heranziehen von hinten, aus der Vergangenheit, und von vorn, aus der Zukunft ein Sternenflugzeug unter einer solchen Zeitpresse befindet und aus irgendwelchen Gründen unbeschädigt bleibt, so kann der ungeheure Druck der verdichteten Zeit es durchaus in die Zukunft schleudern. Es wird im Raum »hier« sein, doch zeitlich in dem fernen »dort«. Und sofern es die höllische Implosion übersteht und sich von dem zusammenklappenden Stern zu lösen vermag, muß es, nachdem es frei ist, in seine Zeit zurückstürzen, wie ein Stein, der in die Höhe geworfen wurde, auf die Erde fällt.

Und dann vollzieht sich sein Nahen für uns nicht real im Raum, sondern in der Zeit. Folgerichtig erscheint es an den Punkten im Raum, an denen es war, bevor es in die Zukunft flog. Und es versteht sich von selbst, daß wir es, wenn wir seinen Schatten sehen, mit unseren Feldern nicht aufspüren können, da es nicht vorhanden ist.

Ellons Argumentation war unsinnig genug, um zu begründen, daß die unsinnige Erscheinung logisch sei.

Und dann fand die Begegnung statt, und sie vollzog sich genau nach Ellons Voraussage.

Oleg sorgte dafür, daß das zügellose Sternenflugzeug mit keinem unserer Schiffe zusammenstieß. Das Geschwader hatte sich ringförmig aufgebaut, mitten im Ring jagte das Sternenflugzeug dahin. Doch es flog nicht bis zu uns heran, sondern stoppte. Während es regungslos im Kosmos hing, näherten wir uns ihm.

Offensichtlich war es an dem Punkt angekommen, wo die Zeitinversion begann, und das war eben unser »jetzt«.

Unsere Sternenflugzeuge schwebten ringförmig über dem Unbekannten und warteten auf sein körperliches Erscheinen. Nach wie vor sahen wir seine verschwommene Silhouette, und die Suchfelder vermochten immer noch nicht, seine Umrisse zu erlassen. Es war, als verlaufe die Zeit auf ihm verlangsamt, er stürzte nicht mehr ungestüm in unsere Zeit, sie hatte ihren Lauf ebenfalls abgebremst.

Und plötzlich sprang das Schiff physisch in unsere Zeit. Alle Felder, die Ergon-, Roton-, Proton- und die Kraftfelder – grenzten es sofort ab.

Auf dem Bildschirm flammte ein reales Bild auf ein körperlicher Gegenstand, nicht sein seltsamer Schatten.

Das Sternenflugzeug erinnerte an eine Schnecke aus einem dreifachen Spiralenring. Weder bei uns noch bei den Galakten oder den Demiurgen gab es etwas, was eine entfernte Ähnlichkeit mit solch einer Konstruktion hatte. Das Schiff war völlig durchsichtig, als habe es keine Wandungen und bestehe ganz und gar aus flimmerndem Gas, durch irgendwelche Kräfte zu einer dreigeschossigen Spirale zusammengepreßt. Nur an der Spitze ragte ein dunkler Auswuchs von der Größe unseres Schiffssaales wahrscheinlich der Befehlsstand. Die Schiffsmaschine teilte mit, daß dort undurchsichtige Körper wahrzunehmen wären.

Zum erstenmal erlebte ich Ellon erstaunt.

»Eli«, wandte er sich an mich. Er hatte vergessen, das traditionelle »Admiral« zu gebrauchen. »Eli, wissen Sie, was das für eine Form ist? Eine Nachbildung der Gravitationsschnecke, mit deren Hilfe ich den räuberischen Planeten fortschleuderte!«

Der Drachen war nicht minder erstaunt als der Demiurg.

»Das von dir so anschaulich beschriebene ,Problem eines Tritts in den Hintern‘ hat offenbar nicht nur eine dynamische, sondern auch eine gegenständliche Gestaltung erfahren«, höhnte ich. »Eine Konstruktion, die sich selbst noch dazugibt!«

Unsere Signale wurden von dem Sternenflugzeug nicht beantwortet, nichts deutete darauf hin, daß wir bemerkt waren. Grazi äußerte die Vermutung, daß es sich bei dem Schiff um ein Lebewesen handele, das, äußerlich unversehrt, bei der Implosion des Kollapsars umgekommen sei.

Da wir Planeten kennengelernt hatten, die Lebewesen waren, wunderte sich niemand über Grazis Gedanken. Oshima erhielt von Oleg den Befehl, ein Planetenflugzeug zu dem fremden Schiff zu schicken.

Das Planetenflugzeug umflog die Schnecke, tastete sie mit Feldern ab und suchte vergeblich nach Eingängen. Da beschloß Oshima, die Kabine von dem Rumpf zu trennen. Kurz darauf zerfiel das Sternenflugzeug. Die Kabine, von unseren Feldern umschlossen, blieb erhalten, der Rumpf aus leuchtendem Gas aber löste sich auf, sobald die Kabine abgetrennt war, ein formloses, glanzloses Wolkchen schwebte daher.

Das Planetenflugzeug kehrte zum Anlegeplatz der »Steinbock« zurück.

»Schaut mal, was für Tiere ich euch bringe!« sagte Oshima, als er ausstieg. »Das fremde Schiff konnte ich nicht bergen, aber die fremden Astronauten liefere ich euch. Leider sind sie tot! Sie sind schon Millionen Jahre tot, will man Ellons Behauptung Glauben schenken, daß wir nicht einem Sternenflugzeug, sondern einem Zeitflugzeug begegnet sind.«

In der Kabine lagen sechs Körper. Zweifellos hatten sie einst gelebt, jetzt deutete nichts auf Leben hin.

Die durchsichtigen Kabinenwandungen erinnerten an Kraftschirme, über ein ebenfalls durchsichtiges Gestell gezogen.

»Die Kabine besser nicht öffnen, sondern auflösen«, sagte Irina. »Das machen wir mit unseren Schutzmechanismen, die wir auf Rückwärtsgang schalten, damit sie nicht Felder generieren, sondern aufsaugen.«

Die Kabinenwandungen waren von den Kraft pumpen rasch beseitigt. Die Toten fielen auf den Anlegeplatz. Die fremden Astronauten schienen von der Katastrophe, die sie ereilt hatte, nicht stark deformiert worden zu sein. Dennoch waren das sehr merkwürdige Wesen!

Irgendwie glichen sie uns, uns allen den Menschen, den Demiurgen, den Galakten, den Engeln und sogar den Drachen, und trotzdem waren sie ganz anders. Sie hatten Köpfe mit Gesichtern und Haaren, aber die Haare jedes war fingerdickerinnerten an Schlangen; sie hatten Augen, aber jeweils drei; und sie hatten lippenlose Münder, die jetzt halb geöffnet waren.

Die kleinen Köpfe ruhten auf mächtigen schwarzen Spinnenkörpern mit zwölf achtgliedrigen Beinen, die so dick wie Menschenarme waren.

»Lebt!« schrie Lussin plötzlich und stürzte zu dem einen der ausgestreckt daliegenden Geschöpfe. »Bewegt sich!«

Grazi packte Lussin eilends bei der Schulter, damit er nicht zu nah an die Spinnenförmigen trat. Aus den starken Händen des Galakten vermochte sich Lussin nicht zu befreien, aber beharrlich wies er auf den uns am nächsten liegenden Körper und behauptete aufgeregt, daß der Unbekannte lebe.

Bald darauf bemerkte auch ich, daß eins der Beine zuckte und sich die Haare auf dem Kopf bewegten.

Der Unbekannte unternahm einen schwachen Versuch, sich zu erheben, und sank zurück. Seine zwei unteren Augen öffneten sich mühsam, umfingen uns mit trübem Blick und schlössen sich.

Die Bewegung hatte ihn offensichtlich so viel Kraft gekostet, daß er erneut in Ohnmacht fiel.

»Fünf sind tot, dieser läßt sich zum Leben erwecken«, sagte Oleg. »Wo könnten wir ihn zur Genesung einquartieren?«

Ellon erbat den auferstandenen Kosmonauten für sich. Es sei zwar ziemlich eng im Labor, aber für so ein interessantes Geschöpf finde sich ein Plätzchen.

Und falls zur Belebung des spinnenförmigen Sternenreisenden Experimente erforderlich würden, müßte er ohnehin ins Laboratorium geschafft werden, nicht wahr?

»Nehmen Sie ihn, Ellon«, sagte Oleg.

Romero wandte sich gleichzeitig an Oleg und an mich. »Hochgeehrte Freunde, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich unseren neuen zwölfbeinigen Bekannten als Aranen bezeichne?«

Wir fragten ihn neugierig, wie er auf diesen Namen komme. Er erklärte, das Wörtchen »Aranea« habe in einer alten Menschensprache Spinne bedeutet. Und daß die Unbekannten den irdischen Spinnen ähnelten, stehe wohl außer Zweifel.

»Außerdem gleichen sie den Atairen«, bemerkte ich. »Nur sind jene sympathischer.«

»Jene sind freundlicher und herzlicher und fraglos bedeutend weniger entwickelt als die Aranen«

Später erinnerte ich mich oft, wie treffend Romero die Aranen auf den ersten Blick charakterisiert halte.

3

Der Arane stand auf seinen zwölf Beinen, den kleinen Kopf zurückgeworfen. Man konnte meinen, er sei aus eigenem Antrieb stehengeblieben und werde gleich sicheren Schritts weitergehen oder laufen. Doch diese Stellung war ihm von außen gegeben, sobald das stützende Feld abgeschwächt wurde, kippte er um. Aus seiner Bewußtlosigkeit war er immer noch nicht erwacht.

Der Tag, an dem der Arane die Augen öffnete, hat sich uns allen tief eingeprägt.

Mehr als ein Monat war verstrichen, seit wir das Sternenflugzeug getroffen hatten. Das »schwarze Loch« des Kollapsars war schon weit hinter uns. Ich unterhielt mich im Laboratorium mit Ellon. Uns unterbrach Irina, die erstaunt rief: »Er schwebt! Ellon! Eli! Er schwebt!«

Der Arane schwebte tatsächlich. Und er bewegte sich auf uns zu. Ellon sprang zurück, ich ebenfalls.

Das dritte Auge des Aranen, das obere, erschreckte mich, zum erstenmal sah ich es geöffnet. Es blickte nicht nur, sondern leuchtete. Es war durchdringend, schonungslos scharf. Die beiden unteren Augen waren nicht mehr getrübt, sie wirkten ganz normal, sie blickten klug, ein wenig traurig, nicht besonders wachsam. Später erfuhren wir, daß das obere Auge der Aranen zu blenden vermag. Selbstverständlich ist es kein Laser, aber von dem Lasereffekt hat es etwas an sich.

Ellon verstärkte das Schutzfeld, der Arane prallte zurück und stürzte. Ellon erklärte dann zu seiner Rechtfertigung, er habe geglaubt, das Ungeheuer wolle uns überfallen. Ich meine, Ellon hatte richtig gehandelt. Der Arane hatte die Folgen der Zeitinversion noch nicht überwunden, sein Gehirn war noch längst nicht klar. In ihrem Normalzustand sind die Aranen, sofern sie nicht zu zahlreich auftreten, für Menschen und Demiurgen ungefährlich.

Ellon schwächte das Feld ab, und der Arane schwang sich mit angezogenen Beinen erneut langsam empor. Offensichtlich wollte er sich uns nähern »Stimme das Dechiffriergerät«, bat ich Irina.

»Vielleicht finden wir eine gemeinsame Sprache.«

Dann bat ich den Erkundungstrupp ins Labor. Es erschienen Mary, Lussin, Romero, Orlan und Grazi.

Auch der Drachen kam gekrochen. Aus Platzmangel ließ er den Schwanz im Korridor. Da stieg der Arane ein wenig höher, so daß sich der Drachen unter ihm bequem ausstrecken konnte.

Obwohl Irina das Dechiffriergerät auf alle Bereiche eingestellt hatte, gab es keinen Kontakt. Wenn der Arane irgendwelche Signale generierte, so erreichten sie uns nicht.

Irina sagte verzweifelt: »Sicherlich ist er ein denkendes Wesen, leider sind unsere Empfänger außerstande, ihn zu verstehen.«

»Dafür versteht er uns, scheint mir, und ganz ohne Spezialempfänger«, sagte Orlan nachdenklich.

Ihn machten, genau wie mich, der kluge Blick der unteren Augen und die Schärfe des oberen stutzig.

Ich hatte das Gewese mit dem Dechiffriergerät satt und stand auf. Auch Mary erhob sich. Ich nickte ihr zu, und sie trat mit mir dicht vor den spinnenförmigen Kosmonauten. Ich weiß nicht, was mich trieb, ihn unverwandt anzustarren. Wahrscheinlich war Orlans Bemerkung schuld. Mich empörte der Gedanke, daß er uns verstand, vielleicht sogar kaltblütig studierte, während wir wie die Versuchskaninchen warteten, bis er geruhte, uns klar anzusprechen. Ich bin nicht sicher, ob es mir gelang, meiner Stimmung präzisen Ausdruck zu verleihen, meiner Gereiztheit erinnere ich mich jedenfalls.

Beinahe feindselig ließ ich den Blick von den mächtigen achtgliedrigen Beinen zu dem runden, mit schwarzen Härchen bedeckten Hinterleib wandern, vom Hinterleib zum Kopf auf dem die Haare aufrecht standen, die wie Arme oder Schlangen waren vom Kopf zu dem dreiäugigen, rundmäuligen, brauenlosen Gesicht. Den Blick der unteren Augen, die dunkel, rund und traurig waren, ertrug ich. Nach wie vor schauten sie nur, ohne jegliche Herausforderung, das obere Auge jedoch funkelte böse, feindselig, ich mußte mit ihm kämpfen; wütend starrte ich, nahm meinen ganzen Willen zusammen, um den Strom der Mißgunst, der ihm entströmte, zu parieren, um die Feindseligkeit, die scheinwerfergleich gegen mich flutete, zu zerstreuen, zu sprengen, zu zerschmelzen.

Mary faßte erschreckt meine Hand. »Eli, was hast du? Du bist so rot!«

»Laß mich!« zischte ich. »Diesem Sternenfahrer werde ich zeigen, daß er keinem stumpfen Vieh, sondern einer höheren Kraft begegnet ist!«

Heute frage ich mich verwundert, woher ich diese Worte nahm, diesen leidenschaftlichen Zorn. Der spinnenhafte Wanderer hatte uns ja nicht beleidigt, und unkontrollierbare Gefühle standen keinem an, mir, dem wissenschaftlichen Leiter der Expedition, schon gar nicht. Und wahrscheinlich hätte ich im nächsten Augenblick die Kraft gefunden, mich zu beherrschen. Flüchtig sah ich Orlans Überraschung, Grazis vorwurfsvollen Blick, ich hörte Lussin traurig seufzen, all das hätte seine Wirkung auf mich nicht verfehlt, hätte der Sternenwanderer mich nicht selbst besänftigt. Das obere Auge trübte sich plötzlich, unterschied sich nicht mehr von den unteren, es waren harmlose Augen, die da schauten, die zu verstehen trachteten. Sie konnten Erstaunen wecken, Interesse, sogar Mitgefühl, nur nicht Raserei. Und ich schämte mich meines Ausbruchs. Kleinlaut sagte ich: »Ich gehe. Zweifellos werden wir Kontakt mit dem Unbekannten haben. Allerdings bin ich nicht überzeugt, daß das in der nächsten Minute geschieht.«

Der Kontakt kam in der nächsten Minute zustande. Ich hatte noch keine drei Schritte in Richtung Tür getan, als die Stimme des Fremdlings ertönte. Der Arane drückte sich in unserer Menschensprache aus.

Nein, er drückte sich nicht in unserem Sinne aus.

Zu einer Lufterschütterung, die Klang genannt wird, kam es nicht. Da er unseren Sprechapparat nicht besaß, hätte er auch gar nicht sprechen können. Seine Stimme erklang in unseren Gehirnen, und bei jedem anders, der Natur des Hörers gemäß. Der Arane leitete seine Rede unter Vermeidung der Ohren unmittelbar in die Gehirnzellen. Er brachte die Gehirnsubstanzen zum Schwingen, in dem Chaos der Wellen, die in unseren Denkzellen wirbelten, wählte er unbeirrt diejenigen, welche die Empfindung der Sprache hervorriefen. So erzeugt ein Druck auf den Augennerv die Empfindung, daß Licht aufleuchte. Wenn wir zurückkehren, falls wir zurückkehren!-, werden Spezialisten diese Sprache ohne Worte erforschen, die Musik ohne Töne. Letztlich liegt dasselbe Prinzip unseren Dechiffriergeräten zugrunde, wenn sie auch nicht so ungezwungenen Kontakt mit andersdenkenden Wesen herzustellen vermögen.

»Ich verstehe euch«, sagte der Arane zu jedem in dessen Sprache. »Und ihr werdet mich verstehen. Ich bin ein Flüchtling aus den Untergehenden Welten.

Wir waren sechs. Wir wollten eine Wende unserer Zeit herbeiführen, in eine ferne Zeit gehen und uns in ihr behaupten. Das ist uns nicht gelungen, aus der fernen Zeit sind wir in unsere gefallen. Meine Kameraden sind bei der ersten Wende umgekommen. Sie ertrugen die Zukunft nicht. Sie konnten nur in der Gegenwart leben. Ich bin unversehrt geblieben, doch beim Sturz aus der fernen in unsere Zeit verlor ich das Bewußtsein. Ihr habt mich gerettet. Stellt Fragen!«

Ich würde gegen die Wahrheit verstoßen, erwähnte ich nicht, mit welchem Erstaunen wir dem spinnenförmigen Astronauten zuhörten. Ich will den Ursachen nachgehen, denn sie sind wichtig. Wir waren schon Wesen begegnet, die noch viel seltsamer aussahen. Auch die unmittelbare Rede, von Gedanke zu Gedanke, ohne die Mitwirkung von Dechiffriergeräten, war nicht besonders merkwürdig hatte nicht auf diese Weise einst Orlan seine Mitteilungen meinem Gehirn eingeflößt? Es gab also keinen Anlaß, verwundert zu sein. Dennoch tauschten wir verwirrt Blicke, keiner konnte sein Erstaunen verbergen. Da ich nun alle späteren Ereignisse abwäge, finde ich nur einen Grund: Allzu rasch und einfach war der Kontakt mit dem Wanderer zustande gekommen. Unsere Sprache, unsere Art zu denken, unsere Logik und unsere Gefühle verstand der Arane perfekt. Das war unfaßbar, wir waren verblüfft, ohne uns dessen deutlich bewußt zu sein. Wir waren sogar ein wenig erschrocken, weil es einem Fremdling mühelos gelang, in unsere Gedanken einzudringen und in uns mit eigener Stimme in unserer Sprache zu sprechen. Das war nicht nur überraschend, sondern auch gefährlich, wir spürten das sofort. Und wir achteten dann weniger auf den Inhalt als vielmehr auf die Art und Weise der Übertragung. In alten Zeiten scherzte ein Witzbold:

»Das interessanteste an einem sprechenden Pferd ist nicht der Sinn seiner Rede, sondern die Tatsache, daß es überhaupt redet.« Eine Analogie zu dem sprechenden Pferd war vorhanden. Ich hatte lauthals geprahlt, daß der Unbekannte einer höheren Kraft begegnet sei. Mit seiner Ansprache gab er bescheiden zu erkennen, daß wir einer höheren Vernunft begegnet waren.

Als erster faßte sich Romero. »Wenn Sie erlauben, werde ich das Gespräch mit dem verehrten Zeitenwanderer führen«, sagte er zu mir und wandte sich an den Aranen: »Also, lieber Sternengast, Sie sind ein Flüchtling aus den Untergehenden Welten. Gestatten Sie die Frage was sind das für Untergehende Welten?«

Im Gehirn eines jeden erklang die Antwort: »Ihr werdet sie bald sehen. Ihr habt Kurs auf die Untergehenden Welten genommen.«

»Gehören Sie zu den Bewohnern der Untergehenden Welten?«

»Sie sind von solchen wie ich und meine toten Freunde besiedelt.«

»Die Frage der Beschaffenheit Ihrer Wohnplätze lasse ich mit Ihrer Erlaubnis einstweilen beiseite. Jetzt interessiert mich ein anderes Problem. Sie fliehen aus den heimatlichen Sternenhorsten, wenn ich Ihre.., hm… Untergehenden Welten Aber warum haben Sie für die Flucht einen Kollapsar gewählt? Ein so entsetzliches Ereignis wie ein Kollaps ist doch an und für sich verderblicher als jede andere Erscheinung in der Sternenwelt.« »Unsere Welten sind von der Zeitkrankheit befallen. Wir haben eine mürbe Zeit, oft birst sie. In euren Gehirnen lese ich den Namen einer furchtbaren Krankheit, die einst in euren Welten grassierte. Wir haben Zeitkrebs.«

»Zeitkrebs!« riefen wir beinahe wie aus einem Munde.

»Ja, Krebs! Dieser Ausdruck vermittelt die beste Vorstellung von der Krankheit der in den Untergehenden Welten verrinnenden Zeit. Aus ihr wollten wir in eine beliebige andere, vergangene oder künftige ausbrechen, wenn sie nur gesund war. Ein Wechsel der Zeit ist bei einem Sternkollaps möglich, da sie dort transformiert wird. Gegen die verstärkte Gravitation waren wir geschützt. Wir gerieten, wie wir es gewünscht hatten, in die Zeitinversion. Aber die Zukunft behielt uns nicht.«

»Ein trauriger Fehlschlag, lieber… Sagen Sie, wie dürfen wir Sie nennen?«

»Nennt mich Oman, der Name taugt für eure Sprache.«

»Also, Sie sechs gedachten aus Ihrer Gesellschaft und Ihrer Zeit zu fliehen?«

»Aus der Zeit, nicht aus der Gesellschaft. Wir sind die Abgesandten der Verwerfers des Endes.«

»Habe ich richtig verstanden der Verwerfers des Endes?«

»Ja, die Verwerfer des Endes sind unsere Brüder, sie haben uns entsandt, Auswege in eine gesunde Zeit zu suchen. Unsere Feinde sind die Beschleuniger des Endes, sie sind von Todesbegeisterung beseelt.«

»Verwerfer des Endes, Beschleuniger des Endes Gehe ich richtig in der Annahme, daß zwischen diesen beiden Gruppen Zwietracht herrscht?«

»Krieg!« tönte die Antwort. »Die Verwerfer kämpfen gegen die Beschleuniger, damit die nicht beschleunigen, und die Beschleuniger fallen über die Verwerfer her, damit die nicht verwerfen. Die Beschleuniger unterstützt der Vater Akkumulator.«

»Vater Akkumulator? Bei uns entspricht die Bezeichnung, ,Akkumulator‘ keinem Lebewesen!«

»Ich habe sie in euren Gehirnen gefunden. Sie drückt die Natur des Herrschers, Lebensspenders und Peinigers, der den furchtgebietenden Willen der Grausamen Götter vollstreckt, gut aus.«

Romero blickte mich bestürzt an. Doch das, was ihn bestürzte, irgendwelche kleinlichen Zwistigkeiten zwischen Verwerfern und Beschleunigern, irgendein wilder Vater Akkumulator, war weit weniger wichtig als die erstaunliche Form der Befragung. Wir erkundigten uns bei Oan spitzfindig nach ihm und seiner Gesellschaft, während er in unseren Gehirnen seelenruhig wie in einem Buch las. Wir nahmen ihn ins Verhör, indessen er uns durchschaute und gar kein Hehl daraus machte. Und obwohl seine Hinweise auf die in unseren Gehirnen gefundenen treffenden Begriffe keineswegs bedrohlich klangen, war die Tatsache solchen Forschens und Findens an sich schon bedrohlich. Gereizt wies ich Romero darauf hin. »Pawel, Sie stellen ihm Fragen und Fragen, dabei kennt er sich anscheinend so gut in uns aus, daß er unsere Zweifel von sich aus zerstreuen könnte. Sicherlich weiß er, was uns interessiert, bevor wir selbst uns dessen bewußt sind.« Ich sagte das, ohne den Unbekannten aus den Augen zu lassen. Ruhig schaukelte er auf seinen zwölf Beinen. Und dieses Schaukeln gehörte ebenfalls zu der Kategorie der Merkwürdigkeiten. Er schwebte zwischen Fußboden und Decke das habe ich schon erwähnt. Und schwebend schaukelte er! Er schwang sich nicht auf und senkte sich nicht herab wie ein Vogel, sondern schaukelte auf den biegsamen Beinen! Er stützte sie in der Luft wie auf festem Boden, die Fußsohlen ruhten unbeweglich, während die Beine sich in den Gelenken bogen, bald senkte sich der Rumpf, bald hob er sich. Auch die Schlangenhaare auf dem Kopf waren in Bewegung: fielen auseinander, legten sich zusammen, wurden lang und wieder kurz; sie waren sehr lebhaft, diese unheimlichen Haare, die raubgierigen Armen glichen; zweifellos vermochten sie zu packen und zu beißen, zu würgen und zu streicheln, sicherlich auch zu saugen und zu umflechten. Römern sagte später, solche Haare hätten einst die ausgestorbenen Gorgonen gehabt. Ich denke, er übertreibt. Ich kenne die irdischen Museen, aber eine Gorgo ist dort nicht ausgestellt, jedenfalls ist mir keine begegnet Oan hatte zweifellos verstanden, was ich von ihm wollte, doch er dachte gar nicht daran, meinen Wunsch zu erfüllen. Romero blieb nichts weiter übrig, als die Fragerei fortzusetzen.

»Also, die Verwerfer und die Beschleuniger des Endes, der Lebensspender und Peiniger Vater Akkumulator, Grausame Götter… Ich bin nicht sicher, ob die menschlichen Gottbegriffe den realen Wesen Ihrer Welt entsprechen. Unsere Götter sind Phantasiegeschöpfe, in der realen Welt wurden sie nicht entdeck! Außerhalb unserer Träume gibt es sie nicht und gab es sie nicht. Verstehen Sie mich, verehrter Oan?«

»Ja. Der Begriff ,Götter’, den ich in Ihrem Gehirn gefunden habe, entspricht durchaus den Herrschern der Drei Staubigen Sonnen. Ich muß nur die Definition ,Grausame‘ hinzufügen« (Das Wörtchen »Definition« erklang deutlich in meinem Gehirn), »denn die Herrscher der Drei Staubigen Sonnen sind erbarmungslos. Die Beschleuniger befolgen deren Gebote, die Verwerfer lehnen sich gegen sie auf.«

»Haben Sie jemals einen der Grausamen Götter gesehen? Aus Ihren Worten folgere ich, daß es viele sind.«

»Es sind viele. Sie nehmen jede beliebige Gestalt an. Sie sind unter uns und überall. Jeder beliebige kann zur Maske eines Grausamen Gottes werden. Sie wissen alles über uns, aber erlauben nicht, etwas über sie zu wissen. Eure Worte ,teuflische Schläue« drücken genau ihr Verhältnis zu uns aus. Sie sind verderbenbringende Götter, sie sind teuflische Götter. Wir waren einst ein großes Volk, jetzt sind wir ein beklagenswertes Volk. Sie haben es so gewollt.«

Romero wandte sich wieder an mich. »Verstehen Sie etwas, Eli?«

»Nicht mehr als Sie, Pawel. Klar ist eins: Es existiert eine mächtige ,Zivilisation, die mit den Interessen der Aranen nicht viel Federlesens macht. Vielleicht sind das die Ramiren, die wir suchen. In dem Falle zeigen die ersten Nachrichten sie nicht in sehr edlem Licht.«

Romero hatte keine Frage mehr, und es kam zu einem allgemeinen Gespräch, sogar Orlan und Grazi beteiligten sich. Sonst hatte ich bei Orlan keine besondere Neugierde wahrgenommen, den erhabenen Galakten ist dergleichen überhaupt fremd ihnen ist immer so wohl mit sich selbst, daß ihre seelische Kraft nicht ausreicht, Außenstehenden Interesse entgegenzubringen. Angesichts der spinnenförmigen Astronauten wurde der Galakt seiner Gewohnheit untreu.

Nur Vagabund, Ellon und ich stellten keine Fragen Der Drachen lauschte, die Augen listig zusammengekniffen, und Ellon war meiner Meinung nach beleidigt. Überall, wo er auftauchte, drehte sich stets unweigerlich alles um ihn. Jetzt würdigte man ihn, von dem Fremdling völlig in Anspruch genommen, keines Blickes. Wahrscheinlich hätte er sich verärgert entfernt, wären wir nicht in dem Laboratorium gewesen, wo er all seine Zeit verbrachte und wohin er Oan vorschnell gebeten hatte.

Was mich betrifft, so wandte ich mich deshalb nicht an Oan, weil alle Fragen, die ich hätte stellen können, bereits gestellt waren.

Von Oans Antworten habe ich mir dies gemerkt:

Die Aranen besiedelten den zweiten Planeten von den neun, die um die Drei Staubigen Sonnen kreisten, allem Anschein nach ein Dreifachstern. Auf den übrigen acht Planeten hatte sich kein Leben entwickelt. Es hatten sich Überlieferungen aus den Zeiten erhalten, als die Drei Sonnen klar waren und die Aranen selbst als mächtiges Volk galten. Sie hatten die Planetenanziehung überwunden und waren in den interstellaren Raum gelangt. Die Kunst, galaktische Schiffe zu bauen, hatten sie inzwischen längst verlernt, nur ein Schiff wurde in den Höhlen Vater Akkumulators aufbewahrt. Die Verwerfer raubten es, da sie beschlossen hatten, in der Zeitverdichtung eines Kollapsars die Möglichkeit einer Flucht in die Zukunft zu erproben.

Jahrtausendelang hatte niemand von den Grausamen Göttern gehört. Aber sie waren erschienen und hatten die Klaren Sonnen getrübt, stickiger Staub überzog den Planeten. Elektrische Stürme saugten die Energie aus den Körpern der Aranen, nach jedem Sturm blieben Tausende von Leichen zurück.

Die Aranen versuchten zu kämpfen, sie bauten Schiffe, die den kosmischen Staub absorbierten. Die elektrischen Herzen der Kosmosflugzeuge füllten den interstellaren Raum mit saugenden Feldern, der Staub lagerte sich auf den Schiffen ab, sie quollen auf und verwandelten sich in kleine Planeten. Zwei von diesen künstlichen Planeten näherten sich den Drei Sonnen und trieben den Staub auf die Gestirne. Alles, was die Drei Sonnen hinausgeschleudert hatten, kehrte zu ihnen zurück. Bis zu diesem Augenblick hatten die mächtigen Ankömmlinge kein Interesse an den Aranen gezeigt. Das änderte sich sofort. Die Säuberungsschiffe wurden in den Werkstätten und im Kosmos gesprengt. Die Kosmosflugzeuge, die Planeten geworden waren, wurden aus dem System der Drei Sonnen hinausgeworfen und trieben sich nun irgendwo umher, schluckten Staub und vertilgten kleine kosmische Körper, denn sie waren so konstruiert, daß sie nur bei einem Zustrom fremder Substanz normal funktionierten.

»Einem kosmischen Räuber sind wir begegnet«, sagte Romero. »Er griff uns an, aber wir versetzten ihm einen Tritt.«

»Sie hätten ihn vernichten sollen«, sagte Oan… So ein Schiff ist als kosmischer Reiniger nützlich, als kosmischer Räuber richtet es viel Schaden an.«

Mit der Zerstörung der Säuberungsflugzeuge begann das große Elend. Nach ihnen wurden auch die gewöhnlichen Sternenflugzeuge beseitigt. Vor wüten Fahrten pflegten sie bei den Drei Sonnen nachzuladen, um sich Energiereserven anzulegen. Fortan explodierte jedes Schiff, das den Drei Sonnen zustrebte.

Es wurde gefährlich, sich in den interstellaren Raum zu begeben. Einige Schiffe nahmen Kurs auf andere Sonnen, schon bald riß die Verbindung zu ihnen ab offenbar waren sie gescheitert.

So begann die Zivilisation der Aranen zu verkümmern. Eine unerbittliche Macht hatte die Herrschaft angetreten, und die Aranen hatten nicht die Krall sich ihr zu widersetzen. Eine Hoffnung blieb die unbekannten Götter waren plötzlich erschienen, ebenso plötzlich konnten sie verschwinden. Man mußte sich verbergen und auf die Stunde der Befreiung warten Die Aranen verbargen sich, doch statt der freudvollen Befreiung kam die bittere Einsicht. Die Ankömmlinge wurden Grausame Götter genannt. Sie peinigten nicht nur die Aranen, sondern die Natur selbst. Sie holten zum Schlag gegen die Zeit aus! Die ruhige, ein sinnig gerichtete Zeit der Drei Sonnen gefiel ihnen nicht, sie krümmten und blähten sie. Der Planet der Aranen besaß einen Trabanten der einzige Ort, den die Grausamen Götter straflos aufzusuchen gestatteten. Aber ein auf dem Trabanten verbrachter Tag ließ wie eine Woche auf dem Planeten altern. Und im Körper desjenigen, der über den Trabanten hinaus vordrang, barst die Zeit. Das Herz lebte in einer Zeit, die Beine in einer anderen. Der eine Teil des Körpers alterte lange nicht, der andere wurde rasch hinfällig.

In dem Aranen behauptete sich die Jugend und nahm das Alter zu. Er war in der Vergangenheit und in der Zukunft. Er dachte unterschiedliche Gedanken und wünschte unterschiedliche Wünsche, und auf Fragen antwortete er: »Ja nein! Ja nein!« Er hörte auf, sich fortzubewegen, denn die einen Beine wollten vorwärts, die anderen zurück. Im Herzen stritten gegensätzliche Begierden den Aranen richteten die sich bekämpfenden Leidenschaften seiner Seele zugrunde.

Die Furcht, an Zeitkrebs zu erkranken, bewog, selbst den interplanetaren Flügen zu entsagen, die von den Göttern nicht bestraft wurden. Da sich die Aranen des Endes bewußt waren, versuchten sie ein letztes Mal, sich gegen die Grausamen Götter zu erheben.

Sie wurden von den Grausamen unterdrückt. Die Schiffe fielen schon auf den Werften aus. Die Motoren arbeiteten nicht synchron, jeder lief in einer anderen Zeit. Die Verschiedenzeitigkeit befiel auch die Arbeiter, sie verwechselten die Befehle und die Operationen, es gab keinen Fall, da die Kommandos einheitlich aufgefaßt und gleichzeitig ausgeführt wurden.

»Die Grausamen Götter sind unter uns! Die Grausamen Götter sind unter uns!« schrien die Arbeiter und rannten davon. Die schwächer werdende, sich lichtende Gesellschaft der Aranen wurde von elektrischen Stürmen heimgesucht. Früher hatten die Aranen die Elektroenergie frei absorbiert, sie war ihre Speise, ihre Sprache, ihre Art zu denken gewesen jetzt war allzuviel Speise da, und sie erzeugte elektrische Orkane Die furchtgebietende Mutter Blitzspeicherin wütete Da kam die Bewegung der Beschleuniger des Endes auf. »Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!« lautete ihr hysterisches Glaubenssymbol. Die öffentliche feierliche Selbstverbrennung war an der Tagesordnung. Die energetischen Ressourcen des Vaters Akkumulator, der einzigen Existenzquelle, wurden für die Selbstvernichtung genutet. Der Lebensspender hatte sich in einen Peiniger verwandelt.

»Wir Verwerfer sind nicht zahlreich«, schloß Oan.

»Aber wir glauben, daß man den Tod verhindern kann. Meine Freunde und ich stahlen das einzige noch vorhandene Sternenflugzeug und beschlossen zu prüfen, ob eine Flucht in unsere Vergangenheit durch eine Wende in die Zukunft möglich sei. Wir wollten den Zeitring schließen, doch die Zukunft behielt uns nicht, wir glitten nicht mählich in die Vergangenheit.

Ich weiß nicht, wer ihr Fremdlinge seid. Ihr habt mich gerettet, und ihr seid gut, ich lese das in den Zellen eurer Gehirne. Helft den Notleidenden!«

Damit verstummte er. Später erfuhren wir, daß sich die elektrische Energie in ihm erschöpft hatte. Zeit war vonnöten, damit sein innerer Akkumulator einen neuen Vorrat speicherte. Damals glaubten wir, er sei müde von unseren vielen Fragen und seinen Erklärungen. Übrigens hatten wir alles Wesentliche erfahren.

Romero sagte, der Sternenwanderer müsse sich ausruhen. Das Laboratorium leerte sich. Ich wollte mit Ellon sprechen und lud ihn zu mir ein. Seine Abneigung, das Labor zu verlassen, ist so groß, daß er nur widerwillig annahm.

Marys und meine kleine Wohnung besteht aus zwei Zimmern – einem Schlafraum und einem Salon. Im Salon – Mary und ich nennen ihn mein Zimmer – wird die ganze Stirnwand von einem Sternbildschirm eingenommen. Er ist selbstverständlich kleiner als die im Kommandeur- und Observationssaal, aber ich hatte mir das Privileg eines Bildschirms in der Wohnung ausbedungen, damit ich die Möglichkeit hätte, in der Einsamkeit über den Sternen nachzudenken. Ellon setzte sich ungeschickt in einen Sessel. Die Demiurgen sitzen ungern. Sie fühlen sich dort nur ungezwungen, wo sie ungehindert hin und her hüpfen können. Mein Zimmer war zu klein dafür.

»Ellon«, sagte ich, »mir gefällt nicht, daß sich Oan mühelos unsere Sprache zu eigen gemacht hat und unsere Gedanken liest. Er hat sich dir doch wohl nicht in unserer Menschensprache mitgeteilt?«

»Selbstverständlich nicht. Er beherrscht die Sprache der Demiurgen. Insbesondere ist ihm der Dialekt der mittleren Planeten des neunundsiebzigsten Sterns des Perseus wohlbekannt, den ich in meiner Kindheit gesprochen habe. Es war mir angenehm, dieses wenig verbreitete Idiom zu hören. Mit Orlan, Admiral, unterhalte ich mich in der Staatssprache der Demiurgen. Orlan würde mich einfach nicht verstehen, würde ich mich in meinem Heimatdialekt an ihn wenden.«

»Orlan würde eine Sprache nicht verstehen, die in seinem Volk zu Hause ist, aber ein Sternenfremdling, der uns nie gesehen hat, spricht augenblicklich, ohne jegliche Anstrengung, ohne Unterricht gehabt zu haben, ihm unbekannte Sprachen, und mindestens fünf bis sechs gleichzeitig.«

»Dich wundert das, Admiral?«

»Es erschreckt mich, Ellon. Ich begreife nicht, wo eine solche Macht des Intellekts herrührt.«

»Nimm an, wir wären mit einer höheren Vernunft zusammengetroffen, Eli. In dem Sinne, daß diese Vernunft höher entwickelt ist als unsere.«

Argwöhnisch lächelte ich. »Eine höhere Vernunft und degradierende Existenz? Ein durchdringender Intellekt und primitiver Aberglaube? Oder hat der Fremdling in deiner Sprache der mittleren Planeten des neunundsiebzigsten Sterns des Perseus nicht von den Grausamen Göttern gesprochen, von dem verderblichen Vater Akkumulator, von irgendeiner unheilvollen Mutter Blitzspeicherin?«

»Das ist ein Widerspruch«, stimmte Ellon zu.

»Aber Widerspruch ist nicht gleichbedeutend mit Unwahrscheinlichkeit und zeugt nicht von Unmöglichkeit. Was wünschst du von mir, Admiral?«

»Könnte man uns alle mit Abschirmungen ausstatten, die Oan hindern, unsere Gedanken zu lesen? Bei uns auf der Erde gilt der Versuch, in fremde Gedanken einzudringen, als verabscheuungswürdig. Selbst unsere Dechiffriergeräte sind mit Wächtern versehen, die das verwehren; es sei denn, der Denkende ist einverstanden. Nur bei der Erkundung sind die Wächter ausgeschaltet.«

Ellon drehte den Kopf auf dem biegsamen Hals um gute hundertachtzig Grad. Bei den Demiurgen entspricht das unserem leichten verneinenden Kopfschütteln. »Eine solche Abschirmung würde anscheinend nicht gelingen, Admiral. Außerdem finde ich es unzweckmäßig, das Laboratorium mit derartigen Bagatellen aufzuhalten. Unsere Arbeiten zur Sicherung der Schiffe vor einem überraschenden Photonen- und Rotonenangriff sind noch nicht abgeschlossen, auch die schützenden Gravitationsschnecken müssen vervollkommnet werden. Ich empfehle: Halten Sie Ihre Gedanken unter Kontrolle, Admiral Eli. Was Sie in Ihr Gehirn nicht einlassen, vermag der spinnenförmige Sternenwanderer darin nicht zu entdecken. Das ist doch ganz einfach, Admiral!«

Das war keineswegs so einfach, wie Ellon es sich vorstellte. Die Menschen haben ihre Emotionen und Gedanken weit weniger in der Gewalt als die Demiurgen. Mitunter werden wir von unkontrollierbaren Gefühlen beherrscht, unwillkürlich kommen uns Gedanken eine bei den Demiurgen und Galakten seltene Erscheinung. Doch ich wollte nicht streiten. Alle Demiurgen sind starrsinnig, und Ellon war in dieser Hinsicht ein doppelter Demiurg. Er hätte nie getan, was er nicht wollte. Ich stand auf.

»Augenblick, Admiral«, sagte Ellon. »Du hast Fragen gestellt, nun bin ich an der Reihe. Die Sternenspinne hat um Hilfe gebeten, Werden wir sie gewähren?«

»Zweifelst du daran, Ellon?«

»Ich zweifele nicht, kann das aber nicht begreifen.

Warum müssen wir jedem Bittsteller helfen? Ich würde erst einmal prüfen, ob einer unsere Hilfe verdient.«

»Ich fürchte, die Besatzungen der Sternenflugzeuge sind da anderer Meinung«’, entgegnete ich kalt… In erster Linie spreche ich von den Menschen, wenn auch nicht ausschließlich. Wir betrachten es als unsere Pflicht, denen zu helfen, die darum bitten. Wunden dich diese Haltung der Menschen, Ellon?«

»O ja. Ihr seid sehr wendig, wenn es um die Beherrschung von Naturkräften geht. Ihr seid sehr vielseitig als Ingenieure und Konstrukteure. Aber ihr werdet zu Stein, wenn ihr es irgendwie mit Moral zu tun bekommt. Eure Moral ist geradlinig, hart, erkennt keine Abweichungen und Zugeständnisse an. Dadurch kompliziert ihr euren Verkehr mit anderen Zivilisationen.«

»Wir sind stolz darauf, daß wir keine leichten Wege suchen, Ellon! In Fragen der Moral sind wir geradlinig und unnachgiebig, da hast du recht, aber das ist unser Vorzug, nicht unser Fehler. Wir sind stolz auf unsere Unnachgiebigkeit in den Fragen von Gut und Böse, mein verehrter Ellon.«

Der Demiurg ging. Oleg rief mich zu sich und teilte mir mit, daß die von Oan empfangenen Nachrichten mit den Besatzungen aller Sternenflugzeuge erörtert werden müßten. Auf der bald darauf stattfindenden Stereoversammlung des Geschwaders legte ich meine Auffassung von den Ereignissen folgendermaßen dar:

»Wir alle glauben nicht an Götter. Übernatürliche Kräfte existieren nicht. Verstöße gegen die Gesetze der Natur stimmen mit allgemeineren Gesetzen der selben Natur überein. Die Bezeichnung ,Grausame Götter‘ ist nur ein Symbol, welches bedeutet, daß sich in der kleinen Welt der Drei Sonnen Wesen angesiedelt haben, die sehr mächtig sind, aber kein gutes Herz haben. Ihre Macht ist groß, übertrifft jedoch nicht die Macht der Natur, und die Natur steht bislang auf unserer Seite. Die Aranen rufen um Hilfe.

Ohne unsere Hilfe wandelt sich ihre Degeneration zu völligem Untergang. Ich meine, wir müssen ihnen Beistand leisten. Und wenn wir mit einer unbekannten bösen Zivilisation zusammenprallen, so ist das nicht zu ändern. Ich denke, der Erfolg wird unser sein, denn unser ist die Gerechtigkeit.«

Heute, da niemand weiß, ob uns die Rettung gelingt, mögen meine Worte leichtsinnig scheinen. In dem von uns heraufbeschworenen Krieg erleiden wir bisher nur Niederlagen. Wir konnten nicht ahnen, gegen was für eine Macht wir so verwegen ausholten.

Aber auch jetzt, da mir bekannt ist, was dann geschah, widerrufe ich meine Worte nicht, und niemand von denen, die noch am Leben sind, widerruft sein Einverständnis mit mir. Einmütig waren wir für den Feldzug zu den Drei Staubigen Sonnen, und wir bereuen es nicht! Wir wurden um Hilfe gebeten, und wir mußten sie leisten. Wenn meine Botschaft die Menschheit erreicht, so soll sie wissen: Wir bereuen es nicht! Es hat sich nur herausgestellt, daß wir unzureichend gerüstet sind. Unsere Hände sind schwach, aber unsere Herzen sind rein. Der Raum hat drei Richtungen, die Moral – eine. Unser Weg heißt: Gutes tun, edelmütig sein, wir können nicht umkehren, nicht abtrünnig werden. Ich sage das in der Überzeugung, daß der Tod uns erwartet. Nehmt dies als mein Vermächtnis: Besser der Tod als Aussöhnung mit der Niedertracht!

4

Den Planeten, zu dem wir flogen, nannte Romero Arania. Wir hinderten unseren Historiographen nicht, beliebige Namen zu erfinden. Mich interessierte mehr, was die Aranen konkret benötigten. Man hätte sie näher kennenlernen, vielleicht sich in ihre Gesellschaft begeben müssen! Was tun? Sollten wir als direkte Freunde kommen oder uns als heimliche Späher umtun?

»Ihr könnt nicht als wohlwollende Fremdlinge landen«, erklärte Oan. »Die Aranen sind uneins. Die Freunde der Verwerfer sind die Feinde der Beschleuniger. Ihr müßt euch tarnen. Nehmt die Gestalt von Aranen an. Die Grausamen Götter besuchen uns stets auf diese Weise. Mühelos geben sie sich jedes beliebige Aussehen. Folgt ihrem Beispiel.«

Ich war mir nicht sicher, ob unsere Möglichkeiten das zuließen. Sich wie in phantastischen Romanen ein anderes Aussehen geben das war nichts für uns. ElIon schlug vor, einen neuen Schutzanzug zu Schäften, ohne die Körper umzukonstruieren. Den Demiurgen die bei der Herstellung von Unsichtbarkeit und der Übertragung von materialisierten Phantomen auf beliebige Distanz große Fertigkeit erlangt haben, bereitete es keine Schwierigkeiten, einem Sternenfahrer spinnenförmiges Aussehen zu verleihen. Nur der Drachen eignete sich nicht. Er war zu groß.

»Wenn es jemandem mißfällt. Spinne zu werden, mag er Unsichtbarer sein«, riet Ellon. »Die neuesten Abschirmungskonstruktionen gewährleisten sogar Menschen eine befriedigende Unsichtbarkeit, und sie schaden kaum. Allerdings dürfen Menschen nur kurzfristig in die Unsichtbarkeit gehen.«

Keinem von uns Menschen paßte es, unsichtbar auf einem unbekannten und vielleicht gefährlichen Planeten zu wandeln und ständig zu überlegen, wie lange die Abschirmung vorhielt. Außerdem hatten Ellon und wir unterschiedliche Auffassungen darüber, was mehr oder weniger schadete. Was für einen Demiurgen gesund war, brachte einem Menschen bisweilen den Tod.

Das Geschwader der Sternenflugzeuge erreichte die Untergehenden Welten.

Na, das waren Plätzchen, diese Untergehenden Welten! Aus einem Nebel waren wir in einen anderen geraten. Der Unterschied bestand nur darin, daß der frühere im Vergleich zu diesem wie klare Ferne gewirkt hatte. Und wenn jener dichte Nebel trotz allem freier Kosmos gewesen war, nur durch Gas und Staub verhüllt, so fanden wir diesen mit Tausenden von Sternen vollgestopft. Eine kompakte Sternenansammlung, in Dämmerung ertrinkend. Eine bedrückende Landschaft bot sich uns dar (nein, sie bot sich nicht dar, sie trat vage hervor, zeichnete sich dunkel ab): ewige purpurrote Dämmerung, Sterne im Staub, der Kosmos Staub, ungeheuer verzerrte Silhouetten der Gestirne. Die Sterne waren einander so nah, daß im normalen Raum vierhundert Sonnen am Himmel gestrahlt hätten, und nirgends hätte es den Wechsel von Tag und Nacht gegeben. Aber da waren keine Sonnen, ihr Schein durchdrang den dumpfen Nebel kaum.

Wir hielten Kurs auf einen großen Stern, der bald aufleuchtete, bald erlosch. Als wir näher kamen, erwies es sich, daß sich drei Gestirne um ein gemeinsames Zentrum drehten, wobei sie einander periodisch verdunkelten. Das waren die Drei Staubigen Sonnen.

Oleg erteilte dem Geschwader den Befehl, zusammenzurücken und zu bremsen. So wurden wir zu einem Gruppentrabanten des Planeten, von dem Oan geflohen war. Vorsichtshalber hatten wir weit von Arania entfernt gestoppt. Ich weiß nicht, wie es sich mit den Grausamen Göttern verhielt, aber die unglücklichen Aranen konnten uns selbst mit starken Geräten nicht entdecken.

Der Erkundungstrupp erhielt den Auftrag, sich auf den Ausstieg vorzubereiten.

Bevor wir landeten, ging ich zu Vagabund. Seine Unterkunft war jetzt ein großer Raum – groß nicht für ihn, für ihn war jeder Raum außer dem Observationssaal zu eng-, der speziell für die Pegasusse projektierte Stall. Pegasusse hatten wir trotz Lussins dringender Bitten nicht mitgenommen, und seit der Drachen ihn bezogen hatte, wurde er scherzhaft Drachenstall genannt. Hatte ich Muße, besuchte ich Vagabund, um mit ihm zu plaudern. Und wenn es meine Zeit erlaubte, kroch er in den Park, wo wir uns am Seeufer nach Herzenslust unterhielten. Im Park fühlte sich Vagabund frei und unbeschwert, und auch mir ging es dort besser.

Bei Vagabund saßen Lussin und Mizar. Mizar, ein prachtvoller Schäferhund – Schäfer, wie Lussin ihn liebevoll nannte-, war das einzige Tier, das wir mitgenommen hatten. (Romero hatte Lussin nachgewiesen, daß es sich bei den Schäfern nicht um Hunde, sondern um Menschen gehandelt habe, die Schafe hüteten.

Doch Lussin hatte entgegnet, jeder Schäfermensch der alten Zeiten sei bedeutend weniger intelligent gewesen als Mizar.) Das Wörtchen »Tier« ist relativ.

Mizar war ein vortrefflicher, hochgebildeter Hund.

Die vier Grundrechnungsarten, einfache algebraische Transformationen sowie die Anfangsgründe der Geometrie und der Physik waren vielen Hunden bekannt, aber Mizar bewältigte auch Gleichungen zweiten Grades. Und um seine Kenntnisse in Physik und Chemie hätte ihn mancher Professor des Mittelalters beneiden können. Lussin behauptete, Mizar habe eine Begabung für exakte Wissenschaften, und er trieb mit ihm neuerdings Integralrechnung. Ich bin nicht überzeugt, daß Schäfer eine besondere Neigung zu dieser Wissenschaft hatte, Lussin jedenfalls war hingerissen.

Er schwor, Mizar knacke die einfachen Integrale wie Nüßchen, und wenn das so weitergehe, werde er für ihn eine wissenschaftliche Auszeichnung erwirken und sich nicht scheuen, die Einführung von wissenschaftlichen Graden für Hunde durchzusetzen.

Ich hockte mich auf die Tatze des Drachens und streichelte den Hund. Schäfer war groß, ungefähr so groß wie ich, wenn er sich auf die Hinterpfoten stellte, er hatte ein dunkles glänzendes Fell, eine mächtige Schnauze, kluge Augen und solch gewaltige Pfoten, daß er mit jeder durchaus einen Menschen umstoßen konnte. Die hüpfenden Demiurgen schlugen furchtsame Bogen um Mizar, er mochte die ehemaligen Zerstörer nicht und freundete sich mit keinem von ihnen an. Ich fragte Lussin einmal, was geschähe, wenn man Mizar auf unsere früheren Feinde hetzte. Lussin antwortete, daß Mizar mit den Augenköpfigen nicht fertig würde; die seien fest gepanzert und würden grausame Gravitationsschläge austeilen, die fliegenden Unsichtbaren wären ebenfalls nichts für seine Zähne, doch solche subtilen Wesen wie Orlan und Ellon würde Schäfer im Nu zerfetzen.

Mizar trug ein elegantes orangefarbenes Halsbandsein individuelles Dechiffriergerät, das von Lussin so vorzüglich angepaßt war, daß die Sprache des Hundes in unseren Gehirnen ganz menschlich klang. Mizar verstand uns übrigens auch ohne Dechiffriergerät sehr gut. Die Fähigkeiten der Hunde übertreffen in dieser Hinsicht die der Menschen. Ohne Geräte verstehen wir die Sprache der Tiere nicht.

»Vagabund, du mußt auf dem Schiff bleiben«, sagte ich. »Du taugst nicht zu einem Spinnenförmigen.

Auch Mizar nehmen wir nicht mit.«

»Das ist nicht recht, Admiral Eli«, knurrte der Hund. Nebenbei bemerkt alle Hunde begreifen mühelos die dienstlichen Ränge der Menschen, und Mizar übertraf seine Brüder auch darin. Er vergaß nie, mich Admiral zu nennen. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie von den Mechanismen so zuverlässig geschützt werden können wie von mir.«

»Wir wollen versuchen, nicht in Gefahr zu geraten, Mizar. Lussin, hast du mit Trub und Gig gesprochen?«

»Schutzanzüge«, sagte Lussin seufzend. »Gefallen nicht. Beleidigt. Beide.«

»Und dein Schutzanzug, Lussin?«

»Wunderbar. Zweite Haut.«

»Mit dem Engel und dem Unsichtbaren werde ich reden. Und wenn mein Zuspruch nicht hilft, dann sollen sie hierbleiben.«

Der Erkundungstrupp traf sich auf dem Anlegeplatz. Dort suchte sich jeder einen Schutzanzug aus.

Meiner paßte so gut, als wäre ich nicht in ein abschirmendes Kleidungsstück geschlüpft, sondern in einen neuen Körper. Der Kopf ließ sich ungehindert drehen, je nach Stimmung bäumten sich die Haare wie Schlangen oder sanken herab, und wunschgemäß verwandelten sie sich in Greifwerkzeuge. Es bereitete mir Vergnügen, mich als Vierzigarmer zu fühlen. Die Beine gehorchten ebenfalls jedem Befehl. Ich wollte ein Stück rennen, um sie zu lockern, und wäre um ein Haar gegen eine Wand geprallt so schnell fiel der Lauf aus. Die Schutzanzüge der anderen waren nicht schlechter. Trub und Gig, beide waren auf dem Platz erschienen, lehnten, wie Lussin gesagt hatte, die Tarnkleidung kategorisch ab. Mein Zureden nützte nichts.

»Wir Engel verachten Spinnen!« sagte Trub hochmütig und kreuzte die schütteren Flügel auf der Brust.

»Ein Kampfengel gleicht sich nie einem verachtungswürdigen Insekt an.«

Noch weniger sah sich der wackere Unsichtbare imstande, die Uniform zu wechseln. Ich konnte die beiden verstehen.

Wir landeten auf einem Hügel. Beim Anflug wirkte Arania wie ein Ozean, dunkel, funkelnd, quecksilberhaft, das Reich einer Flüssigkeit, die, wie sich dann erwies, dem Quecksilber in der Dichte nur wenig nachstand – Proben davon führen wir mit uns. Über der Oberfläche glitten flimmernde Körper dahin. Oan riet uns, dem Ozean möglichst fernzubleiben, der ebenso wie jeder seiner Bewohner ein Räuber sei. Unaufhörlich greife er das Festland an, werfe sich darüber und zersetze es. Würde er seinen Grund nicht mit Ablagerungen bedecken, die sich sogar seiner Aggression entziehen, hätte sich Arania längst aufgelöst.

Während der elektrischen Stürme schleudere der Ozean die Ablagerungen in großen Mengen auf das noch nicht zersetzte Festland und festigte es dadurch.

Die Meeresräuber gehörten ebenfalls zur Gattung der Zersetzer sie umhüllten ihre Opfer und saugten sie aus.

»Eure Schutzanzüge bestehen aus Stoffen, die auf Arania unbekannt sind; ich bin fast sicher, daß euch kein Überfall der Meeresräuber droht«, tröstete uns Oan vorsichtig, nachdem er uns einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte.

Für die Landung wählten wir die Nachtseite. In der Nähe lag die Hauptstadt des Planeten. Oan stieg als erster aus und rief uns.

Finsternis herrschte, mit unserer Lichtlosigkeit kaum vergleichbar. Abseits lauerte der dunkel glänzende Ozean. Die Erde leuchtete matt, jedes Steinchen flimmerte. Ein Wäldchen phosphoreszierte violettkühl wehte es von ihm herüber, die Bäume erfrischen hier nicht, sie kühlen vielmehr die von der inneren Wärme des Planeten erwärmte Luft ab. Allenthalben blitzten bläuliche Fünkchen, und als wir die Füße setzten, knisterten zwischen ihnen und der Erde orangefarbene Entladungen. Alles hier war von Elektrizität gesättigt: die Erde, die Luft, die Pflanzen, die dichte Ozeanflüssigkeit. Alles hier leuchtete mattphosphoreszierte, lumineszierte, flimmerte, schillerte, schwach, kaum wahrnehmbar , unerfindlich, wofür, unerfindlich, warum. Und kaum waren wir ausgestiegen, fingen wir ebenfalls zu leuchten an. Romero scherzte später, nicht die Konstruktion des Schutzanzuges wäre bestimmend dafür gewesen, sondern der Dienstrang seines Besitzers. Ich leuchtete gebieterisch blau, Lussin rührend gelb, Orlan und Grazi wohlwollend orangefarben, Irina und Mary erschrocken violett, Romero vorsichtig grünlich und Oan drohend rot. Nur der Himmel leuchtete nicht. An ihm herrschte regelrechte Finsternis. Und selbst die spärlichen nächsten Sterne – rötliche kleine Aureolen im Staubschleier – störten nicht, sondern betonten die Schwärze.

Oan stieg vorsichtig in das Dickicht der flimmernden Bäume hinab. Wir folgten ihm. Die Beine hatten wir zusammengeklappt und schlichen auf den oberen Gelenken. Ohne dieses Ducken nach Spinnenart wären wir jählings vorgeschnellt.

In dem Wäldchen blieb Oan stehen. Ich war hinter ihm. »Eli«, signalisierte er meinem Gehirn, »ich spüre Iaos Entladungen. Er ist Verwerfer und hat heute Schutzdienst. Die Beschützer warnen, wenn sich eine Rotte Beschleuniger an unsere Höhlen heranstiehlt!.

Ich sage Iao, ihr wäret Verwerfer von der anderen Seite des Planeten, wo wir ebenfalls Propaganda führen Ihr würdet eine neue Abteilung unserer Anhänger sein.«

Wenig später begegneten wir Iao Ein lila Schatten schimmerte auf, schimmerte auf und verschwand. Noch auf der »Steinbock« hatte ich mit Oan vereinbart, daß er uns seine Gespräche mit den Aranen übersetzte. In meinem Gehirn erscholl eine schroffe, sich überstürzende Stimme – Oan gab sogar die Intonationen seines Kameraden meisterhaft wieder. »Halt. Anschleichender! Nenne dich. Nenne mich!«

»Ich bin Oan, und du bist Iao«, hörten wir Oans Antwort.

»Ich bin Iao, du hast recht, Oan. Ich freue mich, daß du unversehrt zurückgekehrt bist. Erleuchte dich, damit ich dich sehen kann. Ja, du bist Oan. Es ist tröstlich, dich am Leben zu wissen, großer Oan, du naher Freund des Großen Oor. Wo sind deine Kameraden, Oan? Wo hast du deine erhabenen Brüder gelassen, die auf der Flucht in die andere Zeit mit dir waren, Oan?«

»Sie alle sind umgekommen, Iao. Ich werde Oor und der Gesellschaft darüber Bericht erstatten. Nun laß mich passieren.«

»Du bist nicht allein? Was bedeutet das, Oan?«

»Mit mir sind Freunde von der anderen Seite des Planeten, die als Verwerfer angeworben wurden. Ich habe sie mitgebracht, damit sie der Predigten Oors teilhaftig werden. Sie brennen darauf, den Kampf gegen die Beschleuniger aufzunehmen.«

»Sie sollen der Predigten teilhaftig werden, Oan.

Und wir werden ihnen Gelegenheit geben, gegen die gräßlichen Beschleuniger zu kämpfen. O ja, Oan, wir werden ihnen Gelegenheit geben! Mögen sie sich erleuchten. Wackere Leute, Oan, du hast gut daran getan, sie herzubringen. Morgen können sie ihren Eifer durch die Tat beweisen!«

»Ist etwas Wichtiges geschehen?« »Die Beschleuniger haben wieder alle aufgegriffen, die sie in den Stunden der dunklen Sonnen antrafen.

Die Selbstverbrennung ist für morgen festgesetzt, beim Untergang der Drei Staubigen Sonnen soll sie stattfinden. Wir wollen die Unglücklichen befreien.

Geh, Oan. Ich freue mich für dich und die Freunde.

Ihr werdet Oors, des Größten der Großen flammende Predigt hören. Schreite tapfer aus. Hinter mir werden keine Beschleuniger euren Weg kreuzen.«

Oan beschleunigte den Schritt. Wir hoben die Rümpfe ein wenig, streckten die Beine aber nicht völlig. Nach wie vor war das Dunkel nur durch das Phosphoreszieren der Bäume, das Lumineszieren des Bodens und das Leuchten unserer Körper erhellt. Romero flüsterte begeistert, wir hätten Ähnlichkeit mit irdischen Verschwörern früherer Zeiten, die zu einer heimlichen Zusammenkunft schlichen. Ich bezweifle, daß ihm das damalige Leben gefallen hätte, wäre er real unter unseren Vorfahren gewesen, aber alles, was an die alten Zeiten erinnert, läßt ihn jubeln. Ich verstehe seine Gefühle, vermag sie jedoch nicht zu teilen.

Bald darauf gelangten wir in eine geräumige Höhle mit leuchtenden Wänden. Hier wimmelte es von Aranen. Es waren ihrer so viele, und sie hatten sich so dicht aneinander gelegt, daß der Eindruck entstand, als befände sich in der Höhle nur ein einziger riesiger flimmernder Körper. Und wir zwängten uns dazwischen, wurden Teil von ihm, ordneten uns seinen Bewegungen unter – beugten uns mit ihm bald nach rechts, bald nach links, richteten uns auf, indem wir die Beine streckten, und ließen uns wieder nieder. Niemand beachtete uns, niemand interessierte sich für uns.

»Oor!« äußerte Oan deutlich. Nur wir vernahmen ihn. Mitten in der Höhle warf sich ein Spinnenförmiger auf den Rücken. Auf das zwölfbeinige Postament kletterte ein anderer Arane, stellte sich auf die lebenden Säulen und zuckte und flimmerte in schnell wechselnden Farben. Er hielt eine Rede erglühend und erlöschend, sich blähend und zusammensinkend.

Seine von Oan übersetzten Worte erklangen in unseren Gehirnen. Dies war Oor, Oberster Verwerfer des Endes.

»Entsetzlich, Eli, sie verurteilen den Tod, weil sie das Dahinvegetieren preisen. Der Begeisterung für das Ende setzen sie den Jubel über jegliche Drangsal entgegen!« flüsterte Lussin befremdet, in Gedanken selbstverständlich, in normaler Rede hätte er so einen zusammenhängenden Satz in einem Monat nicht herausgebracht.

»Ein spinnenförmiger kosmischer Ekklesiastikus, dieser edle Oberste Verwerfer des Endes«, bekräftigte Romero. Er konnte nicht anders, er mußte mit dem unverständlichen Wörtchen »Ekklesiastikus« aus seinem geliebten Antiquitätenarchiv protzen.

Zunächst rief Oor zur Rettung derjenigen auf, die am nächsten Tag sterben sollten, und zog erbittert über die Beschleuniger her. »Sie sind nicht nur unzufrieden, sie sind Rebellen. Und sie hassen sich selbst, das Leben, die ganze Welt. Sie sind die wahren Verwerfer, da sie sich vom gesamten Universum abwenden, nicht nur von ihrem Planeten. Sie tragen den Keim der Vernichtung in sich, aus dem die giftige Frucht des realen Todes wächst.«

Dann sang der Oberste Verwerfer des Endes eine feierlich schwülstige Hymne auf das Dasein. Ich bin nicht stark in Philosophie, aber ich bin mit Lussin der Meinung, daß sich das Weltgefühl der Verwerfer in der Begeisterung für zielloses Dahinvegetieren und dem Entzücken über jegliche Scheußlichkeit erschöpfte. Eine Existenz im Namen der Existenz so sah im großen und ganzen diese billige Philosophie aus.

»Ach, freut euch des Staubs, berauscht euch an der Finsternis!« verkündete von der zwölfbeinigen zuckenden Kanzel der Oberste Verwerfer des Endes.

»Denn herrlich ist der würgende Staub, hinreißend die tiefe Finsternis! Sucht nicht das Heil, das ewige Heil stumpft den Geruchssinn ab, den Geschmack und die Sehkraft. Strebt nach Mängeln, denn die ewigen Mängel versüßen jegliches Heil! Die Finsternis um euch macht, daß euch ein Lichtfünkchen ergötzt.

Ihr seid zum Existieren geschaffen. Also existiert, existiert! Und möge die Finsternis tiefer und der Staub dichter werden! Herrlich, großartig, göttlich ist die Drangsal! Schön, schön ist der Kampf um die Existenz. Je enger die Möglichkeiten, je verderbenbringender die Umwelt, desto wonniglicher die für das Dasein ertrotzte Stunde, Minute, Sekunde! Je weniger Anlässe für Genuß, desto intensiver der Genuß aus jeglichem Anlaß. Ach, ins Dunkel gehen, frohlockend, daß man fähig ist, das Dunkel zu empfinden!

Ach, vor Staub ersticken, qualvoll nach sauberer Luft dürsten und auskosten, daß man fähig ist, so leidenschaftlich zu dürsten! Fliehen, fliehen vor den rachsüchtigen Blitzen der grimmigen Mutter Speichern. Fliehen vor den raubgierigen Kreaturen des Ozeans und jauchzen, daß man zu fliehen vermag, daß man nicht wird, nicht wird, nicht wird der Brennpunkt einer elektrischen Entladung, die Beute eines Räubers. Und wenn ihr Gestank wahrnehmt, so jubelt, daß ihr üblen Geruch von gutem unterscheidet. Taucht in den Gestank, taucht, in seiner Abscheulichkeit entdeckt ihr eure Fähigkeit, euch an gutem Duft zu freuen. Ohne Gestank keine Wonne des Wohlgeruchs. Oh, wie schön sind die Drangsale und Ängste, die Qualen und die Entbehrungen! Sie sind die Unvergänglichkeiten der Existenz, sie sind die Selbstverstärker der Bestätigung! Preist die Drangsale! Ergötzt euch an der Qual! Verwirklicht das Höchste in euch: die Fähigkeit, euch ganz und gar zu erniedrigen. Euch so dicht an den Boden zu schmiegen, daß die Grausamen Götter euch nicht sehen, nicht spüren, nicht kennen! Seid stolz auf euer Dasein, denn ihr existiert allem zum Trotz. Es ist das Höchste im Leben zu leben! Es ist das Heiligste an der Existenz zu existieren. Also existiert! Lebt, lebt! Im Kampf gegen alles, gegen alles Existieren, existieren! O Mutter Blitzspeicherin, schlag zu! Wir halten stand! Wir halten stand!«

»Welch eine furchtbare Philosophie, Eli!« flüsterte Lussin wieder.

»Was er sagt, entspricht nicht dem, was du über die Verwerfer des Endes erzählt hast«, wandte ich mich in Gedanken an Oan.

Er erwiderte von Gehirn zu Gehirn; »Der Oberste Verwerfer überzeugt seine Anhänger, nicht das Ende herbeizusehnen. Das ist nur die eine unserer Aufgaben. Die andere besteht darin, einen vernünftigen Ausweg aus der heutigen Ausweglosigkeit zu finden.

Merke wohl: Oor behauptet nirgends, daß der Jubel für zielloses Dahinvegetieren ewig dauern soll. Doch für die heutige Generation ist es unvermeidlich. Die Befreiung können erst unsere Nachfahren erleben.

Viele Aranen begreifen das, aber die höchsten Geheimnisse sind nicht allen zugänglich.«

Die Antwort war nicht gerade klar, aber ich bestand nicht auf näherer Erläuterung.

Oors lange Rede war von Heulen und Schreien, krampfhaftem Zucken aller Körper, Aufgleißen und Schwenken der schlangenförmigen Armhaare begleitet gewesen. Nachdem er mit dem hysterischen Ruf »Existieren! Existieren!« geendet hatte, verkündete er: »Jetzt, o Brüder, Niedrige der Niedrigsten, wollen wir den gefangenen Beschleuniger, einen jämmerlichen und verbrecherischen Selbstverbrenner, bekehren!«

In der Höhle gleißte wieder fieberhaftes Leuchten auf. Tausende Stimmen schrien, kreischten, heulten:

»Auf den Pranger! Erniedrigen durch Erhöhen! Strafen! Strafen!«

Über der Menge flog wie ein Ball ein Arane auf.

Vor Angst hatte er die Beine zusammengelegt und die Armhaare dicht an den Kopf gedrückt. Aus der Ecke wurde er zur Mitte geworfen, und die Menge gab acht, daß er nicht zu Boden ging und sich zwischen den Körpern versteckte. Neben Oor legte sich ein zweiter Arane auf den Rücken und bildete ein weiteres zwölfbeiniges Postament. Der Gefangene wurde hochgehoben. Krampfhaft pulsierten sein Leuchten und sein Umfang, mal erlosch der Körper, mal erglühte er, mal blähte er sich, mal fiel er zusammen.

Sind die Aranen aufgeregt, so verzichtet keiner auf jähe Körperbewegungen und bestürzte Lichtpulsation.

Oor begann den gefangenen Beschleuniger feierlich zu verhören.

»Uul, ihr trugt euch mit der Absicht?«

»Ja, großer Oor, wir trugen uns mit der Absicht »Selbstverbrennung?«

»Ja, großer Oor, Selbstverbrennung.«

«Öffentliche?«

»Ja, großer Oor, öffentliche.«

»Morgen, zur Zeit der Dunklen Sonnen?«

»Morgen, zur Zeit der Staubigen Sonnen,«

»Der Dunklen oder der Staubigen? Sprich die Wahrheit!«

»Der Staubigen Sonnen, großer Oor, der Staubigen! Ich würde mich nicht erkühnen, dich zu belügen.«

»Du bist imstande, jämmerlicher Beschleuniger des Endes, die genaue Zeit zu verheimlichen, damit wir auf eurer widerwärtigen Festlichkeit nicht erscheinen.«

»Ich bin glücklich, euch die genaue Zeit zu eröffnen, damit auch ihr an unserer berauschenden Feierlichkeit teilnehmt.«

»Wieviel Unglückliche unterzieht ihr morgen der entsetzlichen Strafe?«

»Hundertdrei Glückliche werden morgen der herrlichen Krone für würdig befunden.«

»Hundertdrei vom Entsetzen vor der Vernichtung Gepackte? Lügst du nicht. Verachtungswürdigster der Verachtungswürdigen?«

»Hundertdrei von Todesbegeisterung Erfüllte, hundertdrei im Vorgeschmack des Endes Jauchzende! Ich lüge nicht, Größter der Großen!«

»Aber, du Niederträchtigster, gedachtest nicht unter den jauchzenden Verdammten zu sein? Du versagst dir den Todesgenuß? Vielleicht deshalb, widerwärtigster Uul, weil dir das Illusorische der Nichtseinswonne bewußt geworden ist?«

»Nein, verehrungswürdigster Oor, ich bin mir der Freude der Selbstvertilgung tief bewußt. Aber das entzückende Nichtsein wird mir bislang nicht vergönnt. Ich bin der Auszeichnung einstweilen nicht für wert befunden. Ich muß noch dreißig der Wonne des Selbstmords Würdige dem Feuer überantworten, bevor ich mit der Erlaubnis, selbst zu sterben, belohnt werde. Ich trage den Titel eines Greifers zweiten Ranges, o weiser Oor, Lieblingssohn des Vaters Akkumulator und der Mutter Blitzspeicherin.«

»Wir haben dich gestellt, als du mit deinen gierigen Haaren räuberisch den armen Jaal umwandest, um ihn ins Verlies der Todgeweihten zu schleppen!«

»Ihr habt mich gefaßt, als ich mit zärtlichen Haaren den hinfälligen Jaal freundschaftlich umarmte, um ihn vor das Antlitz der Weisesten zu bringen, die ihm erklärt hätten, wieviel er verlor, da er unter den unglücklichen Lebenden verweilte, indessen er sich Hunderte, Tausende Male herrlich selbst vernichten konnte. ,Welche Qual diese jämmerliche Existenz angesichts der Schönheit des Todes’, funkelte ich ihm heiß in die Augen. ‚Wähle’, funkelte ich, ,zwischen einer trüben Existenz und dem lichten Tod. Und seine Seele zeigte sich schon geneigt, freudvoll zu enden, als ihr ihn aus meinen sanften Armen risset, damit er sein trostloses Dasein fortsetze.«

»O Nichtswürdigster der Nichtswürdigen, du stellst die Seligkeit der Trübnis, die Begeisterung für den Selbstverlust, die Freude an der Selbsterhaltung in Abrede? Bedenke, in welche Häresie du verfällst, unvernünftiger Uul!«

»Ich schwinge mich zur wahren Erkenntnis auf Heiligster der Irrenden!«

»Deine falsche Erkenntnis wird durch deine Reden widerlegt.«

»Ihr gabt mir keine Gelegenheit, eine Rede zu funkeln. Ihr verhört mich.«

»Wir fürchten deine Reden nicht, Funkele! Erschöpfe dein entartetes elektrisches Feld, die heimtückische Gabe unseres bösen Vaters Akkumulator. Die widerwärtige Grellheit deiner Offenbarungen wird enthüllen, wie tief die ihnen innewohnenden Irrtümer sind. Funkele, blitze, glühe! Die Wahrheit liegt in der Dunkelheit, nicht im Licht!«

Der Gefangene strahlte begeistert eine grelle Rede.

Oan übersetzte sie uns flink, wir hatten nichts weiter zu tun, als uns an Uuls ungestümen Sprüngen auf dem lebenden Postament und dem leidenschaftlichen Leuchten seines Körpers zu weiden. Den Behauptungen Oors setzte der Gefangene seine eigenen entgegen aber merkwürdig, ich hatte immer den Eindruck, als sagten sie ein und dasselbe, als bildeten sie sich nur ein, daß sie unterschiedlicher Auffassung waren. Zwei Enden eines Stockes, dachte ich. »Die Wahrheit liegt im Licht, nicht in der Finsternis«, ereiferte sich blitzend der Gefangene auf dem Postament. »Die Wahrheit funkelt, sie verbirgt sich nicht. Die Grausamen Götter verdichten das Dunkel!

Die Grausamen Götter erschweren das Dasein.

Ruhm den Grausamen Göttern! Ruhm ihrer erbarmungslosen Vernunft! Ruhm der Qual, die sie schaffen! Welch Elan in den Taten der Grausamen Götter!

Sie strafen nicht, sie prüfen. Sie rufen uns zu: Seid ihr fähig, den kühnen Entschluß zu fassen? Ihr geheiligtes Ziel besteht nicht darin, uns zu einem trostlosen Dasein, sondern zu dessen Ablehnung zu zwingen.

Nicht Unterwerfung, sondern Auflehnung. Nicht Selbstverwirklichung in der Existenz, sondern in deren Verneinung. Verneine die Kälte und die Dunkelheit, den ewigen Staub und den ewigen Hunger, das räuberische Wasser und die unwirtliche Erde, die dunklen Sterne und die finsteren Sonnen! Die höchste Verneinung besteht in der Verneinung von sich selbst, in der Auflehnung gegen das eigene Leben! Ach, da ist sie, da ist sie, die Wahrhaftigste der Notwendigkeiten, die vollständige Erlösung von allen Fesseln die Selbstvernichtung! Da ist sie, die höchste Freiheit die Befreiung von sich selbst! O Selbstmord, Edelste der Selbständigkeiten! Nur derjenige erreicht vollkommene Vollendung, der dem Leben durch den Tod Vollendung gibt! Freiheit, Freiheit, Freiheit – in der Freiheit von der Existenz! Preist den freien Tod!

Preist den freien Tod! Möge sich der Wille der Grausamen Götter erfüllen, die uns unwiderstehlich in den Tod ziehen! Verachtungswürdige Lebensraffer und Lebensaufklauber.

trübselige Lebenskriecher, ich rufe, rufe, rufe euch zur feurigen Selbstbefreiung auf Im Namen des Todes! Im Namen des Todes!

Sein gellender Ruf ging im allgemeinen Gezeter unter. Die Haare der Umstehenden sträubten sich.

Hunderte von grausamen Armen klammerten sich zerrend an Uuls Körper und Beine. Der Raserei der Armhaarigen gebot der dreimal wiederholte Ruf des Obersten Verwerfers Einhalt: »Im Namen des Lebens! Im Namen des Lebens! Im Namen des Lebens‘ Laßt ab von dem verachtungswürdigen Todesverehrer!«

Als sich die Erregung ein wenig gelegt hatte, sprach Oor ein strenges Verdikt: »Du dürstest nach dem Tod und sollst das Leben empfangen. Schafft Uul in das unterirdische Verlies, wohin der Schein der Staubigen Sonnen und die Entladungen des Vaters Akkumulator nicht dringen, wo die Donnerstimme der Mutter Blitzspeicherin nicht zu hören ist. Möge er der Niedrigste der Niedrigen werden, der Nichtswürdigste der Nichtswürdigen, der Hungrigste der Hungrigen, der Stumpfsinnigste der Stumpfsinnigen. Sobald er sich über seine Einkerkerung freut, sobald die Qualen seiner Existenz ihn jauchzen lassen und er sich als Verwerfer des Endes erklärt, soll er herausgeholt werden.«

Der Gefangene wurde abgeführt. Oor sprang vom Postament. Die Menge strömte zum Ausgang. Ich sagte zu Oan: »Kehren wir zum Planelenflugzeug zurück.«

Er fragte, ob wir nicht vor den Obersten Verwerfer des Endes hintreten und erklären wollten, wer wir seien und wie wir seinen Anhängern helfen würden Doch ich hatte kein Verlangen, mit Oor Bekanntschaft zu schließen, schon gar nicht, sein Helfer zu werden.

5

Als wir uns mit den Spinnenförmigen durch den engen Tunnel hinausdrängten, flüsterte Lussin mir in Gedanken zu: »Wie unglücklich sie sind, Eli! Und beide Sekten sind gleichermaßen unglücklich. Ich habe geweint, als ich Oor und Uul zuhörte. Was für Leiden muß man durchmachen, um zu solch entsetzlichen Ansichten zu gelangen, zu solch verzweifeltem Tun!«

»Sie sind alle wahnsinnig!« sagte Romero. »Das schwere Dasein hat sie grausam fanatisch werden lassen. Beide Sekten, wie unser Freund Lussin sie ganz richtig nennt, bestehen aus grausamen Fanatikern, und, ehrlich gesagt, ich hätte Schwierigkeiten, festzustellen, welche besser ist und welche schlechter.«

»Zwei Enden eines Stocks«, wiederholte ich meinen Gedanken. »Selbstverständlich muß ihnen geholfen werden, aber dem ganzen Volk, nicht einer Sekte. Die Verwerfer sind in keiner Weise besser als die Beschleuniger. Habe ich dich nicht beleidigt, Oan?«

»Wir ersehnen Hilfe«, antwortete er. »Wenn ihr in der Lage seid, allen Aranen zu helfen, dann helft.«

Im Planetenflugzeug stellten wir die Verbindung zum Geschwader her. Irina hatte den Schiffen pausenlos übermittelt, was wir sahen und was Oan übersetzte. Die Besatzungen der Sternenflugzeuge waren der Meinung, daß man den Aranen helfen müsse aber ohne Kampf auf seiten einer Sekte.

»Beachte, Eli, daß wir kaum Informationen über den Vater Akkumulator und die Mutter Speichern haben, die, nach allem zu urteilen, eine wichtige Rolle spielen«, sagte Oleg. »Unser Standpunkt: die morgigen Opfer befreien, die Selbstverbrennung nicht zulassen.«

»Ist das ein Befehl, Oleg?« fragte ich.

»Nein, ein Rat.«

Ich dachte nach – lange, Es gab einen offensichtlichen Widerspruch zwischen unseren Beschlüssen und unseren Handlungen. Eben hatten wir entschieden, uns nicht in die Zwistigkeiten zwischen Verwerfern und Beschleunigern einzumischen, sondern nur eine Mission zu erfüllen die Existenzbedingungen auf dem Planeten zu erleichtern. Aber wie konnten wir die Selbstverbrennung verhindern, ohne uns in einen Kampf mit den Beschleunigern einzulassen und ohne dadurch die Verwerfer zu unterstützen, die einen Überfall vorbereiteten? Betraten wir nicht einen fragwürdigen Weg, der schnurstracks in die Arme der einen Sekte führte? Die Befreiung der Selbstverbrenner würde die Beschleuniger zu unseren Feinden machen, sollten wir das riskieren?

»Eli, was ist?« rief Lussin in Gedanken, »Willst du die Unglücklichen etwa nicht retten?«

»Bedenken Sie folgendes, lieber Freund: Ob es sich nun um freie Selbstmörder handelt oder ob sie gewaltsam hingerichtet werden – sie sind in jedem Falle Opfer«, bemerkte Romero. »Und das ist ausschlaggebend.« Ich wandte mich an Oan: »Deine Anhänger haben die Absicht, morgen die Verdammten zu retten. Wird es ihnen gelingen?«

»Nein«, antwortete Oan. »Solche Aktionen haben wir schon oft unternommen. Nie hatten sie Erfolg.

Aber wir können nicht untätig zusehen, wenn man unsere Brüder hinrichtet. Der morgige Überfall ist ein Akt der Verzweiflung.«

Nach dieser Erklärung durften wir nicht zögern.

Dennoch fiel mir die Entscheidung schwer.

Mary sagte erstaunt: ;,Ich habe doch früher nie Feigheit an dir bemerkt, Eli!«

»Und Unentschlossenheit«, ergänzte Romero.

»Der Kampf war stets Ihr Element, Eli. Bei Gefahr blühten Sie geradezu auf, lieber Admiral.«

»Wir werden entsprechend der Situation handeln«, sagte ich, »Gleichgültigkeit angesichts fremden Unglücks erlauben wir uns nicht.«

Die Stimme Kamagins drang zu mir, der zugehört hatte. Der kleine Kosmonaut unterstützte nur eindeutige Beschlüsse.

»Unsere Sternenflugzeuge sind stets bereit, Ihnen zu Hilfe zu eilen. Wenn es der Oberbefehlshaber gestattet, nähere ich mich mit meiner ,Schlangenträger‘ dem Planeten.«

Oleg gestattete Kamagin, die »Schlangenträger« aus dem Geschwaderverband zu lösen.

»Freue dich«, sagte ich zu Lussin. »Alles geschieht nach deinen Wünschen.«

»Ich werde mich morgen freuen, wenn ich die Verurteilten eigenhändig vom Schafott hole!« entgegnete Lussin. Hätte er gewußt, was ihn am nächsten Tag erwartete…

Alle gingen in die Kajüten, um die Schutzanzüge abzulegen und sich auszuruhen. Oan phosphoreszierte matt auf dem Hügel; der heimatliche Planet war ihm zuträglicher als unser Flugzeug. Ich schlenderte zum Ozean und bewunderte seinen Konzertflügelglanz. Der Ozean wälzte sich ans Ufer, benagte es oh nah, ob fern, überall stürzten zerfressene Felsen zusammen. Ich wäre gern auf ihm spazierengegangen.

Die Analysatoren hatten festgestellt, daß sich die Dichte der Flüssigkeit der Dichte von Quecksilber näherte, selbst Eisen hätte nicht versinken können, ich in meinem leichten Schutzanzug schon gar nicht.

Aber sowohl Oan als auch die Geräte hatten vor der Aggressivität des flüssigen Mediums gewarnt, und ich wollte vor der morgigen Prüfung kein Risiko eingehen, zumal in Ufernähe die Silhouetten von Meerestieren flimmerten. Ich warf zwei Stücke Stahl. Das erste erreichte die dunkle Oberfläche und loderte, zergehend, auf, eine Flamme schoß empor, die Meeresräuber stürzten sich darauf und verschlangen sie im Handumdrehen. Das zweite Stück schnappte sich ein schimmernder Räuber im Fluge. Der Stahl leuchtete hell, als er in seinem Körper versank, erglühte zerschmelzend und löste sich auf. Dann wartete der phosphoreszierende Räuber auf ein neues Almosen, und seine Artgenossen hüpften wie von Sinnen umher, in der Hoffnung, auch ein Stück zu erhaschen.

Die Nacht der Dunklen Sonnen ging in den Tag der Staubigen Sonnen über.

Nie habe ich eine trostlosere Morgendämmerung gesehen. Der schwarze Nebel wurde gelb. Aus dem schwarzen Ozean kamen drei orangefarbene Kugeln gerollt und kletterten eilig empor. Auch in der Nacht hatte es sich schwer atmen lassen, mit Tagesanbruch wurde der Staub, der die Luft erfüllte, so stickig, daß es die Luftfilter des Schutzanzuges nicht leicht hatten.

Der Ozean glitt zurück und gab den verstümmelten Uferrand und einen Wall aus Sedimenten frei. Die Meerestiere, Kreaturen der Nacht, tauchten in die Tiefe.

Nachts wirkte Arania geheimnisvoll, man konnte ihr da alles mögliche andichten, sogar Schönheit. Im staubigen Tageslicht bot sie sich abstoßend häßlich dar.

Grazi kam gesprungen, »Ein öder Planet, nicht wahr, Eli?« sagte er. »Würde man ihn in den Perseus verlegen, brauchten selbst die Galakten Jahrtausende, um elementare Bequemlichkeiten auf ihm zu schaffen.«

»Die elementaren Bequemlichkeiten der Galakten.

Grazi, würden die kühnsten Träume der Aranen vom Paradies übertreffen.«

Nach Grazi kletterte Orlan aus dem Planetenflugzeug, dann Romero und schließlich Lussin. Mary und Irina mußten gerufen werden, sie machten sich fein in ihren Schutzanzügen, bemühten sich, die Schlangenhaare, oder genauer: die Armhaare in bestimmter Weise zu ordnen.

»Mary«, sagte ich. »Du hast mehr Weibliches als normal Menschliches an dir. Wozu diese Raffinessen?

Die erste Begegnung mit den Beschleunigern läßt eure Haare zu Berge stehen, und das Gedränge auf den Straßen, das sicherlich nicht zu vermeiden ist, verwandelt die elegante Frisur in einen Pfahlzaun kratzender und packender Arme.«

Mich belustigte, daß sie, in Ermangelung anderer Greifwerkzeuge, die Haare mit Hilfe der Haare zu ordnen versuchten.

Mary erwiderte fröhlich: »Hast du dir eigentlich mal überlegt, daß das Weibliche das normal Menschliche inmitten alles. Menschlichen ist?«

Die Automaten verriegelten die Eingänge und umgaben das Schiff mit einem schützenden Kraftzaun. In geschlossener Gruppe liefen wir durch den Wald zur Stadt.

Im Grunde genommen war keine Stadt vorhanden.

Es gab nur eine Kette von Hügeln mit Einstiegen zu Höhlen, in denen die Aranen hausten. Dort hatten sie auch Werkstätten und Räume für nächtliche Zusammenkünfte. Zwischen den Hügeln schlängelten sich festgestampfte Wege, die härter und glatter als vormals die irdischen Asphaltchausseen waren.

Aus den Einstiegen krochen unzählige Spinnenförmige und rannten hüpfend zu einem weiten Talkessel zwischen vier hohen Hügeln, dem hauptstädtischen Richtplatz Aranias. Wir schlössen uns dem Strom an.

Je näher wir dem Platz kamen, desto stärker wurden das Gedränge und die Erregung. Immer mehr Körper schwangen sich wild empor, immer mehr Armhaare wurden begeistert geschwenkt, immer heller flimmerten die Funken, die sich von den elektrisierten Köpfen lösten, immer lauter wurden der Lärm, das Gezeter, das Piepsen und das Knattern der Entladungen. Unseren Erkundungstrupp beachtete niemand. In den Schutzanzügen, die uns das Aussehen von Aranen verliehen, fielen wir nicht auf.

Das auf dem Platz errichtete Schafott hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit den Elektroofen der Menschen von einst.

»Gleich wird eine Gruppe von Verwirklichern des Endes erscheinen«, signalisierte Oan, nachdem wir ein Plätzchen in der Nähe des Schafotts gefunden hatten. »Sie werden von Hütern des Endes eskortiert, Beschleunigern, die stärker als die anderen mit Elektrizität aufgeladen sind. Die Beschleuniger haben alle Einstiege zum Vater Akkumulator unter Kontrolle, ihre Hüter sind wirkungsvoller als unsere Hüter ausgerüstet. Deshalb tragen wir bei Zusammenstößen nie den Sieg davon. Wer sich des Wohlwollens des Vaters Akkumulator erfreut, hat die Macht.«

Die verurteilten Verwirklicher des Endes ließen auf sich warten. Unsere Aufmerksamkeit fesselte ein Arane, der sich über die anderen erhoben hatte. Genau wie Oor bei der nächtlichen Zusammenkunft, dienten auch ihm Aranen als Postament, gleich vier an der Zahl. Drei stützten mit ihren kräftigen Armhaaren den auf dem Rücken liegenden vierten, und auf dessen ausgestreckten Beinen tänzelte der uns interessierende Arane.

»Uoch, der Oberste Beschleuniger des Endes, der große Verwirklichet, sagte Oan angewidert. »Wenn ihr diese von allen Beschleunigern angebetete Vogelscheuche vernichten würdet, wäre der Kampf leichter.«

Uoch funkelte von dem zweigeschossigen Postament: »Preist die Grausamen Götter! Verwirklichen wir das Ende!«

Millionenfach sprühte das Antwortgeschrei: »Verwirklichen wir es! Verwirklichen wir es! Ruhm den Grausamen Göttern!«

Aus dem oberen Einstieg des Hügels hinter dem Obersten Beschleuniger kam eine Gruppe Verwirklicher. Sie stiegen, je vier in einer Reihe, herab, von aufgeregt hüpfenden Hütern flankiert, Wolken von Funken sprühten in der staubigen Luft, der Kopf jedes Begleitpostens glich einem lodernden Feuer, soviel Entladungen brachen hervor. Die Menge jubelte, zuckte wie ein gigantischer Körper, der aus Tausenden von kleineren Körpern besteht.

»Verwirklichen! Verwirklichen!« wurde hysterisch geschrien.

Als die Kolonne den Platz erreicht hatte, schnellte aus den Einstiegen des Nachbarhügels eine Funkengarbe, und eine Abteilung Verwerfer stürzte sich au) den Konvoi. Der fanatische Jubel schlug in Kampfeswut um. Verbissen wehrten die Hüter die Angreifer ab, von der Menge unterstützt. In der Kolonne der Verwirklicher fehlte es ebenfalls an Einmütigkeit. Nur wenige suchten das Weite, die meisten widersetzten sich den Befreiern. Einer der Verdammten riß sich aus den biegsamen Armhaaren der Verwerfer los und jammerte: »Ich will das Ende! Die Verwirklichung!

Die Verwirklichung!«

Die Kräfte waren, wie Oan vorausgesagt hatte, ungleich. Wenn diesem und jenem Verdammten auch die Flucht gelang, so wurde dafür die Kolonne mit gefangenen Verwerfern reichlich aufgefüllt. An uns jagte ein Flüchtling vorbei, von Begleitposten verfolgt und entschlüpfte unter auffliegenden Körpern. Da er griffen die Verfolger einen anderen. Der funkelte verzweifelt: »Laßt mich! Ich bin nicht zur Verwirklichung bestimmt! Ich bin nicht bereit!« Niemand nahm Notiz von seinen Ausflüchten.

Oan sagte etwas zu mir. Ich verstand ihn nicht, das Schauspiel des allgemeinen Handgemenges hielt mich in Bann. Als ich zu mir kam und Beschlüsse fassen konnte, war es zu spät. Die geschlagenen Verwerfer flohen. Obwohl seitdem viel Zeit verstrichen ist schmerzt mich die Erinnerung an meine Begriffsstutzigkeit unvermindert.

Der Oberste Beschleuniger des Endes hüpfte wie von Sinnen auf seinem lebendigen zweigeschossigen Postament und heulte wehmütig: »Verwirklichen wir das Ende! Verwirklichen wir das Ende!«

Wieder antwortete ihm jauchzendes Gebrüll; Verwirklichen wir es! Verwirklichen wir es!«

»Beschleunigen wir das Ende! Beschleunigen wir das Ende!« kreischte Uoch.

»Beschleunigen wir es! Beschleunigen Wir es!« schrie die Menge.

»Preisen wir den Vater! Bitten wir die Mutter um Mitleid!«

»Preisen wir! Bitten wir um Mitleid!«

»Möge die Mutter nicht zürnen’«

»Möge sie nicht zürnen!«

Uochs Haare stellten sich auf und verflochten sich wie in einem Händedruck. Die Hüter packten einen Verdammten und schleuderten ihn in den Ofen.

Wir wissen jetzt, daß der Körper des Verwirklichers zwei Elektroden schloß. Über dem Schafott schoß die Flamme einer Entladung auf, weithin schallte schweres Krachen. Das Stöhnen des Opfers ging in dem Donner einer Explosion und dem verzückten Gebrüll der Menge unter. Heiße Asche regnete herab, fein wie Mehl, die Asche eines verbrannten Wesens!

»Das war doch ein Lebewesen, Eli! Das war doch ein Lebewesen!« stöhnte Lussin.

Zum zweiten Mal verflocht Uoch die Armhaare, und das zweite Opfer flog in den Ofen.

Da verlor Lussin die Nerven. »Eli, du machst uns zu Helfershelfern eines Verbrechens! Wenn du nicht einschreitest, tue ich es allein! Ich tu’s allein, ich rebelliere, Eli!«

Ich überlegte gerade so lange, daß die Henker keine Gelegenheit hatten, das dritte Opfer zu beseitigen.

Wir mußten den Ofen in die Luft jagen! Doch Oan kam meinem Befehl mit dem erschreckten Ausruf zuvor: »Vernichtet nicht das Schafott! Sonst gehen alle Aranen zugrunde!«

»Die Bewachung auseinanderjagen!« schrie ich, ohne zu fragen, warum man den Ofen nicht antasten dürfe, und stürzte auf den Obersten Beschleuniger des Endes zu.

Lussin war in seiner Wut sogleich zehn Sprünge vor mir. Er hieb auf das lebende Postament ein, und Uoch purzelte herunter. Lussin empfing ihn mit einer Ohrfeige, die so gewaltig war, daß sich der Große Verwirklicher mit grellem Piepsen erneut hochschwang. Ein gutes Dutzend Wachposten fiel über Lussin her. Hunderte von Blitzen bohrten sich in ihn, uns allen kam es so vor, als stehe er in Flammen. »Das Feld! Das Feld!« riefen Romero und ich.

Lussin, wie gelähmt durch die Wildheit des Überfalls, hörte uns und rief sein Feld.

Alles übrige spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich sitze in meinem Zimmer, und auf meinem Bildschirm gleiten die von den Stereokameras fixierten Bilder vorüber. Zum hundertsten Male betrachte ich sie, studiere sie eingehend, und jede Linie, jeder Lichtfleck bereitet mir unstillbaren Schmerz. Unsere Ingenieure verstanden zu unserem Unglück ihre Sache gut. Lussin drohte keine Gefahr, jetzt ist das klar.

Der Schutzanzug war zu stark für die Armhaare von Uochs Wache, und das herbeigerufene Schutzfeld wäre ein unüberwindlicher Schild gewesen. Ich begreife Lussin. Ich begreife mich, uns alle begreife ich. Wir griffen an, verteidigten uns aber nicht. Wir kannten nicht die physische Macht der Henker, wir sahen nur ihren Fanatismus und ihre Grausamkeit. Lussin konzentrierte das Feld, als kämpfte er wieder gegen Augenköpfige oder Unsichtbare oder als hätte ihn ein rauflustiger verrückter Engel überfallen. Romero oder ich, die wir ihm nachliefen, hätten ihn hindern können, die Kraftlinien in sich derart zu verdichten.

Wir taten es nicht. Und wir sahen, wie die Angreifer von Lussin geradezu explosionsartig hinweggefegt wurden. Nur einer behauptete sich wie durch ein Wunder, wahrscheinlich hatten sich seine biegsamen Armhaare derart mit dem Schutzanzug verhakt, daß man sie ihm allenfalls aus dem Kopf reißen, nicht aber von Lussin lösen könnte.

Lussin blieb sich auch in diesem schrecklichen Augenblick treu. Er hielt nicht inne, um kaltblütig um sich zu blicken, und er schwächte das Feld nicht langsam ab. Rings um ihn sanken die entsetzten Hüter zu Boden, im Tode funkelnd, mit gebrochenen Beinen, fehlenden Armhaaren, und er dachte an sie, nicht an sich. Deshalb schwächte er das Feld nicht allmählich ab, sondern entledigte sich seiner schlagartig, hackte es ab, damit es die Gegner nicht zerfetzte. Und sofort wurde er selbst ein Spielball in dem Chaos der wütenden Elemente, eine Flaumfeder inmitten unkontrollierbarer Zufälligkeiten!

Alles geschah in Bruchteilen von Sekunden.

Der Wachposten, der sich in Lussin verkrallt hatte, spürte, daß das Feld verschwunden war, und begann verzweifelt zu zerren. Doch er löste die verhedderten Armhaare nicht, sondern ließ sich fallen und zog Lussin mit sich. Sie hatten am Schafott gestanden und stürzten in seinen Rachen, genau in den Brennpunkt des Ofens, auf den die Mündungen der Elektroden unheilvoll zielten. Wieder zuckte ein Blitz, wieder schoß eine Flamme auf und erlosch sogleich, von dem wiedergekehrten Schutzfeld erstickt. Romero und ich, aber auch der Demiurg und der Galakt, die uns folgten, schleuderten unsere Felder, um Lussin zu helfen, doch es war schon zu spät. Lussin war nicht mehr. Es war eingetreten, wovor Oan gewarnt hatte. Das teuflische elektrische Schafott, der gräßliche Ofen, der die Verdammten unersättlich verschlungen hatte, war zersprungen.

Und in den Trümmern lag der von der ungeheuerlichen Entladung zerbrochene, halbverbrannte Schutzanzug mit dem toten Körper, Lussins entstelltem Körper.

»Der Planet ist verloren!« jammerte Oan. Meine Beine knickten ein. Grazi stützte mich. Mary schrie auf. Sie glaubte, ich sei wie Lussin ums Leben gekommen. Ich stöhnte vor Kummer und Wut.

Ich war bereit, alle auf dem Platz umherjagenden Aranen bis auf den letzten zu vernichten. Und bis heute begreife ich nicht, wo ich die Kraft hernahm, meinem Zorn zu einer so furchtbaren Tat nicht freien Lauf zu lassen.

»Die Grausamen Götter! Die Grausamen Götter sind herabgestiegen!« kreischten die flüchtenden Spinnen.

Ich warf den Schutzanzug ab. Es war mir unmöglich, noch länger die Gestalt eines Spinnenförmigen zu bewahren. Wie schneidender Schmerz hallte das verzweifelte Klang- und Lichtgeheul in mir: »Die Grausamen Götter sind herabgestiegen!«

Mary und Irina entledigten sich ebenfalls der widerwärtigen Kleidung. Sie bemühten sich um Lussin, Romero und Grazi halfen ihnen. Mir zitterten die Hände, die Beine, und ich ließ mich kraftlos niedersinken. Ich wollte sagen, man solle für Lussin ein Sanitärfeld herbeirufen, aber die Stimme gehorchte mir nicht, tonlos bewegte ich die Lippen.

Orlan kam zu mir, wie Grazi hatte er den Tarnanzug nicht abgelegt. »Ein entsetzliches Unglück, Eli, ich fühle zutiefst mit dir. Aber ein noch größeres Unglück kann geschehen. Bitte, höre auf Oan!«

Erst da wurde mir bewußt, daß Oan etwas sagte. »Was willst du?« fragte ich. »Was brauchst du?«

»Die Mutter Blitzspeicherin tobt«, drang wie aus großer Ferne seine Stimme zu mir. »Geht weg, geht weg, alle werden umkommen, und ihr mit uns, wenn ihr nicht geht!«

Seine Haare bäumten sich, wiesen, sich biegend, wie Dutzende von elastischen Armen nach Osten, von wo die Nacht heraufzog. Die Drei Staubigen Sonnen neigten sich, gestern um diese Zeit war tiefe Dunkelheit von jener Seite des Horizonts gekommen, von den finsteren Sternen, von den verfluchten Sternen dieser verfluchten kleinen Welt. Jetzt rückte von Osten der Morgen heran, nicht die Nacht. Feurige Wolken jagten dahin, Fetzen einer zuckenden Flamme, Gluthitze strömte von Osten. Mit jeder Faser, ohne Geräte, spürte ich die Verdichtung der elektrischen Entladungen, ich war gleichsam ein lebender Kondensator geworden, bis zum äußersten aufgeladen.

Ein elektrischer Sturm solcher Stärke kündigte sich an, wie ich noch nie einen erlebt hatte.

»Alle in ihre Schutzfelder!« Ich rief Kamagin. Es war ein großes Glück, daß sich die »Schlangenträger«, vom Geschwader getrennt, in der Nähe des Planeten befand. »Haben Sie gesehen, Eduard?« fragte ich. »Haben Sie gesehen?«

»Entsetzlich, Eli!« hörte ich Kamagins bekümmerten Ausruf. »Wir haben alles gesehen, Admiral. Leider konnten wir nicht helfen. Was ist zu tun?«

»Eduard, über dem Planeten wird in Kürze ein elektrischer Orkan toben. Ich vermute, daß die unglücklichen elektrischen Spinnen von der rasenden Mutter Blitzspeicherin, wie sie ihre Herrscherin nennen, in Stücke gerissen werden. Die Höhlen werden ihnen keinen Schutz bieten. Die Wut der Mutter hängt irgendwie mit der Zerstörung des elektrischen Schafotts zusammen. Gebt es ihr, Eduard, gebt es ihr gründlich! Zeigt allen bösen Müttern und Vätern, allen Grausamen Göttern und Teufeln, daß es noch die menschliche Macht auf der Welt gibt!«

»Ich verbürge mich dafür, daß die grimmige Mutter einen Denkzettel verpaßt bekommt!« versicherte Kamagin. »Heute wird sie nicht ihre Söhne ausrotten, sondern unsere Vorräte mit Aktivstoff auffüllen. Ihr Wüten soll einen Nutzeffekt haben!«

Der Sturm entlud sich kurz nach meinem Gespräch mit Kamagin. Unsere irdischen Gewitter sind Wolken und Regengüsse und Blitze. Das Gewitter auf Arania war ein Platzregen aus Blitzen, die die Erde peitschten, waren Geiser aus Blitzen, die aus der Erde aufschössen, Pfahlzäune von Blitzen auf den Hügeln, Dschungel von Blitzen in den Tälern. Von Regen, Donnergrollen und feuchter Kühle war keine Spur.

Nur Feuer und unaufhörliches Tosen, das nicht nur die Ohren, sondern auch das Herz peinigte. Hätten wir uns nicht durch die Schutzfelder abgesichert, wären wir gleich im ersten Augenblick zu Asche geworden. Romero beschirmte mit seinem Schutzfeld fürsorglich auch Oan, aber der kannte die Stärke des Feldes nicht und zitterte in Todesfurcht.

Und dann änderte sich alles wie durch Zauberhand.

Kamagin brauchte vier Minuten, um die Reservoire auf den Gewitterempfang zu stimmen. Er verspätete sich genau um so viel, daß wir Gelegenheit hatten, die Raserei der außer Rand und Band geratenen feuerträchtigen Mutter kennenzulernen, ohne daß ihr gestattet war, dem Planeten ernsthaften Schaden zuzufügen. Die mächtigen Saugpumpen des Sternenflugzeugs arbeiteten so exakt wie auf dem Stützpunkt bei den Atomreaktoren, wo sie Aktivstoff tankten. Die Blitze, die eben die Erde überschüttet hatten, jagten aufwärts, das Gewitter schlug den Himmel. Und es wurde still auf dem Planeten, so wunderbar, so erstaunlich still, als lausche er. Über uns ballten sich die feurigen Wolken, und ein gigantischer Flammenstrom aus Milliarden von Blitzen ergoß sich sternenwärts und verschwand in den Schlünden, die das Schiff bereithielt.

Kaum zwanzig Minuten später lichteten sich die Wolken; sie zerfielen zu Fetzen, zerschmolzen, erloschen, und keine Blitze zuckten mehr. Kamagin stoppte die Pumpen nicht. Auch die Wolkenreste bargen elektrische Ladungen, und Eduard stopfte alles in die Reservoire, was in der Luft erschien, alles eignete sich zum Auffüllen der Aktivstoffreserven.

»Nun werde ich mal dem Planeten auf den Pelz rücken«, sagte Kamagin, als er den Wolken den Garaus gemacht hatte. »Er ist mit Elektrizität derart übersättigt, daß es nicht schadet, wenn man seinen Überschuß nutzt. Und für die armen Aranen wird das eine Erleichterung sein. Ihre Erregbarkeit und ihr Fanatismus, denke ich, resultieren in gewissem Grade aus der Überlastung ihrer Körper mit Elektrizität.«

Ich bat Kamagin, des Guten nicht zuviel zu tun.

Die aus der Erde springenden Blitze richteten nicht weniger Schaden an als die, die in sie einschlugen.

Eduard säuberte den Planeten mit äußerster Vorsicht.

Ich vermag diese Operation nicht anders als elegant zu nennen. Ohne Blitze aus der Erde ging es nicht ab, aber es waren ihrer so wenige, daß man sie gar nicht zu erwähnen braucht. Der Planet gab die aufgespeicherten Ladungen gleichmäßig ab, ohne Krachen und Feuer, und lieferte, wie sich später herausstellte, so viel Elektrizität, daß die Vorräte des Sternenflugzeugs gründlich aufgefüllt wurden.

»Bist du zufrieden, Oan?« fragte ich finster, als Kamagin die Sauggeräte des Schiffes stoppte.

Der Arane rief begeistert: »Ihr habt mit der schrecklichen Mutter abgerechnet! Ach, wie ihr mit der schrecklichen Mutter abgerechnet habt! Wie ihr mit der schrecklichen Mutter abgerechnet habt!«

6

Lussin wurde in den Konservierungsraum gebracht, die Gruft, in der die Leichname unverweslich erhalten bleiben. Ich sitze jetzt im Konservierungsraum. Nicht allein Lussin ruht hier. Unser armer Freund eröffnete die lange Reihe der Beisetzungen, die vielleicht wir beenden werden, die wenigen, die noch am Leben sind. Lussin in dem durchsichtigen Sarkophag erweckt den Anschein, als lebe er, es war gelungen, sein Äußeres wiederherzustellen. Aber nicht auf Lussin blicke ich, sondern auf sein Gegenüber. Und ich spreche laut mit jenem anderen; dem toten Freund habe ich nichts, dem toten Feind viel zu sagen.

Ich kehre zu den Ereignissen auf Arania zurück.

Als wir das Sternenflugzeug betraten, stieß Trub die Menschen beiseite und stürzte zu dem Toten. Der alte Engel schlug sich verzweifelt mit den fahlen Flügeln, sein grauer Backenbart sträubte sich.

»Wäre ich doch mit euch gegangen! Ich hätte meinen Freund beschützt, gerettet! Nie werde ich mir verzeihen, daß ich nicht mitgegangen bin!«

Gig polterte traurig mit den Knochen und sagte vorwurfsvoll: »Admiral, ohne die Unsichtbaren sind die Menschen nicht vollwertig. Ich versichere dir, wenn ihr nicht darauf bestanden hättet, diese albernen Schutzanzüge anzuziehen, wäre Lussin von Trub und mir zuverlässiger als durch eure Kraftfelder beschirmt worden.«

Ich dachte bekümmert: Zu spät. Und wovor wollten sie Lussin denn bewahren? Vor einem realen lebendigen Feind oder vor einer Kette entsetzlicher seelenloser Zufälligkeiten? Sie hätten diese einfache Frage nicht beantworten können. Ich hätte es ebenfalls nicht vermocht. Die Antwort mußte gefunden werden.

Bei Lussins Beisetzung fehlte allein Vagabund. Der Drachen litt schwer unter dem Verlust des Freundes.

Er war erkrankt. Wir fürchteten, daß er nicht einmal mehr würde kriechen können. Er genas, schlecht und recht kroch er, aber die Fähigkeit zu fliegen hatte er endgültig verloren.

In unserer Abwesenheit hatte im Geschwader eine dringliche Konferenz stattgefunden. Gig und Ellon forderten Rache für Lussin. An wem sollten sie Rache üben? An den Aranen?

Inwiefern waren sie schuldig?

Eine Einmischung in die Streitigkeiten zwischen den Verwerfern und den Beschleunigern wurde ebenfalls abgelehnt. Die Schiffsmaschine hatte errechnet, daß die Wurzel des Übels in der ungeheuren Verstaubtheit des lokalen Raums zu suchen war. Das Planetensystem des Dreifachsterns mußte vom Staub befreit werden, das würde die beste Hilfe für die Aranen sein. Ein bißchen würde sich die Bahn der Arania ändern, aber die Entfernung von den Drei Staubigen Sonnen würde dadurch kompensiert, daß das Wörtchen »staubige« in ihrem Namen entfiele. Man mußte nur vorher erkunden, was sich hinter der Bezeichnung Vater Akkumulator und Mutter Blitzspeicherin verbarg. Bevor dieses Geheimnis nicht enträtselt war, würde es schwierig sein, irgend etwas zu planen.

Wir begannen uns auf einen nochmaligen Flug zum Planeten vorzubereiten. Oan erhob plötzlich Einwände gegen einen Besuch beim Vater Akkumulator. Ich fragte ihn, was er gegen eine neue Expedition habe.

Statt einer Erklärung flößte er meinem Gehirn die Empfindung von Angst ein. Aber da das seine Angst war und nicht meine, und von instinktiven Stimmungen lasse ich mich selten leiten-, forschte ich weiter nach den Ursachen für seine Furcht.

»Die Ruhe des Vaters ist heilig«, teilte Oan mit.

»Folglich ist eurer Vater Akkumulator ein Despot, der jeden bestraft, der ihn stört?«

»Er fühlt sich schlecht, wenn man ihn behelligt.«

»Versagt er dann? Hört er auf zu funktionieren? Wer bewacht seine Ruhe? Eure Grausamen Götter?«

»Die Grausamen Götter mischen sich in die Angelegenheiten des Vaters und der Mutter nicht ein. Den Vater beschützt die Garde der Hüter, jeder wird von Uoch selbst ausgewählt.«

»Mit den Hütern werden wir fertig, selbst mit den von Uoch ausgewählten. Und dem Vater werden wir nicht zu nahe treten, wenn er es verdient, daß man ihm nicht zu nahe tritt. Nun erkläre mir, was die Mutter ist, die Speicherin des Blitzes!«

»Die schreckliche Mutter bewacht die Ruhe des Vaters.« Und das war alles, was wir von Oan erfuhren.

Ich war überzeugt, daß auch die anderen Aranen über den Vater und die Mutter nicht mehr wußten.

Um so dringlicher war erneute Erkundung.

Wir gingen an der alten Stelle nieder, um die Mittagszeit. Die Aranen, denen wir begegneten, schenkten uns wie beim erstenmal keine Beachtung. Sie sahen gesund aus, der elektrische Sturm hatte ihnen nicht geschadet. Oan teilte mit, daß sich Verwerfer und Beschleuniger gleichermaßen wunderten. Einen so heftigen Orkan, der zudem so wenig Unheil stiftete, hatte es noch nie gegeben. Auf dem Hauptplatz werkelte eine Brigade Spinnenförmiger am Schafott, um es wiederherzustellen. Wir störten sie nicht. Es ging nicht um das Schafott.

Oan erkletterte einen Hügel und blieb vor einem gewöhnlichen Einstieg stehen.

»Hier ist es. Ich will nicht als erster hineingehen.«

»Geh in der Mitte«, erlaubte ich.

Schon nach wenigen Metern trafen wir auf Hüter.

Es waren unerschrockene große Spinnen, bereit, sich selbst zu opfern. Dennoch rissen sie so geschwind aus, daß keiner von uns sie hätte einholen können. Und das lag nicht nur daran, daß sie einen Schlag der Kraftfelder nicht aushielten. Sie wußten einfach nicht, was ein Feld war, und die unsichtbare Kraft, die sie gegen die Wände oder an die Decke schleuderte, entsetzte sie derart, daß keiner auch nur an Widerstand dachte. Sie flüchteten und schrien, was uns nicht neu war: »Die Grausamen Götter!

Die Grausamen Götter sind herabgestiegen!«

Die innere Wache traute dem panischen Ruf der Vorausabteilung offensichtlich nicht. In der Höhle, durch die der Weg führte, empfing uns ein ganzes Heer. Die Hüter feuerten sich durch teuflisches Funkeln und kriegerisches Piepsen an und zogen gegen uns zu Felde. Beim ersten Scharmützel hatten wir uns auf Kraftohrfeigen beschränkt, hier mußten wir die Felder konzentrieren. Und nach dem Kampf lagen ein paar unvernünftige Pechvögel am Boden. Vier Gänge mündeten in die Höhle. Aus dem Gang hinter uns waren wir gekommen, in die beiden Seitengänge hatten sich Hals über Kopf die geschlagenen Wachleute gestürzt. In den vierten war niemand geschlüpft. Mit einem meiner zahlreichen Arme wies ich auf ihn.

»Dort, Oan?«

»Ja. Bis zu den Gemächern des Vaters wird uns keiner mehr begegnen. Es ist verboten, sie zu betreten.«

Der für die Aranen verbotene Weg war lang, wir durchquerten noch fünf oder sechs leere Höhlen, bevor wir die größte erreichten. Selbst im Scheinwerferlicht waren weder die Decke noch die Wände auf der anderen Seite zu erkennen. Den gesamten Raum nahm ein See zäher Flüssigkeit ein, von einer Kruste bedeckt. Die Oberfläche brodelte, blähte sich; wo die Kruste platzte, züngelte eine Flamme hervor. Über dem See wölkte sich grünlicher selbstleuchtender Dampf, der ihn matt beleuchtete. Mitunter zuckten Blitze aus der Flüssigkeit und erloschen an der unsichtbaren Decke, von wo, gleichsam als Antwort, ebensolche Blitze niederfuhren.

»Der Vater Akkumulator tötet jeden, der ihm zu nahe tritt«, wisperte Oan furchtsam.

»Ein eigenartiger Mechanismus zur Erzeugung von Elektroenergie«, sagte Romero.

»Und von großer Leistungsfähigkeit«, ergänzte Orlan und schaute neugierig um sich. »Eine Verbindung von mächtigen Generatoren mit Höchstleistungskondensatoren. Eine sehr interessante Maschine.«

Grazi schüttelte zweifelnd den Pfahlzaun seiner Arme. »Das ist kein Mechanismus, sondern ein Lebewesen. Es erinnert an unsere biologischen Geschütze, bei denen es sich aber um eine einfache Anhäufung von Bakterien handelt. Ich bin überzeugt, daß Vater Akkumulator ein denkendes Geschöpf ist.«

Ich befahl, die Schutzfelder zu verstärken. Irina nahm eine Probe der Flüssigkeit zur Analyse. Ich hatte plötzlich das Empfinden, als würden wir beobachtet. Oan meinte, Vater Akkumulator verfolge jede unserer Bewegungen, verstehe jedes unserer Worte, jeden unserer Gedanken. Vielleicht übertrieb er, aber auch ich bildete mir ein, als wäre der See, obwohl er keine Augen, keine Beine und keine Arme besaß, dennoch lebendig und als verberge er sich vor uns, als beherrsche ihn nicht Wut, wie Oan dachte, sondern Angst. Wortlos schien er zu flehen, ihm nichts Böses anzutun.

»Der Vater vernichtet uns nicht!« rief Oan erstaunt.

»Das soll er nur wagen!« murmelte ich. »Versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen«, riet ich Irina. Und Oan fragte ich: »Wie alt ist dieses Tier?«

Oan wußte nur, daß es den See schon vor dem Erscheinen der Aranen gegeben hatte. Der Vater hatte das Leben erschaffen, als er des Alleinseins überdrüssig war. Zuerst schuf er die Mutter, und dann besiedelten sie beide den Planeten mit Gewächsen und Aranen. Der Ozean mit seinen Räubern war ebenfalls eine Schöpfung des Vaters. »Der Ozean ist sicherlich Abfall der Elektroenergieerzeugung«, sagte Romero in Abwandlung des von Oan Gesagten. »Denn soviel ich verstehe, ist der Vater ein lebendiges Elektrizitätswerk, das die elektrischen Einwohner des Planeten versorgt.«

»Es gilt also zu entscheiden, ob wir den Vater vernichten, da seine Tätigkeit den Aranen Qualen bereitet«, sagte ich. »In dem Falle müßten wir den Bewohnern ein automatisches Elektrizitätswerk schenken, damit die Versorgung ihrer Organismen mit Elektrizität nicht stockt. Oder ob wir ihn unangetastet lassen.

Dann erhebt sich die Frage, wie der mit Elektrizität übersättigte Vater ohne Hinzuziehung der stürmischen Mutter entladen werden kann.«

»Vernichtung bedeutet Mord«, rief der Galakt.

»Was die tollköpfige Mutter betrifft«, sagte Romero, »so läuft ihre Funktion offensichtlich auf die Liquidierung der Elektrizitätsüberschüsse hinaus. Aber diese unkomplizierte technische Aufgabe löst sie äußerst brutal. Ist die Mutter Blitzspeicherin je gesehen worden, Oan?«

»Man kann sie nicht sehen. Sie existiert nur in den Stürmen, die sie hervorruft.«

»Anders ausgedrückt: Sie ist die Entladung der Elektrizitätsüberschüsse«, sagte ich. »Schön, Oan, auf dem Planeten wird niemand mehr etwas von der furchtgebietenden Mutter hören. Wir beschließen, sie abzuschaffen. Das wiederhergestellte Schafott wird ihren Dienst übernehmen.«

Bevor wir gingen, winkte ich dem See zu. Mir war, als sei er gestiegen und leuchte anders. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß Vater Akkumulator uns für die gute Behandlung dankte. Beweisen ließ sich das nicht.

Irina war es nicht gelungen, Verbindung mit dem See aufzunehmen. Vater Akkumulator hatte weder auf Wellen noch auf Teilchen, noch auf Kraftfelder reagiert.

Als wir im Freien waren, bestellte ich Mechaniker von der »Steinbock«. Die Umrüstung des Schafotts dauerte nicht lange. Die erschreckten Aranen hatten sich in ihre Höhlen verkrochen und störten nicht beim Einbau der speziellen Entladungsvorrichtung. Von nun an entlud sich der Elektrizitätsüberschuß automatisch, sobald das Potential den Grenzwert erreichte. Es war erstaunlich, wie genau die Fanatiker die physikalische Ursache für den »Unwillen des Vaters« erkannt und welch grausame Methode sie gefunden hatten, damit das elektrische Herz des Planeten normal funktionierte. Mit den öffentlichen Hinrichtungen ihrer Brüder wendeten sie das Unheil ab. Sie hatten natürlich bemerkt, daß nach einer »Verwirklichung« die elektrischen Stürme ausblieben. Die grimmige Mutter »zürnte« dann lange nicht. Aber welch bestialische Methode, eine einfache technische Aufgabe zu lösen!

»Admiral, ich habe mir ausgedacht, wie man unseren Entlader vor Übergriffen der Spinnenförmigen schützen kann«, erklärte zu meiner Freude Ellon, der die Montage leitete. »Bei jeder Entladung soll sich eine Feuersäule erheben. Die Zwölfbeinigen werden sich nicht nahe heranwagen!«

»Sie werden den Entlader als Gottheit verehren!« entgegnete ich traurig. »Ellon, wir bereiten den Boden für eine neue Religion. Und es wird noch manches Jahrhundert verstreichen, bevor ein genialer Arane begreift, daß er nicht die Opferstätte einer Gottheit vor sich hat, kein Orakel, das einen höheren Willen verkündet, sondern einen simplen Mechanismus für eine simple Operation. Unglaublich, daß die Vorfahren der Aranen Sternenflugzeuge hatten!«

Auf dem Sockel des zu einem Denkmal für Lussin gewordenen Entladers war eingekerbt: »Lussin, Mensch, Astronaut aus fernen Sternbildern. Er ließ sein Leben bei der Rettung schuldlos zum Tode verurteilter Bewohner dieses Planeten.« Dann folgte eine Tabelle kosmischer Chiffres. Vielleicht sind künftige Aranengenerationen imstande, die Inschrift zu lesen.

Ich bat Ellon, den Entlader zusätzlich mit einem Kraftzaun zu umgeben. Jeder Arane, der versuchte, zum ehemaligen Schafott vorzudringen, würde auf eine unüberwindliche Wand stoßen, die obendrein noch Schläge versetzte.

Beim Untergang der Drei Staubigen Sonnen verkündete ein dumpfer Stoß, von dem die Hügel erzitterten, daß die Befreiung von der aufgespeicherten Energie künftig ohne fanatische Hinrichtungen und verheerende Stürme vonstatten gehen würde. Eine Feuersäule, höher als die Hügel am Platz, wirbelte auf, es fehlte nur, daß sie sich in der Höhe als Pilz entfaltete.

Oan trat zu mir. »Ihr reist ab, Eli? Ihr seid meine Retter. Unsere Wohltäter. Es wird schlimm für mich sein ohne euch.«

Schweigend blickte ich ihn an. Er war mir ein Rätsel wie das ganze Volk der Aranen. Ich mußte immer daran denken, daß die Vorfahren dieser unwissenden, abergläubischen, fanatischen Wesen einst kosmische Schiffe bauten. Die oberflächliche Sentenz, das Schicksal spiele eben so, mal sei das Niveau hoch gewesen, mal niedrig, Vervollkommnung hatte mit Degradation gewechselt, konnte kein Trost sein. Eine Degradation im üblichen Sinne lag nicht vor. Oans Existenz widerlegte sie. Er war ein typischer Arane und doch jedem von uns in vieler Hinsicht überlegen!

Hatten wir ihn nicht im Schmelztiegel des kollabierenden Sterns gesehen, in dessen Nähe sich unsere Schiffe nicht wagen? Hatte er unsere Gedanken nicht unfaßbar mühelos gelesen? War unsere Sprachenvielfalt, die für uns ohne Dechiffriergeräte unüberwindlich ist, eine Schranke für ihn? Und da war noch manches andere, das ihn über uns erhob!

Oan beugte die Beine, die Armhaare lagen wie gekämmt, die unteren Augen blickten ergeben und dankbar, das obere, scharfe, hatte sich getrübt, das frühere erschreckende Feuer fehlte darin, es schien in eine eigene, besondere, geheimnisvolle Tiefe versunken…

»Oan«, sagte ich. »Du verstehst Sternenflugzeuge zu lenken. Du weißt über die Krümmung der Zeit mehr als wir. Doch deine Aranenbrüder sind Fanatiker, keine Denker. Woher stammen deine Kenntnisse? Warum bist du anders als deine Kameraden?«

Er antwortete gewinnend aufrichtig. »O nein, wir sind viele, die wir die Kenntnisse von einst in der gegenwärtigen Unwissenheit bewahren. Bliebet ihr länger auf dem Planeten, würdet ihr uns kennenlernen.«

Länger bleiben konnten wir nicht.

»Nehmt mich mit«, bat er. »Ich weiß eine Menge über die Paradoxe der Zeit. Unsere Vorfahren studierten ihre Wirbel und Wendungen in den Sternhaufen. Wir vermochten diese Kenntnisse nicht zu nutzen, hüten sie aber wie ein Heiligtum. Euch werden sie zustatten kommen.«

»Und deine Freunde, Oan? Können sie dich entbehren?«

»Dies ist zugleich eine Bitte meiner Freunde. Sie haben mir geraten, mich euch anzuschließen.«

Ich überlegte nicht lange. »Steig ins Planetenflugzeug, Oan. Du sollst auf der ,Steinbock‘ mit mir sein.«

7

Anfangs schien alles leicht. Wir konnten Planeten vernichten, wenn es notwendig war. Den Aranen ein Stückchen sauberen Himmels zu schenken war einfacher. Jedes unserer Sternenflugzeuge war geeignet, die Rolle eines kosmischen Reinigers zu spielen. Wir hätten auch das ganze Geschwader zur Beseitigung des Staubs im Sternhaufen der Untergehenden Welten einsetzen können. Gerade dies forderte Kamagin, der sich mit Kleinigkeiten nicht zufriedengibt. Er fand keine Unterstützung. Wir strebten bescheidenere Resultate an. Es war beschlossen, den Raum rings um das Dreifachgestirn zu reinigen und weiterzufliegen.

Wir hatten nicht vor, uns mit eigenen Augen die staubfreien Weiten am Tageshimmel der Arania anzusehen. »Wir betrauen eins der Fracht-Sternenflugzeuge mit der automatischen Säuberung und hissen die Segel«, sagte Oleg. »Wenn wir auf dem Rückweg durch diesen Haufen kommen, nehmen wir den galaktischen Frachter im Geschwader wieder auf.«

Ich bin auch jetzt der Meinung, daß der Plan gut war. Und wenn er nicht gelang, dann nicht durch unsere Schuld.

Der kosmische Reiniger hieß »Rammbock«. Schon der imponierende Name flößte die Gewißheit ein, daß er seine Aufgabe schaffen würde. Kamagin und Ellon überprüften die Anlagen, die Automaten arbeiteten einwandfrei. Die »Rammbock« besaß eine leistungsstarke, präzise, beinahe momentan wirkende Schiffsmaschine. Mit ihr waren alle theoretisch möglichen Varianten von Störungen und Hemmnissen durchgespielt worden, und das automatische Gehirn hatte sie mühelos gemeistert. Ich betone: die möglichen Varianten. Leider kam es niemandem in den Sinn, die theoretisch unmöglichen zu prüfen, und gerade durch solch eine fiel es aus. Keiner von uns ging so weit, logische Ungereimtheiten zu suchen. Es gibt unermeßlich mehr Unmöglichkeiten als real Ausführbares.

Der Unsinn ist ausgedehnter als das Vernünftige.

Real läuft man mit den Beinen auf der Erde. Aber unter den unmöglichen Methoden findet sich das Gehen auf dem Kopf, auf den Händen, auf den Schultern, übers Wasser, durch die Luft, im Vakuum und noch weiß der Teufel für welche. Die Aufzählung von Unmöglichkeiten ist sinnloser als das Wahrsagen aus Kaffeegrund. Mit solchen Albernheiten konnten wir uns nicht beschäftigen. Hinterher sind wir alle immer klüger.

Allerdings waren wir vernünftig genug, Überraschungen nicht auszuschließen. Zuviel Ungewöhnliches war uns in den Untergehenden Welten begegnet, als daß wir hoffen durften, die Operation werde absolut glatt verlaufen. Und wir rechneten mit unbekannten, mächtigen Kräften. Einstweilen behelligten sie uns nicht, aber wir hatten keine Garantie, daß es auch weiterhin so sein würde. Unser Fehler rührte allein aus der Zuversicht her, daß jeglicher Widerstand auf Naturgesetzen beruht, das heißt im Rahmen der Logik liegen würde. Der Widerstand, auf den wir stießen, beruhte tatsächlich auf Naturgesetzen, bewegte sich jedoch außerhalb unserer Logik. Wir betrachteten uns als Vernunft der Natur. Aber die Natur reichte über das, was unsere Vernunft erfaßt hatte, weit hinaus. Unsere Vernunft diente unseren kleinen Bedürfnissen, bestimmte unsere Möglichkeiten, vermochte allerdings nicht, sämtlichen Bedürfnissen der Natur zu dienen und alle ihre Möglichkeiten vorauszuahnen.

Ich bin abgeschweift, damit klarer werde, was geschah, als sich die »Rammbock«, auf einer enger werdenden Spirale kreisend, den Drei Staubigen Sonnen näherte.

Alles geschah programmgemäß. Es gab keinen Fehler, nicht einmal die geringste Ungenauigkeit! Die »Rammbock« wurde zu einem Trabanten des Dreifachsterns, zu seinem nächsten und winzigsten Planeten. Und dann setzte die Schiffsmaschine die Stoffannihilatoren in Gang. Das war selbstverständlich kein spitzer Strahl, der einen Gegner durchbohrte, die Annihilatoren arbeiteten »in der Produktionsvariante«, wie Romero sich ausdrückte. Die »Rammbock« beschrieb Ellipsen um die Drei Staubigen Sonnen, und hinter ihr breitete sich eine Schleppe neugeschaffenen Raums, der so sauber war, daß die rötlichen Sonnen nun silbrigblau strahlten, wie es der Wirklichkeit entsprach. Die »Rammbock« vollführte Kehre um Kehre um das dreiäugig lohende Zentrum, sich allmählich von ihm entfernend, und zwischen ihr und den Sonnen erglänzten die Weiten. Ein paar Dutzend irdische Jahre solchen Kreisens des Sternenflugzeugs, und die jubelnden Aranen würden, wenn auch nicht die hellen nächtlichen Sterne, die blieben nach wie vor trübe rot-, so doch die leuchtenden Tagesgestirne sehen, die Leben spendeten, nicht vernichteten. Wenigstens ein Winkel in der Ansammlung der Untergehenden Welten würde es verdienen, »wiederbelebte Welt« genannt zu werden!

Ich begab mich zum Drachen hinunter. Auf seiner Tatze saß Romero, zu Füßen Romeros lag Mizar.

Der kluge Hund hatte Lussins Tod noch nicht verwunden. Er mied uns. Wahrscheinlich meinte er, wir hätten nicht zulassen dürfen, daß sein Freund und Lehrer ums Leben kam. Doch weder durch Knurren noch durch einen vagen Gedanken an der Grenze der Möglichkeiten des Dechiffriergeräts hätte er es sich erlaubt, uns einen Vorwurf zu machen. Aber er gesellte sich jetzt nur noch zu dem Drachen. Der war nicht auf Arania gewesen und konnte die Katastrophe nicht mit verschuldet haben.

»Alles geht gut, Vagabund«, sagte ich.

»Zu gut, um gut zu sein«, erwiderte der Drachen.

»Mir ist das unverständlich, nicht gut, weil es zu gut ist. Verstehst du das, Mizar?« Ich streichelte den Hund. »Zwar hat dein Lehrer den Kurs Integralrechnung mit dir nun nicht beendet, aber er versicherte stets, daß du mit der Logik besser zupacken könntest als mit den Zähnen und daß du außerdem Talent zu einem echten Realisten hättest. Wir Menschen haben Angst vor Phantomen, du ignorierst sie verächtlich, denn sie gleichen nur den Lebenden, ohne die Wärme und den Geruch eines lebenden Körpers zu haben, nicht wahr? Widerlege den Drachen, Mizar!

Vagabund ist dem Skeptizismus verfallen.«

»Alle meine Gedanken gelten Lussin. Nach eurer Art vermag ich nicht mehr zu urteilen«, knurrte Mizar traurig.

»Lieber Admiral, grundlos greifen Sie unseren verehrten Freund Vagabund an. Seine Argumentation verdient beachtet zu werden. Unser scharfsinniger Freund denkt sich in die Grausamen Götter hinein, die es vielleicht gar nicht gibt, und erwägt, wie er an ihrer Stelle handeln würde, obwohl sie, ich wiederhole es, möglicherweise gar nicht handeln. Und es erweist sich, daß ihre Inaktivität in diesem konkreten Falle stärkste Aktivität ist. Er würde das säubernde Sternenflugzeug auf keinen Fall sofort angreifen, sondern es sich zunächst einmal genau ansehen und klären, welche Ziele und welche physischen Möglichkeiten es hat.«

Ich entgegnete: »Sie urteilen, als wären die Grausamen Götter eine Realität. Aber das muß erst bewiesen werden. Der Glaube der Aranen bezeugt nicht viel.

Sie glaubten an die Existenz der Mutter Blitzspeicherin. Als wir einen automatischen Entlader aufstellten, war es mit der unheilvollen Mutter aus und vorbei.

Sie war nur eine Fiktion gewesen, nicht einmal ein Trugbild. Die Menschen, du weißt das nicht, Vagabund, glaubten, mächtige höhere Wesen bevölkerten die Erde: Zeus, Jehova, Wotan, Odin, Ormuzd, Christus, Allah, Vitzliputzli, Baal, Wischnu, Krischna. Sie sahen sie, hielten Zwiesprache mit ihnen, empfingen von ihnen strenge Belehrungen und wertvolle Hinweise, richteten nach ihren Befehlen das Leben aus, doch es gab sie nicht. Sie waren weniger real als unsere Phantome, die doch wenigstens ein stoffliches Element an sich haben. Die Götter jedoch waren Wörter, Traum, Phantasie! Und ich sage dir, Vagabund, das war bei weitem nicht die phantastischste der menschlichen Phantasien.« So entspann sich eins der üblichen Gespräche über die Grausamen Herrscher der Untergehenden Welten. Auf allen Sternenflugzeugen wurden analoge Unterhaltungen geführt.

Romero und ich gingen in den Observationssaal.

Die »Rammbock« ließ sich vortrefflich beobachten.

Elegant war ihr ungestümer Flug im gelben Staub, der den Dreifachstern umhüllte, der von ihr geschaffene saubere Raum glich einem Tunnel, der sich bewegte und unaufhörlich erweiterte. Romero bemerkte als erster, daß mit der »Rammbock« etwas nicht stimmte, die Schiffsmaschine meldete es eine Sekunde später.

Das Sternenflugzeug warf sich plötzlich hin und her, einer Eidechse ähnlich, der man den Kopf abgerissen hat – der Körper windet sich noch krampfhaft, scheint voller Energie. Dann erstarb es. Die Annihilatoren hörten auf, Staub zu schöpfen, die sich erweiternden Kreise verwandelten sich in eine tote Keplersche Ellipse. Das war kein mächtiges kosmisches Schiff mehr, das die Struktur des Raums beliebig veränderte. Das war ein Gefangener des Raums, ein Asteroid, ein lebloses kosmisches Stück Materie, ein winziger Planet, urteilt man nach den Maßstäben des Kosmos.

Oleg rief mich zu sich. Auf der »Rammbock« streikten nicht nur die Annihilatoren, sondern auch die Nachrichtengeräte. Sie reagierten nicht auf die Rufzeichen. Dennoch setzte ihr denkendes Zentrum die Arbeit fort, ihre Schiffsmaschine generierte schwache Signale, die jedoch so chaotisch waren, daß sie nicht entschlüsselt werden konnten.

»Wir müssen einen Schlepper hinschicken«, sagte Oleg düster. »Aber wie kommen wir in die ,Rammbock‘ hinein? Äußerlich wirkt sie unbeschädigt, man wird Löcher in den Rumpf schneiden müssen, falls wir das Tor nicht öffnen können.«

Die »Widder« war der »Rammbock« am nächsten.

Oleg befahl Petri, das Schiff, das keine Fahrt mehr machte, zu holen. Bald darauf näherten sich beide der »Steinbock«. Die »Rammbock«, die sich in ein Stück kosmischen Stoffes verwandelt hatte, betrug sich entsprechendgehorsam bewegte sie sich in den Zangen der bugsierenden Felder, fügte sich all ihren Impulsen. Wäre sie kleiner gewesen, hätten wir sie auf den Anlegeplatz gebracht. So wurde eine Reparaturkabine an ihr befestigt, und man schnitt einen Einstieg in den Rumpf. Petri selbst schaffte die demontierte Schiffsmaschine auf die »Steinbock«, allem Anschein nach war sie unversehrt, kein einziger Kontakt war entzwei, nirgends hatte sie eine Schramme, und das Herz der Maschine, ein großer Neptunian, funkelte und glänzte so tiefgrün wie vorher. Ein prächtiger Kristall, einer der besten, die ich je sah.

»Die Schiffsmaschine funktioniert«, sagte Petri.

»Sie plappert aber Unsinn, redet ins Blaue hinein, quatscht… Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll…«

Die Schiffsmaschine wurde auf einen Prüfstand montiert. Ellon und Irina kontrollierten ihr Gehirn.

Ich stand abseits, um nicht zu stören. Ich erwähnte schon, daß Ellon schwer in Erstaunen zu versetzen ist, und wenn es doch einmal geschieht, dann tut er alles, um es zu verbergen. Diesmal versuchte er es gar nicht.

»Admiral, ich bin überrascht«, sagte er. »Die Felder, die die Schiffsmaschine vor äußeren Impulsen schützen, sind nicht durchschlagen, nicht deformiert, nicht einmal angekratzt. Sie ist von selbst kaputtgegangen. Die Störungen haben sich innerhalb der Schaltung ergeben, innerhalb, Admiral, äußere Kräfte schließe ich aus. Aber auch innerhalb sind keine Schäden festzustellen. So etwas Merkwürdiges ist mir noch nie begegnet. Ich werde jedes Schaltungsteil einzeln prüfen.«

»Ja, tun Sie das«, sagte ich und ging zu dem Drachen. Vagabund vertrieb sich mit Mizar die Zeit. Er brannte vor Verlangen, Neuigkeiten zu erfahren.

»Vagabund«, sagte ich, »du kennst die Natur des Raumes besser als wir. Hör aufmerksam zu. Auf der , Rammbock‘ ist die Schiffsmaschine ausgefallen. Weder äußere Kräfte haben auf sie eingewirkt noch innere. Mit anderen Worten: Im Raum, den sie zusammen mit dem Schiff durcheilte, ist nichts geschehen.

Verstehst du, Vagabund? Es kann doch nicht der Raum selbst auf das Schiffsgehirn eingewirkt haben?

Es kann doch wohl nicht der stets passive Raum, der Träger von Feldern, Wellen und Teilchen, plötzlich aktiv geworden sein?«

»Deine Frage vermag ich nicht zu beantworten«, bekannte der Drachen. »Ich hatte nur mit dem passiven Raum zu tun, der sich meinem Willen fügte. Ich rollte ihn zusammen und bog ihn gerade, ich verdichtete und verdünnte ihn. Er ist fähig, eigene Wellen zu erzeugen, die ihr Raumwellen nennt; man kann ihn in stoffliche Materie verwandeln, die sich in Raum umbilden läßt. So weit, so gut. Und dennoch ist der Raum passiv. Er kann nicht anders auf die Körper einwirken als mittels der in ihm entstehenden Kräfte.«

»Das ist auch meine Meinung. Und das ist wichtig für die Zukunft. Wir wollen nun mit Oan beraten.

Der zwölfbeinige Denker ist tiefer als wir in die Geheimnisse der hiesigen Welt eingedrungen, mag er uns aufklären.«

Oan erschien mit Orlan und Grazi. Der Demiurg und der Galakt hatten ebenfalls das Bedürfnis, sich mit dem Aranen zu beraten. Ehe ich meine erste Frage gestellt hatte, kamen Ellon und Oleg. Ellon zeigte das Diagramm der Kontrollen, denen die Schiffsmaschine unterzogen worden war.

»Admiral, ich verbürge mich, daß du so etwas noch nicht gesehen hast! Die Schiffsmaschine der ,Rammbock‘ verwechselt die Handlungsfolge. Sie ist nicht physikalisch, sondern logisch defekt. Sie vertauscht Ursache und Folge. Die Folge rangiert bei ihr vor der Ursache. Überzeuge dich selbst.«

Bedrückt betrachtete ich das Diagramm. Ich hatte diese überaus komplizierten Mechanismen nicht eingerichtet, die Schaltung ihres einfachsten Bereichs war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Aber soviel wußte ich: Die Folge konnte nicht vor der Ursache auftreten. Regen fällt nicht, bevor sich Wolken sammeln. Ein Kind wird nicht geboren, bevor sich seine Eltern treffen. Die Beule an der Stirn schwillt nicht vor dem Schlag. Doch hier war es so. Hier fiel der Regen ohne Wolken, das Kind gab es ohne Vater und Mutter, die Beule an der Stirn schwoll vor dem Schlag. Ellon sandte von außen einen Impuls in die Schiffsmaschine, und sie antwortete mit einem Kettenschluß, so ging das real vor sich. Doch das Bild, das sie registrierte, war anders, zuerst schloß sie die Ketten, dann empfing sie den Impuls von außen. Es war ein Wunder, daß die übergeschnappte Maschine das Schiff nicht gesprengt hatte. Die Laderäume des galaktischen Frachters enthielten genügend Aktivstoff, bei einem falschen Kommando konnte sich das alles in gezündeten Sprengstoff verwandeln.

Ich fragte Oan: »Verstehst du irgend etwas?

Kannst du diesen Teufelsspuk erklären?«

»Das ist kein Teufelsspuk«, antwortete er jedem in Gedanken. »Eure Maschine ist erkrankt. Sie hat Zeitkrebs.«

»Ist krank? Hat Zeitkrebs?«

»Ja, krank. In der Maschine ist die Zeit explodiert.

Einige ihrer Zellen sind in der Vergangenheit, die anderen in der Gegenwart, die dritten wurden in die Zukunft getragen. Sie vermag keinerlei Programm zu erfüllen. Zeitkrebs ist die schwerste Krankheit unserer Welt.«

»Kann die Krankheit auch uns befallen?« fragte Orlan. Er zog den Kopf so tief zwischen die Schultern, daß nur die Augen hervorsahen.

»Sie befällt uns auch, wenn die Grausamen Götter das wünschen«, prophezeite Oan voller Gewißheit.

»Deshalb hatte ich ja versucht, einen Ausweg in eine andere, nicht hiesige Zeit zu finden. Ihr seid mächtig, vielleicht habt ihr mehr Glück als wir. Und wenn ihr euch nicht in die Anderszeit retten wollt, solltet ihr besser von hier weggehen. Die Grausamen Götter haben euch lange nicht bemerkt. Jetzt blicken sie auf euch. Sie haben einen bösen Blick.«

Während er davon sprach, daß die Grausamen Götter ihren bösen Blick nun doch auf uns geheftet hätten, betrachtete ich ihn zum wievielten Male schon. Und plötzlich war mir, als hätte ich ihn sonst noch nie gesehen. Wahrscheinlich hatte ich mich bisher zuwenig mit seinem Äußeren befaßt. Oan schwankte sacht auf den zwölf starken, schnellen Beinen, die jeweils acht Gelenke hatten. Über dem mit harter Haut gepanzerten Rumpf ragte ein kleiner Kopf mit seltsamen Haaren, halb Schlangen, halb Arme; damit vermochte er nicht nur zu greifen, sondern auch zu reißen und zu saugen. Die beiden unteren Augen schauten uns an, schauten nur, nahmen auf, gewöhnliche Augen, dunkel, umflort, solche, wie ich, wie Trub, wie der Drachen, sogar wie Orlan und Grazi sie hatten. Doch das dritte Auge darüber schaute nicht, sondern durchbohrte mit tiefem Leuchten, es strahlte, ohne fremde Strahlen aufzunehmen, mit ihm flößte er uns seine Gedanken ein, und ich duckte mich unwillkürlich, so bedrohlich waren seine Gedanken!

Oan hatte einen bösen Blick…

8

Hätte ich den Wunsch, der uns beherrschte, kurz und bündig ausdrücken sollen, so hätte ich nur gesagt:

»Ein Stückchen sauberen Himmels!« Unsichtbare Gegner verwehrten uns, den interplanetaren Raum zu säubern, und wir waren bereit, uns jedem Gegner zu stellen. Der plötzliche Widerstand hatte Kampfeslust geweckt. Sie liegt jedem im Blut. Unsere Vorfahren waren Gotteskämpfer gewesen, Befreier, Verteidiger ihrer Ehre und Würde, wir wollten nicht feigherziger sein als sie.

Oleg befahl die Kapitäne auf die »Steinbock« und suchte mich auf, um sich mit mir zu beraten.

»Eli, eins der bemerkenswertesten Ereignisse deiner ersten Fahrt zum Perseus war die Vernichtung des Goldenen Planeten, die Olga Trondike entschlossen und meisterhaft vollzog. Ich habe die Absicht, ungefähr das gleiche vorzuschlagen.«

Ich bat um Erläuterungen. Er gab sie. Olga hatte, da sie den Goldenen Planeten sprengte, ein riesiges Volumen neuen Raums geschaffen und durch ihn das in einen Hinterhalt geratene Sternenflugzeug hinausgeführt. In dem neugeschaffenen Raum gab es keinen Staub, die raubgierigen Kraftfelder der Zerstörer durchdrangen ihn nicht, das Spinngewebe der Nichteuklidheit vermochte ihn nicht sogleich zuzuziehen.

Die Zerstörer hätten sich mächtig anstrengen müssen, bis dieser freie Raum der Gewaltstruktur ihrer kleinen Welt angepaßt war. Im Haufen der Untergehenden Welten herrschten Wesen, die offensichtlich mächtiger als seinerzeit die Zerstörer waren. Aus irgendeinem Grunde ließen sie die Sterne zerstauben.

Offenen Widerstand durchkreuzten sie. Ob man sie nicht hinters Licht führen konnte? Sie vor eine vollendete Tatsache stellte? Durch Explosion neuen Raum schuf? Unsere Kräfte reichten nicht aus, um im bestehenden Raum, gegen die Ramiren wollen wir sie einstweilen so nennen zu kämpfen. Aber um sich den neuen Raum Untertan zu machen, brauchten sie eine Weile-Jahrhunderte oder Jahrtausende nach irdischer Rechnung. Während dieser Zeit würde man auf Arania die hellen Tagesweiten sehen, würden wenigstens ein paar Generationen Aranen das verheißene Stückchen klaren Himmels haben.

»Das Schwierigste an deinem Plan ist die Geheimhaltung vor den Ramiren«, sagte ich.

Oleg gab zu, daß man eine sichere Tarnungsmethode finden müsse.

Der Plan gefiel den Schiffskapitänen. Die »Raumfresser« hatte einen Planeten annihiliert, unsere modernen Sternenflugzeuge waren leistungsfähiger. Und noch einfacher war es, einen kosmischen Körper für die Annihilierung zu bekommen. Ungefähr ein Dutzend lebloser Planeten umkreiste die Drei Staubigen Sonnen. Nur das Problem der Tarnung rief Streit hervor. Die Ramiren konnten, sofern sie die Grausamen Götter waren, die Vernichtung des Planeten in dem Augenblick leicht verhindern, da sich das Sternenflugzeug mit eingeschalteten Kampfannihilatoren auf ihn stürzte. Ein direkter Schlag, wie ihn Olga gegen den Goldenen Planeten gerichtet hatte, würde in den Untergehenden Welten schwerlich gelingen.

»Laßt uns in zwei Stufen operieren«, sagte Olga.

»Wenn sich die Grausamen Götter auch der Vernichtung eines ganzen Planeten widersetzen, so wird die Annihilierung eines Sternenflugzeugs sie kaum empören, es entsteht ja nicht viel freier Raum dabei. Aber dieser Raum ist eine Zeitlang ihrer Macht entzogen.

Und das Sternenflugzeug, das den Hauptschlag führt, kann ihn als tarnenden Tunnel benutzen.«

Kamagin bat, seine »Schlangenträger« zur tarnenden Annihilation zu bestimmen. Aber ihm wurde der Schutz des für den Hauptschlag vorgesehenen Sternenflugzeugs übertragen. Da wurde nicht Vorsicht gebraucht, sondern Entschlossenheit und Schnelligkeit, und in der Hinsicht war Kamagin unübertroffen.

»Ihre ,Stier‘ wird die tarnende Annihilation vornehmen«, sagte Oleg zu dem kaltblütigen Petri.

»Keiner eignet sich besser als Sie für eine solche Operation. Den Hauptschlag bitte ich die ,Widder‘ zu führen. Olga ist die einzige unter uns, die Erfahrung beim Annihilieren von Planeten hat.«

Olga erwiderte: »Ich bin einverstanden, stelle jedoch eine Bedingung.« Sie wandte sich mir zu. »Eli, beim Angriff auf den Goldenen Planeten saßest du im Kommandeursessel neben mir. Deine Anwesenheit verlieh mir Entschlossenheit. Ich möchte, daß du für die Zeit der Operation auf die ,Widder‘ übersiedelst.«

»Hast du vor, mich erneut halbtot zu machen, damit mein entsetzliches Aussehen dich inspiriert?«


Nach der Beratung kam Olga zu uns. Mary wußte schon, daß ich die »Steinbock« für eine Weile verließ.

Vielleicht mißfiel ihr das, jedenfalls äußerte sie ihre Unzufriedenheit nicht.

»Ich hoffe, du bist nicht eifersüchtig, wenn ich deinen Mann für ein paar Tage zu mir nehme?« sagte Olga so ernst und bewegt, daß Mary lächelte.

»Eifersüchtig bin ich nur auf ihn selbst, Olga. Denn der einzige Mensch, der mir meinen Eli unverfroren wegnimmt, ist Eli… Du kannst mir weder schaden noch helfen.«

Mary umarmte mich fest, und ich verließ die »Steinbock«.

Einen geeigneten kleinen Planeten hatten wir bald gefunden. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, daß seine Bahn genau hinter der Bahn der Arania lag, annihilieren wollten wir aber zwischen der Arania und dem Dreifachstern. Andererseits hatte Grazi festgestellt, daß es niemals Leben auf ihm gegeben hatte und auch in Zukunft die Entstehung jeglicher Form von Leben ausgeschlossen war; mit solch einem Bastard brauchte man keine Umstände zu machen.

Den feindlichen äußeren Kräften schien eine Veränderung der Planetenbahnen gleichgültig zu sein. Drei Lastensternenflugzeuge, die entsprechend programmiert waren, zogen den Planeten hinter sich her.

Er löste sich von seiner Bahn und glitt entlang der steilen Spiralenwindung in den Raum zwischen der Arania und den Drei Staubigen Sonnen.

Ich saß im Sessel neben Olga. Sie bereitete sich auf die zweite Etappe der Operation vor, ich war im Anblick des Kosmos versunken. Ringsum herrschten Ruhe und Frieden, das war erfreulich und beunruhigend zugleich. Die »Schlangenträger«, die »Stier« und die »Steinbock«, deren Lichter nur im Vervielfacher erkennbar waren, hielten sich abseits, damit sie nicht in den Brennpunkt plötzlichen Widerstands gerieten. Die Bahnänderung befehligte Ellon, er saß im Kommandeursaal neben Oleg. Seinerzeit hatte er uns geholfen, den Räuberplaneten zum Teufel zu jagen, jetzt leitete er einen anderen Planeten entlang genauso einer Gravitationsschnecke sehr gleichmäßig und sicher auf eine neue Bahn, wo ihn der Untergang erwartete. In der Schnecke schraubten sich, eigentlich wurde sie von ihnen geschaffen, die drei automatischen Schiffe, die im Vergleich zu der ihnen folgenden Beute winzig waren.

»Die Explosionsbahn ist erreicht, Eli«, sagte Olga.

»Petri geht auf direkte Annihilationsdistanz. Bald sind wir an der Reihe, in den freien Tunnel auszubrechen.«

Wir kamen nicht an die Reihe. An die Reihe kamen die feindlichen Kräfte. Das Grauen, das sich vor meinen Augen abspielte, wird mein Gedächtnis bewahren, solange ich lebe.

Der Planet befand sich jetzt auf seiner neuen Bahn, genau zwischen den Drei Sonnen und der Arania. Die Gravitationsschnecke hatte er verlassen. Vor ihm waren die drei automatischen Sternenflugzeuge, hinter ihm die übrigen galaktischen Frachter. Das zur Annihilation verurteilte Schiff jagte neben dem Planeten einher. Die »Widder« hatte auf der Linie zwischen der Arania und den Drei Sonnen Invasionsdistanz bezogen. Die »Stier« näherte sich von der Seite. Sie sollte einen blitzschnellen Schlag gegen das verurteilte Sternenflugzeug führen, ebenso blitzschnell die Annihilatoren ausschalten und in dem Wirbel neugeschaffenen Raums zurückfliegen, während wir auf der »Widder«, gegen Einwirkungen von außen abgeschirmt, ins Zentrum des Sturmes vordrangen, auf gerader Linie zum Planeten. So war der Plan. Als ich im Vervielfacher die fliegende »Stier« sah, sah ich in Gedanken natürlich auch Petri. Der ruhige Kapitän der »Stier« betrachtete vorgebeugt das auf dem Bildschirm größer werdende verurteilte Sternenflugzeug, er hob die Hand und würde sie in der nächsten Sekunde mit dem Ruf »Feuer« sinken lassen. Aber nicht er feuerte.

Es war derselbe Strahl, der verfluchte Strahl, der den Roten Stern zerfetzt hatte. Diesmal war er kleiner und dehnte sich nicht wie ein verderbenbringendes leuchtendes Rohr durch den ganzen sichtbaren Raum, sondern schoß aus der rauchigen Ferne hervor und verschwand. Und er fuhr nicht in den Planeten, nicht in die schleppenden Sternenflugzeuge vor ihm, nicht in die begleitenden hinter ihm, auch nicht in das zum Öffnen des kosmischen Tores bestimmte Schiff neben ihm, sondern genau in die »Stier«! Eine Explosion, ein rasender Feuerball, ein Wölkchen glühenden Staubs, das war’s, was wir an der Stelle sahen, wo eben ein drohendes Schiff geflogen war, ausgerüstet mit vollkommenen Maschinen, bemannt mit Menschen und Demiurgen. Es gab kein Schiff mehr, es gab keine Menschen mehr, es gab keine Demiurgen mehr, nicht einmal Leichen waren übriggeblieben! Es gab nur Staub, leuchtenden, sich ausbreitenden, erlöschenden Staub. Und dann beobachteten wir noch, wie die Sternenflugzeuge davor und dahinter die streng berechneten Bahnen wechselten, aufeinanderprallten und sich zu einem einzigen lodernden Haufen vermengten. Explosion um Explosion bezeichnete das Ende der Schiffe. Und wir konnten ihnen nicht helfen, wir mußten zugrunde gehen wie sie, wie zuvor unsere Freunde auf der »Stier« zugrunde gegangen waren. Ich preßte das Gesicht an den Vervielfacher. Zum lodernden Gemisch der Schiffe hin stürzte, steuerungslos, die »Steinbock«. Ich biß mir die Hand blutig, brüllte vor Wut und Verzweiflung. Ich konnte, wollte ihren Untergang nicht sehen, es trieb mich vom Vervielfacher fort. Ich bezwang mich, denn ich mußte sehen, mußte alles sehen, um zu begreifen, was geschah. Und um an den Schuldigen der Katastrophe schreckliche Rache zu üben, falls ich am Leben blieb!

Wie durch ein Wunder schwenkte die »Steinbock« plötzlich ab und jagte ins staubige Dunkel davon. Die »Schlangenträger« hatte den Kurs schon eher gewechselt und flog auf einer stetigen Kurve um das Epizentrum der Katastrophe.

Erschöpft lehnte ich mich im Sessel zurück. Und erst da bemerkte ich, daß Olga mich verzweifelt rüttelte.

»Eli! Eli! Komm zu dir!« flehte sie. »Unsere Schiffsmaschine streikt, ich kann den Triebwerken keinen einzigen Befehl übermitteln! Wir rasen auf die Frachter zu!«

Ich weiß nicht, wie schnell mir Olgas verzweifelter Ruf bewußt wurde. Wahrscheinlich ernüchterte mich ihr vor Entsetzen verzerrtes Gesicht, ich hatte bisher nicht vermutet, daß sie fähig sei, Entsetzen zu empfinden. Nun hatten sich die Umstände so gefügt, daß ihre unwandelbare vernünftige Ruhe wie fortgefegt war.

Und ich begriff in diesem ersten Augenblick des wiederkehrenden Bewußtseins, daß ihr blindes Entsetzen nicht auswuchern durfte. Was mit dem Schiff auch geschah, der Kommandant war verpflichtet, einen klaren Kopf zu behalten, sonst stand es vollends schlecht um uns.

»Keine Panik!« schrie ich. »Gehen wir auf Handsteuerung über!«

Aber wir konnten auf gar nichts übergehen, die Handsteuerung funktionierte ebensowenig wie die automatischen Systeme. Ich starrte, als hätte ich hundert Augen, auf die Handsteuerungstafel neben meinem Kommandeursessel, griff, als hätte ich hundert Finger, nach den Knöpfen und Hebeln, nichts war intakt! Und plötzlich fiel mir ein, daß es eine Kette gab, die man nicht abschalten, nicht blockieren konnte, die als einzige keinem gedachten Befehl, sondern nur einer mechanischen Schlüsseldrehung gehorchte die Kette eines Systems von Ladungen, die das Schiff sprengten. Das war meine Kette, in der Schule hatte ich sie berechnet, einst kannte ich jeden ihrer Kontakte, jede Leitungsverbindung. Sie war nur dazu bestimmt, das Schiff in einer außergewöhnlichen Situation von innen her zu vernichten. Das war eine Kette der Verzweiflung, nicht der Hoffnung. Nur sie konnte uns jetzt retten.

»Der Schlüssel!« brüllte ich und packte Olgas Hand. »Der Schlüssel zu den Sprengkammern!«

Sie prallte zurück. Ihr ohnehin angstbleiches Gesicht wurde kreideweiß. »Vielleicht geht es gut ab!« stammelte sie. »Eli, Eli, ich habe noch Hoffnung…«

Ich hätte sie erwürgen können. Es gab keine Hoffnung. Wir jagten genau auf die Schutthalde der Sternenflugzeuge zu.

»Närrin! Ich denke nicht an Selbstmord! Gib sofort den Schlüssel, Olga!«

Zitternd knöpfte sie sich die Jacke auf. Der Schlüssel hing ihr auf der Brust. Ihre ungelenken Finger konnten das Kettchen nicht lösen. Ich zerriß es und hatte den Schlüssel. Ich stürzte zu der abseits stehenden Tafel. Sie besaß nur eine versiegelte Öffnung.

Niemand hatte das Recht, das Siegel zu entfernen. Ich riß es ab, führte den Schlüssel ein und drehte ihn vorsichtig. Ruhig, hörst du, ruhig! rief ich mir in Gedanken zu. Ein Drittel der Umdrehung, der erste Kontakt, ein Fehler ist nicht zu korrigieren!

Eine schwere Explosion erschütterte das Schiff. Der rechte hintere Teil, derselbe, wo unsere drohenden Kampfannihilatoren eingebaut waren, hörte auf zu existieren. Eine mächtige Sternenfestung hörte auf zu existieren, die in der Lage gewesen war, Planeten zu zerstören und feindliche Flotten zu zerstreuen. Aber das Sternenflugzeug selbst lebte, obwohl es seine Bewaffnung eingebüßt hatte. Der schreckliche Stoß hatte es nach links abgetrieben, und es jagte, das verderbliche Feuer meidend, seitwärts fort – und das geschah möglicherweise in der letzten Sekunde, die uns zur Rettung verblieben war.

Olga schrie auf und fiel in den Sessel.

Eine Weile schwiegen wir. In den Kommandeursaal drangen die Geräusche des Schiffes nicht, doch in allen Räumen und Korridoren liefen Menschen und Sternenfreunde verwirrt umher. Sowohl das Grauen vor dem unvermeidlichen Untergang als auch die Freude über die unerwartete Rettung war ihnen vollauf zuteil geworden. Ich weiß nur nicht, was die Nerven stärker belastete, die Todesfurcht oder die Befreiung davon.

Olga sagte mit schwacher Stimme: »Ach, Eli, solch eine Katastrophe! Ich begreife nichts! Was ist das für eine Kraft, die unsere gegen Fremdeinwirkung geschützten Schiffsmaschinen blockieren konnte? Warum schweigst du, Eli? Ich hab‘ Angst, sprich doch, ich begreife ja nichts!«

Ich sagte möglichst ruhig: »Ich habe geschwiegen, weil ich alles begreife. Die Ramiren haben uns den Krieg erklärt. Sie haben Allans Geschwader und deinen Mann ausgelöscht, Olga. Jetzt sind wir an der Reihe.«

Sie schaute mich groß an, beinahe wie von Sinnen.

»Ich bin es gewohnt, dir zu glauben, Eli, deine Worte habe ich nie bezweifelt. Aber sie konnten doch nicht wissen, daß ausgerechnet Petri die Operation beginnt, nicht ich, nicht Kamagin, nicht Oshima, sondern Petri! Das wußten nur wir auf den Schiffen. Dennoch haben die Ramiren allein Petri angegriffen!«

»Wir haben auch etwas abbekommen. Vergiß nicht, daß unsere Schiffsmaschinen blockiert sind«, entgegnete ich finster. »Und die Frage, wie sie unsere Pläne erfahren konnten, ist einfach zu beantworten.

Ein Kundschafter hat sich bei uns eingeschlichen!«

»Sagtest du Kundschafter, Eli?«

»Mißfällt dir das Wort? Dann sagen wir Spion, Späher, Aufklärer, Lauscher, Spitzel, Verräter oder Geheimagent, nimm, welches du willst! Und er befindet sich auf dem Flaggschiff. Auf der ,Steinbock’, Olga!«

Dritter Teil - Das zerrissene Band der Zeit -

1

An Wiederherstellung war nicht zu denken. Im Schiffsrumpf klaffte eine riesige Wunde. Die Konstrukteure hatten alles getan, damit ein möglicher Gegner die Annihilatoren nicht in seine Gewalt brachte, ja nicht einmal erraten konnte, was für Maschinen sich im rechten Heck des Sternenflugzeugs befanden.

Nach der Besichtigung der Zerstörungen bekannte Olga: »Ich wäre nicht daraufgekommen, daß sich die Bahn des Schiffes auf diese Weise korrigieren läßt.

Vernichtung der Annihilatoren… Eine völlig unzulässige Abwehrvariante… Ich trug den Schlüssel wie eine Berlocke oder ein Medaillon. Wieso ist er dir eingefallen, Eli?«

»Wahrscheinlich deshalb, weil ich in den letzten Tagen nur Unzulässiges denke«, sagte ich. »Meine Gedanken sind allein von Unwahrscheinlichkeiten in Anspruch genommen. Außerdem habe ich mich in der Gefangenschaft, nachdem wir Orlan die ,Bootes‘ unbeschädigt ausgeliefert hatten, erinnert, daß es noch einen Ausweg gegeben hätte, die Vernichtung der Annihilatoren.«

»Zum Glück konntet ihr euch damals auf eine Verwirrung der Schiffsmaschinen-Schaltung beschränken.« »Was heute offenbar die Feinde für uns erledigt haben«, sagte ich voll Bitterkeit.

Inzwischen war klargeworden, daß auch die Schiffsmaschine vorläufig nicht wiederherzustellen war. Äußerlich wirkte sie genauso unbeschädigt wie kürzlich die Schiffsmaschine der »Rammbock«. Aber wenn diese, Ursachen und Folgen verwechselnd, schlecht und recht funktioniert hatte, so nahm jene weder Signale entgegen, noch gab sie welche ab. Sie arbeitete einfach nicht. Es lag eine unfaßbare Kompliziertheit in der Wortverbindung: Arbeitete einfach nicht!

Dafür gelang es, die Handsteuerung in Ordnung zu bringen. Die »Widder« bewegte sich wieder, freilich auf primitive Weise, außerstande, Situationen überschnell zu bewerten und sich rasch im Raum zu orientieren. Sie war nur in dem Maße schnell, präzise und verständig, wie es die diensthabenden Steuerleute waren. Für galaktische Fahrten taugte ein solches Schiff nicht mehr.

Auch die Nachrichtenübermittlung klappte wieder, und von Oleg traf eine Depesche ein. »Was ist mit euch? ‚Widder’! Was ist mit euch? Gebt Bescheid!«

Dann empfingen wir eine Einladung auf das Flaggsternenflugzeug für Olga und mich und eine Information über die Verluste. Drei Viertel des Geschwaders waren untergegangen, die »Stier« und zwölf von den vierzehn galaktischen Frachtern. Auf der »Steinbock« und der »Schlangenträger« waren die Schiffsmaschinen ebenfalls gestört, und die Mechaniker konnten eine schnelle Wiederherstellung nicht garantieren. Olga und ich bestiegen ein Planetenflugzeug. Auf der »Steinbock« warf sich mir Mary an die Brust. Sie weinte, als wäre ich tot. Ich wischte ihr die Tränen ab und riet ihr, mich anzuschauen. Ich lebte, war rüstig und gesund und gedachte es noch lange zu sein.

»Mir wurde schwarz vor Augen, als ich sah, wohin es die ,Widder‘ trug!« Sie starrte mich an, als glaubte sie immer noch nicht, daß ich leibhaftig vor ihr stand.

»Ihr wart dem Epizentrum der Explosion so nah!«

Erst jetzt ging mir ein, was man auf der »Schlangenträger«

und der »Steinbock« durchgemacht hatte.

Ich hatte um sie gebangt, doch sie hatten mehr Grund gehabt, um uns zu bangen.

Romero sagte mit kummervoller Miene und in dem zitierenden Ton, den er anschlägt, wenn er zu Beispielen aus der Historie Zuflucht nimmt: »Die ,Stier‘ ist den Feinden zum Opfer gefallen, lieber Admiral. Wir müssen, wie betrüblich es auch ist, zugeben, daß sie mächtiger sind als wir.«

»Ob sie mächtiger sind, weiß ich nicht, aber listiger sind sie, Pawel.«

Zu dem bedrückten Oleg sagte ich: »Die Vergangenheit läßt sich nicht zurückholen, wir wollen an die Zukunft denken. Ich stelle dir eine Frage, beantworte sie mir möglichst genau. Eure Schiffsmaschine setzte zweimal aus, nicht wahr? Sie streikte, arbeitete dann sekundenlang weiter und streikte erneut nun endgültig. Sehe ich das richtig?«

»Stimmt genau«, sagte er erstaunt. »Welche Schlußfolgerung ziehst du?«

»Eine sehr wichtige«, versicherte ich und verlangte eine Konferenz in kleinem Kreis: die Kapitäne der Sternenflugzeuge, ich, Romero, Grazi, Orlan, Vagabund.

Dann ging ich in den Konservierungsraum. In einem durchsichtigen Sarkophag, ewig unwiederbringlich und ewig unverweslich, lag Lussin, so natürlich, wie schlafend, anzusehen, daß ich nicht nur so einfach dastehen und ihn betrachten konnte. Ich sagte zu ihm: »Lussin, du weißt, ich habe nie Rache geübt.

Nicht einmal für meinen Sohn, der auf dem Dritten Planeten ums Leben kam. Er unterlag in einem direkten Kampf mit einem direkten Feind, der in jenem Augenblick stärker war als wir. Nein, ich habe Aster nicht gerächt, du weißt das, Lussin! Du bist gütig, du bist zartfühlend, Lussin, du hättest es mir nicht erlaubt. Aber dich werde ich rächen! Du bist das Opfer von Heimtücke, bist nicht in einem ehrlichen Kampf gefallen. Ich muß dich rächen, Lussin! Auch Petri und die Kameraden von der ,Stier’! Auch Allan und Leonid! Auch die Aranen, einst ein mächtiges, heute ein jämmerliches Volk, das die Wissenschaften vergessen hat und in Aberglauben versunken ist! Streite nicht, Lussin! Sei über meine Härte nicht empört. Die Feinde lassen uns keine andere Wahl. Es fällt mir schwer, unendlich schwer, Lussin! Aber vergiß nicht:

Einen anderen Ausweg haben wir nicht!«

So sprach ich mit ihm, schüttete ihm mein Herz aus, bekannte ihm, was ich selbst Mary nicht bekannt hätte. Und ich verließ den Konservierungsraum zwar nicht beruhigt, aber doch voller Klarheit. Ich hatte die Zweifel abgeschüttelt und wußte, daß ich mir von nun an Rührseligkeit nicht gestatten würde. Unser Weg würde schwer sein, vielleicht lang, ich würde ihn bis zum Ende gehen! Niemand kennt seine Zukunft.

Der Weg ist tatsächlich lang, aber er nimmt ein Ende!

Die Konferenz sollte in einem absolut abgeschirmten Raum stattfinden, diese Forderung hatte ich gestellt. Und Oleg hatte keinen besseren als die Behausung des Drachens gefunden, in den anderen abgeschirmten Räumen hätte Vagabund nicht Platz gehabt. Als ich kam, hatten sich die anderen bereits eingefunden. Kamagin und Oshima teilten mit, was auf der »Schlangenträger« und der »Steinbock« vorgefallen war. Olga fügte ihre Schilderung über die Ereignisse auf der »Widder« hinzu. Ein unbekanntes Feld hatte auf allen Sternenflugzeugen die Schiffsmaschine von den Ausführungsmechanismen abgeschaltet, auf der »Schlangenträger« und der »Widder« einmal, auf der »Steinbock« zweimal. Das kurzfristige nochmalige Einschalten hatte wenige Sekunden gedauert, aber das war ausreichend gewesen, um den Kurs zu ändern und den Untergang zu verhüten. Die Handsteuerung auf der »Widder« und der »Steinbock« hatte sich rasch wiederherstellen lassen, auf der »Schlangenträger« war sie überhaupt nicht blockiert gewesen. Bevor die Schiffsmaschinen nicht repariert waren, konnten die Sternenflugzeuge weder die Fahrt zum Kern fortsetzen noch zur Basis zurückkehren.

Die »Widder« hatte so stark gelitten, daß sie nur noch als galaktischer Frachter Verwendung finden konnte.

Auf diese Weise waren von dem großen Geschwader nur zwei wenig leistungsfähige Sternenflugzeuge und drei Frachtschiffe übriggeblieben.

Oleg wandte sich an mich: »Die Konferenz ist auf deinen Wunsch einberufen worden, Eli. Du hast versprochen, eine wichtige Mitteilung zu machen. Wir hören, Eli.«

Zunächst stellte ich dem Drachen eine Frage.

»Vagabund, vermag sich ein biologisches Gehirn, ein mächtiges Gehirn, sagen wir deins, in die Arbeit einer Schilfsmaschine einzuschalten, aber nicht so, wie wir das tun, indem wir Kommandos erteilen, sondern indem es gewissermaßen die Arbeit aller ihrer Ketten dubliert?«

Der Drachen blickte mich an, ohne sich wie sonst ironisch zu geben. Die Frage war zu ernst, um sie mit Witzchen auszuschmücken. »Du verlangst zuviel von einem gewöhnlichen biologischen Gehirn, Eli. Eine Schilfsmaschine rechnet mit einer Geschwindigkeit von Billionen Kombinationen in der Sekunde, ein biologisches Gehirn ist dazu nicht fähig. Ein biologisches Gehirn ist nicht mathematisch, nicht analytisch, es legt nicht die Anatomie von Situationen bloß, sondern erfaßt sie mehr landschaftlich… So habe ich auf dem Dritten Planeten gearbeitet.«

»Du sagst, Vagabund: ein gewöhnliches, biologisches Gehirn, und beweist sogleich seine Ungewöhnlichkeit. Aber lassen wir das. Gut, mag es kein biologisches Gehirn sein. Wennschon ein denkender Mechanismus gleich der Schiffsmaschine geschaffen wurde, so können auch Konstruktionen erscheinen, die sie übertreffen. Und wenn solch eine Konstruktion, solch ein denkender Höchstleistungsmechanismus in unserem Geschwader mit den Schiffsmaschinen im Einklang arbeitete und diese brüsk zu hemmen wünschte, so würde das die Natur der Havarie erklären, nicht wahr?« Vagabund schwieg. Oleg bemerkte mißtrauisch:

»Zunächst muß bewiesen werden, daß sich so ein mächtiges feindliches Gehirn real auf einem der Schiffe befindet.«

»Es befindet sich auf der ,Steinbock’.«

»Sein Name!« schrie Ellon.

Er ließ den Kopf nicht gerne in die Höhe schnellen, jetzt übertraf er Orlan dabei. Die tiefliegenden Augen des Demiurgen flammten, der riesige Mund krümmte sich raubgierig. Ich wette, Ellon glaubte, ich spiele auf ihn an. Kalt sagte ich: »Beruhige dich, Ellon. Hätte ich auf dich gemünzt, wärest du nicht eingeladen worden. Der Spion heißt Oan.«

Ich hielt inne, damit man über meine Behauptung nachdenken konnte. Dann redeten alle gleichzeitig.

Oleg verlangte Beweise. Ich bat, mir Fragen zu stellen. Kamagin sagte, man müsse so schnell wie die Schiffsmaschine sein, um im Einklang mit ihr zu arbeiten und jeden ihrer Impulse durch Gegenimpulse zu verfälschen; ein Lebewesen, wie das eben erklärt worden sei, schaffe das nicht; wahrscheinlich gelte es nachzuweisen, daß Oan kein Lebewesen, sondern eine Konstruktion in der Gestalt eines Lebewesens sei.

Oshima fügte hinzu, daß die Schiffsmaschine eine beträchtliche Menge spezifischer Energie spezialisierter Felder verbrauche, woher beziehe Oan heimlich derartige Energie? Olga äußerte sich ebenfalls zweifelnd. Der Spion, der sich in die Arbeit der drei Schiffsmaschinen eingemischt hatte, müsse seine Kommandos mit Hilfe irgendwelcher Felder auf die anderen Sternenflugzeuge übertragen. Im Raum seien keine fixiert worden. Er habe doch wohl nicht eine physikalische Wirkung ohne physikalische Felder herbeigeführt! Orlan bemerkte, daß der Spion die Absichten der Astronauten erfassen müsse, ohne bei ihren Gesprächen zugegen zu sein, daß er ihre Gedanken auskundschaften müsse; doch selbst die Demiurgen brächten das nicht fertig, obwohl die Technik des Erspähens und Erlauschens im Zerstörerreich auf der Höhe gewesen sei, das bezweifle sicherlich niemand!

»Und wir sind doch so gut abgeschirmt!« sagte Grazi.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie zum Beispiel von hier Informationen hinaussickern könnten. Und unsere anderen Räume sind, obwohl kleiner, nicht schlechter abgeschirmt!«

»Kurzum, er muß etwas Übernatürliches an sich haben«, schloß Oleg.

Ich antwortete allen zugleich: »Was heißt übernatürlich? Unseren Vorfahren wäre die Fähigkeit, Raum zu annihilieren und sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortzubewegen, übernatürlich erschienen, doch wir sind gewöhnliche Sterbliche. Ich behaupte eins: Wir sind auf merkwürdige Erscheinungen gestoßen, deren Erklärung vielleicht nicht weniger merkwürdig ist!«

Und ich erinnerte daran, wie wir Oan kennengelernt hatten. Er hatte in irgend so einer Gegenzeit in andere Welten tauchen wollen. Wenn das stimmte, so war es erstaunlich, denn es widerspräche dem, was wir bisher vom Lauf der Zeit im Weltall wußten. Oans Gefährten hatten den Tod gefunden, er allein war unversehrt geblieben. War das nicht abermals erstaunlich? Er hatte ein Sternenflugzeug gestohlen, dessen Konstruktion auch uns unklar war, und es sogar fertiggebracht, sich technisch seiner zu bemächtigen und in den Kosmos auszubrechen. Er hatte einen kollabierenden Stern ausfindig gemacht, sich in ihn gestürzt und sich dann aus der tödlichen Umklammerung gelöst, war die Kette der Erstaunlichkeiten nicht gar zu lang? Und all diese Taten, die das Können und das Wissen der Menschen, der Demiurgen und Galakten übertrafen, waren von dem Vertreter eines halbwilden Volkes vollbracht worden! War das nicht die größte Erstaunlichkeit? Wer war er unter den Seinen? Einer von ihnen oder ein Fremdling? Er hatte angedeutet, daß die Grausamen Götter in Aranengestalt unter den Aranen lebten. Und so einer war er, dieser spinnenförmige Denker und Ingenieur – ein Spion der Ramiren im Lager der Aranen! Seinem Wesen nach war er Kundschafter, nur getarnt durch äußere Wohlanständigkeit.

»Und sobald Oan mit uns Bekanntschaft geschlossen hatte, wechselte er den Beruf eines Spähers bei den Aranen gegen den Beruf eines Spähers bei uns«, fuhr ich fort. »Selbstverständlich konnte er sich nicht in einen Menschen, einen Demiurgen, einen Galakten, Engel oder Drachen transformieren. Wir sind wenige, wir hätten den Betrüger sofort entlarvt. Aber in der bisherigen Gestalt eines Aranen unsere Pläne erkunden, unsere Maschinen außer Gefecht setzen, das konnte er. Und nun will ich beweisen, daß Oan nicht nur ein schmutziger Spion und gefährlicher Diversant ist, sondern auch ein gemeiner Terrorist. Lussins Tod ist keineswegs auf irgendwelche Zufälligkeiten zurückzuführen. Der Schuldige ist er. Seht auf den Bildschirm.«

Ich zeigte den Film von Lussins Ende. Viele Male hatte ich mir den traurigen Streifen in der Einsamkeit angeschaut. Ständig hatte mich die Empfindung gequält, daß ich etwas nicht erfaßte, etwas Wichtiges nicht enträtselte. Und erst als ich nach der Katastrophe mit den Sternenflugzeugen zur »Steinbock« zurückgekehrt war, begriff ich, wo des Rätsels Lösung gesucht werden mußte.

»Ich habe einen Multikanal-Chronometer genommen, Freunde. Die einen Kanäle sind auf unsere individuellen Felder abgestimmt, die anderen suchen unbekannte Felder. Achtet auf den Bildschirm! Hier sind Lussin und der Hüter, der sich in ihn verkrallt hat. Kontrolliert die Konzentration eurer Felder auf Lussin hohe Gleichzeitigkeit, nicht wahr? Und hier wirft Lussin das Feld ab, mit dem er die angreifenden Beschleuniger zur Strecke brachte, und wird von dem Aranen, der ihn umklammert hat, zum Ofen gezerrt.

Hier ruft Lussin erneut das Schutzfeld. Kontrolliert die Zeit, Freunde! Lussin ruft das rettende Feld, eine zehntel Sekunde bevor sich die Ofenkontakte schließen. Diese zehntel Sekunde hätte zur Rettung vollauf genügt! Aber das Feld erscheint nicht, da, das bleibt aus! Es ist durch ein fremdes Feld blockiert, ein unerwartetes Feld, unsere Geräte haben es nicht gepeilt, aber es ist vorhanden, es hat unsere Felder gebremst. Der Moment, da das Feld gerufen wird, und der Moment, da seine Wirkung beginnt, sind durch eine zehntel Sekunde getrennt, ein unwahrscheinlich langes Intervall! Und daneben, beachten Sie auch dies, steht Oan, genau eine zehntel Sekunde, genau diese eine zehntel Sekunde steht er regungslos da, und dann macht er eine Bewegung zur Seite, und mit der Genauigkeit bis zu einer Mikrosekunde fallt seine Bewegung mit dem Verschwinden des bremsenden Feldes zusammen. Wer, wenn nicht er, hat das bremsende Feld generiert, das Lussin zugrunde richtete?

Durch wen, wenn nicht durch ihn, wurde für eine zehntel Sekunde die unsichtbare Bremse betätigt?«

Herausfordernd musterte ich die Versammelten.

Grazi schüttelte den Kopf. »Eli, deine Erwägungen sind eindrucksvoll, entbehren jedoch direkter Beweise. Nicht einmal unsere großartigen Analysatoren haben Oans Gegenfeld entdeckt, aber nur das könnte als direkter Beweis dienen. Bedenke, daß kein einziger Arane fähig ist, Kraftfelder zu erzeugen.«

»Dann seht euch ein anderes Bild an! Unser auf Lussin konzentriertes Feld hat zugeschlagen, die Aranen wirbeln wie katapultiert über den Platz. Nur einer regt sich nicht wie eine gußeiserne Statue bei leichtem Wind. Und dieser einzige ist wieder – Oan!

Stellen Sie eine ganz einfache Rechnung an: Wieviel muß Oan wiegen, um so, ohne zu schwanken, im Kraftstrom zu verharren?«

»Mindestens hundertfünfzig Tonnen!« rief Olga.

»Hundertfünfzig Tonnen, Freunde! Doch Oan wiegt keine hundert Kilogramm! Ist das nicht überzeugend? Bleibt da noch Raum für Zweifel?«

Erneut trat eine Pause ein.

Dann sagte Romero vorsichtig: »Admiral, Sie zeigen uns, was Lussins Tod verursachte. Aber das Todbringende ist nicht immer der Mörder. Jedenfalls nicht im Sinne eines Verbrechens. Ich würde vorschlagen, mit Oan selbst zu sprechen.«

»Mit Lussins Mörder freundschaftlich sprechen, Pawel? Ihn freundschaftlich befragen?« Ich war empört.

»Wieso freundschaftlich? Wieso befragen? In alten Zeiten gab es für solche Gespräche einen sachlichen Terminus-Verhör. Es fanden hochnotpeinliche und einfache Verhöre statt. Gut wäre es, Oan hochnotpeinlich zu verhören. Und Sie sollten die Rolle eines Untersuchungsführers oder Staatsanwalts übernehmen, während wir, wie bei den damaligen Gerichtsverhandlungen, als Richter, Geschworene, Advokaten sowie auch als Zeugen und Zuschauer agieren.«

»Merkwürdige Bräuche waren das früher bei Ihnen«, sagte Grazi. »Befragungen und Verhöre, hochnotpeinlich und einfach, Richter, Geschworene, Advokaten, Zeugen, Zuschauer… Sicherlich hatte man eine Vorliebe für Gerichtsveranstaltungen, eine Art Theater wahrscheinlich, für das sich ihre Vorfahren wohl ebenfalls begeisterten?«

»Nun, Theater war das nicht, was die Richter und die Staatsanwälte machten«, versicherte Romero.

»Aber die Zuschauer waren auch in den Theatern anzutreffen, besonders dann, wenn die Schauspieler Verbrecher und Staatsanwälte spielten. Das war stets äußerst spannend.«

Romero hätte sich gewiß noch länger über die alten Bräuche ausgelassen, wenn Oleg nicht wieder auf unser Thema zu sprechen gekommen wäre. Gegen ein Verhör Oans konnte ich nichts einwenden. So wurde es für den nächsten Tag angesetzt. Der ungeduldige Kamagin wollte den Aranen unverzüglich rufen, aber dem stimmte ich nicht zu. Wir mußten uns nicht nur psychologisch, sondern auch technisch vorbereiten.

»Und nun zu dem Strahl, der die ,Stier‘ ereilte«, sagte Oleg.

Über den Strahl gab es nichts zu reden, da wir über ihn nichts wußten. Ich wiederholte, was ich schon Olga erklärt hatte: Die Ramiren hatten Krieg angefangen, der Strahl war ihre Vernichtungswaffe, mit der sie auch Allans Geschwader ausgelöscht hatten. Olga bemerkte, daß die unbekannten Gegner die Stärke ihrer Waffe, sofern es sich um eine Waffe handelte, meisterhaft variierten. Die Besatzungen des ersten Geschwaders hatten den Tod gefunden, die Sternenflugzeuge aber waren zur Basis zurückgekehrt, kein einziger der Automaten war von dem programmierten Kurs abgewichen. Mit der »Stier« dagegen war man schonungslos verfahren, sie war völlig eingeäschert worden. Und den Schlag gegen den Roten hatte man noch schonungsloser geführt. Da war praktisch ein kosmisches Gestirn zugrunde gegangen, kein winziges Schiff nach galaktischen Maßstäben. Man mußte der Wahrheit ins Auge sehen – einer solchen Waffe waren wir schutzlos ausgeliefert.

»Ich will versuchen, beim morgigen Verhör etwas über den Strahl herauszubekommen«, versprach ich, »Wenn wir wissen, wie und wo man ihn generiert, können wir über Abwehrmittel nachdenken.«

»Bleib noch, Admiral«, bat mich Ellon, als ich den Raum nach der Konferenz verlassen wollte. Ich setzte mich, wie ich es meistens tat, auf eine Tatze des Drachens. Ellon sagte, und er verzerrte beängstigend den Mund dabei: »Du hast mich überzeugt. Oan ist ein Abgesandter der Ramiren. Aber ist es nicht leichtsinnig, ihn offen zu verhören? Wenn Oan der ist, wofür wir ihn halten, beantwortet er das Verhör mit einem Gewaltakt gegen uns.«

»Warum hast du das vorhin nicht geäußert, Ellon?« Er verzerrte den Mund noch mehr. »Ich mag die großen Konferenzen nicht, auf die ihr Menschen so versessen seid. Außerdem habe ich einen persönlichen Grund, unter vier Augen mit dir zu reden. Ich nenne ihn dir dann. Bedenke, Admiral! Das Verhör kann einen neuen Überfall heraufbeschwören. Ich kenne die Todesangst nicht, die bei euch und den Galakten so stark ausgeprägt ist. Wir, die Demiurgen, sind in dieser Hinsicht vollkommener. Aber mir tut Irina leid… Auch du tust mir leid, Admiral.«

Der Spion der Ramiren konnte, wenn er sich entdeckt sah, mit einer Attacke antworten, die Maske fallenlassen, wie Romero den Übergang vom Spionieren zum Kämpfen nennen würde. Aber sollten wir auch weiterhin einen Verräter an Bord dulden? Ich klopfte dem Drachen die Tatze. »Vagabund, du allein hast geschwiegen auf der Konferenz. Was meinst du?«

»Ellon hat recht«, zischelte der Drachen und schielte mich mit den vorgewölbten grünlichorangefarbenen Augen an. »Ein Verhör ist gefährlich. Statt Oan in die Enge zu treiben, sollten wir ihm aus dem Wege gehen. Es wäre vernünftiger, auf das Verhör zu verzichten, Eli.«

»Noch vernünftiger wäre es, sich überhaupt nicht um den Sternhaufen der Untergehenden Welten zu kümmern! Die Triebkräfte der Menschen stützen sich durchaus nicht immer allein auf die Vernunft. Lassen wir dieses Thema. Oan muß entlarvt werden!«

»Dann reden wir von etwas anderem. Oans Feld zu hundertfünfzig Tonnen ist eine Kleinigkeit für meine Generatoren. Selbst mit tausend Tonnen werde ich fertig. Aber wir brauchen einen Raum, in den sich die Schutzgeneratoren bequem fokussieren lassen. Und eine zuverlässige Abschirmung, damit Oan sich mit den Seinen nicht in Verbindung setzen kann. Verhöre ihn im Konservierungsraum«, sagte Ellon sachlich.

»Nur dort kann ich Sicherheit gewährleisten.«

»Meinetwegen. Vagabund kann dann zwar nicht teilnehmen, aber wir werden ihm einen Stereofilm zeigen.«

»Noch eine Frage, Admiral. Wie gedenkst du Oan zu verhören, wenn er im voraus alle deine noch nicht gestellten Fragen kennt? Oder hast du vergessen, daß ihm unsere Gedanken kein Geheimnis sind?«

»Ich werde mich bemühen, meine Gedanken unter Kontrolle zu haben. Woran ich auch denken werde, Oan wird es nicht erfahren.«

»Richtig, Admiral. Irina und ich haben Oans Denkfähigkeiten erforscht. Ohne sein Wissen, selbstverständlich. Und wir haben herausbekommen, daß Oan nur die in seiner Gegenwart sich formenden Gedanken liest. Die in unseren Gehirnen gespeicherten Kenntnisse sind ihm verschlossen.«

»Habt ihr eine Erklärung dafür?«

»Wahrscheinlich ist Oan, ebenso wie alle elektrischen Spinnen, in der Lage, die Mikropotentiale des Gehirns sehr differenziert wahrzunehmen. Unsere Gedanken empfindet er elektrisch, das ist des Rätsels Lösung. Aber morgen bereite ich ihm eine Überraschung. Ich werde den Konservierungsraum mit Mikroentladungen füllen, die das elektrische Gehirnbild löschen. Und du, Admiral, beharre nicht auf einzelnen Gedanken, um deine Potentiale nicht zu verstärken.«

»Danke, daß du mich informiert hast. Und nun sag mir, Ellon, welchen persönlichen Grund hast du, nicht im Beisein anderer mit mir zu sprechen!«

»Errätst du es nicht, Admiral?«

Seine dunklen Augen brannten. Ehrgeiz, der so unmäßig war, daß er alle übrigen Gefühle überlagerte, sprach aus jedem Wort.

»Ich hatte den Eindruck, als wärest du nervös, bevor ich Oan nannte. Fürchtetest du, daß ich dich als Verräter anprangern würde?«

»Ja, ja!« schrie er und hüpfte auf den dünnen Beinen. »Davor hatte ich Angst. Und weißt du, was ich mir überlegte?«

»Woher soll ich deine Gedanken kennen?«

»Das solltest du aber, Admiral! Oan liest unsere Gedanken, und ihm fällt es leichter als uns. Ich überlegte mir, daß ich mich nicht würde rechtfertigen können, wenn du mich beschuldigtest. Eine Beschuldigung wäre stärker als meine Rechtfertigungen, da sie zielgerichtet ist, da sie nur die notwendigen Fakten auswählt und die übrigen ignoriert, da sie die ausgewählten Fakten zu einem festen Band von Ursachen und Folgen verknüpft… Ich hatte Angst, Admiral!« »Ich ahnte nicht, daß du dieses Gefühl kennst, Ellon.«

»Ich kenne es nicht, wenn ich an die Feinde denke.

Aber euch fürchte ich! Und ich fürchte nicht eure Stärke, sondern eure Irrtümer. Ich fürchte die Überzeugungskraft eurer Fehler, die Beweisfähigkeit eurer Fehlkalkulationen, das Ansteckende eures Unverstandes! Wir sind verschieden. Zwischen uns liegt Entfremdung. Vielleicht wird sie erst in tausend Jahren überwunden… Ich hatte Angst, Eli, ich bekenne es.«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er war kein Mensch und betonte das gern. Er frondierte mit seiner Besonderheit. Wären auf dem Sternenflugzeug Kinder gewesen, so hätte es ihm Spaß gemacht, sie zu erschrecken. Aber er war anders, als er zu scheinen bemüht war. Ich sagte freundlich: »Du unterschätzt den menschlichen Scharfsinn, Ellon.«

»Bewahre ihn dir beim morgigen Verhör«, antwortete er.

2

Den Abend verbrachten Mary und ich allein. Ich wollte mich konzentrieren. Mary stört meinen Gedankenfluß nicht, sie fügt sich ihm so ein, als wären wir beide eins. Ihren Eigensinn, ihre Spottlust und ihre Vorwürfe hebt sich Mary für andere Gelegenheiten auf, da macht sie sich Luft. In ernsten Dingen ist sie ernst. Unsinnig wäre es, zu sagen, daß ich sie nur deswegen liebe. Sie ist eine Hälfte meiner selbst. Der Ausdruck ist abgegriffen, dennoch empfinde ich seinen Sinn so tief, als wäre ich mir zum erstenmal darüber klargeworden. Er ist eine Entdeckung für mich, keine Schablone.

»Was meinst du, ist Oan ein Phantom?« fragte sie, als ich gerade darüber nachdachte.

Ich entgegnete mir und ihr: »Das wäre zu arg!«

»Warum zu arg? Unsere Vorfahren lernten optische Gestalten auf einen Bildschirm zu übertragen, wir sind in der Lage, unser Abbild auf weite Entfernung zu transponieren und ein Gespräch mit einem Abbild wie mit dem Menschen selbst zu führen. Die Demiurgen statten ihre Phantome mit einem beträchtlichen Teil Stofflichkeit aus. Ob die Ramiren auf dem Wege, das Geisterhafte zu verringern, nicht noch weiter vorgeschritten sind? Haben sie vielleicht eine Methode gefunden, die Körpergestalt vollständig zu dublieren? Mir scheint, dies ist ein Problem des technischen Niveaus, kein prinzipielles.«

Wir alle hatten solche Gedanken, Mary äußerte sie nur klarer. Außerdem hatte Oan selbst erwähnt, daß die Grausamen Götter den Planeten in der Gestalt von Aranen besuchten. Wir waren in einen Tarnanzug geschlüpft, der einen Aranen darstellte, doch bei ihnen wurde die gewählte Gestalt zum eigenen Körper. In Worten war der Unterschied einfach, doch mir schwindelte, wenn ich überlegte, welch ein Sprung die Technik beider Zivilisationen trennen mußte, damit ein solcher Unterschied möglich wurde.

Diese Gedanken nahmen mich derart gefangen, daß ich mich am Morgen zu Olga begab, um mich mit ihr zu beraten. Olga hatte sich bei Irina einquartiert, obwohl es auf dem Schiff freie Räume gab und Oleg ihr angeboten hatte, sich einen beliebigen auszusuchen. Irina wollte gerade ins Labor gehen, Olga rechnete.

»Wenn du nicht leben kannst, ohne etwas zu berechnen, dann mach auch für mich mal einen kleinen Überschlag«, sagte ich. »Bestimm bitte den Stofflichkeitsgrad von Gespenstern.«

»Von Gespenstern, Eli? Von was für Gespenstern?«

»Von allen möglichen. Fang mit der Großmutter irgendeines englischen Lords an, die eines gewaltsamen Todes gestorben ist, und ende mit Oan.«

»Ist Oan denn ein Trugbild?«

»Das sollst du mir sagen.«

Olga machte sich gelassen an die Arbeit. Hätte man sie gefragt, welches Dutzend Teufel am teuflischsten sei und welches Dutzend Götter am göttlichsten, so hätte sie sicherlich, ohne sich zu erkundigen, ob Teufel oder Götter real existieren, seelenruhig begonnen, die Aufgabe mathematisch zu lösen. Die Schiffsmaschine mit ihrer Unmasse von Daten stand nicht zur Verfügung, und Olga sandte eine Anfrage an die Schiffsbibliothek, wo akademische Bänder für alle Lebenslagen aufbewahrt wurden. Neugierig beobachtete ich, wie sich in dem Fensterchen der Rechenmaschine, auf deren Tasten Olga ihre Fragen hämmerte, Kolonnen achtstelliger Ziffern aufbauten. Keine einzige sagte mir etwas.

»Die vorläufige Antwort haben wir. Die Fehlerquote beträgt höchstens viereinhalb Prozent«, sagte Olga. »Was die Gespenster verblichener Lords und ihrer Gemahlinnen betrifft, die in den Gemächern alter Schlösser umgehen, so hatten sie eine ziemlich hohe Stofflichkeit – achtzehn bis zweiundzwanzig Prozent. Die Statue des Komturs, der Don Juan tötete, besaß siebenunddreißig Prozent Stofflichkeit. Der Schatten von Hamlets Vater neunundzwanzig. Das berühmte Gespenst von Canterville stellte einen Rekord auf neununddreißig. Die Kinematographenhelden dagegen erreichten nie mehr als vier Prozent…«

»Halt ein, halt ein, was für ein Unsinn!« unterbrach ich sie. »Weder der Steinerne Gast noch die Gespensterlords existieren real, du aber schreibst ihnen einen so hohen Prozentsatz Stofflichkeit zu. Die auf Bildschirmen physikalisch dargestellten Menschen dagegen sind bei dir gespensterhafter als die Gespenster. Das ist doch ungereimtes Zeug!«

»Das ist es nicht«, sagte Olga. »Die Stofflichkeit eines Trugbilds ist nicht nur physikalisch, sondern auch psychologisch zu verstehen. Sowohl die Gespenster der mittelalterlichen Schlösser als auch der Steinerne Gast und Hamlets Vater waren psychologisch derart glaubwürdig, daß allein dies ihre Nichtphysikalität sozusagen ausstach. Sind denn nicht Fälle bekannt, da Leute Brandblasen bekamen, wenn sie ein Stück kalten Eisens berührten, von dem sie glaubten, es glühe? Von den Filmhelden wußte man jedoch von vornherein, daß sie weiter nichts als optische Abbildungen, Illusionen wären.«

»Gut. Fahre fort, Olga. Was sagst du zu Oan?«

»Erst sage ich etwas über die Phantome der Zerstörer. Als Orlan in Gestalt eines Phantoms bei uns auf der ‚Bootes‘ erstand, besaß er mindestens fünfzig Prozent Stofflichkeit. Fünfzig Prozent Körperlichkeit waren überhaupt das Höchste, was die Zerstörer bei Phantomen leisteten, sie schufen zur Hälfte reale Erscheinungen. Die von André in der Schlacht auf dem Dritten Planeten erzeugten Phantome dagegen hatten weniger Körperlichkeit. André vermochte es den Zerstörern nicht gleichzutun, seine Schöpfungen brachten es mit Müh und Not auf zwanzig Prozent Stofflichkeit. Manche Gespenster in mittelalterlichen Schlössern…«

»Olga, mich interessieren nicht die zwanzigprozentigen Ladys, die mit wirren Haaren durch dunkle Korridore geistern! Ich frage nach Oan.«

»Auf ihn will ich gerade zu sprechen kommen. Ich bin nicht überzeugt, daß Oan ein Phantom ist. Aber wenn er eins ist, so liegt seine Stofflichkeit nicht unter achtzig Prozent. Er ist also fast ein vollwertiges Wesen.«

Olgas Berechnung bestätigte meine Befürchtungen.

Davon wurde meine Stimmung nicht besser.

»Komm«, sagte ich. »Man wartet schon auf uns.«

Oan kam in den Konservierungsraum gehüpft, hurtig, geschäftig, wohlwollend. Nur so bewegte er sich auf dem Schiff. Freundlich winkte er mit den Armhaaren. Ich wurde die Empfindung nicht los, als sei er nicht wirklich anwesend, als trage er eine Maske, als sei er kein reales Wesen, sondern ein Trugbild, maximal mit Stofflichkeit ausgestattet. In Gedanken wies ich mich zurecht. Oans Seltsamkeit war Artmerkmal der Aranen, in deren Maske er auftrat. Sein Geheimnis bestand nicht in der äußeren Gestalt, es lag tiefer und war bedrohlicher; wir durften uns nicht bei der malerischen Oberfläche aufhalten, sondern mußten in die unheilvolle Tiefe vordringen.

»Oan, unser Geschwader ist zu zwei Dritteln vernichtet«, sagte ich, »unsere Kameraden sind umgekommen. Weißt du etwas über den verfluchten Strahl, der so plötzlich in die ,Stier‘ gefahren ist? Woher kommt er? Welcher Art ist er?«

Während ich sprach, stellte ich voller Genugtuung fest, daß Oan überrascht, beinahe verwirrt war. Offenbar verblüffte ihn, daß er heute Mühe hatte, unsere Gedanken zu lesen. Und seine Antworten erklangen weniger deutlich als sonst in uns. Das von Ellon verursachte elektrische Durcheinander störte in gewissem Maße auch uns selbst.

Selbstverständlich wußte er nichts über den Strahl.

In ihrem Sternhaufen habe man solche Erscheinungen nie beobachtet – zumindest seit der Zeit nicht, da die Aranen auf kosmische Flüge verzichteten. Die Überlieferungen enthielten ebenfalls keinen Hinweis.

»Die Natur des Strahls mag dir unbekannt sein, aber du weißt vielleicht, durch wen er generiert wurde und warum er sich ausgerechnet ins Sternenflugzeug bohrte!« Darauf hatte Oan die Standardantwort:

»Ihr habt die Grausamen Götter erzürnt. Die Götter haben euch streng bestraft.«

»Bestraft? Warum eigentlich? Wodurch haben wir eure rachsüchtigen Götter erzürnt?«

»Nicht rachsüchtig – streng, Eli.«

Oans Richtigstellung erklang in jedem von uns auf die gleiche Weise. Wir trugen, auf meine Bitte, Dechiffriergeräte am Arm, die aufzeichneten, was Oan uns übermittelte. Später verglichen wir. Oans Antworten unterschieden sich nur im Ausdruck, diese Frage aber hatte er einheitlich für alle beantwortet.

»Nun gut, der strengen, nicht der rachsüchtigen.

Meerrettich ist nicht süßer als Rettich. Schau nicht so erstaunt, Oan, das ist ein Sprichwort von uns Menschen. Erkläre uns nun etwas anderes. Unsere Denkmaschinen sind durch unbekannte Kräfte blockiert.

Auf der , Rammbock‘ war das logische Operationsschema gestört…«

»Das Schema des zeitlichen Zusammenhangs«, unterbrach er. »Ich habe euch bereits gesagt: Die Maschine hat Zeitkrebs.«

»Ja, das hast du gesagt. Sagen bedeutet nicht erklären. Sprechen wir von der kranken Zeit, Oan. Da ist etwas, was wir nicht verstehen. Wie ist es zu der kranken Zeit in eurem Sternbild der Untergehenden Welten gekommen?«

»Die Tätigkeit der Grausamen Götter hat dazu geführt.«

»Mächtig tatkräftig sind sie, wenn sie den Lauf der Zeit ändern können. So weit sind wir noch nicht. Wir sind ja auch keine Götter. Aber worin äußert sich ihre Tätigkeit? Kannst du uns das sagen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie solltest du auch! Woher soll ein Arane wissen, was die Götter machen, zudem noch so strenge!

Denn sie beraten sich ja nicht mit euch, nicht wahr, Oan? Kehren wir zu der Frage nach der Zeit zurück.

Kranke Zeit, mürbe Zeit, geborstene Zeit, das sind doch Allegorien für eine irgendwie veränderte Zeit, nicht wahr? Warum mußtest du mit deinen Kameraden den unendlich gefährlichen Versuch unternehmen, zur Oberfläche eines implodierenden Sterns vorzudringen, um in den Strom seiner veränderten Zeit zu tauchen, wenn es hier, in eurem untergehenden Sternbild, mehr als genug Beispiele für beliebige Zeitveränderung gibt? Du hast doch auch gesagt, Oan, daß der Zeitkrebs eine Geißel der hiesigen Örtlichkeiten sei!«

»Du verwechselst die kranke Zeit mit der transformierten. Wir haben eine geborstene, bröcklige Zeit, sie läßt sich schlecht benutzen. Doch ein Kollapsar hat eine komprimierte Zeit, sie ist eine Feder, kein Lumpen. Gelänge es, sich ihrer zu bemächtigen, könnte man beliebige Planeten und ganze Sternbilder, die in einer erschlafften Zeit untergehen, in die Zukunft, in die Vergangenheit, ins seitliche ,Jetzt‘ verlagern.«

Da begriff ich, daß ich ihn ertappt hatte. Ich blickte zu Ellon hinüber. Der hob kaum merklich die Hand, er war bereit. Oan erkannte, daß er entdeckt war. Die beiden unteren Augen leuchteten wie vorher freundlich und gutmütig, beinahe servil. Das stechende jedoch verriet uns Oans Zustand. Das war ein wahrhaft böses Auge!

»Früher sagtest du, daß ihr, du und deine Kameraden, Flüchtlinge wäret«, konstatierte ich gelassen.

»Nun stellt sich heraus, daß ihr Experimentatoren wart. Es ging euch weniger um Flucht als vielmehr darum, jene Krümmung des Zeitstromes, durch die man fliehen kann, im Prinzip in eure Gewalt zu bekommen. Schätze ich eure Aktionen richtig ein, Oan?«

Er versuchte sein Gesicht zu wahren. »Richtig.

Man gelangt in die Zukunft, wenn man den natürlichen Zeitverlauf umgeht. Wir prüften, ob man auch in die Vergangenheit gleiten könne. Im geraden Zeitverlauf ist sie unerreichbar, weil sie unwiederbringlich ist. Die Zukunft ist wie durch eine sehr niedrige Decke begrenzt, die reale Gegenwart. Die Vergangenheit durch einen undurchdringlichen Fußboden, ebenfalls die reale Gegenwart. Ihr entschlüpft man nur, wenn man die Zeit umgeht, nicht, wenn man ihrem geraden Lauf folgt. Da bleiben wir immer im Jetzt’. Eben diese ,Umleitungen‘ aus der Gegenwart in die Zukunft und die Vergangenheit suchten wir. Nur in den Kollapsaren verwirklichen sie sich. Sie sind die besten natürlichen Öfen zur Aufheizung und Krümmung der Zeit.«

»Und nach allem, was du uns erzählt hast, Oan«, sagte ich langsam, »willst du weiterhin behaupten, ihr wäret Aranen, deine umgekommenen Kameraden und du?«

Er antwortete nicht. Mit ihm vollzog sich eine verblüffende Veränderung. Er verging. Er blieb noch und entschwand schon. Er war und hörte auf zu sein. Er wurde durchsichtig, verwandelte sich aus einem Körper in einen Schatten. Er stürzte in ein verteufeltes Anderssein und hinterließ uns nur seine Silhouette.

»Ellon! Ellon!« schrie ich verzweifelt.

Ellon wollte die Stärke der Schutzfelder nicht an uns erproben, aber zögern durfte er nicht, und so wurden wir alle umhergeschleudert, als er seine Apparate in Gang setzte. Ich sprang auf, um zu dem vergehenden Oan zu rennen, stieß mit Romero zusammen und fiel erneut hin, Romero verlor den Spazierstock und fluchte. Oshima und Oleg wälzten sich auf dem Fußboden, Grazi und Orlan waren in eine Ecke gewirbelt worden. Aber Oan blieb. In dem Moment, als er schon zu drei Vierteln verschwunden war, hatten ihn unsichtbare Klammern gepackt.

Nun schwebte er über uns, die zwölf Beine gestreckt, die schwarzen Armhaare zerrauft. Die beiden unteren, weit geöffneten Augen sahen uns nicht mehr, das obere hatte den stechenden Ausdruck verloren und wirkte wie halb erblindet. Ein Funke, der zwischen den Haaren gesprungen war, verharrte bei halber Entladung. Die Flucht aus unserer Zeit war Oan mißglückt, in der letzten Sekunde seines Hierseins war er festgehalten, fixiert worden, für ewig und unverrückbar.

»Wunderbar, Ellon!« Ich trat rasch auf den erstarrten Feind zu, prallte gegen ein unsichtbares Hindernis und wich zurück.

»Du hast wohl vergessen, Admiral, daß du einst in einem Käfig wie diesem throntest und dich dort gewiß nicht sonderlich amüsiertest«, sagte Ellon.

Ich kann nicht behaupten, daß mir die scherzhafte Erinnerung daran angenehm wäre. Und in jeder anderen Situation hätte ich Ellon zu verstehen gegeben, daß er ein Demiurg sei, kein Zerstörer, und er sich taktvoller zu benehmen habe. Aber jetzt hätte ich ihm auch größere Vergehen verziehen. Ich fuhr mit der Hand über den Kraftkäfig.

»In meinem durchsichtigen Kerker lebte ich, Ellon.

Ich spazierte umher, sprach, hörte, schlief, träumte prophetische Träume und lachte im Traum über euch… Lebt Oan? Ist die Kraftmauer fest genug, wenn er plötzlich erwacht?«

»Er darf nicht erwachen, Eli. Zu unserem Glück entglitt er langsam, nicht schlagartig. Er schleuderte nur seine Lebensenergie aus dem Diesseits, kam jedoch nicht dazu, das träge körperliche Knochengerüst wegzuschaffen. Ich habe Oan im letzten Moment seiner Existenz fixiert. Und dieser Moment wird ewig dauern. Sollte Oan durch irgendein Wunder zum Leben erwachen, so vermag er die durchsichtigen Wände nicht zu sprengen.«

Ich mußte an Olgas Berechnung denken. Selbstverständlich hatte sie sich nicht geirrt. Die optischen Darstellungen besaßen tatsächlich so wenig Stofflichkeit, daß wir sie im Nu von den Bildschirmen wischten, eine Schalterdrehung genügte! Um die Phantome auf dem Dritten Planeten auszurotten, hatte André nur Energieschwingungen in ihnen hervorzurufen brauchen. Wenn es sich bei unserem Gefangenen um ein Phantom handelte, so war er ein Opfer seiner Vollkommenheit geworden. Aber war er ein Phantom?

Oshima rappelte sich mit Olegs Hilfe auf. Der energische Kapitän war so nah wie sonst keiner an Oan herangesprungen und hatte am meisten abbekommen.

»Was wollen wir mit diesem Popanz machen, Eli?« fragte Oleg.

Ich wies auf den Platz gegenüber Lussins Sarkophag. »Stellen wir den Verräter dorthin. Mag der Mörder reuevoll auf sein Opfer blicken.«

Oleg seufzte. »Das Verhör war enttäuschend. Wir wissen immer noch nicht, wodurch wir die Ramiren erzürnt haben, welche Gefahren uns drohen und wie wir die Schäden beheben sollen. Und vor allem nichts haben wir über den Kampfstrahl der Ramiren erfahren.«

»Dafür ist nun klar, daß die Ramiren keineswegs so grenzenlos mächtig sind, wie wir befürchteten. Ihr Spion hat zugegeben, daß sie in der Implosion eines Kollapsars mit der Zeit experimentierten, um Methoden zu finden, wie man sie nutzen könne. Die Ramiren suchen, folglich haben sie nicht alles, beherrschen sie nicht alles. Ist das nicht tröstlich?«

Romero lachte ironisch. »Sie freuen sich, Eli, als hätten Sie geglaubt, es handele sich um vollkommene Götter, und wären nun erleichtert, da Sie Ihren Irrtum einsehen.«

Ich freute mich tatsächlich, allerdings aus einem anderen Grund. Ob die Ramiren göttlich waren oder nicht, kümmerte mich wenig. Aber ich war nahe daran gewesen, ihre Macht für unermeßlich zu halten, wie ich an ihrer Grausamkeit nicht zweifelte. Oans Verhör bewies, daß ihnen, auch ihrer Macht, Schranken gesetzt waren. Weshalb hätten sie es sonst nötig gehabt, so feig auszureißen? In der technischen Entwicklung waren sie uns ein beträchtliches Stück voraus, doch das war keine Überlegenheit, vor der wir zurückschreckten.

Ich sagte: »Eins ist jedenfalls erreicht, Freunde:

Den feindlichen Späher, der sich unter uns befand, haben wir unschädlich gemacht. Wenn der Kampf mit den Ramiren weitergeht, haben sie einen wichtigen Vorteil eingebüßt!«

3

Tagelang war das Pilgern zum Konservierungsraum Hauptbeschäftigung auf dem Schiff. Mary und ich gingen, Trub flog, Gig eilte hin, selbst Vagabund, der seit Lussins Tod kränkelte, raffte sich auf, kroch hin und streckte den Kopf in den Raum. Gig drohte der Silhouette des Verräters mit der Knochenhand, Trub stürzte sich wütend auf den Verschlag, wie wir ihn nannten, denn es wäre lächerlich gewesen, den durchsichtigen Käfig als Kerker zu bezeichnen, und versuchte ihn mit den Krallen zu zerreißen, aber er prallte zurück wie unlängst ich. Der Engel weinte vor Empörung und Ohnmacht, die Tränen tropften ihm auf den grauen Backenbart und benetzten die Flügel.

Gig klapperte mitleidig mit den Knochen, und Vagabund sagte nachdenklich zu mir: »Bist du sicher, daß er tot ist, Eli? Er hat sich verändert, aber in dieser seltsamen Welt, wo körperliche Transformationen gang und gäbe sind…«

»Es ist kein Leben in ihm. Wenn das Fehlen von Leben Tod bedeutet, so ist Oan tot.«

»Das Fehlen von Leben bedeutet selbstverständlich Tod«, stimmte der Drachen zu.

Als Oans Verschlag auf dem ihm zugewiesenen Platz stand, sagte Ellon befriedigt: »Admiral, ich halte die Zeit gefangen, habe sie abgeschaltet. Die Spinne, die du zu unserem Leidwesen aufs Schiff brachtest, befindet sich jetzt außerhalb der Zeit. Wir altern, sterben, werden Tausende Male in den Nachkommen wiedergeboren, doch er wird ewig derselbe bleiben.

Und nun will ich mich einer wichtigeren Sache widmen. Nachdem es mir gelungen ist, eine unbewegliche, für ewig konservierte Zeit zu schaffen, will ich mich an ihrer Dynamisierung versuchen! Mit diesem Problem hat sich noch nie ein Demiurg befaßt! Und ein Mensch ebenfalls nicht«, fügte er beinahe höflich hinzu.

»Wie soll ich dich verstehen?« fragte ich.

Er grinste breit. Wir alle liefen bedrückt umher seit der Katastrophe, nur Ellon war frohgestimmt. Für ihn bestand der Sinn des Daseins in technischen Entwicklungen. Er hatte ein neues Forschungsthema gefunden, eine wichtige Entdeckung in Aussicht, wie sollte er da nicht frohgestimmt sein?

»Ich möchte einen Mikrokollapsar bauen, um zu sehen, wie er die Zeit transformiert.« Er bemerkte meine besorgte Miene und fügte beruhigend hinzu:

»Keine Angst, das spielt sich einstweilen auf Atomniveau ab. Es handelt sich da nicht um die Makrozeit, in der wir beide leben. Und wenn der Mikrozeitgenerator funktioniert, werden wir den unwissenden Ramiren zeigen, daß sie es mit uns noch lange nicht aufnehmen können. Sie suchten kosmische Kollapsare, ich baue einen im Laboratorium.« Wie üblich lachte er schallend.

Ich gehe oft in den Konservierungsraum. Dort kann ich am besten nachdenken. Ich erinnere mich, wie ich dem in ein Kraftgestell gespannten Feind zum erstenmal allein gegenübertrat. Ich könnte nicht erklären, was mich trieb, mich Oan gegenüber hinzusetzen und mit ihm zu sprechen. Ich erzählte von meinen Kümmernissen, meinem Haß auf ihn und auch davon, daß man uns vernichten könnte, nicht aber zwingen zurückzuweichen. Allem zum Trotz würden wir weiter vorwärts gehen.

»Du bist also tot, Oan«, sagte ich. »Bist endlich tot, du Verräter! In einem alten Buch heißt es: Wir alle tun den Willen desjenigen, der uns entsandt hat. Du handeltest nach dem Willen deiner grausamen Herren, vielleicht bist du einer von ihnen, hast dir nur eine fremde Maske übergestülpt, von dir ist alles zu erwarten, jede Gestalt, jede böse Tat! Nein, nun ist nichts mehr von dir zu erwarten, du bist außerhalb der Zeit, außerhalb des Lebens, selbst außerhalb einer Gestalt, du bist eine im Hinschwinden festgehaltene Silhouette, die materialisierte Erinnerung an einen bestraften Verräter, ja, das bist du!«

Ich keuchte vor Kummer, holte tief Atem und sagte nach einer Weile: »Wir tun den Willen desjenigen, der uns entsandt hat… Wir, die Menschen und die Sternenfreunde der Menschen, tun den Willen derjenigen, die uns entsandt haben. Und man hat uns von weit her in eure Untergehenden Welten entsandt, um zu erkunden, wie die vernunftbegabten Wesen hier leben, um ihnen zu helfen, falls sie Hilfe brauchen, um sie zu unseren Freunden zu machen, um von ihnen zu lernen, falls es etwas zu lernen gibt. Du kannst das nicht verstehen. Du weißt nicht, was Liebe eines Lebenden zu einem Lebenden ist. Du bist Haß und Geringschätzung. Aber Haß verdient nur Haß. Haß bringt keine Liebe hervor, wie ein Hund keine Fische hervorbringt, ein Fisch keinen Adler. Hänge also. Verhaßter, hänge ewig!«

So redete ich mit dem Toten, erleichterte mir das Herz, und als ich mich ein wenig beruhigte, begab ich mich in den Kommandeursaal. Oleg, Oshima und Olga hatten das Sternenflugzeug der Obhut der Automaten überlassen und arbeiteten an einem Plan zur Rettung der Schiffe, die wir noch besaßen.

Oleg sagte zu mir: »Eli, die ,Widder‘ ist nicht mal mehr als Frachter zu gebrauchen. Olga meint, wir sollten die Besatzung gleichmäßig auf die ,Schlangenträger‘ und die ,Steinbock‘ verteilen, die wichtigen Mechanismen abmontieren, die Vorräte umladen und das Sternenflugzeug selbst annihilieren.«

»Um einen neuen Schlag heraufzubeschwören, der sich diesmal gegen die ,Schlangenträger‘ und die ,Steinbock‘ richten würde«, entgegnete ich finster.

»Oder hast du vergessen, daß die grausamen Herren der Untergehenden Welten entschieden gegen die Annihilation materieller Körper sind?«

»Dann sprengen wir die ,Widder’. Gegen Explosionen haben sie nichts. Unsere vernichteten Schiffe zeugen davon. Nun das Dringlichste, Eli. Wir müssen die Schiffsmaschine wiederherstellen. Das soll deine und Ellons Aufgabe sein.«

»Ellon hat vor, den Lauf der Zeit in Mikroprozessen zu ändern, um sich über die Erscheinungen klarzuwerden, die Oan als Zeitkrebs bezeichnete.«

Oshima brauste plötzlich auf. Der energische Kapitän litt unter der Untätigkeit. Er beherrschte sein Fach vortrefflichkühn führte er die Schiffe in unerforschte Weiten, mutig stürzte er sich in den Kampf, ohne zu klagen hatte er einst die Qualen der Gefangenschaft erduldet. Er gehörte zu denen, die sich gern die Bürde des Nachbarn aufladen, mit der eigenen aber niemanden belasten. Im Unglück und in Stunden des Triumphs hatte ich ihn gleichbleibend umsichtig und elastisch wie eine gespannte Feder gesehen, ich konnte mir keinen besseren Kapitän für mein Schiff wünschen. Und früher hatte er mir nie Grobheiten gesagt, selbst dann nicht, wenn ich, müde und verwirrt, aus der Rolle gefallen war. Jetzt sagte er Grobheiten.

Hätte er, wie Romero aus Liebhaberei, die alten Flüche gekannt, so hätte er sich ihrer bedient. Romero bringt sie mit Gasse und Gosse in Verbindung, doch ich begreife nicht, was Flüche mit dem Ort zu tun haben, wo sie verwendet werden. Meiner Meinung nach hängen sie von der Stimmung des Fluchenden ab.

»Admiral, sind nicht genug Dummheiten angestellt worden? Kranke Zeit, bröcklige Zeit, löchrige, blasige… Abrakadabra, wenn nicht regelrechte Mystik!

Sie sind der wissenschaftliche Leiter der Expedition!

Legen Sie einen Plan vor, wie wir aus den Schwierigkeiten herauskommen, und wir werden ihn verwirklichen. Ich kenne Sie nicht wieder, Admiral! Früher hatten Sie Projekte schneller bei der Hand und setzten sie energischer in die Tat um!«

Unwillkürlich senkte ich den Kopf, um Oshimas zornigem Blick nicht zu begegnen. Wir alle hatten uns verändert, nicht allein ich, aber konnte ich mich damit rechtfertigen? Oleg schwieg und gab auf diese Weise zu verstehen, daß auch er mit mir unzufrieden war.

»Ihr habt recht, Freunde, wir müssen die Schiffe wieder manövrierfähig machen, das ist die dringlichste Aufgabe. Während ihr euch mit der Evakuierung der ,Widder‘ befaßt, werde ich mich bemühen, den Denkmaschinen beizukommen.«

Aus dem Kommandeursaal ging ich zum Drachen.

Vagabund ruhte müde auf dem Fußboden. Auf seinem Rücken spielten Trub und Gig Schafskopf. Das hatte Lussin ihnen beigebracht. Er hatte auch mich fürs Kartendreschen begeistern wollen, aber ich hatte die Regeln, von denen Lussin versicherte, sie wären einfach, nicht begriffen. Der Engel und der Unsichtbare spielten um Ohrfeigen, der Verlierer erhielt jeweils eine. Ich hatte einmal beobachtet, wie Gig nach verlorener Partie einen Flügelhieb abbekam, daß er bis unter die Decke flog und zu Boden plumpste. Es war ein Wunder, daß er sich nicht sämtliche Knochen gebrochen hatte. Gigs Ohrfeigen waren schwächer, dafür gewann er öfter. Die Unsichtbaren müßten ja Glück im Spiel haben, erklärte mir Gig stolz, ein Spiel wäre wie eine Schlacht, und bessere Krieger als die Unsichtbaren gäbe es nicht!

»Eli, setz dich zu uns!« rief Trub und kämmte sich mit den Krallen gravitätisch den buschigen Backenbart. »Wir können auch zu dritt spielen.«

»Ich möchte kein Schafskopf sein, nicht einmal im Spiel.«

»Dann pokern wir eben! Du wirst begeistert sein!« sagte Gig. »Da gibt’s eine Operation, wo man sich, wie wir vor einem Kampfe, in Unsichtbarkeit hüllt.

Das nennt sich Bluff! Eine wunderbare Sache ist das.

Ein ausgezeichnetes militärisches Manöver!«

Ich lehnte auch das Pokern ab. »Freunde, ich muß mit Vagabund allein sprechen«, sagte ich.

Trub schwang widerspruchslos die Flügel und flog zum Ausgang. Er hat sich an uns gewöhnt und liebt uns, ihm gegenüber bedarf es keiner Förmlichkeit.

Die Unsichtbaren sind da weit empfindlicher. Gig war unzufrieden. Ich puffte ihn freundschaftlich. Da lachte er und entfernte sich, ohne gekränkt zu sein.

»Vagabund, wie fühlst du dich?« fragte ich.

Er schielte spöttisch nach mir. Mit jedem Tag bereitete es ihm größere Mühe, den einst so biegsamen Hals zu bewegen. Und er spie kein Feuer mehr, nur eine dünne Rauchfahne wehte ihm aus dem Rachen.

In der kurzen Zeitspanne seit dem Start im Perseus hatte der Drachen alle Stadien des Verfalls durchgemacht, aus einem fliegenden Drachen hatte er sich in einen kriechenden verwandelt, aus einem kriechenden in einen liegenden. Bald wird kein Leben mehr in ihm sein, dachte ich voller Schmerz.

»Wie ich mich fühle?« zischelte er. Auch die laute, leicht lispelnde Stimme stand ihm nicht mehr zu Gebote.

»Es könnte schlimmer sein. Der Körper ist mir zu groß. Er drückt mich, Eli.«

»Sollen wir dir Schwerelosigkeit verschaffen? Da schwebst du ungehindert. Seltsam, daß wir nicht eher daraufgekommen sind…«

»Gut, daß wir nicht daraufgekommen sind. Die Jugend bringst du mir nicht wieder?«

»Das übersteigt meine Möglichkeiten.«

»Was soll mir Schwerelosigkeit ohne Jugend? Ist ein schwebender Greis besser als ein liegender? Ich gehöre nicht zu denen, die sich Täuschungen hingeben. Tätigsein, das ist es, was mir fehlt. Und gar nicht so sehr Tätigsein als vielmehr einfache Bewegung. Mein Leben lang habe ich mich nach Bewegung gesehnt.«

»Auch als du Drache geworden warst?«

»Nein, da habe ich mich an Bewegung gelabt, berauscht – im Übermaß. Damals war der Körper eine Freude für mich. Mein körperliches Leben war kurz, aber doch so, daß ich ein Drachenjahr nicht für ein Jahrtausend meines früheren Daseins hergeben würde. Danke, Eli, daß du mir diese Freude schenktest.«

»Du redest, als nähmest du Abschied. Bis zum Ende ist es noch weit.«

»Mein Ende ist nah. Ich würde vor meinem Tode nur noch gern eure Befreiung aus dem Unglück sehen.«

»Du wirst sie nicht nur sehen, du kannst auch dazu beitragen.«

»Ich verstehe nicht, Eli.«

»Höre, Vagabund. Hat man dir auf dem Bildschirm Oans Verhör gezeigt? Der Spion hat zugegeben, daß die Ramiren mit der Zeit experimentieren.

Also gibt es etwas, was auch sie nicht können! Sie sind nicht allmächtig und nicht allwissend. Es handelt sich bei ihnen um eine kosmische Zivilisation, die uns in der Entwicklung ein paar Millionen Jahre voraus ist, keineswegs um Götter! Ellon hat interessante Gedanken zur Transformation der Zeit entwickelt. Die Ramiren haben es soweit noch nicht gebracht. Ellon schimpft sie Ignoranten.«

»Ellon ist ein Prahler.«

»Ja, er wirft sich gern ein bißchen in die Brust.

Wichtig ist etwas anderes. Man kann den Ramiren die Stirn bieten. Unvorbereitet ließen wir uns in einen Kampf ein und wurden bestraft. Aber wir sind nicht zurückgewichen, und wir können auch nicht zurückweichen, denn unsere Schiffe sind manövrierunfähig.«

»Es liegt bei dir, Eli…«

»Hilf uns! Ruf dir ins Gedächtnis zurück, wie sich dir Sterne und Planeten fügten. Unterwirf dir die Sternenflugzeuge! Erwecke unsere Schiffe zum Leben!«

»Die Schiffe zum Leben erwecken? Ich, der ich mich nicht bewegen kann? Eli, du bist an der falschen Adresse.«

»Ich bin an der richtigen Adresse! Ja, du bist hinfällig geworden. Aber nur körperlich, nicht geistig!

Dein mächtiger Verstand ist noch genauso klar wie auf dem Dritten Planeten. Ersetze unsere Schiffsmaschinen-Gehirne! Konzentriere die Antriebe der Analysatoren und Vollzugsmechanismen bei dir.«

»Du vergißt meinen plumpen Körper!«

»Wir befreien dich von ihm! Versetzen dich in den früheren Zustand. Ich weiß, du hast dein damaliges Leben gehaßt. Aber das war das Leben eines unfreien Gefängniswärters. Ich biete dir die Funktion eines Befreiers, eines Retters der Freunde, die dich lieben und deine Hilfe dringend brauchen.«

»Lussin hätte das machen können. Lussin ist tot, Eli.«

»Ellon wird es machen. Die Demiurgen trennten einst dein junges Gehirn vom Körper eines Galakten, sie sind auch jetzt imstande, eine solche Operation vorzunehmen.«

»Ellon wird mich umbringen.« »Orlan soll bei der Operation die Aufsicht führen.

Ihm vertraust du?«

»Ja. Aber ich will, daß auch du dabei bist.« Er seufzte schwach. Die dünne Rauchfahne, die seinem Rachen eben noch entwichen war, versiegte. »Beeil dich! Das Leben entströmt mir, Eli…« Ich ging zu Orlan.

4

Auf dem Diwan bei Orlan thronte Grazi wie eine majestätische Statue. Erstaunt starrten sie mich an. Es war gut, daß ich sie zusammen traf. So brauchte ich nicht zweimal dasselbe zu sagen.

»Eine Operation, um das Gehirn vom Körper zu befreien, ist durchaus möglich«, sagte Orlan. »In Jahrtausenden wurde die Technik, Gehirne zu verselbständigen, bei uns derart vervollkommnet…«

Grazi schüttelte den Kopf. »Wieder ein lebendiges Gehirn für Dinge nutzen, die eure Mechanismen tadellos verrichteten, Eli…«

»Die Mechanismen sind defekt. Ich verstehe dich nicht, Grazi. Du müßtest stolz sein. Ein Verstand natürlicher Herkunft beweist, daß er einem toten Mechanismus überlegen ist!«

»Gehen wir zu Ellon«, sagte Orlan.

Ellon richtete einen Gravitationskondensator ein.

Auf dessen Belägen gedachte er ein Feld zu erzeugen, das, im Mikrostab, dem Gravitationsfeld eines Kollapsars äquivalent war. Im Grunde genommen war das ein Metrikgenerator, wie er benutzt wurde, um Gravitationsschnecken zu schaffen, der Unterschied bestand nur in der Konstruktion, nicht im Prinzip.

»Unsinn!« antwortete Ellon, nachdem ich ihm erklärt hatte, für welch eine dringende Operation ich ihn brauchte. »Drachen sind überflüssig. Ich habe eure Schiffsmaschine bald wieder repariert.«

»Was heißt bald, Ellon?«

»Bald heißt bald. Niemand greift uns mehr an. Wir brauchen uns nicht zu beeilen.«

»Wir müssen uns beeilen. Die Gesundheit des Drachens hat sich verschlechtert. Wir verlieren sein Gehirn, wenn wir es nicht von dem hinfälligen Körper erlösen.«

»Das wäre kein großer Verlust, Admiral.«

»Ich bestehe auf der Operation.«

»Ich werde nicht operieren!« Ellon funkelte mit den düsteren Augen und wandte sich dem Gravitationskondensator zu.

Orlans gebieterische Stimme ließ ihn innehalten.

»Ellon, ich habe dich noch nicht entlassen!«

Langsam drehte er sich um und sagte finster: »Muß ich dich um Erlaubnis bitten, wenn ich gehen will, Orlan?«

Orlan ignorierte die Frage verächtlich. »Du wurdest in Operationen dieser Art unterwiesen, nicht wahr? Soviel ich weiß, bereitetest du dich in der Schule auf das Examen eines Zerstörers der Vierten Reichskategorie vor! Oder irre ich mich, Ellon?«

»Auf alles mögliche haben wir uns vorbereitet, ehe wir befreit wurden! Jetzt bin ich Chefingenieur des Sternenflugzeuggeschwaders. Ich bin nicht verpflichtet, Bitten, die mir unangenehm sind, zu erfüllen.« »Bitten brauchst du nicht zu erfüllen. Dies ist ein Befehl, Ellon!«

Ellon starrte wütend in Orlans bläulich phosphoreszierendes, verschlossenes Gesicht. Ich erwähnte schon, daß ich das Verhältnis der beiden zueinander nicht begriff. Orlan hatte Angst vor Ellon, mitunter schien es, als schmeichle er ihm. Nun erkannte ich, daß das die Kehrseite seiner Freundschaft zu den Menschen war. Wir hatten sämtliche Ränge aufgehoben, nur die persönlichen Fähigkeiten dienten als Maß der Würde. Orlan versuchte zu zeigen, daß er die neue Ordnung von ganzem Herzen unterstütze, aber er schoß über das Ziel hinaus, er hatte das Gefühl für Gleichheit ja nicht mit der Muttermilch eingesogen.

Als Demiurg war er das Gegenteil eines Zerstörers, freiwillig erniedrigte er sich, um gewissermaßen die frühere Erhöhung abzubüßen. Jetzt waren bei beiden plötzlich die mühsam erworbenen neuen Umgangsformen abgefallen. Vor dem hochmütigen Zerstörer der Ersten Reichskategorie beugte sich unwillkürlich der jämmerliche Bedienstete der Vierten Kategorie.

Ellon, verwirrt, entrüstet, sträubte sich noch. »Ich verstehe dich nicht, Orlan…«

»Wann operierst du, Ellon?«

Ellon ließ den Kopf zwischen die Schultern krachen. Einen anderen Protest wagte er nicht mehr.

»Ich werde die Nährlösungen vorbereiten. Mit der Operation beginnen wir heute.«

Er krümmte sich geschmeidig zu unterwürfiger Verbeugung.

In der völligen Stille erklang Orlans eiserne Stimme. »Die Operation werde ich kontrollieren, Ellon!« Orlan entfernte sich unhörbar, und solange er noch im Raum war, streckte Ellon den Rücken nicht. Grazi machte größere Schritte als ich, aber auch er mußte sich anstrengen, um den Demiurgen einzuholen. Als ich mich ihnen näherte, war Orlan bereits wieder so, wie er sich unter uns bewegte, liebenswürdig, freundlich, mit gutmütigem Blick.

Ich konnte mir die Bemerkung nicht versagen: »Du warst sicherlich sehr gefürchtet, Orlan, als du zu den Lieblingswürdenträgern des Großen Zerstörers gehörtest.«

Er antwortete leidenschaftslos höflich: »Das ist so lange her, daß ich nicht immer glaube, es sei überhaupt gewesen.«

»Vagabund hat Angst vor der Operation und insbesondere davor, daß Ellon sie durchführt«, sagte ich.

Für einen Augenblick sah ich wieder den hochmütigen Würdenträger des Zerstörerreiches, nicht meinen Freund, den Demiurgen Orlan.

»Er braucht keine Angst zu haben. Den Demiurgen wird von klein auf Gehorsam und Sorgfalt anerzogen.

Ellon ist ein hervorragender Geist, aber hinsichtlich der Sorgfalt unterscheidet er sich nicht von den anderen Demiurgen.«

Ich kehrte zu Vagabund zurück. Romero unterhielt sich mit ihm. Es war eine einseitige Unterhaltung, denn nur Romero sprach, während Vagabund, Flügel und Tatzen kraftlos von sich gestreckt, zuhörte.

Wieder durchzuckte mich Schmerz, so kläglich lag der Drachen da, der sich noch vor kurzem höher als Pegasusse, Engel und alle seine Artgenossen aufgeschwungen hatte. Der Drachen hatte Romero bereits mitgeteilt, daß sein Gehirn wieder vom Körper getrennt werden sollte, und sich beklagt, daß selbst die Rückgabe eines geringen Teils der ehemaligen Macht erneuter Gefangennahme gleichkomme. Romero war dabei, Vagabunds Befürchtungen beredsam zu widerlegen.

»Was ist Gefangennahme, hochweiser geflügelter Freund? Wir alle sind Gefangene eines winzigen Schiffsraumes, vor dieser traurigen Tatsache gibt es kein Entrinnen. Und sind Sie, lieber Vagabund, in Ihrer heutigen engen Drachengestalt nicht beengter als in Ihrer früheren Kristallkugel auf dem unheilvollen Dritten Planeten? Denn selbst unser dürftiger Schiffsraum ist Ihnen verwehrt. Nein, nicht bittere Gefangennahme erwartet Sie, sondern herrliche Befreiung.

Sie engen Ihre heutige geometrische Unfreiheit noch um etwa zehn Meter ein, nicht mehr. Dafür werden Ihnen beliebige Bewegungen in beliebiger Richtung zu Gebote stehen, mechanische und auch solche im Überlichtbereich! Und Ihnen fehlt die Bewegung doch so sehr, mein armer Freund! Auf dem Dritten Planeten träumten Sie von einem Körper und von Bewegung. Nach Herzenslust genossen Sie den größten Körper, den unsere irdische Natur erschaffen hat.

Aber der spärliche Vorrat an Bewegungen, der Ihrem glänzenden, wenn auch allzu umfangreichen Körper zugemessen war, ist erschöpft, wir wollen davor unsere Augen nicht verschließen. Und nun sollen Sie die herrliche Freiheit erlangen, die gigantischen Mechanismen eines Sternenflugzeugs nicht einfach zu befehligen, sondern als Ihre Organe in sich aufzunehmen, selbst ein Sternenflugzeug zu werden, ein denkendes Schiff, ein mächtiges Schiff, das mit Leichtigkeit Raum verschlingt! Wunderbar, wunderbar ist das Ihnen zugedachte Los eines lenkenden Schiffsgehirns!«

Romero fragte mich später, ob ich von seiner Rede beeindruckt gewesen sei. Ich antwortete, er habe viele rein drakonische Argumente gebraucht, doch Drakonaden ließen mich kalt. Boshaft höflich erwiderte er, unter Drakonaden verstünde ich gewiß Eskapaden, die Wörter klangen zwar gleich, aber er habe weder das eine noch das andere verwendet. Wie dem auch sei, auf den Drachen hatte die Rede gewirkt. Beinahe freudig blickte er mich an.

»Heute, Vagabund«, sagte ich. »Heute machst du eine neue Verwandlung durch. Du bist der einzige unter uns, der sein Äußeres wechselt wie eine Frau ihre Frisuren. Du warst das große Hauptgehirn, dann verwandeltest du dich in einen verwegenen Flieger und Schwerenöter. Heute gewinnst du eine neue Hypostase – so heißt das wohl in der geliebten alten Sprache unseres Freundes Romero, wirst ein nachdenklicher Forscher, ein energischer Sternenflieger, ein gebieterischer Schiffskommandeur.«

»Ich danke dir, Eli«, zischelte er und schloß die Augen.

Bei der Operation war ich, wie ich versprochen hatte, zugegen. Beschreiben will ich sie nicht, es war eine ganz normale Operation. Da war nichts, was einen in Erstaunen hätte versetzen können. Aber ich war erschüttert, als ich zum erstenmal den Raum betrat, den das Gehirn erhalten hatte. Er erinnerte an den galaktischen Raum der Zerstörer auf dem Dritten Planeten, eine sich im Dunkel verlierende Kuppel, zwei Sternensphären, ringförmige Wände… Und mitten im Raum, zwischen dem Fußboden und der Decke, schwebte still eine halb durchsichtige Kugel, darin befand sich unser Freund Vagabund, der für immer aufgehört hatte, ein Vagabund zu sein.

Nicht das Aussehen des Raumes und nicht das Aussehen der Kugel erschütterten mich: Darauf war ich vorbereitet. Aber die Stimme, die in meinen Ohren erklang, hatte ich nicht erwartet. Ich hatte angenommen, ich würde das frühere lispelnde, etwas heisere, spöttische, ironische Pfeifen des Drachens hören, ich hatte ja schon vergessen, daß Vagabund, bevor er ein Vagabund wurde, anders sprach. Und nun wandte sich die längst vergessene melodiöse, traurige Stimme an mich.

»Fangen wir an, Eli?«

Ich weiß nicht, wie ich des Zitterns Herr wurde. Ich murmelte das Unsinnigste, was mir gerade einfiel:

»Du bist hier? Geht es dir gut, Vagabund?«

Die Stimme lächelte – ein wenig wehmütig und ein wenig spöttisch. »Es drückt nirgends. Ellon wäre ein Meister in der Lieferung von Gehirnen an die Metrikstationen, hättet ihr nicht das Reich der Zerstörer zerstört. Ich eile, dich zu informieren, daß ich mit vielen Vollzugsmechanismen Kontakt aufgenommen habe.

Bald erwecke ich das Schiff zum Leben, Eli! Mag Ellon die Antriebe auf der ,Schlangenträger‘ in Ordnung bringen, ich versuche, auch sie in Bewegung zu setzen.«

»Vagabund«, wiederholte ich erregt. »Vagabund…

Darf ich dich so nennen?«

»Nenne mich, wie du willst, nur nicht Hauptgehirn. Ich will nicht an den Dritten Planeten erinnert werden.«

»Du wirst für uns die Stimme sein«, sagte ich feierlich. »Wir werden dich Stimme nennen!«

Ich meldete Oleg, daß man eine Karte für die Weiterreise zum Kern ausarbeiten könne. Von Oleg ging ich zu Grazi. Der Galakt war allein. Ich setzte mich auf den Diwan, ließ mich an die Lehne sinken. Ich war rechtschaffen müde.

»Brauchst du Hilfe, Eli?« fragte der Galakt teilnahmsvoll. »Ich könnte dir vorschlagen.:.«

Ich unterbrach ihn. ,Grazi, hast du gesehen, wie unser ehemaliger Vagabund, der nun den Namen Stimme angenommen hat, in seiner neuen Rolle aufgeht? Wir werden uns bald mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegen können. Auch unsere Kampfannihilatoren erwachen, ohne die wir eine Flaumfeder im Wüten der Elemente sind. Grazi, unterstütze die Stimme… Werde ihr Gehilfe.«

Der Galakt blickte mich verwundert an. »Was verbirgt sich hinter deinem Vorschlag, Admiral Eli?«

Ich schloß die Augen und schwieg eine Weile. Ich hatte keinen einzigen klaren Gedanken im Kopf. »Ich weiß nicht, Grazi. Irgendwelche vagen Empfindungen… Bei den Menschen sind sie von Bedeutung, aber wie soll ich sie euch erklären, wenn ich sie in Worten nicht auszudrücken vermag? Du und die Stimme, ihr seid von einer Art… Dies ist einfach eine Bitte, Grazi…«

Der Galakt antwortete majestätisch herzlich: »Ich werde der Stimme helfen, Eli.«

5

Nach wie vor wußte niemand, was für Kräfte unsere Denkmaschinen blockierten, aber diese Kräfte wurden allmählich schwächer und waren kein unüberwindlicher Wall mehr. Zunächst begann die Schiffsmaschine der »Widder« wieder zu funktionieren, die von dem evakuierten Sternenflugzeug gebracht worden war. Olga umarmte Ellon, dann mich, als sie das erfuhr. Ihre Schiffsmaschine war ihr nicht weniger als Irina ans Herz gewachsen, für beide hegte sie mütterliche Gefühle. Die Konstruktionen dieser Maschinen waren auch durch sie vervollkommnet worden. Mich wunderte allerdings, daß die Maschinen nicht einfach zu reparieren waren, sondern gewissermaßen aus langem Schlaf geweckt wurden, ihre Entscheidungen trafen sie noch nicht so schnell wie früher, sie waren noch ein bißchen träge. Ellon versicherte, daß die gewohnten Qualitäten der Maschinen wiederkämen, sobald die blockierenden Felder völlig verschwänden, und soweit wäre es bald.

Ich entgegnete: »Ellon, du redest von den Schiffsmaschinen, als hätten sie Narkotika geschluckt und kämen jetzt allmählich zu sich.«

»Was sind Narkotika?« fragte er. »Etwas spezifisch Menschliches, ja? Aber daß die Maschinen allmählich zu sich kommen, stimmt. Und wenn sie völlig bei sich sind, könnt ihr eurem in der Kugel schwebenden Liebling den Laufpaß geben.«

»Ist dir die Stimme so verhaßt, Ellon?«

Statt mir zu antworten, drehte er mir den Rücken zu. Die menschlichen Anstandsregeln werden den Demiurgen in der Schule nicht beigebracht, und außerdem hatte Ellon nicht vergessen, daß er einst ein zu Hoffnungen berechtigter Zerstörer gewesen war.

Das Gespräch mit ihm stimmte mich nachdenklich.

An dem Tag, da die Schiffsmaschinen vollständig intakt wären, würde die Stimme entbehrlich – das konnte ich nicht bestreiten. Aber die Störungen hatten bewirkt, daß ich den denkenden Maschinen nicht traute.

Zu leicht und zu unvermittelt fielen sie aus. Auf der Erde hätte niemand geglaubt, daß solche zuverlässigen Mechanismen schlagartig und ohne sichtbare physikalische Ursachen streiken könnten. Die Methoden zu ihrer Abschirmung waren in Jahrzehnten von Dutzenden erstklassigen Ingenieuren entwickelt worden. Im Prinzip sollte sie beliebigen Bedingungen trotzen. In den Untergehenden Welten schützte sie jedenfalls nicht vor Schlägen von außen. Selbst Ellon konnte nicht garantieren, daß sie künftig standhalten würde.

Alle diese Erwägungen teilte ich Oleg mit. Er zuckte die Schultern. »Niemand zwingt uns, der Stimme den Abschied zu geben, wenn die Schiffsmaschinen zu arbeiten beginnen. Warum sollen sie einander nicht dublieren?«

»Eben dies wollte ich vorschlagen. Aber Ellon wird wohl kaum zufrieden sein.«

Oleg sagte halblaut: »Habe ich gelobt, bei meinen Beschlüssen davon auszugehen, ob Ellon zufrieden oder unzufrieden sein wird? Noch befehlige ich das Geschwader.«

»Welchen Plan hast du?« fragte ich. »Setzen wir die Fahrt zum Kern fort, oder kehren wir um, da wir drei Viertel der Flotte verloren haben?«

Er antwortete nicht sofort. »Alles in mir protestiert gegen eine ruhmlose Rückkehr, Eli! Der Auftrag unserer Reise ist längst nicht erfüllt. Andererseits möchte ich nicht mit dem Kopf durch die Wand…«

»Auch im Sternbild der Untergehenden Welten haben wir unsere Vorsätze nicht verwirklicht«, erinnerte ich. »Das Stückchen klaren Himmels, das wir den Aranen versprochen hatten, wo ist es?«

Seit die Sternenflugzeuge wieder manövrierfähig waren, dachte ich oft daran. In dem panischen Entsetzen nach der Katastrophe hatten wir nur fliehen, den verfluchten Ort möglichst weit hinter uns bringen wollen. Das Entsetzen war gewichen, der Rachedurst angesichts der verlorenen Freunde schwächer geworden. Und von neuem erhob sich die Frage: Sollten wir den Aranen helfen? Wie konnten wir das notleidende Volk aus dem Urwald seiner Mißgeschicke herausführen? Das war nicht unsere Pflicht, in unserem Reiseauftrag stand kein Wort davon, Völkern, denen wir begegneten, Wohltaten zu erweisen. Wir waren als Kundschafter gekommen, nicht als Zivilisatoren. Ruhigen Gewissens konnten wir uns von der Arania abwenden. Doch ich hatte kein ruhiges Gewissen. Mich quälten Zweifel. Und als ich einmal den Operativraum aufsuchte, bekannte ich sie der Stimme.

»Du willst die restlichen Schiffe riskieren, Eli?«

»Auf keinen Fall, Stimme. Ich versuche eine andere Methode zu finden, um den Raum zu säubern. Die ,Rammbock’, die den Staub einfach vernichtete, wurde außer Gefecht gesetzt, der Versuch, sauberen Raum durch eine Explosion zu liefern, endete mit einer Katastrophe. Ich habe den Eindruck, als hätten uns die Ramiren wenn sie es sind – anfangs nur stoppen wollen, doch als wir unsere Anstrengungen fortsetzten, gerieten sie in Zorn und bestraften uns.«»Aber sie haben uns nicht völlig vernichtet. Entweder konnten sie es nicht, oder sie wollten es nicht. Die Antwort auf diese Frage ist der Schlüssel zu allen Rätseln.«

»Ich werde darüber nachdenken. Denke auch du nach, Stimme!«

In der Nacht, als Mary schlief, wanderte ich stumm aus einer Ecke in die andere. Wenn die Ramiren uns nicht hatten vernichten können, dann hieß das, sie waren nicht stark genug. Aber was bedeutete: nicht stark genug? Sie hatten einen vernichtenden Strahl gestartet, sie hätten das auch zwei- oder dreimal tun können. Und vom Geschwader wäre nur funkelnder Staub übriggeblieben! Sie hatten es nicht gewollt! Sie hatten einen Auftrag erfüllt, als sie die »Stier« auslöschten, und sich geringschätzig von uns abgewandt.

Was für einen Auftrag? Sie hatten verhindert, daß wir den Planeten annihilierten. Aus Oans Meldungen hatten sie von unserem Vorhaben gewußt. Was störte sie, wenn wir Planeten annihilierten? Ihre Aktionen mußten doch einen Sinn haben! Grausame Götter! Was bezweckte ihre Grausamkeit gegenüber den Aranen?

Eines Nachts kam die verängstigte Mary gelaufen und sagte erleichtert: »Du bist hier? Ich wachte auf, und weil ich dich nicht sah, dachte ich, ein neues Unglück wäre geschehen.«

»Mary«, sagte ich, »antworte mir: Warum sind die Grausamen Götter grausam? Ist Grausamkeit mit Macht vereinbar? Die Psychologen lehren, Grausamkeit sei ein Ausdruck für Schwäche und Feigheit!«

»Du wendest zuviel Menschliches auf die interstellaren Beziehungen an«, entgegnete sie lächelnd. »Wie hast du Oan geschimpft? Spion, Diversant, Verräter!

Ist das nicht allzu irdisch für den Kern der Galaxis?«

»Es geht nicht um Bräuche, sondern um Logik. Die Ramiren können keine andere Logik haben als wir!«

»Und warum haben wir beide keine einheitliche Logik? Du sagst, wenn du mich nicht begreifst: ,Das ist immer deine Frauenlogik!’.«

Ich lachte. Mary verstand jedem Gespräch eine überraschende Wendung zu geben.

»Du hast mir einen Knochen hingeworfen, an dem ich lange nagen werde. Gut, Mary! Ich werde mich bemühen, den bescheidenen Platz, der der Menschheit im Weltall zugewiesen ist, nicht zu verlassen. Ich akzeptiere, daß eine Vielzahl von Logiken existiert, darunter auch deine weibliche. Und ich will sie das Koordinatensystem des Denkens nennen. Von vornherein akzeptiere ich, daß unser Koordinatensystem des Denkens den anderen nicht gleicht. Und ich werde folgendes tun, Mary: Ich transformiere ein Koordinatensystem ins andere, wechsele von einem Denktyp zum anderen über, um zu sehen, welche Gesetze unverändert bleiben. Ich werde also die Invarianten suchen. Die Invarianten der Logik und die Invarianten der Ethik, Mary! Die allgemeinsten Gesetze der Ethik, die allgemeinsten Gesetze der Logik, die für alle Denkformen verbindlich sind. Eine Logik, eine Moral für alle Sterne! Und wenn ich auch dann nicht verstehe, was die Ramiren wollen und weshalb sie gegen uns kämpfen, dann bin ich keinen Pfifferling wert. Solche Folgen haben deine Spötteleien.«

»Ich bin sehr froh, daß meine Spötteleien deinen unruhigen Geist katalysieren, Eli.«

Mary ging wieder schlafen, und ich setzte meine Wanderung durchs Zimmer fort. Ich dachte nun für mich und für die Ramiren, ich stellte Dutzende von Varianten auf und verwarf sie. Bei einer blieb ich. Sie erforderte unverzügliche Nachprüfung. Ich ging zur Stimme. In dem Raum schritt Grazi auf und ab. Es macht mir Freude, ihn schreiten zu sehen, denn Galakten gehen nicht, sondern schreiten. Ich wäre dazu beim besten Willen nicht imstande. In der Schule hatte man entrüstet gesagt: »Hast du eine Ahle hinten, Eli?« Seitdem habe ich mich gemäßigt, aber nach wie vor gehe ich, renne ich, jage ich, bewege ich mich, nur – schreite nicht. Göttlich, wie Romero die Art von Grazi nennt, werde ich nie sein.

»Freunde«, sagte ich. »Der Geschwaderkommandeur hat befohlen, uns auf die Fortsetzung der Expedition zum Kern vorzubereiten. Das beschädigte Sternenflugzeug können wir nicht mitnehmen. Eine gewöhnliche Annihilation würde möglicherweise einen neuen Wutausbruch der unbekannten Feinde hervorrufen. Oleg will es sprengen. Ich habe eine andere Idee. Sollten wir die ,Widder‘ nicht einer schwelenden Annihilation unterziehen? In der Umgebung der Erde wird diese Methode oft angewandt, wenn man durch eine schlagartige Vernichtung das Gleichgewicht der Himmelskörper zu stören fürchtet.«

Die Stimme hatte verstanden, bevor ich endete. »Und du hoffst, daß sich die Ramiren einer langsamen Annihilation nicht widersetzen werden? Du willst mit den Grausamen Göttern experimentieren?«

»Ich will ihnen eine vernünftige Frage stellen und eine vernünftige Antwort erhalten. Außer Experimenten haben wir keine andere Verständigungsmöglichkeit. Kannst du eine solche Annihilation in ausreichendem Abstand zur ,Widder‘ in Gang setzen, Stimme?«

»Das ist für mich kein Problem.«

Oleg befahl der »Steinbock« und der »Schlangenträger«, sich von der verurteilten »Widder« weg bis an die Grenze der optischen Sichtbarkeit zu begeben, unsere beiden letzten Frachter wurden noch weiter fortgeschafft. Äußerlich wirkt Oleg ruhig, aber ich wußte, daß er nervös war. Wenn die Gegner erneut den Strahl generierten, der die »Stier« ereilt hatte, so ginge allein die »Widder« unter, die ohnehin geopfert werden sollte. Aber würden sie uns nicht, voller Zorn über die neue Aktion, allesamt vernichten wollen?

Allzu menschlich, sagte ich mir im stillen und schob die aufdringlichen Gedanken, die dem Ärger, dem Zorn der Ramiren galten, beiseite, dennoch blieb ich unruhig. Um Oleg mit meiner Aufregung nicht zu verwirren, begab ich mich zur Stimme. Im Kommandeursaal schaltete und waltete Oshima. Er hatte einen konkreten Auftrag nach seinem Geschmack in einiger Entfernung von der »Widder« zu kreisen und bei der geringsten Gefahr das Weite zu suchen. Ernst hielt er das Schiff auf dem vorgegebenen Kurs, zu panischer Flucht bereit.

In dem Raum der Stimme gingen auf dem Läufer längs der ringförmigen Wand Grazi, Orlan und Romero auf und ab. Die Stimme erfreute uns mit der Nachricht, daß das Experiment gut verlaufe. Die »Widder« schwele langsam und verwandele sich in leeren Raum. Großen Widerstand gebe es nicht.

»Wie soll ich dich verstehen, Stimme? Großer Widerstand wäre ein neuer Schlag gegen das Geschwader. Wir sehen selbst, daß wir noch nicht vernichtet sind.«

»Ich fühle Beschränkung, Eli. Meine Kommandos an die Vollzugsmechanismen sind verzögert. Der Unterschied macht Mikrosekunden aus, aber ich spüre ihn.«

Romero bemerkte vorsichtig, daß möglicherweise die geheimnisvollen Kräfte am Werke seien, die kürzlich die Schiffsmaschine blockierten. Ich brachte es nicht fertig, passiv auf die Gefahr zu warten. Unser Experiment war allzu wichtig.

»Stimme«, sagte ich. »Verzögere die Annihilation, und verstärke sie dann allmählich. Und kontrolliere, wie sich die hemmenden Kräfte ändern.«

Die hemmenden Kräfte schwanden, sobald die Annihilation abgeschwächt wurde, und wuchsen, sobald sie sich verstärkte. Einmal beklagte sich die Stimme, daß die Mechanismen sich ihr nicht mehr fügen würden, wenn sie den Prozeß noch beschleunigte.

»Befürchtest du eine Explosion? Blockade?«

»Ich bin keine Schiffsmaschine, mich kann man nicht blockieren. Aber die Vollzugsmaschinen vollziehen nicht.« Auf menschliche Weise witzelte sie: »Der Hebel läßt sich nicht bewegen.« Ich kehrte in den Kommandeursaal zurück. Auf den großen Sternenbildschirmen glühte die »Widder« , noch eine leuchtende, winzige Erbse. Sie war so klar zu sehen, wie wir noch nichts in der Ansammlung der Untergehenden Welten gesehen hatten. Uns und die schwelende »Widder« trennte kein Staubnebel mehr, sondern sauberer Raum, in den sich unser ehemaliges Sternenflugzeug nach und nach verwandelte.

In dem benachbarten freien Sessel beweinte Olga still das Schiff. Sie weinte wohl zum erstenmal in ihrem Leben. Uns allen gingen die Nerven durch in diesen Tagen. Ich legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte: »Olga, freue dich! Der Untergang deines Sternenflugzeugs öffnet einer ganzen Sternenzivilisation den Weg zur Rettung.« Sie konnte mir nie böse sein, jetzt war sie es. »Wenn das ein Scherz sein soll, Eli, so ist dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Es ist die Wahrheit. Trotz allem werden wir den Planeten annihilieren, um dessentwillen zwei Drittel unseres Geschwaders ausgelöscht wurden.«

Oleg und Oshima kannten meinen Plan schon, Olga erfuhr ihn von mir. Die Vernichtung des Sternenflugzeugs und die Aufhellung eines Stückchens Raum stieß nicht auf Widerstand. Gegen langsame Annihilation hatten die Gegner offenbar nichts einzuwenden. Die Aktion der »Rammbock« hatten sie durchkreuzt, mit der »Stier« hatten sie grausam abgerechnet. Die »Widder« verglomm im freien Raumund es gab keine Störungen und keine Strafen. Erst als die Stimme den Prozeß beschleunigte, spürte sie wachsenden Widerstand. Den Ramiren war eine genaue Frage gestellt worden, und sie hatten eine genaue Antwort gegeben: Keinerlei Raumexplosionen.

Rasch verlaufende Prozesse störten sie.

»Wahrscheinlich deshalb, weil die Ansammlung dann aus dem Gleichgewicht käme«, bemerkte Olga.

»Ich kann das mal berechnen.«

Der unglückselige Planet eilte noch auf derselben Bahn dahin, der mittleren, zwischen der Arania und den Drei Sonnen, wohin wir ihn geschleppt hatten.

Zweifellos war den Gegnern die Lage des Planeten gleichgültig, sofern man ihn nicht zu sprengen versuchte. Sprengung war leichter als Verdunstung. Ein Schlag der Kampfannihilatoren, auseinanderfliegender neuer Raumund das Sternenflugzeug kann seiner Wege ziehen. Schwelende Annihilation dagegen erforderte nicht nur viel Zeit, sondern bedurfte auch ständiger Katalysierung von außen. Man konnte den Planeten nicht »anzünden« und sich selbst überlassen. Der Schwelbrand wäre bald erloschen. Oleg sagte seufzend: »Wir werden ein Lasten-Sternenflugzeug opfern müssen!«

»Zwei Sternenflugzeuge!« erwiderte Oshima. »Am besten stoßen wir die beiden Schlepper gänzlich ab!

Als Kapitän eines Kampfschiffes würde ich eine solche Entscheidung nur begrüßen. Die Frachter sind schlecht zu lenken im Überlichtbereich. Und einstweilen gehen sie sinnlos zugrunde!«

Ich ging in den Park. Es regnete in Strömen. Nach der irdischen Zeitrechnung begann hier der Spätherbst. Alle übrigen Räume haben kein Wetter.

Keinen Wechsel der Jahreszeiten, keine Schwankungen der Temperatur, des Luftdrucks, der Feuchtigkeit, ein wetterloses Milieu, das die Lebenstätigkeit am besten stimuliert. Für meine Lebenstätigkeit allerdings war es wichtig, daß ich mich von Zeit zu Zeit Regen und Schnee aussetzte, steifem Wind entgegenstemmte und die betäubenden Düfte des Frühlings atmete. Im Park war für meinesgleichen ein irdischer Wechsel von Wettern und Jahreszeiten eingerichtet.

Ich erinnere mich nicht, daß irgendwann einmal Demiurgen und Galakten darin spazierengegangen wären. Einmal lotste ich Orlan hierher. Ein Schneesturm tobte. Orlan fröstelte und fragte erstaunt: »Und den Menschen gefällt dieser Unfug?« Grazi brauche ich gar nicht zu erwähnen. Er sträubt sich mit Händen und Füßen gegen Gänge in den Park, so daß er sekundenlang gar nicht göttlich wirkt. Ich denke manchmal, daß die Natur der Galakten, die jegliche Künstlichkeit hassen, widersprüchlich ist. Eifrig wachen sie über ihre Unsterblichkeit und schaffen Treibhausbedingungen, damit sie nicht verletzt werde. Hat ihre Unsterblichkeit nicht etwas an sich, das an Künstlichkeit gemahnt, hohe, prächtige, erstaunliche, aber eben doch Künstlichkeit? Von allen Lebewesen haben sie allein sich unsterblich gemacht.

Eine Parkallee führt zum Konservierungsraum. Ich trat an Lussins Sarkophag und blickte den toten Freund zärtlich an. Lussin, sagte ich in Gedanken zu ihm, du würdest es uns nicht verzeihen, wenn wir einfach fliehen wollten. Könntest du sprechen, würdest du sagen: Haben wir uns auf die weite Reise begeben, um zu fliehen? Wir müssen den Unglücklichen helfen, die Hilfe erflehen! Was wären wir sonst für Menschen, weshalb hätten wir sonst solche Weiten überwunden, weshalb wäre ich sonst gestorben? Richtig, Lussin, richtig. Sieh, ich streite nicht, und ich rede auch nicht mehr von Rache, denn schon das Wort Rache war dir verhaßt, ich tue es nicht, obwohl ich nicht zu denen gehöre, die lächeln, wenn man ihnen auf den Fuß tritt. Ach, Lussin, warum kannst du dich nicht erheben! Du würdest Freude haben an dem Bild, das bald auf allen Sternenbildschirmen zu sehen sein wird: Ein riesiger Planet schmilzt dahin, und rings um ihn erweitert sich der saubere Raum, die durchsichtige Weite, kein kleines Stückchen, nein, Lussin, eine Kuppel leuchtend klaren Himmels!

Und dann setzte ich mich Oan gegenüber in den Sessel, sprach mit ihm, aber anders als mit Lussin. Du Mörder und Spion, sagte ich zu Oan, ich verstehe: Du hattest einen Auftrag, und du hast ihn ausgeführt, deine Herren können dir dankbar sein für die Informationen. Aber du flößtest deine Gedanken doch ungehindert unseren Gehirnen ein, hättest du nicht wenigstens andeuten können, daß Sprengannihilation nicht taugt, wohl aber schwelende Annihilation?

Warum hast du geschwiegen? Wolltest du die Vernichtung der Sternenflugzeuge, den Tod unserer Freunde? Wer bist du, ein Phantom, das ein reales Wesen kopiert? Ein Gespenst mit imponierendem, von hohem technischem Zivilisationsniveau zeugendem Stofflichkeitsgrad? Du hast dich rasch davongemacht, Oan, damit wir das Gespräch mit dir nicht zu Ende brachten! Schade, du hättest denen, die dich gesandt hatten, ausrichten können, daß die Menschen und ihre Sternenfreunde aus der verfluchten Ansammlung der Untergehenden Welten fortgehen, daß wir nicht mehr mit dem Kopf durch die Wand wollen, daß es keinerlei Explosionen geben wird. Aber wir müssen den Leidenden helfen, müssen es einfach, das ist unsere Natur, und ihr habt euch damit abzufinden.

Ach, zu früh, zu früh bist du umgekommen, wieviel würde ich dir sagen, wenn du mich hörtest! Oft habe ich mich empört, war zornig, geriet in Wut, aber Haß, echten, brennenden, empfinde ich zum erstenmal gegen dich! Ich hasse dich, ich hasse dich!

So redete ich, aufgebracht, ich erinnere mich nicht, ob in Gedanken oder laut. Oan hing vor mir, die zwölf Beine von sich gestreckt, den Wanst vorgewölbt, das dreiäugige Gesicht erhoben. Die beiden unteren Augen waren geschlossen, das obere, unlängst noch böse stechende, war trüb, wie von weißem Star überzogen, und auf dem Kopf sträubten sich die Haare, die seltsamen Haare, fingerdick, halb Schlangen, halb Arme… Und in ihnen hatte sich ein purpurroter Funke verfangen, bevor er verglommen war…

Mary sagte an diesem Abend: »Das Geschwader ist über den Plan, schwelend zu annihilieren, informiert.

Ich will mich mit dir beraten, denn ich muß ja wohl ebenfalls meine Meinung äußern. Wo bist du gewesen, Eli?«

»Ich bin im Park spazierengegangen.«

»Und selbstverständlich hast du im Konservierungsraum gesessen?«

»Warum – selbstverständlich?«

»Manchmal habe ich Angst um dich, Eli. Du hast etwas Wildes an dir. Bist dem Totenkult verhaftet.« »Dem Totenkult? Das ist mir neu.«

»Hast du vergessen, daß du auf der Erde stundenlang im Pantheon saßest! Mich schlepptest du auch hin. Und im Saal der großen Vorfahren vergaßest du mich und blicktest die Statuen wie betend an.«

Ich lachte herzlich. »Ich ahnte nicht, daß das wie Beten aussah, sonst hätte ich mich anders verhalten.

Du hast recht. Ich habe große Ehrfurcht vor den Vorfahren. Leute, denen die Verwandtschaft gleichgültig ist, mag ich nicht. Und ich habe mich immer für Geschichte begeistert.«

Sie lächelte ironisch. »Für Geschichte begeistert?

In Romeros Augen bist du ein Ignorant in Geschichte, und ich gebe ihm recht. Selbst ich bin über unsere Vorfahren besser informiert als du. Nein, du hast dich, wenn du es wissen willst, ganz der Zukunft verschrieben. Körperlich bist du hier, aber in Gedanken weilst du irgendwo bei bevorstehenden Fahrten, Kämpfen, Verhandlungen, an noch nicht entdeckten Orten, auf noch nicht gebauten Schiffen. Manchmal fehlst du mir sehr, Eli! Denn ich bin stets hier und jetzt, du aber bist dort und dann. Und wenn dir plötzlich bewußt wird, daß es so nicht geht, rennst du zur Beisetzungsstätte, als bereutest du oder wolltest beichten.«

»Was willst du eigentlich von mir, Mary?«

»Ich will wissen, was dich zu den Toten zieht.«

Ich antwortete möglichst heiter: »Du hast selbst alles erklärt. Wegen der Reue und der Beichte gehe ich hin. Allerdings schweigen meine Beichtväter immer.

Wahrscheinlich akzeptieren sie meine Reue nicht.«

6

Das Geschwader verließ den Sternhaufen der Untergehenden Welten. Eine Zeitlang genossen wir den malerischen Blick auf den raumverglimmenden Planeten. Absichtlich sage ich »malerisch« und nicht »effektvoll«. Denn Effekte gab es nicht, weder eine blendende Flamme noch stiebende Protuberanzen, noch Gaswirbel. Der Planet leuchtete matt, und das war alles. Aber als wir ihn ein letztes Mal umkreisten, sahen wir eine Aureole rings um ihn. Das war ein Wölkchen neugeschaffenen Raumes, ein sich langsam ausweitendes Stückchen sauberen Himmels. Wir hatten getan, was wir konnten.

Der Planet verschwand bald hinter dem Heck unseres Sternenflugzeugs, selbst mit dem Vervielfacher war er nicht mehr zu finden. Doch vor meinem geistigen Auge sah ich ihn immer nochmatt leuchtend, in einer sich erweiternden, zarten Aureole kosmischer Reinheit.

Und dann wiederholten sich die bekannten Landschaften. Wir lösten uns aus der staubigen Ansammlung und gelangten in sauberen Raum, von Sternen übersät. Und vor uns dehnte sich, zum erstenmal nicht durch Nebel abgeschirmt, ein gigantischer Sternenbrand, der drohende Galaxiskern…

Die Mußestunden hatte ich früher vor den Sternenbildschirmen verbracht. Obwohl es auch jetzt genug zu beobachten gab, wandte ich mich ihnen nur hin und wieder zu. Immer mehr fesselte mich Ellons Labor, wo der Zeitkondensator konstruiert wurde.

Das war eine Kugel aus superfestem Plast, so etwas wie ein mittelgroßer Autoklav. Aber die auf sie gerichteten elektrischen Entlader, die von den Annihilatoren gespeist wurden, sowie die Wirbelröhren von den Gravitationsmechanismen ließen sofort erkennen, daß die Anlage kein Autoklav war. Sofern man selbstverständlich nicht auf die Analogie hinauswollte, daß in den Autoklaven etwas Stoffliches durchgekocht und gepreßt wird, während das hier mit der Zeit selbst geschah.

»Fertig, Admiral!« rief Ellon eines Tages aus. »Im Mittelpunkt dieses Kügelchens befindet sich ein winziges Stück Materie, dessen Umfang nicht größer als ein Wasserstoffatom ist. Aber dieses winzige Stück wiegt mehr als hunderttausend Tonnen!«

Ich entgegnete, daß die Theorie die Möglichkeit einer solchen Masseverdichtung negiere, wenn die Masse nicht ziemlich groß sei, ungefähr so wie drei oder vier unserer Sonnen.

»In diesem Kügelchen die Masse von drei Sonnen…« Seine Augen funkelten vor Wut. »Was sollen mir die Theorien der Menschen, Admiral? Mögen die Ramiren sie studieren, sie sind nicht weiter als ihr im Verstehen des Kollapses. Deshalb bemühen sie sich ja, sich der Energie der Kollapsare zur Transformierung ihrer Zeit zu bedienen. Doch wir transformieren die Zeit im Laboratorium, auf diesem winzigen Kollapsan da.« Er betonte den neuen Terminus. »Und wenn ich ihn einschalte, schleudern wir die Teilchen, die wir dort hineinspritzen, in die ferne Vergangenheit oder in die noch fernere Zukunft.«

»Und wir selbst folgen den Teilchen nicht nach?«

Verächtlich schaute er mich an. »Du verwechselst mich wohl mit den Grausamen Göttern? Ich bin kein solcher Halbgebildeter wie sie! Schöne Experimentatoren! Sie schoben sich wie einen Pfropfen in den Schmelztiegel der sich verdichtenden Zeit, flogen in die Zukunft, konnten sich auf deren Höhe nicht halten und kollerten wie ein Stein zurück! Weshalb habe ich deiner Meinung nach wohl die Gravitationsschnecke an den Kollapsan angeschlossen? Das Teilchen mit der transformierten Zeit fliegt in die Ferne hinaus, aber entdeckt wird es dort erst dann, wenn die vorgegebene Zeit anbricht, in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Der Flug in die Zukunft ist einfacher, und ich probiere ihn zuerst.«

Bevor ich ging, stellte er mir die Frage: »Admiral, bist du mit der Schiffsmaschine zufrieden?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Weshalb unterstellst du sie dann dem schwebenden Gehirn? Weshalb habe ich mich bemüht, sie zu reparieren? Die nachdenkenden Maschinen sind eine Erfindung der Menschen, das denkende, vom Körper getrennte Gehirn ist unsere, der Demiurgen Lenkungsmethode. Erscheint es dir nicht seltsam, Admiral, daß ich, ein Demiurg, dich, einen Menschen, bitte, wieder zur menschlichen Lenkung des Geschwaders überzugehen?«

Mir erschien das gar nicht seltsam. Ich hatte gewußt, daß Ellon früher oder später verlangen würde, die Stimme in den Ruhestand zu versetzen. Ellon hatte für den Drachen von den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft an nur Mißgunst gehabt, jetzt war die Mißgunst in unverhohlenen Haß umgeschlagen. Ich bin überzeugt, daß der Demiurg des Vagabunden Transformierung zur Stimme als Erhöhung über sich selbst empfand, die er zudem noch eigenhändig vollzogen hatte. Nun litt sein unmäßiger Ehrgeiz. Behutsam erklärte ich, daß die Stimme die Schiffsmaschine nicht kommandiere, sondern dubliere, und daß es gut wäre, viele Dublierer zu haben; deshalb übe sich zum Beispiel Grazi in dieser Rolle, außerdem sei die neue Methode, das Schiff zu lenken, nicht durch mich eingeführt worden, sondern auf Befehl des Oberbefehlshabers…

Ellon unterbrach mich ungeduldig. »Gegen Grazi habe ich nichts einzuwenden, mag er trainieren. Die ganze Unsterblichkeit eures Galakten reicht ja nicht aus, um die Funktionen der Schiffsmaschine zu bewältigen. Aber das schwimmende Gehirn ist überflüssig.«

»Ich schlage folgendes vor: Leg deine Ansicht den Besatzungen zur Erörterung vor. Wenn man findet, daß deine Antipathien begründet sind…«

»Meine Sympathien und Antipathien lasse ich nicht erörtern.

Aber wenn die Schiffsmaschinen streiken, könnt ihr sie selbst reparieren oder euch mit eurer schwebenden Stimme begnügen. Ich werde ihr nicht mehr den Diener machen!«

Am Abend kam Irina zu Mary und mir. »Ich muß mit Eli sprechen«, sagte sie.

Mary wollte sich entfernen, doch Irina hielt sie zurück. »In deinem Beisein fällt es mir leichter, dem Admiral meine Bitten vorzutragen. Eli, sicherlich erraten Sie, worum es geht.«

»Ich errate, um wen es geht, nicht worum. Hängt es mit Ellon zusammen?« Nervös ballte und streckte Irina die Hände. Sie gefiel mir. Sie war schlank, schnell, ungeduldig, und sie erinnerte mich so sehr an ihren Vater, daß ich sie als jungen Leonid akzeptiert hätte, wäre sie in Männerkleidung aufgetreten. Ich wußte, daß ich von ihr einiges zu hören bekommen würde, und ich nahm mir vor, ihre Vorwürfe in aller Ruhe zu entkräften.

»Ja, mit Ellon! Warum verachten Sie ihn, Admiral?«

Diese Beschuldigung hatte ich nicht erwartet.

»Gehst du nicht zu weit, Irina? Wir alle – Oleg, die Kapitäne der Sternenflugzeuge, ich, achten ihn so sehr…«

«Über Oleg müssen wir mal gesondert sprechen!

Aber Ihre Achtung vor Ellon ist Wortgeklingel, gleichgültige Beurteilung. Ja, er ist ungewöhnlich, ja, er ist wahrscheinlich genial, eine hervorragende Gestalt in gewisser Hinsicht… Nein! Er ist nicht wahrscheinlich, sondern tatsächlich genial, nicht in gewisser, sondern in jeder Hinsicht hervorragend! Vergleichen Sie ihn mit anderen! Wer kann, was er kann?«

Ich antwortete ernst: »Dafür kann er manches nicht, was andere können. Auf den Schiffen ist keiner, der nicht hervorragend wäre. Nur Außergewöhnliche wurden für die Fahrt ausgewählt. Oder ist Kamagin deiner Meinung nach mittelmäßig? Oder deine Mutter?« »Ich spreche von Ellon, nicht von meiner Mutter oder Kamagin. Er verdient herzliche, nicht gleichgültige Hochachtung.«

»Was willst du?«

»Warum ziehen Sie ihm den Drachen vor?« platzte sie heraus. »Ein ekelhaftes Reptil wird über alle erhoben! Mit Ach und Krach ersetzte der Drachen die Schiffsmaschinen, als sie nicht funktionierten, und jetzt, da sie in Ordnung sind, bringt er ihre Kommandos durcheinander. Kombiniert mit der Schiffsmaschine ist er schlechter als die Schiffsmaschine allein.«

»Einmal sind die Maschinen schon ausgefallen, Irina…«

»Na und? Noch zehnmal werden sie ausfallen, und noch zehnmal wird man sie reparieren! Ihre Vorliebe für den Drachen ist beleidigend! Verstehen Sie das nicht?«

»Ich verstehe etwas anderes nicht, Irina. Warum haßt Ellon den ehemaligen Vagabund so sehr?«

»Ich weiß nicht. Fragen Sie lieber, warum ich den Drachen nicht leiden kann.«

»Gut. Warum magst du die Stimme nicht?«

»Ich mag sie nicht, und basta! Da haben Sie eine klare Antwort. Sie war mir schon auf dem Dritten Planeten widerwärtig. Brrr! Ein kolossaler Dickwanst, der schlecht riecht!«

»Er hat sich verändert seitdem, Irina!«

»Ja, klapprig war er geworden, techtelmechteln konnte er nicht mehr und hatte auch niemanden dazu.

Aber seinen Geruch hatte er aufs Sternenflugzeug mitgeschleppt. Ich lief immer mit zugehaltener Nase am Drachenstall vorbei, während Sie dort Stunden zubrachten«.

»Ich hatte keine Ahnung, daß er dir unangenehm ist.«

»Oleg ist er ebenfalls unangenehm, dennoch hat er nachgegeben, wie er Ihnen stets nachgibt. Sie dagegen spucken auf fremde Gefühle, Sie ziehen nur die eigenen in Betracht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Eine schwerwiegende Beschuldigung, Irina!«

»Sie beruht auf Wahrheit! Außer dem Hund Mizar wollte Lussin noch zwei Katzen mitnehmen. Als jemand sagte, Sie könnten Katzen nicht ausstehen, wurde speziell geprüft, ob es an dem sei. Und es stellte sich heraus, ja, Sie mögen Katzen nicht. Lussin wagte kein Wort mehr über die Katzen zu verlieren!

Haben Sie jemanden gefragt, ob ihm die Gesellschaft des feuerspeienden Dinosauriers gefällt?«

»Es gibt keinen Drachen mehr, Irina«, sagte ich.

»Es gibt eine denkende Stimme, die die Arbeit der beiden Schiffsmaschinen koordiniert. Wenn die Koordination schlecht läuft, entheben wir die Stimme ihrer heutigen Funktion und versetzen sie in die Reserve.«

Irina stand auf. Ich hielt sie zurück.

»Du sagtest, über Oleg müßte gesondert gesprochen werden. Was meinst du damit?«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie schwieg eine Weile. »Ich erkenne Oleg nicht wieder. Sie sind der erste Mann im Geschwader, Eli. Sie haben sich alle unterworfen. Und er hat sich damit abgefunden. Ich war stolz auf ihn, jetzt tut er mir leid. Ich habe zu ihm gesagt: Mein Vater ist ebenfalls mit Eli geflogen, aber er ließ sich nicht so herumkommandieren, wie du es dir gefallen läßt. Oleg ist der Ansicht, ich bildete mir das alles nur ein.«

»Du bildest dir tatsächlich viel ein«, erwiderte ich.

Als sie weg war, ging ich im Zimmer stumm auf und ab. Mary beobachtete mich belustigt. Ich sagte ärgerlich: »Freust du dich, daß es auf dem Schiff zu Reibereien gekommen ist? Daß die Freundschaft zwischen mir und Oleg völlig falsch ausgelegt wird?«

Sie lachte so ansteckend, daß ich mitlachte.

»Ich freue mich, daß dir mal ein paar unangenehme, aber wahre Worte gesagt wurden«, entgegnete sie. »Ich hatte schon lange das gleiche vor, hatte aber Mitleid mit dir. Du bist über jede Kleinigkeit so pikiert… Übrigens hatte ich empfohlen, die Katzen nicht mitzunehmen.«

»Das war unnötig! Ich hätte sie ertragen. Hätte mich an sie gewöhnt…«

»Das eben wurde befürchtet.«

»Na schön, ich mag Katzen nicht!« rief ich ärgerlich. »Und was ist deiner Meinung nach zu tun?«

»Zunächst, zwischen der Schiffsmaschine und der Stimme gibt es Diskrepanzen. Wenn das stimmt, dann ist es ernst.«

»Ich werde das sofort prüfen«, sagte ich.

Im Operativraum schritt Grazi die ringförmige Wand entlang. Gewissenhaft erfüllte er seine neuen Pflichten. Praktisch beschränkten sie sich einstweilen auf Gespräche mit der Stimme über alles und jedes auf der Welt.

»Stimme«, fragte ich, »wie steht’s um die Arbeit mit den denkenden Maschinen?«

»Beide sind zu langsam«, beklagte sie sich.

»Willst du sagen, daß du die Varianten schneller errechnest?«

»Ich bin nicht so dumm, Eli, das zu behaupten. Es ist unmöglich, schneller als die Schiffsmaschinen zu rechnen. Aber ich erklärte dir schon, daß ich nicht die Varianten durchgehe. Ich finde sofort die Antwort.«

»Ja, das sagtest du. Aber wie ist das möglich?«

»Die Varianten tauchen in mir alle zugleich auf. Ich brauche nur die richtige herauszugreifen. Die verworfenen werden mir nicht bewußt. Ich bewerte sie insgesamt, ohne die Ursachen und Folgen im einzelnen zu prüfen. Ehe die Schiffsmaschine alle Varianten errechnet hat, habe ich schon die Lösung parat. Das verwirrt ihre Arbeit ein bißchen, aber noch nie sind wir auf einen falschen Weg geraten.«

Ich wandte mich an Grazi. »Denkst du auch in fertigen Bewertungen, ohne die Varianten zu vergleichen?«

»Ich bemühe mich, Eli«, antwortete er erhaben.

Es war folglich keineswegs so, wie Ellon und Irma es sahen. Ich ging in den Kommandeursaal. Um Oshima nicht abzulenken, bat ich Oleg hinaus. Er führte mich in seine Wohnung. Sie besteht aus zwei kleinen Zimmern, die den Schiffskajüten von einst gleichen.

Ich war noch nie bei Oleg gewesen, wir waren uns immer nur in den Diensträumen begegnet. Um ein rundes Tischchen standen Sessel, an den Wänden hingen die Porträts berühmter Sternenfahrer, darunter auch meins. Ich betrachtete Andrés Bild. Es zeigte Olegs Vater mit himbeerfarbenem Haar. Der üppige, gleichsam lohende Schöpf umrahmte ein bleiches, feines Gesicht. Andrés Augen lachten. Trotz allem war er in seiner Jugend Oleg sehr ähnlich gewesen, nur die Lockenmode war vergangen.

»Ist es auf der Ora aufgenommen worden?« fragte ich. »Vor der Gefangennahme, Eli. Am Tag der Landung auf der Sigma, wo Vater den Unsichtbaren in die Hände fiel. Wera schickte dieses Foto meiner Mutter, als Olga, Leonid und du die Fahrt zum Perseus fortsetzten. Was wolltest du mir sagen, Eli?«

Ich erzählte von Ellons Forderungen, von Irinas Bitten. Oleg hörte gleichmütig zu und lächelte nur einmal, als ich erwähnte, daß ich Irinas Meinung nach alle unterdrückte. »Das scheint dich getroffen zu haben, Eli?«

»Es ist nicht gerade angenehm, wenn einem solche Beschuldigungen ins Gesicht geschleudert werden.«

»Mach dir nichts draus. Ich bin keiner von denen, die man zwingen kann, etwas gegen ihren Willen zu tun. Wenn ich mit dir einverstanden bin, dann nur deshalb, weil du recht hast. Das ist ja der Grund, weshalb ich darauf bestand, daß du an der Fahrt teilnimmst : um auf deine Ratschläge zu hören. Hier handelt es sich um Zusammenarbeit, nicht um Verlust der Selbständigkeit. Schade, daß Irina das nicht begreift.«

»Auch manches andere begreift sie nicht«, fügte ich hinzu. Oleg nickte. Ich sagte, daß es unvernünftig wäre, den Rückzug anzutreten. Die Stimme schaffe ein neues Schiffslenkungssystem, das effektiver als das in der Schiffsmaschine realisiert sei.

»Die Sache ist die, Oleg«, sagte ich, »daß die Konstrukteure nur eine Besonderheit des menschlichen Denkens für die denkenden Maschinen benutzen: die Fähigkeit, zu erwägen, die Fähigkeit, Schlußfolgerungen aus Ursachen zu ziehen, das heißt, eine logische Kette zu bauen. Jede Abzweigung der logischen Kette bietet eine Variante der Situationsbewertung. Die Schiffsmaschine vermehrt und vergleicht die Varianten, das ist ihre Aufgabe. Aber das Denken des Menschen erschöpft sich nicht darin. Und in schwierigen Situationen drohen große Unannehmlichkeiten, wenn maschinelles und menschliches Denken nicht übereinstimmen.«

Ich führte ein Beispiel an: Jeder weiß, was eine Mutter ist. Doch die Maschine braucht, um sich den ganzen Reichtum des Begriffs »Mutter« klarzumachen, Hunderttausende von Merkmalen und Fakten, deren Aufzählung allein Monate in Anspruch nehmen würde, ohne die aber ihre Einschätzung dem menschlichen Mutterbegriff nicht gleichkäme. Wir haben eine Stadt gesehen und rufen aus: »Wie schön!« Will die Maschine unsere Wahrnehmung genau nachvollziehen, so ist sie gezwungen, alle Gebäude aufzuzählen, alle Straßen, alle Bäume, alle Wolken über den Straßen, muß sie die architektonische Schönheit und die historische Bedeutung eines jeden Gebäudes beschreiben, angefangen mit den Ziegeln, der Farbe der Wände, den Überdachungen, dem Fundament und weiß der Teufel womit sonst noch, und dann wird die Schönheit, die sich uns augenblicklich erschließt, zum umständlichen Resultat zahlloser Vergleiche und Kongruenzen – zum Höhepunkt einer unermeßlichen Kette von Ursachen und Folgen.

»Du bist ein Maschinenstürmer, Eli!« sagte Oleg lächelnd. »Darüber, ob du recht hast, will ich nicht befinden. Aber du sprachst von möglichen großen Unannehmlichkeiten. Unannehmlichkeiten auf der Reise betreffen den Oberbefehlshaber unmittelbar.

Worauf spieltest du an?« »Nur darauf, daß jede beliebige Kette in jeder beliebigen Minute an jedem ihrer zahllosen Glieder reißen kann, so daß die ganze lange Rechnung absurd wird. Erinnere dich an die Havarie auf der ,Rammbock’. In einem bestimmten Augenblick wurden mehrere Folgen und Ursachen durcheinandergebracht.

Und die ganze logische Kette war zum Teufel. Die Schiffsmaschine begann falsche Lösungen zu liefern.

Nur gut, daß sie sich selbst abschaltete, als sie in der Sackgasse steckte. Sie hätte unter anderem beispielsweise auch den absurden Befehl geben können, sich zu sprengen oder die Annihilatoren auf die anderen Sternenflugzeuge zu richten.«

»Unsere Schiffsmaschinen sind mit einem guten System der Selbstkontrolle ausgestattet, Eli.«

»Ich spreche von Situationen, wo auch die Selbstkontrolle versagen kann.«

»Bist du sicher, daß mit der Stimme solche Unannehmlichkeiten unmöglich sind?«

»Sofern sie nicht plötzlich den Verstand verliert.

Sie denkt in ganzen Bildern. Sie erwägt und berechnet, aber das ist bei ihr nur eine Hilfsmethode. Selbstverständlich ist sie den Maschinen überlegen.«

»Ich stimme dir zu«, sagte Oleg in gleichförmigem Ton. »Nimm an, du hättest mich wieder untergekriegt und mir deinen Willen aufgezwungen. Schwierige Situationen wird es sicherlich geben.«

»Wer von uns sagt Ellon und Irina, daß ihre Bitte zum zweiten Mal abgelehnt wird?«

Oleg zögerte. »Übernimm du das lieber. Mir fällt es schwer, mit Irina zu sprechen. Sie ist ja ganz vernarrt in ihren Leiter.« »Aber das ist doch lächerlich! Unsere Sternenfreunde sind Freunde, nicht mehr. Und schließlich ist da das Hindernis der Körperstruktur! Liebe ist ein Gefühl nur für ein Individuum derselben Art. Hier handelt es sich höchstens um Kameradschaft. Irina verwechselt zwei unähnliche Gefühle.«

Oleg blickte zerstreut an mir vorbei. »Ich hörte, du habest dich einst in eine gewisse Viola, eine Schlange von der Wega, verliebt. Sind Schlangen etwa der gleichen Natur wie wir?«

»Eine jünglingshafte Leidenschaft, ich habe das längst vergessen. Viola und mich trennte alles, sehr wenig verband uns. Ich hatte das bald begriffen.«

»Irina wird das ebenfalls begreifen, aber ich bin nicht sicher, daß das schon bald sein wird.«

7

Wir flogen in den Kern hinein. Wie ruhig das klingt.

Als wäre da eine Grenze zwischen dem Kern und dem Raum ringsum gewesen, und als hätten wir sie überquert. Aber da war keine Grenze, da waren die Sterne nicht einmal besonders verdichtet, in dem nach außen entgleitenden Kugelsternhaufen waren sie mehr zusammengepreßt. Dennoch begriffen wir sofort, daß wir im Kern waren, die Sterne wirkten plötzlich wie von Sinnen. Ich diktiere »plötzlich« und »wie von Sinnen« und überlege. Die Astrophysiker werden mir vorwerfen, toten Körpern menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Aber treffender vermag ich das Verhalten der Gestirne nicht wiederzugeben. Nicht mehr ihr Leuchten war charakteristisch, sondern ihre Raserei.

Einem, der nicht im Kern gewesen ist, läßt sich das nicht mit Worten schildern. Man muß selber in das Chaos der wie toll heran- und fortfliegenden Sterne tauchen, um mit innerem Erschauern, nicht allein mit den Augen zu erfassen, daß man im Kern ist. Ringsum tobt eine Explosion, und man selbst ist nicht mehr als ein dunkles Stäubchen inmitten der sausenden strahlenden Splitter! Wir kannten Sternhaufen, sowohl offene, wie die Plejaden und die beiden Ansammlungen x und h im Perseus, wie auch sphärische gleich denen, die wir durchflogen hatten. Dort hingen die Sterne ganz normal in ihren Koordinatenknoten und entfernten sich kaum voneinander. Und wenn das doch geschah, dann dauerte es lange, ehe es bemerkbar wurde. Die Harmonie der Sternensphären erklang dort als Melodie der Gravitation, dort war Ordnung.

Doch hier herrschte das Chaos. Kann eine Explosion harmonisch sein? Und wenn ein Stern vorbeijagte oder einen Nachbarn ereilte, brachen rauchige Protuberanzen aus ihnen hervor, und ich hatte das Empfinden, als reiße einer dem anderen ein Büschel Haare vom Kopf.

»Eli, ich bin außerstande, die Bahn auch nur eines der Gestirne zu errechnen«, sagte Olga beinahe erschreckt, als wir zu viert im Kommandeursaal saßen.

»Newtons Gesetze sind hier von irgendwelchen Kräften überlagert, die Unordnung stiften. Der Kern siedet. Und ich begreife nicht, weshalb. Was für eine gigantische Macht muß das sein, die das Gleichgewicht der Sterne derart stört!«

Oleg betrachtete nachdenklich den Sternenstrudel auf den Bildschirmen. »Ist es nicht, Freunde, als beobachteten wir, wie alle Sterne auf einen Haufen fallen und dann zu Nebel werden?«

»Das ist der Untergang unserer Galaxis«, antwortete Olga. »Sie besteht aus rund zweihundert Milliarden Sternen, die Hälfte davon ist im Kern konzentriert. Wenn hundert Milliarden Gestirne explodieren, bleibt von den anderen hundert Milliarden, darunter auch von unserer Sonne und vom Perseus der Demiurgen und Galakten, nichts als Staub übrig.«

»Dafür freuen sich die vernunftbegabten Beobachter in anderen Galaxien, das Auftauchen eines neuen Quasars fixiert zu haben«, tröstete ich sie.

»Mehr und mehr gewinne ich die Überzeugung, daß wir unüberlegt handelten, als wir in diesen brodelnden Sternenbrei eindrangen«, sagte Olga. »Oleg, ich glaube, Überlichtgeschwindigkeiten sind hier gefährlich.«

Ich komme jetzt zu dem Ereignis, das bewies, wie berechtigt Olgas Sorge war. Wieder saßen wir zu viert im Kommandeursaal. Oshima führte das Schiff, Olga rechnete, Oleg und ich unterhielten uns leise.

Plötzlich sagte Olga erstaunt: »Aus meiner Kalkulation ergibt sich, daß wir unserem Ende entgegentreiben. Wahrscheinlich habe ich irgendwo einen Fehler gemacht!«

Ich antwortete großmütig: »Bestimmt hast du das, Olga, obwohl dir das höchst selten passiert. Ein unmotivierter Untergang der beiden Sternenflugzeuge ist trotz allem weniger wahrscheinlich als ein arithmetischer Fehler in den Berechnungen.«

»Ich prüfe mal nach«, sagte sie.

Im selben Augenblick erschallten die Signale für höchste Alarmstufe: Die Sirenen heulten, die Anlaßrelais der Kampfannihilatoren quakten, die Havarielampen flackerten. Auf der Lichttafel leuchteten die unheilvollen Worte auf: »Raumgeneratoren erste Bereitschaft!« Ich griff nach dem Sprachrohr, doch Oleg kam mir zuvor. »Stimme, was ist geschehen?« schrie er.

Wir hörten die Antwort, daß sich das Häufchen ungeordnet umherfliegender Sterne, zwischen denen sich die Schiffe hindurchzwängten, plötzlich, wie in einem Krampf, einheitlich bewege und sich seinem geometrischen Zentrum nähere, in dem wir uns gerade befänden. Die Sterne würden blindwütig aufeinanderstürzen und in die Explosion unweigerlich uns mit einbeziehen. Einziger Ausweg: in einem Kanal neugeschaffenen Raums aus dem Sternhaufen ausbrechen.

»Wir stellen Berechnungen an«, informierte die Stimme.

»Ich bezweifle, daß ein positives Ergebnis zu erwarten ist«, schätzte Olga die Lage ruhig ein. »Die Vorräte des gesamten Geschwaders reichen nicht aus, um einen Tunnel anzulegen.«

Ich rief das Laboratorium.

»Ellon«, sagte ich. »Wir sind in einer gefährlichen Klemme. Möglicherweise kann uns nur die Gravitationsschnecke retten. Setz dich mit der Stimme in Verbindung.« Er antwortete voll düsterer Heiterkeit: »Die Schnecke hat einen ganzen Planeten zum Teufel gejagt, die beiden Sternenflugzeuge hinauszubefördern ist einfacher. Mag nur euer schwebender Liebling zugeben, daß er nicht imstande ist, einen Kurs zwischen den Sternen hindurch festzulegen, und ich korrigiere seinen Fehler.«

Kurz darauf teilte die Stimme mit, daß uns die Aktivstoffannihilation vor der Sternenexplosion nicht bewahren würde und daß die einzige Hoffnung darin bestehe, mit Hilfe der Gravitationsschnecke hinauszugleiten. Auf den Sternenbildschirmen entbrannten rund hundert Gestirne vom Ausmaß der Venus, wurden größer und erglühten bedrohlich. Ich erinnerte mich, daß ich in meiner Jugend in den Plejaden genauso beklommen beobachtete, wie aus allen Richtungen der Sternensphäre grimmige Lichter auf uns zustürzten. Aber jene Lichter, die klein waren, grellgrün, die kosmischen Kreuzer der Zerstörer, waren Stäubchen im Vergleich zu den Giganten, die uns hier umschlossen. Hundert Sonnen fielen herab. Sie hatten auch bald die Größe der Sonne erreicht, blendend weiß, bläulich, regenbogenfarben, trübrot, kirschfarben… Beide Sternen- Halbsphären waren rasend lodernde Feuer geworden. Allein von der Hitze mußten sich unsere Schiffe in ein Dampfwölkchen verwandeln, noch ehe die Sterne aufeinanderstießen. Ich rief die Stimme.

»Zu früh, Eli«, antwortete sie, »Ellon und ich warten auf den passenden Moment.«

Alle Schiffsenergiequellen waren auf den Metrikgenerator geschaltet. Die »Schlangenträger« folgte im Kielwasser der »Steinbock«. Kamagin sandte mir eine scherzhafte Ermunterung. »Admiral, zu meiner Zeit sagte man: In Gesellschaft ist auch der Tod nicht schrecklich. Wir werden ihn als hell empfinden.« Der Witz erschien mir makaber.

Doch dann sahen wir, wie sich zwei Sonnen aus der Masse lösten und aufeinander zujagten. Auf der Linie, auf der sie sich bewegten, befanden sich unsere Sternenflugzeuge. Wir hatten nicht einmal den Trost, daß wir uns kurz vor unserem Ende an einem Weltallbrand würden weiden können. Beide Gestirne würden explodieren, bevor die übrigen ein allgemeines Mischmasch bildeten, und noch eher würden wir verdampfen, wenn wir nicht auf der Raumkrümmung hinausglitten.

»Einschalten!« hörte ich das dreifache Kommando, zu dem sich die Stimme, Ellons Schrei und Olegs Befehl vereinigten.

Ein entsetzlicher Schmerz krampfte meinen Körper zusammen. Flüchtig, wie nebenbei, sah ich, daß sich Oshima und Olga in ihren Sesseln wanden, daß sich Oleg nach dem Hals griff, als zerreiße er würgende Schlingen. Doch das, was sich auf dem Bildschirm abspielte, war so phantastisch unvorhergesehen, daß ich den Schmerz zunächst vergaß.

Die fliegenden Sonnen stießen zusammen, ohne zu explodieren. Eine schob sich durch die andere. Sie jagten ineinander dahin, ohne sich zu vermischen, ohne sich aufzulösen, ohne nach dem schrecklichen Zusammenprall zu entbrennen. Sie verloren nicht einmal die Kugelform. Die eine war mit Protuberanzen gespickt, die mir wie Feuerschlangen auf dem Kopf eines kosmischen Aranen vorkamen, die andere flog in einer Korona, einem Lichtkranz, einem durchsichtig zarten Halo. Und keine der Protuberanzen veränderte sich, als Sonne durch Sonne jagte, so kapriziös wie vorher wanden sie sich, brachen hervor, flammten auf und verblaßten. Und der Halo der zweiten Sonne trübte sich nur ein wenig in der Helligkeit des ersten Gestirns, verschwand aber nicht, verschwamm nicht, sondern blieb zart und licht. Ich begriff, daß ich den Verstand verlor, daß der Schmerz in den Körperzellen mir das Bewußtsein trübte. Ich freute mich nicht einmal darüber, daß wir nicht zu sterben brauchten. Die rettenden Wege sah ich nicht, es war unmöglich. Wir sanken nicht in einem Gravitationsloch, kreisten nicht in einer Gravitationsspirale, sonst wären alle Gestirne sofort verschwunden. Doch sie waren da, eins stieß mit dem anderen zusammen, eins ging durch das andere hindurch. Sie glichen Schatten, die sich für einen Augenblick kreuzen. »Sternenphantome! Sternenphantome!« schrie ich, von diesem Gedanken erschüttert.

Sonne war durch Sonne gegangen, und nun entfernten sie sich voneinander. Sie waren zusammengestoßen und doch nicht zusammengestoßen. Die unvermeidliche, unabwendbare Explosion hatte nicht stattgefunden. Es gab keine andere Realität als den Krampf und den Schmerz in jeder Zelle und Ader!

Ich stürzte zu Oleg. Er krächzte: »Zu Ellon! Um Olga und Oshima kümmere ich mich!«

Ich rannte in den Korridor und fiel hin. Die Beine gehorchten mir nicht. Sie ließen sich nicht folgerichtig bewegen. Sobald ich den linken Fuß setzen wollte, erhob sich auch der rechte. Ich stürzte noch ein paarmal, bevor mir klar wurde, daß ich nicht mehr gehen, sondern nur wie die Demiurgen hüpfen konnte. So hüpfte ich auf beiden Beinen, aber noch ehe ich im Labor anlangte, fand ich zur normalen Gangart zurück.

Das Laboratorium sah aus wie nach einem Erdbeben. Die Laufwerke hatten sich von ihren Plätzen gelöst, nur die Böcke standen dort, wo sie hingehörten.

Ellon lag lang ausgestreckt neben dem Metrikgenerator, und seine Arme und Beine zuckten. Bei ihm kniete Irina, weinend rief sie ihn, zupfte an ihm und küßte ihn. Sie wandte mir das tränenüberströmte Gesicht zu und stöhnte. »Helfen Sie! Er stirbt! Das ist mein Ende!«

Mit vereinten Kräften hoben wir Ellon auf und setzten ihn in einen Sessel. Irina kniete erneut nieder und sagte schluchzend: »Ich liebe dich! Du mein Einziger!«

Ich versuchte vergebens, sie von Ellon wegzuziehen.

Ellon hob mühsam die Lider. Er hatte trübe Augen.

»Irina«, flüsterte er, »Irina, lebe ich?«

Sie küßte ihn noch leidenschaftlicher. »Ja, ja, ja!

Du lebst, und ich liebe dich! Umarme mich, Ellon!«

Er stand auf, wankte.

»Umarme mich!« verlangte Irina und schmiegte sich an ihn. »Umarme mich, Ellon!«

Diesmal blickte er sie vernünftig an. »Umarmen?« wiederholte er befremdet. »Dich umarmen? Wieso?«

Wimmernd schlug sie die Hände vors Gesicht. Ich faßte sie unter. »Irina, geh in dein Zimmer. Ellon kann dich nicht verstehen.«

Sie brauste auf: »Was wollen Sie von mir? Sie sind ein böser Mensch! Sie selbst verstehen niemand!«

»Ich will nichts von dir, Irina! Sei nicht hysterisch!

Ellon, was ist passiert? Hast du den Metrikgenerator eingeschaltet?«

Das Sprechen bereitete ihm Mühe. »Admiral, ich hab‘ gar nichts getan. Es wirbelte mich plötzlich herum und schleuderte mich zu Boden. Ich sehe, daß wir gerettet sind.« Immer noch befremdet blickte er Irina an. »Was ist mit dir? Hast du dich verletzt? Soll ich dich zur medizinischen Maschine begleiten, Irina?«

Sie nahm sich zusammen, lächelte sogar, doch ihre Stimme zitterte. »Bei mir ist alles in Ordnung, Ellon.

Ich werde das Labor aufräumen.«

Sie trat beiseite. Ellon berichtete, daß er in dem Augenblick stürzte, als er sich anschickte, beide Schiffe in die Schnecke gleiten zu lassen.

Ich erinnerte mich, daß ich nichts über Mary wußte, und ich rief sie. Mary fühlte sich nicht besonders gut, aber allmählich erholte sie sich. Der Schmerz hatte sie ereilt, als sie in ihr Labor gehen wollte. Sie hatte sich zu ihrem Bett schleppen können.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Eli. Laß dich nicht abhalten.«

Dann eilte ich in den Operativraum. Dort war alles unverändert. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand.

Grazi stützte mich. Der Galakt stand fest auf den Füßen, obwohl er bleich war. Ich murmelte gequält:

»Stimme, Grazi, was waren das für ungeheuerliche Phantome?« Wie aus weiter Ferne hörte ich die Stimme. »Eli, das waren keine Phantome, das war kein Trugbild, als Sonne auf Sonne stürzte, sondern Wirklichkeit.«

»Und sie sind zusammengestoßen? Und es hat keine Explosion gegeben? Und Sonne ist durch Sonne gegangen? Offenbar haben wir alle den Verstand verloren! Grazi, begreifst du etwas? Wir sind in eine Welt geraten, wo die Gesetze der Physik aufgehoben sind! Selbst die Gravitation ist abgeschafft!«

Grazi sah nicht weniger verwirrt aus als ich.

Die Stimme fuhr fort: »Die Zeitenkette riß in mir.

Ich war zugleich in der Vergangenheit und in der Zukunft, die Gegenwart gab es nicht. Aus meinem , Jetzt‘ war ich herausgeschleudert. Das war eine entsetzliche Qual, Eli. Es war, als blute die Zeit in mir. Und aus der Vergangenheit konnte ich nicht auf die Zukunft einwirken, denn das. ‚Jetzt‘ fehlte als Bindeglied. Ich glaubte, mir platze der Kopf, weil ich außerstande war, etwas zu begreifen. Nur einfacher Handlungen war ich fähig, jemanden zu retten, jemanden aufzuheben, mit jemandem zu kämpfen, jemanden anzuschreien…«

»Stimme, ich frage dich nach den Sonnen, die zusammenstießen, nicht nach deinem Befinden!«

»Sie stießen nicht zusammen, Eli! Zwischen den fliegenden Gestirnen riß das Band der Zeit. Dieser Riß traf auch uns, und unsere Zeit riß ebenfalls…

Sonne flog nicht in ihrer beider Jetzt‘ auf Sonne.

Wahrscheinlich blieb eine in der Vergangenheit, während die andere in die Zukunft hinausgetragen wurde.

Den Ort des Zusammenstoßes durchrasten sie in verschiedenen Zeiten, deshalb gab es keine Explosion.« Ich begann zu verstehen, wenn es mich auch Anstrengung kostete. »Du sprichst ungeheuerliche Dinge, Stimme. Ich vermag einzuräumen, daß Julius Cäsar und Attila die gleiche Erde beschritten, den Fuß auf die gleichen Steine setzten, aber nicht zusammenstoßen konnten, weil Jahrhunderte sie trennten.

Daß die Zeit selbst reißt…«

»Das ist die einzig richtige Erklärung.«

»Beweise es, Stimme!«

»Die Schiffsmaschinen bearbeiten alles, was die Analysatoren fixierten.«

Ich kehrte in den Kommandeursaal zurück. Oleg und Oshima fühlten sich schwach, bewegten sich aber ohne Mühe. Oshima führte wieder die »Steinbock«.

Oleg wußte bereits, daß die Schiffsmaschinen Berechnungen anstellten.

Niedergeschlagen starrten wir wenig später auf das von ihnen errechnete Ergebnis. Selbst im Fieberwahn wäre unvorstellbar gewesen, was auf dem Rechnungsstreifen derart einfach und in seiner Weise sogar logisch schien. Die Sterne waren real aufeinander zugejagt, doch in dem Augenblick, als ihre gegenseitige Gravitation einen bestimmten Grenzwert erreichte, kam es bei ihnen zu einer Unterbrechung des Zeitverlaufs. Die Zeit riß tatsächlich, hörte auf, synchron zu sein. Der Riß machte Picosekunden für Mikroteilchen aus, Sekunden für uns, Jahrtausende für die Sonnen. Diese Sekunden außerhalb der Zeit hätten uns beinahe das Leben gekostetes mußte noch geklärt werden, warum wir unversehrt geblieben waren.

Desgleichen blieb mir unklar, warum die Zeit für beliebige Teilchen und kosmische Massen normalerweise gleich war, die Größe des Risses aber derart von der Masse abhing. Für Mikroteilchen genügten Picosekunden, um nicht in der Gleichzeitigkeit zusammenzustoßen. Den Gestirnen jedoch garantierte eine Zeitverschiebung von Jahrtausenden das ungehinderte Passieren einer Stelle, wo sie ohne diese Verschiebung zusammengestoßen und explodiert wären. Alles wurde klar. Doch es war eine unfaßbare Klarheit.

Am Abend schaute Romero bei Mary und mir herein. Er fühlte sich nicht besser als die anderen. Er sagte, der Zeitriß habe nur Mizar nichts ausgemacht, der Hund Sei munter und guter Dinge. Gig habe ebenfalls nicht gelitten, doch Trub sei erkrankt. Romero nannte den Vorfall ein Drama im alten Stil. Die Schriftsteller früherer Zeiten hätten gern das Grauen ausgemalt, das eine Störung im Zeitverlauf mit sich brächte. Er nannte viele Namen, von denen ich mir Hamlet, Ahasver, Melmoth und einen gewissen Yankee bei König Artus gemerkt habe. Romeros historische Untersuchung berührte mich wenig. Ein Riß der psychologischen Zeit, und nur darum handelte es sich bei den Alten, führte zu seelischen Qualen. Wir dagegen hatten es mit einer physikalischen Zeithavarie zu tun, und davon knackten unsere Knochen und ächzte der superfeste Schiffsrumpf. Diesen wesentlichen Unterschied unterschätzte Romero.

»Warum bist du so düster?« fragte Mary, als sich Romero, den Spazierstock sanft aufsetzend, entfernt hatte. »Es ist doch alles gut gegangen.«

»Nur der Anfang ist gut gegangen«, antwortete ich.

»Wie wird die Fortsetzung sein?«

Der nächste Tag brachte nichts Neues. Und noch ein paar Tage lang ereignete sich nichts, will man das Schauspiel der ungeordnet umherfliegenden Gestirne nicht als Ereignis betrachten. Doch dann erschallten wieder die Signale für höchste Alarmstufe, und jeder eilte an seinen Gefechtsposten. Die Bildschirme zeigten das bekannte Bild: Ein Sternenschwarm ringsum, und alle Sterne fielen auf uns herab. Oshima rief erschreckt, dies sei der Sternenschwarm von neulich.

Oleg forderte von der Stimme Auskünfte an. Sie übermittelte, daß dies tatsächlich die Sternenumgebung sei, in der wir uns schon einmal aufgehalten hatten.

»Wir jagen in unsere Vergangenheit!« Oleg starrte auf die Erbsen, die sich rasch zu Sonnen auswuchsen.

»Wir jagen in unsere Zukunft«, korrigierte Olga.

»Alles, was uns bevorsteht, ist Zukunft. Aber diese uns bevorstehende Zukunft war schon in der Vergangenheit.«

Ich schaute von ihr zu Oleg, von Oleg zu Oshima.

Ich wußte nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ein Flug in die Zukunft, die Vergangenheit war, konnte nur bedeuten, daß wir in eine Zeitkrümmung geraten waren, wo es weder Anfang noch Ende gibt und wo jeder Augenblick zugleich auch Vergangenheit und Zukunft ist. Bisher hatten solche Situationen nur als Thema für phantastische Romane gedient, niemand hätte vermutet, daß ein Zeitwirbel in der realen Natur zutage treten könne.

»Wir befinden uns in einem Zeitring, Oleg«, sagte ich. »Und zieht man in Betracht, daß die Vergangenheit sehr schnell kam, so ist der Durchmesser des Ringes nicht groß. Wir werden uns nun unaufhörlich in einem geschlossenen Kreis bewegen, uns nachjagen wie ein Hund seinem Schwanz. Deine Pläne, Oleg?«

Oleg erbleichte noch mehr, verlor aber seine Entschlossenheit nicht. »Wir wollen uns bemühen, nicht in die Zukunft zu geraten, die unsere Vergangenheit ist. Ellon, halte dich bereit, die Metrikgeneratoren einzuschalten! Stimme, erteile das Kommando zum Einschalten, bevor die Zeit abermals reißt!«

Nun konnten wir nur abwarten. Erneut funkelten auf den Bildschirmen die hundert größer werdenden grellen Sonnen. Erneut lösten sich die beiden tollwütigen Gestirne aus dem Schwärm und rasten aufeinander zu. Ich duckte mich, machte mich auf einen neuen Schlag auf Nerven und Gewebe gefaßt, den ich diesmal vielleicht nicht überstehen würde. Aber die aufeinander zu fliegenden Sonnen verblaßten und gingen unter. Und dann gab es keinen kompakten Sternenschwarm mehr, es gab wie vorher einen Wirrwarr der Sterne, ein Gedränge und Geschiebe, das etwas nur dichter und chaotischer war. Aus dem gefährlichen Raum zwischen den zusammenstoßenden Gestirnen waren wir ins normale Sternengetümmel des Kerns entschlüpft.

»Es erweist sich, daß der Zeitriß nicht einfach ein Riß war«, sagte Olga erleichtert. »Er bedeutete, daß wir in die Vergangenheit versetzt wurden. Denn nur aus der Vergangenheit konnten wir in die Zukunft fliegen, die schon gewesen ist.«

Ich leitete ihren Gedanken an die Stimme weiter.

Sie hatte den Zeitriß entdeckt. Mochten sie nach Herzenslust miteinander streiten und zu wichtigen Schlüssen gelangen. Olgas Denken beruhte zwar auf Erwägungen, das der Stimme auf fertigen Resultaten, aber zur Wahrheit konnten sie auch auf verschiedenen Wegen gelangen. Mich beunruhigte mehr, daß unsere Fahrt in der Gravitationsschnecke nicht aus dem Kern hinaus, sondern in seine Tiefe führte.

8

Trubs Zustand hatte sich verschlechtert. Mary und ich besuchten den alten Engel. Er lag auf einem weichen Sofa. Sein runzliges Gesicht war so grau wie der Backenbart. Seiner Gewohnheit nach kämmte er ihn mit den gebogenen Krallen, aber so langsam, so schwach, daß Mary die Tränen kamen. Es wurde klar, daß seine Tage gezählt waren. Er wußte, daß er bald sterben würde, und er hatte keine Angst davor. »Eli, der Zeitriß ist nichts für mich«, flüsterte er traurig.

»Die Engel können nicht zugleich in verschiedenen Zeiten leben. Du weißt, Admiral, wir haben einen verteufelt starken Organismus, wir ertragen jede physische Belastung. Aber die Verschiedenzeitigkeit ist uns schädlich. Wir sind prinzipielle Gleichzeitler. Alles andere ist eine Katastrophe für uns. Lussin hätte solch eine Zeitverdrehung ebenfalls nicht vertragen.

Davon bin ich überzeugt.«

Mary tröstete Trub. Ich konnte es nicht. Frauen, das wurde des öfteren bemerkt, lehnen sich gegen offensichtlichste Offensichtlichkeiten auf, wenn sie ihrem Gefühl zuwider sind. Schweigend hörte ich mir an, wie sie dem Engel einredete, er werde sich wieder erholen, die Behandlung sei ja noch nicht abgeschlossen, und wenn es soweit sei, werde er sich vom Krankenlager nicht einfach erheben, sondern sofort aufschwingen.

Vielleicht glaubte sie ihre Beteuerungen selbst. Trub glaubte nicht daran, aber er betrachtete sie dankbar. Romero trat ein und fragte mich flüsternd, woran ich denke. Ich überlegte gerade, daß sich der Zeitriß auf tote Gegenstände fast gar nicht ausgewirkt hatte, während er bei allen Lebewesen, außer Mizar, schwere Erschütterungen hervorrief. Romero streichelte Mizar, der sich vor ihm hingelegt hatte. Der kluge Hund ließ Trub nicht aus den Augen.

Er hörte, was ich über ihn sagte, ließ es sich aber nicht anmerken. Obwohl er dank Lussins Bemühungen die Menschensprache vortrefflich verstand, sofern wir uns nicht im Abstrakten verloren, mischte er sich aus hündischem Zartgefühl nie in Gespräche ein.

»Sie haben auf eine wichtige Tatsache verwiesen, Eli«, sagte Romero. »Wahrscheinlich war die Phasenverschiebung der Zeit oder ihr Riß, wie die Stimme meint, in unserer kleinen Schiffswelt so winzig, daß die Gegenstände darauf nicht reagieren konnten. In einer Periode von ein, zwei Sekunden ändert sich ja praktisch nichts in der Welt der Sachen. Aber für eine lebende Zelle, eine Nervenzelle zumal, kommt sekundenlange Nichtexistenz einem winzigen Tod gleich.

Wir werden dieser Tatsache künftig Rechnung tragen müssen.«

»Am schlimmsten ist es Trub ergangen.« Genau wie Romero sprach ich fast flüsternd. »Der Schlag auf die Nervenzellen hat zu einer schweren Krankheit geführt – so erkläre ich mir seinen Zustand. Die seelischen Leiden haben körperliche Qualen hervorgerufen.« »Trub scheint sich besser zu fühlen«, sagte Romero erfreut. »Schauen Sie, Eli, er bewegt sich!«

Aber das war keine Belebung, sondern Agonie.

Trubs Körper wurde von einem Krampf zusammengezogen. Er richtete sich auf, schlug schwerfällig mit den Flügeln, wandte mir das Gesicht zu, versuchte verzweifelt, etwas zu sagen, aber statt Worten brach ein undefinierbares Geschrei aus seiner Kehle. Ich ließ mich an seinem Lager auf die Knie nieder, drückte den Kopf an seine große behaarte Brust, hörte, wie dumpf und ungleichmäßig sein Herz schlug, wie die Schläge schwächer wurden und es bei einem kaum wahrnehmbaren Schlag plötzlich verstummte. Der Körper des Alten zuckte noch, regte sich, erstarrte allmählich und streckte sich. Die Flügel sanken kraftlos herab. Trub war nicht mehr.

»Aus, Mary!« sagte ich und erhob mich. »Aus, aus! Noch ein Freund ist von uns gegangen. Wer ist an der Reihe?«

Mary weinte, Romero stand schweigend am Lager, Tränen rannen ihm über die Wangen. Traurigzärtlich erkannte ich plötzlich, daß er seinen unvermeidlichen Spazierstock jetzt nicht mehr brauchte, um die Alten nachzuahmen, sondern um nicht zu taumeln.

Ein neuer Sarkophag fand seinen Platz im Konservierungsraum. In dieser Nacht schlief ich nicht und auch nicht in den nächsten Nächten. An sich ist eine solche Bagatelle nicht der Rede wert. Romero sagt, in alten Zeiten sei die Schlaflosigkeit eine weitverbreitete Krankheit gewesen, und die Leute hätten manche Arznei geschluckt, um sie zu bekämpfen. Aber was hat es nicht alles für Krankheiten im Altertum gegeben! Sie gehören zu den Vermächtnissen unserer Vorfahren, die wir nicht in unser Jahrhundert übernommen haben. Es ist mir stets ungeheuerlich erschienen, daß die Menschen nicht schlafen konnten, wenn sie schlafen sollten, mehr noch, wenn sie schlafen wollten. Ich verweile nicht bei meiner Schlaflosigkeit, um auszumalen, wie ich litt. Ich habe Weras und Asters Tod ertragen, Allans, Leonids und Lussins, das waren keine geringeren Verluste als Trabs Wechsel ins Nichtsein. Ich fand keinen Schlaf, weil ich meiner Gedanken nicht Herr wurde. In den Stunden, da ich Dienst tat und mich mit anderen traf, störte mich zuviel, als daß ich mich hätte konzentrieren können. Ich vermochte nicht, wie Olga mit der Schiffsmaschine, zu arbeiten und alles andere und alle anderen zu vergessen, zudem ist die Schiffsmaschine für mich nur ein Auskunfts- und Beratungsorgan, kein herzlicher Partner. Zum Nachdenken brauche ich Einsamkeit.

Und ich stand auf, wenn Mary schlief, ging in mein Zimmer und schaute auf den kleinen Sternenbildschirm, er zeigte immer dieselbe unheimliche Landschaft der teuflisch aufeinanderfliegenden Gestirne, einen wilden Sternensturm, eine Sternenexplosion, wie sie vor Zeiten das ganze Weltall erschüttert hatte und seitdem unaufhörlich fortdauerte. Und ich überlegte, was dieses Sternenchaos bedeuten könne, dieser ungeheure Mangel selbst einer Andeutung von Ordnung, von einer majestätischen Harmonie der Sternensphären ganz zu schweigen. Olga hatte den Satz geäußert: »Der Kern siedet!« Ihre Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. Was zwang den Kern, zu sieden und die Sterne wie Spritzer zu verschleudern? Was für eine furchtbare Überhitzung war erforderlich, um die gigantischen Gestirne wie die Moleküle in einem Autoklav schwirren zu lassen? Änderte ein Überhitzen des Kerns nicht die Eigenschaften des Raums? Der Raum war etwas, wovon wir noch wenig wußten. Er war kein leerer Behälter für materielle Dinge, denn er verwandelte sich in Materie, und Materie wurde Raum. Was hatten wir noch von ihm entdeckt außer dieser simplen Wahrheit? Der Raum war das geheimnisvollste Geheimnis der Natur, das rätselhafteste Rätsel. Und die Zeit? War hier nicht auch die Zeit überhitzt? Wir hatten uns an die ruhige, einförmige, gleichmäßige Zeit unserer ruhigen, ausgeglichenen Sternenperipherie gewöhnt, was wußten wir davon, wie sie noch sein konnte? Vermochte sich jemand, der den Ozean bei Windstille gesehen hatte, vorzustellen, wie er bei Sturm war? »Hier ist die Zeit bröcklig, sie reißt, hier ist die Zeit krank, sie hat Krebs!« Hatte das nicht der Verräter Oan hartnäckig behauptet? War das eine leere Drohung oder eine Warnung gewesen?

Und hatte sich seine Drohung nicht bewahrheitet, wenn es eine Drohung gewesen war? Die Zeit riß, die Vergangenheit schloß sich nicht mittels der Gegenwart an die Zukunft an, jede Zelle unseres Körpers schrie davon! Der arme Trub war dem Zeitriß zum Opfer gefallen! Und wäre die Zeit nicht gerissen?

Dann wären wir alle einer Katastrophe zum Opfer gefallen, die Sternenflugzeuge und auch die Sterne. Was für eine gigantische Explosion hätte den Kern erschüttert, wären in ihm diese Hunderte von Gestirnen geborsten! Im Kern gab es Milliarden davon, aber versetzt nicht eine Tonne atomaren Sprengstoffs Milliarden Tonnen schwere Berge?

»Warte!« sagte ich zu mir. »Warte, Eli! Das ist doch offensichtlich, davon zeugen unsere Schiffsmaschinen, der Zeitriß hat die Explosion von reichlich hundert Gestirnen verhütet! Ist die ,Zeitkrankheit‘ vielleicht eine besondere Form der Kernbeständigkeit? Wenn Atom gegen Atom fliegt, Molekül gegen Molekül, bewahrt die elektrische Abstoßung sie vor ständigen Zusammenstößen, schleudert die elektrische Unvereinbarkeit sie zurück. Dank diesem existieren wir, die Gegenstände, die Organismen, die Kunstwerke. Die winzigen Kerne unserer Atome können nicht frontal zusammenstoßen. Und hier, in diesem großen Kern? Hier gibt es keine elektrischen Kräfte, die imstande wären, die Sterne voneinander wegzuschleudern. Dafür gibt es die Newtonsche Anziehung, von der sie chaotisch, wild aufeinander zugestoßen werden. Ach, Newton, Newton, du alter Weiser, du hast da den unvermeidlichen Untergang für das ganze Weltall projektiert! Und es geht nur deshalb nicht unter, weil ein neues, uns noch unbekanntes Gesetz wirksam ist, das mächtiger ist als deine Gravitation, als die elektrische Anziehung und Abstoßung, sogar stärker als die Metrikkrümmung der Demiurgen, die Krümmung und der Riß der Zeit! Das ist die Garantie für die Beständigkeit des Kerns! Die Beweglichkeit deiner Zeit, Kern, rettet die ganze Welt. Nein, das ist keine Krankheit, das ist ein gewaltiger physikalischer Prozeß, wir wußten davon einfach noch nichts. Jetzt wissen wir: die Disharmonie der Zeit gewährleistet die Beständigkeit des Kerns! Die Unvereinbarkeit der Gleichzeitigkeit, die wechselseitige Abstoßung der Zeit! Aber Trub hat recht – das ist nichts für uns, das ist entschieden nichts für uns!«

So überlegte ich, bald logisch, bald wirr. Mal baute ich kaltblütig eine Kette von Ursachen und Folgen, mal lehnte ich mich leidenschaftlich dagegen auf. Und in mir reifte die Überzeugung, daß wir uns so schnell wie möglich aus dem Kern davonscheren mußten, bevor wir umkamen. Ja, richtig, die meisten Sterne der Galaxis sind im Kern konzentriert. Aber Leben ist hier unmöglich. Leben ist eine Erscheinung der Peripherie. Wir können das jetzt bestätigen! »Nein!« antwortet uns der Kern, und das klingt überzeugend. Na wennschon! Dieses »Nein« ist ein wertvolles Resultat der Expedition, wir hatten ja nicht erwartet, daß uns überall nur »Ja, ja, ja« empfangen werde. Das Verbot, ins höllische Feuer vorzudringen, ist eine nicht weniger wichtige Entdeckung, als es die Einladung gewesen wäre, in einem neuentdeckten Paradies zu herrschen. Wir hatten die Grenzen für die Existenz von Leben erkannt. Es war Zeit, aus der Sternenhölle zu verschwinden! Höchste Zeit!

Mit genau diesen Worten brachte ich auf der nächsten Beratung der Kapitäne den Vorschlag ein, die Expedition zum Kern zu beenden.

Wir begannen uns auf die Rückkehr in die heimatlichen Sternengefilde vorzubereiten.

9

In einem waren wir alle einer Meinung: Der Galaxiskern war ein gigantischer Höllenofen, ein Höllenfeuer von Materie, Raum und Zeit. Fast ohne Einwände wurde auch meine Hypothese akzeptiert, daß der Riß der Zeit die Beständigkeit des Kerns garantiere, daß die Harmonie des Kerns darin beruhe, daß sich die Gleichzeitigkeiten wechselseitig abstießen!

Allein Romero war sich nicht schlüssig. »Oh, ich verstehe, lieber Admiral, daß Sie die Paradoxe des Kerns anders nicht erklären könnten«, sagte er.

»Wenn zwei Lösungen eines beliebigen Rätsels angeboten werden, die eine trivial, die andere seltsam, so wählen Sie unweigerlich die zweite. So ist eben Ihre Natur. Sie wundern sich, wenn es nichts zu wundern gibt.«

»Ich begreife Ihre Einwände nicht, Pawel«, sagte ich gereizt, denn dieses Gespräch fand statt, nachdem Romero mit den anderen für meinen Vorschlag gestimmt hatte. Ich fand, er nörgele nur.

Er ignorierte meine Bemerkung. »Ihre Hypothese, Newtons mörderisches Gravitationsgesetz führe die Welt in den Untergang…«

»Es ist nicht mörderisch, sondern bewirkt Unbeständigkeit in großen Massenansammlungen.«

»Ja, ja, Unbeständigkeit! Das alles ist sehr scharfsinnig, ich will es nicht leugnen, mein kluger Freund.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein Riß in der Gleichzeitigkeit, selbst eine Zeitphasenverschiebung, die Beständigkeit des Kerns garantiert, sofern ein solcher Riß an der erforderlichen Stelle und im erforderlichen Augenblick eintritt. Zwei Hände schließen sich nicht zu einem Druck, wenn die eine früher ausgestreckt wird als die andere. Aber sehen Sie, weiser Eli, es ist wohl kaum statthaft, ein Rätsel zu lösen, indem man ein zweites, noch dunkleres ersinnt.«

»Ihrer Meinung nach habe ich den Zeitriß ersonnen? Dann sagen Sie mir doch, Pawel, aus welchem Grund Sie kürzlich zu Boden geschleudert wurden und das Bewußtsein verloren!«

»Den Zeitriß bestreite ich nicht. Und es ist wahr, daß ich auf dem Fußboden gelegen habe. Die Fakten sind ein hartnäckig Ding, wie die Vorfahren sagten.

Aber Sie stellen doch eine neue Theorie auf, beschreiben nicht nur Fakten. Wenn ich richtig verstehe, begründen Sie ein neues, das grandioseste Gesetz des Weltalls: Die Beständigkeit der Hauptmasse der Materie in der Galaxis wird durch die Unbeständigkeit der Zeit garantiert. Die Erhaltung der Sternenwelt ist durch die Nichterhaltung der Zeit bestimmt. Ihrer Meinung nach ist der einsinnig gerichtete Lauf der Zeit so etwas wie eine Entartung der Zeit in den Sternenperipherien, in den ruhigen Bezirken. Und wir, die die ruhige Zeit nutzen, sind von vornherein als Sternenprovinzler abgestempelt.«

»Kränkt Sie das, Pawel? In der von Ihnen so geliebten alten Zeit galt die Erde als Mittelpunkt des Weltalls und der Mensch als Krone der Schöpfung.

Ist das auch Ihre Vorstellung von der Welt?«

»Ich wage zu bemerken, Admiral: Sie halten mich für einen größeren Dummkopf, als ich es bin. Aber ich komme nicht umhin zu bekennen: Es ärgert mich irgendwie, daß das Leben dadurch entstanden ist, daß die Zeit in den Bezirken der Lebensschöpfung zur einsinnigen Gerichtetheit entartete, daß das Leben auf diese Weise gewissermaßen eine Entartung der Materie ist. Wenn nicht den Menschen, so habe ich doch immer das Leben als solches für den Höhepunkt in der Entwicklung der Materie gehalten. Eine derartige Enttäuschung…«

»Die Kirchenleute, die enttäuscht waren, daß die Erde nicht das Zentrum des Weltalls ist, verbrannten Giordano Bruno, der diese unangenehmen Wahrheiten predigte. Wie gedenken Sie mit mir zu verfahren, Pawel?«

»Sie beenden unseren Streit mit tonnenschweren Argumenten, die mich zu Boden drücken, großartiger Eli. Nein, ich werde Sie nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen.«

Romero hob grüßend den Stock und entfernte sich beleidigt. Doch in mir gewann der Gedanke immer größere Festigkeit, daß das Gravitationsgesetz einer Voraussage des Weltallunterganges gleichkomme.

Wir betrachteten es nur deshalb als Garanten der Sternenharmonie, weil wir es in fernen Galaxisbezirken erkannt hatten, in »entarteten« Bezirken, wie Romero unsere Sternenheimat schimpfte. Hier, in der siedenden Hölle des Kerns, war es ein unheilvoller Stimulus für eine allgemeine Explosion. Was die Gravitation zuwege brachte, sahen wir am Beispiel der Kollapsare, die sich aus mächtigen Gestirnen in »schwarze Löcher« verwandelten. Merkwürdig, ich kritisierte das Gravitationsgesetz nicht nur, sondern fürchtete es, begann es zu hassen! Es ist lächerlich, blinde Naturgesetze zu hassen. Aber die Gravitation war in meinen Augen der Tod jeglicher Materie, nicht allein des hochorganisierten Lebens. Und nur das, was diesem schrecklichen Gesetz widersprach, garantierte die Existenz der Welt: die elektrischen und magnetischen Unvereinbarkeiten in der atomaren Welt, die großen Entfernungen zwischen den Sternen im Kosmosund hier, im Kern, auch die von uns entdeckte Unvereinbarkeit der Gleichzeitigkeit. Die Gravitation ist eine Entartung der Materie, ihr Fluch, sagte ich mir. Der Kampf gegen die Gravitation ist das einzige, was das Weltall erhält!

Die Stimme und Ellon unterstützten mich widerspruchslos. Es passierte nicht oft, daß der ehrgeizige Demiurg und das weitdenkende Gehirn einheitlicher Auffassung waren. Besonders wichtig war Ellons Unterstützung, ihm oblag die Ausarbeitung einer Methode, um aus dem Kern herauszugleiten, in den wir gezogen wurden.

»Admiral, ich weiß nicht, warum meine Schnecke nur einseitig anspricht«, bekannte er einmal. »Den Berechnungen nach müßten die Sternenflugzeuge hinausgetragen werden, doch das Gegenteil geschieht.«

Ich saß im Laboratorium. Abseits, mit dem Rücken zu mir, arbeitete schweigend Irina. Sie verzieh mir nicht, daß ich ihre Tränen und ihre Verzweiflung gesehen hatte. Ellon trug sie nicht nach, daß er ihre Gefühle nicht verstand, mir verargte sie, daß ich unbeabsichtigt Zeuge ihrer Zurückweisung geworden war.

Sie wandte sich ab, wenn ich im Laboratorium erschien, und ihre Antworten klangen kalt. Ich besprach mit Ellon die wichtigsten Dinge, unsere Existenz hing davon ab, ob wir die richtige Lösung des Rätsels fanden, während es mich drängte, zu ihr zu treten, sie bei der Schulter zu packen und sie unverblümt zu fragen: »Du Närrin, was hab‘ ich dir getan?«

»Also siehst du keinen Ausweg, Ellon?« fragte ich.

»Dies ist ein seltsamer Raum, Admiral. Ich begreife ihn nicht.« Er schwieg eine Weile, unterdrückte die Feindseligkeit und sagte: »Berate dich mit dem Gehirn, einst kannte es sich in den Raumeigenschaften aus.«

Ich wußte die Überwindung zu schätzen, die Ellon dieses Eingeständnis gekostet hatte.

Als ich zur Stimme kam, sagte ich: »Vagabund, du warst ebenfalls der Meinung, daß wir von hier fliehen müssen. Es gelingt nicht, die Sternenflugzeuge mit Hilfe der Metrikgeneratoren hinauszuführen. Könnten wir uns vielleicht mit Überlichtgeschwindigkeiten vom Kern lösen, indem wir Raum annihilieren?«

»Unmöglich«, erwiderte sie. »Die nichteuklidischen Krümmungen, mit denen ich den Sternenflugzeugen im Perseus den Weg verlegte, sind hunderte Male schwächer als diejenigen, mit denen wir es hier zu tun haben. Und noch eins, Eli: Dort ist der Raum passiv, er fügt sich leicht in die vorgegebene Metrik.

Hier zerren Stürme an ihm, Metrikwirbel entstehen in ihm, vor denen uns das Schicksal bewahren möge.«

»Und unsere Methode der Planetenannihilation?«

»Die Vernichtung der ,Stier‘ und zweier Drittel des Geschwaders, als wir diese Methode anwandten…«

»Da waren die Ramiren. Aus irgendeinem Grunde wollten sie nicht, daß wir das Gleichgewicht in den Untergehenden Welten störten. Hier deutet nichts auf die Ramiren hin. Ich bezweifle, daß eine vernünftige Zivilisation in dieser Sternenhölle existieren könnte.«

»Man müßte es mit einem kleinen Planeten versuchen, Eli«, sagte die Stimme.

Aber es gab keine Planeten im Kern. Unter den Millionen auf den Bildschirmen vorüberjagender Sterne war kein einziger wie gewohnt angelegt. Nicht einmal gewöhnliche Doppel- und Dreifachsterne fanden sich. Die Sterne jagten als wilde Herumtreiber daher. Das bedeutet nicht, daß in ihrem ungeordneten Lauf Verdichtungen gefehlt hätten. Wir trafen viele Verdichtungen an. Aber nachdem wir einer solchen Verdichtung mit Müh und Not entkommen waren, wobei wir Trub verloren, hatten wir keine Lust, erneut in einen Teufelsofen vorzudringen, wo die Zeit geschmolzen wurde. Dabei bestand nur in solchen Ansammlungen Aussicht, einen kleinen Planeten zu erwischen.

Eine Sternenverdichtung erschien uns annehmbar, ein gigantischer, fast sphärischer Sternenstrudel. Darin drehten sich die Gestirne wie rasend, streuten Staub wie Pilzsporen aus und verströmten gasförmigen Wasserstoff. Die Stimme warnte, daß innerhalb des Sternenstrudel s etwas sei, das man als Metrikstrudel bezeichnen könne, ein ungeheurer Raumwirbel.

Den Berechnungen der Schiffsmaschine zufolge war der Sternenwirbel unbeständig. Ungefähr tausend Jahre nach seinem Entstehen mußte er sich in einer gigantischen Explosion zerstauben. Und zugleich bestand kein Zweifel, daß der Sternenstrudel schon Millionen Jahre existierte. Hier war wieder das gleiche Paradox, und selbst Romero neigte zu der Ansicht, daß die Gleichzeitigkeit der Sternenstrudelexistenz nur von außen zu beobachten sei, während es innerhalb des Wirbels keine Gleichzeitigkeit gäbe. In der besonderen Zeit jedes Gestirns sei vielleicht auch der Sternenschwarm selbst nicht vorhanden.

Oshima sagte zu Oleg: »Admiral, wollen wir nicht umkehren? Ich möchte nicht, daß mein eines Bein plötzlich im vergangenen Jahrhundert steckt, das andere im künftigen, indessen das Herz nur tausend Jahre zurück oder tausend Jahre später schlägt, ich weiß nicht, was schlimmer ist! In mir ist kein Platz für so viel verschiedene Zeiten.«

Oleg befahl, von der gefährlichen Ansammlung abzudrehen. Zum Glück gelang das leicht. Auf die »Steinbock« kam Kamagin zur fälligen Konferenz der Kapitäne. Oleg teilte mit, daß es keine einfachen Auswege gäbe.

»Und nicht einfache?« fragte Kamagin.

Nicht einfache Auswege gab es ebenfalls nicht. Im Kern waren keine Planeten gefunden worden, und die Annihilation von Sternen überstieg unsere Kräfte.

»Also sterben?« fragte Kamagin wieder.

Die Frage war unangebracht. Oleg hatte die Kapitäne zusammengerufen, um zu beraten, wie die Katastrophe zu vermeiden sei.

Kamagin sagte erregt: »Ich will heute einen Fehler korrigieren, den ich vor mehr als zwanzig Jahren machte. Damals befahl Admiral Eli, zwei Sternenflugzeuge zu vernichten, damit das dritte die Freiheit gewinne. Ich protestierte. Jetzt schlage ich vor, jene Operation, die wir im Perseus vollzogen, zu wiederholen. Ich stelle meine ,Schlangenträger‘ zur Vernichtung zur Verfügung.«

»Soweit ich mich erinnere, endete jener Versuch im Perseus mit einem Mißerfolg!« bemerkte Olga.

Kamagin entgegnete, im Perseus hätten wir gekämpft, die Feinde hätten verzweifelt Widerstand geleistet. Hier gäbe es keine Feinde. Außerdem wären wir als Kundschafter hier hineingeraten, und unsere Schlußfolgerung sei unanfechtbar: Lebewesen dürften sich ebensowenig in den Kern begeben, wie man in siedendem Teer baden sollte. »Ich stimme Eli zu, daß Leben und Vernunft in der Galaxis periphere Erscheinungen sind. Und hieraus ziehe ich den Schluß:

Vernünftigen Widerstand wird es nicht geben, und mit einem blinden Element werden wir fertig.«

»Deine Meinung, Eli?« fragte Oleg.

Ich konnte Kamagin nicht unterstützen, aber auch nicht widerlegen. Ich schäme mich, es zu bekennenden, noch sage ich, daß ich unschlüssig war.

»Ich habe keine bestimmte Meinung«, antwortete ich. Nach der Konferenz, in der Kamagins Projekt angenommen worden war, teilte ich Ellon und der Stimme meine Zweifel mit. Ellon war der Ansicht, daß der Durchbruch nicht gelingen werde, das Sternenflugzeug sei zu klein, um einen Tunnel nach draußen zu schaffen. Und es sei ungewiß, ob der Tunnel frei sein würde, einem so seltsamen Raum wie diesem sei mit Materieannihilation nicht beizukommen.

«Überstürze nichts, Eli. Bald setze ich den Kollapsan auf volle Leistungsstärke, und dann gleiten wir in der neuen Zeit-Gravitationsschnecke hinaus. Die atomare Zeit ändere ich schon ohne Schwierigkeit.«

Auf dem an den Kollapsan angeschlossenen Laboratoriumsbildschirm sah ich, wie Neutron auf Neutron flog, Proton auf Proton, Ergon durchdrang Ergon, Rotonen rannten alle übrigen Teilchen über den Haufen. Gemäß den Gesetzen der Physik mußten die Zusammenstöße Annihilationen oder zumindest Transformationen der Teilchen bewirken. Nichts dergleichen geschah. Die Zusammenstöße erfolgten in unserer summarischen Zeit, nicht aber in der speziellen Zeit der Teilchen. Sie änderten sich im Moment des Zusammenstoßes, und es gab keinen realen Zusammenstoß, zu Explosionen und Annihilationen konnte es nicht kommen. »Ein vortrefflicher Mechanismus, nicht wahr? Bist du überzeugt, Eli, daß es mir gelungen ist, in den atomaren Reaktionen jene ungeheuren Reaktionen nachzuvollziehen, die in dem Sternenkessel des Kerns sieden?«

»Du hast Atome, Ellon, hier handelt es sich um Sterne!« entgegnete ich. »Leider sind wir keine Atome, nicht einmal im Vergleich zu den Sternen!«

»Von den Atomen gehe ich demnächst zu den Makrokörpern über«, versprach er. »Ich rate dir, Admiral, überstürze nichts! Es hat ja niemand vor, uns unverzüglich zu vernichten.«

Ellon hatte schon früher versprochen, die Gravitationsschnecke mit dem Kollapsan zu verbinden. Und obwohl es ihm gelungen war, die atomare Zeit in den Griff zu bekommen, war es von den Atomen bis zu den Körpern der Makrowelt, da konnte er sagen, was er wollte – ein weiter Weg. Ich beriet mich mit der Stimme. Die Stimme sah in Kamagins Projekt die einzige Möglichkeit, zu entkommen. Man müsse nur einen Abschnitt passiven Raums wählen. Einen solchen Abschnitt werde sie ausfindig machen. Sie brauche da nicht die Berechnungen der Schiffsmaschinen. Der Raum sei sie selbst, diese Empfindung habe sie. Ihre Gedanken würden unklar, wenn er grausam zusammengerollt sei, und ungestüm, prägnant und spritzig, wenn er seine Struktur rasch ändere. Und wie erquicklich es für sie sei, wenn die Spannung im Raum nachlasse!

»Wir werden auf dein Signal warten!« sagte ich.

Und dann begann die letzte Evakuierung eines Sternenflugzeugs während unserer Expedition zum Kern. Ich sage die letzte, weil die »Schlangenträger« das letzte Schiff war, das wir noch evakuieren konnten. Die Evakuierung befehligte Kamagin energisch, heiter sogar. Er glaubte, daß er mit dem Opfer seines Schiffes alle rette. Mich dagegen plagte die Ungeduld.

Uns folgte Fehlschlag auf Fehlschlag. Die Flotte war praktisch ausgelöscht, die unversehrt gebliebenen Astronauten waren auf dem letzten Schiff konzentriert – Gefangene einer unvorstellbar wilden Welt, wo Milliarden Gestirne auf Messers Schneide balancierten, während zu beiden Seiten ein Abgrund allgemeiner Vernichtung gähnte! Und dann erinnerte ich mich noch des Großen Zerstörers, des herrschsüchtigen Kretins, der sich einbildete, ein Denker zu sein. Das hier wäre das richtige Herrschaftsgebiet für ihn, dachte ich bekümmert, hier hätte er freie Hand für totale Zerstörung, er müßte nur mit der Disharmonie der Zeit fertig werden! Um meinen Gefühlen Luft zu machen, ohne die Freunde zu erschrecken, begab ich mich in den Konservierungsraum hinunter.

»Mörder!« sagte ich zu dem Spion der Ramiren.

»Alles Unheil begann, als wir dich kennenlernten. Du verrietest die in Barbarei versinkenden Aranen, du versuchtest, auch uns zu verraten. Lussin bezahlte deine heuchlerische Liebedienerei mit dem Leben, Petri und seine Besatzung waren der nächste Preis deiner Denunziationen. Ich weiß nicht, warum es deine Herren nötig hatten, die mörderischen Bedingungen auf der Arania zu unterstützen, warum ihr euch diesen schmutzigen Beruf, Grausame Götter zu sein, bestimmtet. Aber dafür weiß ich jetzt, daß ihr keinerlei Götter seid, keinerlei höhere Macht, schon gar nicht in der Art, wie eine einigermaßen anständige Gottheit sein müßte, sofern es sie real gäbe. Ihr seid nur grausam, nicht erhaben, nur mächtig, nicht allmächtig, nur gewaltig, nicht allgewaltig. ,Diese halbgebildeten Ramiren!‘ hat Ellon verächtlich gesagt. Richtig.

Halbgebildete! Welche Angst du vor der Transformation der Zeit im Kern hattest, Oan! Krank, bröcklig, Krebs, sich vor Ansteckung hüten! Sie ist ja gar nicht krank, sie ändert sich nur, ändert sich ungestüm, sie ist erstaunlich elastisch, sie verwandelt die Gleichzeitigkeit, sobald sie sich nähert, durch Explosion in Verschiedenzeitigkeit. Und diese Explosion der Zeit bewahrt den Kern, wohin vorzudringen ihr euch fürchtet, vor einer anderen Explosion, der Explosion der Materie. Wußtet ihr das? Begreift ihr das? Unmöglich, denn ihr seid halbgebildet! Grimmig seid ihr, nicht scharfsinnig!«

Ich verstummte, ruhte mich aus. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich den Pseudoaranen zum Leben erwecken und dem Wiederaufgelebten in das unheilvolle obere Auge leidenschaftliche Anklagen hätte schleudern können. Regungslos hing er vor mir. Und alle drei Augen waren tot – die unteren, normalen, die nur zu schauen vermocht hatten, und das obere, drohende, das fremde Gedanken gelesen hatte… Oan hörte nicht, antwortete nicht. Er war tot. Er hatte sich der Strafe entzogen. Es war ihm gelungen, aus dem Leben zu gehen. Aber nicht aus der Welt! Ewig würde die Leiche des Verräters in dem durchsichtigen Verschlag hängen!

Als ich mich erholt hatte, fuhr ich fort: »Nein, in einem habe ich unrecht, ihr konntet nichts wissen von der entsetzlichen Rolle der Gravitation in diesem siedenden Kessel aus Sternen, den wir Kern nennen, und von der rettenden Rolle der hier so leicht reißenden Zeit. Ihr wolltet euch der Kunst der Zeitenkrümmung bemächtigen. Bist du nicht deshalb in den Abgrund des Kollapsars getaucht? Dummkopf! Du wußtest nichts Besseres, als dich in die Hölle zu stürzen, um dich der Höllenkräfte zu bemächtigen, so stelltest du es dir wahrscheinlich vor. Da ist er, der Kollapsar, der sich dir nicht fügte, er ist auf unserem Prüfstand! Alles, was du in der Implosion des Sterns suchtest, finden wir im Laboratorium. Wir haben noch keine Gewalt über die Makrozeit der Körper und Gestirne, aber die atomare Zeit steht uns bereits zu Gebote. Wir zerreißen sie, krümmen sie, verzögern sie, beschleunigen sie wie es uns gefällt! Wir verlassen den Kern, Verräter. Aber wir kehren zurück, und dann, ihr Grausamen, wird euch schwerlich der Beweis gelingen, daß ihr so stark wie grausam seid!«

10

Und dann geschah, was, wie ich jetzt begreife, unvermeidlich geschehen mußte.

Die Stimme fühlte vortrefflich den Raum: die Schiffsmaschinen berechneten fehlerlos die Massenansammlungen und zeigten, wie man große Sternenhindernisse vermeiden und wild daherrasenden Herumtreibern ausweichen konnte; Oshima lavierte artistisch zwischen den Ansammlungen und den Einzelsternen ; ihm halfen Olga und Kamagin. Keiner von beiden stand ihm in der Erfahrung und der vorsichtigen Kühnheit nach. Alles war vorbereitet, alles in Betracht gezogen.

Alles, nur eins nicht. Wir waren nicht die einzige vernünftige Kraft im Kern. Und wir waren nicht einmal in dem winzigen Raum die Herren, den wir zu durchbrechen beabsichtigten. Wir hatten uns im Wichtigsten geirrt, vorschnell hatten wir uns eingeredet, man brauche nur ein blindes Naturelement zu überwinden. Feindliche Vernunft wirkte uns entgegen! Wir hatten den Kampf aufgenommen, da wir hofften, daß von unseren geheimnisvollen Feinden keine Spur vorhanden sei. Doch es gab sie, und sie boten gegen unsere Macht die ihre auf. Macht brach Macht.

Die Stimme informierte, daß wir uns einem passiven Raumabschnitt näherten. Ringsum wirbelten in dem gleichen tollen Tanz die gleichen tollen Gestirne.

Ich selbst hätte diesen Bezirk nie zum Durchbruch gewählt. Die Schiffsmaschine zeigte ebenfalls keine Veränderungen im Kosmos an. Aber die Schiffsmaschine mit ihren Analysatoren, wir wußten das schon, nahm nicht wahr, was die Stimme spielerisch aus den Daten fischte. Oleg befahl, die »Schlangenträger« in den Konus des annihilierenden Schlages zu bringen.

Im Kommandeursaal saßen Oleg und die drei Kapitäne. Auch für mich stand ein Sessel dort, aber ich war nicht hingegangen. Im Observationssaal drängten sich die Besatzungen der drei Sternenflugzeuge, soweit sie wachfrei hatten, bei den großen Bildschirmen.

Mary, Romero und ich hatten uns vor dem kleinen Bildschirm in meinem Zimmer niedergelassen. Und wir wurden Zeugen der neuen Katastrophe.

Die »Schlangenträger« flog vor der »Steinbock«.

Kamagin selbst lenkte von der »Steinbock« aus sein Sternenflugzeug dem Schlag der Annihilatoren des Flaggschiffes entgegen. Seine raschen Befehle wurden in sämtliche Räume übertragen, wir hörten: »Ich schalte die Blockierung der Materieannihilatoren ab.

Ziel im Kegel nullnulldrei. Ich zähle: zehn, neun, acht, sieben…« In diesem Augenblick stach aus dem trüben sternesiedenden Nebel ein Strahl, wie er die »Stier« ereilt hatte. Er fuhr an der »Steinbock« vorüber und schlug in die »Schlangenträger«. Wir sahen ein Bild der Schiffsvernichtung, das wir schon kannten. Die allgemeine Verblüffung wurde von Kamagins gellendem Ruf unterbrochen: »Die Schiffsmaschine ist blockiert! Stimme, Stimme, hast du Verbindung zu den Vollzugsmechanismen? Stimme, antworte!«

Die Stimme antwortete nicht. Romero stammelte totenblaß: »Das sind die Ramiren, Admiral! Sie sind im Kern! Sie haben uns gefangen!« Ich konnte, niedergeschmettert, den Blick nicht vom Bildschirm lösen. Die Schiffsmaschine arbeitete nicht, die Annihilatoren waren blockiert, irgendeine Kraft wendete das Sternenflugzeug und brachte es auf den alten Kurs, zum Kern, wo seine wilden Sterne wallten. Düster sagte ich: »Die Ramiren wissen alles über uns. Sie hätten auch die ,Steinbock‘ auslöschen können. Aber sie wollten mit uns spielen wie die Katze mit der Maus!«

Vierter Teil - Die Jagd nach dem eigenen Schatten -

1

Bereits in den ersten Minuten nach der neuen Katastrophe traf mich die bittere Vermutung, welches der wahre Grund des Unglücks sein könne, wie ein Schlag. Doch diese Vermutung nahm mich noch nicht völlig in Anspruch. Das Schiff mußte gerettet werden, und es galt, den geheimen Ursachen des Mißgeschicks nachzugehen. Ich stürzte in den Kommandeursaal.

Die Kapitäne und Oleg lebten, nur waren sie nicht mehr Schiffskommandeure, sondern, wie wir alle, Passagiere einer unlenkbaren galaktischen Nußschale. Im Laboratorium fand ich Ellon und Irina verwirrt, aber unversehrt. Unversehrt war auch die Apparatur. Das Laboratorium konnte seine Forschungen fortsetzen, sobald es gelänge, die Energieversorgung in Gang zu bringen.

Ellon warf Oleg und mir zornig vor: »Ihr wolltet nicht hören, überstürztet euch! Dabei bestand keine Gefahr, solange wir nicht versuchten, unüberlegt zu fliehen.«

»Komm mit uns, Ellon!« befahl Oleg, und zu dritt eilten wir zur Stimme.

Die Stimme tönte schwach, doch vernehmlich. Es hatte sie schmerzhaft durchzuckt, als die Verbindung zur Schiffsmaschine abgeschaltet wurde. Die Feinde hatten einen Schlag gegen die Lenkung der Kampfmechanismen geführt, alles übrige leitete sich davon her.

»Das waren die Ramiren. Sie sind im Kern. Sie wollen uns nicht fortlassen. Wir sind ihre Gefangenen.«

Von Gefangennahme konnte sie entschiedener als jeder von uns sprechen. Denn sie wußte wohl am besten, was es heißt, kosmische Schiffe in Gefangene zu verwandeln. Grazi hatte ebenfalls gelitten. Als die Ramiren die Schiffsmaschine blockierten, verlor er das Bewußtsein und sank zu Boden. Von seiner erhabenen Gottähnlichkeit war wenig geblieben. Er, der Unsterbliche, hielt sich nach der Katastrophe weit schlechter auf den Beinen als wir Sterblichen. Überhaupt stehen die Galakten den Widrigkeiten des Lebens erstaunlich hilflos gegenüber. In ihren paradiesischen Städten haben sie vergessen, was Not und Entbehrungen sind.

»Wir müssen die Schiffsmaschine untersuchen«, sagte Oleg. Die Schiffsmaschine, äußerlich unbeschädigt, funktionierte nicht. Grazi, der uns begleitet hatte, betrachtete sie kummervoll, er konnte in keiner Weise helfen, und das verdroß ihn sicherlich nicht weniger als der Defekt der Maschine selbst. Wir schalteten sie von den Vollzugsmechanismen und den Analysatoren ab und trugen sie ins Laboratorium. Dort nahm sie, wie es uns in der ersten Freude schien, ihre Arbeit wieder auf. Aber das war eine trügerische Arbeit, die Schaltungen ließen die Signale durch, doch jenes Ganze, das sich Schiffsmaschine nannte, gab es nicht.

»Mir scheint, eure Maschine ist bewußtlos«, bemerkte Grazi. »Sie hat einen Nervenzusammenbruch. Was will man denn auch von einem Mechanismus erwarten, der keine natürlichen Gewebe besitzt?«

Ellon warf dem Galakten einen bösen Blick zu. Ich lenkte das Gespräch von dem gefährlichen Thema des Künstlichen und Natürlichen fort. Wenn die Schiffsmaschine nur eine Ohnmacht hatte, dann bestand Hoffnung, daß sie daraus erweckt werden konnte.

Oleg ließ die beiden Reserve-Schiffsmaschinen holen, die von der »Widder« und der »Schlangenträger« stammten. Sie befanden sich in keinem besseren Zustand als die von der »Steinbock«. Jede hatte einen Nervenzusammenbruch. Und die Maschine von der »Rammbock« verwechselte nach wie vor Ursachen und Folgen.

»Grazi«, ich wandte mich an den Galakten, »dir und der Stimme wird die allerschwerste Pflicht auferlegt. Die Analysatoren und die Vollzugsmechanismen werden, wie schon in den Untergehenden Welten, unmittelbar an euch angeschlossen. Damals wurde die Stimme der Aufgabe gerecht, aber damals waren wir nicht im Kern. Wenn ihr jetzt versagt, ist es aus und vorbei mit uns.«

»Ich hoffe, daß wir euch nicht enttäuschen werden«, antwortete er. »Aber erkläre mir, Admiral:

Was heißt aus und vorbei? Ich glaube, das symbolisiert etwas sehr Schlechtes.«

Ich versicherte dem Galakten, daß er den Ausdruck richtig gedeutet habe.

Die Schiffsmaschine der »Steinbock« begann Lebenszeichen von sich zu geben. Es war, als erwache sie aus einer Ohnmacht. Bedrückt lauschten wir ihren Antworten auf die Signale. Sie bildete sich ein, ein Mädchen zu sein, das von zu Hause fortgelaufen ist.

Auf Fragen und Aufgaben reagierte sie nicht, auf alle elektrischen Impulse gab sie wehmütige Verse von sich.

»Mama liebte mich von Herzen, weil ich stets voll Gottesfurcht.

Ach, wie muß es sie nun schmerzen, mit dem Liebsten brannt‘ ich durch…« lispelte die Schiffsmaschine schluchzend, mit zartem Stimmchen.

Dann nannte sie sich Marusja und verriet in ebensolchen Versen, sie habe Gift genommen und sei ins Krankenhaus gebracht worden, doch nicht mehr zu retten gewesen. Der Fieberwahn war nicht nur unsinnig, sondern auch merkwürdig. Dem Gedächtnis der Maschine hatten die Konstrukteure weder eine Vorstellung von ungehorsamen Töchtern eingegeben, die ihren ordentlichen Müttern weglaufen, noch den Namen Marusja und das Krankenhaus, und selbstverständlich hatte man sie nicht im Verseschmieden unterwiesen. Darauf war sie von selbst gekommen, der Vernunft beraubt.

Wahnsinn hatte auch die anderen Maschinen ereilt.

Die Schiffsmaschine der »Schlangenträger« wurde gefragt: »Wer?«, und sie antwortete auf »Wohin?«

Man sagte ihr: »Gegeben ist ein Kegel von 8° nach Osten, Entfernung bis zu zwei Lichtjahren, zu berechnen ist die Zahl der Sterne dritter absoluter Größe«, und sie machte sich daran, chemische Gleichungen zu lösen; man verlangte von ihr eine Einschätzung der Qualität von Strahlung, mit der sie gespeist wurde, und statt einer Antwort, ob diese Strahlung für den menschlichen Organismus gefährlich sei, lieferte sie die Lösung eines Integrals von Lebesgue oder erläuterte die Planetengesetze von Kepler. Und die Maschine der »Widder« hatte ebenso wie die Maschine der »Rammbock« die Fähigkeit eingebüßt, Ursache und Folge zu verbinden. Ich stellte ihr eine unkomplizierte Kontrollaufgabe: »Alle Menschen sind sterblich. Ich bin ein Mensch. Folglich bin ich… ?« Sie bot unverzüglich drei Schlußfolgerungen zur Wahl:

»Du bist ein Dicker in der sechsten Dimension. Du bist ein Nagel zweiter Ordnung, differenziert nach dem Grobheitslogarithmus. Verspätete Blumen, welke Blumen in zweidimensionalem Integralessig.« Und Olegs Frage, wieviel hundertdreiundvierzig hoch drei sei, beantwortete sie ebenso schnell und wieder dreifach: »Geh zum Teufel. Achtundzwanzig Tonnen Komma sechzehn Meter mit reichlichem Nachttau.

Der Stier hat Hörner, der Planet hat vierundvierzig Zentimeter Quadrat achter Größe auf klarem Wasser.« Aus irgendeinem Grunde faßte die Schiffsmaschine der »Widder« jede Frage dreifach auf, ganz zu schweigen davon, daß sie dummes Zeug von sich gab.

Ich gelangte zu der Überzeugung, daß man sich mit den Schiffsmaschinen der »Widder« und der »Schlangenträger« abgeben könne, während es mit der Maschine der »Steinbock« hoffnungslos sei. Der Wahnsinn der ersten beiden, so sagte ich, bleibe im Rahmen ihrer Spezialsphäre. Sie hätten die Vernunft verloren, nicht die Persönlichkeit, sofern man bei einer Maschine von Persönlichkeit sprechen könne. Trotz allem blieben sie denkende Aggregate, allerdings schlecht denkende, falsch und verwirrt denkende. Die Maschine der »Steinbock« dagegen habe aufgehört, Maschine zu sein, sie betrachte sich als Mädchen, als unglückliches, lasterhaftes Mädchen. Und sie sei aufs Reimeschmieden verfallen! Könne man sich einen größeren Irrsinn vorstellen?

»Romero teilt gewiß nicht deine Ansicht, daß das Verfassen von Versen die höchste Form von Wahnsinn sei«, bemerkte Oleg.

»Ich spreche von Maschinen, nicht von Menschen.

Die Menschen begeistern sich oft für merkwürdige und nutzlose Beschäftigungen. Sie haben einen eigenen Begriff von Wahnsinn. Viele stellten ihn sich, zumal in alten Zeiten, als etwas Erhabenes vor. Sagte man nicht: ,Ich bin wahnsinnig glücklich‘ oder ,Sie ist wahnsinnig hübsch’? Ein Physiker behauptete einst, in der Wissenschaft seien nur die Wahnsinnsideen richtig. Leider ordnet sich das menschliche Bewußtsein nicht immer der Logik unter. Die Maschinen aber sind immer logisch, nützlich und vernünftig, dadurch unterscheiden sie sich von ihren Schöpfern.«

Oleg hatte gegen meine Erklärung nichts einzuwenden.

»Ellon, du kümmerst dich um die Wiederherstellung der denkenden Maschinen«, sagte er. »Dennoch darf sich das Labor nicht von den anderen Arbeiten abhalten lassen. Wie steht’s um die Experimente mit dem Kollapsan?«

»Atomare Zeit verändern wir mühelos.«

»Das ist zu wenig. Irina, komm mal her«, rief Oleg.

Ich hatte schon oft bemerkt, daß sich Irina zurückzog, sobald Besuch erschien. Oleg sagte so bewegt wie selten: »Meine Freunde, Irina und Ellon. Ich fürchte, wir bringen das Sternenflugzeug nicht aus dem Kern heraus, wenn wir nicht einen physikalischen Prozeß finden, der es erlaubt, uns der feindlichen Beobachtung der Ramiren zu entziehen. Gebt mir die Möglichkeit, wenigstens für eine Weile der Gleichzeitigkeit mit den Gegnern zu entfliehen. Möglicherweise gab es sie nicht im ,Früher’, oder es wird sie im ,Dann‘ nicht geben, aber im Jetzt‘ sind sie zugegen, und sie sind stärker als wir… Habt ihr mich verstanden, Freunde?«

Irina nickte nur. Ellon sagte: »Ich bin bereit, die Experimente mit der Makrozeit zu beginnen. Dazu brauche ich einen toten Gegenstand und ein Lebewesen. An toten Gegenständen herrscht kein Mangel, aber wo nehme ich einen lebenden Organismus her?«

»Nimm Mizar, Ellon«, riet ich. »Auch früher wurden Hunde für Experimente benutzt. Mizar ist zwar ein denkendes Tier, und wir werden ihm das Wesen des Experiments erklären müssen, um seine Zustimmung zu erhalten…«

»Sprich du mit Mizar«, unterbrach mich Ellon.

»Wir Demiurgen sehen die Tiere nicht als ebenbürtig an, wie ihr Menschen das zu tun liebt.«

»Irina, übernimm du die Verhandlungen mit Mizar! Du hast recht, Ellon, der Mensch verhält sich auch einem Tier gegenüber menschlich.«

Ich bezweifle, daß Ellon meinen Tadel verstand.

Irina versprach, mit Mizar zu sprechen. Ich trat wieder zu der Schiffsmaschine der »Steinbock«.

»Kennst du mich? Erinnerst du dich? Hörst du mich?« Als Antwort sang sie ein Liedchen in klirrendem Diskant, der mit ihrem früheren sicheren Bariton nicht die geringste Ähnlichkeit hatte.

Der Anblick der großartigen, vor kurzem noch so vernünftigen Maschine, die sich plötzlich einbildete, ein Lebewesen zu sein und auf irrsinnige Weise nur die Beziehungen zwischen Mann und Frau gelten ließ, stimmte mich so traurig, daß mir beinah die Tränen kamen.

2

Am Abend besuchte mich Romero.

Er setzte sich in einen Sessel, klemmte sich den Spazierstock zwischen die Knie und starrte zerstreut auf den Bildschirm. Dort war immer noch die gleiche Landschaft der Weltenhölle zu sehen ein Lichtstrudel satanisch rasender Gestirne. Und plötzlich wurde mir mitleidsvoll bewußt, was ich früher nicht beachtet hatte: Romero wurde alt. Er erlaubte sich zwar immer noch kein graues Härchen, weder auf dem Kopf noch im Bart, aber die Falten ließen sich nicht verbergen. Sein noch schönes gepflegtes Gesicht wirkte müde. Ich spürte, daß er gebrochen war und Trost brauchte. Fast scherzhaft fragte ich: »Ein interessantes Abenteuer, nicht wahr, Pawel?«

Er blickte mich lange mit den großen dunklen Augen an, und ich erinnerte mich plötzlich, was Mary einmal gesagt hatte: »Pawel ist so gut gebaut, so elegant, so wohlerzogen, er hat die schönsten Augen, die ich je bei einem Manne sah, und er machte mir den Hof, was du dir nicht einfallen ließest. Und ich wußte nichts Besseres, als mich in dich Liederlichen bis über beide Ohren zu verlieben!«

»Admiral, Sie neigen zu ungeheuerlichen Paradoxen«, entgegnete er. »Eine Tragödie ein interessantes Abenteuer zu nennen… !«

»Wenn Sie allerdings an Petri und seine Kameraden denken…«

»Ich spreche von Ihnen und von mir, scharfsinniger Eli! Welch nicht wiedergutzumachende Torheit! In den siedenden Kern zu fliegen wie ein Falter ins Licht! Schwache Falter in den grausamen Händen der Feinde!«

»Die Falter gehen Ihnen wohl nicht aus dem Kopf, Pawel?«

»Ja, sie gehen mir nicht aus dem Kopf, erwiderte er bitter. »Seit dem Augenblick, da die Ramiren die , Schlangenträger‘ vernichteten, sage ich mir immer wieder, daß wir Falter sind, die ins Feuer taumeln.

Und wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde? Dieses selbe Wörtchen servierte mir unsere Schiffsmaschine.«

»Sie waren im Laboratorium?«

»Ich komme gerade von dort. Ich fragte, was sie über die Zeitrisse in dieser seltsamen Welt denke, die sich Galaxiskern nenne. Und sie antwortete… Was meinen Sie, hochweiser Freund, was sie antwortete?«

»Wahrscheinlich trällerte sie unsinnige Verse.«

»Ja, Verse. Folgende:


Wie ein Falter gaukle ich durchs Leben,

find‘ auf keiner Blume Ruhe mir,

sollt‘ ich einer meine Seele geben,

freudetrunken brächt‘ ich sie nur dir…«


»Ein banales kleines Couplet. Interessant ist allenfalls, daß sich die Schiffsmaschine nicht mehr einbildet, ein dummes Mädchen zu sein, sondern ein zügelloser Geck.«

»Nein, mein alter Freund, interessant ist etwas anderes. In meinem Gehirn tauchte das Wort ,Falter‘ auf, und die Maschine benutzte es. Sagt Ihnen das nichts, Eli?«

»Nicht das mindeste.«

»Das sollte es aber, Admiral. Nun, Sie haben sich ja nie für die alten Bräuche interessiert, das ist eben Ihre Natur. Ist Ihnen bekannt, Eli, daß meine Diplomarbeit an der Universität den Titel trug: ,Die sentimentale Poesie des Kleinbürgertums Ende des neunzehnten Jahrhunderts der alten Ära’? Und daß in dieser Diplomarbeit sämtliche Verschen zitiert sind, mit denen unsere verdrehte Schiffsmaschine operiert?«

»Das ist tatsächlich interessant.«

»Ich freue mich, daß Sie sich der Hauptsache nähern. Der Schlag der Ramiren führte zur Persönlichkeitsspaltung unserer armen übergeschnappten Maschine.«

»Zeitspaltung, Pawel.«

»Ja, Sie haben recht, zur Zeitspaltung. Sie ist in zwei Epochen zugleich. Physisch ist sie hier, bei uns.

Doch mit allen Assoziationen, mit ihrem Verständnis ist sie in der Vergangenheit. Wir alle sind durch unsere Strahlungen mit ihr verbunden; ich bin ebenfalls, wie Sie wissen, in ihr kodiert. Offensichtlich hat sie auch früher meine Gehirnimpulse wahrgenommen, meine Kenntnisse, meine Vorstellungen von der Vergangenheit, aber in ihrer praktischen Arbeit konnte sie aus diesem Vorrat nichts benutzen. Doch jetzt, da sie zurückgeworfen ist, operiert sie nur mit den Kenntnissen, die sich auf die Vergangenheit beziehen.

Sie fragten, ob sie Sie kenne, gaben ihr die Gleichungen Ngoros ein, aber in der Vergangenheit, die ihre Gegenwart geworden ist, gab es Sie nicht, existierte Ngoro nicht. Der Wahnsinn der Schiffsmaschine besteht darin, daß sie physisch ,hier‘ und Jetzt‘ ist, doch intellektuell ,dort‘ und früher’.«

»Die anderen Schiffsmaschinen weisen andere Wahnsinnsformen auf, Pawel.«

»Jeder wird auf seine Weise verrückt, lieber Admiral. Das bezieht sich nicht nur auf uns Menschen, sondern auch auf die Maschinen.«

Ich sagte: »Ihr Gedanke eröffnet eine interessante Möglichkeit, die Schiffsmaschinen wiederherzustellen.«

Er entgegnete voller Bitterkeit: »Ich sehe eine andere Möglichkeit voraus: Wir alle werden bald den Verstand verlieren.«

Und er erinnerte an Oan und dessen kranke Zeit.

»Die Perspektive, die der Verräter androhte, ist Wirklichkeit geworden: Wir sind in der kranken Zeit. Es war ein großer Irrtum, daß wir, in Welten dahinjagend, wo die Disharmonie der Zeit Gesetz ist, hofften, diese Strafe werde uns selbst verschonen. In dem Chaos des Kerns garantiert die Instabilität der Zeit möglicherweise die physische Existenz der Gestirne, doch für unseren harmonischen Organismus ist sie verderblich. Der kurze Ausfall des Moments, der jetzt‘ genannt wird, hätte uns beinahe das Leben gekostet. Wir sind erkrankt, ohne das einstweilen zu wissen. Auch in uns löst sich nun der Zusammenhalt des Zeitenstroms.«

»Aber die Schiffsmaschinen haben schon den Verstand verloren, während wir einstweilen nicht wahnsinnig sind. Sofern man Ihre Theorie nicht für Wahnsinn hält, daß die Zeit in uns bereits angekränkelt ist.«

»Wir sind Organismus, die Schiffsmaschinen Mechanismus«, antwortete er, meinen Spott ignorierend.

»Der Organismus hat wahrscheinlich einen inneren Zeitstabilisator. Ich bezweifle nicht, daß die Natur, als sie, das Leben entstehen ließ, auch für den Schutz des Lebens vor Kataklysmen wie die Verletzung der Gleichzeitigkeit sorgte. Sie kennt ihre Absonderlichkeiten besser als wir. Wir dagegen hatten keine Ahnung, daß die Schiffsmaschinen mit Zeitstabilisatoren ausgestattet sein müssen. Die denkenden Maschinen sind schwächer als unser Gehirn, zumindest in dieser Beziehung. Aber überschätzen Sie dennoch unsere Stärke nicht! Die Gleichzeitigkeitsverletzungen werden in den Zellen gespeichert. Wird die Bruchgrenze des biologischen Stabilisators überschritten, so ist es auch mit unserem Verstand aus.«

»Wollen wir uns bemühen, dieser Gegend mit der instabilen Zeit noch vorher zu entfliehen. Pawel, lassen Sie uns Ihre Hypothese in der Praxis überprüfen.

Bemühen Sie sich gemeinsam mit Ellon und Irina um die Wiederherstellung der Schiffsmaschinen.«

Erstaunt blickte er mich an. »Ich fürchte, Sie treiben Ihren Spott mit mir, Eli. Ich und Reparatur von Geräten? Ich wage zu erinnern, daß ich Historiker, kein Ingenieur bin.« »Eben, eben – Historiker! Das wird ja gerade gebraucht. Wenn sich die Schiffsmaschine intellektuell in der Vergangenheit befindet, so kann nur ein Historiker sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen. Stellen Sie sich vor, man habe Ihnen zum Unterrichten einen Menschen gegeben, der vor sechshundert Jahren eingeschlafen ist. Sie setzen ihn auf die Schulbank und zwingen ihn, die Ereignisse zu lernen, die sich in der Frist zwischen dem Moment des Einschlafens und dem Moment des Erwachens abgespielt haben, und er wird in der neuen Zeit sein. Machen Sie so etwas mit unserer versetrunkenen Schiffsmaschine. Schockiert Sie, der Sie ein Liebhaber der Poesie sind, dieses Wort nicht?«

»Sie zeichneten sich nie durch Sicherheit im Ausdruck aus, Eli, ich habe mich damit abgefunden.

Doch ich erinnere daran, daß die ,versetrunkene‘ Schiffsmaschine allein ist, während die anderen von Wahnsinn anderer Sorte besessen sind. Sollen die auch durch Geschichtsunterricht geheilt werden?«

Die Ursache geht der Folge voraus, dieses Programm ist unseren Maschinen eingegeben. Der Zeitriß hat die Logik, nach der sie rechnen, verletzt. Ich denke, wir werden eine Methode finden, um gegen den logischen Wahnsinn zu kämpfen, wenn es Ihnen gelingt, mit dem historischen Wahnsinn fertig zu werden.«

Ich hatte den Eindruck, er sei überzeugt, doch plötzlich verzweifelte er wieder. Er hob den Spazierstock und rief pathetisch: »Wozu alle diese Reparaturen, Heilungen, Wiederherstellungen! Wir sind in der Hölle, aus der es keinen Ausweg gibt. Wie, im Galaxiskern sollen wir sein? Stellen Sie eine einfache Berechnung an, und Sie werden feststellen, daß es keinen Kern gibt! Denn etwas Einheitliches kann nur in einer einheitlichen Zeit existieren, und die ist nicht vorhanden! Wir sind nirgends, denn wir sind an einer Stelle verschiedenzeitig, an verschiedenen Stellen gleichzeitig! Ich verliere allmählich den Verstand, meinem Gehirn geht die Gleichzeitigkeit der Verschiedenzeitigkeit und die Verschiedenzeitigkeit der Gleichzeitigkeit nicht ein! Ich muß wissen, ,wann‘ wir in diesem dreimal verfluchten ,Wo‘ sind! Verstehen Sie? Hamlets Qualen, der in der Seele spürte, daß die Zeit aus den Fugen war, sind nichts im Vergleich zu meinen, denn die Zeit reißt sowohl in meiner Seele als auch in meinem Körper, während rings um mich keine einheitliche Zeit ist. Ich weiß nicht einmal, ob Sie mir jetzt gegenübersitzen oder in unerreichbarer Zukunft, indessen Ihr Schatten von dorther auf mich fällt und ich mich mit ihm unterhalte. Ich selbst hingegen bin nicht im Sternenflugzeug, sondern irgendwo auf dem Palatin, habe mich eben mit dem glänzenden Julius Caesar unterhalten, mit dem heimtückischen Claudius gekämpft und dem Intriganten Catilina eine Maulschelle verpaßt, und morgen werde ich mich mit Caesar auf den Feldzug nach Gallien begeben. Plötzlich verlegt mir Ihre Silhouette aus dem Sternenflugzeug den Weg. Ihre Silhouette aus einer entsetzlichen Ferne, aus irgendeinem Galaxiskern, von dem ich, ein alter Freund des alten Caesar, keine Ahnung habe…«

Es drängte mich unwiderstehlich, ihn zu schlagen.

Er war nicht wahnsinnig, sondern hysterisch. Er griff sich an den Kopf; und ich fürchtete, er werde sich im nächsten Moment schreiend die Haare raufen und wütend die Augen rollen. Ich trat zu ihm, die Hände geballt. Er sah mich an und ließ die Arme sinken.

»Sie wollen mich schlagen, Admiral? Schlagen Sie, ich halte still. Früher bezogen die Menschen Prügel.

Mitunter half das.«

Diese Worte, die er matt lächelnd sprach, bewahrten ihn vor einer Ohrfeige. Ich setzte mich und legte mir die Hände auf die Knie, damit sie nicht so arg zitterten. Ich begriff jetzt, was die Kapitäne auf den Schiffen durchgemacht hatten, wo die Bemannung den Gehorsam verweigerte. Hysterie in einer Situation fortwährender Katastrophen war gewiß nicht besser als Meuterei auf einem Segelschiff im Ozean.

»Pawel, ich appelliere an Ihren Verstand, Ihren hellen Verstand, Pawel! Sie verübeln mir, daß ich die Tragödie ein äußerst interessantes Abenteuer nannte?

Aber ist ein Abenteuer denn undenkbar ohne ein glückliches Ende? Und sind wir heute in gewisser Weise, nur in gewisser Weise – nicht die glücklichsten Menschen?«

»Die glücklichsten Menschen?« fragte er müde.

»Eli, ich sagte Ihnen schon, ich bin Ihrer Paradoxe müde…«

Ich erinnerte ihn, daß Oleg seit seiner Kindheit von Reisen zum Galaxiskern träumte, der geheimnisvollsten und am wenigsten zugänglichen Stelle im Weltall, daß er als erster galaktischer Kapitän Sternenflugzeuge dorthin führte und daß er als Entdecker des Kerns in die Weltgeschichte eingehen werde, könne er unglücklich sein, selbst wenn er sein Leben um zehn Jahre früher beschließe? Und daß Romero, Altertumskenner, Spezialist für vergleichende Geschichte der Gesellschaften, die Möglichkeit erhielt, Lebensformen und vernunftbegabte Zivilisationen kennenzulernen, die man nie vermutet hatte, seien diese Entdeckungen etwa in die Kategorie der Mißgeschicke einzuordnen? Und daß Olga, Oshima und Kamagin stets den Hauptsinn ihres Lebens darin sahen, mächtige Schiffe auf unerforschten Sternentrassen zu führen, hätten sie vielleicht das Ziel ihres Lebens nicht erreicht, selbst wenn sie von dem Leben Abschied nehmen müßten? Und die Stimme, unser Hauptgehirn, unser ehemaliger Vagabund, sei er etwa unglücklich, nachdem er alles erfahren habe, was er sich wünschen konnte: die Macht der Gedanken, die Freuden eines ungestümen Körpers, die Herrschaft über einen weiten Raum des Universums? Und der Galakt und die Demiurgen? Verwirklicht nicht jeder das Beste in sich, setzt er nicht alles in die Tat um, wozu er in seinen Träumen fähig ist, in seinen Wünschen, seinem Wollen? Nein, suchen Sie andere Definitionen! Unglück, Verzagtheit, Verzweiflung, Reue, Enttäuschung – eignen sich nicht! Selbst wenn wir tragisch enden, ist unser Los beneidenswert!

Er erhob sich, stützte sich auf seinen Stock. »Mein alter Freund Eli! Ich will mit Ihnen nicht streiten. Ich kann mit Ihnen nicht streiten. Admiral, ich gehe, um Ihren Befehl auszuführen und die Schiffsmaschine aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen.«

Ich schloß die Tür, damit Mary nicht hereinkommen konnte. Sie sollte mich nicht sehen, in diesem Augenblick. Als das Klopfen von Romeros Stock im Korridor verhallte, ließ ich mich auf den Diwan sinken und griff mir an den Kopf, wie es eben erst Romero getan hatte, und stöhnte vor Verzweiflung, vor Hoffnungslosigkeit, vor Entsetzen vor dem Ende, das ich sah. Die Hysterie, bei Romero abgewendet, schüttelte mich selbst, denn ich hatte mehr Grund, ihr zu verfallen. Und ich hatte niemanden, den ich um Hilfe bitten konnte, noch war die Zeit nicht reif, das Geheimnis zu lüften, zunächst mußte die Rettung vorbereitet werden.

3

Ellon war beleidigt, als ich ihn bat, in den Zeittransformator einen Stabilisator der Art einzubauen, wie ihn die Natur in unseren Körpern geschaffen hat. Ich glaubte so fest an diese Hypothese Romeros, daß ich mit ihr wie mit einer Tatsache operierte. Ellons Augen funkelten böse, und er bleckte die Zähne.

»Admiral, misch dich nicht in Angelegenheiten, die du nicht verstehst! Transformator, Stabilisator! Was machen wir denn, deiner Meinung nach? Verwandeln wir ein Chaos in ein anderes? Ich baue eine universelle Zeitmaschine, schreib dir das hinter die Ohren, Admiral!« Dabei hüpfte er aufgeregt vor mir und schwenkte wütend die Arme.

Ich wußte, daß Ellon, legte man menschliche Maßstäbe an, schlecht erzogen war und er sich bei seinem Studium der Menschensprache mit besonderer Vorliebe Schimpfwörter eingeprägt hatte. Leider verstand er sie buchstäblich. Als er wetterte, ich solle mir seinen Verweis hinter die Ohren schreiben, blickte er so wild nach meinen Hörorganen, daß ich fürchtete, er wolle es an meiner Stelle tatsächlich tun. Ich deutete seine Erregung als Nachwirkung der Katastrophe mit der »Schlangenträger«, als Übermüdung, die sich sogar bei den rastlos tätigen Demiurgen bemerkbar machte. Gewiß hatte sich Ellon nach der Katastrophe noch keine Stunde ausgeruht. Daß der von Romero vorausgesagte Wahnwitz beginne, kam mir nicht in den Sinn.

Zum erstenmal spürte ich, daß etwas nicht stimmte, als Mizar zum Zeittransformator geführt wurde. Das war eine riesige durchsichtige Kugel, die auf einem Postament ruhte. Ringsum türmten sich Strahler und Reflektoren, das Postament war durch ein Hohlrohr mit dem Kollapsan verbunden, da waren noch Anlagen und Mechanismen über der Kugel und daneben, aber ihr Zweck war mir unverständlich, und ich will sie nicht beschreiben.

Ich weise nur darauf hin, daß Ellon vor dem Experiment mit Mizar einige Gegenstände erprobt hatte, die er abwechselnd in die Zukunft und in die Vergangenheit schickte. Sie waren stets wohlbehalten zurückgekehrt. Wenn auch der Versuch mit Mizar gelang, dann war ein realer Weg, aus dem Kern zu fliehen, gefunden, weil wir uns bei Begegnungen mit Gestirnen nicht in deren, sondern in unserer Zeit bewegen würden und jeglicher physischer Zusammenstoß ausgeschlossen war. Selbstverständlich setzten unsere Pläne die riskante Annahme voraus, daß die Ramiren unsere Flucht nicht behindern würden.

Worauf sollten wir unsere Hoffnungen sonst setzen?

Zu dem Versuch waren Oleg und Romero, Grazi und Orlan, Mary und Olga erschienen. Ellon selbst öffnete den Einstieg im Zeittransformator. Irina brachte Mizar. Der Hund winselte, schaute unruhig jeden an, zwängte mir die Nase zwischen die Knie, leckte Mary die Hände und legte Romero plötzlich die Pfoten auf die Schultern, vor Überraschung ließ der seinen Stock fallen. Irina streichelte Mizar, flüsterte ihm zärtlich etwas zu. Mir mißfiel ihr Gesichtsausdruck, und ich trat näher.

»Lieber, Lieber!« sagte Irina zu dem Hund. »In die Vergangenheit, in die ferne Vergangenheit! Wir werden in den Wald laufen! Und ich werde bellen wie du!« »In den Wald! In den Wald«, knurrte der Hund erregt und leckte Irina die Hände. »Wir werden bellen! Wir werden jagen, Irina! Schnell, Irina, schnell!«

Irinas Flüstern hörte ich allein, die Antworten des Hundes machte das Dechiffriergerät allen zugänglich.

Seltsamerweise glaubten die anderen, Irina bereite Mizar mit täuschenden Worten auf die gefährliche Reise in die Vergangenheit vor. Ich aber wußte, daß der Hund, von Lussin geschult, in Menschengeschichte eine Hundeeins bekommen hatte, entsprechend der Skala für Hunde mit hohem Intellekt, und keiner Illusionen bedurfte. Und das hatte ich auch mit Irina vereinbart: Mizars Vorbereitung würde darin bestehen, ihm die Wichtigkeit seiner Rolle zu erklären, keineswegs sollte sie ihn mit den Freuden einer Reise in die Vergangenheit locken.

»Irina!« sagte ich leise. »Irina, dreh dich um!«

Sie erhob sich langsam von den Knien, blickte mich merkwürdig an und sagte: »Admiral, erlauben Sie mir, mit Mizar zu gehen? Ich liebe ihn.« Irina stöhnte, so heftig preßte ich ihre Hand. Sie war noch fähig, Schmerz zu empfinden. »Irina, du liebst nicht Mizar! Du liebst Ellon, Irina.«

Sie lauschte mit offenem Mund. Nie zuvor hätte sie sich eine derart törichte Miene erlaubt. Irina gehörte zu den Frauen, die sich sogar vor einer Schmutzarbeit schönmachen.

»Ellon?« girrte sie. »Wie kann ich Ellon lieben, wenn Sie es mir verboten haben? Ich bin äußerst gehorsam, Admiral, äußerst gehorsam.«

»Dummheiten! Eigensinnig bist du, nicht gehorsam!« zischte ich ärgerlich. »Und jetzt bist du nicht gesund. Du redest dir wer weiß was ein. Geh und ruh dich aus, Irina!«

»Glauben Sie, Admiral, ich liebe Mizar nicht?« fragte sie zweifelnd.

»Du liebst ihn, selbstverständlich. Auch ich liebe ihn, auch deine Mutter liebt ihn, auch Mary… Doch das genügt nicht, um gemeinsam in die Vergangenheit zu reisen.«

»Ich liebe dich nicht genug, Mizar«, sagte sie demütig. »Ich habe mir eingebildet, ich liebte dich mehr als alle. Ich bin so gehorsam, Mizar!« Hoffnungslos rang sie die Hände. »Ach, Admiral, erlauben Sie mir, jemanden zu lieben!«

Ich rief Olga. Mit ihr traten Oleg und Mary heran.

Irinas Gesicht verzerrte sich, als sie Oleg erblickte.

Sie stöhnte, wehrte mit den Händen ab. »Nicht du, nicht du! Du hast mich gegen eine Expedition getauscht, auf der du umkommst.«

»Irina, fasse dich!« sagte er sehr bleich. »Erinnere dich unseres Gesprächs auf dem Stützpunkt! Du batest darum, auf die Expedition mitgenommen zu werden. Wir beide sind zusammen auf einem Schiff, Irina! Du bist nicht im Perseus geblieben.«

Sie barg das Gesicht an der Brust ihrer Mutter und weinte. Ich sagte: »Olga, bring sie nach Hause. Und laß sie nicht allein. Ich fürchte, sie hat eine schwere Neurose.«

Während wir flüsternd Mizar umstanden, wartete Ellon an der offenen Luke. Als Olga den Arm um ihre Tochter legte und sie gemeinsam mit Mary wegführte, rief Ellon gereizt: »Habt ihr endlich genug getuschelt, ihr Menschen? Der Zeittransformator wird überhitzt im Leerlauf! Oder wollt ihr, daß wir alle durch eine Explosion in die Zukunft fliegen? Wer bringt Mizar her?«

»Ich bringe ihn«, antwortete ich, ließ mich, wie Irina es getan hatte, auf die Knie nieder und streichelte dem Hund das dichte Fell. »Mizar, mein Freund«, sagte ich. »Es handelt sich nicht darum, in den Wald zu laufen und zu bellen. Ein beispielloses Experiment steht bevor, und wenn es gelingt, sind wir alle gerettet.

Bist du bereit, dich für uns alle einzusetzen?«

»Bring mich hin, Eli«, knurrte er tapfer und leckte mir die Hand.

Ich führte ihn zur Luke. Ellon wollte den Hund grob im Genick packen und in die Öffnung werfen, ich hinderte ihn. Mizar schaute uns traurig an und bellte laut: »Lebt wohl!« Und ganz allein sprang er in den Einstieg. Der Zeittransformator begann zu arbeiten.

Bald darauf sahen wir den Hund verschwinden. Er löste sich nicht auf, wurde nicht kleiner, verwandelte sich nicht in einen Fleck und dann in einen Punkt, wie wir es seltsamerweise erwartet hatten. Er verging, wie Oan vergangen war, als er zu fliehen versucht hatte.

Mizars Körper wurde zur Silhouette. Im Transformator war es heiß, der Hund hechelte mit heraushängender Zunge und starrte uns aus unerträglich glänzenden Augen an. Als sein Körper verblaßte, widerstanden die Augen und die Zunge am längsten dem Abgang in die Zukunft. Der Moment kam, da die Augen noch vorhanden waren und uns anfunkelten, während die Zunge, verselbständigt, baumelte. Doch dann trübten sich die Augen, und die Zunge, die sich noch bewegte, verblaßte, verschwand, verging und lebte auch im letzten Moment ihres Dahinschwindens.

Der Hund war weg, der durchsichtige Zeittransformator leer.

»Mizar ist in der Zukunft!« rief Ellon und trat von dem Kollapsan zurück. »In der nächsten Zukunft, durch etwa tausend Jahre, nach eurer Rechnung, von uns getrennt. Mag er dort ein wenig schmoren in der zerschmolzenen Zeit!« Er lachte.

Ich erzitterte von der Brutalität seines Gelächters.

»Wie lange wird er in der Zukunft sein, Ellon?«

»Höchstens eine Stunde, Admiral, höchstens eine Stunde! Dann schalte ich den Kollapsan aus, und dein Hund fällt in unsere Zeit, wie Oan aus der fernen Zukunft herausfiel, wohin er sich hatte davonmachen wollen, du erinnerst dich.«

Es war unangenehm, den frohlockenden Demiurgen zu sehen. Selbst die Freude des Experimentators, der eine wichtige Entdeckung machte, hätte die Sorge um den armen Hund nicht auslöschen dürfen.

Obendrein berührte es mich peinlich, daß Ellon keinen Anteil an Irinas Krankheit nahm. Oleg war gegangen. Romero faßte mich unter. »Wollen Sie sich nicht mal anschauen, wie die Schiffsmaschine der ,Steinbock‘ allmählich zum Bewußtsein zurückkehrt?«

Die defekte Maschine stand in einer Ecke, von dem Zeittransformator weit entfernt. Ich fragte die Maschine, was sie über Zeitreisen denke und ob es Hoffnung gebe, daß Mizar aus der Zukunft wohlbehalten zurückkehre. Sie sang mit derselben melodischen Stimme:


»Lang ist es her. Ich weiß nicht, wann es war.

Die Jahre schwanden hin gleich Schemen

und tauchten in die Ewigkeit.

Das matte Herz hat, was vergangen, längst vergessen.

Lang ist es her. Ich weiß nicht, wann es war.

Vielleicht ist’s nie gewesen!«


»Die Antwort ist nicht sinnvoll, aber auch nicht ganz sinnlos«, bemerkte ich. »Und die Verse sind ein wenig besser als das dumme Zeug, das sie sonst von sich gegeben hat.«

»Das Gedicht heißt übrigens ,Dem Gedächtnis Chopins’. Ich weiß nicht, ob er Ihnen bekannt ist, Eli.

Und daß sich die Maschine des Gedächtnisses erinnerte, kann nur bedeuten, daß sie das Bewußtsein wiedererlangt. Die erste und wichtigste Eigenschaft des Bewußtseins ist das Gedächtnis! Ach, großartiger Eli, großartiger Eli, wissen Sie, welche Macht das Gedächtnis über den denkenden Verstand hat? Das Gedächtnis ist die einzige Garantie für Unsterblichkeit, der Katalysator, der jeden beliebigen Augenblick in Ewigkeit verwandelt, der einen zitternden Augenblick für immer unvergänglich und unverweslich konserviert!«

Schwulst braucht Romero nicht auszuleihen, aber so hatte er noch nie zu mir gesprochen.

»Welch eine Ode an die Erinnerung, Pawel!«

»Heut nacht war Ihre Schwester bei mir. Erschrecken Sie nicht, mein Freund, einstweilen bin ich nicht verrückt. Ich weiß, daß Wera schon lange tot ist. Vor meiner Abreise von der Erde besuchte ich ihre Asche im Pantheon. Sie war bei mir in meiner Erinnerung, nur in meiner Erinnerung! Mein Leben ist ja plötzlich Erinnerung an mein Leben, und das war so schön, Schwager! Wera und ich waren uneins, Sie wissen das, Sie wissen alles, Admiral, nein, Sie waren noch nicht Admiral, Sie waren ein Jüngling… Ich holte Wera auf dem Pluto ein, und ich eilte zu ihr ins Hotel, dorthin, wo sie und ich schon gewesen waren, in demselben Zimmer, Eli… Ich kniete vor ihr nieder, küßte ihre Füße, und sie kniete ebenfalls nieder, und sie weinte und küßte mich, und sie freute sich unendlich, daß ich zurückgekehrt war, daß sie mir verzeihen konnte… Eli, mein Freund, mein Schwager, ich bin Ihnen so dankbar für den Befehl, Ihrer Schwester nachzueilen, Sie haben mich zu neuem Leben erweckt. Wir knieten voreinander, das war gewiß komisch anzusehen, aber wir freuten uns und weinten, und wir küßten einander, und das war heute nacht, in der glücklichen heutigen Nacht, Eli!« Er taumelte. Der Übergang vom Bewußtsein zum Fieberwahn erfolgte so plötzlich, daß ich Romero nicht unterbrechen, sondern ihn nur auffangen konnte, als er zur Seite sank. Er zuckte zusammen und kam zu sich. Seine Augen waren kummervoll verschleiert vor bitterem Glück!

»Was ist mit mir? Was habe ich gesagt?« fragte er.

»Wir sprachen davon, daß die Schiffsmaschine das Bewußtsein wiedererlangt, Pawel. Lassen Sie uns nun hören, worüber Ellon, Orlan und Grazi so hitzig diskutieren.«

Ellons Gespräch mit Grazi und Orlan verdiente unsere Teilnahme. Ellon wies nach, daß es für die Mechanismen eine Kleinigkeit sei, einen Ausgang in die Zukunft zu schaffen. Man brauche, um in die Zukunft abzugehen, die Zeit nur zu beschleunigen, ohne ihre Richtung zu ändern. Die natürliche Zeit laufe von der Vergangenheit zur Zukunft, der Kollapsan treibe sie an, und fertig! Schwieriger sei eine Reise in die Vergangenheit. Dazu müsse der Lauf der Zeit ins Gegenteil verkehrt werden. Der Kollapsan bewerkstellige auch diese Transformation. Aber wie verhielten sich die Objekte dazu, denen die Zeit das Vorzeichen ändere? Die toten Gegenstände spürten den Wechsel nicht, sie seien gleich in Vergangenheit und Zukunft. Doch Organismen gingen zugrunde, wenn die Zeit nicht auf besondere Weise umgedreht würde.

»Die den Galakten so angenehmen natürlichen Gewebe der Lebewesen überstehen den Sprung durch die Nullzeit nicht.« Ellon grinste schadenfroh. »Die künstlichen Organe aber ertragen ohne weiteres die Wende zum Rückwärtslauf.« Der Galakt erhob sich majestätisch, so daß er Ellon überragte. »Du sagtest: Drehung der Zeit auf besondere Weise, Ellon? Wie ist das zu verstehen? Und warum ist es für natürliche Gewebe so gefährlich, die Null zu durchschreiten?«

»Weil die Nullzeit der Stillstand aller Prozesse ist.

Steinen und Metallen macht das nichts aus, für Lebewesen ist das der Tod.«

Ich entgegnete, daß wir beim Zusammenstoß der beiden Sonnen den Stillstand der Zeit, den Verlust unseres »Jetzt« für einen gewissen Moment schon erduldet hätten. Ellon stimmte nicht zu. Der Stillstand habe nicht lange gedauert. Wir seien erstorben, nicht gestorben, denn sogleich sei der natürliche Zeitenstrom wiederhergestellt worden. Eine Drehung der Zeit aber komme einer Explosion gleich.

»Ich müßte deine Leiche in die rückläufige Existenz drehen, Admiral!«

Ellon hatte nur eine Methode gefunden, um lebende Organismen in die Vergangenheit zu befördern.

Man müsse im Transformator ein Lebewesen in die Zukunft werfen, im geraden Lauf der Zeit. Wenn es sich dort nicht halte und zurückfalle, dürfe es in der normalen Zeit nicht aufgehalten werden, sondern man müsse es weiter fallen lassen, in die Vergangenheit hinein. Das werde ein Fallen auf Grund der Trägheit sein, nicht unter der Einwirkung äußerer Kräfte.

Eine Bewegung auf Grund der Trägheit der Zeit sei stets eine Bewegung zum Punkt der realen Existenz hin, so sei die Natur der Zeit nun mal. Und wenn ein aus der Zukunft in die Gegenwart fallendes Wesen auf Grund der Trägheit in die Vergangenheit gerate, so werde die Bewegung in die Vergangenheit, die sich rasch verzögere, die normale, die gerade Bewegung, und der Übergang durch die Nullzeit vollziehe sich ohne Erschütterungen. Dann müsse man den rückläufigen Gang der Zeit mit Hilfe des Kollapsans beschleunigen, und man könne das Versuchsobjekt in jede beliebige Vergangenheit schicken. Alle zurückgelegten Jahrmillionen stünden einer neuen Besiedelung offen!

Es war Zeit, Mizar in unsere Zeit zurückzuholen.

Ellon drehte den Gegenzeit-Hebel an der Kollapsanschalttafel. Im Transformator trübte sich etwas, ein Schatten flirrte und verwandelte sich in eine gierig Kühle hechelnde Hundezunge, und etwas höher glommen zwei Lichtchen auf, zuerst matt, dann immer heller, die sich rasch in glänzende Hundeaugen verwandelten. Im Zeittransformator zeichnete sich Mizar ab, lebendig, und es trieb ihn zu uns.

»Ich bin bei euch, bei euch!« meldeten die Geräte sein jubelndes Gebell.

Die Luke wurde geöffnet, und Mizar kam wie eine Kugel herausgeschnellt. Er warf sich Romero an die Brust, und Romero fiel hin. Das gleiche Schicksal ereilte mich, und nach mir geriet Grazi von einem Stoß des massiven Hundekopfs ins Wanken.

Freudig umarmte ich Mizar. »Beruhige dich, Tollwütiger!

Erzähle, was hast du auf deiner unwahrscheinlichen Reise gesehen?«

Mizar hatte nichts gesehen, ringsum war Nebel gewesen, unzählige Jahre hindurch, und dann waren Sterne erschienen, sie jagten dahin und flammten unheilvoll. Im großen und ganzen war alles wie auf den Sternenbildschirmen gewesen. Kälte hatte er nicht empfunden, er hatte keine Zeit gehabt, hungrig zu sein, aber es hatte so große Hitze geherrscht, daß er vor Durst fast umkam.

»Gleich wird man dir zu trinken geben«, sagte Ellon.

Während Mizar Wasser schleckte, bereitete Ellon den Transformator für eine neue Zeitreise vor. Ich fragte den Demiurgen, ob man den Flug in die Vergangenheit nicht auf morgen verschieben könne, damit Mizar sich ausruhe. Er entgegnete, nicht nur die Zeit dieser Minute, sondern auch die vergangene warte nicht. Ich umarmte Mizar erneut und erkundigte mich, ob Irina ihm über das Experimentprogramm alles gesagt habe. Der Hund lächelte. Jedermann weiß, daß Hunde nicht allein mit dem Schwanz vortrefflich lächeln, sondern auch mit den Augen und mit dem Maul, und Mizars verhaltenes Lächeln war besonders anmutig. Ja, er lächelte, selbst in Augenblicken höchster Freude erlaubte er sich kein vulgäres Gelächter.

So sind übrigens viele Hunde. Das Feingefühl liegt ihnen im Blut.

»Ich bin soweit, Eli. Zunächst schicke ich ihn in die Zukunft, durch die Zukunft dann in die Vergangenheit, und in der Vergangenheit werden die Erde und Wald sein. Wo ist Irina?«

»Sie ist unpäßlich. Der Erfolg deines Experiments ist die Medizin, die sie am dringendsten braucht.«

»Ich werde alles Erforderliche tun.«

Und zum dritten Mal sahen wir, wie sich Mizars großer schöner Körper in eine Nebelsilhouette verwandelte, wie in der Leere noch kurz die beiden Augen leuchteten und die rote Zunge für den schon unsichtbaren Körper Kühle hechelte. Im Laboratorium erschien wieder Oleg. Irina war bewußtlos, an ihrem Bett wachte Olga. Oleg fürchtete um ihr Leben. Die Menschen und die Demiurgen hatten das Geschwader mit den besten Arzneien versorgt, darunter auch solche gegen Gemütskrankheiten, aber kein einziges wirkte. Der Medizinautomat hatte dreimal unterschiedliche Diagnosen gestellt und unterschiedliche Behandlung festgelegt, in seinem Gedächtnis fanden sich keine Kenntnisse über Irinas Krankheit, so ungewöhnlich war sie.

Ellons schrille Stimme erklang: »Achtung! Rückkehr aus der Zukunft. Trägheitsflug in die Vergangenheit!«

Mizar kam aus der Zukunft, und er wurde in der Gegenwart nicht abgebremst. Äußerlich spielte sich das so ab, daß sich im Transformator in derselben Reihenfolge die mühsam pulsierende Zunge, die beiden Augen, der Rumpf und die Beine abhoben. Sekundenlang erwartete ich, daß der Hund seine Gestalt wiedergewinnen würde und freudig bellend hinausgelassen zu werden verlange. Aber der Rumpf hellte sich, ehe er völlig körperlich geworden war, wieder auf, wurde beinahe durchsichtig und verschwand. Mizar sauste ohne Aufenthalt in der Gegenwart in die Vergangenheit. Ellon beobachtete, über den Kollapsan gebeugt, die an der Schalttafel aufflammenden Lichter.

»Der Versuchshund Mizar ist in die Vergangenheit enteilt«, sagte er und trat zu Oleg. »Die Nullzeit hat er unversehrt passiert. Ich habe der Trägheit seines Flugs aus der Zukunft ein wenig Gegenzeit beigemengt.«

»Wie lange müssen wir auf Mizars Rückkehr warten, Ellon?« »Ungefähr eine Stunde, Oberkommandierender.«

Ich sagte zu Oleg: »Wenn du hierbleibst, statte ich der Stimme einen Besuch ab. Sicherlich langweilt sie sich in der Einsamkeit.«

Im Raum der Stimme schritt ich an der Wand entlang, wie Grazi das zu tun liebte. Die Analysatoren übermittelten ihr ein vollständigeres Bild des Experiments, als sie es von mir hätte erhalten können. Sie fragte mich nur, was ich zu den Flügen in eine andere Zeit meinte. Ich war von vagen Empfindungen erfüllt – Hoffnung, vermischt mit Furcht, und etwas, das sich als instinktive Feindseligkeit gegenüber solcherart Versuche mit einem Lebewesen charakterisieren ließe.

»Die Lage ist wahrscheinlich ernster, als wir vermuten«, sagte die Stimme.

»Fürchtest du wie Romero, daß uns Wahnsinn droht?«

»Der Wahnsinn hat schon angefangen.«

»Außer Irinas hat sich niemandes Bewußtsein getrübt. Abgesehen von den Maschinen, selbstverständlich. Die sind ja sofort verrückt geworden.«

»Der Maschinenintellekt ist nicht wie die Organismen durch einen Zeitstabilisator geschützt. So mußten sie eher Schaden nehmen.«

»Du stimmst auch dieser Hypothese Romeros zu?«

»Romero hat die Ursache treffend genannt.«

»Sollen tatsächlich du und auch ich den Verstand verlieren, Stimme? Bei der ersten Havarie büßtest du das Gefühl für das Jetzt‘ ein. Aber jetzt sind wir alle im Jetzt’. Das wirst du nicht bestreiten?«

Gerade dies bestritt sie. Sie sagte, daß wir bereits die Diesminütigkeit verloren hätten, genauer: Die Diesaugenblicklichkeit. Die Zeit auf dem Schiff pulsiere zwischen der nächsten Vergangenheit und der nächsten Zukunft. Sie fließe nicht gleichmäßig von der Vergangenheit zur Zukunft, sondern vibriere. Ein Krampf ziehe sie zusammen. Die Stimme spürte das Zittern der Zeit in jeder Gehirnzelle. Die Vibration zwischen Vergangenheit und Zukunft lasse auch die Gedanken vibrieren. Die Befehle, die sie den Vollzugsmechanismen erteile, zitterten. Die groben Vollzugsmechanismen würden zum Glück solche Feinheiten wie das Vibrieren von Gedanken, das Vibrieren eines Befehls nicht gewahr. Wahrscheinlich habe sich in der alten Menschengeschichte ein Diener auch nicht weiter darum geschert, ob sein Herr einen Befehl mit zittriger oder fester Stimme erteilte, für ihn sei der Inhalt des Befehls wichtig gewesen. Lange könne das nicht fortdauern. Der Moment werde eintreten, da der vibrierende Befehl aufhöre, ein Befehl zu sein. Dann werde auf dem Schiff alles ersterben.

»Grazi dubliert dich, doch er sagt nichts dergleichen«, erwiderte ich zweifelnd.

»Bald wird auch er es spüren. Bald werdet ihr alle es spüren, Eli. Die Zeit fiebert immer stärker. Die Vibration wird größer. Der Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft, in dem die Zeit pulsiert, rückt allmählich auseinander. Und jede Vibration hinterläßt eine Spur-Vergangenheit sammelt sich an, Zukunft konzentriert sich. Wenn die Unvereinbarkeit von Vergangenheit und Zukunft zu groß wird, reißt die Zeit erneut. Schwerlich werden wir so leichten Kaufs davonkommen wie voriges Mal. Damals brachen wir aus der zerrissenen Zeit zwischen den beiden Sonnen aus, aber was geschieht, wenn die Zeit auf dem Schiff selbst reißt?«

»Entsetzlich! Stimme, gibt es eine Chance zur Rettung?«

»Nur eine sofortige Stabilisierung der Schiffszeit.

Der Stabilisator ist jetzt wichtiger als der Transformator.«

Ich wurde ins Laboratorium gerufen. Auf dem Fußboden lag der leblose Mizar. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Zähne gefletscht, das Fell hatte sich gesträubt. Schweigend betrachteten die Anwesenden den toten Hund. Orlans drohende Stimme brach die Stille.

»Ellon, du versprachst, Mizar werde die Nullzeit wohlbehalten passieren. Du hast gelogen.«

Ellon hatte den Kopf so weit eingezogen, daß über den Schultern nur die Augen zu sehen waren, trüb und kläglich.

»Orlan, ich habe nicht gelogen. Mizar hat die Nullzeit wohlbehalten durcheilt. Wir alle haben es gesehen… Er entschwand lebend in die Vergangenheit. Alle haben es gesehen…«

»Aber tot ist er zurückgekehrt. Hast du eine Erklärung dafür, Ellon?«

Ellon sagte kaum hörbar: »Ich werde eine Erklärung suchen. Vorläufig habe ich keine.« Ellon und seine Helfer trugen Mizar zum Untersuchungstisch, und ich erzählte den Freunden von den Befürchtungen der Stimme.

»Geh lieber wieder zu ihr«, riet ich Grazi. »Womöglich verliert sie die Nerven.«

»Ich werde mit Ellon über die Zeitvibration sprechen«, sagte Orlan.

Ellon trat so niedergeschlagen heran, daß er mir leid tat.

»Die Stimme weist daraufhin, daß die Zeit auf dem Schiff zwischen Vergangenheit und Zukunft vibriert und die Amplitude sich vergrößert. Wann nimmt der Schiffszeitstabilisator die Arbeit auf, Ellon?« fragte Orlan.

»Unverzüglich werde ich mich mit ihm befassen, Orlan. Ich lasse den Transformator einstweilen ruhen und schalte den Stabilisator von der Mikrozeit auf die Schiffszeit um«, sagte Ellon rasch.

Orlan entgegnete kalt: »Du hast mich nicht verstanden, Ellon. Ich frage nicht, wann du dich mit dem Stabilisator befassen wirst. Du interessierst mich nicht. Wann wird der Stabilisator funktionstüchtig sein, Ellon?«

»Morgen«, antwortete Ellon demütig.

Ich warf einen letzten Blick auf den toten Hund und verließ mit Oleg das Laboratorium. Im Korridor sagte ich zu ihm: »Oleg, wenn wir beide aufgeben, werden die Folgen entsetzlich sein. Was auch mit den anderen geschehen mag, wir dürfen uns von der Zeitvibration nicht unterkriegen lassen. Und wenn dennoch ein Riß zwischen Vergangenheit und Zukunft entsteht, so halte dich an die Zukunft, bleibe in der Zukunft, Oleg, falle unter keinen Umständen in die Vergangenheit!«

Er lächelte traurig. »Du hast recht – wir beide müssen durchhalten.«

Ich betrachtete ihn. Er hatte müde Augen – rot, entzündet, geschwollen. Ich seufzte. Nur zweier Leute auf dem Schiff war ich in gewissem Maße sicher, meiner und seiner. Und das war furchtbar! Aber warum das furchtbar war, durfte ich ihm nicht sagen.

4

Es war schon spät, als ich in unsere Wohnung kam.

Mary schlief bereits. Leise zog ich mich aus und legte mich hin. Marys Schluchzen weckte mich. Sie saß auf dem Diwan und weinte, den Kopf in die Hände gestützt. Ich ging zu ihr, drehte ihr Gesicht zu mir.

»Was hast du, Mary? Was hast du?« fragte ich und küßte ihre nassen Wangen.

Sie schob mich zurück. »Du liebst mich nicht!« schluchzte sie.

»Mary! Was redest du da? Ich liebe dich nicht?

Ich?« In meiner Schlaftrunkenheit begriff ich nichts.

Wieder küßte ich sie.

Da riß sie sich los und stampfte mit dem Fuß auf.

»Rühr mich nicht an! Du liebst mich nicht! Und wenn du es wissen willst: Ich liebe dich auch nicht!«

Erst jetzt dämmerte mir, was geschah. Ich setzte mich in einen Sessel und sagte ruhig: »Also ich liebe dich nicht? Und du liebst mich nicht? Interessant!

Woraus schließt du das?«

»Du hast die Auskunftsmaschine über mich befragt!« stammelte sie. »Du erschrakst, weil wir so wenig übereinstimmten. Ich erschrak ebenfalls, dennoch dachte ich an dich und versuchte dir zu begegnen! Seit jenem Abend in Kairo hatte ich Sehnsucht nach dir, du aber flogst zur Ora, wolltest mich nicht einmal anschauen, und ich wollte mich doch entschuldigen wegen meiner Grobheit während des Konzerts und jenes Sturms in der Hauptstadt, es war für mich so wichtig, mich zu entschuldigen! Ich dachte ständig an dich, ich schaltete die Raumbildschirme nicht aus, um keine Übertragung von der Ora zu versäumen, denn ich hoffte unter den anderen auch dich da zu sehen. Dann verliebtest du dich in irgend so eine Schlange und hattest keine Lust, zur Erde zurückzukehren, flogst zum Perseus; dir war es gleichgültig, daß ich Nacht für Nacht weinte, als ich erfuhr, daß deine Schwester ohne dich wiedergekommen war. Pawel erzählte, wie leidenschaftlich du deine schöne Schlange anblicktest, wie du zu nächtlichen Stelldicheins zu ihr ranntest, er erzählte mir alles, doch ich antwortete, ich liebte dich trotzdem, obwohl ich dich schon haßte. Auch jetzt hasse ich dich! Du brauchst nicht zu kommen, ein gutes Wort kriegst du von mir nicht zu hören! Ich werde dich kalt und verächtlich anblicken, ja, ja, kalt und verächtlich! Warum schweigst du?«

Ich sagte sehr zärtlich: »Pawel hat dir nicht alles erzählt, Mary.«

»Doch, alles, alles!« unterbrach sie mich zornig.

Ich wiederholte beharrlich: »Nicht alles, Mary, glaub mir. Einfach deshalb nicht, weil er gar nicht alles wußte. Er konnte dir nicht sagen, daß ich mich in Kairo auf den ersten Blick, auf das erste Wort sofort und für immer in dich verliebt hatte. Er konnte dir auch nicht sagen, daß ich dich unerschütterlich liebte, nur liebte, mit allen Fasern liebte, obwohl du mir mal Grobheiten an den Kopf warfst, dich mal entschuldigen wolltest. Ja, Viola interessierte mich, aber dich liebte ich, allein dich, ganz dich, immer dich! Du beschimpftest mich in der Hauptstadt, und ich dachte:

Was für eine wunderbare Stimme sie hat! Du runzeltest die Brauen, und ich war entzückt. Niemals hatte ich schönere Brauen gesehen! Du funkeltest mich mit den Augen an, und ich sagte mir gerührt, daß niemand schönere Augen habe, nicht einmal gleich schöne! Du gingst verärgert weg, und ich bewunderte deine Figur, deinen Gang, wie du die Arme schwenktest, und ich war so glücklich, daß ich mich an deinem Anblick freuen konnte, daß mir diese Freude zuteil geworden war, dir nachzublicken, die du verärgert warst, die ich liebte, die grimmig die Arme schwenkte, so hübsch die Arme schwenkte, den linken ein bißchen mehr als den rechten… Genau so war es, und Pawel konnte es dir nicht erzählen, weil nur ich es wußte, nur ich, Mary!«

Wieder unterbrach sie mich. »Du sagtest: so war das! Du gestehst also, daß es jetzt nicht so ist.«

Ich fuhr mit derselben zärtlichen Hartnäckigkeit fort: »Ja, Mary, du hast recht, das war. Und nicht nur dies. Da war auch unsere Reise zum Perseus. Du erinnerst dich doch? Ach, was das für eine Reise war, Mary, welch wunderbare Hochzeitsreise! Wir trennten uns nie, einen nicht gemeinsam verbrachten Augenblick betrachteten wir als verloren. Erinnere dich, Mary, erinnere dich! Und ich liebte dich von neuem, und ich war stolz auf dich, und ich mußte dich immerfort anschauen, und ich war glücklich, daß du bei mir warst, daß du ich warst, daß das Beste in mir, das Edelste, das. Zärtlichste, das Teuerste, du warst!

Erinnere dich, Mary, ich bitte dich, erinnere dich, denn so war es!«

Sie stöhnte, preßte die Hände zusammen. »Ach, dieses entsetzliche ,war’! Du bist unbarmherzig, Eli, alles bei dir war nur, war!«

»Ja, Mary, du hast wieder recht, du hast immer recht, entsetzlich, entsetzlich ist dieses ,es war’! Und trotzdem, wieviel Gutes liegt darin! Denn in dem Guten, das war, ist auch unser Sohn gewesen, unser einziger Sohn, Aster, erinnere dich, denn auch er war, Mary, wir beide hatten einen Sohn, und er hieß Aster!«

Sie wiederholte leise: »Er hieß Aster…«

»Na siehst du, Mary, du erinnerst dich, wie gut, daß du dich erinnerst, ich danke dir dafür, du meine Einzige, du meine unendliche Liebe! Du erinnerst dich seiner, ich bin dir dankbar dafür. Er ist tot, Mary, er hatte einen schrecklichen Tod, die verfluchte Schwere des Dritten Planeten brachte ihn um, er starb in deinen Armen, du schluchztest, wolltest ihm wenigstens ein Teilchen deines Lebens geben, wenn du ihm schon nicht das ganze geben konntest, aber er nahm es nicht, er starb in deinen Armen, er starb in deinen Armen, Mary! Mary, Mary, erinnere dich an Aster, an unseren Sohn, der in deinen Armen gestorben ist!«

Sie schluchzte. »Hör auf, du zerreißt mir das Herz, Eli.«

Ich kniete vor ihr nieder, schmiegte mein Gesicht an ihre heißen Hände und flüsterte leidenschaftlich:

»Nein, Mary, ich höre nicht auf! Und wenn es keinen anderen Ausweg gibt, zerreiße ich dein Herz, aber ich erlaube dir nicht, Aster zu vergessen! Erinnere dich an unseren Sohn, unseren armen Sohn, erinnere dich an unseren Kummer, unsere Verzweiflung! Erinnere dich, daß er auf der Erde ist, im Pantheon, daß er eins der Heiligtümer der Menschheit ist, daß über seinem Grab die Inschrift steht: ,Dem ersten Menschen, der sein Leben für die Sternenfreunde der Menschheit gab’, daß wir oft dort hingingen und schweigend vor Asters Sarkophag standen. Wir haben etwas, woran wir uns erinnern können, Mary, etwas, worüber wir uns freuen, etwas, worauf wir stolz sein können!«

Der Wahnsinn kämpfte in ihr mit der Vernunft, und die Vernunft siegte. Bitter sagte sie: »Ja, Eli, es gibt etwas, woran wir uns erinnern können, worauf wir stolz sein können. Doch alles liegt in der Vergangenheit, alles liegt in der Vergangenheit!«

Ich erhob mich. Ich wußte schon, daß ich sie retten würde. »Vieles ist in der Vergangenheit, vieles, aber nicht alles! Sind wir etwa in der Vergangenheit? Wir sind hier, Mary! Und unsere Liebe ist mit uns! War, war, und ist!«

Jetzt trat sie zu mir, faßte meine Schultern. »Du sagtest ,ist’, Eli? Du sagtest, ,ist? Habe ich richtig gehört?«

»Du hast richtig gehört, Mary. Ist! Wir sind, unsere Liebe ist mit uns!« Erst jetzt gestattete ich mir, erregt zu sein, und meine Stimme begann zu zittern.

»Ich liebe dich, du Gealterte, Abgemagerte, du warst die Einzige und bleibst die Einzige! Ich liebe deine versilberten Haare, deine gelb gewordenen Hände, deine gelichteten, einst so schwarzen Brauen, deine wunderbaren Augen! Ich liebe deinen Gang, deine Gewohnheiten, ich liebe dich, wenn du sitzt, wenn du stehst, immer, überall, ganz und gar, Mary! Ich liebe dich dafür, daß ich dich früher geliebt habe, daß ich dich jetzt liebe, daß ich dich später lieben werde, daß unser ganzes Leben Liebe zueinander ist! Schau mir in die Augen, du erblickst in ihnen nur Liebe, nur Liebe! Ich liebe, liebe, um meinetwillen, um deinetwillen, um unserer Liebe willen! Mary! Mary!«

Die Stimme versagte mir, ich konnte nicht mehr sprechen. Und plötzlich fühlte ich mich so schwach, daß ich mich setzte, um nicht hinzufallen. Sie barg das Gesicht in den Händen. Mir tat das Herz weh. Ich war mir noch nicht sicher, ob ich sie zurückgeholt hatte. Sie ließ die Hände sinken, schaute mich befremdet an und fragte langsam: »Eli, war etwas mit mir?«

Ich antwortete: »Es ist vorbei, Mary! Wir wollen nicht darüber sprechen.«

»Deine Stimme zittert«, sagte sie. »Deine Hände flattern! Und du weinst, Eli! Tränen rinnen dir über die Wangen! Du hast nie geweint, Eli. Selbst als unser Sohn starb, weintest du nicht. Stand es so schlecht um mich?«

»Es ist vorbei«, wiederholte ich. Ich weiß nicht, wo ich die Kraft fand, nicht laut zu schluchzen. »Und mich beachte nicht. Mir sind die Nerven durchgegangen. Du weißt ja, in was für eine schwierige Situation wir geraten sind. Und nun verzeih, ich muß ins Laboratorium. Wenn du dich nicht gut fühlst, ruf mich sofort!« Sie lächelte, da sie mich wie sonst durchschaute. Ich brauchte mich nicht mehr um sie zu sorgen.

»Geh, Eli. Ich gehe auch bald. Schau mal nach Irina.«

Fröhlich winkte ich ihr zu, als ich sie verließ. Doch vor der Tür lehnte ich mich an die Wand und schloß erschöpft die Augen. Ich hatte das Empfinden, als habe man mich, nachdem ich schon untergegangen war, herausgezogen, und ich könne nicht zu Atem kommen.

Irina lag mit geschlossenen Augen in ihrem Zimmer. Aus ihrer Ohnmacht war sie noch nicht erwacht.

Am Bett saß Olga. Ich setzte mich auf den Diwan. Olga schaute mich mitleidig an. »Du siehst schlecht aus, Eli.«

»Wir sehen alle schlecht aus, Olga. Wie geht es Irina?«

»Der elektronische Medikus erklärt, daß keine Lebensgefahr bestehe. Aber das Bewußtsein hat sie noch nicht wiedererlangt. Das beunruhigt mich.«

»Angesichts der Schwierigkeiten, die wir mit der Zeit haben, ist es vielleicht gut, daß sie ohne Besinnung ist. Besser ein ausgeschaltetes Bewußtsein als ein zerrissenes.«

Sie musterte mich immerfort, und das ärgerte mich plötzlich.

»Ist noch irgend etwas passiert, Eli, nach Mizars Tod?«

»Wie kommst du darauf, Olga?«

»Ich sehe es dir an.«

»Mary ist krank«, sagte ich. »Ihr war das Gefühl für die Gegenwart entfallen. Sie war ganz in der Vergangenheit und bildete sich ein, die zu sein, die sie gewesen war, als wir uns kennenlernten. Ich hatte Mühe, sie aus der Vergangenheit herauszuziehen.«

»Und Irina quält das Verlangen, sich zu verlieben«, sagte Olga nachdenklich. »Und sie wendet sich von denen ab, die sie lieben. Mich erträgt sie noch, du siehst, ich sitze neben ihr, und sie regt sich nicht. Das bedeutet, daß meine Gegenwart ihr angenehm ist.«

»Was kann sie fühlen in ihrer Bewußtlosigkeit?«

»Sag das nicht, Eli. Oleg kam und setzte sich neben sie, und sie begann sich unruhig zu wälzen. Und als er ihre Hand nahm, riß sie sich los.«

»Ohne zu sich gekommen zu sein?«

»Ohne zu sich gekommen zu sein. Merkwürdige Formen nimmt die Störung im Zeitstrom an. Schade, daß ich kein Psychologe bin. Ich würde den Zusammenhang zwischen den Mikropulsationen der Zeit und den Makrorissen der Psyche berechnen.«

»Ja, das ist schade. Mit solchen Berechnungen ausgerüstet, würden wir viele Gefahren vermeiden. Einstweilen wollen wir uns damit trösten, daß wir beide nicht dem Wahnsinn verfallen sind. Du hast doch wohl nicht vor, in deinem Denken in die Vergangenheit zu stürzen?«

Sie lachte leise. »Was würde das ändern, Eli?

Meine Vergangenheit ist von der Gegenwart nicht zu unterscheiden. Ob nun Vergangenheit oder Gegenwart, das Schicksal ist dasselbe.«

Anstatt zu schweigen, fragte ich unvorsichtig: »Wie soll ich das verstehen: das Schicksal ist dasselbe?«

»Ich habe dich geliebt, Eli«, sagte sie ruhig, »als kleines Mädchen und als Erwachsene. Da ist nun nichts mehr zu ändern, Eli, aber ich will, daß du weißt: Andere Gefühle hatte ich nicht! Manchmal sage ich mir: Ich wurde nur für die Liebe zu dir geboren und kannte deshalb nichts anderes im Leben.«

Ich war überrumpelt und ließ sie aussprechen. Zärtlich schaute sie mich an, klein, ergraut, aber genauso rotwangig, genauso ausgeglichen und gütig, wie sie immer gewesen war. Und plötzlich begriff ich, daß sie mir nicht ein Gefühl gestand, von dem sie jetzt gequält wurde, sondern daß sie auf ihr Leben zurückblickte, nur zurückblickte! Und diese Einsicht war so wunderbar, daß ich meine Verlegenheit überwand und ausrief: »Unsinn, Olga! In deinem Leben hat es so viele Ereignisse gegeben, so viel Erfolg und Ruhm, daß das kleine fehlgeschlagene Gefühl zu mir nicht ins Gewicht fällt! Erinnere dich, wer du bist! Ein berühmter Astronavigator, der erste weibliche galaktische Kapitän, ein großer Gelehrter, ein großer Kosmoskrieger!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ja, du hast recht, Eli, es hat vieles gegeben in meinem Leben. Aber es hat auch die Liebe zu dir gegeben. Eine treue Liebe, Eli, die so lang wie mein Leben ist. Und als ich starb, sprach ich mit dir, und du streicheltest meine Hand, und ich sagte dir, daß ich dich geliebt habe, nur dich allein geliebt habe.«

»Schau mich an, Olga!« forderte ich.

Lächelnd blickte sie mich an, und sie legte ihre Hand auf meine. Olga war hier, in der Gegenwart, ich empfand ihre Wärme. Aber sie schaute aus der Zukunft auf mich. Jeder auf dem Schiff war auf seine Art verrückt geworden… Irina regte sich. Olga sagte: »Sie will aufstehen.

Geh bitte hinaus, Eli.«

Ich ging durch die endlosen Schiffskorridore und ballte zornig die Hände. Der Feind, gegen den ich kämpfte, war schon allein dadurch stärker, weil ich nicht ahnen konnte, woher er einen Schlag führen würde. Unweit des Kommandeursaales kam mir Oshima entgegengestürzt. Erregt flüsterte er etwas vor sich hin, krampfhaft fuchtelte er mit den Armen. Ich wußte, daß er ein geschickter Kämpfer war, ein ausgezeichneter Sportler, ein gefährlicher Fechter. Aber daß er imstande war, sinnlos zu fuchteln, hätte ich nicht erwartet. Ich packte ihn bei der Schulter. »Oshima, warum sind Sie nicht auf Ihrem Posten?«

»Lassen Sie mich, Admiral. Ich habe den Dienst Kamagin übergeben. Ich bin in großer Eile, nehmen Sie die Hand weg!«

Ich hielt ihn fest. »Ich will wissen, warum Sie es so eilig haben, Kapitän Oshima!«

Er gab den Widerstand auf. Ich war doch stärker.

Er schaute sich um und sagte, wobei er die Stimme vertraulich senkte: »Ich bin hinter O’Harusan her.

Ein Mädchen namens Frühling.«

»O’Harusan?« Ich war verblüfft. »Oshima, hier sind keine Mädchen namens O’Harusan oder Frühling!«

Mißtrauisch hörte er mir zu. »Admiral, ich müßte Ihnen glauben, kann es aber nicht. Hier ist keine O’Harusan? Aber ich denke doch nur an sie! Ich will O’Harusan treffen!«

»Dennoch gibt es sie nicht auf dem Schiff. Sie existiert nur in Ihrem Traum, Oshima! Sie phantasieren mit offenen Augen, mein Freund. Kehren Sie in den Kommandeursaal zurück!«

Meine Worte erreichten ihn nicht. Eine verdrehte Logik leitete ihn. Pedantisch hartnäckig sagte er:

»Wie kann sie nicht dasein, wenn ich an sie denke? Sie ist immer mit mir, wie kann es sie nicht geben?«

»Es gibt keine O’Harusan und hat nie eine gegeben!« schrie ich wütend. »Ein Mädchen Frühling hat es nie gegeben!«

»Dann suche ich sie, Admiral!« erklärte er enthusiastisch. »Wenn es sie nicht gegeben hat, muß ich sie finden. Es muß sie geben, das Mädchen Frühling. Ich kehre nicht ohne die zurück, die es nicht gegeben hat!«

Er versuchte an mir vorbeizukommen. Ich riß ihn zurück. Oshima bewegte sich kaum merklich, und ich stürzte. Ich war einen Kopf größer als er, anderthalbmal schwerer, aber er schleuderte mich wie eine Puppe zu Boden. Mir wurde schwarz vor den Augen.

»Admiral, Admiral!« drang Oshimas erschrecktes Rufen zu mir. »Hab‘ ich Ihnen weh getan? Verzeihen Sie mir, Admiral! Ich weiß nicht, was mit mir los ist!«

Mühsam erhob ich mich. Oshima stützte mich besorgt. Sein Wahnsinn hatte sich verflüchtigt.

»Es ist alles in Ordnung, Kapitän Oshima«, sagte ich. »Kommen Sie in den Kommandeursaal.«

Im Sessel des Schiffskommandeurs saß Kamagin.

Oleg ging unruhig auf und ab. Verstohlen beobachtete ich den kleinen Kosmonauten. Eduard arbeitete flink und exakt. Und obwohl es keine Schiffsmaschine gab und er alle Befehle an die Vollzugsmechanismen nur über die Stimme erteilen konnte und er nur durch sie die Informationen des Analysators erhielt, betrug er sich, als sei die Schiffslenkung nicht gestört.

Auf dem Bildschirm siedete nach wie vor der Kern, schoß mit Sternen, aber in dem wilden Chaos der einander ereilenden Gestirne lenkte Kamagin das Sternenflugzeug mit der Sicherheit eines Seemanns, der sein Schiff in den Sturm führt. Und ich dachte, wenn Kamagin in den Vergangenheitswahnsinn fällt, so ist das für uns die ungefährlichste Art, weil er auch in der fernen Vergangenheit ein mutiger galaktischer Kapitän war, vielleicht der Geschickteste von uns, weil er in einer Epoche Schiffe führte, als die Schiffsmaschine noch nicht einmal projektiert war, beinahe hätte ich den altertümlichen Ausdruck gebraucht: als daran noch nicht zu denken war. Und selbst wenn die Stimme umkäme, wäre das, was wir als furchtbare Katastrophe auffassen würden, für ihn nur eine Rückkehr zu der von ihm beherrschten Schiffsführung per Hand. Erleichtert dachte ich, daß ich nur von solchem Wahnsinn sagen könnte, er sei zulässig.

Oshima setzte sich neben Kamagin.

Halblaut sagte ich zu Oleg: »Hattest du Oshimas Zustand bemerkt?«

»Oshima fühlte sich schlecht«, antwortete Oleg, »deshalb erlaubte ich ihm, sich zu entfernen.«

»Und ich habe ihn zurückgebracht. Ich fürchte, Nachsicht verstärkt den Wahnsinn nur. Ich habe in Oshimas Kopf ein bißchen aufgeräumt, wer weiß, ob das lange vorhält.«

»Jedenfalls kann man ihm ohne Sicherungsmaßnahmen das Kommando über das Sternenflugzeug nicht mehr übertragen«, sagte Oleg, und ich pflichtete ihm bei.

Als ich den Kommandeursaal verlassen wollte, begann Oshima laut zu schluchzen. Oleg und ich traten zu ihm. Oshima jammerte: »Es hat kein Mädchen Frühling gegeben. Es hat keine mit Lianengirlanden umwundene O’Harusan mit Sakura-Blüten im Haar gegeben! O du Frühling meiner Seele, duftende O’Harusan! Und ich muß das erleben, du feueräugige O’Harusan, daß es dich nicht gibt und niemals geben wird!«

»Ich würde ihn doch ins Hospital schicken, Eli«, sagte Oleg.

»Und wer soll ihn dort pflegen? Genau solche Wahnsinnigen? Und außerdem geht es ihm schon besser, scheint mir. Vorhin lief er, um O’Harusan zu suchen, jetzt verabschiedet er sich von ihr. Das ist günstig.«

Wie zur Bestätigung meiner Worte holte Oshima ein Tuch hervor, wischte sich das tränenüberströmte Gesicht, schneuzte sich, zupfte sich die Uniform zurecht und sagte mit fast normaler Stimme zu Oleg:

»Admiral, dem Kapitän Oshima ist ein bißchen schwindlig. Ich habe den Dienst Kapitän Kamagin übertragen. Ich halte einstweilen ein Nickerchen im Sessel, Admiral.«

Er schloß die Augen und schlief unverzüglich ein.

Sein Gesicht gewann allmählich die gewohnten markanten energischen Züge wieder. Oleg und ich traten leise zurück. Oleg blieb im Kommandeursaal, ich begab mich ins Laboratorium. Hier wurde der Zeitstabilisator montiert. Ellons schrille Stimme schallte durch den Raum.

Demiurgen und Menschen beeilten sich, seine Befehle auszuführen. Abseits schritt Orlan zwischen Wand und Wand auf und ab. Rings um ihn hatte sich, ich bemerkte das sofort, Leere ausgebreitet. Niemand wagte es, die unsichtbare Grenze zu verletzen, die Orlan von den anderen trennte. Noch wenige Tage zuvor wäre ein solches Bild undenkbar gewesen. Orlan hatte sich stets bemüht, nicht aufzufallen, im Hintergrund zu bleiben. Um Ellon nicht zu stören, schlug ich einen Bogen um den Stabilisator und näherte mich Orlan.

»Grüß dich, Freund Orlan!« Ich versuchte, meinen Gruß herzlich, nicht aber geschraubt klingen zu lassen. »Gibt’s Erfolg mit dem Zeitstabilisator?«

Orlan blickte mich hochmütig an: »Seltsame Frage, Admiral Eli! Hörtest du nicht, daß der Demiurg Ellon versprach, den Schiffszeitstabilisator heute in Gang zu setzen?«

Ich murmelte verlegen: »Doch, Orlan. Ellon versprach dir…«

»Oder meinst du, Ellon würde es wagen, mich zu täuschen? Täuschungen sind bei den Demiurgen unmöglich. Sei unbesorgt. Der Tag hat erst begonnen, Admiral Eli.«

Er war ebenfalls wahnsinnig geworden. Alle auf dem Schiff waren wahnsinnig geworden. Das von den Geräten nicht festzustellende Vibrieren der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft hatte die Psyche gespalten. Im Bewußtsein speicherte sich die wieder aufgelebte Vergangenheit, verdichtete sich die noch nicht erreichte Zukunft. In der gespaltenen Seele überwog die Vergangenheit. Sie war besser bekannt und wirkte näher. Nur Olga war in die Zukunft entwichen. Die anderen waren in die Vergangenheit gefallen.

Und als ich schweigend den hochmütig hin und her flatternden Orlan anschaute, sah ich plötzlich deutlich, wie er gewesen war, als wir ihn noch nicht zu unseren Freunden zählten, und wie sich seine Untergebenen, seine Lakaien, seine Sklaven, ihm gegenüber verhalten hatten. Grausame Subordination, unerbittliche Subordination, schon der Gedanke an Ungehorsam, das geheime Verlangen nach Freiheit waren ein schweres Verbrechen gewesen! Ja, selbstverständlich, Orlan ist nicht schuld, daß sich sein Bewußtsein mehr und mehr in der Vergangenheit verstrickt, dachte ich, das ist sein Unglück, nicht seine Schuld. Und in unserer heutigen verzweifelten Lage sind seine unbarmherzige Hartnäckigkeit und seine Herrschsucht kein Hemmnis, sondern helfen uns freizukommen. Unter außergewöhnlichen Umständen eignen sich nur außergewöhnliche Maßnahmen. Aber wenn wir uns retten und er der alte bleibt? Wie können wir uns mit einem solchen Despoten und Würdenträger abfinden? Mir war, als verlöre ich einen Freund, einen lieben Freund, einen meiner vertrautesten Freunde.

Ich murmelte: »So wird man über kurz oder lang vom bloßen Anblick des Wahnsinns wahnsinnig.«

Orlan blieb vor mir stehen. »Was hast du gesagt?

Wiederhole es!«

»Ich habe es vergessen, Orlan«, antwortete ich und ging in meine Wohnung.

Mary schlief und lächelte im Schlaf. Ich betrachtete zärtlich ihr gerötetes Gesicht, nahm das Diktaphon und stieg in den Konservierungsraum hinab. Hier lag jetzt ein Toter mehr – Mizar, der lebend in die Zukunft enteilt und lebend von dort zurückgekehrt war, aber die Rückkehr in die Vergangenheit nicht überstanden hatte. Ich schob den Sessel an Oans Sarkophag. Wo befand er sich? In der Vergangenheit oder in der Zukunft? In welchem Moment hatten ihn Ellons Kraftketten gepackt? Könnte er zurückkehren, wenn wir seinen Verschlag öffneten, wie Mizar aus der Zukunft zurückgekehrt war?

»In einem hast du recht behalten, Verräter«, sagte ich zu Oan. »Du warntest uns vor dem Zeitkrebs, rietest uns, ihn zu fürchten, und der Zeitkrebs hat uns befallen. Du sagtest nur nicht, daß deine Herren oder deine grausamen Brüder uns mit dieser Krankheit infizieren würden. Freue dich, Oan, wir sind krank!

Unsere Seelen bluten, bald werden unsere Körper, zermartert von der Spaltung der Psyche, kraftlos zu Boden sinken, auf die Betten, in den Sesseln versteinern. Freut euch, ihr Grausamen, ihr habt gesiegt.

Aber wozu braucht ihr diesen Sieg? Antworte mir, Verräter, warum kämpft ihr gegen uns? Warum habt ihr unser Geschwader vernichtet? Warum habt ihr ein Sternenflugzeug übriggelassen und mit dem Auseinandergleiten der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft infiziert? Seid ihr mit dem Sieg allein nicht zufrieden? Müßt ihr euch noch an unseren Qualen weiden? Die abergläubischen Aranen erklärten euch für Götter! Was seid ihr schon für Götter? Unholde seid ihr, Henker! Ich würde dir in die Augen spucken, Oan, wenn meine Spucke diejenigen träfe, die sich hinter dir verbergen! Ach, ihr Gelangweilten, wie dürstet ihr nach dem Schauspiel unserer Qualen! Und wenn das erwünschte Schauspiel ausbleibt, ihr Verhaßten? Wenn wir trotz allem der kranken Zeit entfliehen? Werdet ihr uns verfolgen? Werdet ihr den verderblichen Strahl ins letzte Sternenflugzeug feuern? Noch einmal frage ich: Warum kämpft ihr gegen uns? Warum laßt ihr uns aus eurer strahlenden Hölle nicht fort? Wodurch haben wir euch erzürnt?«

Ich schwieg eine Weile, ruhte mich aus, dann sprach ich wieder. »Der Wahnsinn erfaßt alle auf dem Sternenflugzeug. Die Tatsache, daß ich, ein Lebender, zu dir, einem Toten, komme und mit dir rede, beweist noch nicht die Klarheit meines Geistes. Jeder hat seine eigene Form von Wahnsinn. Mein Wahnsinn bist du. Ich vermag mich von dir nicht zu lösen, es zieht mich zu dir. Aber freue dich nicht! Ich überliste dich! Ich bin ebenfalls in die Vergangenheit gesunken, doch ich versinke nicht in ihr, ich rappele mich aus ihren stürmischen Wogen heraus. Verlaß dich nicht auf die Spaltung meiner Seele, sie wird sich nicht spalten.

Siehst du dieses kleine Gerät? Ich leite die Vergangenheit aus meinem Bewußtsein auf das Diktaphonband.

Meine Frau wäre unter der schwer gewordenen Bürde der Jahre beinahe zugrunde gegangen. Ich werde ebenfalls nicht zugrunde gehen, nein. Ich werde mich vor dir Stunde für Stunde ruhig und konsequent von Krankheit befreien, mit der du mich infiziert hast.«

Ich wandte Oan den Rücken zu, nahm das Diktaphon in die rechte Hand. Langsam, mit gleichmäßiger Stimme begann ich zu diktieren: »An jenem Tag stürzte rauschender Regen hernieder, daran erinnere ich mich gut…«

5

Ich schlief ein, müde vom vielstündigen Diktat. Mich weckte der Ruf: »Admiral Eli ins Laboratorium!

Admiral Eli ins Laboratorium!« Ich warf das Diktaphon in den Sessel und lief hinaus.

Im Laboratorium stand Ellon am Stabilisator, vor Orlan servil gebückt. Abseits erblickte ich Oleg, Grazi und Romero. Orlan bedeutete mir, näher zu kommen.

Kalt blickte er mich an, wie einen Knaben, den er schulmeistern wolle. Ellon schenkte er keine Beachtung.

»Der Tag geht zu Ende, und unser Zeitstabilisator beginnt die Arbeit!« sagte er hochmütig. Und nachdem er den Kopf nur um eine Winzigkeit gedreht hatte, nickte er Ellon geringschätzig zu. »Ist alles bereit, Ellon?«

»Absolut alles, Orlan«, antwortete Ellon eilfertig und beugte sich sklavisch noch tiefer.

»Dann schalte ein!«

Wir hörten einen heftigen Stoß im Apparat, und das war alles. Gespannt warteten wir auf irgendwelche Laute, das Aufflammen von Lichtern, auf Impulse und Wärmewellen, aber der Stabilisator funktionierte ohne äußere Effekte. Ich musterte die Anwesenden, und voller Bitterkeit wurde mir plötzlich deutlich bewußt, wie sehr sich alle verändert hatten.

Erschöpfung und Leiden hatten die Gesichter gezeichnet, die Schultern gebeugt. Selbst der gottähnliche Grazi, der am wenigsten angekränkelt war, selbst er, der alle überragte, machte nicht mehr den Eindruck einer erhabenen Statue. Und Orlan, der sich hochmütig in die Brust warf und uns von oben herab ansah, der mit seinem bläulichen Gesicht matt phosphoreszierte, vermochte nicht, auf alte Weise den Kopf hochschnellen zu lassen – die wiedergekehrte gespenstische Erhabenheit hatte ihn nicht von den Fesseln befreit, sondern niedergedrückt. Oleg, niedergeschlagen und düster, glich nicht dem rätselhaft leidenschaftslosen Cherub von einst, er war jetzt einfach ein Mann in mittleren Jahren, unser Oberbefehlshaber, der plötzlich vergessen hatte, wie man kommandierte und forderte. Romero, ich ließ meinen Blick weiterwandern, spielte nicht mit seinem Spazierstöckchen, sondern stützte sich darauf, innerhalb weniger Tage war es aus einem Zierat zu einer echten Hilfe für ihn geworden, und dabei war er, wie wir fast alle, in die Vergangenheit entwichen, als er jung gewesen, die Vibration der Zeit hatte ihn in die Jugend geworfen, warum machte die auf wunderbare Weise wiedergekehrte Jugend so alt? Und Mary, meine arme Mary, dachte ich und schloß die Augen, hatte sich eingebildet, ein junges Mädchen zu sein, warum empfand sie ihre junge Liebe als so kummervoll? Nein, dachte ich und wiegte den Kopf im Takt zu meinen Gedanken, ich muß das durchdenken, das ist außerordentlich wichtig, selbst die besten Jahre, gewaltsam zurückgegeben, werden zur Bürde, selbst die wiedergekehrte Jugend macht alt, denn die Jugend, denn die Jugend…

Meine Gedanken unterbrach Orlans jubelnder Ausruf: »Eli, Eli, die Zeit ist heil!«

Ich fuhr zusammen und öffnete die Augen. Orlan näherte sich, die Arme hatte er wie ein Mensch ausgestreckt. Ich ergriff seine knochige Hand und schaute ihn begierig an. Er war der alte, wiedergekehrt, wiedergeboren, jener Orlan, den ich geliebt hatte, der klug, gütig und sanft war, der freundlich lächelte, beinahe zärtlich. Begeistert umarmte ich ihn, klopfte ihm die Schulter, er stöhnte und duckte sich, hörte aber nicht auf zu lächeln. Das war so großartig, das wirkte, obwohl leidenschaftlich erwartet, derart unerwartet, daß es uns wie ein Wunder vorgekommen wäre, hätte an der Wand nicht der riesige Zeitstabilisator geragt und wäre nicht neben ihm in der dienstfertigen Pose Ellon erstarrt. Romero kam gestürzt, um mich an sich zu ziehen, ich umarmte Oleg, langte nach Grazis Hals – Grazi bückte sich herablassend, damit ich ihn umschließen könne-, und minutenlang herrschte im Laboratorium geräuschvolles Gedränge und erschallte freudiges Lachen!

»Eli, du hast vergessen, unserem bemerkenswerten Ellon zu danken!« sagte Orlan vorwurfsvoll. »Jetzt siehst du, daß ich recht hatte, als ich darauf bestand, Ellon zur Expedition einzuladen! Ellon ist ein Genie von einem Ingenieur, selbst unter den Demiurgen ist er einmalig!«

Wir beide traten zu Ellon. Er war der Urheber des Triumphs, der ihn vor allem anging und der ihn am wenigsten berührte. Finster sah er mich an.

»Ellon!« sagte ich bewegt. »Du hast eine Heldentat vollbracht. Mit der Zeitkrankheit auf dem Schiff ist nun Schluß! Wir sind die furchtbarste Krankheit der Welt losgeworden! Und alles dank deiner Meisterschaft, Ellon!«

»Ich habe den Willen desjenigen getan, der mich entsandte!« entgegnete er barsch. »Danke Orlan, Admiral Eli!«

Der wiedergeborene Orlan brauchte meine Dankbarkeitsbezeigungen nicht.

»Nein, nein, laß dich unserer Anerkennung versichern, Ellon«, sagte er so nachdrücklich und so hastig, als furchte er, ein neues Unglück geschehe, wenn Ellon unsere Begeisterung nicht im guten beantworte.

»Und du irrst dich, Ellon. Ich habe dir nicht befohlen, ich habe dich nur gebeten.«

Ellon neigte schweigend den Kopf. Seine düsteren Augen glühten böse, ein ungutes Lächeln schlängelte sich zu einer Sinuskurve. Er war nicht wiedererstanden. Orlan war in sein früheres Dasein zurückgekehrt, Ellon war gespalten geblieben. Er konnte nicht mehr wiedererstehen. Der Zeitkrebs hatte seine Psyche in zwei Teile zerfallen lassen, und der Spalt war unausfüllbar. All dies verstand ich erst später, doch in jenem Augenblick, als ich Ellon begeistert anschaute, bildete ich mir ein, das Beharrungsvermögen seiner Seele sei einfach größer als bei mir, als bei Orlan, als bei uns allen und er benötige die gesunde unversehrte Zeit länger, um die innere Unversehrtheit wiederherzustellen! Manches wäre anders verlaufen, hätte ich mich scharfsinniger gezeigt.

Romero brannte vor Ungeduld, zu kontrollieren, wie sich die Stabilisierung der Zeit auf die verrückt gewordenen Schiffsmaschinen ausgewirkt hatte. Nicht alle Schaltungen in den Schiffsmaschinen der »Rammbock« und der »Schlangenträger« funktionierten, und jede erfaßte intellektuell nur so viel, daß zweimal zwei gleich vier sei. Diese beiden Maschinen waren nicht mehr wahnsinnig, aber schon ihre erste Antwort ließ Beschränktheit vermuten. Dafür gab die Schiffsmaschine der »Widder« keine Dreifachantworten mehr. Auf die Frage, wie sie sich fühle und ob sie zu arbeiten bereit sei, rapportierte sie forsch: »Es waren ihrer zwölf, aber jeder im Quadrat, während der erste und der sechste noch nach D integrieren, gleitend in dem Bereich von zarter Spitze bis harter Schokolade!«

»Im großen und ganzen ist das normal«, sagte ich zu Romero. »In den Maschinen ist der Zusammenhang zwischen Ursachen und Folgen gestört. An und für sich sind sie nicht imstande, aus ihrer intellektuellen Beschränktheit herauszukommen. Aber wenn jeder Stromkreis im einzelnen in Ordnung gebracht wird, dann kehren sie zu gesunden Berechnungen zurück. Interessanter ist die Schiffsmaschine der ,Steinbock’, die Sie in dem Geschichtsabschnitt unterwiesen haben, der ihr entfallen war.«

»Ganz recht, lieber Admiral«, stimmte Romero zu.

Seit sich die Zeit in seiner Psyche stabilisiert hatte, drückte er sich wieder wie früher aus. »Drei Maschinen haben es verlernt, logisch zu urteilen, diese aber hatte, wenn man das so ausdrücken darf, ihre Persönlichkeit eingebüßt, da sie sich keineswegs die zu sein dünkte, die sie wirklich war. Wenn sie die frühere Vorstellung von sich zurückgewonnen hat, so braucht sie nicht repariert zu werden.«

Ich wandte mich an die Schiffsmaschine der »Steinbock«. »Wie fühlst du dich, und was war mit dir?«

Sie antwortete wieder in Versen:


»In den Höhlen des Dal war ich Räuber,

und ich schabte wie Erde den Klang,

damit schluchzten die schwierigen Weisen

nur von dir, über dich und für dich…«


»Ganz hübsch, Schiffsmaschine! Allmählich erwirbst du Geschmack in der Poesie.«

»Nicht ganz hübsch, sondern ausgezeichnet!« korrigierte mich Romero. »Ich würde sogar sagen: großartig. Und beachten Sie, Eli, die Verse beantworten den Teil der Frage, in dem wir uns dafür interessierten, was mit ihr gewesen ist. Den ersten Teil der Frage allerdings, der sich auf ihr Befinden bezog…«

Die Schiffsmaschine unterbrach ihn. Jetzt sprach sie in dem uns wohlbekannten klaren, ruhigen Bariton. »Die Schaltungen sind in Ordnung. Alles ist geprüft. Ich erwarte eine Aufgabe.«

Romero begann zu weinen. Ich hatte in diesen Tagen so viel Tränen gesehen, hatte mich selbst ihrer kürzlich nicht enthalten können, daß mich der Anblick eines weinenden Menschen eigentlich nicht zu verwundern brauchte. Aber Romero maß als einziger von uns der Haltung so große Bedeutung zu, daß es undenkbar war, ihn sich in Tränen aufgelöst vorzustellen. Ich wartete, bis er sich beruhigt hatte.

Entrüstet rief er: »Admiral, Sie sehen so mißmutig aus, als freuten Sie sich nicht, daß wir vom Zeitfieber genesen sind. Oder quält Sie etwas?«

»Mich quält manches. Insbesondere weiß ich nicht, wie sich die Stimme fühlt«, entgegnete ich und entfernte mich eilends. Romero hatte einen allzu scharfen Blick! »Stimme, mein Freund, die Zeit ist stabilisiert«, sagte ich, als ich in ihrem Raum war. »Spürst du, daß wir wieder in der gesunden Zeit sind?«

Sie antwortete traurig: »Ich spüre, daß die Zeit stabilisiert ist. Aber ich spüre keine Einheitlichkeit in mir. Ich furchte, in mir ist der Riß zwischen Vergangenheit und Zukunft stabilisiert.«

All die Tage, da die Zeit zerrissen gewesen war, hatte die Stimme gleichsam brüchig geklungen, hatte sie gedämpft geklirrt. Jetzt überflutete sie mich geradezu melodiös und klangvoll. Ich konnte nicht glauben, daß ein so harmonisches Klingen Risse verdecke.

»Unsinn, Stimme! In der gesunden Zeit gibt es keine Zukunft. Die Spuren der Vergangenheit bleiben, aber die Zukunft soll erst kommen. Ich höre dich, ich sehe dich, du bist in der Gegenwart, in der stabilisierten Gegenwart!«

»Zuviel Spuren der Vergangenheit, Eli«, entgegnete sie so traurig wie zuvor.

Ich wandte mich an Grazi. »In dir, hoffe ich, ist der Riß zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht stabilisiert?«

Er blieb stehen, überlegte und antwortete gelassen:

»In mir hat es keinen Riß gegeben. Und wenn es ihn gegeben hat, so konnte er nicht in Erscheinung treten.

Du weißt doch, Eli, unsere Zukunft wiederholt unsere Vergangenheit. Wir Unsterblichen sind stets in der besten der Zeiten.«

Damit hatte er recht. Die Galakten sind derart vollkommen, daß die Zukunft ihre Vergangenheit nicht zu verbessern vermag. Auf die Stimme traf das nicht zu. Genetisch gehörte sie zu den Galakten, doch in ihrem Leben hatte Leid mit Freud und Freud mit Leid gewechselt. Die gleichzeitige Existenz in verschiedenen Zeiten bedeutete für sie eine Vereinigung unvereinbarer Lebensformen. Und das mußte zu einer Spaltung der Psyche führen. Ich sagte der Stimme nichts von meiner Unruhe, dafür gestand ich sie Romero, als der mich besuchte.

«Übertreiben Sie nicht, Eli? Übrigens nehmen sämtliche Schiffsmaschinen die Arbeit wieder auf. Intellektuelle Restschäden sind nicht zu entdecken.«

Er war so glücklich, weil es wieder die heile Zeit gab, daß ich ein bißchen kaltes Wasser auf seinen Enthusiasmus gießen mußte.

»Was verlangen Sie von den Maschinen, Pawel?

Man hat ihnen beigebracht zu urteilen, das heißt, Schlußfolgerungen aus Prämissen zu ziehen, und fertig. Das genügt, um Entscheidungen zu treffen, für Vernunft reicht es nicht aus. Die Natur weist keine gegliederten logischen Ketten auf, sie existiert sogleich und insgesamt, in der ganzen Einheitlichkeit ihrer Verbindungen. Die Natur ist vernünftig, nicht verständig. Und das ist außerordentlich wichtig, Pawel!«

»Warum sagen Sie mir das, Eli? Habe ich denn… ?«

»Warten Sie, Pawel. Unser Bewußtsein ist vernünftig, der Verstand ist nur ein Teil davon. Der Verstand ist in jedem von uns harmonisch wiederhergestellt.

Die Vernunft kann gespalten bleiben. Was dann? Erscheinen zwei Persönlichkeiten in einer Seele? Werden sie sich vereinigen oder einander bekämpfen?«

»Sicherlich wird eine die andere niederringen!« »Gut, wenn die gute siegt.«

»Sie sehen die Wirklichkeit zu düster, Eli.«

»Ich will mir über die Fehler klarwerden, damit sie sich nicht zu Mißerfolgen auswachsen. Und aus der Größe der Fehler schließe ich, ob wir Erfolg haben werden.«

»In alten Zeiten gab es einen amüsanten Zungenbrecher : Nicht das ist gut, was gut ist, sondern das ist gut, was nicht gut und gut ist! Irgendwie erinnert Ihre Denkweise daran.«

Romeros Einwurf zeugte nur von Mangel an Verständnis. Ich nahm zu einer einfachen mathematischen Rechnung Zuflucht. Als Mathematiker war Romero keine Leuchte, und Berechnungen riefen seine Achtung hervor. Er glaubte an die Mathematik mehr, als daß er sie verstand. Er konnte gegen beliebige Gedanken zu Felde ziehen, doch Ziffern erschienen ihm unfehlbar.

»Nehmen wir uns beide, Pawel. In unserem normalen Sein bilden wir ein Paar: Eli – Pawel. Unsere Charaktere können schlecht und gut sein, aber ihre Kombination hat nur eine Bedeutung.«

»Wir können kämpfen oder uns fügen.«

»Ganz egal, die Wechselbeziehung hat nur eine Bedeutung. Mag in uns eine Persönlichkeitsspaltung erfolgt sein. Ich bin jetzt gleichzeitig Eli der Alte und Eli der Neue, und Sie sind Pawel der Alte und Pawel der Neue. Unsere Wechselbeziehungen bilden nun sechs Paare: Eli der Alte – Eli der Neue, Pawel der Alte, Pawel der Neue, Eli der Alte – Pawel der Alte, Eli der Alte – Pawel der Neue, Eli der Neue – Pawel der Alte, Eli der Neue – Pawel der Neue. Anders gesagt, es beginnt ein Kampf zwischen den beiden Persönlichkeiten in uns selbst, denn eine solche Spaltung muß dramatisch sein, es sei denn, man ist ein Galakt, bei dem das Alte und das Neue gleich schön sind. Und vier verschiedene Wechselbeziehungen zwischen uns statt der früheren einen. Denken Sie sich da hinein, Pawel. Um viermal vergrößert sich die Möglichkeit von Konflikten, Unstimmigkeiten, Nichtkongruenzen und Unvereinbarkeiten!«

»Und um viermal vergrößert sich die Möglichkeit von Übereinstimmungen, Sympathien und Freundschaften! Warum sehen Sie nur das Schlechte, Eli? Sie haben sich sehr verändert. Mitunter erkenne ich Sie nicht wieder.«

»Ich werde alt, Pawel. Wir alle werden allmählich alt, irgendwann und irgendwie.«

Er akzeptierte den Scherz nicht. Er sagte langsam, wobei er den starren Blick nicht von mir ließ: »Sie tragen ein Geheimnis mit sich herum, Eli. Teilen Sie es mir mit, dann wird Ihnen leichter.«

Ich stand auf. Das Gespräch war gefährlich weit gegangen. »Ja, ich habe ein bitteres Geheimnis. Noch ist die Zeit nicht gekommen, es bekanntzumachen.«

»Mir scheint, Eli, ich kenne Ihr Geheimnis«, sagte er, während er sich entfernte.

Ich lächelte. Er konnte es nicht kennen.

6

Die Stimme und Ellon hatten kein Glück. Von den vier Paaren, die sie bildeten, gewann das schlechteste die Oberhand: Stimme die Alte – Ellon der Alte.

Das mußte zu einer Tragödie führen. Nein, ich will nicht sagen, daß in jedem von ihnen eine Doppelpsyche oder eine Doppelgesichtigkeit erstarrt gewesen wäre. Eine solche Deutung wäre primitiv. Beide hatten sich gespalten, aber nicht in eine Doppelgesichtigkeit, nicht in eine Doppelpsyche, sondern in eine Doppelexistenz. Eine Doppelgesichtigkeit hätte aus einem Gesicht und einer Maske bestanden, während in ihrer Doppelexistenz beide Persönlichkeiten gleichzeitig und gleichberechtigt waren.

Ellon und die Stimme hatten ihre Einheit bewahrt, aber das war die ungeheuerliche Einheit zweier verschiedener Zeiten in einem »Jetzt«. Das wurde klar, als wir schon nichts mehr verhindern konnten.

Ich saß im Kommandeursaal, als die Stimme und Ellon plötzlich mich und Oleg zu sich riefen. Die »Steinbock« wich gerade einer gefährlichen Sternkonzentration aus. Die Schiffsmaschine arbeitete so exakt wie früher. Oshima und Kamagin, die einander ergänzten, brauchten deren Empfehlungen nur in Kommandos umzuwandeln. Ich sagte zu Oleg: »Geh du zu Ellon, ich gehe zur Stimme.«

« Die Stimme empfing mich mit dem erregten Ausruf: »Eli, Eli, Ellon sinnt Arges. Verhüte es!«

Ich sagte rasch: »Was hat er vor? Ich muß es genau wissen.«

Die Stimme stöhnte. »Ich weiß es nicht. Etwas Schreckliches. Beeil dich, Eli!«

Hals über Kopf stürzte ich ins Laboratorium. Dort fand ich auch Irina vor. Seit ihrer Genesung sah ich sie zum erstenmal. Sie war sehr abgemagert. Schweigend stand sie am Kollapsan. Ich lächelte ihr zu, sie antwortete mit einem kurzen Kopfnicken. Ellon redete heftig auf Oleg ein. Ich trat zu ihnen. Ellon, dessen Augen böse funkelten, sagte zu mir:

»Höre auch du, was ich dem Oberbefehlshaber erklärt habe. Ich gedenke nicht, das schwimmende Gehirn noch länger zu ertragen. Versetzt es in irgendeinen Drachen- oder Krötenkörper. Kriechend nehme ich es hin, schwebend nicht.«

»Was sagt der Oberkommandierende dazu?« fragte ich ruhig.

»Es gäbe auf dem Schiff keine Drachen mehr, und das schwimmende Gehirn bleibe in seiner hohen Kugel. Ich hoffe, Admiral, du machst dem Oberbefehlshaber klar, daß seine Entscheidung falsch ist und revidiert werden muß!«

»Ich habe nicht das Recht dazu, Ellon. Außerdem bin ich mit dem Oberbefehlshaber einer Meinung.«

Wenn Ellons Blicke hätten töten können, wäre ich zu Asche geworden. Lange schwieg er. Auch Oleg und ich schwiegen.

»Ist das eure endgültige Meinung?« fragte Ellon nach einer Weile.

»Unsere endgültige Meinung«, antworteten wir wie aus einem Munde.

Er ließ den Kopf auf den dünnen Hals hochschnellen und zog ihn mit so unheilvollem Poltern zwischen die Schultern, daß ich zusammenzuckte. An alles habe ich mich gewöhnt bei den Demiurgen, an den flatternden Gang, an das Phosphoreszieren ihrer bläulichen Gesichter, an das wilde Gelächter, das Ellon und seinesgleichen bisweilen überkommt-, nur an diesen aus den Schultern emporfliegenden Kopf, an das Krachen, wenn er zurücksaust, werde ich mich wohl nie gewöhnen. Das ist uns Menschen gar zu fremd.

»Da sich beide Admirale einig sind, ist es zwecklos, darauf zu beharren«, sagte Ellon fast gleichgültig, und seine heimtückische Ruhe täuschte Oleg und mich.

»Hast du uns nur deshalb gerufen, um dich gegen die Stimme zu äußern?« fragte Oleg.

Er grinste fürchterlich. »Nein, Admiral, nicht nur deswegen.

Wie du weißt, unterbrach ich auf Orlans Befehl die Arbeit am Zeittransformator, um den Stabilisator zu konstruieren. Jetzt habe ich den Transformator fertig. Bitte!«

Er führte uns zu der Schalttafel und zeigte uns die Hebel für die gerade Zeit – in die Zukunft-, die Hebel für die Gegenzeit – in die Vergangenheit, sowie die Hebel, die den Reisenden in die Gegenwart zurückbringen und den Kollapsan vom Transformator abschalten. Dann gingen wir zur Kugel. Im Transformator stand ein Sessel, neben ihm war eine Schalttafel mit ebensolchen Hebeln angebracht.

»Bei der alten Konstruktion verfügte der Bedienungsmann am Kollapsan den Wurf in die andere Zeit«, sagte Ellon. »Ihr habt gesehen, wie das mit Mizar vor sich ging. Von heute an gebietet der Reisende selbst über sein Schicksal.« Er machte einen Schritt auf die offene Luke zu. Unwillkürlich hielt ich ihn fest. Er blickte mich voll grimmiger Ironie an.

»Fürchtest du, daß ich in eine andere Zeit enteile?

Meinst du, deine Hand würde mich hindern? Gib zu, Admiral, ich könnte fliehen, wenn du nicht hier bist und niemand mich stört.« Ich ließ seinen Arm los. Ellon stieg ins Innere, klappte die Luke zu und setzte sich in den Sessel.

»Hört ihr mich?« fragte er. »Also paßt auf! Das Schiff ist nicht der rechte Ort für das schwimmende Gehirn! Es ist gut in der Vergangenheit, nicht aber in der Gegenwart und nicht in der Zukunft. Das kann ich euch mit aller Bestimmtheit sagen, weil ich ausgebildeter Aufseher der Vierten Reichskategorie bin und genau weiß, wie man solche Kreaturen behandeln muß. Ich bringe euch zur Kenntnis, daß der Transformator auf das Gehirn fokussiert ist und ich es jetzt auf den Dritten Planeten schleudere, lange bevor ihr ihn erobertet.«

Oleg stürzte zum Transformator. Ich rannte zum Kollapsan, doch Irina vertrat mir den Weg. Ich weiß nicht, worauf sie sich verließ, vielleicht auf ihre Unantastbarkeit als Frau. Ich schleuderte sie beiseite. Sie klammerte sich, auf dem Fußboden liegend, wie rasend an mein Bein. Ellons triumphierendes Gelächter schallte zu uns herüber.

»Zu spät, Admiral. Das Gehirn ist bereits im Perseus. Und gleich jage ich ihm nach! Komm gestern, Admiral, weder heute noch morgen gibt es uns noch.

Komm gestern!« Rasch entschwand er.

Oleg ließ die Kugel und eilte mir zu Hilfe. Während er die widerstrebende Irina festhielt, griff ich nach den Kollapsanhebeln. Im Transformator erschien Ellon wieder. Er hatte sich in eine nicht ferne Zukunft geschleudert und ließ sich zurückfallen, um auf Grund des Beharrungsvermögens die Nullzeit zu passieren.

Irina schrie verzweifelt: »Rühren Sie die Rückkehrhebel nicht an! Die beiden sind bereits in der Vergangenheit. Einen zweiten Transport durch die Nullzeit würden sie nicht überstehen!«

Ich zog den Rückkehrhebel. Was auch mit der Stimme geschehen mochte, ich konnte sie nicht in der verfluchten Vergangenheit lassen. Irina, die in Olegs Armen erschlafft war, schluchzte laut. In der Transformatorkugel zeichnete sich zum zweiten Mal Ellon ab. Er war allein. Und er war tot. Er lag im Sessel, den riesigen Mund wild aufgerissen, seine Hände hielten krampfhaft die Armlehnen umklammert, seine Augen waren geschlossen. Irina verlor das Bewußtsein. Oleg forderte mich auf, Hilfe zu rufen, und trug Irina zu einem Sessel. Statt Hilfe rief ich die Stimme. Ellon konnte sich geirrt haben, vielleicht hatte er sie nicht in die Vergangenheit geschleudert, denn sie war ja nicht zurückgekehrt! Auf meinen verzweifelten Ruf meldete sich nur Grazi. »Admiral, die Stimme ist verschwunden!«

Ich packte Irina beim Arm. Sie öffnete die Augen, und ich schrie: »Sag, was man tun kann! Sag es sofort!« Sie flüsterte: »Gar nichts. Sie haben Ellon umgebracht…« Ich schüttelte sie wütend, da sie erneut die Lider schloß. »Verbrecherin! Sag eins: Wie kann man die Stimme retten?«

Sie richtete sich auf. Nie werde ich den Blick vergessen, den sie mir zuwarf. Oleg bat: »Quäle sie nicht, Eli. Mag sein, daß sie eine Verbrecherin ist, jetzt braucht sie jedenfalls Hilfe.«

Ich brüllte sie und ihn an: »Sie kriegt keine Hilfe!

Sie soll sagen, was zu tun ist!«

Sie entgegnete deutlich: »Ich sagte schon, nichts…

Leider. Die Stimme ist umgekommen. Sie war ja durch und durch natürlich… Ellon hatte so viel Künstliches an sich, aber selbst er ertrug die zweite Wendung nicht. Sie hatten sich mit der Rückkehr zu sehr beeilt, Eli. Und ich habe Sie nicht gehindert. Ich bin eine Mörderin, wie Sie ein Mörder sind!«

Sie weinte lautlos. Schweigend standen wir neben ihr. Ich spürte, wie mich die Kräfte verließen.

Oleg sagte: »Irina, die Besatzung wird dich richten.

Erkläre uns trotzdem, warum du so gehandelt hast!«

Sie sprach unter Tränen: »Er hatte mich gebeten.

Sein Anblick zerriß mir das Herz… Er sagte: Wir passen nicht zueinander. Ich bin aus der Vergangenheit, du bist aus der Zukunft. Dereinst, bis dahin ist es noch weit, wird eine Frau mit einem Demiurgen glücklich sein, inzwischen liebe deinen Oleg, er ist der Richtige für dich. So sprach er heute mit mir, bevor er Sie rief.«

»Du antwortest nicht, Irina…«

»Er sagte, daß er in die Vergangenheit verschwinden und den Drachen mitnehmen wolle. Er gedachte das in Ihrem Beisein zu tun… Ich versprach ihm, zu helfen. Er sagte: ,Von dir hängt mein Leben ab, Irina.’ – ,Du kannst ruhig sein’, antwortete ich. Und das ist das Ergebnis-Mörder! Nie verzeihe ich mir das!

Nie verzeihe ich Ihnen!« Sie schluchzte laut.

Nach kurzer Pause bemerkte ich: »Das Finale ist klar. Ellon wollte uns durch ein prächtiges Spektakel verblüffen. Wir haben einen schutzlosen Freund und einen genialen Ingenieur verloren. Komm, Oleg, wir heben Ellon aus der Kugel, damit er seinen Platz im Konservierungsraum einnimmt.«

»Irina, geh in dein Zimmer«, befahl Oleg. »Ja, ich gehe«, antwortete sie gehorsam.

Oleg sah ihr nach, bis sie im Korridor verschwand.

Ich versuchte Ellon aus dem Sessel zu heben, aber es war, als sei er am Sitz angewachsen. Oleg half mir. Zu zweit zogen wir den Demiurgen aus der Kugel und trugen ihn zu der Wand, wo keine Mechanismen standen. Oleg schrie plötzlich auf und ließ Ellon fallen.

Aus dem Korridor kam Irina gerannt und war wie ein Blitz an uns vorbei. Ehe ich einen Schritt machen konnte, saß sie im Transformator und klappte die Luke zu.

Oleg schrie: »Halt ein, ich flehe dich an, halt ein!«

Sie rief aus dem Tansformator: »Lebt wohl! Verdammt mich nicht!« Und sie zog den Hebel.

Ihre Gestalt wurde rasch zur Silhouette, die Silhouette löste sich auf. Sie hatte zu sehr beschleunigt!

Wir stürzten zum Kollapsan. Oleg wollte den Rückkehrhebel ziehen, ich hinderte ihn daran. »Kontrolliere erst, wo sie sich befindet! Wenn sie in der Vergangenheit ist, mußt du äußerst vorsichtig sein!«

Schnell kontrollierte er die Signallichter über den Hebeln. »Sie ist in der Zukunft, Eli!«

»Dann hol sie behutsam zurück. Aus der Zukunft gibt es eine Rückkehr.«

Aber sie kehrte nicht wieder. Sie war zu schnell enteilt. Ungefähr zehn Minuten standen wir am Transformator und warteten, ob sich ihre Silhouette abzeichnen werde. Dann hatte der Kollapsan seine Rückkehrenergie erschöpft und schaltete sich aus.

»Es ist vorbei, Eli!« sagte Oleg müde. »Irina kommt nicht mehr. Vielleicht werden unsere fernen Nachfahren sie irgendwo treffen. Komm, teilen wir der Besatzung die neue Tragödie mit.«

»Nicht nur die Tragödie der drei Besatzungsmitglieder muß mitgeteilt werden…«

»Worauf spielst du an, Eli! Ist noch ein Unglück passiert?«

»Ja, Oleg. Ich will die Bestrafung eines neuen Verräters verlangen!«

»Eines neuen Verräters? Habe ich mich nicht verhört?«

»Du hast dich nicht verhört. Unter uns befindet sich noch ein Spion der Ramiren. Ich habe ihn entdeckt.«

7

Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen.

Oleg hatte ich gesagt, ich müßte den Bericht ausarbeiten, den ich vor der Schiffsversammlung halten wollte, und ich würde kommen, sobald sich alle versammelt hätten. Romero klopfte, ich meldete mich nicht.

Mary bat, ihn einzulassen, ich rief, ich sei beschäftigt und müsse mich konzentrieren, müsse abschalten. Da verstummten sie, und ich hörte nicht mal mehr ihre Schritte im Nachbarzimmer. Nur einmal gab ich nach, als vor der Tür Olga weinte. Olga mußte ich einlassen, ihre Tochter war vor meinen Augen umgekommen. Ich öffnete.

»Olga, du magst mich für einen hartherzigen Menschen halten, aber ich kann jetzt nicht mit dir über Irina sprechen. Du wirst selbst bald begreifen, warum nicht. Geh zu Oleg, er wird dir alles erzählen. Das Herz blutet mir, Olga, und das ist keine Phrase!«

Sie blickte mich verzweifelt an und ging, ohne etwas gesagt zu haben. Klein, grauhaarig, gebeugt, und sie taumelte, als sei sie krank. Sie tat mir unendlich leid. Sie hatte Mann und Tochter überlebt, und beide hatten ein schreckliches Ende gefunden. Ein so bitteres Los mußte tiefstes Mitgefühl erwecken. Doch jetzt gab es etwas, das bitterer war als selbst ihr Leid.

Ich arbeitete keinen Bericht aus. Ich lag auf dem Diwan, bald quälte ich mich mit grausamen Gedanken, bald erholte ich mich von ihnen. Ich wunderte mich, warum wir die Ramiren nirgends in körperlicher Gestalt entdeckt hatten, obwohl sie zweifellos existierten; und wieder und wieder fragte ich mich, womit wir sie derart erzürnt hatten, daß sie unsere Schiffe eins ums andere vernichteten; und noch mehr wunderte mich, warum sie nicht auch das letzte Sternenflugzeug in ein Staubwölkchen verwandelten, da sie nun mal gegen uns kämpften und in der Lage waren, jeden Gegner auszurotten. Da war ein Geheimnis, das unbedingt enträtselt werden mußte. Ich dachte auch an Lussin und an Irina, die uns mitleidlos verlassen hatten, an die unglückliche Stimme, die wahrscheinlich zu Molekülen zerstäubt war in verschiedenen Jahrhunderten der Vergangenheit, an den grausamen und genialen Ellon, an den netten, klugen Mizar. Doch am meisten dachte ich an den neuen Spion der Ramiren. Ich haßte ihn und verhieß ihm in meiner Wut die furchtbarsten Strafen, drohte, sämtlichen Spionen unserer Feinde eine so anschauliche Lehre zu erteilen, daß ihnen die Lust an ihrem Handwerk verging! An die Tür wurde dreimal geklopft – das Signal, das ich mit Oleg vereinbart hatte. Ich ließ ihn ein. Finster blickte er mich an.

»Alle, die dienstfrei haben, sind im Observationssaal versammelt. Wie fühlst du dich, Eli?«

»Warum fragst du nach meinem Befinden?«

»Du bist sehr blaß.«

»Doch äußerst entschlossen. Komm, Oleg.«

»Warte«, sagte er. »Ich will wissen, wen du der Spionage verdächtigst.«

»Du wirst es zusammen mit den anderen erfahren.

Komm.«

Wieder hielt er mich zurück. »Eli, ich bin der Oberbefehlshaber des Geschwaders. Es ist mein Recht, mehr zu wissen und es vor den anderen zu wissen.«

Ich überlegte. Oleg hatte mich in eine ausweglose Situation gebracht. Ich lächelte. Ich glaube, es war ein gequältes Lächeln.

»Und wenn ich dich verdächtige, Oleg?«

»Mich?« fragte er erstaunt. »Bist du bei Trost, Eli?«

»Warum soll ich bei Trost sein, wenn wir alle in unterschiedlichem Maße dem Wahnsinn verfallen waren. Ein Rest Verrücktheit kann übriggeblieben sein…« Ich sah ihm in die Augen. »Oleg, wenn du befiehlst, muß ich gehorchen. Aber ich bitte dich: Befiehl nicht! Ich möchte mich so verhalten, wie ich es geplant habe!«

»Komm«, sagte er kurz und ging als erster hinaus.

Im Observationssaal waren die Sternenbildschirme gelöscht. Vorn, auf einem Podest, stand ein Tischchen, an ihm nahmen Oleg und ich Platz. Ich ließ meinen Blick durch den Saal schweifen. Hier waren meine Freunde: Menschen und Demiurgen. Hinten ragte wie eine majestätische Statue Grazi, neben ihm saß der kleine Orlan, in der ersten Reihe gewahrte ich Mary und Olga und zwischen ihnen Romero. Mary schaute mich so besorgt an, daß ich mich rasch abwandte. Der Saal war voller Stimmengewirr. Oleg klopfte auf den Tisch, und es wurde still.

»Ihr wißt von der Tragödie, die sich im Labor und im Steuerraum abgespielt hat«, sagte Oleg. »Aber wir haben uns nicht versammelt, um unserer Kameraden zu gedenken. Der wissenschaftliche Leiter der Expedition glaubt, auf dem Schiff einen Spion der Ramiren entdeckt zu haben. Er stellt seine Beweise zur Diskussion.« Ich erhob mich. »Bevor ich nachweise, daß sich auf dem Sternenflugzeug ein Kundschafter der Feinde eingeschlichen hat, bitte ich, über die Strafe für ihn abzustimmen. Ich schlage die Todesstrafe vor!«

»Tod?« hörte ich Romero empört rufen.

Seine Stimme ging im Protestgeschrei unter. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Demiurgen waren entrüstet. Ich wartete ruhig, bis wieder Stille eingetreten war.

»Ja, die Todesstrafe!« wiederholte ich. »Keine Gefangennahme, keine Konservierung, sondern Hinrichtung. Auf der Erde werden schon seit fünfhundert Jahren keine Hinrichtungen mehr vorgenommen. Die Hinrichtung ist ein Überbleibsel aus alten Zeiten, das Rudiment einer wilden Epoche. Aber ich bestehe darauf, denn Spionage ist ebenfalls ein Überbleibsel aus der Barbarei. Die Strafe für eine schändliche Tat muß schändlich sein.«

Romero hob den Stock, um zu zeigen, daß er ums Wort bitte. »Nennen Sie den Verbrecher, Admiral!

Schildern Sie sein Verbrechen. Danach werden wir entscheiden, ob er den Tod verdient.«

Obwohl ich wußte, daß ich mich gegen alle stellte, sagte ich kalt: »Die Hinrichtung muß beschlossen sein, bevor ich den Namen des Verbrechers nenne.«

»Warum, Admiral? Können Sie das erklären?«

»Wir alle hier sind Freunde. Und wenn ich den Spion nenne, könnt ihr euch nicht sofort von der langjährigen Gewohnheit trennen, ihn als Freund zu betrachten. Das würde sich in euerm Urteil äußern.

Ich will, daß das Verbrechen als solches bestraft wird.«

»Aber die Todesstrafe fordern Sie für ein Mitglied der Besatzung, das uns, Ihren Worten zufolge, sehr nahesteht, nicht für das Verbrechen als solches.«

»Wenn ich das Verbrechen aburteilen könnte, indem ich den Verbrecher selbst verächtlich ignoriere, so würde ich ihn schonen. Leider ist das Verbrechen von dem Verbrecher nicht zu trennen.«

»Wie Sie wollen, Admiral, jedenfalls werde ich nicht für die Strafe stimmen, bevor ich den Namen kenne.«

»In dem Falle nenne ich ihn überhaupt nicht. Dann bleibt er unangetastet und setzt seine schmutzige Arbeit fort. Und indem er den Ramiren unsere Pläne mitteilt, macht er die Befreiung des Sternenflugzeugs unmöglich.«

Romero setzte sich.

Oleg nahm das Wort. »Der wissenschaftliche Leiter der Expedition wirft ein Problem auf, das ich ein Kodex-Problem nennen würde. In alten Zeiten hatten die Menschen einen Strafkodex, der die Strafe für ein Verbrechen unabhängig von der Person des Verbrechers festlegte. Eli schlägt vor, den Brauch wiederaufzunehmen, die Strafe für noch nicht begangene Verbrechen im voraus zu bestimmen, um sie zu verhüten.

Meiner Meinung nach ist das richtig.«

»Elis Worten zufolge ist das Verbrechen bereits verübt und der Verbrecher vorhanden«, entgegnete Romero. »Wozu dann eine Preisliste für Verbrechen aufstellen und sie mit dem wohllautenden Wort, Kodex‘ bemänteln? Lassen Sie uns den Verbrecher mitsamt dem Verbrechen aburteilen.«

Darauf sagte Oleg: »Das Verbrechen ist noch nicht erwiesen, der Name des Verbrechers noch nicht genannt. Wir haben das Recht, uns so zu verhalten, als untersuchten wir nur die Möglichkeit einer Missetat.

Ich bin für den Kodex oder die Preisliste der Verbrechen, wie Sie es ausdrücken.«

Romeros verbissene Miene zeigte mir, daß er Widerstand leisten würde. Ich wußte, wie er zu schlagen war. Deshalb scheute ich mich nicht zu sagen: »Sie benehmen sich, Romero, als fürchteten Sie, der Verdacht der Spionage werde auf Sie fallen!«

Er wollte aufbrausen, beherrschte sich jedoch.

Seine Antwort war nicht ohne Würde. »Wenn ich für mich fürchtete, würde ich der Hinrichtung zustimmen.«

»Vielleicht haben Sie Angst, daß der ungenannte Verbrecher Ihnen mehr bedeutet als Sie sich selbst, Romero?«

Er antwortete mürrisch: »Das lasse ich gelten.

Überraschungen erlebt man von Ihnen jeden Tag.« »Das ist keine Antwort, Romero.«

Er überwand sich. »Gut, mag es sein, wie Sie es wünschen. Ich stimme für die Todesstrafe, wenn der Verbrecher überführt wird!«

»Stimmen wir ab«, sagte Oleg. »Wer ist dafür?«

Ein Wald von Händen erhob sich.

Oleg wandte sich an mich. »Nenne den Verbrecher, Eli, und erbringe die Beweise.«

Ich wußte, daß gleich mein erster Satz lärmenden Protest hervorrufen würde. Das Schwierigste hatte ich durchgemacht, als ich mich im verschlossenen Zimmer marterte, als ich ein letztes Mal vor Oans Leiche stand, als ich mir nachts mit der Hand den Mund verstopfte, um Mary mit meinem Stöhnen nicht zu wecken, das ich nicht unterdrücken konnte.

Ich bemühte mich, meine Worte ruhig klingen zu lassen: »Der Spion unserer Feinde bin ich.«

8

Die Antwort war verblüfftes Schweigen.

Als einziger unterbrach Grazi die Stille, als er bekümmert rief: »Armer Eli! Auch er!«

Ich blickte in den Saal, und bestürzt entdeckte ich den gleichen Ausdruck von Kummer und Mitleid auf allen Gesichtern. Nur Mary, die totenblaß war und beide Hände an die Brust gepreßt hatte, glaubte nicht, daß ich krank sei, denn sie wußte, daß mich der Wahnsinn verschont hatte.

Oshima war mit einem Sprung bei mir. »Admiral, keine Sorge, es wird wieder gut! Ich bringe Sie ins Bett.« Er wollte mich hochziehen. Ich befreite mich. Oleg wandte sich an den wie gelähmt schweigenden Saal.

»Wollen wir die Sitzung nicht vertagen, Freunde? Mir scheint, der elektronische Medikus…«

Romero unterbrach Oleg, indem er den Stock auf den Boden stieß. »Ich protestiere«, rief er und erhob sich. »Sie suchen eine leichte Lösung, aber leichte Lösungen gibt es nicht. Admiral Eli ist gesünder als jeder von uns. Er hat Grund, das zu sagen, was er sagt. Und wir müssen ihn anhören.«

»Sie sind der einzige, der nicht überrascht ist, Romero«, bemerkte ich.

Er antwortete herausfordernd. »Ja, Eli. Denn ich habe dieses Geständnis erwartet.«

»Machen wir weiter?« fragte Oleg den Saal.

»Weitermachen! Weitermachen!« wurde hier und da gerufen. Oshima blickte den düsteren Romero an und kehrte auf seinen Platz zurück.

Oleg sagte: »Sprich, Eli.«

Ich erinnerte zunächst an Oans Eingeständnis, daß die Grausamen Götter die Welt der Aranen in Gestalt der Spinnenförmigen aufsuchten, um über deren Leben informiert zu sein. »Was sind die Aranen? Eine Zivilisation im Niedergang, abergläubisch, ohnmächtig. Wessen sind sie fähig? Wodurch gefährlich? Folgt hieraus nicht, daß die Ramiren, als sie einer unvergleichlich mächtigeren Zivilisation begegneten, ihre Vorsicht verdreifachen und sich bemühen würden, bedeutend mehr Spione in sie zu entsenden als zu den harmlosen Aranen? Soweit ist die Sache nicht neu.

Wir wissen, daß ein Kundschafter der Ramiren bei uns eindrang, daß er Oan hieß, daß er unsere Pläne seinen Herren entdeckte, damit sie sabotiert werden konnten.

Aber da ist auch etwas Neues. Wir waren überzeugt, daß wir, nachdem wir mit Oan Schluß gemacht hatten, auch mit der Spionage der Ramiren Schluß gemacht hätten. Der Untergang der ,Widder‘ zerstreute diese Illusion. Woher wußten die Ramiren, was wir mit der ,Widder‘ vorhatten? Äußerlich deutete nichts auf unsere Absichten hin. Also hatten sie unseren Plan von innen her erfahren. Wie? Von einem anderen Spion, der nach Oans Tod auf dem Schiff verblieben war! Der Schlag der Ramiren gegen die ,Widder‘ beweist, daß auf der ,Steinbock‘ ihr Agent ist.

Und das ist natürlich. Wir wollen die Feinde nicht für Dummköpfe halten. Sie sind nicht dümmer als wir. Sie mußten wissen, daß ein Späher ein zu dünner Faden von ihnen zu uns war. Riß dieses Fädchen, versiegte der Strom wichtiger Informationen. Der Agent mußte dubliert sein. Und auf wen fiel ihre Wahl? Suchen wir für sie das beste Manöver. Ein effektiver Agent ist der, der über alle Pläne Bescheid weiß, bei dem alle Informationen zusammenlaufen, dessen Gehirn die Pläne, die dann verwirklicht werden, hervorbringt. Es gibt zwei Besatzungsmitglieder dieser Art, den Oberbefehlshaber des Geschwaders und den wissenschaftlichen Leiter.«

Romero unterbrach mich. »Seien Sie konsequent, Eli. So ein Mensch sind allein Sie. Sie kennen die Absichten des Oberbefehlshabers, während er nicht die Möglichkeit hat, sich mit sämtlichen wissenschaftlichen Forschungen auf dem Schiff auseinanderzusetzen.«

»Ich akzeptiere Ihre Korrektur, Romero. Also ich! Folglich bemüht sich der kluge Feind, mich anzuwerben. Ich erinnere, daß ich, so ist nun mal mein Schicksal, auch auf früheren Expeditionen in den Brennpunkt der gegnerischen Aufmerksamkeit geriet. Wähltest du mich nicht zu deinem Vertrauten, Orlan, als du den Übertritt auf unsere Seite plantest? Machte mich nicht das Hauptgehirn auf dem Dritten Planeten zum Paten aller seiner Entscheidungen? Mehrfach diente ich denen, mit denen das Schicksal uns zusammenführte, gleichzeitig als Sendeantenne und Empfänger. Die Ramiren versuchten mich zu erobern. Und ich bin erobert. Glaubt mir, es ist bitter für mich, dies zu sagen. Aber wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, wenn wir nicht Niederlage um Niederlage erleiden wollen…

Was ist Oan heute?« fragte ich weiter. »Die Leiche eines Verräters, der den Verrat mit dem Leben bezahlte? Diese Antwort liegt auf der Hand. Doch sie ist naiv. Die Ramiren hätten ihren Agenten mit ein wenig Anstrengung retten können. Sie strengten sich nicht besonders an. Und da hängt Oan nun im Konservierungsraum. Hängt aber nicht bloß so, sondern setzt seinen Dienst fort. Er ist heute ein Apparat zur Verbindung mit den Ramiren. Wie die Verbindung vor sich geht, weiß ich nicht, jedenfalls übermittelt er die Informationen, die sein Agent ihm bringt. Der Agent bin ich. Mein Gehirn ist erfaßt und mobilisiert, meine Gedanken werden gelesen, meine Wünsche entschlüsselt, meine Absichten erraten.« An dieser Stelle legte ich eine Pause ein. Mary wandte den verzweifelten Blick nicht von mir, es fiel mir schwer, in ihre Richtung zu schauen. Es fiel mir auch schwer, Romero anzusehen. Er war gar zu finster. Oshima verwirrte mich. Der Kapitän glaubte mir kein Wort, das stand auf seinem Gesicht deutlich geschrieben. Ich blickte auf Grazi und Orlan. Der Galakt litt mit mir, Orlan verstand mich, und mir wurde leichter sowohl von dem Mitgefühl als auch von dem Verständnis. Dann schilderte ich, wie ich meine schmähliche Rolle entdeckt hatte. Nein, es war nicht einfach gewesen, sich über die tückischen Fesseln klarzuwerden, mit denen sie mich gebunden hatten. Alles fing damit an, daß ich mich wunderte, warum es mich ständig in den Konservierungsraum zog, warum ich in der Stille und Einsamkeit mit den Toten redete. Ich bin kein Freund von Monologen, hier war etwas, das meiner Natur zuwiderlief, etwas Aufgezwungenes. Und als die »Widder« zugrunde ging, wurde klar, daß jemand den Ramiren geheime Informationen lieferte. Ich ging die Besatzungsmitglieder durch und fand, daß nur ich in Frage kam. Der Konservierungsraum ist der abgeschirmteste Raum des Sternenflugzeugs. Für Oan ist es einfacher, sich mit jemand in Verbindung zu setzen, der den Konservierungsraum besucht, als mit einem, der sich draußen aufhält. So wurde klar, daß es sich bei dem Informanten der Ramiren um mich handelte!

Ich erzähle alles, was ich wußte, und erleichterte mir das Herz. Ich schloß: »Die Folgen meines Verkehrs mit dem Toten, dessen Rätselhaftigkeit offensichtlich ist, hätte ich voraussehen müssen. Ich verhielt mich unüberlegt, und schon dies ist ein Verbrechen unter unseren schweren Bedingungen. Aber ich verlange meine Hinrichtung nicht nur als Strafe für die Tat, sondern auch als Garantie für die allgemeine Rettung. Die Ramiren haben sich auf mein Gehirn eingestimmt. Sie werden, ob ich will oder nicht, durch mich über unsere Pläne unterrichtet. In dem Augenblick, da wir erneut versuchen, aus dem Kern auszubrechen, ist das gefährlich.«

Ich setzte mich. Die allgemeine stumme Bestürzung quälte mich, nicht deshalb, weil ich auf Verteidigung aus war, nein, aber ich konnte nicht aus dem Leben scheiden, wenn der Saal bestürzt schwieg. Oleg fragte, ob man mit mir einverstanden sei, ob man Einwände habe, und erhielt keine Antwort. Romero sagte leise etwas zu Mary, sie nickte.

»Also, wer möchte sprechen?« fragte Oleg.

Plötzlich explodierte Oshima. Die Selbstbezichtigungen des Admirals seien Unsinn! Seine Nerven seien zerrüttet, lange habe er sich zusammengenommen, nun könne er nicht mehr, seine Frau solle ihn pflegen, weiter sei nichts nötig.

Und wieder erhob sich Romero. »Ich sagte schon, daß Eli bei guter Gesundheit ist. Und die Fakten, über die er uns instruierte, sind zu bedeutsam, als daß wir sie einfach abschütteln dürften. Ich verlange Erörterung.«

»Nun gut, fangen Sie an«, schlug Oleg vor.

»Ja, ich beginne, wenn kein anderer das tun will.

Einerseits stimme ich dem zu, was der Admiral sagte, andererseits protestiere ich. Ich bin einverstanden, daß Oan kein einfacher Toter ist, sondern ein schlau spezialisierter Apparat zur Verbindung mit den Ramiren. Und ich unterstütze die Meinung des Admirals, daß es auf dem Schiff Informanten gibt und einer von ihnen der Admiral selbst ist.«

»Mit anderen Worten – Sie unterstützen die Anklage?« präzisierte Oleg.

»Keineswegs!«

»Bei soviel Berührungspunkten mit dem, was der wissenschaftliche Leiter vorgetragen hat…«

»Es gibt mehr Punkte, in denen wir nicht übereinstimmen. Ich nenne die wichtigsten. Oans Leiche ist ein Sendeapparat, aber wohl kaum der einzige. Die Ramiren mußten berücksichtigen, daß wir Oan vernichten könnten, sagen wir, daß wir ihn verbrennen und die Asche zerstreuen. Solange sich Oan auf dem Schiff befand, installierte er wahrscheinlich noch andere lauschende, spähende und gedankenerratende Anlagen, wir werden sie schwerlich alle finden. Nun das zweite: Ich bezweifle, daß der Admiral die einzige Informationsquelle der Ramiren ist. Die gleichen Erwägungen, er kann sterben, den Verstand verlieren.

Der Admiral meint, daß er Oan dubliere. Wer garantiert, daß nicht jeder von uns in diesem Sinne den Admiral dubliert? Selbstverständlich ist er der wichtigste Informant, allerdings übernimmt er sich, wenn er sich einbildet, der einzige zu sein.«

»Sie sehen die Sachlage noch düsterer als der wissenschaftliche Leiter«, bemerkte Oleg.

»Sie werden bald erkennen, daß es nicht so ist. Der Admiral ist kein Spion! Schon deshalb nicht, weil er es nicht freiwillig wurde, denn Spion zu sein ist ein Beruf, kein Unglücksfall. Jeder von uns ist vielleicht genau so ein Spion wie Eli. Sollen alle deswegen hingerichtet werden? Somit ist das Verbrechen nicht erwiesen und die Strafe, für die wir gestimmt haben, sinnlos. Ich sehe keinen Anlaß, unseren Freund Eli zu bestrafen! Außerdem gibt es noch einen äußerst triftigen Grund, weshalb wir den Vorschlag des Admirals entrüstet zurückweisen müssen. Darf ich dabei verweilen?«

»Selbstverständlich, Romero!«

Der Saal hatte geschwiegen, als ich sprach, und gelärmt, als Romero seine Gegenargumente vortrug, nun verfiel er wieder in gespanntes Schweigen. Hier möchte ich erklären, daß ich mein Diktat unterbreche und eine Aufzeichnung einschiebe. Ich brauchte Romeros Lobpreisungen an meine Adresse auch nicht anzuführen, ich tue es, weil sich aus seiner Rede wichtige praktische Schlußfolgerungen ergaben.

Romero sagte, an mich gewandt: »Admiral, ich kenne Sie von Kindheit an, und ich höre nicht auf, über Sie zu staunen. Sie sind gewöhnlich und ungewöhnlich zugleich. Das Geheimnis besteht darin, daß Sie stets den Umständen entsprechen. In durchschnittlicher Situation sind Sie der Durchschnittlichste der Durchschnittlichen; kein Freund, nicht einmal die scharfsinnigste akademische Maschine würde Sie aus der Masse von Ihresgleichen herausfischen. Ist nicht eben dies geschehen, als die Ora-Expedition zusammengestellt wurde? Aber es braucht nur nach einem Gewitter zu riechen, da verändern Sie sich. Da erwachen Sie gleichsam aus der Gewöhnlichkeit, springen aus ihr heraus. Sie sind, so scheint es mir manchmal, für große Erschütterungen geboren. Wir verlieren mitunter den Kopf in schwierigen Situationen, öfter noch kämpfen wir energisch dagegen, überwinden sie mannhaft, spannen alles in uns an, um ihnen gewachsen zu sein, doch Sie sind ihr Mann, Sie sind stets auf der Höhe der größten Ungewöhnlichkeiten, Sie sind gleichsam geschaffen für die Ungewöhnlichkeiten und die Ungewöhnlichkeiten für Sie.

In Stürmen sind Sie – Sturm. Bei Überraschungen sind Sie eine Überraschung. In der Welt der Rätsel sind Sie ein scharfsinniger Rätsellöser. Je drohender der Feind, desto drohender auch Sie, stets entsprechen Sie Ihrem Gegner. Meine Freunde, meine Freunde, erinnern Sie sich, wie wir kürzlich, vom Riß des Zeitenbands gemartert, allmählich dem Wahnsinn verfielen, den Willen zum Widerstand verloren. Der einzige, der dem verderblichen Zeitkrebs widerstand, der sich verbissen gegen eine Erschlaffung auflehnte, war er, unser wissenschaftlicher Leiter, unser Admiral, unser Freund Eli. Wie konnten Sie es wagen, Admiral, zu fordern, daß wir durch unsere Entscheidung mit eigenen Händen Ihr Gehirn auslöschen, unseren größten Reichtum, daß wir Ihren Willen brechen, die sicherste Garantie für unsere Befreiung aus dem Ungemach? Eli, mein Freund, wie konnte in Ihrem hellen Kopf ein solch schändlicher Gedanke reifen?«

Er war selbstverständlich ein Redner in altertümlichem Stil, einer von denen, die unter dem Beifall und den begeisterten Zurufen der Menge glänzende Reden halten. Und er hatte sein Ziel erreicht, man applaudierte ihm und rief ihm zu. Mir schenkte niemand mehr Beachtung, alle Gesichter waren Romero zugewandt. Er stand, stützte sich mit der einen Hand auf den Spazierstock und malte mit der anderen Linien in der Luft, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken. Wahrscheinlich wäre auch ich von seiner malerischen Haltung und der leidenschaftlichen Rede überwältigt gewesen, hätte es sich nicht um mich gehandelt. Ich bemühte mich, Romero von den Gipfeln der Psychologie in die trostlose Ebene der praktischen Sorgen herunterzuholen: »Ich weiß nicht, Pawel, ob Sie sich darüber klar sind, Sie liefern uns alle den mächtigen und unbarmherzigen Händen des Feindes aus, wenn Sie den Kampf gegen dessen unfreiwillige Agenten ablehnen!«

»Nein, Admiral! Tausendmal nein!«

»Sie bestreiten, daß die Ramiren mächtig und unbarmherzig sind?«

»Daß sie mächtig sind, gebe ich zu. Es wäre sinnlos, zu bestreiten, was offensichtlich ist. Aber ich bestreite, daß sie unbarmherzig sind!«

Unschlüssig blickte ich Oleg an. Er verhielt sich so ruhig, als hätte er im voraus gewußt, was Romero sagte, als hätte er sich vorher mit ihm abgesprochen.

Empört rief ich: »Und Sie sagen das, nachdem wir gesehen haben, wie sie die Aranen verhöhnen? Klingt Ihnen nicht noch das hysterische Geschrei ,Die Grausamen Götter!‘ in den Ohren? Und bezeugen nicht die Leichen von Lussin und Trub, die vernichtete , Stier‘ und das zertrümmerte Geschwader, daß sie grausam und unsere Feinde sind?«

»Nein, lieber Admiral, daß bezeugen sie nicht im mindesten!«

»Einer von uns beiden hat tatsächlich den Verstand verloren! Ich hoffe, daß nicht ich das bin. Was sind sie denn, wenn nicht grausam und nicht unsere Feinde?«

»Admiral! Sie sind gleichgültig uns gegenüber.«

9

Ich würde gegen die Wahrheit verstoßen, gäbe ich nicht zu, daß ich erschüttert war. Es gibt erfreuliche und unangenehme Worte, leere und unbedeutende, oberflächliche und solche, deren Schwere man wie ein Gewicht empfindet. Die meisten informieren nur.

Doch es gibt andere, die Erleuchtungen sind, Blitze, die die Finsternis grell erhellen, die Schlüssel zu den geheimen Türen vergessener Wahrheiten sind. Für mich klang das Wörtchen »gleichgültig« wie eine Erleuchtung, wie eine Offenbarung. Meinetwegen hätte Romero nicht weiterzusprechen brauchen. Ich glaubte sofort und endgültig.

Doch Romero sprach und sprach und berauschte sich an seiner eigenen Beredsamkeit. Ich hatte nicht geahnt, daß man so atemlos, so dankbar zuhören könne, wie man ihm lauschte. Alles wurde umgedreht, alles vom Kopf auf die Beine gestellt: In die drohende Welt, die uns umgab, in die unsinnige und wilde Welt kehrte die Natürlichkeit zurück.

Der Untergang der »Widder« hatte Romero auf den Gedanken gebracht, daß die Ramiren auch nach Oans Tod einen Informanten auf der »Steinbock« haben müßten. Aber dann bezweifelte er, ob sie Agenten unter uns brauchten. Waren sie denn Feinde?

Und er erinnerte sich der Überlieferung der Zerstörer und Galakten, wonach die mächtigen Ramiren ins Zentrum der Galaxis übergesiedelt waren, weil sie den Kern umbauen wollten. Da war er, dieser entsetzliche Kern, jenseits der Schiffswände. Ein unvorstellbares Chaos. Eine unaufhörlich andauernde ewige Explosion – solch ein bedrohliches Bild bot er. Was war hier umzubauen? Hier konnte es nur die Hoffnung geben, daß ein allgemeiner Zusammenstoß der Sterne verhindert werde, ein Weltallkollaps, der der ganzen Galaxis den Untergang bescheren würde. Die Gravitation, eine so wunderbare Eigenschaft der Materie an den Stellen, wo es sie in geringem Maße gab, wurde zum Fluch, wenn die Materie wie im Kern verdichtet war.

Zuverlässigste Arzneien verwandeln sich in Gift, nimmt man sie in großen Mengen ein.

»Ich stellte mir vor, wir wären um viele Ordnungen mächtiger als jetzt. Und ich gelangte zu dem Schluß, daß ich mir dann die mir angemessene Aufgabe stellen würde, vom Kern möglichst weit wegzubringen, was man an die Peripherie der Galaxis bringen könne, eine Disharmonie zu schaffen, die irgendwie gegen die zu einer Explosion führenden Prozesse gerichtet wäre.

Signalisiert uns dies nicht der Hinauswurf der kugelförmigen Ansammlung von Millionen Sternen aus dem Kern? Hat damit nicht auch die Zerstäubung der Gestirne in den Untergehenden Welten und vielleicht noch Tausender Ansammlungen zu tun, durch die uns unser Weg nicht geführt hat und die uns unbekannt geblieben sind? Und wenn dabei irgendwelche Lebensformen umkämen, würden das die großen Säuberer nicht gleichgültig hinnehmen? Das empört Sie? Mich empört es ebenfalls! Aber stellen Sie sich diese Situation vor: Ein großes Waldrevier ist von Fäulnis befallen, die Krankheit breitet sich aus. Wir haben uns aufgemacht, sie zu bekämpfen, fällen Baum um Baum. Würden wir uns darum kümmern, ob wir einen Teil der Waldameisen vernichten? Sie sind uns gleichgültig, wir wünschen nicht, daß sie umkommen.

Mögen sie laufen. Wenn sie uns nicht behindern, tun wir ihnen nichts. Aber würden wir sie nicht zerquetschen, sobald sie sich, wütend, daß wir ihre Behausungen zerwühlt haben, auf uns stürzen? Besteht hier nicht eine Analogie zu dem, was wir in den Untergehenden Welten beobachtet haben?«

»Und wir gehören wohl zu den galaktischen Ameisen?« erkundigte sich Oleg ruhig.

»In gewissem Maße ja. Die Ramiren hätten uns und auch die Aranen längst vernichtet, wenn wir ihre realen Feinde wären. Aber wir bedeuten ihnen ebensoviel wie die Ameisen den Menschen. Sie bemühen sich, über unsere Pläne Bescheid zu wissen? Würden nicht auch wir uns bemühen, über die Bewegung der Ameisen im gesäuberten Wald informiert zu sein, zumindest zu dem Zweck, um sie nicht grundlos auszurotten? Ich sage Ihnen: Den Ramiren sind wir völlig egal! Und nur, wenn wir auf irgendeine Weise, sei es durch eine Explosion des Raumes oder eine Störung des Gravitationsgleichgewichts, ihre Tätigkeit erschweren, schnipsen sie uns ärgerlich weg. Und wir haben dann den Eindruck, es wäre ein Krieg entbrannt und Armeen unbarmherziger Feinde zögen auf uns zu!« Romero, der zum Saal gesprochen hatte, wandte sich mir zu. »Habe ich Sie überzeugt, mein Freund?«

»Zu drei Vierteln, Pawel!« »Und warum nicht völlig?«

»Eine gar zu schmähliche Rolle weisen Sie uns zu. Galaktische Ameisen! Eine bittere Wahrheit.«

»Einst empfanden die Menschen auch die Wahrheit als bitter, daß sich die Erde um die Sonne dreht, nicht aber die Sonne um die Erde. Und viele faßten es als Beleidigung auf, daß außer der Menschheit noch andere vernunftbegabte Zivilisationen bestehen. Der größte Fehler war es, sich für einzig zu halten im Weltall oder für allüberragend. Erinnern Sie sich, Eli: Je mehr die Macht und die Vernunft der Menschheit wachsen, desto mehr zerstreute sich ihr Ausschließlichkeitsempfinden. Diesen Prozeß der Selbsterkenntnis werden wir fortsetzen!«

»Warum wenden Sie sich an mich? Sprechen Sie für die ganze Besatzung!«

»Strittig ist, welche Rolle Sie, nicht die anderen, für die Ramiren spielen. Doch ich erkenne schon in dieser Fragestellung Ihren alten Hochmut. Eine neue Tragödie von Fehlern ist unnötig. Wir haben uns die Ramiren zu menschenähnlich ausgemalt, genauer: zu wesenhaft. Und das ist nicht bewiesen, meine Freunde!«

Romero sagte weiter, noch im zwanzigsten Jahrhundert der alten Ära habe ein Physiker alle Lebewesen in drei Klassen eingeteilt: in die Zivilisationen erster Ordnung, die sich der Umgebung anpassen; die Zivilisationen zweiter Ordnung, die sich die Umgebung anpassen, und die Zivilisationen dritter Ordnung, die sich selbst ändern, wenn sie das äußere Milieu nicht ändern können oder wollen. »Alle Tiere gehören zur ersten Ordnung, das sind die primitiven Wesen. Die Menschen und ihre Sternenfreunde stehen eine Klasse höher sie sind imstande, sich die Umgebung anzupassen. Aber die Menschen werden nicht hitzefest, um in einen glühenden Vulkan hinabzusteigen, nicht kältefest, um nackt im Kosmos zu spazieren. Die Ramiren stehen vielleicht noch eine Klasse höher. Sie haben keine ständige Gestalt, sie können sich jede beliebige schaffen. Der Arane war kein maskierter Ramire unter den Aranen, sondern ein gewöhnlicher Ramire in Aranengestalt. Daran ist nichts Übernatürliches, das ist nur eine hohe Zivilisationsentwicklung.«

»Irgendwann einmal werden auch unsere Nachfahren ihre Gestalt nach Belieben ändern. Und die körperliche Unähnlichkeit von Demiurg und Mensch, Engel und Unsichtbarem, Galakt und Aranen wird selbst für gegenseitige Liebe kein unüberwindliches Hindernis mehr sein. Das glaube ich!«

»Damit wären wir am Ende der Debatte«, sagte Oleg. »Die Selbstbezichtigung des wissenschaftlichen Leiters ist widerlegt. Aber völlig befriedigt bin ich nicht. Die wichtigsten praktischen Fragen liegen im dunkeln. Und die erstrangige lautet: Wie führen wir das letzte Schiff aus dem Kern heraus?«

Oleg erinnerte, daß wir bislang gerade Wege hinaus suchten, Wege, die an und für sich effektiv seien. An und für sich sei hier nichts effektiv. Hier tauge nur, was den Ramiren nicht entgegenwirke. Doch was wirke ihnen nicht entgegen? Welcher Plan von uns würde keinen neuen »Nasenstüber« provozieren?

»Übrigens widerspricht unser Plan Ihrer Theorie von der Gleichgültigkeit der Ramiren uns gegenüber«, bemerkte Oleg zu Pawel. »Ich widerlege sie nicht, bin aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß sie nicht erklärt, warum das Sternenflugzeug gewaltsam zurückgehalten wird. Ohne diese Erklärung ist es schwierig, das Weite zu gewinnen. Wir alle wollen darüber nachdenken, und dich, Eli, bitte ich besonders darum.« Er lächelte traurigspöttisch. »Wenn du tatsächlich ihr Verbindungsmann bist, dann solltest du ihnen klarmachen, wie wichtig für uns die Antwort ist. Sie könnten dir freundschaftlich des Rätsels Lösung eingeben!«

Oleg schloß die Versammlung, und ich trat zu Mary. Sie sah mich an, als wäre ich von den Toten auferstanden. Sie selbst wirkte nicht besser. Ich strich ihr übers Haar, und sie lächelte ein blasses Lächeln. Ihre Augen waren tränenvoll.

»Nicht weinen«, sagte ich. »Pawel hat glänzend bewiesen, daß ich kein Verräter bin. Diese Nacht werden wir beide ruhig schlafen. Dank Pawel.«

Romero hob zeremoniös den Stock. »Daß Sie aufrichtig glauben, Verrat geübt zu haben, haben wir alle gesehen. Ich zweifle, daß Ihre Frau so naiv gewesen ist.«

»Ach, ich weiß gar nicht mehr, was ich geglaubt habe und was nicht«, entgegnete sie müde. »Ich habe mich daran gewöhnt, daß Eli zu allem fähig ist… Sie haben recht, Pawel: Elis Taten widersprechen zeitweise dem, was man von ihm erwartet. Ich habe überlegt, ob ich mich zwingen könnte, am Leben zu bleiben, wenn man Eli schuldig spräche.«

Ich bat Olga, noch im Observationssaal zu bleiben.

Als wir allein waren, sagte ich: »Begreifst du jetzt, daß ich dich vor der Konferenz nicht zu mir lassen konnte? Frage, Olga!«

»Erzähle, wie es geschehen ist«, bat sie. »Vor dem Experiment muß Irina ein entscheidendes Gespräch mit Ellon gehabt haben. Sie kam furchtbar aufgeregt zum Essen. Ich schrieb ihre Erregung der Schwäche nach der Krankheit zu, sie war reizbar, weinte oft…«

»Hat Oleg dir nicht gesagt, was Ellon von Irina verlangte?«

Oleg hatte Olga alles erzählt, was er wußte, sie wollte mehr wissen. Ich konnte nur seine Erzählung wiederholen. Olga weinte, als ich erwähnte, daß Irina sich von uns verabschiedet und gebeten hatte, sie nicht zu verdammen. Ich blickte voller Zärtlichkeit auf Olgas kleinen Kopf, auf ihre grauen, sich ringelnden Haare. Das Schicksal hatte dieser Frau viel geschenkt; Ruhm, wie er keiner anderen zuteil geworden war, und Kummer, genug, um jedes Herz zu zerreißen.

»Was meinst du, ist sie tot? Und wo könnte sie sein?«

Darauf hatte ich keine Antwort. Aus der Vergangenheit kehrte niemand lebend zurück. Das hatten wir an Mizar und Ellon beobachtet. Aus der Zukunft war Wiederkehr möglich. Olga sollte an Oan denken, der aus der Zukunft auf unser Sternenflugzeug geglitten war, an Mizar, an Ellon, er war lebendig an uns vorbeigeflogen, als er aus der Zukunft in die Vergangenheit hinabstürzte. Irina war nicht zurückgekommen, aber das bedeutete nicht, daß sie tot war. Über die Physik der Vergangenheit wußten wir manches, was wußten wir über die Zukunft? »Oleg sagt das gleiche. Ich fürchte, er will mich nur trösten.«

»Für Oleg wäre es wichtiger, sich selbst zu trösten.

Er liebt Irina. Und dann, was heißt trösten? Du bist nicht nur Kapitän von galaktischen Schiffen, sondern auch berühmte Astrophysikerin. Wir müssen dich fragen, was mit Irina geschehen ist, nicht du uns.«

»Ich habe eine Bitte an dich und Oleg. Seit dem Untergang der ,Widder‘ kann ich nur Oshima dublieren. Aber er hat einen prächtigen Ersatzmann Eduard. Ich würde mich gern mit den Zeitmechanismen beschäftigen. Ich betrachte es als meine Pflicht, die von meiner Tochter begonnene Arbeit zu beenden. Jeder Defekt des Stabilisators kann die Arbeit der Schiffsmaschine erneut unterbrechen und uns abermals in Wahnsinn stürzen.«

Ich erriet, daß sie außerdem noch davon träumte, ungefährliche Wege in die Zukunft zu finden und zu erkunden, was mit Irina geschehen war.

»Meine Unterstützung ist dir sicher. Ich denke, daß auch Oleg nichts dagegen haben wird.«

10

Grazi war an die Stelle der verschwundenen Stimme getreten. Wir stritten ein wenig, ob es notwendig sei, zum früheren Schema der Sternenflugzeugführung zurückzukehren: Analysatoren – Schiffsmaschine – Schiffskommandeur. In den ruhigen kosmischen Gebieten hatte das Schema nie versagt. Oshima und Kamagin fanden diese Praxis bequemer. Oleg und ich waren mit ihnen nicht einverstanden. Die Schiffsmaschine war ein mechanischer Verstand, außerhalb des Kausalzusammenhangs war sie hilflos. Die schreckliche Erfahrung zeigte, daß eine Störung im Zeitenlauf den Verstand lahmlegte. Der Kausalzusammenhang war ein Äquivalent zum normalen Zeitzusammenhang, doch eine normale Zeit gab es nicht im Kern. Über dem Verstand mußte die Vernunft stehen, einheitlich denkend. Und die Arbeit einer synthetisierenden Vernunft dem Kapitän zu übertragen war riskant, er hatte genug Sorgen mit der praktischen Schiffsführung.

»Grazi kommt in der früheren Funktion der Stimme ausgezeichnet zurecht«, erklärte Oleg den Kapitänen. »Sie haben die gleiche Gehirnstruktur, denn auch die Stimme stammte von Galakten ab.«

So wurde Grazi uneingeschränkter Herr im Steuerraum. Er schwang sich nicht in die Höhe auf wie sein Vorgänger in der gläsernen Kugel, wollte aber auch nicht länger unermüdlich die Ringwand entlangschreiten. Er verlangte einen Sessel und stellte ihn dem Eingang gegenüber. Man hatte den größten Sessel herausgesucht, aus »der Reserve für alle Fälle«, in gewöhnlichen Sitzgelegenheiten hätte der massive Galakt nicht Platz gefunden. Der Sessel wurde auf ein speziell angefertigtes Postament gehoben.

Und nun bot sich Grazi dem Eintretenden als eine zum Fürchten imposante Gestalt dar. Romero fand Grazi gottgleich, nicht nur gottähnlich wie früher.

Mich erinnerte er an den auf seinem Thron sitzenden Zeus – mir scheint, es hat in alten Zeiten so eine Statue gegeben. Doch erhabene Gottgleichheiten hinderten Grazi nicht, so schnell wie ein Mensch und so verläßlich wie ein Demiurg zu arbeiten. Das Gehirn der Galakten ist beweglicher als ihr Körper. Verlangte man von Grazi nicht, die Arme zu schwenken oder zu laufen, vermochte er jedem eine Vorgabe einzuräumen. Beim Springen hätte er trotz seiner langen Beine nicht die jämmerlichste Prämie errungen, aber es war nicht ratsam, im Denken mit ihm zu wetteifern.

Noch bevor Grazi im Steuerraum Fuß faßte, besuchte mich Orlan. Der Demiurg stattete ungern Besuche ab. Orlan und ich trafen uns gewöhnlich in den Diensträumen. Nur bei Grazi war Orlan oft, wahrscheinlich wünschte er hervorzuheben, daß der Haß, der einst Demiurgen und Galakten trennte, ausgelöscht sei.

»Eli, stimmt es, daß Kapitän Olga Trondike die Arbeiten zur Zeittransformierung leiten wird?« fragte er so offiziell, wie ich es von ihm nur gehört hatte, als er noch im Namen des Großen Zerstörers auftrat.

»Bist du dagegen, Orlan?«

Er ließ den Kopf auf dem biegsamen Hals hochschnellen und zog ihn aus Achtung vor mir ohne viel Lärm zwischen die Schultern. »An der Zeittransformierung haben Demiurgen gearbeitet. Ich selbst würde Ellon gern ersetzen.«

Ich war unbeschreiblich erstaunt. In den Jahren unserer Bekanntschaft war Orlan alles mögliche gewesen : Sternenadmiral, der mein Schiff gefangengenommen hatte, mächtiger Würdenträger des Zerstörerreichs, grausamer Feind zu Anfang, ein guter Freund später, Mitstreiter in der Not, Mitbegründer der Sternengemeinschaft und vielleicht das mir vertrauteste Wesen unter den vernunftbegabten Nichtmenschen. Als Ingenieur konnte ich ihn mir nicht vorstellen. Nie hatte er sich für mathematische Berechnungen interessiert, nie sich für das Konstruieren von Mechanismen begeistert.

Aber Orlan erklärte, er habe sich in seiner Jugend vorbereitet, Industrieleiter zu werden. Er habe eine Ausbildung als Ingenieur erhalten und in Sternenflugzeugwerften eine Probezeit abgeleistet. Und er sei nur deshalb nicht zum Minister für Sternenflugzeugbau ernannt worden, weil der Große Zerstörer ihn mit der galaktischen Politik betraute.

»Olga Trondike und du, Eli, sind schuld, daß ich die Ingenieurtätigkeit aufgegeben habe. Nach dem Flug der ,Raumfresser‘ durch die nichteuklidischen Engen des Perseus und der Sprengung des Zweiten Planeten berief der Große Zerstörer alle die Aristokraten in seine Nähe, die als sichere Stütze des Thrones dienen konnten.«

»Und nun möchtest du wieder Ingenieur sein, Orlan?«

»Eli, ich bin der einzige auf dem Schiff, der keine individuellen Aufgaben hat. Seit Grazi im Steuerraum schaltet und waltet und besonders seit dem Tod des großen Ellon ist es für mich traurig, auf dem Schiff umherzuschlendern.«

»Würdest du mit Olga zusammenarbeiten, wie es Ellon und ihre Tochter taten?«

»Wenn sie nichts dagegen hat, Eli…«

»Sie wird keine Einwände haben.«

Das Organisatorische nahm mehrere Tage in Anspruch, und ich kam nicht dazu, in den Konservierungsraum zu gehen. Doch dann zog es mich wieder hin. Diesmal betrat ich ihn in anderer Verfassung als sonst. Es fällt mir schwer, meinen Zustand zu beschreiben. Die alten Gefühle waren verweht, die neuen bildeten sich erst. In meiner Verwirrung wußte ich nicht, was ich wollte, was ich erwartete.

Im Konservierungsraum stand ich eine Weile vor dem neuen Sarkophag mit Ellon. Der Demiurg besaß ein mächtiges Gehirn, dennoch hatte er die Zeitvibration nicht ertragen. Selbst ein Genie war außerstande, den seelischen Riß zwischen Vergangenheit und Zukunft ohne eine feste Stütze in der Gegenwart auszuhalten.

Langsam ging ich von Ellon zu Mizar, von Mizar zu Trub, von Trub zu Lussin. Ich beeilte mich nicht, zu Oan zu kommen, denn bei dem Aranen würde ich mich lange aufhalten müssen. Ich wollte mit ihm sprechen. »Oan, ich weiß jetzt nicht, wer du bist, ein Abgesandter von Feinden, von uns gegenüber Unbeteiligten oder sogar von unbegreiflichen Freunden«, sagte ich am Sarkophag des Spions. »Das zu wissen ist wichtig, du wirst es zugeben, sofern du in der Lage bist, mich zu verstehen. Oh, du verstehst mich, davon bin ich überzeugt! Du bist der Verbindungsapparat zwischen uns und den Ramiren, darin bestehen alle deine Geheimnisse. Eine komplizierte Vorrichtung, sie lauscht, späht, liest Gedanken, und außerdem ist sie als Lebewesen ausgeführt, das sich freilich zur Hälfte in eine Silhouette verwandelt hat, aber das hing nicht von dir und auch nicht von deinen Herren ab: Auch Ameisen sind imstande, einen Holzfäller zu beißen! Sag mir doch, Oan, was wollt ihr von uns?

Warum haltet ihr uns gefangen im Scheiterhaufen des Kerns, der Sterne wie Schrotkörner verschießt?«

Ich hatte so bewegt gesprochen, als erwartete ich tatsächlich eine Antwort. Oan schwieg selbstverständlich. Doch ich forderte noch hartnäckiger: »Wenn du tatsächlich ein Verbindungsapparat bist, dann von doppelter Wirkung, von uns zu den Ramiren, aber auch von den Ramiren zu uns. Unsere Absichten hast du übermittelt, teile uns nun ihre Wünsche mit. Du hast uns schon manches mitgeteilt, leugne es nicht: daß ihr Spione unter den Aranen habt und du einer von ihnen bist, daß die Zeit hier krank und gefährlich ist, hast du diesen Gedanken nicht in unsere Köpfe einfließen lassen? Und daß ihr eine Methode sucht, den Lauf der Zeit zu beherrschen, euch in die Zukunft zu versetzen und zurückzukehren. Um dieses Erfolges willen sind fünf deiner Freunde umgekommenwahrscheinlich ebenfalls Ramiren in der Gestalt von Aranen. Du gehörst nicht zu den Halbleiter-Spionen, die die Informationen nur vom Feind zum Herrn übermitteln. Du bist ein Mechanismus von doppelter Wirkung, ja, das bist du. Also schweig nicht! Selbst wenn ihr gleichgültig seid, selbst wenn ihr, keinen Anteil an uns nehmt, so rufen doch auch solche wie ihr: ,Geht aus dem Weg!’, wenn man sie behindert. Sag, du Schweigsamer, welchen Weg versperren wir euch?

Wohin sollen wir abschwenken, um euch nicht unter den Füßen zu sein?«

Und wieder schwieg er, wie er schweigen mußte.

Doch ich geriet in Wut, schrie, drohte Oan mit der Faust. Mein Toben sah niemand, hier konnte ich über die Stränge schlagen!

»Schweig, schweig, aber denk über mich nach! Denk über meine Fragen nach! Übermittle meine Fragen deinen gleichmütigen Brüdern. Wir sind keine Ameisen, was Romero da über eure Größe und unsere Nichtigkeit auch gesprochen haben mag. Wir sind keine Ameisen, laß dir das gesagt sein! Wir werden uns aus dieser Hölle befreien, in der ihr uns eingesperrt habt! Nicht mit Hilfe von Metrikkrümmungen, nicht mit Hilfe von Gravitationslöchern, nicht durch Annihilation von Stoff oder Raum, hier sind alle Ausgänge verboten, das haben wir schon begriffen. Wir werden durch die Zeit ausbrechen, die du als krank fürchtest und die als einzige die Welt vor der Vernichtung bewahrt. Nicht mürbe, sondern elastisch, nicht zerrissen, sondern strömend, nicht tot, sondern lebendig – so wird sie sein in unseren Händen! Wir brechen aus, das sage ich dir! Durch die gerade Zeit, die in die Zukunft führt, durch die Gegenzeit, die in die Vergangenheit stürzt, durch die gekrümmte Zeit, durch die perpendikuläre Zeit… !«

Mich verblüffte mein eigener Ausspruch! Es war vollbracht! Das Wort war gesagt. Das Dunkel der Rätsel war vom Schein der Wahrheit erhellt. Bisher war das noch Wort und nicht Tat, aber das Wort war Gedanke. Und ohne Überlegung, durch irgendwie ungegliederte, aber unendlich überzeugende Erkenntnis wußte ich bereits, das ich das Wichtigste gefunden hatte, das einzig Wichtige! Das war die Lösung, die wir alle suchten. Und einstweilen war sie nur Wort, unwahrscheinliches, erleuchtendes, wahrhaft offenbarendes Wort-»perpendikulär«.

Denke ich heute an diesen Augenblick zurück, bin ich wieder bewegt. Wieder erfüllt mich beklemmende Begeisterung angesichts der Entdeckung. Und ich wiederhole, ich überlegte nicht, ich wußte einfach, ich wußte nur-, ja, es gab keine Rätsel mehr, ja, die einzige Möglichkeit der Rettung war gefunden.

Und hätte man mich damals gefragt, ob ich meine Gewißheit wenigstens irgendwie begründen könne, hätte ich verwirrt geschwiegen, nein, frohlockend, nicht verwirrt. Die Zeit der Begründungen war noch nicht gekommen. Denn ich wußte nur! Ich sah in meiner Hand den Schlüssel zu der verschlossenen Tür.

Ich öffnete die ersehnte Tür noch nicht mit dem Schlüssel, den ich plötzlich in der Hand hielt. Ich wußte nur, daß die Tür geöffnet werden würde!

Hals über Kopf stürzte ich hinaus. Ich mußte Oleg sehen. Im Korridor fiel mir ein, daß die Schiffsmaschine funktionierte, ich konnte ihn also in Gedanken rufen. Im Kommandeursaal war Oleg nicht, er war zu Hause. Ich verlangte, mich unverzüglich mit ihm zu verbinden, und ich vernahm Olegs erstaunte Stimme.

»Brauchst du mich dringend, Eli? Soll ich zu dir kommen oder ins Laboratorium?«

»Am besten, ich besuche dich, Oleg.«

»Gut, ich erwarte dich…«

Er stand auf und wies auf einen Sessel. Sein Gesicht rötete sich plötzlich, denn meine Erregung übertrug sich augenblicklich auf ihn. Ich setzte mich, er blieb stehen. Auf dem Tisch stand ein Flugschreiber, ein Kästchen, der Schiffsmaschine ähnlich, aber kleiner, ebenso wie sie enthielt es Neptunian, das kostbare Kristall, das unabänderliche Herz aller Schaltungen in den denkenden Mechanismen. Nur wurde das Neptunian im Flugschreiber nicht wie in der Schiffsmaschine für Berechnungen genutzt, sondern zur Wiedergabe des zurückgelegten Weges. Dies war der Speicher unserer Reise, das, was man früher Bordjournal nannte. Ich hatte ebenfalls einen solchen Apparat, ich bewahrte ihn in meinem Safe auf, aber noch nie hatte ich Zuflucht zu ihm genommen, um das Bild der vorübergezogenen Sternenlandschaften wieder er stehen zu lassen. Nach einem Blick auf den Flugschreiber wandte ich mich ab.

Oleg sagte hoffnungsvoll: »Eli, du machst ein Gesicht, als…« »Der Ausweg in die Freiheit liegt nicht dort, wo wir ihn suchen«, sagte ich. »Wir müssen die perpendikuläre Zeit ausprobieren, nicht die gerade und nicht die Gegenzeit.«

Mit ihm vollzog sich das gleiche Wunder wie mit mir. Er verstand sofort, er glaubte sofort! Das Wort »perpendikulär« tönte nicht, sondern erleuchtete.

Das war Erleuchtung, nicht Erläuterung. Oleg schaute mich begeistert an, ich konnte mich an diesem Effekt weiden. Doch er sagte, was ein Geschwaderkommandeur sagen mußte: »Ja, selbstverständlich, das wäre die Lösung. Aber gibt es die perpendikuläre Zeit? Können wir sie in den Griff bekommen?«

»Laß uns alle Argumente für und wider einschätzen.«

»Sprich du, ich werde Einwände erheben, wenn ich welche finde.«

Erst jetzt war die Zeit des Erwägens gekommen.

Und mit derselben Gewißheit der Wahrheit, die sich meiner bemächtigte, als mir die Formel »perpendikuläre Zeit« entschlüpfte, wußte ich, daß ich unwiderlegbare Beweise finden und alle Zweifel zerstreuen würde. Die Erleuchtung mußte sich in Wissen verwandeln, aus der Voraussicht mußte Theorie werden!

Und ich begann damit, daß wir bisher nur die eindimensionale Zeit kannten, die eindimensional war und einsinnig gerichtet: Sie verlief von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft, streckte sich zu einer Linie, wies in eine einzige Richtung. Nur so gingen unsere kleinen Prozesse in unserer kleinen Welt vonstatten. Wir glaubten, daß es anders nicht möglich sei. Und als wir im Kern auf eine biegsame und nichtlineare Zeit stießen, verstanden wir ihr Wesen nicht, meinten, daß die Zeit hier reiße, daß sie instabil sei, und voller Angst sprachen wir vom gerissenen Zeitenband.

»Mit anderen Worten, du behauptest, daß die Zeit nicht zerreißt?«

»Ja, das behaupte ich. Der Riß der Zeit ist nur unsere Vorstellung von einem weit komplizierteren Prozeß ihrer Krümmung. Die reale Zeit ist zweidimensional, man kann sie durch Vektoren auf einer Ebene darstellen, doch wir studieren lediglich ihre Projektionen auf eine Achse und bilden uns ein, daß außer der Projektion nichts existiere. Und wenn die Zeit seitwärts verläuft, perpendikulär, senkrecht zur Achse, und darauf eine Unterbrechung erscheint, ein leeres Intervall, sehen wir voller Entsetzen einen Riß. Nein, die Zeit reißt nicht, sie ist unaufhörlich, aber sie ist nicht nur vorwärts gerichtet, nicht nur rückwärts, sondern auch seitwärts. Und ich erinnere dich«, fügte ich hinzu, selber verblüfft von der Erinnerung, »daß Oan uns einst ebenfalls von den Krümmungen der Zeit sprach, nur maßen wir seinen Worten keine Bedeutung bei.«

»Das liegt daran, daß wir Mühe haben, uns die Zeitkrümmungen vorzustellen«, sagte Oleg.

»Kann man sich die Krümmung des leeren Raums vorstellen? Die nichteuklidische Metrik der Leere?

Ich versichere dir, das ist noch schwerer. Oan stieß uns auf eine Entdeckung, aber damals waren wir von einem neuen Zeitbegriff weit entfernt. Inzwischen hätte alles ringsum uns zu ihm hinführen müssen. Das ist die erstaunliche Tatsache. Im Weltall ist keine Gleichzeitigkeit. Die Gleichzeitigkeit der Welt ist eine Abstraktion. Genau so eine Abstraktion wie der geometrische Körper, bar physikalischer Eigenschaften. Wir selbst haben uns diese Abstraktion ausgedacht, und sie verwirrt uns maßlos, sie erklärt die Welt nicht, sondern verdunkelt sie. Real ist jeder beliebige Körper in der Welt ungleichzeitig. Jeder beliebige Prozeß, der augenblicklich verläuft, wie uns scheint, ist nur eine statische Resultante unendlich verschiedener, voneinander unendlich ferner Epochen, die nur im gegebenen Augenblick im gegebenen Punkt eines gegebenen Körpers zusammengeströmt sind.«

»Paradox, Eli. Diese Behauptung mußt du begründen.«

Die Begründung fiel mir nicht schwer. »Jedes Objekt existiert in seiner individuellen Zeit, das ist so.

Aber isolierte Objekte gibt es nicht, alles ringsum steht mit seiner Umgebung in Wechselwirkung Atom mit Atom, Stern mit Stern, Galaxis mit Galaxien. Dieser Zusammenhang ist real, aber ist er gleichzeitig? In keinem Falle! Wir sehen einen nahen Stern, wie er vor zehn Jahren gewesen ist, einen fernen, wie er vor Tausenden Jahren gewesen ist, die Galaxisperipherie, wie sie vor Hunderttausenden von Jahren gewesen ist, und andere Galaxien sind für uns heute sichtbar, wie sie vor Millionen und aber Millionen Jahren gewesen sind. Das ist sie, unsere Landschaft in dieser Minute; das Bild der Welt in einem Augenblick setzt sich aus zahllosen Pinselstrichen verschiedener Epochen zusammen, die nur in unserer eingebildeten Augenblicklichkeit vereint sind, das Weltall ist an jedem beliebigen Punkt, für jeden beliebigen Blick, in jedem beliebigen Augenblick unermeßlich ungleichzeitig. Eine reale Gleichzeitigkeit besteht nicht, man kann sie sich nur einbilden, physikalisch läßt sie sich nicht entdecken.

Und das ist keine optische Erscheinung, keine Fata Morgana. Nein, die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit ist ein realer physikalischer Prozeß, der grandioseste physikalische Prozeß, der Prozeß, der die gesamte Struktur des Weltalls bestimmt, die Wechselwirkung aller materiellen Objekte des Alls. Denn der Kosmos ist voller Gravitationswellen, Teilchen, Photonen, Gas, Staub… Und all das bestrahlt, hüllt ein, zieht an, stößt ab. Und eins kommt aus dem Gestern, das andere aus einer Vergangenheit von Jahrmillionen, doch ihre summarische Wirkung an beliebiger Stelle erfolgt im gleichen Augenblick. Und jedes Objekt antwortet auf die Einwirkung dieser ungleichzeitigen Kräfte mit seiner Einwirkung, aber auch sie erreicht die Nachbarn ungleichzeitig, die nahen bald, die fernen in Jahrmillionen. Auf diese Weise ist die wirkende Zeit an jeder Stelle des Weltalls das Gleichgewicht aller vergangenen Epochen, der ganze unermeßliche Riesenbau der Jahrmilliarden, zu einem Augenblick zusammengefaßt.«

Oleg unterbrach mich erneut. »Übrigens folgt hieraus, daß sich die Gegenwart niemals im Abgrund der Vergangenheit verliert. Nehmen wir an, ich strahle mein Abbild in den Raum, meine Felder, sozusagen alles, was ich als kosmischer Körper darstelle. Und wieviel Jahre auch vergangen sein mögen, in irgendeinem entfernten Winkel des Alls findet sich stets diese meine dahineilende Strahlung, und sie wird physikalisch auf die Objekte einwirken, denen sie begegnet.

Meine Vergangenheit wird in meiner fernen Zukunft real existieren!«

»Widerlegst du mich oder suchst du Bestätigung?«

»Gehen wir zu den praktischen Fragen über«, schlug er vor. »Deine Konzeption ist interessant, aber ich würde gern ein Aktionsprogramm festlegen.«

»Ich weiß nicht, wie praktisch ein Programm ist, das kann man nur im Laboratorium bestimmen.«

Mein Plan lief auf folgendes hinaus: Unser Aufenthalt im Kern, im monolinearen Strom der Zeit, würde früher oder später mit unserem Untergang enden. Es war nicht gelungen, vorwärts, durch die Zukunft, oder rückwärts, durch die Vergangenheit, zu entkommen. Die Hauptgefahr bestand im Passieren der Nullzeit. Tote Materie hielt solche Übergänge leicht aus, für einen Organismus waren sie tödlich. Folglich mußte man aus der Monolinearität in die Zweidimensionalität der Zeit gehen, die Fesseln seiner Zeit überwinden und in die benachbarte Zeit gehen, in die Anderszeit, wie man sie nennen könnte. Man durfte sich nicht einfach von seiner Zeit lösen, sondern mußte sie krümmen, sie seitwärts ausweiten, und die Krümmung andauern lassen. »Und es ergibt sich«, sagte ich, »daß wir uns in jedem Augenblick vorwärts bewegen, in Richtung Zukunft, in der Summe aber mehr und mehr von ihr abweichen.

Und an einem bestimmten Punkt trennen wir uns, wobei wir uns immer weiter vorwärts bewegen, von unserer Zukunft, obwohl wir die Nullzeit nicht kreuzen, und beginnen uns auf unsere Vergangenheit zuzubewegen, die nun unsere Zukunft ist.«

»Du beschreibst eine Kreisbewegung, Eli.«

»Völlig richtig. Darin besteht mein Gedanke, aus der eindimensionalen, geradlinigen Zeit in die zweidimensionale, ringförmige Zeit auszubrechen. Die Ringform ist erforderlich, um in unsere Vergangenheit zurückzukehren, ohne die gefährliche Nullzeit zu passieren.«

»Der Ring der Gegenzeit!« sagte Oleg nachdenklich. »Das klingt gut.«

»Wenn dir die Bezeichnung gefällt, dann wollen wir die Operation so nennen: Rückkehr auf dem Ring der Gegenzeit. Willst du nicht ins Laboratorium gehen und mit Orlan und Olga einen Plan für die Experimente entwerfen?«

Oleg nahm den Flugschreiber und trug ihn zum Safe.

Ich fragte: »Warum hat dich plötzlich der zurückgelegte Weg interessiert?«

Er brachte den Apparat schweigend zum Tisch zurück, drückte ebenso schweigend einen Knopf. Auf dem Bildschirm leuchtete die schon tausendmal gesehene Landschaft auf: ein wildes Durcheinander von Sternen, eine Explosion, die einst im Kern erdröhnt war und sich seitdem unaufhörlich vollzog. Auf den großen Sternenbildschirmen konnte man ebensolche trostlosen Landschaften beobachten, aber lebendige, rasch wechselnde, indes der Flugschreiber ein Bild zeigte, das während eines Flugmoments festgehalten worden war. Verwundert schaute ich Oleg an.

»Sagt dir dieses Bild nichts, Eli?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Das ist die Stelle, wo Irina verschwand.«

»Ich verstehe, Oleg. Eine traurige Erinnerung…«

»Nein«, sagte er. »Nicht nur Erinnerung.«

Ich stellte keine Fragen. Hier begann ein Gebiet, in das man ohne Erlaubnis nicht eindringen durfte.

Oleg lächelte seltsam. »Eli, wenn wir uns aus dieser Hölle herausrappeln und zur Erde zurückkehren, nimmst du dann noch mal an einer galaktischen Expedition teil?«

»Wohl kaum. Ich bin schon zu alt dafür.«

»Ich werde eine neue Fahrt unternehmen. Ich bin ja jünger als du, Eli. Und ich habe kein anderes Ziel im Leben, als den Kosmos zu durchpflügen.«

»Und du wirst in den Kern zurückkehren?«

»Wir sind als erste in ihn eingedrungen. Dürfen wir sagen, wir wären die letzten gewesen? Eine neue Expedition wird besser vorbereitet. Und wenn ich an ihr teilnehme, werden mir die vom Flugschreiber bewahrten Sternenlandschaften gut zustatten kommen.«

»Gedenkst du Irina zu suchen?« fragte ich unumwunden. Er stellte den Apparat behutsam in den Safe und schloß ihn gemächlich an die Schiffsmaschine an. Er sagte sehr ruhig: »Jedenfalls möchte ich gern wissen, was mit ihr ist.«

11

Erst jetzt wußten wir die Genialität Ellons als Ingenieur in vollem Maße zu schätzen. Der Kollapsan gab nicht nur die Möglichkeit, die Zeit zu verdichten und zu verdünnen, das Vorzeichen ihres Laufs zu verändern, sondern sie auch zu krümmen. Und die gekrümmte Zeit wurde nicht allein durch die Geschwindigkeit und die Richtung ihres Laufs charakterisiert, sondern auch durch den Winkel zu unserer natürlichen Zeit. Diesen Abweichungswinkel nannte Olga »Phasenwinkel des Flugs in die Anderszeit«. Rasch häufte sie die schwierigsten Formeln des »Anderszeitwinkels« auf. In ihnen hätte sich vielleicht die Schiffs« maschine zurechtfinden können, meine Begriffsfähigkeiten überstiegen sie. Dafür erfreute uns Olga mit der Mitteilung, daß Orlan sie beim halben Wort verstehe und einige der wahnsinnig komplizierten Formeln ihm zuzuschreiben seien. Darüber wunderte ich mich nicht. Den Demiurgen ist die Begabung für die Himmelsmechanik angeboren. Wir sind stärker als sie in dem Gefühl für Gut und Böse, unsere menschliche Besonderheit besteht darin, die wahre Moral bei allen Umwandlungen eines sozialen Systems in ein anderes zu verteidigen; Wahrheit ist überall Wahrheit, Unterdrückung ist überall Unterdrückung, Freiheit ist überall Freiheit. Doch in der Konstruktion von Gravitationsmaschinen waren uns die Demiurgen weit voraus.

Zunächst war die phasische Anderszeit nur für Atomprozesse geschaffen worden. Im Stabilisator wurde bereits die Vibration der Makrozeit getilgt, im Transformator änderten sich das Vorzeichen und die Geschwindigkeit der eindimensionalen Makrozeit, das hatte Ellon noch vor seinem Tod zuwege gebracht. Doch von der zweidimensionalen Phasenzeit hatte er keine Ahnung gehabt. Vieles hätte schneller und besser gehen können, wäre er nicht dem Wahnsinn verfallen.

»Vielleicht morgen, Eli«, sagte Olga einmal beim Frühstück zu mir.

Das bedeutete, daß die Ingenieure am nächsten Tag die Generatoren der phasischen Anderszeit erproben würden, die nicht mehr im atomaren Maßstab, sondern in der Makrozeit des gesamten Schiffs wirksam waren.

»Sicherlich morgen«, sagte Orlan beim Mittagessen.

»Also morgen«, erklärte Oleg beim Abendessen.

Am Morgen eilte ich in den Kommandeursaal.

Dort waren bereits alle Kapitäne und Orlan. Grazi hatte es übernommen, die Bedienung der Phasenzeitgeneratoren zu steuern. Ihm, einem Unsterblichen, machte der Übergang aus einer Zeit in die andere weniger aus als jedem von uns, auch diesen Umstand hatten wir berücksichtigt. Das Sternenflugzeug lenkte Kamagin, er war ebenfalls Zeitreisen gewohnt, und er unterhielt gedanklichen Kontakt zu Grazi. Uns anderen war die Rolle von Zuschauern zugefallen. Ich genoß im voraus die malerischen Veränderungen beim Übergang aus unserer Zeit in die fremde. Mir bereitete nur Sorge, wie sich die Ramiren verhalten würden.

Alles war möglich!

»… drei, zwei, eins, null!« kommandierte Kamagin, und die Zeit krümmte sich ein wenig.

Nichts hatte sich verändert. Dieselben fliegenden Sterne auf den Bildschirmen, kein einziger erzitterte, kein einziger verlor seinen Glanz. Die Phasenverschiebung war zwar geringfügig, dennoch flogen wir schon in einer fremden Zeit, flogen einer fremden Zukunft entgegen. Doch das Bild draußen war so, als würde auch diese fremde Zukunft im Kern als eigene aufgefaßt, als wäre die allumschließende Zukunft hier ein normaler physikalischer Prozeß.

»Arbeiten die Gegenzeitgeneratoren?« fragte Oshima zweifelnd.

»Unsere gleichgültigen Götter scheinen zu schweigen. Ob sie uns nicht beobachtet haben?« murmelte Kamagin.

»Wenn sie ihre Stimme erheben, hören wir sie nicht«, entgegnete Orlan ernst. »Ihr Strahl vernichtet uns, bevor wir kapieren, daß wir verloren sind.«

Das war schwer zu bestreiten.

Nach einer Weile teilte die Schiffsmaschine mit, daß sich das Bild des Sternenchaos verändere, und Grazi stellte als einziger auch visuell Veränderungen in der Umgebung fest. Orlan begab sich zu den Phasenzeitgeneratoren, während Olga und ich zu mir gingen. Mary entdeckte ebenfalls nichts Neues auf dem Bildschirm, die gewöhnlichen Sterne, dieselbe Menge, umherirrend, ungeordnet fliegend…«Daß wir in der Anderszeit sind, garantiere ich«, sagte Olga. »Und obwohl die Phasenverschiebung unbedeutend ist, wird der Winkel des Flugs aus unserer Zeit größer. Ich erwarte schon bald erhebliche visuelle Veränderungen.«

»Ich lösche die Bildschirme«, schlug Mary vor.

»Wir lassen kein Auge von ihnen, doch die Veränderungen sammeln sich allmählich an, und wir gewöhnen uns an die neue Umgebung, ohne zu begreifen, daß sie neu ist.«

»Die Ramiren schweigen«, wiederholte ich Kamagins Worte, als Mary den Zimmerbildschirm verhüllte.

»Die Ramiren haben es satt, uns zu verspotten«, erklärte Olga überzeugt. »Wenn sie gleichgültig sind, müssen sie uns ja irgendwann einmal in Ruhe lassen.«

Ich hoffte ebenfalls, daß die Ramiren aufhören würden, sich mit uns zu befassen, und der Flug in die Anderszeit sie nicht ärgern würde. Entweder hatten die Ramiren unsere Flucht nicht bemerkt, oder wir interessierten sie nicht mehr, oder, auch dieser Gedanke kam mir, ihnen war damit gedient, daß wir uns mit Hilfe der phasischen Zeitkrümmung entfernten.

All dies mußte überlegt werden – hier war ein Fall, wo die Antwort nicht auf der Hand lag.

»Ruh dich aus«, sagte Mary, und ich legte mich auf den Diwan.

Sie weckte mich eine Stunde später. Olga war nicht da. »Schau auf den Bildschirm«, sagte Mary erregt.

Ich schrie vor Überraschung auf. Wir waren in einer anderen Welt. Nein, das war immer noch derselbe Galaxiskern, dieselbe gleißende und funkelnde Hölle! Aber der Kern war anders, derselbe und doch anders! Das läßt sich mit Worten schwer schildern, das muß man selbst gesehen haben. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat hatten wir voller Wehmut ein sich ständig reproduzierendes Bild auf den Sternenbildschirmen beobachtet. Im Verlaufe eines winzigen Schiffstages hatte es sich verändert. Ja, das war der Kern, aber der Kern in einer anderen Zeit, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft, sondern einer anderen!

»Mary, die Ramiren lassen uns hinaus!« rief ich begeistert. »Es gibt keinen Überfall!«

Seit jenem Tag ist viel Zeit verstrichen. Vielleicht Stunden, vielleicht Jahrhunderte, und würde man mir sagen, es handele sich um Jahrmillionen, wäre ich nicht verwundert. Die Zeit, in der wir uns bewegen, ist fremd. Die Geräte messen sie, die Schiffsmaschine speichert sie, der Flugschreiber fixiert sie in seinen Bildern, doch ich begreife sie nicht, es ist nicht meine Zeit. Und obwohl Grazi über sie verfügt und Oshima und Kamagin, die einander im Kommandeursaal ablösen, sie genauso leicht kommandieren wie die Aktivstoffreserven in den Laderäumen, indem sie die Krümmung mal vergrößern, mal verringern, begreife ich sie trotzdem nicht. Sie ist nicht meine Zeit. Sie ist fremd. So wird sie ja auch genannt – Anderszeit! Der Kern vereinigt in sich tatsächlich alle mögliche Zukunft, ist real alles Zukünftige, das in jeder möglichen Zukunft anders ist. Aber ich bin nicht allumfassend zukünftig. Das ist nichts für mich, wie Trub gesagt hatte. Die allumfassende Zukunft riecht nach Allgegenwart. Nein, solche Höhen kann ich nicht erreichen. Und unsere Nachkommen, davon bin ich überzeugt, können es ebenfalls nicht. Ich bin in der Lage, die ganze Natur zu verstehen, die ganze Natur zu werden, geht über meine Kraft.

Ich habe diese Abschweifung gemacht, während ich im Konservierungsraum sitze und die Geschichte unserer Fahrt aus dem Kern diktiere, um wiederzugeben, mit welcher Ungeduld wir alle auf die Wende aus der Anderszeit in unsere Zeit warteten. Wir hatten bereits die erste Wende in die Zeit hinter uns, die sich perpendikulär zu unserer verhält, auch die zweite in der Anderszeit, die uns in die parallel zu der unseren verlaufende Gegenzeit brachte, näherten uns der dritten Wende auf die zweite Senkrechte, und damit unserer Zeit. Und alle Wenden waren vollzogen, ohne die gefährliche Null zu passieren. Nach der letzten Wende würden wir unserer Vergangenheit nachjagen, denn sie würde vor uns sein, in unserer Zukunft! Und sobald wir den Anschluß an unsere Zeit hatten, verließen wir die Anderszeit – dann schloß sich der Ring der Gegenzeit!

Ich wartete auf die Rückkehr in unsere Zeit, dachte aber an etwas anderes. Die Ramiren ließen uns offensichtlich hinaus. Und das war merkwürdig. Ich wollte die Ursache ergründen. Wir, und wenn nicht wir, so unsere Nachkommenwürden mit diesem finsteren Volk noch zusammentreffen. Ich glaubte nicht, daß sie gleichgültig waren. Tags zuvor hatte ich Romero zu mir eingeladen und ihm gesagt, was mich quälte.

»Pawel«, sagte ich, »mir gefällt Ihre Theorie betreffend Holzfäller und Ameisen nicht.«

»Gut, meinetwegen nicht Ameisen«, stimmte er zu. »Dann nehmen wir eben Schmetterlinge, die zum nächtlichen Lagerfeuer der Holzfäller geflogen sind.

Paßt Ihnen dieser Vergleich, mein weiser Freund?«

»Auch die Schmetterlinge passen mir nicht.«

»Wie wollen Sie uns denn sehen, Eli?«

»Als Kaninchen, Pawel.«

»Als Kaninchen? Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Ja, Kaninchen. Versuchskaninchen, so wurden jene armen Tiere genannt, an denen unsere Vorfahren medizinische Experimente anstellten.«

»Sie sind der Meinung, wir wären ein Versuchsobjekt der Ramiren? Sie experimentierten mit uns?«

»Jedenfalls bemühen sie sich, uns für ihre Experimente zu benutzen.«

Er sagte nachdenklich: »Ein interessanter Gedanke, Eli, aber er muß bewiesen werden.«

Das tat ich. »Die Ramiren haben das erste zum Kern entsandte Geschwader sofort vernichtet«, erklärte ich. »Allans und Leonids Schiffe störten die Ramiren irgendwie und wurden deshalb durch den todbringenden Strahl bestraft, allerdings war er schwächer als der, der die , Stier‘ ereilte, nur die Besatzungen kamen um, die Schiffe blieben erhalten. Die jämmerlichen Ameisen wurden beiseite gefegt, von den Raupenketten der Bulldozer zerquetscht, auch so läßt sich Ihr Vergleich verwenden, Pawel. Doch bei der zweiten Expedition zum Kern verhielten sich die Ramiren anders. Mit uns machten sie ebenfalls nicht viele Umstände, als die ,Stier‘ die von ihnen geschaffene Struktur in der Ansammlung der Untergehenden Welten verletzte, aber sie dachten nicht daran, mit der ,Schlangenträger‘ und mit der , Steinbock‘ ab zurechnen. Sie begannen, sich für uns zu interessieren, uns zu beobachten. Sie schleusten Oan bei uns ein – Spion, Späher und Verbindungsapparat-, seine Funktion ist auch ohne beleidigende Bezeichnungen klar. Wahrscheinlich hatten wir ihr Interesse erregt, weil es uns gelungen war, Oan zu retten, und uns das Problem der Zeittransformation bewegte. Für sie stiegen wir im Rang.«

»Von Ameisen zu Kaninchenmeinen Sie das?«

»Pawel, ich habe Ihnen einmal gesagt, daß ich mich bemühe, das Koordinatensystem meines Denkens zum Denksystem der Ramiren umzubilden. Ich will die Welt mit den Augen unserer Gegner sehen, sofern sie wie wir mit Augen sehen, was sehr zweifelhaft ist.

Stellen Sie sich vor, wir, die Menschheit, wären eine Million Jahre älter, und während dieser tausend Jahrtausende hätten wir uns unaufhörlich vervollkommnet…«

»Eine geradezu unvorstellbare Macht und Stärke!«

»Ja, Pawel. Schon jetzt sind wir in der Lage, Planeten umzugestalten, zu schaffen und zu vernichten.

Was wird nach einer Jahrmillion intensiver Entwicklung sein? Werden wir nicht den Wunsch haben, nicht nur in einzelnen Sternsystemen aufzuräumen, auch nicht nur in Sternhaufen, sondern in der Galaxis überhaupt? Die Galaxis ist krank. Die Hauptmasse ihrer Sterne befindet sich im Kern, und der ist instabil. Er ist einer Explosion nahe. Sind uns nicht die Quasare bekannt, die sternähnlichen Galaxien, die eine Katastrophe durchgemacht haben, in der alle Formen von Leben und Vernunft vernichtet wurden, sofern sie dort existierten? Wir, die wir nach einer Million Jahren so mächtig wären, würden uns mit dem Balancieren am Rande des Untergangs nicht abfinden. Wir würden uns bemühen, den gefährlichen Prozeß zu stoppen, die Sternansammlung im Kern zu lichten, die Sternsysteme, die für vernunftbegabtes Leben reif sind, auszusuchen und so weit wie möglich von der Gefahr wegzubringen, um die Sternstruktur in der Umgebung des Kerns zu verändern.«

»Ich darf erinnern, lieber Eli, daß ich über eben dies auf der Konferenz gesprochen habe, wo Sie eine zornige Selbstanklage erhoben.«

»Richtig, darüber haben Sie gesprochen. Und nun stellen Sie sich vor, wir Mächtigen hätten festgestellt, daß nur die Beherrschung des Zeitverlaufs eine sichere Garantie gegen die Katastrophe sei. Und daß sich die natürlichen Metamorphosen der Zeit in den Sternenprozessen des Kerns von selbst verwirklichten.

Doch es will uns nicht gelingen, die Zeit zu beherrschen. Es gelingt uns nicht, sosehr wir uns auch anstrengen! Wir versuchen, sie im Innern der kollabierenden Sterne zu fassen, immerhin die zweitgrößte Katastrophe nach einer möglichen Explosion aller Sterne im Kern! Nein, auch hier klappt es nicht. Und plötzlich dringen in unsere Sternenreiche irgendwelche Fremdlinge ein, irgendwelche Ameisen, stellen ihre Gesetze auf, stören frech unsere Arbeit zur Sanierung des Kerns. Da fegen wir sie doch kurzerhand aus dem Weg, und fertig!«

»Ich wage zu bemerken, lieber Admiral, daß Sie bislang nichts Neues…«

»Warten Sie, Pawel! Da meldet unser Spion, die Ameisen hätten eine seltsame Zivilisation, eine Maschinenzivilisation, sie gleiche der unseren nicht, und in ihren Mechanismen werde die Zeit, einstweilen noch auf atomarem Niveau, eine Mikrozeit, mühelos verdichtet und verdünnt, sie ändere dort ihr Vorzeichen, sogar die Phasengeschwindigkeit. Oho, höchst interessant, würden wir sagen, die wir durch Jahrmillionen hindurch mächtig sind, aber vor den Schwierigkeiten der Zeitbeherrschung passen. Sollen sie, sollen sie sich abstrampeln, würden wir beschließen, die wir allmächtig sind, jedoch kein menschliches Herz haben, kein schlichtes menschliches Erbarmen für die in Not geratenen Ameisen…«

»Eine sehr wichtige Bemerkung, Eli!«

»Ja, Pawel. Die Gleichgültigen diese Bezeichnung haben Sie geprägt! Das Weitere ist klar. Während wir mit der Zeit im Kollapsan experimentierten, experimentierten sie mit uns. Wir wollten aus dem Kern fliehen, sie ließen uns nicht fort. Und um uns zu zwingen, die Forschungen zu beschleunigen, stürzten sie uns seelenruhig und unbarmherzig in die Vibration der Zeit. Nach dem Prinzip: Überleben sie es nicht, zum Teufel mit ihnen, Versager brauchen uns nicht leid zu tun! Überleben sie es, so ist das ein Erfolg! Mal sehen, mal sehen, wie diese Kreaturen mit den Schwierigkeiten fertig werden, vielleicht läßt sich dies und das von ihren Tricks verwenden. Ach, haben sie sich doch herausgerappelt? Haben sie es fertiggebracht, die Zeit phasisch zu krümmen? Sie wollen aus dem Ring der Gegenzeit dem Kern entschlüpfen? Das muß man sich doch mal näher ansehen; mögen sie entschlüpfen, ihre Erfahrung wird uns zustatten kommen, wenn es notwendig wird, neue Schübe von Sternen aus dem Kern hinauszuschaffen. Also gleiten die Fremdlinge durch die Anderszeit, frei von allen Kataklysmen des Kerns, denn ihre Zeit ist eine andere im Vergleich zu der Zeit jedes auf sie zufliegenden Sterns, denn sie sind im Kern und doch außerhalb des Kerns – sehr, sehr interessant! Dies und das von ihren Funden läßt sich verwenden. So stelle ich mir unser Verhältnis zu den Ramiren vor, Pawel.«

»Diese Vorstellung ist eine Garantie für unsere Rettung, Eli. Wir können sie als durchaus befriedigend ansehen.«

Ich stand auf. Mir war so beklommen vor Erregung, daß ich mir Bewegung verschaffen mußte. Nervös ging ich im Zimmer auf und ab, während Romero mich erstaunt beobachtete. Er hatte die Situation richtig eingeschätzt, konnte aber meine Einstellung nicht verstehen.

»Nein, Pawel, tausendmal nein! Die Lage ist empörend, sie ist nicht im mindesten befriedigend. Weder werde ich mich damit abfinden, daß man uns die erbärmliche Rolle von Ameisen zuerkennt, die aus Gleichgültigkeit vernichtet werden, noch mit dem wohlwollenden Interesse an uns als Versuchskaninchen, die man kaltblütig schwersten Bedingungen aussetzt, um großmütig zu beobachten, ob es ihnen trotzdem gelingt, die auferlegte Prüfung zu bestehen!«

»Was verlangen Sie von den Ramiren, Admiral?«

»Gleichberechtigung! Mit weniger bin ich nicht einverstanden!«

Er schüttelte skeptisch den Kopf. »Ich fürchte, man wird uns nicht fragen, ob wir einverstanden sind. Werden Sie es schaffen, den Ramiren Ihre Entschlossenheit zur Kenntnis zu bringen?«

»Ich werde Wege suchen.«

Er schwieg eine Weile und sagte lächelnd: »Jeder hat seinen Grund zur Aufregung, Eli. Sie haben triftige Gründe, ich habe geringfügige. Wissen Sie, was mir Sorge bereitet?«

»Sicherlich ist das nichts Geringfügiges!«

»Eine regelrechte Bagatelle, Eli. Wir nähern uns unserer Vergangenheit. Die Schiffsmaschine stellt die Prognose, wie wir in sie eintreten werden. Wozu die Prognose? Eine Prognose der Vergangenheit! Man überlege sich das! – Ist das nicht ungeheuerlich?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Die Vergangenheit liegt in der Zukunft, Eli! Man muß sie vorhersagen, erinnert sich ihrer nicht. Wissen Sie, ein Schriftsteller der alten Zeit, ein ernsthafter Mensch, der sich selten einen Scherz erlaubte, spöttelte einmal über eine berühmte Prophetin, indem er erklärte, sie prophezeie die Vergangenheit und das sei doch ein unnützes Unterfangen. Wir hingegen sind darauf angewiesen, daß uns die Vergangenheit prophezeit wird, und das ist kein nutzloses Unterfangen, sondern eine schwierige Aufgabe sowohl für die Schiffsmaschine als auch für unsere eigenen Gehirne!

Und es steht noch nicht fest, ob es uns glücken wird, die eigene Vergangenheit vorherzusagen!«

Und dennoch begriff ich nicht, warum sich Romero so aufregte. Die Schiffsmaschine und Grazi, der sie leitete, waren dem Problem durchaus gewachsen.

12

Wir sind schon aus dem Kern heraus.

Ringsum ist der normale Kosmos-Dutzende von Lichtjahren trennen Stern von Stern, und wenn man einmal einen Sternhaufen trifft, so sind auch dort die Gestirne Lichtmonate, wenn nicht gar Lichtjahre voneinander entfernt. Und kein einziger Stern rast auf seinen Nachbarn, sie wirken nicht mehr wie umherspritzende Splitter einer Explosion, friedlich ruhen sie in festen Koordinatenknoten, die durch ihre gegenseitige Anziehung bestimmt sind. Die Gravitation – Fluch des Kerns – tritt hier wieder als fürsorgliche und kluge Herrin in Erscheinung, die Ordnung im Kosmos schafft, als begeisterte Dirigentin, die eine erhabene Sternensymphonie dirigiert.

Ich ging zu Oleg.

Er saß vor dem Flugschreiber. Auf dem Bildschirm des Geräts wurde die Landschaft der Welt um uns unaufhörlich mit den Aufnahmen von der Umgebung des Kerns verglichen, die gemacht wurden, als wir zu ihm flogen. Noch fehlte die Übereinstimmung, doch der Unterschied wurde mit jedem Tag geringer. Wir näherten uns unserer Welt in unserer Zeit. Grazi hatte kürzlich verkündet, der Phasenwinkel, der uns von unserer Zeit trenne, mache jetzt weniger als zehn Grad aus. Und das, nachdem er einmal hundertachtzig Grad betragen hatte!

Ich deutete auf den Flugschreiber und sagte: »Wir sind wie ein Hund, der seinem Schwanz nachjagt.«

Oleg lächelte. »Ich würde mich nicht so derb ausdrücken. Wir ereilen den eigenen Schatten. Es geht auf Mittag zu, und er wird kürzer. Bald, bald liegt der Schatten unseres Kopfes zu unseren Füßen! Orlan und Olga vermindern die Gravitation im Kollapsan, wir brauchen die Zeit nicht mehr so stark zu krümmen. Wir stürzen nicht in die zurückgelassene Zeit, sondern gleiten in sie hinein.«

»In welchen räumlichen Punkt unserer Zeit? Romero beschäftigt die genaue Prognose der Vergangenheit außerordentlich…«

»Nach Olgas Berechnung ungefähr beim Ausgang aus den Untergehenden Welten.«

»Ein vortreffliches Plätzchen. Hoffentlich geraten wir nicht noch einmal in den Kern!«

Ich unterhielt mich eine Weile mit Oleg und verließ ihn dann. Ich fand keine Ruhe. Mary suchte jeden Morgen ihr Labor für Astrobotanik auf, wo sie neue Gewächssorten für leblose Planeten züchtete. Romero schrieb die Einzelheiten der Reise nieder. Ich verkürzte mir die Zeit mit Spaziergängen. Und es tröstete mich nicht, daß ich mir nicht meine, sondern die Anderszeit verkürzte.

Ich stieg zum Konservierungsraum hinab. Der Sessel stand vor Oans Sarkophag. Ich setzte mich und sagte: »Weißt du, Oan, ich frage mich immer öfter, wer ihr wohl seid, ihr Ramiren! Zweifellos seid ihr nicht wesenhaft. Desgleichen ist mir unklar, ob ihr Leben seid oder tote Materie, die sich selbst so weit organisierte, daß sie vernünftig wurde. Wahrscheinlich seid ihr leblose Vernunft, Materie, die sich ohne Beteiligung von Eiweiß Selbsterkenntnis schuf. Etwas in der Art unserer Schiffsmaschine, aber von kosmischem, nicht Laboratoriumsmaßstab. O nein, ich will euch nicht beleidigen, zumal ich überzeugt bin, daß euch ein Gefühl wie Beleidigtsein, das nur lebendige Organismen kennen, fremd ist. Was ich sagen will, Oan? Nun, daß ihr ein denkender Planet seid, eine denkende Ansammlung von Planeten, vielleicht sogar ein Gehirn in Sterngestalt, wer kennt euch denn? Ich bin kein naiver Dummkopf, der meint, daß nur die Zellen seines Gehirns denkfähig seien, nein, ich verstehe, daß man die Kunst zu denken auch entwickeln kann, ohne zu einem winzigen kurzlebigen Gehirn Zuflucht zu nehmen, das in einer zerbrechlichen Schädelschale steckt. Vielleicht ist es sogar einfacher, als ganzer Planet zu denken. Und effektiver! Außerdem kann man aus seinem Material, wie wir Statuen aus Lehm formen, beliebige lebende Gegenstände herstellen, so etwas wie dich, Oan, und, mit ihm Verbindung haltend, in ihnen und vermittels ihrer denken.

Alle Ramiren oder der ganze Ramir denkt in dir! Eine interessante Schlußfolgerung, die ich da ziehe, nicht wahr? Nicht für sich allein denken wie ich, sondern für alle! Irre ich mich nicht? Übrigens, könntest du mir vielleicht erklären: Die Zerstörer und die Galakten glauben, daß ihr einst den Perseus bewohntet und eure Spezialität die Schaffung von Planeten war.

Handelte es sich bei dieser Planetenschaffung nicht einfach um Vermehrung? Und als ihr zum Kern gingt, ließt ihr uns eure Körper, denen ihr die Vernunft entzogen hattet, zur Besiedlung zurück? Eure Vernunft in Planeten – oder sogar Sternenform verlagerte sich in einen Gefahrenbrennpunkt, den ihr unbeirrt wittertet, während eure zurückgelassenen Körper von den Demiurgen und den Galakten und nun auch von uns Menschen genutzt werden. Wenn es an dem ist, dann sind wir in gewisser Weise Verwandte, zumindest eure Erben. Aber ist es so?«

Ich schwieg eine Weile, denn ich hatte die leise Hoffnung, er werde antworten. Aber Oan schwieg teilnahmslos in seiner ewigen Unbeweglichkeit. Ich fuhr fort: »Also, Entwicklung eines Typs von Planetenvernunft oder etwas noch Absonderlicheres. Von unserem Standpunkt aus, von unserem!

Wenn ich mein Koordinatensystem des Denkens in euers umwandle, dann finde ich sofort eine Invarianz: die Absonderlichkeit. Ihr scheint uns absonderlich, wir euch.

Aber schon unsere Eigenheit, Maschinen zu bauen, ist nicht invariant. Ich bin überzeugt, daß ihr keine Maschinen herstellt. Warum sonst mußtet ihr euch das altertümliche Sternenflugzeug der Aranen beschaffen, dieses Rudiment ihrer entartenden Zivilisation? Und warum beobachtet ihr voller Interesse, wie wir unsere Phasenzeitgeneratoren bauten? Denn ihr habt uns beobachtet, und voller Interesse! Darin sind wir euch voraus, ihr Mächtigen! Die Aufgabe, die ihr nicht löst, lösen wir. Sehr wenig von dem, wozu ihr fähig seid, wird von uns bewältigt. Aber in diesem und jenem überflügeln wir euch. Zieht die Schlußfolgerung daraus, ihr Großen. Welche Schlußfolgerung wir für uns ziehen, werde ich euch gleich erklären!«

Wieder machte ich eine Pause, und wieder sprach ich: »Wir sind also sehr verschieden. Ihr seid denkende tote Materie, wir sind denkende Organismen. Äußerlich sind wir nicht vergleichbar. Eine riesige Ansammlung von Materie, eine Versammlung von Planeten und Sternen, die als eine einheitliche Vernunft denken, in jedem Teil denkt das Ganze, sogar in solch einem, wie du es bist, Oan! Und winzige Körper, die nur für sich denken, von unsichtbaren starken Banden zu einem Kollektiv vereint, aber trotzdem Individuen. Ihr habt uns hochmütig mißachtet. Die Leiden toter Materie empfindet ihr zutiefst. Was scheren euch unsere besonderen Qualen und Bedürfnisse?

Ein Stein auf dem Wege, und wir, die wir den Weg beschreiten, sind für euch gleichwertig, ihr zieht uns nicht vor. Wenn ihr Dulder seid, dann nur für die ganze Welt, für die Sterne und die Bäume, die Planeten und die Menschen, die Ansammlungen von Gestirnen und die Ansammlungen von Pilzen und Gräsern gleichermaßen. Ihr seid gleichgültig, so hat euch mein Freund definiert. Er hat sich trotz allem geirrt. Die Schicksale der Welt sind euch nicht gleichgültig. Gleichgültig sind euch unsere besonderen Interessen, die Bedürfnisse von Lebewesen, die Belange der individualisierten Vernunft. Ihr seid gleichgültig gegenüber dem lebendigen Leben, das ist euer Verhältnis zu uns. Sehr zu Unrecht, ihr Mächtigen!

Hier macht ihr einen großen Fehler! Ich werde ihn euch zeigen.«

Ich legte wieder eine Atempause ein. Die Leidenschaft riß mich fort. Ich wollte nicht, daß meine Stimme zitterte.

»Ja, ich bin ein winziger Organismus, eine Ameise im Vergleich zu euch, weniger als eine Ameise. Aber in mir ist das ganze Weltall! Das ist es, was ihr nicht begreift! Mein winziges Gehirn ist fähig, l060 Kombinationen zu bilden, viel mehr, als es im Kosmos materielle Teilchen und Wellen gibt. Und jede Kombination ist ein Bild: Erscheinungen, Ereignisse, Teilchen, Wellen, Signale. Alles, was im Weltall entstehen kann, findet in mir seine Widerspiegelung, wird ein bildhaftes Duplikat des realen Objekts außerhalb meiner, wird ein Teilchen meines kleinen ,Ich’. Ich bin ein Spiegel der Welt, denkt darüber nach. Ja, stofflich bin ich ein geringfügiges Teilchen des Weltalls, geistig jedoch, in meinem Denken bin ich ihm gleich, denn ich bin genauso unendlich, genauso unerschöpflich. Ihr beurteilt mich nach der Masse meines Stoffes, nach meiner geringfügigen Anziehung für andere stoffliche Körper, und wendet euch verächtlich ab. Verrechnet euch nicht, ihr Kurzsichtigen. Beurteilt mich nach der Stärke meiner Bindungen, der stofflichen und geistigen, durch die ich mit der ganzen Welt verflochten bin. Dann werdet ihr erstaunt feststellen, daß ich, obwohl klein, genauso groß wie das Universum bin. Und daß in jedem von uns das ganze Universum ist, denn jeder ist die Erkenntnis des Universums, dessen Selbsterkenntnis! Denn ich bin das Leben, und jeder von uns ist das Leben! Und das Leben ist die größte aller Merkwürdigkeiten der Natur.

Nein, nicht in der toten Materie schafft sich die Natur neu,‘ sie wirft sich lediglich weiter auseinander in dem toten Stoff, nur einzelne Ansammlungen gleich euch erlangen Vernunft. Aber in jedem lebenden Individuum schafft sich das ganze Universum neu. Wir sind das Bild seiner Einheitlichkeit, wir sind seine Selbsterkenntnis in ganzer Breite, ganzer Tiefe! Dem müßt ihr Rechnung tragen!«

Ich machte wieder eine Pause und sprach dann weiter. »Denkt auch über folgendes nach: Ihr seid, soviel ich verstehe, die Stabilität der Welt, ihre Aufrechterhaltung, ihr Schutz vor einer Katastrophe im Feuer der entfesselten Elemente. Ihr seid das Beharrungsvermögen der Welt, das ewige Gleichgewicht seiner Gesetze. Wir sind die Entwicklung der Welt, die Durchbrechung ihres Beharrungsvermögens. Wir, das Leben, die Zukunft der Welt! Wir, das Leben, das revolutionäre Prinzip in der inerten Natur. Wir, das Leben, einstweilen eine winzige Kraft im Weltall, ein unbedeutendes Feld unter Tausenden von anderen Feldern. Aber auch die einzig wachsende Kraft, wachsende, nicht einfach erhaltende. Wir sind an der Peripherie der Galaxis ins Dasein getreten und bewegen uns auf ihr Zentrum zu. Wir dehnen uns stürmisch aus, vermehren uns schnell. Wir haben einen anderen Zeitmaßstab, eure Sekunde ist unseren Jahrtausenden gleichwertig. Wir, das Leben, die Explosion in der inerten Materie! Das Universum ist vom Leben infiziert, das Universum verändert sein Gesicht! Ich sage euch, wir sind die Zukunft der Welt. Ob ihr es wollt oder nicht, dem müßt ihr Rechnung tragen! Das Feld des Lebens ordnet sich unvermeidlich alle übrigen Felder der toten Natur unter, unterwirft sich deren Elemente. Ist es nicht Zeit, daß wir uns vereinigen, die alte Vernunft der Stabilität und die junge Macht des Lebensschwungs? Selbst wenn meine Kameraden und ich nicht in unsere Zeit gelangen und umkommen, hört das Leben nicht auf. Wir sind nur Atome des lebendigen Weltallfeldes, nicht mehr. Ihr strebt nach Harmonie, stabilisiert sie, doch die höchste der Harmonien in der Natur ist das Leben, und bald wird es auch das höchste ihrer Elemente sein, ein Element der Harmonie gegen das Element der blinden Elemente. Und sollten wir, die Bewohner eines kleinen Sternenflugzeugs, sterben, so seid ihr uns doch nicht los.

Zu euch kehren unsere Nachfahren zurück, die besser ausgerüstet sind, die mehr wissen. Das Leben breitet sich rasch über das Weltall aus, die lebendige Vernunft unterwirft sich die Materie, sprengt die Trägheit der einförmigen, sich selbst stets gleichen Existenz, an deren Ende die Katastrophe im Kern steht. Als Ersatz für die Gesamtheit der Einförmigkeit bringen wir ein neues lebenspendendes Prinzip in die Natur ein, die Zunahme der Eigentümlichkeiten, die Gesamtheit der Unähnlichkeiten. Denn uns, die Sternenbrüder, eint ein Gemeinsames, wir sind eigentümlich, wir sind vernünftig, wir sind gut zueinander. Auch ihr und wir wollen gut zueinander sein!«

Ich trat zu Oan, blickte ihn lange an.

»Nun verschwinde, Oan«, sagte ich. »Deine Mission ist beendet. Ich bin sicher, du kannst sein und nicht sein. So verschwinde! Ich bin ein Mensch schon mächtig und noch nicht vollkommen. Ich bin die Jugend der Welt, ihr Drang ins Unbekannte, nicht aber die inerte Weisheit der ewigen Selbsterhaltung.

Ich habe es nicht gelernt, alles augenblicklich und vollständig zu verstehen. Ich muß überlegen, ich brauche Zeichen und Signale. Verschwinde! Das soll für mich das Zeichen sein, daß ich verstanden worden bin.«

Im Konservierungsraum erklang der Ruf an mich:

»Admiral Eli in den Kommandeursaal! Admiral Eli in den Kommandeursaal!« Ich ging hinaus.

13

Im Kommandeursaal hatten sich alle Freunde versammelt -Oleg, Oshima, Kamagin, Olga und Orlan.

Oleg wies auf die Sternenbildschirme. »Eli, weißt du, wo wir sind?«

Das Bild kannte ich so gut, daß ich begeistert rief:

»In den Untergehenden Welten!«

»Am Rande der Ansammlung«, bestätigte Oleg.

»Dort, wo die Untergehenden Welten in den offenen Kosmos übergehen. Die alte und die neue Umgebung stimmen im Flugschreiber absolut überein. Wir sind genau an der Stelle, die wir seinerzeit verlassen haben.«

Fragend blickte ich Olga an. »Seinerzeit verlassen haben… In welche Zeit sind wir zurückgekehrt?«

»In unsere«, antwortete sie. »Die, die in unserer Welt mit Nullphasengeschwindigkeit verläuft. Wir existieren wieder in der eindimensionalen und einsinnig gerichteten Zeit, der, die immer von der Vergangenheit zur Zukunft fließt.«

»Du hast mich nicht verstanden, Olga. Unsere Zeit… Aber welche? Die vergangene oder die künftige? Sind wir früher als wir, da wir diese Ansammlung verließen, oder später?«

»Wir sind um ein irdisches Jahr später zurückgekehrt. Unsere Irrfahrten im Kern, unsere Flucht auf dem Ring der Gegenzeit haben laut den Schiffschronometern insgesamt ein Jahr in Anspruch genommen.«

Das Gespräch unterbrach Grazi. Der Galakt meldete, die Analysatoren hätten die beiden von uns zurückgelassenen Frachten-Sternenflugzeuge entdeckt.

Sie seien noch weit von uns entfernt, doch es bestehe kein Zweifel, daß beide Schiffe die Säuberung des Raums unbeschädigt fortsetzten.

»Wir sind um ein Jahr gealtert, die Untergehenden Welten aber um ein Jahrhundert jünger geworden«, sagte Oleg. »Das System der Drei Staubigen Sonnen erhält die verlorene Transparenz und Helligkeit wieder.«

In den Kommandeursaal kam der aufgeregte Romero gestürzt. Er war so bleich und verstört, daß wir auffuhren.

»Oleg! Eli!« Das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich war im Konservierungsraum, wollte sehen, wie unsere Toten den Übergang auf dem Ring der Gegenzeit überstanden haben. Und da sah ich… Ein Wunder, Freunde!«

Ich unterbrach ihn. »Wunder gibt es nicht. Wollen Sie sagen, Oan sei verschwunden?«

»Ja, genau das! Der Sarkophag ist unbeschädigt, die schließenden Felder sind vorhanden, aber von Oan ist keine Spur zu finden! Wenn das kein Wunder ist, Eli…«

Ich nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu dem freien Sessel. »Beruhigen Sie sich, Pawel. Kein einziges Naturgesetz ist verletzt. Uns ist einfach ein Zeichen gegeben worden, daß wir noch einen Ring geschlossen haben, keinen Zeitring diesmal, sondern einen Ring des gegenseitigen Einvernehmens, von Bekanntschaft über Feindseligkeit, Kampf, Interessiertheit aneinander zu Freundlichkeit.«

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