Teil 3

34

Von oben betrachtet sahen die blauen Seen Sis wie glitzernde, auf silberne Fäden gezogene Juwelen aus. Der See, auf den Auraya zusteuerte, war wie eine Mondsichel geformt. Als sie genauer hinschaute, bemerkte sie kleine Boote auf dem Wasser. Zuerst war sie erstaunt gewesen zu entdecken, dass die Siyee sich ebenso gut auf das Segeln und Fischen verstanden wie die Landgeher. Sie waren ein Volk des Himmels, aber das bedeutete nicht, dass sie kein Boot zu steuern und kein Netz einzuholen wussten.

Ungewöhnlicher war der Anblick des flachen, bebauten Landes um den See herum. Der Stamm vom Blauen See lebte ein gutes Stück landeinwärts von der Grenze zu Si und hatte es daher nicht nötig gehabt, sein bebaubares Land von den torenischen Siedlern zurückzufordern. Es schien, als sei der Wald in diesem Gebiet schon vor langer Zeit gerodet worden, um Getreide anbauen zu können. Die Reihen waren dunkelgrün von dem belaubten Wintergetreide, das die Siyee in jedem Herbst aussäten, um den Boden zu verbessern.

Während der vergangenen zwei Monate hatte Auraya beobachtet, wie sich das Land und seine Bewohner für den Winter rüsteten. Nahrungsvorräte wurden sorgfältig gelagert, Lauben wurden instand gesetzt und warme Kleider gewebt. Die Lauben hier waren nicht um Bäume in der Mitte herumgebaut, um Festigkeit zu erhalten. Sie flog auf die größte der Lauben zu, weil sie vermutete, dies sei ein Versammlungsort oder zumindest das Haus des Dorfsprechers.

Man musste sie wohl gesehen haben, da im nächsten Moment Pfiffe die Luft erfüllten und etliche Siyee von den Feldern und aus den Lauben auf sie zukamen. Sie steuerten auf eine hölzerne Plattform zu, daher änderte auch sie jetzt ihre Richtung.

Als sie landete, wurden Pfiffe und Willkommensrufe laut. Zu ihrer Erleichterung machte der größte Teil des Stammes einen guten Eindruck. Der Sprecher kam aus der großen Laube, die, wie Auraya in seinen Gedanken las, ein Lagerraum für die Erzeugnisse des Stammes war.

»Willkommen im Dorf vom Blauen See, Auraya von den Weißen. Ich bin Sprecher Dylli.« Der Stammesführer nahm einen Becher Wasser von einer der Dörflerinnen entgegen, dann den traditionellen Begrüßungskuchen von einer anderen und reichte beides an Auraya weiter.

Sie aß den Kuchen und nippte an dem Wasser. »Ich bin froh, festzustellen, dass ihr alle einen gesunden Eindruck macht.«

Die Miene des Sprechers wurde ernst. »Wir trauern um neun Stammesmitglieder, Frauen und Kinder, aber wir hätten viel mehr Menschen verloren, hätten wir nicht deinen Rat befolgt, wie wir verhindern können, dass die Krankheit sich ausbreitet. Und natürlich hat uns der Traumweber geholfen.«

Auraya lächelte. »Wilar. Ich hatte gehört, dass er in euer Dorf reisen würde, was der Grund ist, warum ich nicht früher gekommen bin. Ihr seid in guten Händen. Ich würde ihn gern sehen.«

»Dann werde ich dich zu ihm bringen.«

Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und führte sie von der Plattform weg. Als er ihren neugierigen Blick auffing, lachte er leise.

»Die meisten Stämme leben auf Bäumen oder auf unebenem Grund wie im Offenen Dorf. Unser Land hier ist flach. Für die Ältesten unter uns ist es recht anstrengend, sich vom Boden zu erheben, daher haben wir diese Plattform für sie gebaut.«

Auraya nickte. Obwohl die Siyee sich in die Luft erheben konnten, indem sie Anlauf nahmen und hochsprangen, kostete diese Methode doch viel Energie. Es war leichter, sich von einem Ast oder einem Kliff fallen zu lassen, insbesondere für die älteren Menschen. Die Plattform erfüllte denselben Zweck.

Die Menge schloss sich ihnen an, und vor allem die Kinder plapperten munter drauflos. Am Rand der Felder waren drei neue Lauben errichtet worden. Die Erwachsenen in der Menge blieben mehrere Schritte davon entfernt stehen und befahlen den Kindern, bei ihnen zu bleiben. Auraya und der Sprecher setzten ihren Weg fort.

»Ich bin nicht krank gewesen, daher muss ich mich fernhalten«, sagte er. »Bitte, grüße Traumweber Wilar von mir.«

Sie lächelte und nickte. »Ich werde deine Grüße ausrichten. Wenn ich euch irgendwie helfen kann, werde ich es tun.«

Er neigte zum Dank den Kopf. Sie wandte sich ab und ging zu der Laube hinüber, wobei sie sich Zeit ließ, um die Gedanken der Menschen darin zu lesen. Nach dem gesunden, fröhlichen Eindruck, den der Rest des Stammes gemacht hatte, waren das Unbehagen, der Schmerz und die Furcht der kranken Siyee ein Schock. Einen Moment später fand sie, wonach sie gesucht hatte: das Bewusstsein eines Siyee von der Anwesenheit des Mannes, den sie selbst nicht wahrnehmen konnte. Sie blieb vor der Laube stehen.

»Darf ich hereinkommen?«

Es folgte eine Pause, dann antwortete eine vertraute Stimme: »Natürlich, Auraya.«

Beim Klang seiner Stimme wurde ihr leichter ums Herz. Sie schob den Türbehang beiseite und trat in einen schwach beleuchteten Raum. Zwischen einem dicken Pfosten in der Mitte und den Außenbalken der Laube hingen, jeweils zwei auf einer Seite, vier Betten. Neben einem der Betten stand Leiard und fütterte eine Frau mit einer Flüssigkeit aus einer Schale. Er blickte einmal zu Auraya hinüber, dann setzte er seine Arbeit fort.

»Sieh dich ruhig um«, lud er sie ein.

Sie ging von Bett zu Bett und untersuchte jeden der Patienten. Sie befanden sich im schlimmsten Stadium der Krankheit, aber ihre Körper kämpften dagegen an, und sei es auch noch so mühsam.

»Diejenigen, die bereits auf dem Weg der Besserung sind, sind in der Laube zu unserer Linken untergebracht, und die Übrigen, deren Körper der Krankheit keinen Widerstand leisten können, befinden sich in der anderen«, murmelte Leiard.

Als sie seine Schritte hörte, blickte sie auf. Er ließ den Löffel und die Schale in ein großes steinernes Behältnis mit Wasser fallen, dann hielt er einen Moment lang inne, um das Wasser anzustarren. Es begann zu dampfen und schließlich Blasen zu werfen. Er ließ es schwach weiterköcheln, ging zur Tür und drehte sich zu Auraya um.

»Möchtest du mehr sehen?«, fragte er.

Als sie ihm nach draußen folgte und sie zu einer anderen Laube hinübergingen, bemerkte sie, dass eine Handvoll Siyee-Kinder sie aus einiger Entfernung beobachtete.

Auraya brauchte einen Moment, um die Szene zu erfassen. Im Gegensatz zu der ersten Laube fanden sich in dieser etliche Möbelstücke. Ein gesund aussehender Siyee saß im Schneidersitz in der Mitte des Raums und arbeitete an einem Pfeilgeschirr. Ein anderer saß vor einem Webstuhl und bediente ihn mit erstaunlicher Schnelligkeit. Zwei Frauen bereiteten Krüge mit eingekochten Früchten vor, und im hinteren Teil des Raumes spielten zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Als Auraya und Leiard eintraten, blickten sie alle auf.

Während Leiard sie vorstellte, wurde Auraya langsam klar, warum diese Menschen hier waren. Sie hatte kranke Siyee erwartet, aber die Bewohner dieser Laube waren offenkundig zur Gänze wieder genesen. Leiard hatte die Krankheit in ihren Körpern getötet, aber sie durften nicht wieder mit anderen Siyee zusammenkommen, weil sie sich dann möglicherweise erneut angesteckt hätten. Sie konnten jedoch weiterhin häusliche Arbeiten verrichten und sogar kochen.

»Wie lange müssen sie hierbleiben?«, fragte sie ihn, als sie die Laube verließen.

»Ich habe ihnen erklärt, dass sie gehen dürfen, sobald kein Mitglied ihres Stammes mehr krank ist. Ihnen ist klar, dass eine abermalige Ansteckung auch dann noch nicht ganz auszuschließen sein wird, aber sie können sich nicht für immer von den anderen fernhalten.«

Auraya nickte. »Wissen sie, welches Glück sie haben? Alle Bewohner des Offenen Dorfes und die Mitglieder anderer Stämme, die sich in dergleichen Situation befinden, sterben.«

Leiard zuckte zusammen und sah ihr in die Augen. »Wie viele sind es bisher?«

»Etwa einer von fünfen.«

Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann entfernte er sich ein Stück von der Laube und ließ sich stirnrunzelnd auf einen Holzklotz am Rand des Waldes sinken. Auraya setzte sich neben ihn und betrachtete sein Profil. Sein Gesicht war nicht mehr so zerklüftet wie früher, stellte sie fest, obwohl er noch immer Lachfältchen um die Augen hatte. Die Farbe in seinem Haar war an manchen Stellen ausgewaschen, und der ursprüngliche dunkle Blondton schimmerte hindurch.

»Ich bin hergekommen, um festzustellen, ob dein Angebot noch gilt«, begann sie. »Die Herzzehre ist inzwischen überall. Der Tribut ist zu groß. Ich komme gerade vom Tempelberg. Die Siyee dort waren nicht gerade der entgegenkommendste aller Stämme, und ihr Höhlensystem ist zu klein für so viele Leute. Sie leben auf zu engem Raum zusammen… Keine günstigen Bedingungen, um die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern.«

Er lächelte schief. »Nein.« Er wandte für einen Moment den Blick ab, dann drehte er sich wieder zu ihr um und kniff die Augen zusammen. »Also verbieten die Götter es nicht länger?«

»Nein. Aber ich darf deine Gabe der Heilung nur mit Erlaubnis der Götter benutzen. Und nur in Zeiten großer Not, wie wir sie jetzt haben.«

Er nickte. »Ein Kompromiss.«

Sie sah ihn an, doch ihr fehlten die Worte. Während der vergangenen Monate hatte sie in ihrer Verzweiflung Experimente an sterbenden Siyee durchgeführt, doch ohne Erfolg. Sie konnte eine Krankheit nicht töten, die sie nicht ohne weiteres als ein eigenes Wesen innerhalb des Körpers, den sie zerstörte, zu erkennen und fassen vermochte.

»Kannst du heute Abend zurückkommen?«, fragte Leiard. »Tyve ist unterwegs, um Heilmittel zu besorgen, und während wir arbeiten, wird er sich um die Kranken kümmern müssen.«

»Natürlich. Wie lange wird es dauern?«

Er zuckte die Achseln. »Das hängt davon ab, ob du in der Lage bist, die Vorgehensweisen und die dahinter stehenden Konzepte aufzunehmen, und wie schnell du sie anzuwenden lernst. Vielleicht eine Stunde. Vielleicht mehrere Nächte.«

Auraya nickte. »Es gibt noch einen Stamm, nach dem ich sehen muss, aber ich kann bis heute Abend zurück sein.«

»Also werden wir dann beginnen. Denk daran, dass nur wenige die notwendigen Ideen begreifen können. Es ist keine Frage der magischen Stärke, sondern der geistigen Fähigkeit. Vielleicht hast du diese Fähigkeit nicht.«

»Ich kann es nur versuchen«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Bisher hat es noch nie eine Gabe gegeben, die ich nicht erlernen konnte.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ist das so?«

»Ja.«

»Ich frage mich, was du tun wirst, wenn du scheiterst.«

»Versuchen, die Enttäuschung mit Würde zu tragen.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Das wird interessant zu beobachten sein.«

Sie sah ihm in die Augen. »Es könnte davon abhängen, ob du mich deswegen aufziehst oder nicht.«

»Glaubst du, ich würde das tun?«

»Ich weiß es nicht.«

Er lachte leise. »Ich werde danach trachten, mitfühlend zu sein.« Er erhob sich und blickte zu den Lauben hinüber. »Wenn du Zeit hast, werde ich dich der dritten Gruppe vorstellen. Sie befinden sich noch im Anfangsstadium der Krankheit. Unter ihnen ist eine Frau, die mehr über die medizinischen Pflanzen hier in der Gegend weiß als jeder andere, dem ich bisher begegnet bin. Ich denke, du wirst sie mögen.«

»Ja?«

»Vielleicht.«

»Dann lass uns gehen und es herausfinden.« Auraya stand lächelnd auf und folgte ihm zurück zu den Lauben.


Reivan lehnte an der Reling und betrachtete die fernen Berge von Si. Der Kapitän des Schiffes hatte sich während der letzten Tage in Sichtweite der Küste gehalten, eine Situation, die Reivan gleichzeitig beruhigend und ärgerlich fand. Es hatte etwas Verstörendes, so weit draußen auf See zu sein, dass man kein Land sehen konnte, aber der Anblick ebendieses Landes, trocken und still, war umso verlockender, wenn man keinen Fuß darauf setzen konnte, ohne zu riskieren, die Einheimischen gegen sich aufzubringen.

Sie rief sich ins Gedächtnis, welchen Empfang die Siyee den Götterdienern bereitet hatten, die nach Si gereist waren. Es war keine große Überraschung, dass das Himmelsvolk die Angebote von Frieden und Freundschaft, die die Pentadrianer brachten, nicht freundlich aufgenommen hatte.

Ich würde einen Besuch von Leuten, die meine Verbündeten angegriffen und viele Mitglieder meines Volkes getötet haben, auch nicht freundlich aufnehmen, ganz gleich, welche Absichten sie angeblich haben, dachte sie. Wenn die weiße Zauberin tatsächlich Gedanken lesen kann, muss sie herausgefunden haben, dass Friede nicht alles war, was die Götterdiener hier suchen sollten.

Reivan war geneigt, Nekaun zuzustimmen, dass der Versuch einer Bekehrung der Siyee sich für den Augenblick nicht lohnte. Wenn sie glaubten, sie seien von einem der zirklischen Götter erschaffen worden, würden sie die Vorstellung, dass ihr Schöpfer nicht real war und sie statt seiner den Fünf huldigen sollten, gewiss nicht mit Begeisterung aufnehmen.

Wie sind sie bloß auf diese Idee gekommen? Und wie sind sie wirklich entstanden?

Das Klatschen nackter Füße lenkte Reivans Aufmerksamkeit von ihren Überlegungen ab. Sie drehte sich um und sah sich Imi gegenüber, auf deren schwarzer Haut Wassertröpfchen glänzten, als sie auf sie zukam. Das Mädchen hatte während der vergangenen Monate ein wenig zugenommen. Es wirkte selbstbewusst und war nicht länger schwach, und auch das Schlingern des Schiffes brachte es nicht mehr so leicht aus dem Gleichgewicht.

»Sei mir gegrüßt, Reivan«, sagte Imi ernst.

»Sei mir gegrüßt, Prinzessin Imi«, erwiderte Reivan.

Das Mädchen hielt inne, dann grinste es. »Du hast mich bei meinem Titel genannt, weil ich gerade zu ernst war, nicht wahr?«

»Es ist dein Titel. Jetzt, da wir uns deiner Heimat nähern, sollte ich mich daran gewöhnen, dich damit anzusprechen.«

»Sind wir wirklich bald da?«, fragte Imi ängstlich. »Dann müssen wir schon weiter gekommen sein, als ich dachte.«

Reivan deutete mit dem Kopf auf die Berge. »Das ist Si. Ich rechne jetzt jederzeit damit, Siyee zu sehen. Wenn es so weit ist, können wir an Land gehen und sie bitten, uns… uns…«

»Den Weg zu weisen«, beendete Imi den Satz. Während der letzten Monate hatte Reivan genug von der Sprache der Elai gelernt, um Gespräche zu führen, aber ihr Wortschatz war noch immer begrenzt.

»Ja«, sagte Reivan. »Obwohl ich befürchte, dass die Siyee sich weigern werden, dir zu helfen, weil du mit uns hierhergekommen bist.«

»Warum sollten sie das tun?«

Reivan seufzte. »Wegen des Krieges.«

»Ah, ja.« Imi runzelte die Stirn. »Die Siyee sind Verbündete der Weißen Zauberer. Sie müssen die Pentadrianer als ihre Feinde betrachten.«

»Die Vierte Stimme Genza ist vor dem Krieg nach Si gereist, um so viel wie möglich über die Siyee in Erfahrung zu bringen, aber bevor sie herausfinden konnte, ob sie gute Verbündete abgeben würden oder nicht, haben die Weißen eine ihrer eigenen Zauberinnen hingeschickt. Diese Frau verfügt über eine ungewöhnliche Befähigung, die es ihr ermöglicht zu fliegen. Danach konnte Genza die Siyee nicht mehr auf unsere Seite ziehen.«

Imi blickte mit leuchtenden Augen auf. »Das ist dieselbe Zauberin, die nach Elai gekommen ist. Sie hat angeboten, die Plünderer für uns zu vertreiben, sofern wir als Gegenleistung ihrem Volk geholfen hätten.« Mit einem Mal weiteten sich ihre Augen. »Wenn wir darauf eingegangen wären, wären wir jetzt auch eure Feinde. Ich bin froh, dass Vater sie weggeschickt hat.«

Erregung stieg in Reivan auf. »Er hat sie weggeschickt?«

»Ja. Vater mag die Landgeher nicht. Er hat ihr nicht vertraut.«

»Glaubst du, dass er uns vertrauen wird?«

Imi zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber er wird glücklich sein, dass ihr mich zurückgebracht habt.« Sie kniff die Augen zusammen. »Hast du vor, ihn zu fragen, ob wir uns mit euch verbünden wollen?«

Die kluge Bemerkung des Mädchens entlockte Reivan ein schwaches Lächeln. »Vielleicht. Wir verbünden uns nicht mit jedem.«

Imi verzog die Lippen zu einem entschlossenen Lächeln. Reivan wandte den Blick ab und hoffte, dass ihre Miene ihre Erheiterung nicht verraten würde.

»Werdet ihr noch einmal versuchen, die Freundschaft der Siyee zu gewinnen?«, erkundigte sich Imi.

Reivan schüttelte den Kopf. »Wenn wir das tun, dann erst in ferner Zukunft. Die Siyee sind zu eingefahren in ihren Ansichten.«

»Es wäre gut, wenn ihr ein Bündnis mit ihnen eingehen würdet. Die Siyee und die Elai sind schon immer Freunde gewesen. Unsere beiden Völker haben mehr miteinander gemein als mit den Landgehern. Wir haben beide Probleme mit ihnen.« Sie hielt inne und dachte einen Moment lang nach. »Und wir sind beide von Huan erschaffen worden.«

»Die Elai glauben, sie seien von einem zirklischen Gott erschaffen worden?«, fragte Reivan und drehte sich um, um Imi forschend zu mustern.

Das Mädchen hob die Schultern. »Das ist es, was die Priester sagen.«

»Wie interessant.« Reivan hoffte, dass sie eher nachdenklich als erschrocken wirkte. Ihr Herz schlug jetzt ein wenig schneller. Hatte Nekaun das gewusst? Wenn er es gewusst hätte, hätte er bestimmt nicht geglaubt, dass es der Mühe lohnte, Imi nach Hause zu bringen, um die Elai auf ihre Seite zu ziehen.

Wenn Imi darüber nachgedacht hätte, hätten Nekaun oder Imenja davon erfahren. Wenn sie nicht Bescheid wissen, bedeutet das, dass Imi bisher nicht darüber nachgedacht hat – oder zumindest nicht in ihrer Anwesenheit. Trotz all der Dinge, die dem Mädchen widerfahren waren, konnte sein Geist sich während seines Aufenthalts im Sanktuarium nicht allzu oft ihrer Göttin zugewandt haben. Vielleicht war die Religion für die Elai nicht allzu wichtig?

»Betest du zu diesem Gott?«, fragte Reivan.

Imi rümpfte die Nase. »Nur, wenn die Priester mich dazu zwingen. Als ich noch klein war, habe ich immer gebetet, wenn ich etwas wollte, aber die Priester sagen, Huan habe zu viel zu tun, um dafür zu sorgen, dass kleine Mädchen die Geschenke bekommen, die sie sich wünschen. Also habe ich beschlossen, nur dann zu beten, wenn ich etwas Wichtiges brauchte.«

»Hast du gebetet, als du in Gefangenschaft warst?«

»Einige Male.« Imis Miene war bekümmert. »Ich schätze, ich war aus der Übung. Vater betet auch nicht viel – und manchmal macht er wütende Bemerkungen, wie zum Beispiel, dass Huan die Plünderer davon abhalten würde, sich auf unseren Inseln niederzulassen, wenn ihr wirklich etwas an uns gelegen wäre. Er sagt, sie habe uns schon vor Jahren im Stich gelassen.«

Reivan nickte mitfühlend. Sie öffnete den Mund, um Imi zuzustimmen, hielt dann jedoch inne. Wie konnte sie ihre Missbilligung über die Untätigkeit eines anderen Gottes äußeren – selbst wenn dieser Gott nicht existierte -, nachdem ihre eigenen Götter zugelassen hatten, dass ihr Volk im Krieg besiegt wurde?

»Die Götter sind rätselhaft«, sagte sie stattdessen. »Wir verstehen nicht immer, warum sie etwas tun – oder nicht tun. Sie betrachten die Welt etwa wie ein Vater oder eine Mutter. Manchmal erscheinen die Taten von Eltern einem Kind grausam und ungerecht, aber später begreift es dann, dass das Geschehene zu seinem Wohl war.«

Imi nickte langsam, und ihre Miene spiegelte starke Gefühle wider.

»Ah! Gesellschaft!«

Es war Imenja, die auf sie zukam und jetzt zum Himmel hinaufdeutete.

»Sie kommen her, um uns in Augenschein zu nehmen«, sagte sie.

Imi blickte in die Richtung, in die Imenja gewiesen hatte, und sog scharf die Luft ein. Im nächsten Moment sah auch Reivan fünf große Vögel auf das Schiff zuschweben.

Kein Vögel: Siyee.

»Du solltest dich besser verbergen, Imi«, sagte Imenja, als sie neben sie getreten war. »Wir wissen noch nicht, wie sie auf uns reagieren werden – oder auf die Tatsache, dass du dich mit uns zusammengetan hast. Lasst uns unsere Chancen, ihre Unterstützung zu gewinnen, nicht verringern.«

Das Mädchen ließ sich widerstrebend von der Frau in den Pavillon in der Mitte des Schiffes führen. Kurze Zeit später kehrte Imenja an Reivans Seite zurück. Die Siyee waren jetzt so nahe, dass Reivan die Ovale ihrer Gesichter erkennen konnte.

»Imi hat mir gerade erzählt, dass die Elai ebenso wie die Siyee glauben, die zirklische Göttin Huan habe sie erschaffen«, bemerkte Reivan.

»Ich weiß«, erwiderte Imenja.

»Du weißt es?«

»Natürlich.«

»Dann überrascht es mich, dass Nekaun uns gestattet hat, diese Reise zu machen.«

Imenja lachte leise. »Nekaun hat keine Ahnung davon.«

Reivan sah Imenja erstaunt an. Nekaun würde gewiss nicht gut darauf reagieren, wenn er erfuhr, dass Imenja ihm etwas Derartiges verschwiegen hatte. »Warum nicht?«

»Wie du selbst gesagt hast, ist Imi eine Prinzessin, und kein Geringerer als eine Stimme sollte sie mit großem Aufhebens und dem entsprechenden Zeremoniell nach Hause geleiten.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Nicht mit genau diesen Worten, aber die Bedeutung war dieselbe.«

»Das ist nicht der Grund, warum du diese Information für dich behalten hast, nicht wahr?«

Imenja lächelte. »Wer ist hier die Gedankenleserin?« Dann verblasste ihr Lächeln ein wenig. »Ich lasse mir nicht so leicht eine Chance entgehen, ein Bündnis mit den Elai zu erwirken. Sie mögen klein an Zahl sein und einem falschen Gott huldigen, aber bevor wir sie nicht kennen gelernt haben, können wir uns kein Bild von ihrem vollen Potenzial machen. Denk nur an die Siyee und an ihren Beitrag zu der Schlacht. Wir könnten ebenso sehr von Meereskriegern als Verbündeten profitieren, vielleicht sogar noch mehr. Wen schert es schon, wem sie huldigen?«

»Unsere Götter würden doch gewiss…«

Das Sirren von Flügeln lenkte Imenjas Aufmerksamkeit nach oben. Die Siyee hatten das Schiff erreicht. Sie kreisten über ihnen, und in ihren grimmigen Gesichtern lag ein Ausdruck des Argwohns. Die Geräte, die sie an die Brust gebunden trugen, sahen unbeholfen aus, aber Reivan wusste, wie tödlich sie sein konnten.

»Es ist sehr mutig von ihnen, sich so nahe heranzuwagen«, flüsterte Imenja.

Reivan schaute sich auf dem Schiff um und stellte fest, dass einige der Seeleute Bogen bereithielten.

»Greift nicht an und schlagt auch nicht zurück«, rief Imenja. »Nicht, wenn ich nicht den Befehl dazu gebe.«

Nachdem sie das Schiff drei Mal umkreist hatten, zogen sich alle Siyee mit einer Ausnahme in Richtung Ufer zurück. Der letzte verbliebene Mann flog direkt auf Imenja und Reivan zu und schoss etwas aus seinem Geschirr ab. Reivan machte einen Schritt rückwärts, aber Imenja blieb stehen, wo sie war. Das Wurfgeschoss landete mit einem dumpfen Aufprall zu Imenjas Füßen und grub sich in das Deck. Der Siyee flatterte heftig mit den Flügeln, um der Takelage auszuweichen, dann flog er in einem weiten Bogen auf die Berge zu.

Imenja drückte den Pfeil mit der Spitze ihres Schuhs aus dem Holz. »Was hältst du davon?«

»Ich denke, es ist eine Warnung«, erwiderte Reivan, deren Stimme ein wenig zitterte. »Und eine Erinnerung. Wir sind den Siyee nicht willkommen.«

»Ich bin deiner Meinung«, sagte Imenja. »Das Problem ist, wir müssen Imi an Land bringen, wenn sie herausfinden soll, wo ihre Heimat liegt. Wie wollen wir das bewerkstelligen?«

»Vielleicht könnten wir sie fragen.«

Imenja sah Reivan an und lächelte. »Natürlich. Wir werden uns heute Abend mit ihr beraten.«

35

Mirar setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die Hände und dachte über Auraya nach.

Er hatte sie zwei Monate lang nicht gesehen, bis zu ihrem Besuch an diesem Morgen. Obwohl er gehofft hatte, dass sie einander im Kampf gegen die Herzzehre wieder begegnen würden, wusste er auch, dass ein solches Zusammentreffen nichts anderes als Gefahr mit sich bringen konnte. Es war nicht leicht, mit der aussichtslosen Vernarrtheit in sie zu leben, einem Gefühl, das in ihm erwachsen war, nachdem er Leiard als Teil seiner selbst akzeptiert hatte. Tatsächlich war es ausgesprochen lästig. Er sagte sich immer wieder, dass er darüber hinwegkommen müsse – je eher, desto besser. Doch als sie nach ihm gerufen hatte und in die Laube gekommen war, hatte sein Herz alle möglichen akrobatischen Sprünge vollführt, und er wusste, dass er abermals zwei Monate lang von ihr würde getrennt sein müssen, bevor er seine Gefühle wieder zur Gänze unter Kontrolle hatte.

Das Letzte, was er erwartet hatte, war ihre Bitte, ihn in seine magischen Heiltechniken einzuführen. Seit er den Nordflussstamm verlassen hatte, hatte Mirar die Götter viele Male dafür verflucht, dass sie es ihr nicht gestatteten, diese Fähigkeit zu erlernen. Während die Krankheit bei immer mehr Stämmen wütete, waren viele Siyee gestorben, die Auraya vielleicht hätte retten können.

Warum jetzt? fragte er sich. Warum haben sie ihre Meinung geändert?

Die Antwort lag auf der Hand. Die Krankheit war zu einer Seuche geworden. Vielleicht hatten die Siyee von seiner Heilkunst erfahren und fragten sich langsam, warum die Auserwählte der Götter nicht über die gleiche Fähigkeit verfügte.

Wenn das so ist, warum unterweisen die Götter sie dann nicht selbst?

Er hatte den ganzen Tag über diese Frage nachgegrübelt. Und er war immer wieder zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sie dazu offensichtlich nicht in der Lage waren. Sie waren Wesen aus Magie. Vielleicht konnten körperlose Wesen auch keinen Körper heilen, nicht einmal mit Hilfe eines bereitwilligen Menschen.

Wenn er Auraya diese Technik lehrte, ging er damit ein großes Risiko ein. Die Technik ähnelte den Methoden, die alle Wilden benutzten, um nicht zu altern. Auraya könnte das erkennen. Die Götter würden es gewiss erkennen.

Ich kann mich nicht dazu überwinden zu glauben, dass sie mir Schaden zufügen wird, wenn sie Verdacht schöpft, dass ich ein Unsterblicher bin. Ein Verdacht ist etwas anderes als Gewissheit, und sie würde nicht aufgrund eines bloßen Argwohns handeln. Sie hat mir versprochen, dass ich nicht zu Schaden kommen würde. Außerdem wird sie das Gefühl haben, in meiner Schuld zu stehen, nachdem ich ihr die Fähigkeit übermittelt habe, Leben zu retten. Vielleicht wird sie mir deshalb zumindest die Chance geben, Nordithania zu verlassen.

Als er Emerahl in Traumvernetzungen von seiner Begegnung mit Auraya erzählt hatte, hatte sie ihn gedrängt, die Siyee sich selbst zu überlassen und zu fliehen. Sie hatte ihm vorgeschlagen, nach Südithania zu gehen, wo Traumweber geduldet und sogar respektiert wurden. Als er ihr von seinem Angebot erzählt hatte, Auraya in seine Heilmethode einzuführen, hatte sie ihn einen Idioten genannt, auch wenn ihr kein Grund eingefallen war, warum er es nicht tun sollte – abgesehen von jenen Gründen, die er selbst bereits erwogen hatte.

Als er das Geräusch näher kommender Schritte hörte, blickte er auf. Zuerst sah er nur Dunkelheit, dann erschien Auraya aus der Finsternis wie ein Strahl Mondlicht, der Gestalt annahm. Ein Schaudern überlief Mirar. Der Saum ihres Zirks flatterte im Wind. Ihr offenes Haar wehte ihr ins Gesicht, und sie hob die Hand, um es sich hinters Ohr zu schieben.

Sieh nicht hin, befahl er sich. Wenn sie dich dabei ertappt, dass du sie anstarrst, könnte sie den Verdacht schöpfen, dass du noch immer betört von ihr bist.

Er holte tief Luft und erhob sich. »Sei mir gegrüßt, Auraya von den Weißen.«

Seine förmliche Anrede erheiterte sie offenkundig, denn eine ihrer Augenbrauen zuckte in die Höhe. »Sei mir gegrüßt, Traumweber Wilar.«

Er führte sie zu einer der beiden Decken, die er vor den Lauben auf den Boden gelegt hatte. Sie setzte sich und sah zu, wie er zu dem Zelt in der Mitte hinüberging. Darin saß Tyve neben einem Mann, der bewusstlos auf einer Bahre lag. Der Junge stand auf, beugte sich vor, um die Bahre am einen Ende hochzuheben, und half Mirar, sie nach draußen zu tragen.

Nachdem sie die Bahre zwischen Auraya und der anderen Decke auf den Boden gestellt hatten, kehrte Tyve in die Laube zurück. Mirar setzte sich.

Auraya beugte sich vor und legte dem Mann eine Hand auf die Stirn. Während sie den Zustand des Siyee abschätzte, trat ein geistesabwesender Ausdruck in ihre Augen. Das grimmige Zucken ihrer Lippen sagte Mirar, dass sie sehen konnte, welchen Schaden die Krankheit bereits angerichtet hatte. Einen Moment später blickte sie erwartungsvoll zu ihm auf.

»Was nun?«

»Ich könnte dir mein Vorgehen mit Worten erklären und dich dazu anleiten, die Gabe selbst zu entdecken, aber das würde Monate oder Jahre dauern, und keiner von uns hat Zeit zu erübrigen. Wir müssen uns in einer Vernetzung zusammenschließen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Du sprichst von einer Gedankenvernetzung?«

»Nicht direkt. Wir werden einander an den Händen halten, aber im Gegensatz zu einer Gedankenvernetzung wird es nicht nötig sein, dass du deinen Geist öffnest. Es ist einer Traumvernetzung ähnlich, aber einfacher, da du dich dazu nicht in eine Trance oder in Halbschlaf sinken zu lassen brauchst. Die körperliche Berührung macht das überflüssig. Ich werde meine Anweisungen in deinen Geist projizieren. Du wirst mir auf die gleiche Art antworten. Bist du bereit, das zu tun?«

Ihre Mundwinkel zuckten, als sie über seine Frage nachdachte. Einen Moment später nickte sie leicht und streckte ihm die Hände hin. Er war nicht überrascht. Sie hatte sich schon früher an Traumvernetzungen beteiligt, obwohl sie verboten waren, und sie musste bereits zu dem Schluss gekommen sein, dass es sich für das, was er sie lehren wollte, durchaus lohnte, das Gesetz zu brechen.

Er griff nach ihren Händen und schloss die Augen, dann suchte er nach ihrer Präsenz. Er spürte bei ihr sowohl erwartungsvolle Spannung als auch Unsicherheit.

Auraya.

Leiard? Oder soll ich dich Wilar nennen?

Was immer dir lieber ist, antwortete er.

Ich denke nicht an dich als Wilar, daher werde ich dich Leiard nennen. Aber… du wirkst anders.

Ich habe mich verändert?

Ja und nein. Du scheinst mir mehr du selbst zu sein. Das klingt eigenartig, ich weiß, aber früher warst du… du warst dir deiner selbst so wenig sicher. Das ist jetzt anders.

Diese Feststellung stimmte ihn auf seltsame Weise froh.

Das ist wahr. Ich bin nicht mehr der Mann, der ich früher war.

Wahrscheinlich war ich die Quelle all dieser Unsicherheit, erwiderte sie bekümmert. Vielleicht sollten wir das Thema ausklammern.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht, antwortete er. Es würde ebenso viel nutzen, wie es schaden würde.

Das ist wahr. Sie verfiel in Schweigen, und bevor er sich auf eine Möglichkeit besinnen konnte, das Thema zu wechseln, begann sie von neuem zu sprechen.

Ich habe dir verziehen, erklärte sie. Ich war wütend, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Nicht mehr, seit wir am Nordfluss zusammengearbeitet haben. Ich würde mich freuen, wenn wir Freunde sein könnten.

Das würde mich ebenfalls freuen, sagte er, vielleicht mit ein wenig zu viel Nachdruck.

Du brauchst keine Angst zu haben, dass es dich oder deine Leute in Schwierigkeiten bringt. Die Götter wissen jetzt, wo mein Herz liegt.

Mirar merkte überrascht auf. Sie hatte einen anderen Geliebten gefunden? Er bemühte sich, gegen die aufkeimende Eifersucht anzukämpfen. Nein, befahl er sich. Akzeptiere es. Er betrachtete das Gefühl, dann schob er es beiseite. Es ist besser, dass sie glücklich ist. In jedem Fall ist es besser, dass ich ihr keinen Kummer mehr bereite.

Dann wurde ihm klar, dass sie vielleicht überhaupt nicht von einem Geliebten gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie nur gemeint, dass ihr Herz den Göttern gehörte. Es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden …

Ich hoffe, er ist deiner würdig, sagte er.

Eine Welle der Verlegenheit kam von ihr. Er lächelte. Er hatte richtig geraten.

Er spürte jedoch nur Verlegenheit. Sie hätte eigentlich auch ein Gefühl des Glücks oder der Freude verströmen müssen, was sie jedoch nicht tat. Es wird nicht von Dauer sein, dachte er mit einiger Befriedigung. Diesmal unterdrückte er seine Gefühle. Es wurde Zeit, dass sie ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenkten.

Man kann Magie auf unterschiedlichste Weise zur Heilung benutzen, erklärte er ihr. Die Traumweber unterteilen die verschiedenen Möglichkeiten nach drei Schwierigkeitsstufen. Die erste Stufe ist die einfachste: die Nutzung von Magie, um zu halten, zu wärmen oder zu bewegen. Die zweite Stufe verwendet die gleichen Gaben, allerdings in schwierigeren Situationen. Außerdem verwendet sie die Magie, um einem Körper zusätzliche Stärke zu verleihen. Die dritte Stufe ist so kompliziert, dass sie große Konzentration verlangt und sichere Kenntnisse von allen Vorgängen des Körpers. Sie befähigt einen Traumweber, das Gewebe in einem Körper bis zu dem Maß zu beeinflussen, an dem Fleisch und Knochen wieder zusammengefügt und dazu gebracht werden können, auf der Stelle zu heilen.

Mirar hielt inne. Von Auraya kam keine Verwirrung, daher fuhr er fort.

Ich werde versuchen, dich zu lehren, einen Schritt über die dritte Stufe hinaus zu tun. Dazu brauchst du keine große Menge von Magie, du brauchst dazu nicht einmal besondere Kenntnisse der körperlichen Systeme. Was du brauchst, ist dein Geist, der den Körper wahrnehmen und verstehen kann, angefangen von der kleinsten Einzelheit bis hin zum großen Ganzen. Sobald du das verstehst, kannst du den Körper beeinflussen.

Er drückte eine ihrer Hände sanft auf die Brust des Siyee hinab.

Schau genau zu.

Um ihr zu zeigen, was er meinte, musste er den Schild um seinen Geist senken, der es ihr unmöglich machte, seine Gedanken zu sehen. Er gab darauf Acht, dies nur zu tun, während er sich auf das Heilen konzentrierte, und öffnete und schloss den Schild wie einen Fensterladen, um in Bildern und Ideen an Auraya weiterzugeben, was er sah.

Der Körper des Mannes erfüllte sein Bewusstsein. Der Schaden im Gewebe und in den Organen sowie die Wirkung, die die Krankheit auf den gesamten Organismus hatte, waren offenkundig. Er entdeckte etwas, das dort nicht hingehörte – das winzige, aber gefährliche Leben, das nicht in dem Körper hätte sein dürfen -, und übermittelte Auraya, was er gefunden hatte.

Jetzt du.

Sie sandte ihm nicht, was sie selbst wahrnahm. Für lange Zeit blieb sie still, dann spürte er mit einem Mal ihre Erregung.

Ich sehe es! Ich kann die Krankheit sehen! Zeig mir, wie man sie töten kann.

Er konzentrierte sich wieder auf den Mann und zeigte ihr, wie sie Magie auf eine Weise anwenden konnte, die die störende Krankheit tötete, ohne dem Körper Schaden zuzufügen. Dann überwachte er Aurayas Eingreifen, indem er beobachtete, welche Wirkung ihr Tun auf den Siyee hatte. Er war gleichzeitig überrascht und erfreut zu sehen, dass sie alles verstand, was er ihr erklärt hatte.

Ihr Angriff auf die Krankheit war jedoch nicht geordnet, daher demonstrierte er ihr, wie sie sich systematisch durch den Körper bewegen musste, ohne auch nur den geringsten Rest der Krankheit zurückzulassen. Sie vereinten ihre Bemühungen, und ein jeder ergänzte oder unterstützte, was der andere tat. Es war wie ein Tanz. Es war berauschend.

Sie reagiert ganz natürlich, dachte er plötzlich. Es ist wie eine angeborene Gabe. Sie muss über hinreichend große Gaben verfügen, um auch ohne die Hilfe der Götter unsterblich zu werden. Die Vorstellung, was sie hätten sein können, erregte ihn. Unsterbliche Liebende… Aber das würde nicht geschehen. Es würde sie zu einer Feindin der Götter machen, die sie liebte. Und ich bin der verhasste Mirar. Selbst wenn sie mir meinen Betrug verzeihen könnte

Sie war ganz in die Heilung des Patienten vertieft. Er ließ sie allein weitermachen, während er nur zusah. Da diese Heilmethode neu für sie war, konnte sie sie nicht benutzen, um den Alterungsprozess in ihrem Körper aufzuhalten. Vielleicht bewahrten die Götter sie durch den Ring, den sie trug, für immer vor dem Altern, ohne dass ihr bewusst war, wie es gemacht wurde.

Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis sie den Zusammenhang erkennt, ging es ihm durch den Kopf. Ist das der Grund, warum die Götter die Weißen nicht lehren, wie man heilt?

Die Krankheit ist fort!, sagte sie.

Er untersuchte den Siyee eingehend.

Ja, erwiderte er.

Das war… einfacher, als ich gedacht hatte. Deine Art, den Körper wahrzunehmen, ist… erstaunlich. Und logisch. Ich begreife nicht, warum ich das noch nie zuvor getan habe. Aber… dieser Mann stirbt trotzdem.

Ja, es gibt noch mehr zu tun.

Er lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Körper des Siyee. Dann zog er Energie aus den Fettreserven und benutzte sie, um das Nachwachsen des Lungengewebes zu beschleunigen. Sie folgte seinem Beispiel. Als die Lunge wiederhergestellt war, verbesserte sich das Blut, und der Herzschlag wurde kräftiger. Das Blut konnte wieder ungehindert zirkulieren, und die Finger, die Zehen und die übrigen Gliedmaßen des Mannes erwärmten sich. Er konnte Aurayas Begeisterung spüren.

Schließlich nahm er sich die Hand des Mannes vor. Ein Finger war vor langer Zeit gebrochen und schlecht zusammengefügt worden. Mirar straffte ihn vorsichtig und brachte die Fasern des Knochens in eine neue Position. Aurayas Erstaunen verwandelte sich in überschäumende Erregung.

Auf diese Weise könnte man alles heilen, sagte sie. Man könnte einem Mann, der sein Leben lang blind war, das Augenlicht zurückgeben. Man könnte einen Krüppel gesund machen. Man könnte einen Toten wieder zum Leben erwecken.

Ja, aber Letzteres müsste unmittelbar nach dem Sterben geschehen. Das Gedächtnis zerfällt binnen Minuten nach dem Tod und lässt sich nicht wiederherstellen.

Kann ich mich auf die gleiche Weise selbst heilen?

Natürlich, erwiderte er. Er musste sie unbedingt von diesem Gedankengang ablenken. Du hast erstaunlich schnell und gut gelernt.

Du hast geglaubt, es würde länger dauern.

Ja. Wie immer hast du meine Erwartungen übertroffen. Wenn doch nur alle meine Schüler so schnell lernen würden.

Wenn das alles ist, was ich wissen muss, dann sollte ich sofort zum Stamm vom Tempelberg zurückkehren. Es gibt viele, die heute Nacht vielleicht sterben werden, wenn ich sie nicht heile.

Dann will ich dich nicht länger aufhalten.

Sie lösten die Hände voneinander, und das Gefühl ihrer Präsenz verschwand. Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass sie ihn mit einem breiten Lächeln ansah. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er blickte hastig auf den Siyee hinab.

»Danke, Leiard. Jedes Leben, das ich mit dieser Gabe rette, wird ein Leben sein, das du gerettet hast.«

Er schaute zu ihr auf. »Das solltest du den Göttern lieber nicht erzählen. Sie können sehr unangenehm sein, wenn ihre Eifersucht geweckt ist.«

Sie öffnete den Mund zu einer Antwort, dann sah sie auf den Siyee hinab. »Er ist wach.«

Mirar betrachtete den Mann, der sie neugierig beobachtete. »Guten Abend«, sagte er. »Auraya und ich haben dich geheilt, aber du wirst in der ersten Laube leben müssen, bis auch der Rest des Dorfes genesen ist. Ein oder zwei Tage wirst du noch ziemlich müde sein. Du solltest schlafen und langsam deine Kraft zurückgewinnen.«

Der Mann nickte schwach und schloss die Augen wieder.

Auraya erhob sich. »Ich werde dir helfen, unseren Freund in die Laube zu tragen, dann muss ich mich auf den Weg machen.«

Gemeinsam hoben sie den Mann an und brachten ihn in die Laube der geheilten Siyee. Auraya trat wieder ins Freie, und Mirar beobachtete vom Eingang aus, wie sie sich ein kleines Stück von den Lauben entfernte. Sie lächelte ihm kurz zu, dann erhob sie sich in die Luft und verschwand in die Nacht.

Er seufzte. Nur wenige Minuten nachdem sie die Gabe erlernt hatte, hatte sie begonnen, das Potenzial darin zu erkennen. Es würde nicht lange dauern, bis sie mit Fragen zu ihm zurückkehrte.


Imenjas Schiff war größer als das der Plünderer. Außerdem war es von anderer Bauart. Reivan hatte Imi erklärt, dass dieses Schiff einen schmalen Rumpf hatte, so dass es schnell große Strecken zurücklegen konnte. Die meisten Schiffe wurden für Handelsgüter benutzt, deshalb hatten sie breitere Rümpfe, um Waren zu lagern. Dieses Schiff brauchte nur sie, eine Mannschaft und ihre Vorräte zu transportieren.

Das ganze Schiff war aus einem schwarzen Holz von einem Ort im südlichsten Teil des südlichen Kontinents gemacht. Auf den Rumpf war ein Stern gemalt, der die gleiche Form hatte wie die, die Imenja und Reivan trugen. Auch die Segel waren schwarz mit einem weißen Stern. Imi konnte sich vorstellen, wie beeindruckend sich dieses große, schmale Schiff in den Augen von Händlern und Plünderern ausnehmen musste. Sie wünschte beinahe, sie würden auf die Plünderer treffen, die sie gefangen genommen hatten. Vielleicht würde Imenja sie mit ihrer Magie bestrafen.

Wo im Schiff der Plünderer ein großes Loch im Deck gewesen war, um Zugang zu den im Rumpf gelagerten Waren zu erhalten, hatte Imenjas Schiff eine flache, von einer Zeltplane überdachte Vertiefung. Dort schliefen Imi, Imenja und Reivan, und dort suchten sie Zuflucht, wann immer es regnete. Den Rest der Zeit saßen sie auf Deck und versuchten, den Seeleuten bei der Arbeit nicht im Weg zu sein. Imi war einige Male unten im Rumpf gewesen. Dort stand ein Eimer bereit, um Wasser auszuschöpfen, aber das Schiff war so stabil gebaut, dass nicht viel Wasser eindringen konnte. Die Zeit, die sie auf dem Schiff der Plünderer verbracht hatte, erschien ihr jetzt wie eine ferne Erinnerung oder wie eine Geschichte, die man ihr erzählt hatte, obwohl sie gelegentlich Alpträume davon hatte.

Der Rumpf war voller Vorräte, die jetzt, nachdem sie einige Monate unterwegs waren, zur Hälfte aufgezehrt waren. Das Essen hier war weit besser als das, was sie in ihrer Gefangenschaft bekommen hatte, aber nicht so gut, wie die Speisen im Sanktuarium es gewesen waren. An diesem Abend war das Fleisch zu salzig gewesen, und sie hatten dazu nur getrocknete Früchte und Nüsse bekommen. Imi hatte immer häufiger Tagträume von getrocknetem Seegras, in das frisches Krabbenfleisch eingewickelt war, und die Tatsache, dass sie solchen Appetit auf etwas verspürte, das ihr früher einmal fad und langweilig erschienen war, entlockte ihr ein Lächeln.

Jetzt räumte ein Seemann die Teller und das Besteck fort. Imenja rollte gerade eine große Karte auf. Imi hatte diese Karte schon viele Male gesehen, aber sie faszinierte sie noch immer. Es war ein Bild der Welt, wie ein Siyee sie sah, und doch war sie für die Landgeher von großem Nutzen.

Der Kapitän entrollte seine eigenen Karten, auf denen Linien eingezeichnet waren, die für Imi keinen Sinn ergaben, und beschwerte sie mit verschiedenen Gegenständen. Die Lampen im Zelt schwangen mit den Bewegungen des Schiffes hin und her und warfen zuckende Schatten. Der Kapitän zeigte auf eine Stelle auf seiner Karte, dann auf Imenjas und begann zu sprechen.

Reivan wandte sich Imi zu und übersetzte. »Er sagt, dass wir uns ungefähr hier befinden, so weit vom Ufer entfernt, dass wir es vom Mast aus nicht länger sehen können.«

»Könnte man von hier aus mit einem Boot an Land rudern?«, fragte Imi den Kapitän, und Reivan übersetzte leise.

»Ja, aber es würde viele Stunden dauern. Und es wäre noch schwieriger, wenn wir die Strömung gegen uns hätten.«

»Wie groß ist das Risiko, gesehen zu werden?«

»Tagsüber sehr hoch.«

»Und nachts?«, fragte Reivan.

»Der Mond ist fast voll«, rief er ihnen ins Gedächtnis. »Und falls es in der Nähe Riffe geben sollte, würden wir sie nicht sehen können.«

»Ihr müsstet mich nicht den ganzen Weg hinüberfahren«, erklärte Imi, sobald Reivan ihr die Worte des Kapitäns übersetzt hatte. »Ich kann einen Teil der Strecke schwimmen.«

Die anderen wandten sich ihr stirnrunzelnd zu.

»Bist du stark genug, um das zu tun?«, wollte Reivan wissen.

Der Kapitän machte eine Bemerkung, und sein warnender Tonfall entging auch Imi nicht.

»Er sagt, es könnte hier Seeraubtiere geben. Spinerakes, die ihr, wie ich glaube, Flarken nennt.«

Furcht stieg in Imi auf, aber sie drückte dennoch den Rücken durch. »Die einzigen wirklich gefährlichen Meeresgeschöpfe sind Flarken, und die bevorzugen kleinere Beute. Menschen greifen sie nur an, wenn diese verletzt sind oder wenn es keine andere Nahrung gibt. Wenn die Siyee euch sehen, werden sie versuchen, euch zu töten. Diese Gefahr ist für euch viel größer als für mich das Risiko, an Land zu schwimmen.«

Als Reivan Imis Worte übersetzte, lächelte der Kapitän schief. Imi glaubte, Bewunderung aus seinem Blick zu lesen.

»Wir müssen darauf hoffen, dass wir an Land Siyee finden«, sagte Reivan.

»Ich brauche nur hinüberzuschwimmen, um sie zu finden. Schwieriger wird es sein, zu euch zurückzukommen. Wir soll ich euch finden, wenn man das Schiff vom Ufer aus nicht sehen kann?«

Imenja und Reivan tauschten einen Blick.

»Wir müssen eine Zeit und einen Ort vereinbaren«, erwiderte Reivan. »Wir werden Imi am Morgen in Richtung Land bringen und sie am Abend wieder abholen.«

»Wie soll ich euch in der Dunkelheit finden?«, fragte Imi und schauderte, als sie darüber nachsann, wie es sein würde, bei Dunkelheit zu schwimmen. »Ich würde lieber bei Tageslicht schwimmen.«

Imenja lächelte. »Dann werden wir dich stattdessen bei Sonnenaufgang hinbringen und dich am späten Nachmittag wieder abholen«, sagte sie. »Wenn du an diesem Tag keine Siyee entdeckst, werden wir am Tag darauf weiter nach Westen segeln und es noch einmal versuchen.«

Imi nickte. »Das ist eine gute Idee.«

Reivan übersetzte dies für den Kapitän, der nickte. Dann wandte er sich an einen Seemann, der in der Nähe wartete, und sagte einige Worte. Der Mann verschwand und kehrte kurz darauf mit einer Flasche und einigen kleinen, dicken Gläsern zurück. Imi hatte Mühe, ihren Ekel zu verbergen. Das Getränk, das am Ende formeller Mahlzeiten serviert wurde, war für ihren Geschmack zu stark und zu säuerlich, aber sie zwang sich stets, einen Schluck davon zu nehmen, weil sie niemanden kränken wollte. Andererseits machte es sie angenehm schläfrig, was besser war, als sich in dem »Tank«-Bett hin und her zu wälzen, das man im Rumpf für sie errichtet hatte. Der Tank hielt ihre Haut feucht, aber es war nicht einfach, sich in dem Wasser, das durch das Schaukeln des Schiffes in ständiger Bewegung war, zu entspannen.

Heute Nacht würde sie wahrscheinlich trotz des Getränks wachliegen und an das Abenteuer denken, das ihr bevorstand. Würde sie am Ufer tatsächlich auf Siyee treffen? Würden sie ihr helfen?

Und was sollen wir tun, wenn sie nicht wissen, wo Borra liegt?


Als Juran die Tür zu seinem Quartier öffnete, stieg in Dyara sofort ein Gefühl von Gereiztheit auf. Obwohl er gelassen wirkte, standen Falten in seinem Gesicht, die nur dann erschienen, wenn irgendetwas ihn sehr aus dem Gleichgewicht brachte. Er trat beiseite und bedeutete ihr, vorauszugehen, sagte aber nichts. Rian und Mairae waren bereits da. Beide blickten ratlos drein.

Dyara setzte sich und wartete ab, während Juran langsam im Raum auf und ab ging und offensichtlich versuchte, sich zu sammeln. Sie kannte ihn besser als die anderen Weißen, aber das war nur natürlich. Sie arbeiteten jetzt seit sechsundsiebzig Jahren zusammen. Seine Erregung beunruhigte sie mehr als die anderen Weißen, und es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, nicht von ihm zu verlangen, sich zu beeilen und ihnen mitzuteilen, was ihm zu schaffen machte.

»Während der letzten Monate haben Huan und ich ein… ein gewisses Individuum beobachtet«, begann er. »Wir haben auf ein Zeichen dafür gewartet, dass unser Verdacht diesen Mann betreffend richtig oder falsch ist. Heute Abend hat sich unser Verdacht dann bestätigt.«

»Wer ist dieser Mann?«, fragte Dyara.

Juran blieb stehen und sah sie an. Dann holte er tief Luft, und seine Züge verhärteten sich. »Der Mann, den wir beobachtet haben, ist Mirar.«

Dyara sah Juran ungläubig an. Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen im Raum.

»Er ist tot«, erklärte Rian.

Juran schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das ist er nicht. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, aber es ist wahr.«

»Seid ihr euch dessen sicher?«, erkundigte sich Dyara.

»Jetzt sind wir es.«

»Aber du hast seinen Leichnam gefunden.«

»Wir haben einen Leichnam gefunden, der zerschmettert war. Er hatte die richtige Größe und Haarfarbe, aber sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Man hat ihn das eingestürzte Haus nicht verlassen sehen, und es gab viele Menschen, die den Vorfall beobachtet hatten.«

»Aber es gab keine Möglichkeit zu beweisen, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Mirar handelte«, beendete Dyara seine Ausführungen.

»Nein.«

Mairae beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wie habt ihr erfahren, dass Mirar noch lebt?«

Juran seufzte und ging zu einem Stuhl hinüber. »Ich sollte wohl erklären, wie sich das Ganze zugetragen hat. Auraya hat Mirar vor einigen Monaten in Siyee entdeckt, obwohl sie natürlich nicht wusste, dass er es war. Er hat die Siyee behandelt und…«

»Weiß sie jetzt, wer er ist?«, unterbrach Dyara ihn erschrocken. »Droht ihr Gefahr?«

Juran lächelte. »Sie weiß es nicht, aber sie ist in Sicherheit. Chaia wacht über sie.«

»Sie glaubt, Mirar sei ein gewöhnlicher Traumweber«, vermutete Rian.

»Ja.«

Dyara nickte. Natürlich. Dann kam ihr eine Idee, und sie blickte zu Juran auf, der seine Aufmerksamkeit jedoch auf Rian gerichtet hatte.

»Sie hat ihn gebeten, sie seine Methode des Heilens zu lehren«, fuhr Juran fort. »Zuerst hat Huan es verboten, aber vor kurzem ist sie zu dem Schluss gelangt, dass es sich lohnen würde, das Risiko einzugehen, da wir auf diese Weise eine Bestätigung für unseren Verdacht erhalten würden. Er konnte aus Aurayas Gedanken nur wenige gefährliche Informationen entnehmen, während wir einiges aus seinen erfahren konnten.«

»Einen Moment mal«, unterbrach ihn Dyara. »Weder Auraya noch Huan können seine Gedanken lesen?«

Juran verzog das Gesicht. »So ist es. Sein Geist ist beschirmt.«

»Kein Wunder, dass ihr Verdacht geschöpft habt«, bemerkte Mairae.

»Trotzdem habt ihr sie ermutigt, von ihm zu lernen?«, hakte Dyara nach.

Juran sah ihr in die Augen und nickte. »Wir mussten wissen, ob ich mit meinem Verdacht richtiglag. Heute hat Mirar sich bereiterklärt, sie zu unterrichten. Huan und ich haben uns während seiner Unterweisung mit Auraya vernetzt… obwohl sie davon nichts wusste.«

Mairae sog scharf die Luft ein. »Warum habt ihr ihr nicht erzählt, was ihr vorhattet?«

»Um die Gabe der Heilung zu erlernen, musste sie sich mit Mirar vernetzen. Hätte sie einen Verdacht gehabt, wer er in Wirklichkeit ist, oder gewusst, dass Huan und ich zusehen, hätte Mirar vielleicht davon erfahren.«

»Wenn er das von ihr hätte erfahren können, was kann er dann sonst herausgefunden haben?«, fragte Rian leise.

»Nichts«, versicherte ihm Juran. »Wir waren darauf gefasst, die Vernetzung abbrechen zu müssen, aber es war nicht notwendig. Sie hat ihren Geist gut abgeschirmt. Was Huan und ich jedoch von seinem Geist gesehen haben…« Er schüttelte den Kopf. »Während Auraya sich auf den Unterricht konzentrierte, konnten Huan und ich in Mirars Gedanken schauen. An einer Stelle, als Auraya abgelenkt war, hat er sich sogar gefragt, was sie wohl tun würde, wenn sie erführe, dass er in Wirklichkeit Mirar ist.«

Dyara schwirrte der Kopf von unbeantworteten Fragen. Wie hat Mirar überlebt? Wird Juran ihn noch einmal töten müssen? Oder werden die Götter ihm Barmherzigkeit erweisen und mich oder Rian damit beauftragen, es zu tun? Oder Auraya, da sie bereits in Si ist?

Dann fiel ihr wieder die Frage ein, die sie sich kurz zuvor gestellt hatte. »Warum sollte Mirar einer von uns etwas Derartiges beibringen? Warum sollte er Auraya helfen oder ihr vertrauen?«

Juran sah sie an, und die Sorgenfalten auf seinem Gesicht vertieften sich. »Er kennt sie gut, und wir kennen ihn. Er ist… er ist Leiard.«

Benommenes Schweigen senkte sich über den Raum. Dyara nickte, erfüllt von bitterer Befriedigung. Sie hatte mit ihrer Vermutung richtiggelegen.

»Leiard!«, rief Mairae. »Wie ist das möglich? Wir alle sind ihm begegnet. Wir alle haben seine Gedanken gelesen. Warum haben wir seine wahre Identität nicht erkannt?«

Juran breitete die Hände aus. »Ich habe keine Ahnung. Wenn er seinen Geist vor den Göttern beschirmen kann, wer weiß, welche anderen Gaben er dann noch besitzt? Vielleicht hat er die Fähigkeit erworben, seine Identität hinter einer falschen Persönlichkeit zu verbergen.«

»Aber du weißt, wie er aussieht«, wandte Rian ein. »Warum hast du ihn nicht erkannt?«

»Er hat anders ausgesehen als zu der Zeit, da ich ihn kannte.« Juran seufzte. »Es ist hundert Jahre her, und mein Gedächtnis ist verblasst.« Er ging zu einem Tisch hinüber und griff nach einem Pergamentbogen. »Nach Mirars Tod sind fast alle Statuen und Gemälde von ihm zerstört worden. Ich habe Priester in ganz Nordithania beauftragt, nach möglichen Zeugnissen zu suchen. Dies ist eine Zeichnung von einer Schnitzerei, die vor einigen Jahren in den Ruinen eines alten Traumweberhauses gefunden wurde.«

Er reichte die Zeichnung an Dyara weiter. Als sie das Gesicht darauf sah, sog sie scharf den Atem ein. Es war glatter und voller als das Leiards und bartlos, aber immer noch erkennbar. Sie gab die Zeichnung Rian, der finster die Stirn runzelte, als auch er das Gesicht identifizierte.

Dyara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und dachte an die Zeit von Leiards Ankunft in der Stadt und die entferntere Vergangenheit zurück. Er hatte Auraya als Kind gekannt. Er hatte sie aufgesucht, nachdem sie von den Göttern als Weiße erwählt worden war. Sie hatte ihn zum Traumweberratgeber gemacht. Als ihr dämmerte, welche Konsequenzen Mirars einflussreiche Stellung innerhalb der Zirkler gehabt haben mochte, stöhnte sie.

»Wie weit reicht es zurück?«, fragte sie laut. »Wusste er, dass sie eine Weiße werden würde? War es Zufall, oder hat er dafür gesorgt, dass sie hierherkam, als sein ahnungsloses Werkzeug?«

Juran starrte Dyara an. »Gewiss nicht.«

»Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte sie.

»Ich bezweifle, dass er die Dinge auf solche Weise arrangiert hat«, erwiderte Rian, »aber als er hörte, was aus ihr geworden war, konnte er vermutlich der Chance, Einfluss auf sie zu nehmen, nicht widerstehen. Er ist ihr hierhergefolgt, um ihr Vertrauen zu gewinnen.«

»Und um in ihr Bett zu gelangen!«, zischte Dyara. Wut stieg in ihr auf, und sie blickte zu Juran. »Er ist wahrhaftig der Schurke, den du früher einmal gekannt hast. Er hat seinen Einfluss auf sie genutzt, um die Zirkler dazu zu bewegen, seinen Orden zu akzeptieren.« Ein bitteres Triumphgefühl stieg in ihr auf. »Aber er ist zu weit gegangen. Es war ein Fehler, sich Zutritt zu ihrem Bett zu verschaffen. Nachdem die Affäre entdeckt wurde, ist er nach Si gegangen, wohlwissend, dass sie dorthin zurückkehren würde. Jetzt versucht er von neuem, sie zu verführen, und er benutzt seine Kenntnisse der Magie als Köder.«

Sie sah Juran an. Er schüttelte den Kopf, aber ob diese Geste Miras Plan galt oder lediglich der grauenhaften Situation, in der sie sich befanden, konnte sie nicht erraten.

Er begann von neuem, im Raum auf und ab zu gehen. »Was du sagst, könnte der Wahrheit entsprechen, Dyara, aber es könnte auch ein Irtum sein. Als ich Leiard wegen seiner Affäre mit Auraya zur Rede stellte, habe ich seinen Geist erforscht und keine Hinweise darauf gefunden, dass er Mirar war, ebenso wenig wie ich irgendwelche großen Pläne entdecken konnte, gegen uns zu arbeiten. Was ich sah, war ein Mann, der Auraya liebte. Es mag eine hoffnungslose, von Angst gezeichnete Liebe gewesen sein, aber sie war echt. Das kann er nicht erfunden haben.«

»Und sie liebt ihn ihrerseits«, murmelte Mairae. »Oder zumindest hat sie es getan.«

»Was sie geliebt hat, war eine Lüge«, warf Rian ein.

»Dann ist es ein Glück, dass sie ihn nicht mehr liebt«, sagte Dyara. »Denn sie wird ihn töten müssen.«

Wieder senkte sich Schweigen über den Raum. Mairaes Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah Juran an. »Das könnt ihr nicht von ihr verlangen.«

»Sie ist in Si«, erwiderte Juran müde. »Jeder von uns würde Monate brauchen, um dorthin zu gelangen.«

»Das könnt ihr nicht von ihr verlangen«, wiederholte Mairae. »Selbst wenn sie weiß, dass er nicht der Mann ist, den sie einmal geliebt hat, wäre es zu grausam, ihr zu befehlen, ihn zu töten.«

»Wenn sie erfährt, wer er ist und wie er sie benutzt hat, wird sie verstehen, dass wir ihn nicht am Leben lassen können!«, erklärte Rian mit Nachdruck.

Dyara zuckte zusammen. Sie neigte dazu, Mairae recht zu geben. »Was erwarten die Götter von uns?«

Juran lächelte dünn. »Sie sind noch zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen.«

»Wenn sie fragen, ich bin bereit, die Tat an Aurayas Stelle auszuführen«, sagte Dyara. »Ich gebe Mairae recht, dass es grausam wäre, etwas Derartiges von Auraya zu verlangen. Es gibt andere Möglichkeiten, dies zu tun. Wir könnten Auraya zum Beispiel als Köder benutzen, um ihn aus Si fortzulocken.«

Juran nickte. »Das werde ich den Göttern vorschlagen. Danke.«

Eine Weile sprach keiner von ihnen, da sie alle über diese neue Enthüllung und ihre Konsequenzen nachgrübelten.

Nach einer Weile richtete Dyara sich auf. »Wir können nur auf die Entscheidung der Götter warten. Lasst uns in unsere Quartiere zurückkehren und morgen noch einmal zur Beratung zusammenkommen.«

Als sie aufstand, folgten Mairae und Rian ihrem Beispiel. Schweigend verließen sie den Raum. An der Tür drehte sich Dyara noch einmal um. Juran lächelte grimmig. Als sie hinaustrat, durchzuckte sie ein Stich des Mitgefühls. Er würde heute Nacht keinen Schlaf finden. Seine Geister waren wahrhaft zurückgekehrt, um ihn zu verfolgen.

Er hat sich nie verziehen, dass er Mirar getötet hat, dachte sie. Jetzt weiß er, dass er sich hundert Jahre lang für eine Tat schuldig gefühlt hat, die er nicht begangen hat.

36

Es waren viele Jahrhunderte vergangen, seit Emerahl das letzte Mal den Golf des Grams hinaufgesegelt war. Sennon mit seinen Wüsten und seinen trostlosen Städten barg keinen Reiz für sie. In ihrem langen Leben hatte sie den Kontinent von Nordithania niemals verlassen, außer um das Inselvolk von Somrey zu besuchen, das heutzutage ohnehin als Teil von Nordithania galt.

Wenn sie in der Mitte des Golfs gesegelt und die Luft weniger neblig gewesen wäre, hätte sie sowohl Nord- als auch Südithania gleichzeitig sehen können, aber die Notwendigkeit, von Zeit zu Zeit ihre Vorräte wieder aufzufüllen, zwang sie, sich in der Nähe der sennonischen Küste zu halten. Sie hätte versuchen können, sich in Avven mit Proviant zu versorgen, aber sie wusste nicht, welchen Empfang man ihr auf dem südlichen Kontinent bereiten würde, und da sie die Sprache der Einheimischen nicht beherrschte, wäre ein Handel mit ihnen schwierig gewesen. Sennon dagegen hatte sich in den letzten Jahrhunderten kaum verändert. Selbst die Sprache war noch fast die gleiche wie bei ihrem letzten Besuch.

Wohin sie auch blickte, überall war der Horizont neblig vom Staub, den der gleiche Wind aufwirbelte, der auch ihr Boot nach Osten trieb. Vor ihr lag die Landenge von Gria, ein Streifen Landes, der den Golf des Grams vom Golf des Feuers trennte. Dort, wo die Landenge das Gebiet von Sennon erreichte, lag die Stadt Diamyane. Dort würde ihre Seereise enden.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe und klopfte sachte auf die Ruderpinne. Das kleine Boot hatte sie während der letzten Monate einen weiten Weg getragen. Es hatte etlichen Stürmen und dem ungewöhnlichen Druck standgehalten, bisweilen von Magie angetrieben zu werden. Sie würde das Boot vermissen. Wenn sie es jedoch über die Landenge hätte transportieren wollen, hätte sie jemanden dafür bezahlen müssen, es bis auf die andere Seite des Meeres hinüberzuschaffen, und sie bezweifelte, dass sie dafür genug Geld hatte. Sobald sie ihr Boot verkauft hatte, konnte sie sich einer Handelskarawane anschließen, die nach Osten reiste, oder falls sie sich das leisten konnte, eine Überfahrt auf einem Schiff kaufen.

Schließlich schob sie ihr Bedauern beiseite und rief sich ins Gedächtnis, dass sie diese Entscheidung schon vor Monaten getroffen hatte und dass es keinen Sinn haben würde, ihre Meinung zu ändern. Sie hätte um Südithania herumsegeln können, aber dadurch wäre die Reise um mehrere Monate länger geworden. Sie hätte auch um die obere Spitze Nordithanias segeln können, doch dann wäre sie an Jarime vorbeigekommen, und sie zog es vor, die von den Weißen beherrschten Länder zu meiden.

Mirar hatte sie in einer Traumvernetzung gewarnt, dass die Siyee ihre Küste genau bewachten, nachdem die Pentadrianer vor einigen Monaten dort gelandet und wieder fortgeschickt worden waren. Außerdem hatte er ihr mitgeteilt, dass Auraya in Si war. Aber es war immer noch besser, in der Nähe einer Weißen zu reisen, als womöglich vier von ihnen begegnen zu müssen. Emerahl hatte reichlich Vorräte mitgenommen, so dass sie es vermeiden konnte, in Si an Land gehen zu müssen. Keine fliegende weiß gekleidete Zauberin hatte sich ihr genähert, und während des größten Teils der Reise waren die Winde ihr gewogen gewesen. Bis jetzt hatte sie keinen Grund gehabt, ihre Entscheidung zu bereuen.

Plötzlich tauchten in dem staubigen Nebel vor ihr unnatürlich regelmäßige Umrisse auf. Als sie näher kamen, stellte sich heraus, dass es sich um Gebäude handelte. Emerahl lenkte ihr Boot darauf zu.

Sie hatte es nicht eilig, denn auf diese Weise konnte sie den Augenblick hinauszögern, da sie ihr Boot weggeben musste. Nur allzu bald näherte sie sich einer Anlegestelle und warf den Hafenjungen ihre Leine zu. Die Jungen zogen ihr Boot heran und machten es mit geübten Bewegungen an den Pollern fest. Sie ging an Land, warf ihnen einige Münzen zu und fragte, wo die Bootsschlepper zu finden seien.

Sie hatten ihren Stützpunkt in einem Schuppen am Hafenbecken. Als Emerahl eintrat, spürte sie, wie die Stimmung der Männer sich veränderte: Ihre Habgier war förmlich mit Händen zu greifen. Bei einigen Bechern eines heißen, bitteren einheimischen Gebräus überzeugte sie sie davon, dass eine Frau genauso gut feilschen konnte wie ein Mann, doch obwohl sie wusste, dass sie sie so weit wie möglich auf einen angemessenen Preis herunterhandelt hatte, war die Summe für ihre Börse noch immer zu groß.

Als Nächstes suchte sie einen Käufer für ihr Boot und musste dabei feststellen, dass es für solch kleine Boote wie ihres kaum Nachfrage gab. Der Hauptverwendungszweck für Boote hier in der Gegend war der Transport von Waren, und dafür war ihres zu winzig. Ein Mann war jedoch bereit, ihr eine erbärmliche Summe dafür zu zahlen. Sie vereinbarte mit ihm ein Treffen später am Tag, so dass er das Boot in Augenschein nehmen konnte.

Etliche Stunden waren verstrichen. Sie hatte dem einheimischen Markt einen Besuch abgestattet, um einen Teil ihrer Barschaft gegen die einheimische Währung einzutauschen, den Kanar. Auf dem Markt kaufte sie außerdem etwas zu essen und einen Krug Kahr, den hier getrunkenen Schnaps, bevor sie halbherzig versuchte, ihre Dienste als Heilerin anzubieten. Mehrere Heiler, die bereits auf dem Markt arbeiteten, beobachteten sie mit feindseligen Blicken. Sie wusste, dass sie nicht lange unbehelligt bleiben würde. In Sennon konnte jeder leben, wie er es wünschte, und anbeten, wen oder was er wollte, solange er keine der grundlegenden Gesetze des Landes brach. Auf dem Weg zum Markt hatte sie ein Traumweberhaus und viele Traumweber gesehen. In Toren hatten die Menschen sie von sich aus um Hilfe gebeten, hier ignorierten sie sie, offenkundig zufrieden mit den Heilern am Ort.

Also muss ich ihre Aufmerksamkeit mit besseren oder mit weniger verbreiteten Dingen erregen, überlegte sie.

»Wundermittel gegen Unfruchtbarkeit«, rief sie in die Menge. »Kuren zur Entfernung von Narben. Aphrodisiaka.«

Ein Mann und eine Frau wandten sich zu ihr um. Die Frau trug ein Baby auf dem Arm, und der Mann hielt die Hand eines kleinen Jungen. Die beiden tauschten einen Blick und eilten auf sie zu. Emerahl fragte sich, welchen der drei angepriesenen Dienste sie erbitten würden. Eine Fruchtbarkeitsbehandlung schienen sie nicht nötig zu haben. Vielleicht würden sie Aphrodisiaka wollen, aber die Kur zur Entfernung von Narben war ebenso wahrscheinlich.

»Bist du Emmea, die Heilerin, die ein Boot verkaufen will?«, fragte der Mann und benutzte dabei den Namen, den sie den Bootsschleppern genannt hatte. Seit sie nach Sennon gekommen war, hatte sie sich nicht mehr Limma genannt. Wenn sie jetzt, da sie die andere Seite des Kontinents erreicht hatte, einen anderen Namen benutzte, würde es schwieriger sein, sie aufzuspüren.

Emerahl blinzelte überrascht, dann nickte sie. »Ja. Wollt ihr ein Boot kaufen?«

»Nein«, antwortete der Mann. »Aber ich sollte mich wohl zuerst einmal vorstellen. Ich bin Tarsheni Drayli, und dies ist meine Frau, Shalina. Wir wollen eine Überfahrt für uns und unsere Kinder kaufen.«

Enttäuschung folgte seinen Worten. »Oh. Da kann ich euch nicht helfen. Ich reise nicht nach Westen.«

Der Mann lächelte. »Wir wollen nicht nach Westen, sondern nach Osten.«

»Ich kann euch nicht helfen«, erwiderte sie in entschuldigendem Tonfall. »Ich kann mir keinen Schlepper leisten.«

»Ah, aber den wirst du gar nicht brauchen«, erklärte er. »Es gibt einen schmalen Tunnel durch die Landenge, der vor einigen Jahren geöffnet wurde und nur für kleine Boote passierbar ist. Die Gebühr ist viel geringer als die für die Schlepper.«

»Ist das wahr?« Niemand hatte ihr von diesem Tunnel erzählt, aber es war nicht weiter überraschend, dass die Schlepper diese Möglichkeit lieber verschwiegen. »Wie viel kostet die Durchfahrt?«

»Zwölf Kanar pro Boot«, sagte der Mann.

Emerahl nickte. Sie konnte keine Unehrlichkeit bei ihm spüren. Trotzdem waren zwölf Kanar immer noch zu viel für sie. Sie konnte das Geld aufbringen, aber dann würde sie nichts mehr übrig haben, um sich Proviant zu kaufen – es sei denn, sie nahm diese Leute tatsächlich mit. Sie verfluchte sich im Stillen dafür, dass sie noch nie nach dem Preis für eine Überfahrt auf einem Schiff gefragt hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie viel sie von diesen Leuten verlangen konnte.

»Mein Angebot ist Folgendes«, kam der Mann ihr zuvor. »Wir werden die Gebühr für die Fahrt durch den Tunnel bezahlen, und du nimmst uns als Gegenleistung dafür nach Karienne mit.«

Emerahl lächelte. »Das klingt vernünftig. Die Überfahrt auf einem Schiff würde viel mehr kosten als zwölf Kanar.«

Er nickte, und sie spürte keine Gefühle bei ihm, die auf Verrat schließen ließen – nur Hoffnung.

Mit geschürzten Lippen dachte sie über den Handel nach. Der Mann, Tarsheni, beobachtete sie geduldig.

»Ihr müsst euch eigenen Proviant und Wasser mitnehmen. Ich habe kein Geld, um diese Dinge für euch zu kaufen«, warnte sie ihn.

»Das werden wir natürlich tun«, erwiderte Tarsheni.

»Und obwohl ich nicht glaube, dass ihr vorhabt, mir mein Boot zu stehlen, sollte ich euch wohl davor warnen, später auf solche Ideen zu kommen. Meine Gaben sind nicht unbeträchtlich.«

Tarsheni lächelte. »Du hast nichts von uns zu befürchten.«

Emerahl nickte. »Und ihr nicht von mir. Aber ich habe noch eine weitere Frage. Welchen Grund habt ihr für diese Reise?«

Die beiden tauschten einen Blick, und Emerahl spürte Furcht. Sie verschränkte die Arme und sah das Paar erwartungsvoll an. Die Schultern des Mannes sackten herunter.

»Du wirst das vielleicht töricht finden«, sagte er. »Wir haben von einem Mann in Karienne gehört, der von weisen und wunderbaren Dingen weiß. Wir wollen dorthin reisen, um ihn sprechen zu hören.«

Emerahl fing keine Unaufrichtigkeit von ihm auf, vermutete aber, dass die beiden ihr etwas verschwiegen.

»Was ist so Besonderes an diesem Mann?«, erkundigte sie sich.

»Er…«, begann Tarsheni.

»Bist du Zirklerin?«, fragte seine Frau.

Emerahl betrachtete die Frau – Shalina – mit einer Mischung aus Vorsicht und Überraschung.

»Nein«, gab sie schließlich zu und hoffte, dass sie das Geschäft damit nicht verpfuscht hatte.

»Du bist keine Pentadrianerin«, sagte Shalina, und ihre klugen Augen leuchteten. »Bist du eine Heidin oder eine Ungläubige?«

Emerahl hielt dem Blick der Frau stand. »Folgt dieser Mann, den ihr besuchen wollt, einem der toten Götter?«

Shalina schüttelte den Kopf.

»Er sagt, die Götter seien von einem größeren Wesen erschaffen worden«, antwortete Tarsheni an Shalinas Stelle. »Vielleicht irrt er sich. Wir wollen zu ihm reisen, um genau das herauszufinden.«

»Ich verstehe«, erwiderte Emerahl. »Was für eine interessante Idee«, fügte sie ehrlich fasziniert hinzu. Sollte diese Idee allgemeine Verbreitung finden, würde dies vielleicht seit Jahrtausenden die erste neue Religion sein, die sich auf der Welt verbreitete – sofern sie die lange verstorbenen, skrupellosen und unerwünschten Anhänger der alten Hexe, also ihre eigenen, nicht mitrechnete.

»Also«, sagte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die junge Familie, »wann wollt ihr aufbrechen?«

Das Paar grinste breit.

»Wir brauchen lediglich im Gästehaus zu bezahlen und unsere Sachen zu holen«, antwortete Tarsheni. »Und wir müssen etwas Proviant kaufen. Was glaubst du, wie viel wir benötigen werden?«

Emerahl lächelte. Die beiden waren junge, unerfahrene Reisende und wahrscheinlich an ein behagliches Leben gewöhnt. Sie würden die Reise sehr hart finden, und sie sollte besser dafür sorgen, dass sie gut vorbereitet waren.

»Nehmt genug Vorräte für einige Tage mit – man kann nie im Voraus wissen, wie lange man brauchen wird, um das nächste Dorf zu erreichen. Kauft nichts Verderbliches und gebt Acht, dass alles gut verpackt ist. Es kann sehr heiß auf dem Meer werden, und sollte ein Sturm aufkommen, wird alles nass werden. Habt ihr Ölhäute? Nein? Dann nehmt ihr mich am besten in euer Gästehaus mit. Ich werde mir ansehen, was ihr kauft, und euch erklären, wie ihr es einpacken müsst. Und ihr werdet etwas gegen Seekrankheit benötigen…«

Emerahl, deren Laune eine ungeheure Wendung zum Besseren genommen hatte, geleitete die Familie vom Markt. Sie brauchte ihr Boot nicht herzugeben und würde vielleicht aus dem Transport dieser Familie nach Karienne sogar Gewinn ziehen.


Als Auraya zum Tempelberg zurückkehrte, waren sechs weitere Siyee an der Herzzehre erkrankt, und zwei andere Siyee hatten berichtet, dass Mitglieder ihrer Familie sich die Seuche zugezogen hatten. Auraya hatte ihre neue Gabe des Heilens schon viele Male angewandt, aber den Siyee vom Tempelberg widerstrebte es mehr als den anderen, sich voneinander fernzuhalten. Es gab bereits Zeichen von Neuansteckungen.

Gleichzeitig waren Neuigkeiten von kranken Siyee in Stämmen gekommen, die der Seuche bisher entgangen waren. Auraya war sich nur allzu sehr im Klaren darüber, dass ihre Bemühungen bei Stämmen, die kleiner waren und sich ihren Vorschlägen bereitwilliger fügten, eher Früchte tragen würden, aber sie war fest entschlossen, den Tempelbergstamm in einem besseren Zustand zu verlassen, als sie ihn vorgefunden hatte.

»Die Krankheit ist fest entschlossen, einen jeden von uns auf die Probe zu stellen«, sagte Sprecher Ryliss mutlos, während er den Ölbrenner wieder auffüllte.

»Das wird sie tun, wenn man ihr die Freiheit lässt, sich auszubreiten«, pflichtete Auraya ihm bei.

»Wie können wir das verhindern?«

»Schick jeden fort, der von der Krankheit genesen ist.«

Er runzelte die Stirn. »Du hast gesagt, man könne sich nicht an jenen anstecken, die sich zur Gänze von der Krankheit erholt haben. Ich würde Leute fortschicken, die hier keine Gefahr für andere darstellen.«

»Aber sie nehmen zu viel Platz ein und hindern uns daran, die Kranken richtig zu isolieren. Wenn du diejenigen fortschicken würdest, die noch nicht krank waren, gehst du das Risiko ein, dass einige von ihnen den Krankheitskeim in sich tragen, ohne dass sie bisher Symptome gezeigt hätten.«

»Aber… ist das wirklich notwendig?«

»Dein Dorf ist übervölkert«, erklärte sie ihm nicht zum ersten Mal.

»Es ist bei uns doch gewiss nicht schlimmer als anderswo.«

»Die meisten Dörfer sind im letzten Jahr kleiner geworden, weil sie Mitglieder ihrer Gemeinschaft im Krieg verloren haben. Viele Siyee sind erst kürzlich zu eurem Stamm gestoßen, nicht wahr?«

Ryliss nickte. »Ja. Sie sind hergekommen, um mehr über die Götter zu erfahren und ihnen zu dienen.«

Sie sah ihn überrascht an. »Warum sind sie nicht zu den Priestern im Offenen Dorf gegangen?«

Er zuckte die Achseln. »Sie sind hergekommen, bevor die Priester ankamen. Und… nichts für ungut, aber einige Siyee sind der Meinung, dass sie von anderen Siyee die uns gemäße Art der Huldigung erlernen sollten.«

Sie lächelte. »Das verstehe ich. Würde es helfen, wenn zirklische Priester hierherkämen? Wären die Wächter bereit, an der Seite von Landgehern zu unterrichten?«

»Ich werde sie fragen.«

»Danke.« Auraya wandte sich von einem Patienten ab und ging zum nächsten hinüber. »Diese Neuankömmlinge sind jung und stark. Ihre Körper kämpfen gegen die Krankheit.« Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen. »Also, wirst du einige Leute fortschicken?«

Ein Ausdruck tiefen Widerstrebens legte sich über seine Züge, aber Auraya hörte seine Antwort nicht. Eine andere Stimme drang in ihren Geist.

Auraya. Komm zum Tempel.

So plötzlich, wie sie gekommen war, zog Huan sich aus ihrem Geist zurück. Ryliss redete noch immer. Und fand noch immer Entschuldigungen für seinen Standpunkt, wie sie feststellte.

»Es tut mir leid, Sprecher«, unterbrach sie ihn. »Ich muss dich jetzt allein lassen. Huan hat mich gerufen.«

Seine Augen weiteten sich. »Dann solltest du sie nicht warten lassen.«

»Nein.« Sie verließ den Raum und trat in einen Gang hinaus. Das Höhlensystem war flach, und wenige Momente später stand sie auch schon im Freien. Sie blickte zum Himmel auf und überzeugte sich davon, dass kein anderer Siyee aus einer Öffnung in den Klippen über ihr sprang und mit ihr zusammenstoßen konnte, dann konzentrierte sie sich auf ihr Gefühl für die Welt und ließ sich auf die am nächsten liegenden Berge zuschweben.

Wind umpeitschte ihr Gesicht, kühl und angenehm. Als sie näher kam, konnte sie die Umrisse des Tempels erkennen. Obwohl sie ihn inzwischen mehrmals gesehen hatte, erfüllte der Anblick des kleinen, aus dem Berggipfel geschlagenen Gebäudes sie noch immer mit Staunen. Wie dieser Tempel erbaut worden war, war ein Rätsel. Ryliss hatte ihr erzählt, dass er weit älter war als die Rasse der Siyee. Wer immer ihn geschaffen hatte, musste entweder ein geübter Kletterer oder des Fliegens fähig gewesen sein. Warum der Tempel erbaut worden war, war ein noch größeres Rätsel.

Fünf Säulen trugen ein Kuppeldach. Auraya landete in der Mitte des kreisförmigen Bodens. Sie holte tief Luft und sah sich um; ihr Herz schlug schneller vor Erregung. Obwohl sie sich an Chaias Gegenwart gewöhnt hatte, erfüllte die Aussicht auf eine persönliche Begegnung mit den anderen Göttern sie noch immer mit einer Mischung aus Begeisterung und Furcht.

Huan, ich bin hier, rief sie.

Auraya konzentrierte sich auf ihre Wahrnehmung der Magie um sie herum. Sie spürte, wie eine Präsenz mit großer Geschwindigkeit näher kam. Die Magie in der Welt geriet um die Göttin herum in Aufruhr, und Auraya musste dem instinktiven Drang widerstehen zurückzuweichen. Nur wenige Schritte von ihr entfernt endete das Phänomen abrupt, und die Luft begann zu schimmern. Das Licht formte die Gestalt einer Frau mit strengen Zügen. Auraya warf sich vor ihr nieder.

Erhebe dich, Auraya, sagte Huan. Wir haben eine Aufgabe für dich.

»Was soll ich tun?« Auraya stand auf.

Wir haben einen großen Fehler entdeckt, der vor langer Zeit begangen wurde. Du musst dieses Missgeschick korrigieren – aber sei gewarnt: Es wird weder einfach noch angenehm sein. Wir haben in Erfahrung gebracht, dass ein Feind, den wir lange für tot hielten, noch lebt. Und er lebt nicht nur, er hat sich auch in die Angelegenheiten der Welt eingemischt.

Aurayas Herz setzte einen Schlag aus, als ihr bewusst wurde, wer dieser Feind sein musste. »Kuar! Aber wie hat er überlebt? Wie soll ich ihn besiegen?«

Es ist nicht Kuar. Wenn Kuar überlebt hätte, würden wir dich nicht gegen ihn in den Kampf schicken. Er war mächtiger als du. Dies ist ein geringerer Feind und ein älterer. Juran war der Letzte, der ihm entgegengetreten ist. Sein Name ist Mirar.

Auraya sah Huan erstaunt an. »Mirar? Wie ist das möglich?« Dann wurde ihr klar, was die Götter von ihr verlangten, und ihr wurde schwer ums Herz. O Leiard. Wirst du mir jemals verzeihen?

Das wird er nicht tun, erklärte Huan ihr. Leiard ist Mirar.

»Leiard?«, rief Auraya. Einen Moment lang konnte sie nicht denken. Dann lachte sie ungläubig auf. »Das kann nicht sein. Ich habe seinen Geist gesehen. Nun, jedenfalls habe ich es getan, bevor er…«

Mirar ist Leiard. Er hat uns getäuscht. Er hat die Weißen getäuscht und, was das Schlimmste von allem ist, er hat dich überlistet und benutzt. Wir sind uns nicht sicher, wie es ihm gelungen ist, sich hinter der Persönlichkeit Leiards zu verstecken, aber wir sind uns ganz sicher, was seine wahre Identität betrifft. Als du dich mit ihm vernetzt hast, um seine heilende Gabe zu erlernen, habe ich die Wahrheit gesehen.

»Du warst dort…?«

Ja.

Auraya schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte während der Vernetzung Bruchstücke von Leiards Gedanken gesehen. Und nichts von dem, was ihr dabei offenbar geworden war, hatte etwas anderes enthüllt als Kenntnisse der Heilkunst.

Als du abgelenkt warst, hat er seinen Schild sinken lassen, weil er glaubte, ihm drohe keine Gefahr.

Sie forschte in ihren Erinnerungen an Leiard. Als Erstes erinnerte sie sich an ihn, wie er gewesen war, als er in dem Wald in der Nähe ihres Dorfes gelebt und sie unterrichtet hatte. Hatte es irgendwelche Anzeichen dafür gegeben, dass er in Wirklichkeit Mirar war? Sie konnte nichts Derartiges entdecken.

Als Nächstes führte sie sich den Mann vor Augen, der in Jarime ihr Ratgeber gewesen war. Er hatte sich so unwohl im Tempel gefühlt. Sie hatte vermutet, dass es wohl jedem Traumweber so ergangen wäre. War seine Furcht vor allem, was mit der zirklischen Religion zu tun hatte, ein Hinweis auf seine wahre Identität gewesen? Er hatte diese Furcht überwunden und war Traumweberratgeber geworden. Allerdings war es nicht seine Idee gewesen, sondern ihre. Die Traumweber hatten von seiner Arbeit profitiert, aber daran war nichts Ungewöhnliches oder Unrechtes. Jeder Traumweber hätte danach getrachtet, das Gleiche zu tun.

Es sei denn, er hätte seine Position irgendwie dazu benutzt, ohne ihr Wissen andere Vorteile zu erlangen …

Du siehst nicht das ganze Ausmaß seines Betrugs, Auraya. Leiard existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben. Der Mann, den du kanntest, war eine Erfindung und dazu geschaffen, dich zu manipulieren.

Auraya runzelte die Stirn. Sie hielt Ausschau nach etwas Ungewöhnlichem in Leiards Verhalten. Sie sollte sich fragen, wie Mirars Verhalten gewesen war. Wenn es sein Ziel gewesen war, sie mit der Erfindung Leiards zu täuschen, so hatte er Erfolg gehabt. Er hatte zuerst ihre Freundschaft und ihr Vertrauen gewonnen, dann ihre Liebe. Sie dachte an die Traumvernetzungen, an die Beteuerungen seiner Liebe, an die Versprechen. Nichts davon war echt gewesen. Sie schauderte. Sie hatte… Dinge mit einem Mann getan, den sie nicht wirklich kannte und dessen Absichten weder für sie noch für die Götter oder die Zirkler im Allgemeinen gut gewesen sein konnten.

Worin bestand dann Mirars wahre Absicht? Hat Juran seine Pläne durchkreuzt, als er unsere Affäre entdeckte und ihn fortschickte? Ist Mirar nach Si gekommen, weil er hoffte, mich dort anzutreffen und unsere Affäre fortsetzen zu können?

Während ihr die verschiedenen Möglichkeiten durch den Kopf gingen, stieg wachsender Zorn in ihr auf. Ich war bereit, so viel für Leiard zu riskieren! Aber ich habe gesehen, dass er sich verändert hatte, wurde ihr plötzlich klar. Als wir uns vernetzt haben, damit er mich unterweisen konnte, habe ich einen Unterschied gespürt. Was hat er noch einmal gesagt? »Ich bin nicht mehr der, der ich war.«

Jetzt erkennst du die Wahrheit, sagte Huan. Sie wird dir Schmerz bereiten. Wir wünschten, es wäre nicht so. Es wäre besser, wenn dieser Fehler nie gemacht worden wäre. Halte an deinem Zorn fest. Du wirst ihn brauchen, um zu tun, was getan werden muss. Die anderen Weißen sind viel zu weit entfernt, um zu handeln. Du bist in der Nähe, und du hast den Vorteil der Überraschung auf deiner Seite. Er wird nicht damit rechnen, dass du diejenige bist, die ihn hinrichten soll.

»Hinrichten?« Auraya wurde kalt bis auf die Knochen.

Ja. Du zögerst zu töten. Das ist gut; wir wären enttäuscht von dir, wenn es anders wäre. Aber er muss sterben – und diesmal richtig. Ich werde dich leiten.

»Wann?«

Jetzt.

»Aber die Siyee…?«

Du wirst nicht lange dafür brauchen, Auraya.

»Oh.« Sie fühlte sich eigenartig orientierungslos. Ich werde keine Zeit haben, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen, nicht wahr? Ich werde mir anschließend darüber klar werden müssen, was das alles bedeutet.

Ja. Du darfst dich von nichts ablenken lassen, warnte Huan sie. Er ist stark. Es wird schwierig werden. Er wird versuchen, dich zu manipulieren. Er wird alles daransetzen, dich aufzuhalten.

Natürlich wird er das tun, dachte sie. Ich bezweifle, dass er sterben will.

Ich werde dich leiten. Geh jetzt, Auraya. Finde ihn.

37

Der Atem der Ruderer formte sich in der Luft zu weißem Nebel, doch Imi war angenehm warm. Sie hatte sich zuerst gefragt, warum Imenja die Luft um die Mannschaft herum nicht mit ihrer Magie erwärmte, aber dann waren ihr die Schweißperlen auf der Stirn der Männer aufgefallen, und sie hatte begriffen, dass ihnen von der Anstrengung bereits heiß genug war. Wenn sie sich in Imenjas Wärmeblase befunden hätten, hätten sie sich unbehaglich gefühlt.

Zu beiden Seiten des Horizonts waren Wolken sichtbar. Sie dämpften das Licht der herannahenden Morgendämmerung. Das Meer, das Boot und selbst die gebräunten Gesichter der Ruderer waren von einem ungesunden Grauton. Es war, als sei alle Farbe aus der Welt herausgesaugt worden.

Die Küste war eine dunkle, gebirgige Linie, die aus dem Nachthimmel hervortrat, getrennt von dem dunklen Wasser durch einen Streifen bleichen Sandes. Imenja wandte sich zu Imi um. Ihr Blick war ruhig, und sie lächelte nicht, als sie Imi eine Hand auf die Schulter legte.

»So weit können wir uns der Küste nähern, ohne das Risiko einzugehen, gesehen zu werden«, sagte sie. »Sind wir dem Ufer nahe genug?«

Imi nickte. »Ich glaube, ja.«

»Geh keine unnötigen Risiken ein.«

»Keine Sorge, das werde ich nicht tun.«

»Wir werden heute Nachmittag hierher zurückkehren. Viel Glück.«

Imi lächelte. »Also dann, bis später.«

Sie trat an den Rand des Bootes. Es schaukelte zu heftig in den Wellen, als dass sie gefahrlos ins Wasser hätte springen können. Das Beste würde sein, wenn sie sich auf die Reling setzte und sich fallen ließ, sobald das Boot sich in die richtige Richtung neigte.

Ihr Plan funktionierte recht gut, auch wenn es kaum ein eleganter Abgang für eine Prinzessin war. Das Wasser war herrlich kalt. Sie holte tief Luft, tauchte unter die Oberfläche und schwamm auf die Küste zu.

Vom Boot aus hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Entfernung gering war, aber sie brauchte länger als erwartet, um das Ufer zu erreichen. Das Wasser war schlammig, und das Licht des nahenden Sonnenaufgangs war noch zu schwach, um unterhalb der Oberfläche viel erkennen zu können. Imi war selten so weit draußen auf dem Meer gewesen und niemals allein. Sie konnte sich mühelos vorstellen, dass aus der Düsternis um sie herum plötzlich etwas auftauchte. Etwas Großes, Massiges. Oder vielleicht etwas Kleineres und Schnelleres wie eine Flarke, etwas, das man nur für einen Augenblick sah, bevor es angriff.

Ein Schauer überlief sie, ähnlich dem Gefühl, das sie manchmal hatte, wenn sie glaubte, niesen zu müssen, es aber nicht konnte.

Plötzlich wurde das Wasser heller. Sie stieg an die Oberfläche auf, weil sie vermutete, die Sonne müsse aufgegangen sein, aber es hatte sich nichts verändert. Vor ihr lag der Strand, der jetzt einen Bogen um eine seichte Bucht bildete. Als sie wieder hinabblickte, stellte sie fest, dass sie den bleichen Meeresboden unter sich sehen konnte. Sie schwamm weiter.

Schon bald begann das Wasser um sie herum, an ihr zu zerren. Es brodelte und zuckte über ihr. Sie hatte schon früher von dem Phänomen der Brandung gehört, hatte aber nie versucht, darin zu schwimmen. Ein Wassertänzer hatte ihr einmal davon erzählt. Er hatte gesagt, wenn man nur wüsste, wie, könne man die Wellen reiten. Während sie nun auf einer dieser Wellen emporglitt, suchte sie nach dem Teil, den man reiten musste. Sie wusste, dass sie ihn gefunden hatte, als sie spürte, wie die Wucht der Welle sie einfing und vorwärtsstieß.

Die Fahrt auf der Welle war berauschend und endete nur allzu bald. Als sie Sand unter ihren Füßen spürte, stand sie auf. Sie drehte sich um und überlegte, ob sie noch einmal hinausschwimmen sollte, um auf einer weiteren Welle zu reiten.

Nein, ich muss mich auf die Suche nach den Siyee machen. Ich weiß nicht, wie lange ich dafür brauchen werde.

Schließlich watete sie aus dem Wasser und ging den Sandstrand hinauf bis zu der Stelle, an der die ersten Gräser wuchsen. Die Sonne war endlich in der Lücke zwischen den Wolken und dem Horizont aufgetaucht und hüllte alles in ein goldenes Licht. Imi kletterte auf eine Düne und stellte fest, dass dahinter weitere Dünen lagen, die sich in der Ferne erstreckten, so weit das Auge sehen konnte.

Die Elai-Händler, die ihr Geschichten über die Siyee erzählt hatten, hatten auch berichtet, dass die Geflügelten in seltsamen Häusern lebten, die wie halb vergrabene Blasen aussähen. Sie bezweifelte, dass diese Händler sich weit vom Wasser entfernt hatten, weil sie sich vor dem Austrocknen hüten mussten, daher hoffte sie, dass man die Häuser der Siyee vom Strand aus würde sehen können. Sie ging am Ufer entlang und folgte dem weiten Bogen der Bucht zu einer felsigen Landspitze und von dort aus weiter in eine größere Bucht. Nach einer Weile bekam sie Durst und nahm einen Schluck aus der Flasche, die Imenja ihr mitgegeben hatte. Obwohl die Sonne hinter Wolken verborgen war und in der Luft ein feiner Gischtnebel lag, wurde Imis Haut bald unangenehm trocken. Sie kehrte ins Wasser zurück und schwamm parallel zum Strand weiter.

Ich könnte stundenlang gehen, bevor ich auf Siyee treffe, dachte sie. Vielleicht sollte ich stattdessen schwimmen und in jeder Bucht Halt machen, um nach Siyee Ausschau zu halten. Auf diese Weise werde ich nicht austrocknen, und ich kann jedes Mal auf den Wellen reiten.

Während der nächsten Stunden schwamm sie an der Küste entlang. Nach und nach wurden die Landzungen zwischen den Buchten felsiger. Imi umschwamm sie in einem großen Bogen. Als sie die Wellen gegen die Felsen krachen sah, wusste sie, dass sie sich nicht zu nahe heranwagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie ebenfalls gegen die Felsen geschmettert werden würde.

Davon abgesehen gab es kaum Unterschiede zwischen einer Bucht und der nächsten. Die Wolken legten nach wie vor einen eifersüchtigen Schleier über die Sonne, aber Imi spürte dennoch, dass der Tag voranschritt. Als sie einmal mehr Halt machte, um über eine weitere Reihe grasbewachsener Dünen zu schauen, seufzte sie und schüttelte den Kopf.

Ich werde bald umkehren müssen, oder es wird dunkel sein, bevor ich zu der Stelle zurückkomme, an der Imenja mich abgesetzt hat. Sie runzelte die Stirn, dann durchzuckte sie plötzlich ein Stich der Panik. Wie soll ich die Bucht wiedererkennen?

Der Wind pfiff und flatterte um sie herum. Sie blickte auf… und zuckte zusammen, als sie Gestalten über sich kreisen sah.

Siyee!

Sie sahen genauso aus, wie die Händler sie beschrieben hatten. Obwohl sie klein waren, konnte sie feststellen, dass es sich bei diesen beiden um erwachsene Männer handelte. Einer hatte graues Haar, während der andere jünger war. Imi wurde leichter ums Herz, und sie winkte, wobei sie hoffte, dass die Siyee dies als eine freundliche Geste auffassen würden.

Die beiden Siyee ließen sich tiefer sinken und landeten im Sand. Dann richteten sie sich auf und sahen sie mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier an.

»Sei mir gegrüßt, Meeresdame«, sagte der ältere Siyee langsam in der Sprache der Elai. »Ich bin Tyrli, Sprecher des Sandstamms. Mein Begleiter ist mein Enkel Riz.«

»Ich grüße euch, Männer des Himmels«, erwiderte sie. »Bitte verzeiht mir, dass ich ungebeten in euer Land eingedrungen bin. Ich bin Yli, Tochter des Jägers Sei.«

Imi hatte sie gewarnt, den Siyee nicht zu erzählen, dass sie eine Prinzessin war. Sie würden sie nicht allein nach Hause gehen lassen wollen. Wenn sie nicht zum Schiff zurückkehren konnte, würde sie warten müssen, bis die nächste Gruppe von Elai-Händlern erschien. Vielleicht würde ihr ohnehin nichts anderes übrigbleiben, wenn die Siyee ihr nicht sagen konnten, wo Borra lag, aber es wäre so viel schöner, wenn ihr Vater die Gelegenheit bekäme, Imenja und Reivan kennen zu lernen.

Der Mann lächelte. »Dir sei verziehen, Meeresdame. Darf ich fragen, warum du allein hierhergekommen bist?«

Sie senkte den Kopf. »Ich habe mich verirrt«, gestand sie. »Es ist meine eigene Schuld. Ich bin davongeschlüpft, als die Älteren nicht hingesehen haben. Plünderer haben mich gefangen, aber ich konnte entkommen. Jetzt muss ich feststellen, dass ich den Heimweg nicht finde. Ich bin noch nie so weit gereist. Ich hatte gehofft, auf Siyee zu stoßen, die mir weiterhelfen könnten.« Es war die Wahrheit – oder zumindest fast. Sie sah Mitgefühl in den Gesichtern der Siyee aufschimmern.

»Du hast Glück«, sagte Tyrli. »Glück, dass die Plünderer dich nicht getötet haben, und Glück, dass du entkommen bist.«

»Die Weißen sollten etwas gegen sie unternehmen«, bemerkte der junge Mann mit einem finsteren Stirnrunzeln.

»Außerdem hast du Glück gehabt, uns zu finden«, fuhr Tyrli fort. »Wir sind nur wenige Flugstunden von unserem Dorf entfernt und halten an der Küste Wache, falls pentadrianische Eindringlinge auftauchen sollten. Du hättest Tage gebraucht, um unseren Stamm zu erreichen.«

»Wisst ihr, wo Borra liegt?«

»Ich kann dir eine grobe Wegbeschreibung geben.«

Sie seufzte vor Erleichterung. »Dann habe ich wahrhaftig Glück gehabt.«

Er kicherte. »Du musst müde und hungrig sein. Wir haben nicht weit von hier unser Lager aufgeschlagen. Komm und iss mit uns. Du kannst heute Nacht in unserem Lager schlafen, ohne dass dir Gefahr droht, und morgen kannst du dann den Heimweg antreten.«

»Ich würde dein Angebot mit Freuden annehmen, aber ich muss zurück zum…« Sie brach ab, denn sie konnte ihm nicht erzählen, dass sie zu Imenja zurückkehren musste. Ihr fiel kein guter Grund ein, warum sie wieder an der Küste entlang zurückschwimmen musste.

Er schenkte ihr ein herzliches Lächeln. »Du brennst darauf, nach Hause zu kommen. Das verstehe ich, aber bis zu deiner Heimat musst du noch viele Tage schwimmen, und es wird bald dunkel sein. Bleib heute Nacht bei uns.«

Vielleicht konnte sie sich davonstehlen, nachdem sie ihr erzählt hatten, wo Borra lag. Also zwang sie sich zu einem Lächeln und nickte. »Ja. Das werde ich tun. Vielen Dank.«

Er bedeutete ihr, an seiner Seite den Strand hinunterzugehen. Imi blickte aufs Meer hinaus und kämpfte gegen ein Gefühl wachsender Panik an.

Imenja wird sich solche Sorgen machen, wenn ich nicht zum Boot zurückkehre, aber was kann ich tun? Wenn ich Tyrli bedränge, mir sofort den Weg zu beschreiben, könnte er Verdacht schöpfen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Aber wenn ich nicht zu Imenja zurückkehre, könnte sie an Land kommen, um nach mir zu suchen.

Tyrli tätschelte ihren Arm. »Keine Sorge«, erklärte er tröstend. »Wir werden dir helfen, nach Hause zu kommen.«


Als Auraya sich dem Stamm vom Blauen See näherte, verlangsamte sie ihr Tempo und spürte, wie ihr Zorn ein wenig verblasste. Überall waren Siyee – im Dorf, auf den Feldern und natürlich in den Lauben, in denen die Kranken behandelt wurden. Es war nur allzu leicht, sich vorzustellen, wie verwirrt und verängstigt sie sein würden, wenn sie den Traumweber angreifen würde, der ihnen half.

Huan, sagte sie. Die Göttin war in der Nähe geblieben, auch wenn sie schwieg.

Ich bin hier, erwiderte die Göttin. Ah, ich sehe deine Sorge. Es wäre besser, wenn es sich vermeiden ließe, die Siyee zu beunruhigen. Finde eine Möglichkeit, Mirar aus dem Dorf zu locken.

Aurayas Erleichterung war kurzlebig. Er würde die kranken Siyee und das Dorf nicht verlassen, es sei denn, sie gab ihm einen Grund dazu. Wenn sie ihm gegenüberstand, würde er vielleicht spüren, dass etwas nicht stimmte. Konnte sie jemand anderen bitten, ihm eine Nachricht zu überbringen? Was sollte sie ihm ausrichten lassen?

Nur dass ich ihn unter vier Augen treffen will, überlegte sie. Sie fühlte sich erbärmlich, als ihr klar wurde, dass er dies vielleicht als eine Aufforderung deuten würde, ihre Affäre wieder aufzunehmen. Es erscheint mir unfair, aber es war noch weniger recht von ihm, mich glauben zu machen, er sei ein anderer. Bei diesem Gedanken loderte neuer Zorn in ihr auf.

Schließlich konzentrierte sie sich auf den Geist der Leute unter ihr und entdeckte Sprecher Dylli in seiner Laube. Sie ließ sich neben dem Eingang zu Boden sinken.

»Sprecher Dylli!«, rief sie.

»Auraya von den Weißen?«, antwortete er. Sie hörte ihn an die Tür kommen.

»Ja«, erwiderte sie. Als die Hängetür geöffnet wurde, lächelte Auraya. »Könntest du Wilar eine Nachricht von mir überbringen?«

Er nickte. »Natürlich, aber ich kann dir nicht sagen, wann sie ihn erreichen wird. Er ist vor einigen Tagen aufgebrochen, um Zutaten für seine Heilmittel zu sammeln. Tyve ist hier. Kann er dir helfen?«

»Nein.«

Mirar ist fort. Ein starkes Gefühl bemächtigte sich ihrer, und sie stellte fest, dass es Erleichterung war. Ich will ihn nicht töten, schoss es ihr durch den Kopf. Auch wenn er es verdient hätte. Es gefällt mir einfach nicht, einen anderen zu töten. Vielleicht werde ich es auch nicht tun müssen. Er wird sich aus Si davonstehlen, und dann wird es an Juran sein, ihn zu jagen. Aber kaum war ihr der Gedanke gekommen, begriff sie auch schon, dass sie der Aufgabe nicht so leicht würde ausweichen können. »Weißt du, wohin er wollte?«, zwang sie sich zu fragen.

Dylli schüttelte den Kopf.

Auraya nickte. »Er kann nicht weit gekommen sein. Ich werde einfach umherfliegen müssen, bis ich ihn finde.«

Der Sprecher lächelte. »Viel Glück, Auraya von den Weißen.«

»Danke.«

Sie ließ sich schnurgerade in den Himmel hinauf aufsteigen und betrachtete das Dorf und die umliegenden Seen und Wälder. Wenn die Siyee Tiere jagten, flogen sie oft in immer breiter werdenden Kreisen. Sie würde es mit dieser Methode versuchen und gleichzeitig die Gedanken eines jeden erforschen, der Mirar gesehen haben könnte.

Die Suche gab ihr Zeit zum Nachdenken. Sie ließ sich alles durch den Kopf gehen, was Huan ihr erzählt hatte. Die Göttin hatte Mirar durch Aurayas Vernetzung mit ihm entlarvt. Eigenartig, dass sie es mir nicht schon bei dieser Gelegenheit erzählt hat, überlegte sie. Es war auch ein wenig merkwürdig, dass Chaia nicht davon gesprochen hat. Vielleicht möchte er unsere Beziehung nicht trüben, indem er offenbar macht, dass er von mir erwartet, dass ich meinen ehemaligen Geliebten töte.

Sie dachte über ihr Widerstreben nach, Mirar zu töten. Ich habe noch immer nicht ganz begriffen, dass er nicht Leiard ist, das ist der Grund, sagte sie sich. Es ist einfach zu unglaublich. Ich habe jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Ich muss darauf vertrauen, dass Huan die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich wüsste, warum Mirar es getan hat, überlegte sie weiter. Ich frage mich, ob ich ihn mit einer List dazu bringen könnte, mir seine Pläne zu offenbaren.

Es wäre unklug von dir, irgendetwas zu glauben, was er dir erzählt, warnte Huan sie. Ein echter Schurke prahlt nicht mit seinen Leistungen oder seinen Plänen, es sei denn, er will jemanden täuschen. Akzeptiere, dass einige Fragen unbeantwortet bleiben werden.

Auraya seufzte. Warum ich?, schoss es ihr durch den Kopf. Warum hat er mich für seine Pläne ausgesucht? Die anderen Weißen hätte er niemals so leicht täuschen können. Ich bin eine Närrin!

Nein, Auraya. Wir erwählen keine Narren zu unseren Stellvertretern. Wenn wir den Betrug nicht durchschauen konnten, konnten wir kaum von dir erwarten, dass du es tust. Deshalb muss er sterben. Seine Fähigkeiten und sein Hass auf uns machen ihn zu einer Gefahr für Sterbliche.

Auraya zuckte zusammen. Zu seinen Fähigkeiten gehörte eine außerordentliche Heilergabe – eine Gabe, die er sie gelehrt und die viele hundert Siyee gerettet hatte. Warum sollte er das tun? Lag eine verborgene Falle hinter seinem Verhalten, die ihr oder ihren Patienten zum Schaden gereichen konnte? Ihre Unterweisung hatte zu seiner Entdeckung geführt. Hatte er um dieses Risiko gewusst?

Eine Bewegung unter dem Blätterwerk der hohen Bäume erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie verlangsamte ihren Flug, und ein kalter Schauer überlief sie, als sie einen Blick auf eine Traumweberrobe erhaschte. Mirar folgte einem Fluss, der eine kleine Schlucht hinabströmte, und er trug seinen Beutel und ein aufgerolltes, schweres Seil.

Plötzlich hämmerte ihr Herz.

Hab keine Angst, sagte Huan. Wir haben dich stark genug gemacht, um Wilde zu besiegen.

Das bezweifle ich nicht, erwiderte Auraya.

Und dennoch fürchtest du dich. Er kann dich nur mit Worten verletzen. Denk immer an seinen Verrat. Bring seine Lügen für alle Zeit zum Schweigen.

Auraya atmete tief ein und nahm all ihren Zorn und ihre Entschlossenheit zusammen. Er ist nicht Leiard; er ist Mirar. Dann schoss ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf. Die Traumweber verdienen es nicht, dass dieser Mann ihre Zukunft und ihren Ruf ruiniert.

Auraya ließ sich durch die Bäume sinken und landete einige Schritte von ihm entfernt. Als er zu ihr aufblickte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung.

»Auraya«, sagte er.

Dann lächelte er. Es war ein so vertrautes, unbefangenes Lächeln. Irgendwo tief in ihr stiegen all die Entrüstung und die Wut auf, die sie hätte empfinden sollen. Sie hieß das Gefühl willkommen und spürte, wie es ihre Entschlossenheit stärkte.

»Mirar«, erwiderte sie kühl.

Als jähes Begreifen in seinen Augen aufblitzte, erstarb alle Hoffnung in Auraya, Huan könnte sich geirrt haben. Sein Lächeln verblasste. Sie starrten einander lange an.

»Du weißt es also«, sagte er schließlich.

»Ja. Du leugnest es nicht.«

»Würde es mir etwas nutzen?«

»Nein. Huan hat gesehen, wer du bist, als du mich unterrichtet hast.«

»Oh.« Er verzog das Gesicht.

Plötzlich fühlte sie sich furchtbar leer. Sie hatte gehofft, dass die Götter sich irrten, dass Leiard eine plausible Erklärung haben und beweisen würde, dass er nicht Mirar war. Aber er hatte es praktisch zugegeben. Er war nicht Leiard. Der Mann, den sie geliebt hatte, existierte nur als Illusion, als Lüge.

Zu ihrer Überraschung brachte die Erkenntnis ihr eine ungeheure Erleichterung. Sie kannte diesen Mann nicht. Er war lediglich der verschlagene Zauberer der Legende, ein Mann, von dem die Welt einmal frei gewesen war und von dem sie sie abermals befreien sollte.

Ich kann ihn töten, sagte sie sich. Aber statt Magie zu sammeln, um ihn anzugreifen, platzte sie zu ihrer eigenen Überraschung mit einer Frage heraus.

»Warum hast du es getan?«

Er reckte das Kinn vor. »Du hättest mir nicht geglaubt, wenn ich es dir erzählt hätte.«

Die Herausforderung in seinen Augen ließ Auraya frösteln. »Nein, denn ich hätte niemals wissen können, ob irgendetwas von dem, was du sagst, der Wahrheit entspricht.«

Huan hat recht. Meine Fragen können nur unbeantwortet bleiben. Plötzlich hatte sie bloß noch den Wunsch, die Angelegenheit hinter sich zu bringen.

Gut, sagte Huan. Weiteres Gerede würde dich nur verletzbar für einen Hinterhalt machen. Greif ihn sofort an.

Auraya senkte den Blick und zog Magie in sich hinein. Während sie das tat, dachte sie darüber nach, wie sie ihn angreifen sollte. Er musste einen Schild geschaffen haben, der jedoch vielleicht nicht stark genug war, um einen Angriff von großer Macht abzuwehren. Wenn er nicht imstande war, seinen Schild rechtzeitig zu verstärken, konnte alles binnen weniger Sekunden vorüber sein. Sie hörte, wie er einen Schritt auf sie zu machte.

»Es gibt durchaus eine Möglichkeit für dich, herauszufinden…«, begann er.

Ohne aufzusehen, schleuderte sie einen Blitz magischer Gewalt. Er heulte überrascht auf und taumelte rückwärts. Sein Schild hielt der Wucht des Angriffs stand.

»Warte…«, rief er, während er das Gleichgewicht wiedererlangte. »Auraya!«

Sie griff erneut an. Obwohl sie jetzt wusste, wer er wirklich war, erfüllte seine Stärke sie doch mit Überraschung. Sie hatte gewusst, dass Leiard mächtig war, aber nicht so mächtig.

»Was ist mit deinem Versprechen?«, schrie er. »Du hast gesagt, mir würde nichts passieren. Du hast es bei den Göttern geschworen!«

Sie hielt inne, dann schlug sie abermals mit Magie auf ihn ein. »Ich habe geschworen, dass Leiard nichts passieren würde. Du bist nicht Leiard.«

Er setzte sich nicht zur Wehr. Er muss wissen, dass er keine Chance hat zu siegen, dachte sie. Ich brauche lediglich die Stärke meines Angriffs zu erhöhen, bis ich ihn bezwungen habe. Als sie neue Magie in sich hineinzog, trat Entschlossenheit in Mirars Züge, und sie bereitete sich auf einen Gegenangriff vor.

»Aber ich bin Leiard«, sagte er leise. »Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.«

Wo nichts gewesen war, war plötzlich ein fremder Geist. Sie sah eine Flut von Bildern und Erinnerungen und spürte Absichten und Gefühle.

Nein!, befahl Huan scharf. Sieh nicht hin!

Es war zu spät. Plötzlich waren Antworten auf alle Fragen da, die Auraya sich gestellt hatte. Mirars Gedankenstimme sprach zu ihr, und sie konnte nicht anders, als zuzuhören.

Dies ist die Art, wie ich gestorben bin

Sie sah Juran kämpfen und spürte Mirars Ungläubigkeit und das Entsetzen über den Verrat, als seine Stärke langsam nachließ. Er rief sich alles ins Gedächtnis, was er getan hatte, und konnte nichts entdecken, was seine Hinrichtung gerechtfertigt hätte. Sein einziges Verbrechen war es gewesen, die Götter zu verärgern. Niemand war gestorben. Niemand hatte Schaden erlitten. Er hatte die Menschen lediglich dazu ermutigt, Fragen zu stellen, und ihnen eine Alternative angeboten. Und so hatten die Götter reagiert…

Sie sah eine gewaltige Explosion von Staub und Stein und spürte ein Echo der Qual, zerquetscht zu werden. Sie verstand, dass Mirar genug Magie in sich hineingezogen hatte, um einen Bruchteil seines Selbst am Leben zu erhalten, und sie begriff auch, dass er den Göttern und Juran entkommen war, indem er seine Persönlichkeit unterdrückt und eine andere erschaffen hatte.

Dies ist es, wozu ich geworden bin.

Nicht der Mann, den sie als Leiard gekannt hatte. Nicht zuerst jedenfalls. Sein Körper war verbogen und vernarbt, sein Gedächtnis verloren, und er war als elender Krüppel in der Welt umhergeschweift. Erst viele Jahre später hatte sein Körper sich erholt. Erst nachdem er nach Jarime gekommen und Traumweberratgeber geworden war, hatte sich seine wahre Identität in ihm geregt.

Dies ist der Grund, warum ich mich erinnert habe.

Sie war es, die seine Tarnung zum Einsturz gebracht hatte. Sein Instinkt, den er zusammen mit Leiard erschaffen hatte, hatte ihn gemahnt, sich von Jarime fernzuhalten, aber das Verlangen, in ihrer Nähe zu sein, war stärker gewesen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Leiard hatte sie wirklich geliebt. Sie war nicht getäuscht worden. Aber Leiard war nicht real.

Oh doch, das ist er. Dies ist es, wozu ich geworden bin.

Sie sah, was sie zuvor nur hatte erahnen können. Die Netzerinnerungen Mirars waren sein wahres Ich gewesen, das langsam zurückkehrte, aber Leiard hatte ein ganzes Jahrhundert Zeit gehabt, um eine reale Person zu werden. Nach der Schlacht war er mit einer Freundin nach Si gereist. Als sie diese schöne junge Frau sah, durchzuckte Auraya ein Stich der Eifersucht. Wer ist sie? Die Freundin hatte ihm zu begreifen geholfen, dass Leiard nichts sein konnte, was Mirar nicht auch sein konnte. Daraus hatte er nur einen Schluss ziehen können: Wenn Leiard Auraya liebte, dann musste auch er sie lieben. In dem Augenblick, da er dies akzeptiert hatte, war er wieder zu einem ganzen Menschen geworden. Das Wissen, dass er nicht mit ihr zusammen sein konnte, schmerzte, aber nicht minder schmerzte ihn der Gedanke, dass er sie in Schwierigkeiten bringen könnte, daher wollte er Nordithania verlassen, sobald die Siyee genesen waren, und an einen fernen Ort gehen.

Ich bin Leiard, sagte Mirar. Und ich bin Mirar. Keiner von uns ist mehr das, was er einmal war. Aber was wir

Nein! Auraya zuckte zusammen, als Huans Stimme die von Mirar übertönte. Neben ihr blitzte aus dem Nichts eine leuchtende Gestalt auf. Was immer du in diesem vergangenen Jahrhundert gewesen sein magst, du bist deswegen der Verbrechen, die du begangen hast, nicht weniger schuldig.

Welcher Verbrechen?, fragte er trotzig. Klagst du mich des Verbrechens an, lästig gewesen zu sein? Den Menschen eine andere Möglichkeit geboten zu haben, als euch blind zu huldigen? Ihnen von eurer Vergangenheit erzählt zu haben? Du und deine Gefährten, ihr habt weit schlimmere Verbrechen begangen als ich.

Auraya runzelte die Stirn, als sie eine Ahnung von schrecklichen Erinnerungen in Mirars Geist auffing. Er sah sie an und schob die Erinnerungen beiseite.

Ich würde dir diese Dinge zeigen, sagte er, aber damit würde ich dir großen Schmerz bereiten.

Doch nach dem, was sie gesehen hatte, wusste sie, dass er die Götter der Grausamkeit und Ungerechtigkeit für fähig hielt. Außerdem glaubte er, dass er nichts getan hatte, um den Tod zu verdienen.

Darüber hinaus wusste sie, dass er nichts gegen sie oder die Weißen unternommen hatte, das der Gehässigkeit oder einer bösen Absicht entsprungen wäre. Er war umhergeschweift, hatte mit der Rückkehr seiner wahren Identität gerungen und versucht, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen.

Auraya!

Sie wandte sich der Göttin zu, benommen von all dem, was sie erfahren hatte.

Ist es ein Verbrechen, einer Seele Unsterblichkeit zu verweigern? Mirar behauptet, er habe den Sterblichen eine Alternative angeboten, aber er kann ihnen kein Leben nach dem Tod anbieten. Wer einen Sterblichen von uns fortlockt, betrügt diesen um die Ewigkeit. Das weißt du.

Mirar schüttelte den Kopf.

Manche Menschen würden diese Möglichkeit vorziehen, statt eine Ewigkeit in Ketten an eurer Seite zu verbringen. Ich mag außerstande sein, ihre Seelen zu erhalten, aber ich kann dieses Ziel auch nicht als Belohnung oder Strafe missbrauchen. Vielleicht sollte ich Auraya tatsächlich einige der Dinge zeigen, die du getan hast

Dinge, die ich in ferner Vergangenheit getan habe. Das Zeitalter der Vielen ist schon lange vorüber, erklärte Huan mit hocherhobenem Kopf. Die Exzesse jener Zeit sind vergessen. Selbst du musst einräumen, dass wir, der Zirkel, während des vergangenen Jahrhunderts eine friedliche, von Wohlstand geprägte Welt geschaffen haben.

Mirar schwieg einen Moment lang.

Das ist wahr, gab er zu. Aber wenn eure Vergangenheit vergessen werden kann, warum dann nicht auch meine?

Ein Lächeln zuckte um Aurayas Lippen. Er hatte nicht ganz unrecht.

Dann flackerte die leuchtende Gestalt, die Huan war, plötzlich hell auf.

Weil du auch weiterhin gegen uns arbeitest, Unsterblicher. Siehst du, Auraya, auf welche Weise er unsere Worte gegen uns wendet? Sie drehte sich um und ging auf Auraya zu. Er hat dich mit verzerrten Wahrheiten und verborgenen Lügen verwirrt. Überlass mir deinen Willen.

Aurayas Herz hörte einen Moment lang zu schlagen auf. Ihr ihren Willen überlassen… Huan meinte, dass sie Besitz von ihr ergreifen wollte? Als die Göttin näher kam, wich Auraya einen Schritt zurück. Statt mit ihr zusammenzustoßen, glitt die leuchtende Gestalt durch sie hindurch. Mit einem Mal war sie umringt von Licht.

Übergib mir deinen Willen, befahl Huan.

Mirar starrte sie an. Unterschiedliche Gefühle huschten über seine Züge: zuerst Entsetzen, dann Furcht, dann Resignation.

Ich muss tun, was sie sagt, ermahnte sie sich. Ich muss.

Es wäre so leicht gewesen, die Verantwortung für Mirars Tod der Göttin zu überlassen. Es würde keine Rolle spielen, wie sie selbst zu seiner Ermordung stand. Dass dieser Akt …

Ungerecht war. Unangemessen. Mirar hatte Dinge getan, die sie nicht billigte, aber nichts, was den Tod verdiente. Die Zirkler richteten niemanden ohne guten Grund hin – zumindest nicht die Gesetzesfürchtigen unter ihnen. Für geringere Verbrechen gab es andere Strafen. Einkerkerung. Verbannung.

Gehorche mir, Auraya.

Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte.

Ich kann nicht. Dies verstößt gegen die Gesetze, die ihr niedergelegt habt und die zu vertreten und zu verfeinern ihr uns beauftragt habt. Eine Hinrichtung ohne einen gerechten Grund ist Mord. Ich kann Mirar nicht töten. Ich kann nicht zulassen, dass er ermordet wird.

Sie wartete auf Huans Antwort, aber die Göttin schwieg.

»Auraya?«

Sie ließ die Hände sinken und sah den Mann an, der vor ihr stand. Ob Leiard oder Mirar, er hatte ihr größere Schwierigkeiten gebracht als alles andere auf der Welt. Sie wünschte ihn weit fort. »Geh«, stieß sie hervor. »Verlasse Nordithania, bevor ich meine Meinung ändere – und komm nie mehr zurück.«

Auraya!, dröhnte Huans Stimme. Trotze mir nicht!

Als Mirar davoneilte und seine Stiefel das Wasser im Fluss aufspritzen ließen, wurden Aurayas Knie schwach. Sie sank zu Boden und fühlte sich krank und verlassen, auch wenn sie gleichzeitig eine bittere, verstörende Befriedigung empfand.

Wenn ich soeben die richtige Entscheidung getroffen habe, warum fühle ich mich dann so elend? Sie schüttelte den Kopf. Weil ich einem der Götter getrotzt habe und für einen Moment sogar stolz darauf war.

Und das kann Huan nicht entgangen sein.

38

Die große Menge an Gepäck, die die Familie Drayli mit sich führte, weckte in Emerahl den Verdacht, dass sie, abgesehen von ihrem Haus, ihren gesamten Besitz mitgenommen hatten. Sie waren entsetzt gewesen zu erfahren, dass sie zumindest die Hälfte davon würden verkaufen oder wegwerfen müssen.

»Mein Boot ist klein«, hatte sie ihnen ins Gedächtnis gerufen. »Wenn ihr all das hineinpackt, wird nicht nur kein Platz mehr für euch selbst sein, das Boot wird auch wahrscheinlich so tief im Wasser liegen, dass die geringste Welle es überspülen wird, und dann werdet ihr alles verlieren. Könnt ihr schwimmen? Ich hatte bisher nicht daran gedacht, mich danach zu erkundigen.«

Shalina war weiß geworden, was Emerahl sagte, dass ihre Frage die gewünschte Wirkung zeigte.

»Es sind nur Dinge«, sagte Tarsheni leise zu seiner Frau. »Sachen. Wir dürfen nicht zulassen, dass schnöde Gegenstände uns an unserer Suche nach der wahren Gottheit hindern.«

Das Aussortieren ihrer Besitztümer hatte entnervend lange gedauert, dann hatte Emerahl die Familie zum Markt begleiten müssen, um über die Verkäufe zu wachen. Ihre freundliche Arglosigkeit und Großzügigkeit entschädigten sie für die Erwartung der jungen Leute, dass sie ihnen in allen Belangen helfen würde. Als der Nachmittag dem Abend entgegenging, hatte Tarsheni darauf bestanden, für sie eine Mahlzeit und ein Zimmer im Gästehaus zu bezahlen. Sie wollten sich nicht in der Dunkelheit auf die Suche nach dem Tunnel machen, da sie befürchteten, dass ihre Kinder sich ängstigen könnten.

Während Emerahl nun zusah, wie die Familie zaghaft in ihr Boot stieg, zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie mit einer Seereise fertigwerden würden. Sie spürte Entschlossenheit und Erregung bei beiden Erwachsenen und Neugier bei ihrem Sohn. Der Säugling war vollkommen zufrieden, denn er ahnte nichts von dem Abenteuer, auf das seine Familie sich einließ. Während Emerahl ihr Boot aus dem Hafen steuerte, betrachteten die jungen Leute die anderen Schiffe im Wasser.

Schließlich beugte sie sich vor und reichte Shalina eine kleine Flasche.

»Was ist das?«, fragte die Frau.

»Ein Mittel gegen Seekrankheit«, antwortete Emerahl. »Nehmt jeder so viel, wie in den Verschluss hineinpasst, und gebt dem Jungen ein Drittel der Menge. Für die Kleine mischt ihr einen Tropfen mit ein wenig Wasser und gebt mir Bescheid, falls ihre Haut sich röten sollte.«

»Mir ist überhaupt nicht übel«, wandte Tarsheni ein. »Ich glaube nicht, dass ich das Mittel benötigen werde.«

»Du wirst es benötigen, wenn wir in die Wellen hinauskommen. Das Mittel braucht einige Zeit, bis es Wirkung zeigt, und wenn dir erst einmal übel geworden ist, ist es nicht mehr so hilfreich, daher solltest du es am besten sofort einnehmen.«

Sie taten wie geheißen. Sobald sie den Hafen hinter sich hatten, lenkte Emerahl das Boot parallel zur Landenge. Der Junge begann, seine Eltern mit einer Flut von Fragen über Dinge zu bestürmen, die mit dem Meer zusammenhingen. Bei einigen ihrer Antworten musste sich Emerahl ein Lächeln verkneifen.

»Wie hältst du uns in Bewegung?«, wollte Tarsheni plötzlich wissen. »Das Segel ist nicht gehisst, und du ruderst nicht.«

»Magie«, erklärte Emerahl.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Eine nützliche Gabe für einen Seemann.«

Sie lachte. »Ja. Man neigt dazu, die Dinge zu erlernen und zu üben, die einem bei seinem Gewerbe hilfreich sind. Verfügst du über irgendwelche Gaben?«

Er zuckte die Achseln. »Es sind nur wenige. Ich bin Schreiber, ebenso wie all meine Vorfahren es waren. Wir geben Gaben über die Generationen weiter, die bei der Bereitung von Pergament und Tinte helfen und beim Schärfen von Werkzeugen. Und dann sind da natürlich die Gaben, die es uns ermöglichen, uns zu verteidigen.«

»Euch zu verteidigen?«

»Manchmal werden die Briefe, die wir ausliefern, nicht gut aufgenommen, selbst wenn wir sie nicht diktiert haben.«

Emerahl lachte leise. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass das bisweilen geschieht.«

»Ich hoffe, die Worte des weisen Mannes von Karienne niederschreiben zu können.«

»Du scheinst bereits eine Menge über ihn zu wissen«, sagte sie. Am vergangenen Abend im Gästehaus hatte seine stille Begeisterung viele Leute beeindruckt. Emerahl hatte beinahe erwartet, dass ihr heute eine kleine Flotte von Booten in den Tunnel folgen würde.

»Ich weiß nur, was mir andere erzählt haben, die ihn haben sprechen hören«, gestand er. »Manche Dinge, die erzählt werden, sind widersprüchlich. Wenn seine Worte niedergeschrieben würden, könnte niemand mehr ihre Bedeutung verfälschen.«

»In der Theorie. Es wäre durchaus möglich, dass andere deine Arbeit später verändern.«

Er seufzte und nickte. »Das ist wahr. Wenn es eine Gabe gäbe, mit der ich das verhindern könnte, würde ich mein Leben dem Ziel widmen, sie zu erlernen.«

»Du hast gestern Abend gesagt, dieser Gott habe die Welt erschaffen, die Götter und alle Tiere und Menschen. Wenn er Menschen erschaffen hat, die der Grausamkeit des Mordes fähig sind, dann muss dies entweder in seiner Absicht gelegen haben, oder er hat einen Fehler gemacht.«

Tarsheni verzog das Gesicht. »Das ist eine der Fragen, die ich diesem weisen Mann stellen möchte.«

»Falls es kein Fehler war, glaube ich nicht, dass ich diesen Gott mögen würde… Ist das der Tunnel, was meinst du?«

Das Boot neigte sich leicht zur Seite, als die Familie sich umwandte, um Emerahls Blick zu folgen. Sie hatte einen schmalen Spalt in dem Steilufer der Landenge entdeckt. Als sie näher kamen, bemerkte sie, dass ein Pfad zu der Lücke hinunterführte.

»Es sieht so aus«, antwortete Tarsheni.

»Ja«, pflichtete Emerahl ihm bei. »Nein – das solltest du ihnen noch nicht zeigen«, fügte sie hinzu, als er seine Börse hervorholte. »Lass uns zuerst abwarten, was wir hier vorfinden.«

Er blickte ängstlich zum Tunnel hinüber. »Meinst du, es ist eine Falle?«

»Ich bin nur vorsichtig.«

Der Spalt vertiefte sich, und als sie ihn erreichten, konnten sie Lampen von den Wänden zu beiden Seiten eines Tunnels hängen sehen und einen Halbkreis aus Licht am anderen Ende. Die Wände wurden von Mauerwerk gestützt, das so aussah, als sei es am Eingang in jüngster Zeit instand gesetzt worden. In der Tiefe des Tunnels – wohl auf halber Strecke, vermutete Emerahl – versperrte ein Gitter die gesamte Breite der Durchfahrt. Der Pfad verlief auf einem Sims an einer Seite des Tunnels entlang.

Sie konnte Gestalten vor sich erkennen und Interesse spüren, als man ihr Boot herannahen sah. Die feinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf, als das Interesse der Männer im Tunnel sich in Habgier verwandelte.

»Wie habt ihr von diesem Tunnel erfahren, Tarsheni?«

»Ein Mann hat uns davon erzählt. Er sagte, er könne uns nach Norden bringen, wenn wir dafür die Gebühr für die Durchfahrt durch den Tunnel übernehmen.«

»Warum seid ihr nicht auf sein Angebot eingegangen?«

»Er hat uns nicht gefallen.«

»Hmm. Mir scheint, dass in diesem Tunnel mehr Boote unterwegs sein sollten, sonst wäre damit kein Gewinn zu machen.«

»Vielleicht ist es noch zu früh am Tag.«

»Hmm.«

Sie überlegte, wer den Tunnel vielleicht durchfahren mochte. Fischer könnten ihn nützlich finden, aber der Tunnel war zu klein, um größere Boote als ihres aufzunehmen. Nur Reisende wie sie selbst, die allein oder in Begleitung weniger anderer waren, würden diesen Tunnel wählen.

»Was hat der Mann sonst noch über den Tunnel gesagt?«

Tarsheni zuckte die Achseln. »Dass es früher viele Tunnel durch die Landenge gab und die meisten von Schmugglern in den Fels gehauen wurden, dass die Leute aber irgendwann befürchteten, die Tunnel könnten einstürzen, und die Landenge würde vom Meer unterspült werden. Damals haben sie die Tunnel gefüllt.«

Emerahl dachte an die Reparaturen im Mauerwerk um den Eingang herum. War dieser Tunnel versperrt und in jüngster Zeit wieder geöffnet worden?

»Hat er davon gesprochen, dass jemand Einwände gegen die neuerliche Öffnung des Tunnels erhoben hat?«

»Nein«, antwortete Tarsheni. Dann hielt er einen Moment lang inne. »Es besteht doch nicht die Gefahr, dass er einstürzt, oder?«

Emerahl blickte zu der gewölbten Decke empor. »Er wirkt durchaus stabil.«

Als sie sich dem Tor näherten, sah Emerahl vier Männer auf dem Felsvorsprung stehen. Ihre Mienen spiegelten die Gier wider, die sie in ihren Gedanken spürte. Emerahl zog ein wenig Magie in sich hinein und schuf einen Schutzschild um das Boot herum. Sie bremste es vor dem Tor ab und sah dann allen vier Männern abwechselnd in die Augen.

»Seid mir gegrüßt, Torhüter. Meine Passagiere und ich möchten eine Durchfahrt kaufen.«

Ein großer Mann, dem mehrere Zähne fehlten, hakte die Hände in seinen Gürtel und grinste sie an.

»Sei mir gegrüßt, meine Dame. Ist das dein Boot?«

»Ja.«

»Normalerweise haben wir es nicht mit weiblichen Seeleuten zu tun.«

Die anderen Männer traten vor und betrachteten die Familie und ihre Habe. Einer machte Anstalten, von dem Felsvorsprung in ihr Boot hinabzusteigen. Das Knie des Mannes stieß gegen ihre Barriere. Er fluchte vor Schmerz und taumelte rückwärts.

»Ich gestatte niemandem, ungebeten auf mein Boot zu kommen«, sagte Emerahl und wandte sich wieder dem zahnlosen Mann zu.

Er kniff die Augen zusammen. »Dann solltest du uns besser hineinbitten, oder wir werden dich nicht durchlassen.«

»Ihr braucht nicht an Bord zu kommen«, entgegnete sie entschieden.

Der zahnlose Mann reckte die Brust vor. »Du hast also Gaben. Unser Ameri hat auch welche.« Er deutete auf einen seiner Kameraden, einen mageren, säuerlich dreinblickenden jungen Mann. Sie nickte ihm mit geheuchelter Höflichkeit zu und wandte sich dann wieder zu dem zahnlosen Mann um.

»Wie wäre es, wenn du die Gebühr auf zehn Kanar herabsetzt und ich dafür das Tor stehen lasse?«

Sie ertappte sich dabei, dass sie auf eine Weigerung hoffte. Das Gleiche machten diese Männer wahrscheinlich ständig mit Reisenden. Obwohl sie ihrem Treiben nicht gänzlich ein Ende setzen konnte, ohne ihre Reise zu verzögern, würde es doch befriedigend sein, ihnen ihren bösen kleinen Plan zu verderben – zumindest für eine Weile.

Der Mann sah sie mit schmalen Augen an. »Ameri«, sagte er, ohne den Blick von Emerahl abzuwenden. »Sorg dafür, dass sie sich benehmen.«

Der magere Mann streckte die Hand nach ihr aus und machte eine dramatische, lächerlich wirkende Geste. Magie prallte von ihrem Schild ab. Der Kerl war stärker als der Durchschnitt, und sein Angriff hätte die meisten Reisenden verletzt oder sogar getötet. Sie funkelte ihn an, nicht länger erheitert über die Situation.

Als er innehielt, bestürmte sie ihn und seine Kameraden mit einer Wucht, die sie an die Wand schleuderte und dort festhielt. Dann wandte sie sich dem Tor zu und sandte eine Welle von Hitze aus. Schon bald begann das Tor zu glühen und sich zu verbiegen. Als Teile von geschmolzenem Metall ins Wasser fielen, erfüllte heißer Dampf den Tunnel. Ihr Schild schützte ihr Boot, aber die Männer begannen zu schreien. Schließlich ließ sie sie los und schleuderte sie zurück in den Tunnel.

Als die letzten Reste des Tors ins Wasser sanken, trieb Emerahl ihr Boot voran, wobei sie darauf achtete, dass es nicht mit den glühenden Tunnelwänden in Berührung kam. Erst als sie am anderen Ende ins Freie gelangte, entspannte sie sich und blickte zu ihren Passagieren hinüber.

Sie starrten sie erstaunt an.

Emerahl zuckte die Achseln. »Ich habe es euch doch gesagt: Meine Gaben sind nicht unbeträchtlich. Und ich habe nicht viel übrig für Diebe.«


Auraya ging von einem Schlingenbett zum nächsten und untersuchte einmal mehr die Siyee. Zwei der Kranken wehrten sich erfolgreich gegen die Herzzehre, zwei andere rangen damit. Sie wollte Mirars heilende Gabe nicht einsetzen, bevor sie sich sicher war, dass die Patienten die Krankheit nicht selbst bekämpfen konnten.

Jetzt nenne ich es schon »Mirars heilende Gabe«, ging es ihr durch den Kopf. Nicht Leiards Gabe. Wahrscheinlich hat Mirar sie seit hunderten, ja sogar seit tausenden von Jahren benutzt. Es ist mehr seine Gabe als die Leiards.

Tyve beobachtete sie voller Neugier und Sorge. Sie fand keine Ruhe. Sie konnte nur von Laube zu Laube gehen und nach einer Ablenkung suchen, die sie daran hinderte, darüber nachzudenken, was sie getan hatte.

Ich habe Huan den Gehorsam verweigert. Ich habe den Göttern, den zu dienen ich geschworen habe, nicht gehorcht.

Die einzige andere Möglichkeit hätte darin bestanden, einen Mann zu töten, der es nicht verdiente. Das dürfte keine Rolle spielen. Ich sollte darauf vertrauen, dass die Götter einen Grund haben, ihn tot sehen zu wollen. Juran hat es damals, vor langer Zeit, getan.

Der Gedanke tröstete sie jedoch nicht, sondern brachte ihr nur noch größeres Unbehagen. Ich kann nicht glauben, dass Juran versucht hat, Mirar zu töten, ohne sich davon zu überzeugen, dass es gerechtfertigt war. Obwohl sie wusste, dass es seine Pflicht war, den Willen der Götter zu tun, war er dadurch doch in ihrem Ansehen gesunken. Ich frage mich, ob er weiß, was geschehen ist

Eine der Siyee erwachte und bat um Wasser. Da Tyve sich nicht von der Stelle rührte, beeilte sich Auraya, der Frau eine Schale zu bringen. Als sie sie ihr an die Lippen hielt, stieg eine furchtbare Angst in ihr auf, und sie erstarrte.

Eine vertraute Präsenz bewegte sich auf sie zu. Auraya stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie Chaia erkannte.

Auraya, sagte er.

Chaia!

Wie ich sehe, brauche ich dir nicht zu erzählen, dass du in Schwierigkeiten bist, fuhr er fort. Er sprach leichthin, aber sie spürte eine tieferliegende Sorge.

Nein, erwiderte sie.

Eine Hand legte sich auf ihre. Sie schaute verblüfft auf und sah, dass Tyve ihr die Schale abnahm. Er bedeutete ihr, die Patientin ihm zu überlassen. Auraya ging zum Eingang der Laube hinüber.

Warum habe ich es getan?, fragte sie Chaia. Oder warum habe ich es nicht getan?

Du hast ein Gewissen, entgegnete er. Du musst dich davon überzeugen, dass deine Taten gerechtfertigt sind. Für dich ist Gerechtigkeit wichtiger als Gehorsam. Das ist ein Teil deines Wesens, der mir gefällt. Unglücklicherweise sind die anderen nicht meiner Meinung.

Alle anderen oder nur Huan nicht?

Wir mögen unterschiedliche Ansichten vertreten, aber in unseren Entscheidungen sind wir einig, Auraya. Es steht dir nicht zu, zu erfahren, wie jeder Einzelne von uns denkt.

Sie trat hinaus. Das Sonnenlicht war zu grell, und sie machte sich auf den Weg zu einem schattigen Plätzchen.

Du und die anderen Götter müsst gewusst haben, dass dies ein Teil meines Wesens ist. Warum habt ihr mich als Weiße erwählt?

Weil die Weißen nicht alle gleich sein dürfen. Ein jeder von euch besitzt seine eigenen Stärken und Schwächen. Wenn ihr zusammenarbeitet, werden eure Schwächen verringert und eure Stärken betont. Deine eigene Schwäche – dein Mitgefühl – ist auch deine Stärke. Ein Anführer, der ohne Fragen töten kann, wird wohl kaum die Barmherzigkeit besitzen, die vonnöten ist, um für alle Beteiligten günstige Allianzen auszuhandeln und anderen Menschen zu helfen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen.

Warum hat Huan mich dann für diese Aufgabe ausgewählt?

Ich fürchte, du warst die falsche Weiße am falschen Ort und zur falschen Zeit. Du hättest nicht diejenige sein dürfen, die Mirar hinrichten soll – und nicht nur weil du einmal einen Teil von ihm geliebt hast.

Ein Hoffnungsfunke flammte in Auraya auf.

Dann ist mir also verziehen?

Nicht ganz, erwiderte Chaia. Einige von uns glauben, dass die Weißen gehorsam sein müssen, ganz gleich, von welcher Wesensart sie sind. Wenn die Weißen unterschiedliche Naturen haben, dann ist es unvermeidlich, dass sie bisweilen anderer Meinung sind. Im Fall eines Konflikts müssen sie sich an uns wenden, was die Lösung des Problems betrifft. Sie müssen uns gehorchen, oder ihre Einigkeit wird durchbrochen sein.

Auraya wurde flau im Magen.

Huan will nach wie vor, dass ich Mirar ermorde.

Du sollst ihn hinrichten, nicht ermorden.

Nachdem ihre Hoffnungen solchermaßen zunichtegemacht worden waren, überraschte es sie, dass Ärger in ihr aufloderte.

Und wenn ich mich abermals weigere?, fragte sie.

Dann wirst du bestraft werden. Wie weit diese Strafe gehen wird, kann ich nicht ermessen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um die anderen dazu zu überreden, dir eine zweite Chance zu geben. Außerdem habe ich darauf bestanden, dass man dir einen Tag Zeit lässt, um über deinen Auftrag nachzudenken und dich zu fragen, welche Konsequenzen es hätte, wenn du dich weigerst beziehungsweise dich gehorsam zeigst. Während du das tust, solltest du eines nicht vergessen: Manchmal stehen wir einem Problem gegenüber, bei dem alle Lösungen unerfreulich sind, bei dem man sich für die am wenigsten schädliche Möglichkeit entscheiden muss. Bedenke, welche Entscheidung den Menschen, die du zu schützen geschworen hast, am wenigsten schaden wird.

Mirar hat nicht die Absicht, etwas gegen uns zu unternehmen.

Nein? Das mag jetzt so sein, aber das bedeutet nicht, dass er es in Zukunft nicht versuchen wird. Er ist mächtig und klug – das weißt du. Er hasst uns – auch das weißt du. Kannst du das Risiko eingehen, dass er, sollte sich ihm eine Gelegenheit bieten, uns Schwierigkeiten zu machen, diese Gelegenheit nicht nutzen wird?

Auraya schüttelte den Kopf.

Bedenke auch, was geschehen könnte, sollte er seine Rolle als Anführer der Traumweber zurückverlangen, drang er weiter in sie. Er kann sie durch Träume aus einem anderen Land heraus beeinflussen und leiten.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Nicht einmal eine Verbannung war eine annehmbare Lösung.

Und erwäge auch die Möglichkeit, dass du Leiard vielleicht noch immer liebst.

Das tue ich nicht, erwiderte sie.

Nein? Ich kenne dein Herz, Auraya. Ich weiß, dass dort noch immer große Zuneigung für ihn ist und dass du nach wie vor verwirrt und unentschlossen bist. Er wird versuchen, dich auch weiterhin an sich zu binden, wenn er es vermag, nicht nur weil er noch immer in dich vernarrt ist, sondern weil du ihm keinen Schaden zufügen wirst, solange du dir deiner Gefühle noch unsicher bist. Erst wenn diese Bindung der Vergangenheit angehört, wirst du wieder frei sein, um abermals zu lieben.

Auraya schlang die Arme um sich. Sie fühlte sich krank. Elend. Zerrissen.

Ich kann dir keinen Trost spenden, Auraya, obwohl ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage, sagte Chaia bekümmert. Ich kann nicht liebevoll sein oder deine Alpträume verscheuchen, damit die anderen nicht auf den Gedanken kommen, ich würde dich für deinen Ungehorsam belohnen. Sie sind damit einverstanden gewesen, dass ich mit dir spreche, da du mich am besten kennst. Ich bitte dich als dein Freund und Geliebter: Tu, was Huan verlangt.

Er entfernte sich. Auraya blieb noch lange Zeit allein sitzen und ließ sich alles, was er gesagt hatte, durch den Kopf gehen; dann erhob sie sich und kehrte zu den Lauben zurück. Sie musste nachdenken, aber die Siyee brauchten ihre Hilfe, und das war wichtiger.

39

Mirar zog Magie in sich hinein und wärmte die Luft um sich herum. Während der Monate, in denen er die Siyee behandelt hatte, hatte er den Wechsel der Jahreszeiten kaum wahrgenommen, so beschäftigt war er mit seiner Arbeit gewesen. Jetzt spürte er die Kühle des Winters in der Luft, vor allem in diesen letzten Stunden vor dem Sonnenaufgang. Er lehnte sich an einen Baum und schloss die Augen.

Obwohl er den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht hindurch gewandert war, diente diese Pause nicht der Ruhe oder dem Schlaf. Er leerte seinen Geist und sandte sich in eine Traumtrance.

Emerahl?

Seit ihrem Aufbruch aus Si hatten sie sich alle paar Tage durch Traumvernetzungen in Verbindung gesetzt. In letzter Zeit machte sie zunehmend ein Geheimnis um ihren Aufenthaltsort oder ihr Ziel. Er hoffte, dass dies bedeutete, dass sie einen gewissen Erfolg bei ihrer Suche nach anderen Unsterblichen gehabt hatte, ihm aber noch nicht davon erzählen konnte.

Mirar?, antwortete sie.

Wie geht es meiner reisenden Freundin?

Mehr oder weniger unverändert. Ich segle viel, dann segle ich noch mehr, und zu guter Letzt segle ich noch ein klein wenig weiter.

Wir langweilen uns, wie?

Nein. Ich habe einige interessante zahlende Passagiere. Und du?

Das Leben ist soeben erheblich interessanter geworden, erzählte er ihr. Die Götter wissen, wer ich bin.

Was? Woher?

Ich habe Auraya das Heilen gelehrt. Die Götter müssen uns beobachtet haben.

Du Idiot.

Ja. Bist du enttäuscht von mir?

Sie schwieg einen Moment lang.

Nein. Ich bin nicht überrascht. Du hättest fortgehen sollen, sobald sie erschienen ist, aber das hast du nicht getan. Ich weiß, du bist wegen der Siyee geblieben, und ich vermute, dass du es sie um der Kranken willen gelehrt hast.

Das ist wahr.

Ich habe den Verdacht, dass das nicht der einzige Grund war, warum du die Sorge um deine eigene Sicherheit über Bord geworfen hast. Also, wie hat Auraya die Neuigkeit aufgenommen?

Sie hat versucht, mich zu töten.

Oh. Sie schwieg mehrere Herzschläge lang. Sie war also bereit, ihr Versprechen zu brechen.

Wie sie es ausdrückte, galt ihr Versprechen Leiard.

Ah. Offensichtlich ist es ihr nicht gelungen, dich zu töten. Warum nicht?

Weil ich ihr meinen Geist geöffnet und ihr die Wahrheit gezeigt habe.

Und das hat sie von ihrem Plan abgebracht? Wie interessant. Glaubst du, es ist ihre Idee gewesen oder die der Götter, dich zu töten?

Es war die Idee der Götter. Huan ist erschienen und hat sie gedrängt, es zu tun.

Auraya hat ihr den Gehorsam verweigert?

Ja.

Das wird ja immer interessanter. Also, hat sie es gelernt?

Was soll sie gelernt haben?

Das Heilen.

Ja.

Dir ist doch klar, was das bedeutet?

Sie verfügt über hinreichend große Gaben, um eine Unsterbliche werden zu können. Sie ist bereits unsterblich, Emerahl.

Ja, aber das alles Entscheidende ist doch, dass sie unsterblich werden könnte ohne das Eingreifen der Götter. Sie ist eine Wilde. Was das für sie bedeutet, hängt davon ab, warum sie uns hassen. Wenn es blanker Hass auf alle Wilden ist, werden sie sie töten.

Mirar fror. Hatte er Auraya zum Tod verurteilt, einfach indem er sie in der Heilkunst unterwiesen hatte?

Es gibt noch etwas, das ich dir erzählen muss. Die Götter könnten mehr gesehen haben, als ich beabsichtigt hatte.

Dann sind dir also einige Geheimnisse entschlüpft?

Ja. Als ich erklärte, wie Leiard und ich zu einer einzigen Person wurden, dachte ich an dich, obwohl nur als meinen Helfer. Ich habe versucht, es nicht

Du denkst, die Götter werden erraten, wer dieser Helfer war.

Ja. Es tut mir leid. Du könntest in Gefahr sein.

Lange Zeit sagte sie gar nichts mehr.

Die Gefahr ist nicht so groß wie die, vor der du stehst. Sie werden wissen, dass ich noch lebe, aber sie wissen nicht, wo ich bin. Andererseits wissen sie, wo du bist.

Nur dass ich mich noch in Si aufhalte.

Wohin gehst du?

Auraya hat mir geraten, Nordithania zu verlassen. Ich bin auf dem Weg zur Küste.

Auraya mag nicht bereit sein, dich zu töten, aber wenn ich du wäre, würde ich mich nicht darauf verlassen, dass die anderen Weißen die gleichen Skrupel haben. Huan wird die Siyee für die Suche nach dir heranziehen und die Weißen ausschicken, sobald man dich gefunden hat. Glaubst du, du könntest den Siyee ausweichen?

Vielleicht wenn ich bei Nacht reise, aber es wird schwierig sein im Dunkeln.

Es ist ein Jammer, dass du nicht bereits in der Nähe der Küste bist. Du könntest ein Boot bauen und aufs Meer hinaussegeln. Die Siyee können gewiss nicht unbegrenzte Strecken fliegen. Sobald sie deine Fährte verloren haben, kannst du wieder an Land gehen. Solange niemand dich sieht, werden die Götter nicht wissen, wo du angekommen bist. Aber ich befürchte, dass die Weißen auf dich warten werden, sobald du die Küste erreicht hast. Sie hielt inne. Irgendwann wirst du dich dem Wasser nähern müssen, um Nordithania zu verlassen. Dann wird es von größter Wichtigkeit sein, den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Lass mich darüber nachdenken. Ich werde mein Ziel in wenigen Tagen erreichen und vielleicht erfahren, wo dir die geringste Gefahr droht.

Dein Ziel, hm? Du klingst schon wieder so rätselhaft.

Du hast den Göttern soeben meine Existenz offenbart. Erwartest du von mir, dass ich dir erzähle, wo sie mich finden können?

Nein. Ich erwarte von dir, dass du meinen Geist mit telepathischen Flüchen heimsuchst.

Wenn ich nicht glaubte, dass du wahrscheinlich in unmittelbarer Zukunft sterben wirst – und diesmal richtig -, würde ich es tun.

Das ist beruhigend.

Ach ja? Das sollte es aber gar nicht sein. Jetzt wach auf und verschwinde aus Si.

Ja, oh Weise und Heilige, erwiderte er spöttisch.

Sie brach die Vernetzung mit vorsätzlicher Abruptheit ab und schreckte ihn aus der Traumtrance auf. Als er sich langsam erhob, blitzte in seinem Gedächtnis eine Erinnerung an Auraya auf. Hatte sie sich, wie er vermutete, geweigert, Huan ihren Willen zu überlassen? Würden die Götter sie bestrafen? Oder würden sie sie jetzt, da kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass sie eine Wilde war, töten?

Sie könnte bereits tot sein, dachte er. Und es wäre meine Schuld.

Er musste es herausfinden, und dazu gab es nur eine Möglichkeit. Er hatte diese Möglichkeit während seines Marsches ungezählte Male erwogen und wieder verworfen. Wenn er sich im Traum mit ihr vernetzte und sie noch lebte, würde sie mit ihm reden? Würde er sich damit weiter in Gefahr bringen? Oder sie?

Solange ich ihr nicht verrate, wo ich bin, kann mir nichts passieren.

Er schloss die Augen und sandte seinen Geist aus auf die Suche nach der Frau, die versucht hatte, ihn zu töten.

Auraya?

Sie brauchte länger für eine Antwort als Emerahl. Die Stille verstärkte seine Furcht, sie könnte tot sein. Dann hörte er sie überrascht seinen Namen sprechen.

Mirar?

Ja.

Warum suchst du die Traumvernetzung mit mir?

Ich mache mir Sorgen um dich.

Du machst dir Sorgen um mich? Ich habe versucht, dich zu töten!

Ich mag ein wenig anders sein als der Leiard, den du kanntest, aber du bedeutest mir immer noch viel.

Das ist ungemein seltsam.

Du hältst es für seltsam? Ich bin nach hundert Jahren aufgewacht, um zu entdecken, dass ich nicht mehr derselbe bin, der ich war. Außerdem stelle ich fest, dass ich einige törichte Dinge getan habe: Ich bin nach Jarime gegangen, habe für die Weißen gearbeitet und mich in eine der mächtigsten Dienerinnen der Götter verliebt. Das Seltsamste ist jedoch, dass ich nichts von alledem bedauere. Ich bedauere nur, dass ich nicht mit dir zusammen sein kann. Und ich habe Angst vor dem, was sie dir antun werden, weil du mich hast gehen lassen. Haben sie dich bestraft?

Sie schwieg lange.

Noch nicht.

Werden sie es tun?

Ich weiß es nicht.

Warte nicht, bis du es herausfindest. Komm mit mir. Wir werden Ithania verlassen und zu den fernen Kontinenten reisen.

Er nahm Erheiterung von ihr wahr.

Ich soll alles zurücklassen, was ich habe, die Menschen, die ich beschütze, und die Götter – für dich? Ich soll die Siyee verlassen, gerade in dem Moment, da die Krankheit am schlimmsten wütet?

Nein? Oh, nun ja. Eine Frage war es wert.

Wenn ich mich dafür entscheiden sollte, den Göttern den Gehorsam zu verweigern, werde ich jede Strafe auf mich nehmen, die sie für angemessen halten.

Sogar den Tod?

Sie hielt abermals inne, diesmal jedoch nicht so lange wie zuvor.

Nein. Sie werden mich deswegen nicht töten. Damit würden sie eingestehen, dass sie mit meiner Erwählung einen Fehler gemacht haben. Wenn die Zirkler erfahren würden, dass ich den Willen der Götter missachtet habe, würden sie anfangen, auch an den übrigen Weißen zu zweifeln. Nein, die Strafe wird raffinierter sein. Ich befürchte… ich befürchte, dass sie mir meine Fähigkeit zu fliegen nehmen werden.

Das Fliegen. Eine jähe, unerwartete Erkenntnis befiel ihn. Ihre Gabe des Fliegens! Keiner der anderen Wilden hat diese Gabe! Wenn Emerahl recht hat und Auraya eine Wilde ist, könnte das Fliegen ihre angeborene Gabe sein!

Wenn ich jedoch mit dir fortginge, würde ich damit die Götter erzürnen. Selbst wenn sie die anderen Weißen nicht hinter mir herschickten, wären sie vielleicht dennoch in der Lage, mich zu bestrafen. Denk an den Ring, den ich trage. Wenn sie mich durch diesen Ring unsterblich machen können, können sie mich mit seiner Hilfe vielleicht auch töten. Ich weiß nicht, welche Wirkung es hätte, wenn ich ihn abnähme. Das Mindeste, was mir passieren könnte, wäre, dass ich nicht länger unsterblich wäre. Ich würde altern und sterben. Verzeih mir, wenn ich es für besser halte, hierzubleiben und jede Strafe auf mich zu nehmen, die sie für mich auswählen.

Aber du bist

Es kostete ihn große Anstrengung, aber er zwang sich, nicht weiterzusprechen. Er wünschte sich verzweifelt, ihr zu erzählen, dass sie sich aus eigener Kraft zu einer Unsterblichen machen könnte, dass sie dazu lediglich eine andere Anwendung seiner heilenden Methode benutzen musste. Er wollte sie warnen, dass sie eine Wilde war und dass die Götter sie allein deswegen vielleicht töten würden.

Andererseits war ihm auch klar, dass sie recht hatte: Die Götter würden das Risiko nicht eingehen, dass ihr Tod den Glauben der Zirkler an die Unfehlbarkeit der Götter erschüttern würde. Sie müssen gewusst haben, dass Auraya stark genug war, um eine potenzielle Wilde zu sein. Aber was zählte das, wenn sie eine Weiße war?

Einmal mehr verspürte er die Erregung einer plötzlichen Erkenntnis. Die Götter wussten, dass es im Laufe der Zeit wahrscheinlich neue Wilde geben würde. Mächtige Zauberer neigten dazu, Priester und Priesterinnen zu werden. Gab ihnen das die Möglichkeit, sicherzustellen, dass ein Wilder niemals sein ganzes Potenzial ausschöpfte? Hatten sie Auraya nur deshalb erwählt, um sie beherrschen zu können? Waren auch die anderen Weißen potenzielle Wilde?

Ich bin was?, fragte sie.

Seine Gedanken überschlugen sich. Die anderen Weißen hatten keine einzigartigen Kräfte entwickelt. Das hatte nur Auraya getan. Jetzt hatte sie bewiesen, dass sie der Rebellion fähig war. Und schlimmer noch, sie hatte rebelliert, um einen anderen Wilden zu schützen. Die Götter mussten hin und her gerissen sein zwischen den Konsequenzen, die es bedeutete, wenn sie sich ihrer entledigten, und den Risiken, sie am Leben zu lassen. Und Auraya wusste nichts von alledem.

Was vielleicht das Einzige war, das sie rettete.

Er hatte zwei Alternativen: Er konnte sie in Unwissenheit lassen und darauf setzen, dass die Götter ihr keinen Schaden zufügen würden, solange sie in Unkenntnis ihrer wahren Natur lebte, oder er konnte versuchen, sie dazu zu überreden, mit ihm zu fliehen. Sie war ihm gegenüber zu misstrauisch, und außerdem verband sie ein starkes Band mit den Göttern und den Weißen. Sie würde ihm nicht glauben, wenn er ihr von seinem Verdacht erzählte – zumindest nicht sofort. Selbst wenn sie ihm glaubte und mit ihm fortging, würde er ihr das Leben, das sie liebte, nehmen und sie stattdessen in ein Leben voller Gefahr führen.

Mirar?, fragte sie. Was wolltest du sagen?

Dass du ein mutigerer Mensch bist als ich, sagte er. Ich danke dir, dass du mein Leben verschont hast. Ich hoffe, ich werde es eines Tages wiedergutmachen können.

Danke mir noch nicht, Mirar, erwiderte sie.

Nein? Sind die anderen Weißen auf dem Weg hierher, um mich gefangen zu nehmen?

Sie gab keine Antwort.

Ich kann dir nur eins versprechen: Wenn man dich findet, wird dein Tod schnell sein. Und dauerhaft.

Sie brach die Verbindung ab. Als er die Augen aufschlug, sah er, dass er von Nebel umringt war. Das schwache Licht der nahenden Morgendämmerung färbte den Nebel weiß. Er schauderte, aber nicht die Kälte war der Grund dafür.

Ihre letzten Worte waren eine Warnung. Sie konnte ihm nicht helfen. Die anderen Weißen kamen. Er musste fort, und zwar schnell. Der Nebel würde ihn vor allen Siyee verbergen, die vielleicht nach ihm suchten. Er stand auf, reckte sich und machte sich auf den Weg. Das Sonnenlicht, das die Wellen widerspiegelten, brannte in Reivans Augen. Die Nacht war lang und unbehaglich gewesen, aber der Tag würde kaum besser werden, falls die zunehmende Hitze der Sonne ein Hinweis auf das Wetter war.

Ich habe schlechte Laune, dachte Reivan. Es liegt am Schlafmangel und daran, dass ich fast einen ganzen Tag lang in einem kleinen Boot gesteckt habe. Das würde jedem die Laune verderben.

Wann immer sie an Imi dachte, vergaß sie ihr Unbehagen und ihre Erschöpfung. Die Prinzessin war am vergangenen Nachmittag nicht zurückgekehrt, daher hatten sie die ganze Nacht im Boot verbracht. Imenja saß am Bug, schweigend und wachsam. Jetzt drehte sie sich zu Reivan um.

»Was würdest du mir raten, Reivan?«, murmelte Imenja. »Sollen wir an Land gehen und nach ihr suchen oder zum Schiff zurückkehren?«

Reivan überlegte. »Wir haben ihr versprochen, sie nach Hause zu bringen. Außerdem sind wir übereingekommen, uns von Si fernzuhalten. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir nicht näher ans Ufer rudern können, um nach ihr zu suchen. Solange wir keinen Fuß auf trockenes Land setzen, kann man uns nicht vorwerfen, wir seien ungebeten eingedrungen.«

Imenja lachte leise. »Nein. Ich bezweifle, dass die Siyee es so sehen werden. Sie werden…« Sie runzelte die Stirn und sah auf. »Ah.«

Reivan folgte dem Blick der Stimme. Weiter im Osten bewegten sich drei winzige Punkte am Himmel auf den Horizont über dem Meer zu.

»Sie haben das Schiff entdeckt.«

Reivan wandte sich um. Das Schiff war nicht zu sehen.

»Wie?«

»Sie befinden sich weiter oben als wir.«

»Natürlich.« Reivan schüttelte den Kopf. Ich bin müde, dachte sie. Mir hätte klar sein müssen, dass die Siyee einen besseren Blick haben als wir.

»Es spielt keine Rolle. Sie sind…« Imenja kniff die Augen zusammen, dann lächelte sie. »Sie hoffen, dass sie uns ablenken können, damit wir das Elai-Mädchen nicht bemerken, das auf seine Heimat zuschwimmt.«

»Imi.«

»Ja.«

»Hat Imi uns verlassen? Haben sie sie davon überzeugt, dass wir der Feind sind und dass sie allein nach Borra gehen sollte?«

Imenja schüttelte den Kopf. »Diese Siyee wissen nicht, dass sie bei uns war.«

»Vielleicht hat sie ihnen erzählt, dass sie nach Osten wolle, so dass sie in ihre Richtung schwimmen konnte, ohne die Aufmerksamkeit der Siyee auf uns zu lenken.«

»Wir können nur abwarten. Wenn sie in den nächsten Stunden nicht zurückkehrt, wissen wir, dass sie sich allein auf den Heimweg gemacht hat.«

Sie warteten schweigend. Die fernen Siyee kehrten ans Ufer zurück, ohne das kleine Boot zu bemerken.

»Ich höre sie«, sagte Imenja plötzlich.

Reivan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und suchte das Wasser um sie herum ab. Jedes Spritzen erregte ihre Aufmerksamkeit. Plötzlich erschien ein Kopf über dem Rand des Bootes. Das Mädchen grinste, obwohl es außer Atem war.

»Tut mir leid«, stieß es keuchend hervor. »Ich konnte nicht … weg… Sie haben darauf bestanden, dass ich… bleibe… esse … schlafe.«

»Ich verstehe«, erwiderte Imenja lächelnd. Sie stand auf und hielt Imi die Hand hin. Das Mädchen nahm sie und heulte überrascht auf, als die Stimme es aus dem Wasser ins Boot hob.

»Du bist aber stark!«, rief es.

»Wenn es notwendig ist, ja«, pflichtete Imenja ihm bei. Dann befahl sie den Ruderern, sie zurück zum Schiff zu bringen, und setzte sich wieder. »Haben sie dir den Weg nach Borra erklärt?«, fragte sie Imi.

»Ja.« Imi verzog das Gesicht. »Sie mögen die Pentadrianer nicht besonders. Sie haben mir geraten, mich von euch fernzuhalten.«

Imenja nickte. »Das ist die unglückliche Folge davon, dass wir in einem törichten Krieg gegen sie gekämpft haben«, sagte sie mit aufrichtigem Bedauern.

Reivan sah Imenja an, überrascht, dass die Stimme in Gegenwart anderer eine solche Meinung äußerte. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie die Sprache der Elai sprachen; die Ruderer konnten sie nicht verstehen.

»Ich wollte ihnen eigentlich erklären, dass sie sich irren, was euch betrifft«, sagte Imi. »Aber ich habe es nicht getan.«

Imenja tätschelte ihre Hand. »Sie werden es mit der Zeit schon selbst herausfinden.«

»Ich hoffe es.« Imi gähnte ungeniert.

»Du bist müde«, bemerkte Imenja. »Leg dich hin und schlaf ein wenig. Ich werde dich wecken, wenn wir das Schiff erreichen.«

Imenja nickte und streckte sich auf einer Bank aus. Reivan griff nach einer Decke, tauchte sie ins Meer und legte sie dann über das Mädchen, um es vor der Sonne zu schützen. Als sie aufsah, stellte sie fest, dass Imenja beifällig nickte. Sie tauschten einen erleichterten Blick, dann verfielen sie in erschöpftes Schweigen. Als Mairae Jurans Quartier betrat, ging ihr durch den Kopf. dass das Bild, das sie dort erwartete, ein sehr vertrautes war. Juran lief im Raum auf und ab, und Dyara hockte auf der Kante ihres Stuhls, den Rücken durchgedrückt und eine steile Falte auf der Stirn. Als Rian Mairae zu den Stühlen folgte, hielt Juran inne, sah sie beide an und seufzte dann.

»Ich habe euch hierhergerufen, um euch Bericht über die Situation in Si zu erstatten«, sagte er. »Die Götter haben beschlossen, dass Auraya Mirar suchen und hinrichten soll, weil sie ihm am nächsten ist.«

Mairae sog überrascht die Luft ein, womit sie Jurans Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

»Sie war am nächsten«, wiederholte Juran. »Keiner von uns hätte schnell genug nach Si kommen können.«

Die arme Auraya, dachte Mairae. War es nicht schon schlimm genug, dass ihr ehemaliger Geliebter sich als ein Feind der Götter entpuppt hat? »Dann willst du uns jetzt also erzählen, dass sie sich deswegen miserabel fühlt und wir ihr Mitgefühl schulden?«, fragte sie trocken.

Juran zuckte zusammen. »Nein.«

Mairae blinzelte überrascht. »Sie fühlt sich nicht schlecht deswegen? Dann ist sie aus härterem Holz gemacht, als ich dachte. Ich nehme an, sie war so wütend, dass sie…«

»Sie hat Mirar nicht getötet«, unterbrach Juran sie. »Sie hat ihn gehen lassen.«

»Oh.« Mairae sah Dyara an. Die Lippen der Frau hatten sich vor lauter Missbilligung zu einer dünnen Linie verzogen. Rian musterte Juran mit einer Mischung aus Entsetzen und Zorn. »Warum?«

Juran schüttelte den Kopf. »Mirar hat ihr seinen Geist geöffnet. Er hat sie von vielen Dingen überzeugt: dass er seine eigene Identität unterdrückt und Leiard erfunden habe, um sich vor den Göttern zu verstecken, dass er nichts Böses im Schilde geführt und die Absicht habe, Nordithania zu verlassen, dass er die Hinrichtung nicht verdient.« Juran seufzte. »Ich kann nicht beurteilen, ob irgendetwas von dem der Wahrheit entspricht. Es wäre möglich, dass er seinen Geist mit Lügen füllen und sie als Wahrheit tarnen kann. Aber es ist unerheblich, ob er dazu in der Lage ist oder nicht. Die Götter haben Auraya befohlen, ihn zu töten. Sie hat es nicht getan.«

Stille senkte sich über den Raum. Ein Stich des Mitgefühls für Auraya durchzuckte Mairae, obwohl sie gleichzeitig enttäuscht war. Es hätte sie nicht überrascht zu erfahren, dass es hart für Auraya gewesen war, Mirar zu töten, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass Auraya sich geweigert hatte, den Göttern zu gehorchen.

»Einen Moment mal…«, sagte sie. »Konnte sie sich nicht dazu überwinden, es zu tun, oder hat sie sich geweigert?«

»Welchen Unterschied macht das?«, murmelte Rian.

»Es gibt einen Unterschied zwischen Zögern und Weigerung. Ein erfahrener Kämpfer mag in der Schlacht zögern, wenn er sich etwas Unerwartetem gegenübersieht – dass zum Beispiel sein Feind sein Freund ist. Was immer Mirar ihr gezeigt hat, es hat sie dazu gebracht zu zögern. Wenn sie Zeit gehabt hätte, hätte sie sich vielleicht darüber hinweggesetzt. Man sollte ihr eine zweite Chance geben.«

»Das ist bereits geschehen«, erwiderte Juran. »Sie hat bis heute Nachmittag Zeit, ihr Tun zu überdenken, dann muss sie ihre Aufgabe zu Ende führen. Mirar kann noch nicht weit gekommen sein. Man hat Siyee ausgesandt, die nach ihm suchen sollen.«

»Und wenn sie sich abermals weigert?«, fragte Rian. Juran verzog das Gesicht. »Dann wird sie bestraft werden.«

Mairae schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass die Götter zu viel von ihr verlangen. Sie ist nach wie vor neu in ihrer Rolle. Einer von uns sollte an ihrer Stelle gehen.«

»Sie muss ihre Treue den Göttern gegenüber unter Beweis stellen«, bemerkte Rian.

»Er hat recht«, sagte Dyara. »Wenn die Menschen erführen, dass sie sich dem Befehl der Götter widersetzt hat…«

»Wer sollte es ihnen denn erzählen?«, wandte Mairae ein. »Dies alles ist an einem fernen Ort geschehen.« Sie sah zu Juran hinüber. »Und hoffentlich ohne Zeugen. Außer uns und den Göttern weiß niemand davon.«

Dyaras Züge verhärteten sich. »Wenn die Götter dies von ihr verlangen, dann muss es notwendig sein. Die Götter blicken in unsere Herzen und in unseren Geist. Sie wissen, wann unsere Treue und Ergebenheit einer Prüfung bedürfen.«

Mairae starrte Dyara an. Die ältere Frau konnte streng und herrschsüchtig sein, aber normalerweise konnte man ihr keinen Mangel an Mitgefühl vorwerfen. Jetzt jedoch klang sie ähnlich wie Rian. »Wie unbefangen würdest du deinen Ratgeber töten, sollten die Götter es befehlen?«

Dyaras Augen weiteten sich vor Überraschung und Ärger. »Timare ist ein Priester, kein… kein schmutziger Wilder.«

»Woher weißt du das? Du hast auch Mirars Geist hinter dem Leiards nicht entdeckt.«

»Ich kenne Timare seit vierzig Jahren. Wie gut kennst du deine Liebhaber?«

Mairae zuckte die Achseln. »Überhaupt nicht. Das ist auch nicht notwendig.«

»Mir scheint, dass es viel mehr Menschen auf dieser Welt gibt, die zu töten dir widerstreben könnte.«

»Ich benutze sie für Sex, Dyara. Ich bin in keinen von ihnen verliebt.«

»Mairae!«, protestierte Juran. »Das führt doch nirgendwohin.«

Sie blickte zu ihm auf, dann lächelte sie entschuldigend, denn sie wusste, dass sie wohl kaum Mitgefühl für Auraya gewinnen konnte, indem sie mit Dyara stritt. Juran neigte ohnehin stets dazu, Dyaras Meinung wichtiger zu nehmen als ihre.

»Was werden wir tun?«, fragte Rian.

Juran wandte sich zu ihm um. »Wir müssen bereit sein für den Fall, dass Auraya sich abermals dem Befehl der Götter widersetzt oder unsere Hilfe braucht, um Mirar zu finden und zu töten. Du und Dyara, ihr werdet nach Süden segeln. Wir wissen, dass Mirar die Absicht hat, Nordithania zu verlassen, daher wird er wahrscheinlich zur Küste reisen.«

Rian richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Ich werde nicht zögern. Es wird mir ein Vergnügen sein, den Göttern zu dienen.«

Mairae unterdrückte einen Seufzer. Ich hoffe, du findest die Kraft, dies zu tun, Auraya, dachte sie. Rian wird noch unerträglicher sein, falls er die Gelegenheit bekommt, eine so berühmte Persönlichkeit wie den großen Mirar zu töten.

40

Das Morgenlicht enthüllte unheilverkündende Wolken, die die Berge um das Dorf vom Blauen See herum verdeckten. Die Luft war eisig, und die Pflanzen um die Lauben waren weiß von Frost. Auraya zog Magie in sich hinein und trocknete einen herabgestürzten Baumstamm mit heißer Luft. Als sie sich niederließ, wurde ihr bewusst, dass sie erst vor wenigen Tagen mit Mirar hier gesessen hatte. Sie hatte das Gefühl, als müsse sehr viel mehr Zeit vergangen sein.

Wahrscheinlich sind all die Stunden, die ich wachgelegen und nachgedacht habe, statt zu schlafen, der Grund, warum mir die Zeit länger erscheint. In der vergangenen Nacht hatte sie nur etwa eine Stunde schlafen können, bevor Mirar sich mit ihr vernetzt hatte. Danach war sie hellwach gewesen. Etwas hatte an ihr genagt. Als schließlich das erste Licht der Morgendämmerung durch die Membran der Laube gefallen war, hatte sie begriffen, was es war.

Bei dem Blick in Mirars Geist hatte sie das Gefühl gehabt, als sehe sie jemanden, der ihr gleichzeitig vertraut und vollkommen fremd war. Als sei sie mit jemandem wieder vereint worden, den sie als Kind gekannt hatte und der zu einem fremden Erwachsenen herangereift war. Auf der Suche nach einer Spur von Leiard hatte sie lediglich gesehen, dass er nicht länger der Mensch war, den sie gekannt hatte. Leiard war in ihm, aber nur als Teil einer Person, die sie nicht kannte – oder liebte.

Du irrst, Chaia, dachte sie. Du siehst die Überreste der Liebe, die ich für Leiard empfunden habe. Du hattest keine Chance zu erkennen, dass ich mich nicht auf dieselbe Weise zu Mirar hingezogen fühle – oder zu dem, wozu Mirar geworden ist.

Wenn Chaia das nicht erkannt hatte, hatte er vielleicht auch nicht begriffen, dass Mirar nicht mehr der war, der er hundert Jahre zuvor gewesen war. Was er getan hatte, um zu überleben, hatte ihn verändert, hatte ihn zu einem neuen Menschen gemacht. Als ein neuer Mensch verdiente er es, nach seinen eigenen Vorzügen und seinem Charakter beurteilt zu werden.

Huan hat gesagt, dass die Vergangenheit vergessen werden solle. Das gilt für Mirar noch mehr als für die Götter. Die Götter haben sich nicht verändert, Mirar schon. Es ist unrecht, ihn für die früheren Verbrechen eines anderen zu bestrafen.

Aber Mirar war kein gänzlich neuer Mensch, daher konnte sie nachvollziehen, dass ein Teil von ihm schuldig und ihres Vertrauens nicht würdig war. Wenn sie jedoch in die Waagschale warf, was sie über seine Verbrechen gehört hatte, konnte sie nicht erkennen, warum er den Tod verdient haben sollte. Mirar hatte gegen die Götter und die Bildung der zirklischen Priesterschaft gearbeitet, indem er Zweifel gesät hatte, was das Schicksal der Seelen in den Händen der Götter betraf. Außerdem hatte er Geschichten über schreckliche Grausamkeiten verbreitet, deren die Götter angeblich schuldig waren. Eine Möglichkeit, mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen, waren Träume.

Als sie in seinen Geist geblickt hatte, hatte sie gesehen, dass er die Verantwortung für diese Dinge auf sich genommen hatte. Außerdem war ihr klar geworden, dass er aus Sorge um die Sterblichen gehandelt hatte; er hatte befürchtet, dass sie von Wesen beherrscht werden würden, die er schrecklicher Taten für fähig hielt. Traumvernetzungen waren damals nicht verboten gewesen; er hatte kein Gesetz gebrochen. Die Zirkler hatten Lügen über die Traumweber ausgestreut, und Mirar hatte, wie er es immer tat, Träume benutzt, um Sterbliche von den guten Absichten der Traumweber zu überzeugen.

Er hatte niemanden dazu ermutigt, Priester und Priesterinnen zu töten, dennoch wusste sie, dass einige Zirkler einen Hass auf die Traumweber gepredigt hatten, der den Tod tausender Traumweber nach sich gezogen hatte.

Andererseits verstörte sie seine Überzeugung, dass die Götter in der Vergangenheit furchtbare Verbrechen begangen haben sollten. Er hatte jedoch nicht enthüllt, was genau sie getan hatten. Seine Furcht, dass die Götter durch die Bildung der zirklischen Priesterschaft Sterblichen schaden würden, hat sich als unbegründet erwiesen, sagte sie sich. Sie haben viel Gutes bewirkt. Vielleicht waren die Untaten, deren er sie bezichtigt, lediglich andere Methoden, mit denen die Götter Sterbliche dazu ermutigt haben, ihnen zu huldigen – ein Ziel, das er für falsch zu halten scheint.

Sie seufzte. Es war falsch, jemanden davon abzubringen, den Göttern zu huldigen, weil dies ihn um eine unsterbliche Seele nach seinem Tod brachte. Mirar hatte niemanden gezwungen, sich von den Göttern abzuwenden. Er hatte den Menschen lediglich eine Alternative gegeben. Dies war kein Verbrechen, das den Tod rechtfertigte. Wenn es das wäre, würden jeden Tag tausende von Menschen sterben. Die Menschen widersetzten sich in vielen kleinen Dingen dem Willen der Götter.

Wie viel leichter ist es zu glauben, dass Ungehorsam gegen den Willen der Götter kein Verbrechen ist, wenn man sich dieses Verbrechens selbst schuldig gemacht hat?, ging es ihr plötzlich durch den Kopf.

Die Priesterschaft war dazu da, Sterbliche zu einem gesetzesfürchtigen und frommen Leben zu führen. Die Weißen waren die höchsten Priester und Priesterinnen.

Damit ist mein Verbrechen schlimmer als seines. Mirar hat niemals geschworen, den Göttern zu dienen. Wenn ich es nicht verdiene zu sterben, hat er es auch nicht verdient. Vielleicht ist das der Grund, warum er glaubte, die Götter würden mich vielleicht hinrichten lassen. Vielleicht hatte er recht mit seiner Sorge

Sie schauderte. Noch bin ich nicht tot. Sie haben mir eine zweite Chance angeboten. Ich kann ihn suchen und

Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie fror mit einem Mal bis aufs Mark. Widerwille und Ärger stiegen in ihr auf. Warum kann ich das nicht tun? Warum widerstrebt mir auch nur der Gedanke, Mirar zu töten?

Sie biss sich auf die Unterlippe. Wie würde sie zu sich selbst und den Göttern stehen, wenn sie Mirar tatsächlich tötete? Wann immer sie über diese Frage nachsann, überfiel sie ein Frösteln böser Vorahnung.

Ich würde mich so fühlen, als hätte ich jemanden ermordet. Ganz gleich, was die Götter sagen würden. Ich würde auch zu den Göttern anders stehen als bisher. Ich würde Angst vor dem haben, was sie als Nächstes von mir verlangen könnten. Ich würde sie nicht länger als wohlwollende und gerechte Wesen ansehen. Wenn ich mich dazu zwingen ließe, einen Mord zu begehen, hätte ich nicht länger das Gefühl, würdig zu sein, über andere zu herrschen.

Sie runzelte die Stirn. Und welche Wirkung würde das alles auf die Zirkler haben, wenn sie davon wüssten? Ich bin nicht dumm genug zu glauben, dass irgendjemand die Götter offen hinterfragen oder ihr Urteil anzweifeln würde, aber es würde sich dennoch vieles verändern. Einigen Menschen würde klar sein, dass es unrecht war, Mirar ohne eine öffentliche Verhandlung und einen klaren Schuldspruch zu töten. Außerdem würde es ihren Glauben an die Gerechtigkeit der Götter erschüttern. Jene, die glauben, dass die Götter immer recht haben, würden daraus den Schluss ziehen, dass ungerechtfertigte Hinrichtungen annehmbar sind. Sie könnten auf den Gedanken kommen, dass auch sie das Recht hätten, andere ohne Beweis ihrer Schuld hinzurichten.

Dennoch, wenn die Menschen erführen, dass eine der Weißen den Göttern den Gehorsam verweigert hatte, würde auch ihr Glaube an die Götter und an die Weißen erschüttert werden. Sie würden sich fragen, ob die Götter mit ihr eine schlechte Wahl getroffen hatten, und vielleicht würden sie auch an den anderen Weißen zu zweifeln beginnen. Sie würden zu dem Schluss kommen, dass, wenn ein wenig Ungehorsam ab und zu für eine Weiße akzeptabel war, es ebenso akzeptabel sein müsse, wenn auch die Zirkler sich so verhielten.

Aber die Menschen brauchen nicht von meinem Ungehorsam zu erfahren, überlegte sie weiter. Nur die Weißen und die Götter werden davon wissen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich mich fühlen würde, wenn ich ihnen gehorchte. Aber wie würde ich mich fühlen, wenn ich ihnen trotzte?

Sie würde sich schuldig fühlen, das wusste sie. Aber sie würde auch erleichtert sein. Sie würde sich selbst mehr achten, wenn sie für das eintrat, was sie für richtig hielt, auch wenn es sie in ihren Augen herabsetzen würde, dass sie den Göttern den Respekt verweigert hatte. Dennoch war es ihr lieber, von sich selbst enttäuscht zu sein als von den Göttern.

Ich erwarte nicht, dass die Götter eine öffentliche Verhandlung abhalten, ich erwarte lediglich, dass sie Mirar erlauben, Nordithania zu verlassen. Falls er zurückkehrt… nun, dann werde ich mich um ihn kümmern. Und wenn sie mich bestrafen, dann soll es eben so sein.

Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war, fühlte sie sich ein wenig besser. Ist dies meine Entscheidung?, fragte sie sich. Bin ich bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen?

Welche Strafe würden sie für sie auswählen? Sie glaubte nicht, dass sie sie töten würden, wie Mirar es befürchtete. Sie würden ihr auch ihre Position als Weiße nicht entziehen. Das würde die Menschen ebenso erschrecken wie die Hinrichtung einer Weißen. Nein, wann immer sie überlegte, welches die schlimmste Strafe war, die sie ihr auferlegen konnten, sah sie nur eine Möglichkeit: Sie würden ihr die Fähigkeit des Fliegens entziehen.

Allein beim Gedanken an diese Möglichkeit hatte sie das Gefühl, als würde ihr das Herz entzweigerissen.

Wenn sie das tun, möchte ich dir geraten haben, mein Opfer zu schätzen, Mirar, dachte sie. Du solltest besser aus Nordithania verschwinden und nie mehr zurückkehren, denn wenn du das doch tust, werde ich dich töten.

Sie schloss die Augen und seufzte. Ich schätze, das bedeutet, dass ich mich entschieden habe. Was jetzt? Soll ich Chaia rufen und

Ihre Gedanken wurden von zwei Siyee unterbrochen, die einige Schritte entfernt von ihr landeten. Sie kamen auf sie zugeeilt, und beide verströmten Dringlichkeit und Furcht.

»Auraya von den Weißen«, sagte der größere und machte das Zeichen des Kreises.

»Was ist los? Was ist passiert?«

»Vor einigen Tagen ist ein Schiff der Pentadrianer vor der Küste gesehen worden«, sagte er. »In Sichtweite des Dorfes vom Sandstamm.«

»Sind sie an Land gegangen?«

»Nein. Außerdem ist einige Tage zuvor auch weiter im Osten ein Schiff gesehen worden.«

»Ein anderes Schiff oder dasselbe?«

»Das wissen wir nicht.«

Sie erhob sich. »Ich werde nach Süden fliegen und der Sache nachgehen.«

»Vielen Dank«, antwortete der größere der Siyee.

Als sie in die Mitte des Dorfes davongingen, eilte Auraya in die Laube. Tyve nickte ihr zu und lächelte schief, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie den Stamm verlassen würde; er fragte sich, ob er jemals erfahren würde, was zwischen ihr und Wilar vorging. Schließlich wandte sie sich hastig ab und trat hinaus.

Als sie in den Himmel emporschnellte, schlug eine Welle der Traurigkeit über ihr zusammen. Dies könnte mein letzter Flug sein. Ich sollte das Fliegen genießen, solange ich noch kann. Dann lachte sie laut auf. Wenn Mirar recht hat und die Götter beschließen, mich zu töten und mir meine Gaben zu nehmen, während ich in der Luft bin, wäre das gewiss eine wirksame Methode, ihr Ziel zu erreichen.


Imi war an Deck gekommen, als die erste Insel gesichtet worden war, und trotz des Regens blieb sie an der Reling stehen. Bisher war das Schiff lediglich an kleinen Felsen vorbeigekommen, die man kaum Inseln nennen konnte. Jetzt zeichneten sich vor ihr größere Umrisse ab, die sie von den Bildern im Palast kannte.

»Die Steinige Insel«, murmelte sie, als sie an einer Insel vorüberfuhren, auf der keinerlei Pflanzen wuchsen. In der Ferne lag eine flache, von Bäumen bewachsene Insel. »Die Jungfraueninsel.«

Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Imenja und Reivan kamen auf sie zu und gesellten sich zu ihr an die Reling.

»Ist dies deine Heimat, Imi?«, fragte Imenja.

Imi nickte. »Ja.« Als das Schiff die Steinige Insel hinter sich gelassen hatte, fuhr es in einen Ring von Inseln ein. »Das ist Borra.«

»Ist von den alten Siedlungen auf den Inseln noch etwas übrig?«, erkundigte sich Reivan.

Imi zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Wir können schon seit langer Zeit nicht mehr außerhalb der Stadt leben. Einige Leute haben es versucht, aber die Plünderer haben sie getötet.« Sie lächelte. »Allerdings ist es den Plünderern ebenfalls niemals gelungen, sich dort niederzulassen, weil wir ihre Häuser niederbrennen.«

»Hat dein Volk Verteidigungswälle um eure Siedlungen erbaut?«

»Verteidigungswälle?«

»Mauern. Vielleicht am Strand, um Boote an der Landung zu hindern.«

»Ich weiß es nicht.« Imi lächelte. »Das klingt nach etwas, von dem ihr meinem Vater erzählen solltet. Wenn wir uns verteidigen könnten, würden wir vielleicht eine Möglichkeit finden, uns dieser Plünderer zu entledigen.«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Reivan den Kopf. »Solange es Handel zwischen Nord- und Südithania gibt, wird es in diesen Gewässern auch Diebe geben. Der Wind ist günstig für Schiffe, die an diesen Inseln vorbeisegeln, aber es gibt an der Küste von Si keine größeren Häfen. Dadurch kann man hier in der Nähe keinen Stützpunkt für eine Flotte von Schiffen errichten, die den Plünderern etwas entgegensetzen könnten.«

»Es ist ein Jammer, dass wir mit den Siyee kein Abkommen aushandeln können, um gegen diese Plünderer vorzugehen«, sagte Imenja.

Imi runzelte die Stirn. »Warum hat mein Volk das nicht getan?«

Reivan zuckte die Achseln. »Ich habe gehört, dass die Siyee vor ihrem Bündnis mit den Weißen ein friedliches Volk waren.«

»Sie hatten ihre eigenen Probleme mit den Landgehern«, sagte Imi, nachdem ihr wieder eingefallen war, was Teiti ihr erzählt hatte. »Sind diese Probleme jetzt gelöst?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Reivan. Sie sah Imenja an, aber die Frau sagte nichts.

Imi beschloss, ihren Vater danach zu fragen. Sie blickte zu dem Gipfel, wo sich, wie sie wusste, der Ausguck befand, und mit einem Mal stieg Sehnsucht in ihr auf. Erst wenn die starken Arme ihres Vaters sich um sie schlossen, würde sie wirklich das Gefühl haben, nach Hause gekommen zu sein.

»Werden sie uns entgegenkommen, Imi?«, fragte Imenja.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Imi. »Sie haben Angst vor Landgehern. Vielleicht werden sie kommen, wenn sie mich sehen.«

»Dafür sind wir noch ein wenig zu weit entfernt.« Imenja trommelte mit den Fingern auf die Reling. »Wir sollten dich an Land bringen.«

»Nein.« Imi schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wie ich mich fühlen würde, wenn ich Landgeher unsere Inseln betreten sehen würde. Wenn ihr dort landet, werden die Leute wütend und verängstigt sein. Wenn ich eine Elai in Begleitung von Landgehern sähe, würde ich denken, dass sie eine Gefangene sein muss.«

»Dann werden wir dich näher ans Ufer rudern und abwarten.«

Imi schüttelte abermals den Kopf. »Nein. Ich schätze, ich werde in die Stadt schwimmen müssen.« Sie sah Imenja an und lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid, aber mein Volk misstraut den Landgehern. Ich werde mit ihnen reden und ihnen erzählen, was ihr für mich getan habt.«

»Werden sie dir glauben?«, fragte Reivan.

»Dafür werde ich schon sorgen.« Imi runzelte die Stirn. »Obwohl es ein Weilchen dauern könnte.«

»Wir werden warten«, versicherte ihr Imenja. »Du kennst dein Volk am besten. Wenn du schwimmen musst, dann tu es.«

Imi lächelte, trat einen Schritt zurück und umarmte die Frau. Imenja kicherte und tätschelte ihr den Rücken.

»Gib auf dich Acht, Prinzessin. Es würde mich sehr bekümmern, wenn ich dich nie wiedersähe.«

»Das Gleiche gilt für mich«, erwiderte Imi und löste sich aus ihrer Umarmung. Dann wandte sie sich zu Reivan um. »Und dich möchte ich auch gern wiedersehen, Reivan. Ich werde versuchen, meinen Vater zu einem Treffen mit euch zu überreden. Ich bin davon überzeugt, dass er euch ebenso mögen wird, wie ich es tue.«

Reivan lächelte verlegen. »Wir werden sehen.«

»Geh jetzt«, sagte Imenja. »Je früher du aufbrichst, umso früher können wir deinen Vater kennen lernen.«

Imi grinste. Sie duckte sich unter der Reling hindurch und betrachtete das Wasser unter ihr. Es war sehr tief hier, in der Mitte der Inseln, aber seit sie das Schiff betreten hatte, hatte sie begriffen, dass es immer eine gute Idee war, nach großen Meeresgeschöpfen am Rumpf Ausschau zu halten, bevor sie ins Wasser sprang.

Schließlich löste sie sich von der Reling und ließ sich nach vorn fallen. Der Sturz war kurz, aber berauschend, und sie genoss das Eintauchen in das kühle Wasser. Als sie wieder an die Oberfläche gestiegen war, winkte sie Imenja und Reivan zu, bevor sie tief Luft holte und sich auf den Weg zur Stadt machte.

Sie war sich nicht ganz sicher, wo sich der Eingang der Stadt befand, daher beschloss sie, an der Felswand in dem Bereich entlangzuschwimmen, in dem sie den Eingang vermutete. Schon bald sah sie einen Schatten unter sich dahingleiten, und ihr Herz schlug vor Freude schneller, als sie begriff, dass es ein anderer Elai war. Sie hielt Abstand zu ihm, da sie wusste, dass sie große Aufmerksamkeit erregen würde, sobald man sie erkannte. Langsam folgte sie ihm.

Die schattenhafte Gestalt verschwand, und eine leise Furcht regte sich in Imi, aber dann erschienen zwei weitere Elai. Als sie ihnen nachschwamm, sah sie in der Felswand vor sich eine große schwarze Öffnung. Die Lichtfische waren fort, vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme, die verhindern sollte, dass Landgeher den Eingang der Stadt fanden. Sie wusste, dass das möglich war, denn sie hatte Landgehertaucher gesehen. Aber Landgeher konnten nicht lange genug den Atem anhalten, um in die Stadt hineinzugelangen.

Nachdem sie in die Dunkelheit geschwommen war, bemerkte sie zu ihrer Erleichterung vor sich ein Licht. Es führte sie in die Lufttaschen im Tunnel. Sie brachte es fertig, den ganzen Tunnel zu durchmessen, ohne auftauchen und Atem holen zu müssen, daher erkannte sie auch niemand. Dann zog ein größerer, hellerer Schein sie aufwärts, und sie kam im Mund wieder an die Oberfläche.

Mehrere Minuten lang ließ sie sich dort treiben und betrachtete die Höhlen, die Lichter und die Menschen. Der Anblick war zu schön, um echt zu sein. Sie fürchtete sich davor, weiterzuschwimmen, falls …

Als ein anderer Elai spritzend neben ihr auftauchte, zog sie sich hastig zurück.

Wovor habe ich Angst?, fragte sie sich. Habe ich immer noch Angst, dass Teiti oder Vater mich dafür bestrafen werden, dass ich mich davongeschlichen habe? Selbst wenn ich wüsste, dass sie es tun würden, würde ich dann jetzt wegschwimmen?

Sie schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg zum Rand des Wassers.

Als sie auftauchte, begannen die ersten Leute, in ihre Richtung zu schauen. Gewöhnliche Elai sahen kurz zu ihr hinüber, dann bekamen sie große Augen. Wachen runzelten die Stirn und blinzelten dann überrascht. Einer, der Hauptmann, trat vor.

»Prinzessin? Prinzessin Imi?«

Sie lächelte schief. »Ja.«

»Wo bist du…« Er hielt inne und straffte sich dann. »Darf ich dich zum Palast begleiten?«

Erheitert über seine plötzliche Förmlichkeit, nickte sie. »Bitte.«

Sofort rief er den anderen mit lauter Stimme Befehle zu. Drei weitere Wachen nahmen ihre Plätze neben dem Hauptmann ein, so dass sie im nächsten Moment von Männern umringt war. Andere Elai liefen den Hauptfluss zum Palast hinunter.

Sie werden es Vater sagen. Er wird wissen, dass ich komme.

Ihr Magen zog sich zusammen, aber sie zwang ihre Beine, sich zu bewegen. Eine Schar Schaulustiger war stehen geblieben, um die Ereignisse zu beobachten, und jetzt schlossen sie sich ihrer Eskorte an. Die überraschten Blicke wichen einem Lächeln. Stimmen wurden laut, um sie willkommen zu heißen. Mit einem Mal traten ihr Tränen in die Augen, und sie blinzelte heftig dagegen an.

Die Strecke zum Palast erschien ihr endlos. Sie beschleunigte ihre Schritte und verlangsamte das Tempo dann wieder, als sie die Palasttore sah. Sie standen offen.

Und zwischen ihnen stand ein Mann.

Ihr Vater.

Als sie sich wieder in Bewegung setzte, traten die Wachen beiseite. Sie bemerkte es kaum. Sie sah nur ihren Vater, der auf sie zugeeilt kam, und als sie den feuchten Schimmer in seinen Augen sah, konnte sie die Tränen nicht länger aufhalten.

Endlich fiel sie ihm um den Hals und spürte seine Arme, vertraut und stark. Ihr wurde bewusst, dass sie sich entschuldigte, dann lachte sie laut auf, als sie feststellte, dass er das Gleiche tat.

»Wofür entschuldigst du dich, Vater?«, platzte sie heraus. »Ich bin diejenige, die Teiti entwischt ist und die Stadt verlassen hat.«

Er trat einen Schritt zurück, um sie anzusehen. »Ich hätte dich häufiger hinauslassen sollen. Dann wärst du nicht so neugierig gewesen, und du hättest Wachen zu deinem Schutz bei dir gehabt.«

Sie lächelte und wischte sich über die Augen. »Denen wäre ich auch entwischt.«

Er musterte sie forschend. »Wo bist du gewesen? Dieser Schurke von einem Kaufmannssohn hat uns erzählt, du wärst von Plünderern entführt worden.«

»Das ist wahr.« Sie hielt inne. »Du warst doch nicht allzu gemein zu ihm, oder? Ich habe ihn dazu überredet.«

Er runzelte die Stirn. »Teiti hat mich dazu gebracht, ihn einzusperren.«

Imi sog erschrocken die Luft ein. »Armer Rissi! Sie muss furchtbar wütend gewesen sein!«

Ihr Vater zuckte zusammen. »Das war sie auch, aber ich war noch viel wütender auf sie. Du musst mir alles erzählen.« Er wandte sich dem Palast zu. »Hat deine Rückkehr etwas mit dem Schiff dort draußen zu tun?«

»Ja, Vater. Die Leute auf diesem Schiff haben mich gerettet und nach Hause gebracht. Ich verdanke ihnen mein Leben.«

Er runzelte die Stirn, offensichtlich wenig erfreut darüber, das zu hören.

»Nicht alle Landgeher sind schlecht«, fuhr sie fort.

Jetzt erschien eine steile Falte zwischen seinen Augen. »Das glaubst du also, ja? Was wollen sie als Gegenleistung?«

»Nichts.«

»Nichts!« Er schüttelte den Kopf. »Sie wollen immer irgendetwas. Aber von mir werden sie nichts bekommen!«

»Vater«, sagte sie energisch, »sie haben mir das Leben gerettet.«

Er zögerte kurz, dann seufzte er. »Also sollte ich ihnen durchaus etwas als Gegenleistung geben.«

Sie zuckte die Achseln. »Zumindest schuldest du ihnen deinen Dank.«

Er blieb stehen und sah sie eigenartig an. »Was ist mit dir geschehen, dass du mit einem Mal so klug und tapfer bist?«

Sie verzog das Gesicht. »Eine Menge, Vater. Lass uns hineingehen, dann werde ich dir alles erzählen.«

Er nickte, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie durch die Palasttore.

41

Es hatte wenig Sinn, das Ganze noch einmal durchzugehen. Er hatte über alles nachgedacht, was er getan hatte, und sich die möglichen Konsequenzen vor Augen geführt. Er hatte fruchtlose Stunden darauf verwandt, darüber nachzugrübeln, was er anders hätte machen können.

Aber auch wenn die Reise durch Si einen großen Teil von Mirars Aufmerksamkeit beanspruchte, ließ sie ihm dennoch ein wenig Raum zu anderen Erwägungen. Der Teil von ihm, der nicht damit beschäftigt war, endlos zu klettern und weite Strecken zurückzulegen, ließ es sich nicht nehmen, sich ständig im Kreis zu drehen, und wann immer er versuchte, an etwas anderes zu denken, kehrte er schon bald wieder zu Auraya und zu sich selbst zurück oder zu den Weißen und den Göttern.

Und dann wäre da noch Emerahl. Warum musste ich ausgerechnet an Emerahl denken, als ich Auraya meinen Geist geöffnet habe?

Sie war nur für einen kurzen Augenblick in seinen Gedanken gewesen, als Helferin und Freundin. Er hatte nicht an Emerahls Vorhaben gedacht, andere Unsterbliche ausfindig zu machen. Wenn die Götter sie erkannt hatten – und es war ebenso gut möglich, dass es sich nicht so verhielt -, würden sie die Weißen auf ihre Existenz aufmerksam machen. Sie wussten jedoch nicht, wo sie war. Solange Emerahl nichts tat, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, oder einem der Weißen in die Arme lief, drohte ihr keine Gefahr. Die Götter mochten nach ihr suchen, indem sie in den Geist Sterblicher blickten und Ausschau nach jemandem hielten, der für einen Menschen sichtbar, für sie selbst aber unsichtbar war, doch das würde einige Zeit in Anspruch nehmen, und sie mussten sich einer drängenderen Angelegenheit widmen – Auraya.

Er hoffte, dass sie recht hatte und die Götter sie nicht töteten, weil sie befürchten mussten, dass sie damit das Vertrauen ihrer Anhänger in die Weißen schwächen würden. Er wünschte sich inbrünstig, dass er sie nicht zum Tod verurteilt hatte, indem er ihr seinen Geist geöffnet hatte. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, sich selbst zu retten, aber er hatte es nicht nur aus Eigennutz getan. Er hatte gewollt, dass sie die Wahrheit sah. Gewollt, dass sie ihn endlich als das erkannte, was er war – und dass sie begriff, dass er sie liebte.

Du Narr, dachte er. Sie ist eine der Auserwählten der Götter. Sie kann dich nicht lieben.

Aber natürlich könnte sie das, wisperte ein anderer Teil seines Selbst.

Furcht regte sich in ihm. Kehrte Leiard zurück? Er suchte nach einer anderen Persönlichkeit in seinem Geist, konnte aber keine entdecken.

Ich bin Leiard, rief er sich ins Gedächtnis. Ich sollte besser akzeptieren, dass seine Schwächen meine sind, und dafür sorgen, dass ich nicht abermals andere in Gefahr bringe. Wenn ich Auraya nicht haben kann, sollte ich mich so weit wie möglich von ihr entfernen.

Die Luft in der steilen, schmalen Schlucht war feucht und reglos. Mirar musste gähnen, und er überlegte, kurz Halt zu machen, um zu schlafen. Er hatte sich seit seinem Aufbruch vom Blauen See kaum Ruhe gegönnt, und die Müdigkeit, die er so lange beiseitegedrängt hatte, erschien ihm plötzlich unerträglich.

Er stolperte. Als er hinabblickte, sah er die dünnen Reben, die kreuz und quer über seinen Weg verliefen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er sah sich hastig um. Furcht vertrieb die Benommenheit aus seinen Gedanken.

Die Bäume und der Waldboden um ihn herum waren überwuchert von Schlafreben. Gefangen in einer endlosen Gedankenspirale, die sich um Auraya und die Götter drehte, hatte er nicht bemerkt, wohin die Schlucht ihn geführt hatte. Bei dem Gestank von verwesendem Fleisch drehte sich ihm der Magen um. Irgendwo unter dem üppigen Teppich mussten ein oder zwei Tierleichen verborgen liegen, Opfer der Gabe der Schlafrebe.

Jetzt, da er sich der heimtückischen Verlockung bewusst geworden war, fiel es ihm leicht, sich dagegen zu wehren. Er setzte sich wieder in Bewegung und stieg vorsichtig über die Reben auf dem Boden hinweg. Es handelte sich um eine große, ausgereifte Pflanze. Die Schlucht war ein natürlicher Pferch und trug der Pflanze wahrscheinlich viele Opfer ein.

Nach einer Weile wurde die Schlucht noch enger, aber die Reichweite der Reben endete bald. Mit einem Seufzer der Erleichterung stieg Mirar in den schmalen Felsspalt hinab. Er musste sich an mehreren Felsvorsprüngen vorbeizwängen oder darüber hinwegklettern.

Ich kann nur hoffen, dass dies keine Sackgasse ist

Wenn Tyve ihn doch nur begleitet hätte. Er war davon überzeugt, dass der Junge mitgekommen wäre. Aber Tyves Geist stand den Göttern offen und hätte ihnen Mirars Aufenthaltsort verraten.

Einige Schritte vor ihm endeten die Felswände zu beiden Seiten, und gleichzeitig stürzte der Grund tief ab. Unten konnte er die Wipfel von Bäumen sehen, die sich im Wind wiegten. Am Ende der Schlucht angekommen, fand er sich auf einer Klippe wieder. Er war nicht in eine Sackgasse geraten, aber der Abstieg würde eine Menge Zeit und Konzentration erfordern.

Vor ihm erhoben sich Berge, und die Kletterpartie, die ihm als Nächstes bevorstand, war nichts im Vergleich zu dem, was ihm blühte, wenn er diese felsigen Hänge überqueren wollte. Emerahl hatte ihm vorgeschlagen, sich in Richtung der sennonischen Wüste zu wenden. Diese Durchquerung der Berge war die kürzeste Route. Die einfachere, wenn auch längere Route hätte ihn vom Blauen See aus flussabwärts zur Küste geführt, aber die Küste war der Ort, an dem die Götter ihn erwarten würden. Auch die Siyee würden dort nach ihm Ausschau halten, und er musste damit rechnen, dass die Weißen ihn dort empfangen würden. Sie würden nicht erwarten, dass er zuerst einen Berg überwand und es dann mit der Wüste aufnahm, um nach Südithania zu gelangen. Zumindest hoffte er, dass es sich so verhielt.

Seufzend setzte er sich hin, um zu essen und das vor ihm liegende Gelände zu betrachten. Obwohl der Wald einen großen Teil des Bodens verdeckte, konnte er einen Weg erkennen, der an den augenfälligeren Hindernissen vorbeiführte.

Ein Schatten glitt über ihn hinweg. Ein großer Schatten.

Er blickte gerade rechtzeitig auf, um einen Siyee zu sehen, der über den Absturz hinausglitt und dann aus seinem Blickfeld verschwand.

In diesem Teil von Si lebten nur wenige Siyee. Er gehörte zwar immer noch zum Gebiet des Stamms vom Blauen See, aber da es rund um den See so viel nutzbares Land gab, hatte der Stamm es nicht nötig, so weit hinauszufliegen, um Nahrung zu finden. Sie könnten nach etwas suchen, das es in ihrer Nähe nicht gibt, überlegte er. Nach seltenen Pflanzen vielleicht. Oder vielleicht wachen sie über ihr Land.

Oder sie könnten nach mir Ausschau halten.

Er stand auf und drängte sich in die Felsspalte. Ob sie nun nach ihm suchten oder nicht, wenn sie ihn sahen, würden sie den Göttern vielleicht seinen Aufenthaltsort verraten. Er hielt inne und dachte darüber nach, ob er umkehren sollte, statt weiter die Klippe hinunterzuklettern.

Die Klippe erstreckte sich in beide Richtungen über ein großes Gebiet, das eine natürliche Barriere zwischen ihm und den Bergen bildete. Er würde es damit aufnehmen oder einen weiten Umweg machen müssen.

Eine geflügelte Gestalt schwebte über ihn hinweg. Er nahm selbstgefällige Zufriedenheit und Geduld wahr. Alle Hoffnung schwand.

Er weiß, dass ich hier bin.

Also konnte er den Siyee ebenso gut zusehen lassen, wie er hinunterkletterte. Danach, im Schutz der Bäume, würde es viel leichter sein, einer Verfolgung zu entgehen.


Als Auraya sich dem Dorf des Sandstamms näherte, waren am Horizont keine schwarzen Schiffe zu sehen. Überall waren Siyee: zwischen den Lauben, an der Küste und am Himmel. Nachdem sie nahe genug herangekommen war, suchte sie in den Gedanken der Leute und spürte Sprecher Tyrli auf.

Als ihre Füße den Sand berührten, hatte sich bereits eine größere Menge von Siyee versammelt. Eine der Frauen aus dem Dorf hatte zwei Schalen mitgebracht, die Tyrli Auraya darbot. Eine war voller Wasser, die andere war mit Cremebeeren gefüllt.

Auraya nahm die rituellen Begrüßungsgaben entgegen.

»Ich habe deine Nachricht erhalten, Sprecher«, sagte sie zu Tyrli. »Wo habt ihr das Schiff gesehen?«

Er deutete nach Südosten. »Man konnte es nur aus der Luft sehen. Die Segel waren mit einem Stern gekennzeichnet. Meine Männer sind hinübergeflogen und haben pentadrianische Zauberer an Bord entdeckt.«

Auraya nickte. »Ist das Schiff seither noch einmal gesehen worden?«

»Nein.« Sie erblickte in seinem Geist das Bild eines unbehaarten, dunkelhäutigen Kindes. Ein Elai-Mädchen. Er befürchtete, dass es auf die Pentadrianer gestoßen sein könnte, obwohl das recht unwahrscheinlich war. Auraya bezähmte ihre Neugier; es gab wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern musste.

»Ist jemand dem Schiff gefolgt?«, fragte sie.

Er nickte. »In einiger Entfernung und nur so weit, wie keine Gefahr drohte. Es ist nach Südosten gesegelt, weit hinaus aufs Meer. Nach Borra.«

»Sind die Pentadrianer nicht an Land gegangen?«

»Nein. Droht den Elai Gefahr?«

Auraya schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle es. Die Elai stellen keine Bedrohung für sie dar, und sie sind zu gering an Zahl, um für die Pentadrianer als Verbündete interessant zu sein. Vielleicht werden sie versuchen, sie zu bekehren, aber die Elai sind von Huan erschaffen worden. Ich glaube nicht, dass sie sich von ihr abwenden werden.«

Tyrli nickte zustimmend.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Pentadrianer es nicht versuchen werden, dachte sie und erinnerte sich daran, dass Juran ihr von Pentadrianern erzählt hatte, die versuchten, sich in anderen Ländern niederzulassen. Sie seufzte. »Ich sollte dieses Problem mit Juran erörtern.«

Der Sprecher lächelte. »Komm in meine Laube. Meine Tochter wird dafür sorgen, dass du dort ungestört bist.«

Auraya zögerte kurz, dann nickte sie. »Natürlich.« Er wusste nicht, warum es ihr widerstrebte, sich mit den anderen Weißen in Verbindung zu setzen.

Ich kann es nicht bis in alle Ewigkeit vermeiden, sagte sie sich.

Als sie in Tyrlis Laube ankam, hatte sie sich innerlich auf die Auseinandersetzung vorbereitet, die nur unangenehm ausfallen konnte. Tyrlis Tochter brachte Wasser und einen größeren Teller mit Essen, dann ließ sie Auraya allein.

Die Wände der Laube leuchteten in dem Sonnenlicht, das durch die Membran fiel. Auraya holte tief Luft, schloss die Augen und sandte ihren Geist aus.

Juran?

Es folgte eine Pause, dann:

Auraya. Wo bist du?

An der Küste von Si. Der Sandstamm hat mir berichtet, dass vor einigen Tagen ein pentadrianisches Schiff hier in der Gegend gesichtet wurde.

Sind die Pentadrianer an Land gegangen?

Nein. Die Siyee sagen, das Schiff sei nach Südosten gesegelt, nach Borra.

Was könnten die Pentadrianer von den Elai wollen?

Ich weiß es nicht. Sie haben keinen Grund, sie anzugreifen, und es ist unwahrscheinlich, dass die Elai etwaigen Freundschaftsangeboten gewogen sein werden. Wir wissen ja, wie misstrauisch sie Landgehern gegenüber sind.

Ja.

Soll ich der Sache nachgehen?

Juran schwieg mehrere Herzschläge lang.

Nein. Wie gut erholen sich die Siyee von der Herzzehre?

Die Krankheit hat sich auf alle Stämme ausgedehnt, bis auf diejenigen, die in den entlegensten Gebieten leben. Die Situation kann nicht mehr viel schlimmer werden.

Er zögerte abermals.

Wie sehen deine Pläne in Bezug auf Mirar aus?

Auraya wurde eng ums Herz.

Ich kann ihn nicht töten, wenn ich glaube, dass er es nicht verdient hat.

Nicht einmal dann, wenn die Götter es dir befehlen?

Sie antwortete nicht sofort.

Nein. Es lässt alles, wofür sie stehen – alles, wofür wir stehen -, wertlos erscheinen.

Ein langes Schweigen folgte.

Dyara und Rian brechen heute nach Si auf. Wenn sie Mirar töten, wirst du dann das Gefühl haben, dass sie alles, wofür wir stehen, wertlos gemacht haben?

Bei der Frage krampfte ihr Magen sich zusammen.

Möglicherweise. Ich weiß nicht

Ich habe Mirar vor hundert Jahren hingerichtet, und mir lagen damals genauso wenig Beweise vor wie dir heute. Hat dein Wissen um meine Tat mich in deinen Augen herabgesetzt?

Diese Frage konnte sie nicht beantworten. Wenn sie es abgestritten hätte, wäre sie unaufrichtig gewesen, andererseits hatte sie noch immer großen Respekt vor ihm.

Unsere jeweiligen Situationen sind nicht vergleichbar, sagte sie. Mirar hat dir seinen Geist nicht geöffnet. Als du Mirar gegenüberstandest, hatten die Götter gerade erst damit begonnen, die Gesetze zu schaffen, nach denen wir leben. Die Gesetze und Prinzipien, die zu brechen sie von mir verlangen.

Sie haben mich gebeten, ihnen zu vertrauen. Vertraust du ihnen? Vielleicht nicht mehr in dem Maße, wie ich es früher getan habe, gestand sie. Ich kann nicht dagegen an. Als sie mich gebeten haben, etwas Unrechtes zu tun, habe ich das Vertrauen verloren, dass sie etwas Derartiges niemals von mir verlangen würden. Ein Anflug bitterer Erheiterung stieg in ihr auf. Wenn ich Mirar töte, werde ich mich dafür hassen und bis in alle Ewigkeit die Weisheit der Götter in Zweifel ziehen.

Ich fürchte, dass du die Weisheit der Götter ohnehin in Zweifel ziehen wirst.

Ein kalter Stich des Begreifens durchzuckte sie. Er hatte recht. Es gab kein Zurück mehr. Sie hatte ein wenig von ihrem Respekt vor den Göttern verloren und konnte nicht so tun, als sei nichts geschehen. Ich bin eine Weiße. Eine Weiße sollte nicht an den Göttern zweifeln, denen sie dient! Wenn ich meinen Respekt für sie nicht wiederfinden kann, dann… Sie schauderte. Dann sollte ich nicht länger eine Weiße sein.

Auraya?

Ihr Mund war trocken. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf Juran zu richten.

Was soll ich tun? Soll ich nach Jarime zurückkehren?

Nein. Bleib in Si. Es hat keinen Sinn, dass du hierher zurückkommst, während dich das Himmelsvolk noch immer braucht.

Er brach die Verbindung ab. Auraya schlug die Augen auf, und sofort kamen ihr die Tränen. Sie hatte sich niemals etwas anderes gewünscht, als Priesterin zu sein und ihre Gaben zu benutzen, um Menschen zu helfen. Um den großartigen Wesen zu dienen, die die Götter waren.

Die Götter, die ich liebe, dachte sie. Aber nicht mehr mit ganzem Herzen, wie ich es früher getan habe. Diese Liebe ist besudelt worden. Zerstört. Vielleicht hätte meine Liebe robuster sein sollen. Vielleicht hätte ich wie Rian sein sollen, bereit, in ihrem Namen alles zu tun, ob es nun falsch oder richtig ist. Bin ich eigensüchtig? Spielt es eine Rolle, ob ich das, was ich tue, für richtig halte?

Aber es musste eine Rolle spielen, dass es den Weißen wichtig war, ob ihre Taten richtig oder falsch waren. Alles andere wäre erschreckend gewesen. Und es spielte in der Tat eine Rolle, dass die Götter gut und gerecht waren. Anderenfalls … zu welchen anderen Arten des Machtmissbrauchs konnten die Götter die Weißen noch heranziehen?

Wenn Mirar recht hat und die Götter schon viele Male ihre Macht missbraucht haben, was sollte sie daran hindern, es wieder zu tun? Was ist, wenn die Götter die Zirkler und die Weißen geschaffen haben, um in der Welt ungehindert zu tun, was immer sie wollen?

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war zu beängstigend, um es auch nur in Erwägung zu ziehen. Wenn die Absichten der Götter böse waren, wohin führte das dann die Menschen?

Sie waren ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Der sicherste Weg für sie war der, sich ihre Gunst zu erhalten – Mirar zu töten und eine gehorsame Dienerin zu sein. Sie sollte so treu ergeben sein wie Rian, nur dass ihr Gehorsam dann auf Furcht fußen würde, nicht auf Liebe oder Ergebenheit.

Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. Wenn sie in einem Zustand stetiger Angst und permanenter Lügen lebte und zu Dingen gezwungen wurde, die sie für Unrecht hielt, konnte das nur zu Unglück führen. Zu einer Ewigkeit voller Unglück.

So weit wird es vielleicht nicht kommen, überlegte sie. Nein. Die Götter sind nicht böse. Sie wollen Mirars Tod, weil sie befürchten, dass er Sterblichen Schaden zufügen wird. Sie sind zu weit entfernt, um zu begreifen, dass er keine Gefahr mehr darstellt. Ich bin näher am Geschehen. Ich habe in seinen Geist geblickt. Ich weiß es besser.

Aber wie konnte das sein? Die Götter waren angeblich weiser als die Menschen. Wenn sie glaubte, dass sie irrten, dann musste sie es für möglich halten, dass sie Fehler machen konnten. Eine Weiße sollte nicht an den Göttern zweifeln. Sie stützte den Kopf in die Hände und sah einer simplen Wahrheit ins Auge. Ich bin dieser Position nicht würdig.


Die Seeleute huschten über das Deck der Pfeil, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie ihre Arbeit so schnell wie möglich verrichteten. Rian blickte zur Stern hinüber. Die Mannschaft auf dem anderen Schiff war ebenso geschäftig. Dyara stand am Bug. Obwohl die beiden Schiffe gemeinsam segeln würden, würde er sich während der nächsten Wochen nur durch Gedankenrede mit ihr verständigen.

Schritte hallten über das Deck. Rian drehte sich um und sah Juran näher kommen.

»Rian«, sagte er. »Hast du alles, was du brauchst?«

»Ja«, antwortete Rian.

Juran hielt inne, als ein junger Priester, der eine hölzerne Kiste trug, an Bord eilte. Der Mann näherte sich ihnen nervös, stellte die Kiste auf das Deck und machte dann das Zeichen des Kreises.

»Die Kopien, um die du gebeten hast, Rian von den Weißen.«

»Danke«, erwiderte Rian. »Du darfst wieder gehen.«

»Also, was sollten die Schreiber, von denen du verlangt hast, dass sie die ganze Nacht hindurch aufbleiben, für dich kopieren?«, erkundigte sich Juran.

»Den sennonischen Gesetzeskodex, einige historische Unterlagen über frühere Kaiser und Studien über die vielen hier praktizierten Kulte, die ich in Auftrag gegeben habe. Ich werde Lektüre für die Reise benötigen und wollte es nicht riskieren, Originale mitzunehmen.«

Juran lachte leise. »Ich denke nicht, dass du auf dem Weg nach Si Zeit zum Lesen finden wirst, da du dich darauf konzentrieren musst, das Schiff durch das Wasser zu bewegen.«

Rian zuckte die Achseln. »Das mag sein, aber sobald wir die Sache mit Mirar erledigt haben, werden wir vielleicht in gemächlicherem Tempo zurückkehren.«

Ein grimmiger, gequälter Ausdruck trat in die Züge des Anführers der Weißen. Rian hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen. Er erschien, wann immer Mirars Name ausgesprochen wurde. Rian hatte schon vor langer Zeit geahnt, dass die Ermordung Mirars für Juran sehr unangenehm gewesen sein musste. Es war gewiss schwierig für ihn gewesen, herausfinden zu müssen, dass der Traumweber damals nicht gestorben war und nun von neuem Sterbliche manipulierte. Und Unsterbliche. Je eher er und Dyara die Welt von Mirar befreiten, umso besser – für Juran ebenso wie für die Welt. Es war jedoch sinnlos, darüber zu reden, und würde Juran nur noch mehr belasten.

»Ich glaube langsam, dass es Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte dauern wird, bis wir Sennon unter unseren Schutz gebracht haben«, sagte Rian und lenkte das Thema wieder auf das ferne Land zurück. »Diese Menschen beten alles nur Erdenkliche an. Hast du schon von diesem neuen Kult um den Schöpfer gehört?«

Juran zog die Augenbrauen hoch. »Nein.«

»Der Kult gründet auf der Vorstellung, dass die Welt und sogar die Götter von irgendeinem höheren Wesen zu irgendeinem größeren Zweck erschaffen wurden. Dieses Wesen ist bekannt als der Schöpfer. Der Mann, der die Religion anführt, bietet keine greifbaren Beweise für seine These an, sondern benutzt eine verzerrte Logik, um die Menschen von der Wahrheit seiner Behauptungen zu überzeugen. Der Kult ist bisher nur klein, wächst jedoch mit bestürzender Geschwindigkeit.«

»Das tun neue Kulte immer. Die Begeisterung ihrer Anhänger verblasst, sobald sie begreifen, dass sie keinen Vorteil von einem nicht existierenden Gott haben – erst recht nicht, wenn der Tod nahe ist.«

»Ja.« Rian rümpfte angewidert die Nase. »So wenige von ihnen huldigen ihrer Religion lediglich aus Ehrfurcht oder Respekt. Immer erwarten sie eine Gegenleistung.«

Juran lächelte. »Wenn Ehrfurcht und Respekt alles wären, was benötigt würde, könnte man diesen Schöpfer ebenso gut anbeten wie die wahren Götter.«

Rian schüttelte den Kopf. »Ich würde immer noch einen Beweis für seine Existenz verlangen.«

Jurans Blick war mit einem Mal schärfer geworden. »Und für seine Güte? Was würdest du tun, wenn er etwas von dir erwartete, was du für Unrecht hältst?«

Rian lehnte sich an die Reling und unterdrückte ein Lächeln. Hierbei ging es um Auraya, vermutete er. »Keine Aufgabe ist unrecht, wenn die Götter sie von uns verlangen.«

»Selbst wenn sie den Gesetzen und Prinzipien widerspräche, die zu befolgen sie uns ermutigt haben?«

»Sie müssen ihre Gründe dafür haben, wenn sie sich selbst widersprechen. Es gibt immer Umstände, unter denen Gesetze flexibel gehandhabt werden dürfen.«

»Und was ist, wenn dies keiner dieser Umstände wäre?«

»Dann würde ich daraus den Schluss ziehen, dass ich die wahren Umstände nicht kenne. Wenn die Götter keinen Grund angeben, warum sie gegen ihr Gesetz verstoßen, muss ich zu dem Schluss kommen, dass sie es nicht können. Ich würde darauf vertrauen, dass ihre Entscheidung die richtige ist.«

Juran runzelte die Stirn und rieb sich das Kinn. »Du würdest also nicht von ihnen verlangen, dass sie dir ihre Gründe zur Gänze offenbaren?«

»Nein.«

Rian beobachtete, wie Juran mit den Fingern auf seinen Arm trommelte und nachdenklich dreinblickte. Von den vier Weißen war Juran der Einzige, der religiöse Debatten schätzte. Dyara hatte nicht die Geduld für das, was sie »fruchtlose Spekulation« nannte, und bei den wenigen Gelegenheiten, da Rian versucht hatte, Mairae in ein solches Gespräch zu ziehen, hatte sie sich anscheinend unwohl gefühlt. Er hatte sich nicht darum bemüht, mit Auraya zu reden. Obwohl sich in der Vergangenheit einige Male die Gelegenheit geboten hätte, hatte er sie jedes Mal verstreichen lassen. Sie machte keineswegs den Eindruck, dass sie nicht interessiert sei – ganz im Gegenteil. Aber er argwöhnte, dass er sich ihren Meinungen nicht würde anschließen können.

»Haben die Götter jemals eine Entscheidung getroffen, mit der du nicht einverstanden warst, die du aber akzeptiert hast, nur weil du auf ihre Weisheit vertraust?«, fragte Juran langsam.

Rians Herz setzte einen Schlag aus. Sollte er das zugeben? Bevor er sich entscheiden konnte, lächelte Juran.

»Ich denke, dein Zögern lässt darauf schließen, dass etwas Derartiges schon geschehen ist.«

Rian nickte knapp. »Aber ich habe später die Weisheit ihrer Entscheidung begriffen.«

Jurans Augen wurden schmal. »Und du möchtest mir nicht erzählen, um was für eine Entscheidung es sich gehandelt hat.«

Zuerst schüttelte Rian den Kopf, aber dann besann er sich noch einmal. Im Lichte der jüngsten Ereignisse könnte es von Bedeutung sein, dass Juran von dieser kleinen Angelegenheit erfuhr.

»In der Vergangenheit wäre es schäbig von mir gewesen, darüber zu sprechen, aber jetzt könnte es sich als wichtig erweisen.«

»Ja?«

»Ich war gegen Aurayas Auserwählung.«

Jurans Augenbrauen schossen in die Höhe. »Aber du hast gerade gesagt, dass du später die Weisheit dieser Entscheidung erkannt hast.«

»Ja, Auraya hat sich als nützlich erwiesen.«

»Du sprichst in der Vergangenheit.«

Rian zuckte die Achseln. »Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Ich weiß nicht, ob sie auch weiterhin nützlich sein wird.«

»Das klingt beinahe so, als sei sie in deinen Augen… verzichtbar«, sagte Juran nachdenklich.

»Das war nicht meine Absicht.«

Juran wandte den Blick ab und seufzte. »Sie ist erst seit einem Jahr bei uns. War es zu viel von ihr verlangt, Mirar zu töten?«

Rian runzelte die Stirn. »Welche zeitliche Grenze würdest du für den Gehorsam gegen die Götter vorschlagen? Sie hat ihnen an dem Tag, an dem sie auserwählt wurde, geschworen, ihnen zu dienen – und schon früher: an dem Tag, an dem sie Priesterin wurde.«

Juran kaute auf seiner Unterlippe. »Das Ablegen dieses Schwurs bedeutet nicht, dass seine Erfüllung leicht ist.«

»Sie hat Kuar getötet.«

»Ich muss mich fragen, ob Mirar sich nicht ohnehin abermals erholen würde. Wir wissen nichts über seine Kräfte.«

»Ich werde seinen Leichnam zu Asche verbrennen und diese Asche in der ganzen Welt verstreuen«, versicherte Rian ihm. »Ich bezweifle, dass er sich davon erholen wird.«

Juran sah ihn mit undeutbarer Miene an. »Und was sollten die Götter deiner Meinung nach mit Auraya tun?«

Rian hielt inne und runzelte die Stirn. »Sie hat ihnen den Gehorsam verweigert. Vielleicht hat sie aus Verwirrung oder Unentschlossenheit gezögert, aber sie haben ihr eine zweite Chance gegeben, und sie hat ihnen abermals getrotzt. In mir steigen nun wiederum Zweifel an ihrer Erwählung auf, aber ich werde akzeptieren, was immer die Götter entscheiden.«

Juran nickte und warf dann einen Blick auf die Mannschaft. Die Männer eilten nicht länger umher, sondern taten so, als arbeiteten sie, während sie auf das Zeichen zum Auslaufen warteten. Auch die Mannschaft der Stern wartete ungeduldig.

»Dann bleibt mir nur, dir eine sichere Reise zu wünschen, Rian. Und verlange dem Schiff nicht zu viel ab.«

»Dyara würde mir niemals gestatten, auch nur in die Nähe einer Situation zu kommen, die uns ein Leck eintragen könnte«, erwiderte Rian.

Juran lachte leise. »Nein, bestimmt nicht.«

Rian beobachtete, wie der Anführer der Weißen das Schiff verließ, dann nickte er den Kapitänen beider Schiffe zu. Ein früheres Gespräch mit Juran und Dyara kam ihm in den Sinn.

»Gemeinsam werdet ihr stark genug sein, um einen Angriff durch einen einzelnen pentadrianischen Anführer abzuwehren«, hatte Juran gesagt.

»Aber nicht zwei«, hatte Dyara eingewandt.

»Falls das geschehen sollte, ruf Auraya auf den Plan. Sie ist die Einzige von uns, die euch schnell genug erreichen könnte.«

»Und wenn sie sich weigert, uns zu helfen?«, fragte Rian.

»Diese Möglichkeit würde sie niemals in Betracht ziehen«, sagte Dyara entrüstet. »Sie mag eine Närrin sein, wenn es um Mirar geht, aber sie würde uns nicht im Stich lassen.«

»Und wenn Mirar sich mit den Pentadrianern zusammentut?«, hakte Rian nach.

Dyara und Juran hatten einen grimmigen Blick getauscht. »Ich halte das für unwahrscheinlich«, hatte Juran erwidert. »In seinem Geist war keine Spur von einer solchen Allianz. Wenn es anders gewesen wäre, hätte Auraya… nun, sie hätte sich anders benommen. Aber falls es zu einer solchen Situation kommen sollte, sehe ich keine andere Chance für euch, als zu fliehen.«

Die beiden Schiffe entfernten sich von den Docks. Die Götter werden uns warnen, sagte sich Rian. Und Auraya wird nichts anderes übrigbleiben, als zur Vernunft zu kommen oder uns alle zu verraten.

42

Das Boot vibrierte schwach, als sein Rumpf den Sandboden berührte. Ein Befehl wurde gebrüllt, und die Ruderer zogen hastig ihre Riemen ein, sprangen ins Wasser und machten sich daran, das Boot ans Ufer zu ziehen. Reivan erhob sich und folgte ihrer Herrin an den Bug. Sie traten auf trockenen Sand, dann gingen sie auf die Menge dunkelhäutiger, unbehaarter Männer zu.

Es war nicht schwer, den Anführer von den Übrigen zu unterscheiden. Der König der Elai war unbekleidet bis auf eine kurze Hose aus einem ledrigen Material, das in der Farbe seiner Haut ähnelte, aber sein Körper war mit Juwelen behängt und geschmückt. Von mehreren goldenen Ketten hingen Medaillons in der Gestalt von Meeresgeschöpfen, und sie waren besetzt mit funkelnden, kostbaren Steinen. Muscheln, die so geschnitzt waren, dass sie wie Regenbogen leuchteten, waren zu einem beeindruckenden Wams gearbeitet worden. Das Gewicht des Schmucks musste beträchtlich sein, aber er hielt sich stolz und mit geradem Rücken. In einer Hand hatte er einen Speer, der trotz reicher Verzierungen mit Gold und Juwelen so aussah, als sei er durchaus nicht nur für dekorative Zwecke verwendbar.

Zwischen seinen Augen stand eine steile Falte.

Reivan unterdrückte ein Lächeln. Imi hatte sie davor gewarnt, dass ihr Vater Fremden gegenüber feindselig gesinnt war.

Um den König herum stand ein schützender Kreis von Elai-Kriegern, die allesamt Rüstung und Speere trugen und finstere Mienen machten. Imenja trat an den Rand dieses Kreises und blieb stehen. Der Krieger, der ihr am nächsten war, machte Platz, so dass sie und Reivan sich dem König nähern konnten.

»Ich grüße dich, Ais, König der Elai«, sagte Imenja.

»Ich grüße dich, Imenja, Zweite Stimme der Pentadrianer«, erwiderte er.

»Ich bin hergekommen, wie es dein Wunsch war. Ist Prinzessin Imi zu dir zurückgekehrt?«

»Ja.«

Imenja lächelte. »Das ist gut zu hören. Ich hätte ihr den ganzen Weg zu euch das Geleit gegeben, aber ich verstehe, dass ihr allen Grund habt, unerwarteten Besuchern mit Misstrauen entgegenzutreten.«

Die Augenbrauen des Königs zogen sich noch weiter zusammen. »Ich bin dir dankbar, dass du sie zurückgebracht hast«, sagte er steif. »Ich habe dich um ein Treffen hier gebeten, damit ich dir persönlich dafür danken kann, dass du sie von jenen, die ihr Böses wollten, befreit und hierher zu uns gebracht hast.« Er hob seine freie Hand. »Zur Belohnung habe ich dir dies hier mitgebracht.«

Die Krieger hinter ihm durchbrachen den Kreis, und mehrere nicht minder grimmig wirkende Männer traten, Bündel in den Armen, vor. Sie gingen an dem König vorbei und wickelten ihre Lasten aus. Eine Ansammlung wunderschön gearbeiteter Gefäße aus Gold und Silber kam zum Vorschein, und jedes Gefäß war bis zum Rand mit Juwelen, ungefassten Edelsteinen, geschnitzten Muscheln und – ironischerweise – getrockneten Seeglocken gefüllt. Bei diesem Anblick stieg eine leichte Erregung in Reivan auf.

»Diese Dinge sind wunderschön«, erklärte Imenja. »Du bist sehr großzügig in deinem Dank, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das annehmen kann. Wir sind nicht in der Erwartung einer solchen Belohnung hierhergekommen. Es ist uns Lohn genug, Imi wieder mit ihrem Volk vereint zu sehen.«

Der König zog die Augenbrauen hoch. »Warum habt ihr dann nicht gleich kehrtgemacht, nachdem ihr sie zu uns zurückgebracht habt? Warum seid ihr hiergeblieben, statt nach Hause zu segeln?«

»Ich wollte mich davon überzeugen, dass Imi in Sicherheit war. Ich konnte nicht aufbrechen, ohne zu wissen, dass sie wieder zu ihrer Familie zurückgelangt war. Jetzt, da ich mich davon überzeugt habe, werde ich fortgehen, zufrieden damit, dass ich mein Versprechen erfüllt habe. Bevor ich aufbreche… Ich habe noch einige Sachen von Imi an Bord, die sie nicht transportieren konnte, als sie in die Stadt geschwommen ist.« Sie drehte sich um und gab den wartenden Ruderern ein Zeichen.

Sie hoben die Truhe mit Geschenken von Nekaun aus dem Boot und trugen sie herbei. Imenjas Behauptung, diese Dinge gehörten Imi, entlockten Reivan ein Lächeln. Wenn Imenja dem König erzählt hätte, dass sie für ihn bestimmt waren, hätte er ihre Gaben ohne weiteres ablehnen können. Jetzt konnte er das nicht. Die Ruderer traten in den Kreis der Krieger und stellten die Truhe vor den König hin. Einer entriegelte den Deckel und öffnete ihn, dann verneigten sie sich alle vor dem König und zogen sich zum Boot zurück.

Die Augenbrauen des Elai-Königs hoben sich abermals, als er den Inhalt der Truhe sah.

»Dies alles gehört meiner Tochter?«

Imenja lächelte. »Geschenke vom Anführer meines Volkes, der Ersten Stimme Nekaun. Es ist eine Sitte meines Landes, dass Gäste von königlichem Geblüt Geschenke erhalten. In Imis Fall war es uns eine besondere Freude, diesem Brauch Folge zu leisten. Und obwohl mein Volk nicht die Schuld an Imis Entführung trägt, hat sie doch einige Zeit als unfreiwillige Gefangene in unserem Land verbracht. Dafür, fand Nekaun, sollte sie eine Entschädigung erhalten.«

König Ais nickte, den Blick noch immer auf den Inhalt der Truhe geheftet. In seinen Zügen stand ein nachdenklicher Ausdruck. Er sah zu Imenja auf.

»In meinem Land wird eine gute Tat belohnt. Bringt meine Geschenke eurem Anführer und gebt sie ihm mit meinem Dank.«

Sie lächelte. »Das werde ich tun, und auch ich will in seinem Namen Dank sagen. Er wird ebenso beeindruckt von den Fähigkeiten eurer Handwerker sein wie ich.«

Imenja winkte abermals die Ruderer heran und befahl ihnen, die Schätze der Elai zusammenzupacken und zurück zum Boot zu tragen. Als die Männer gegangen waren, wandte sie sich wieder dem König zu.

»Imi hat mir von den Plünderern erzählt, die euch solche Schwierigkeiten machen. Ich würde euch unsere Hilfe anbieten, wenn ich glaubte, ihr würdet sie annehmen.«

»Wie könntet ihr uns helfen?«

»Vielleicht indem wir euch lehren, was wir über Zauberei, Kriegskunst oder die Erbauung befestigter Dörfer wissen. Vielleicht auch indem wir euch Waffen verkaufen.«

»Welchen Gewinn werdet ihr daraus ziehen?«

»Diese Plünderer lauern Handelsschiffen auf, die zwischen Nordithania und meinen Ländern verkehren. Unsere Kaufleute erleiden durch sie große Verluste. Die Einrichtung einer kleinen Flotte zu ihrer Abwehr wäre unmöglich und teuer, selbst wenn es einen geeigneten Hafen als Stützpunkt gäbe. Wenn dein Volk stark genug würde, um sich zu verteidigen, würdet ihr irgendwann vielleicht zu einer Streitmacht, die uns helfen könnte, diese Plünderer zu kontrollieren. Ich weiß, dass unsere Händler eine beträchtliche Gebühr für einen solchen Dienst bezahlen würden.«

Der König musterte sie skeptisch. »Das sagst du. Wahrscheinlicher ist es, dass sie uns berauben werden.«

Imenja nickte. »Es ist weise von dir, eine solche Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Die Gefahr, mit Plünderern verwechselt zu werden, würde dazu führen, dass die meisten Kaufleute ehrlich bleiben, aber bei einem solchen Unternehmen müsstet ihr sowohl vorsichtig als auch klug zu Werke gehen.«

»Oder uns erst gar nicht darauf einlassen.« Er reckte das Kinn vor. »Ich danke dir, dass du meine Tochter zurückgebracht hast, Imenja von den Pentadrianern. Ihr müsst vor Mittag abreisen.«

»Dann werden wir das selbstverständlich tun«, erwiderte Imenja. »Solltest du irgendwann in der Zukunft den Wunsch haben zu verhandeln, halte Ausschau nach einem Schiff mit schwarzen Segeln. An Bord wird ein Diener der Götter sein, der ebenso gekleidet ist wie ich, und er wird mir eine Nachricht überbringen.«

Sie drehte sich um und ging davon. Reivan folgte ihr, wobei sie der Versuchung widerstand, sich noch einmal umzudrehen und den Gesichtsausdruck des Königs zu betrachten. Er runzelt wahrscheinlich noch immer die Stirn und reckt die Brust vor, dachte sie.

Das ist gar nicht so schlecht gelaufen, nicht wahr?, fragte Imenja.

Reivan sah ihre Herrin an.

Ich weiß nicht. Was hast du in seinen Gedanken gelesen?

Argwohn größtenteils. Er misstraut allen Landgehern.

Selbst jenen, die seine Tochter gerettet und zurückgebracht haben?

Ganz besonders uns. Misstrauen ist seine Stärke. Aber ich weiß auch, was seine Schwäche ist.

Was?

Seine Tochter. Er macht sich Vorwürfe wegen ihrer Entführung. Sie hat mehr von der Welt gesehen, als er es sich jemals vorstellen könnte, und sie ist jetzt besser informiert als er. Er ist hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen, seiner alten Gewohnheit, sie zu verwöhnen, und der Erkenntnis, dass sie nie wieder damit zufrieden sein wird, in der Stadt eingepfercht zu sein. Alles in allem kämpft er eine ziemliche Schlacht aus.

Eine Schlacht, die er verlieren wird?

Imenja lächelte.

Ich zähle darauf.


Die Stadt Karienne sah noch in etwa so aus wie bei Emerahls letztem Besuch. Gebäude aller Größen und Formen bildeten zu beiden Seiten eines bescheidenen, schmutzigen Flusses eine weitverzweigte Metropole. Die Stadt hatte sich allerdings im Laufe der letzten Jahrhunderte auf fast das Doppelte der Fläche ausgedehnt, falls sie das von ihrem Platz auf dem Wasser aus beurteilen konnte.

»Wo wollt ihr von Bord gehen?«, fragte Emerahl und wandte sich zu dem Paar und seinen Kindern um.

Shalina sah ihren Mann an.

»Wirst du nicht am Hauptkai anlegen?«, fragte Tarsheni.

»Das könnte ich tun, aber das würde mich wahrscheinlich eine deftige Anlegegebühr kosten. Diese kleinen Piers sind im Allgemeinen weniger teuer.«

»Soweit ich mich erinnere, liegt der Hauptkai in der Nähe des Großen Platzes, wo der weise Mann spricht, und wir würden gern in der Nähe des Platzes von Bord gehen, falls das möglich wäre. Wenn wir deine Anlegegebühr bezahlen, wirst du dann mit uns kommen, um ihn sprechen zu hören?«

Emerahl überlegte. Ein Teil von ihr brannte darauf, so schnell wie möglich den Fluss hinauf zu den Roten Höhlen zu segeln, aber ein anderer Teil war neugierig darauf, diesen weisen Mann zu sehen. Sie hatte Monate gebraucht, um hierherzukommen, was würde da eine Verzögerung von einem halben Tag schon ausmachen?

»Also gut«, sagte sie. »Ich werde mitkommen und mir anschauen, was es damit auf sich hat.«

Schon bald hatten sie das größte Hafenbecken erreicht und zwischen den überfüllten Piers und Kais eine Anlegestelle gefunden. Emerahl half dem Paar, seine Habe vom Boot und in die Stadt zu befördern. Die Straßen waren schmal, und viele waren überdacht, um die Wüstensonne auszusperren. Sie verliefen in alle Richtungen in einem Muster, das weder für sie noch für Tarsheni durchschaubar war. Wohnhäuser, Warenlager, Geschäfte, Tempel und Baracken standen Seite an Seite, aber niemals parallel zueinander, so dass alle Straßen unterschiedlich breit waren.

Glücklicherweise waren die Einheimischen freundlich und nur allzu gern bereit, ihnen den Weg zu beschreiben. Emerahl und die junge Familie gelangten schließlich durch eine enge, übervölkerte Straße auf einen offenen Platz.

Der Große Platz war im Vergleich zu einigen Plätzen in anderen Städten nicht allzu beeindruckend, wirkte aber nach dem Gedränge in den Straßen dennoch nicht allzu klein. In einer Ecke hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Tarshenis Augen leuchteten vor Erregung. Die jungen Leute fanden ein Gästehaus in der Nähe und handelten den Preis auf ein nur annähernd vernünftiges Niveau herunter, ungeduldig, endlich den Mann zu sehen, der sie zu einer so weiten Reise verlockt hatte.

Nachdem sie ihre Habe in einem Zimmer verstaut hatten, verließen sie das Gästehaus und gingen zu der Menschenmenge auf dem Platz hinüber. Den beiden Erwachsenen war ihre Spannung deutlich anzumerken. Ihr Sohn war lediglich überwältigt von all dem Treiben um ihn herum, und der Säugling blinzelte schläfrig.

Tarsheni drängte sich durch die Menge weiter nach vorn. Emerahl konnte das Ziel der Aufmerksamkeit nicht sehen, aber sie konnte den Mann deutlich hören.

»Wir sind alle vom Schöpfer gemacht«, donnerte er. »Du, ich, der Priester dort drüben, das Arem, das eure Waren zieht, und das Reyna, auf dem ihr reitet. Der Vogel, der singt, und das Insekt, das euch sticht, sind seine Schöpfungen. Der niedere Bettler, der erfolgreiche Kaufmann, die Könige und Kaiser dieser Welt, die Priester und Anhänger aller Götter, diejenigen, die Gaben besitzen, und die, die keine haben, alle sind seine Schöpfungen. Sogar die Götter selbst sind…«

Der Mann brach ab, und Emerahl hörte eine leisere Stimme.

»Nein!«, fuhr der weise Mann fort. »Das ist nicht wahr. Ich habe die Texte und die Weisheit aller Religionen studiert, und kein Gott hat je behauptet, die Welt erschaffen zu haben. Aber es muss einen Schöpfer geben…«

Emerahl konnte die nächste Frage beinahe verstehen. Sie beschloss, näher heranzugehen und die Familie, die mit verzückter Aufmerksamkeit lauschte, allein zu lassen.

»Die Existenz der Welt ist Beweis genug! Nur ein Wesen von höherer… ja, das ist richtig. Der Schöpfer hat auch die Kreaturen gemacht, die wir als böse erachten. Aber warum halten wir sie für böse? Weil sie töten? Ein Karmook tötet und frisst andere Lebewesen, und wir halten es dennoch als Haustier. Ein Reyna frisst Pflanzen. Auch sie sind lebendige Wesen. Wir fürchten die Leramer und die Worns, weil sie uns töten können, aber sie tun das nicht aus Bosheit, sondern aus Hunger. Wir verabscheuen sie, weil sie unser Vieh fressen. Das ist nicht böse, sondern nur lästig.«

Es folgte eine Pause, dann ein Kichern. Als die beiden Männer neben ihr ihr Gewicht verlagerten, erhaschte Emerahl unerwartet einen Blick auf einen gutaussehenden jungen Mann, der auf einer Holzkiste stand, die Arme erhoben, während er sich anschickte, abermals das Wort an die Menge zu richten. Sie stutzte, überrascht, dass der weise Mann so jung war, dann rückte sie noch weiter vor.

»… sind ebenfalls böse. Warum machen wir andere Menschen zu unseren Opfern? Ich weiß es nicht. Warum ist die Welt nicht vollkommen? Warum können wir nicht von Geburt an jeden Teil in dieser Welt begreifen? Offenkundig war das nicht die Absicht des Schöpfers. Der Schöpfer hat die Welt unbeständig gemacht. Vielleicht hat er das getan, damit wir einen Grund haben, nach etwas zu streben.«

Emerahl blieb stehen, als sie sah, dass sie sich einigen Priestern und Priesterinnen genähert hatte. In der Gruppe befand sich sogar ein Hohepriester. Während einige der Zirkler den Vortrag mit einem Stirnrunzeln verfolgten, hörten andere mit Interesse zu.

»Es ist mir zugefallen, danach zu streben, den Schöpfer zu verstehen«, fuhr der weise Mann fort. »Ihr alle seid willkommen, euch mir anzuschließen. Ich bitte euch nicht, alles aufzugeben. Weder eure Familie noch euren Reichtum, euren Beruf, eure Macht oder auch nur eure Religion. Glaubt an den Schöpfer, und gemeinsam werden wir – Mann und Frau, reich und arm, mit Gaben Gesegnete und solche, die keine Gaben besitzen – danach trachten, einige der Mysterien des Lebens aufzudecken.«

In derselben Art setzte er seinen Vortrag fort. Einige Zuhörer zogen weiter, und andere nahmen ihre Plätze ein, und langsam wiederholten sich die Fragen. Emerahl kehrte durch die Menge zu der Familie zurück. Sie sah, dass die Zirkler gegangen waren. Auch zwei Pentadrianer wandten sich jetzt von den Zuschauern ab. Ich sehe keine Traumweber, stellte sie fest. In Tarshenis Augen leuchtete noch immer große Erregung.

»Ich muss meine Tinte und meine Papiere holen«, flüsterte Tarsheni und wandte sich zu Emerahl um. »Was hältst du von dem Ganzen?«

Sie zuckte die Achseln. »Es ist eine interessante Vorstellung.«

»Das hast du schon einmal gesagt.«

»Ich habe auch gesagt, dass die meisten Menschen ihm keine allzu große Beachtung schenken würden, wenn er keine Beweise hat.«

»Ist die Existenz der Welt nicht genug?«

»Nein«, antwortete sie aufrichtig. »Ich glaube nicht, dass es den Zirklern gefällt, wenn jemand behauptet, ein höheres Wesen habe ihre Götter erschaffen.«

Tarsheni grinste. »Wen schert schon, was die Zirkler denken, wie?«

Emerahl lachte. »Wahrhaftig.« Sie sah die beiden Erwachsenen an, dann lächelte sie. »Ich schätze, es ist Zeit, dass wir uns verabschieden.«

»Es war eine Freude, mit dir zu reisen«, sagte Shalina mit Nachdruck.

»So habe ich es auch empfunden«, erwiderte Emerahl.

»Danke, dass du uns mitgenommen hast«, sagte Tarsheni ernst. »Und dass du uns im Tunnel der Landenge vor diesen Dieben gerettet hast.«

»Wenn ihr mir nicht von dem Tunnel erzählt hättet, hätte ich mein Boot verkaufen müssen«, bemerkte Emerahl. »Also stehe ich genauso in eurer Schuld wie ihr in meiner.«

Die beiden lachten leise. »Wohin wirst du jetzt fahren?«

»Flussaufwärts.«

»In einer Familienangelegenheit?«

»Man könnte es so betrachten. Ich hoffe genau wie ihr, jemanden zu treffen, von dem ich viel gehört habe, dem ich aber nie begegnet bin.«

»Dann wünsche ich dir, dass du mit deiner Begegnung ebenso zufrieden sein wirst wie wir mit unserer«, erwiderte Tarsheni. »Leb wohl, Emmea. Mögen die Winde dir gewogen sein.«

»Leb wohl«, antwortete Emerahl. »Und denk an meinen Rat. Wenn er anfängt, Geld von euch zu verlangen, gebt ihm keine Münze mehr, als ihr euch leisten könnt, ohne euch in Gefahr zu bringen. Ich bin schon früher falschen Weisen begegnet, und sie können sehr gerissen sein.«

»Wir werden vorsichtig sein.«

Emerahl wandte sich lächelnd von der Familie ab und kehrte zu den Docks und zu ihrem kleinen Boot zurück, um den letzten Teil ihrer Reise zu den Roten Höhlen zu beginnen.

43

Ausnahmsweise wünschte sich Auraya, sie hätte ins Offene Dorf fliegen können, ohne von einer ganzen Schar von Siyee willkommen geheißen zu werden. Ihre Ehrfurcht fühlte sich falsch an. Irregeleitet. Sie war ihrer nicht würdig.

Als sie landete, kam Sprecherin Sirri auf sie zu und bot ihr, wie die Tradition es verlangte, Wasser und Kuchen an. Aber bevor Auraya den Kuchen verzehren konnte, huschte etwas über den Boden und sprang ihr in die Arme, so dass sie die Wasserschale und den Kuchen fallen ließ.

»Unfug!«, rief sie. »Das war sehr unartig!« Der Veez zappelte vor Aufregung. Es war unmöglich, ihn überzeugend auszuschelten. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen, und es tat plötzlich so gut, der Gegenstand schlichter, bedingungsloser Hingabe zu sein.

»Owaya zurück«, sagte er. »Owaya bleiben.«

»Ist ja gut, Unfug. Auraya bleiben. Jetzt – igitt! Lass das!« Sie sah eine rosafarbene Zunge in ihre Richtung zucken, aber es war zu spät, um der Zärtlichkeit des Tieres auszuweichen. Sie packte den Veez und hielt ihn auf Armeslänge von sich weg, um ihn daran zu hindern, weiter ihr Gesicht zu lecken, dann schaute sie an ihm vorbei und bemerkte, dass Sirri sich eine Hand vor den Mund hielt, um ihr Gelächter zu unterdrücken.

Auraya kicherte kläglich, dann sah sie sich überrascht um, als plötzlich von allen Seiten Gelächter erklang.

»Tut mir leid, Sprecherin Sirri«, sagte sie. »Ich habe in letzter Zeit seine Ausbildung vernachlässigt, und er hat eine Begabung dafür, neue schlechte Angewohnheiten zu entwickeln.«

»Ich glaube, das hat er von den Kindern gelernt«, erwiderte Sirri entschuldigend und ließ die Hand sinken, um ein breites Grinsen zu entblößen. »Sie lieben ihn abgöttisch.«

Unfug begann zu zappeln, plötzlich versessen darauf, wieder auf den Boden hinunterzukommen. Auraya ließ ihn los, stöhnte jedoch laut auf, als er sich auf ein Stück Kuchen stürzte. Daraufhin brachen die Siyee um sie herum erneut in Gelächter aus. Auraya verspürte eine Woge der Zuneigung zu ihnen. Statt über die Unterbrechung der Zeremonie gekränkt zu sein, konnten sie die Komik der Situation anerkennen.

»Wirst du bleiben?«, fragte Sirri. »Möchtest du heute Abend zu einem richtigen Essen in meine Laube kommen?«

»Ich werde bleiben, und ich nehme deine Einladung mit Freuden an.« Auraya hob Unfug auf und setzte ihn sich auf die Schulter. »Wie ist die Lage bei deinem Stamm?«

»Lass uns auf dem Weg zu deiner Laube darüber reden«, sagte Sirri. Sie schwieg, bis sie außer Hörweite der anderen Siyee waren. »Die Boten vom Sandstamm haben berichtet, dass an der Küste ein pentadrianisches Schiff gesehen wurde und dass sie dich darauf aufmerksam gemacht haben.«

Auraya nickte. »Das haben sie getan, aber als ich dort ankam, war das Schiff schon fort.«

»Wir haben seit deiner Abreise mehrere neue Fälle der Herzzehre gehabt. Die Kranken sind vom Stamm am Tempelberg gekommen und haben erzählt, du hättest sie hierhergeschickt. Wir haben sie isoliert, und die Priester kümmern sich um sie.«

Auraya stöhnte. »Ich habe dem Sprecher eingeschärft, nur Leute wegzuschicken, die krank gewesen waren und sich davon erholt hatten. Was ist mit den anderen Dörfern?«

»Selbst die entlegensten Stämme schicken inzwischen Boten, die um Hilfe bitten. Ich fürchte, du wirst sie nicht alle rechtzeitig erreichen können. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Und der Stamm vom Blauen See hat die Nachricht geschickt, dass Traumweber Wilar verschwunden sei.«

Als sie seinen Namen hörte, überlief Auraya ein Schaudern. In Sirris Gedanken konnte sie lesen, dass die Sprecherin den Grund für Mirars Verschwinden nicht kannte, dass der Bote vom Blauen See jedoch laut über die Möglichkeit nachgegrübelt hatte, dass es einen Streit zwischen Auraya und Mirar gegeben haben könnte.

»Ich weiß, dass er fortgegangen ist«, erklärte sie vorsichtig. »Und ich kenne den Grund dafür, aber ich kann dazu nur sagen, dass ich wünschte, er hätte nicht gehen müssen, und dass ich nichts tun kann, um ihm zu helfen.«

Außer gar nichts zu tun, fügte sie im Geiste hinzu.

Sirri war sichtlich neugierig, sprach jedoch keine der Fragen aus, die ihr in den Sinn kamen. Inzwischen hatten sie Aurayas Laube erreicht. Unfug sprang von ihrer Schulter und schoss hinein.

»Das ist wirklich eine Schande«, sagte Sirri. »Wenn du ihm nicht helfen kannst, wer soll es dann können?«

»Er kann sich nur selbst helfen.« Plötzlich fiel Auraya die Freundin wieder ein, die sie in Mirars Geist gesehen hatte. Würde die Frau, die ihm geholfen hatte, seine Identität wiederzufinden, ihm abermals helfen können?

Sirri lächelte und trat beiseite. »Wir haben heute Abend viel zu besprechen. Was wirst du als Nächstes tun?«

»Unfug davon überzeugen, dass er hierbleiben muss, und dann die kranken Neuankömmlinge besuchen.«

Sirri nickte. Als die Sprecherin gegangen war, trat Auraya in ihre Laube. Sie sah sich um und bemerkte die Schale mit Obst und den frischen Krug mit Wasser auf dem Tisch. Sie wusste nicht, wer alles für ihre Rückkehr bereitgemacht und sich um Unfug gekümmert hatte, aber wer es auch gewesen sein mochte, sie war ihm ungeheuer dankbar.

Der Veez war in den Hängekorb geklettert, den er als Bett benutzte. Seine Nase lugte über den Rand, dann richtete er sich auf und sprang auf Aurayas Schultern.

»Ich glaube, du bist schwerer geworden«, erklärte sie. »Wirst du langsam fett?« Sie kraulte ihn unterm Kinn.

»Unfug fett«, pflichtete er ihr bei.

Sie lachte. Er hatte den Ausdruck der Siyee für »fett« erkannt, obwohl sie sehen konnte, dass er ihn nicht verstand. Die Siyee mussten dieses Wort in seiner Anwesenheit so oft gebraucht haben, dass er es jetzt mit sich selbst in Verbindung brachte.

»Hast du die Leute um Essen angebettelt?«, fragte sie ihn.

Er antwortete nicht, sondern schloss die Augen, um ihre Zuwendung zu genießen.

»Also, Unfug bleiben. Auraya gehen und…«

Wo ist sie? Ah. Dort.

Sie erstarrte. Die Stimme gehörte Chaia. Ihr Herz begann zu hämmern. Unfug sprang von ihrer Schulter und musterte sie mit zuckenden Schnurrhaaren. Er konnte zwar ihre Erregung spüren, aber nicht deren Ursprung. Dann formte sich in der Mitte des Raums ein Leuchten, und der Veez floh ins Schlafzimmer.

Auraya schluckte, als aus dem Leuchten die Gestalt eines Mannes erwuchs. Chaia lächelte, wie sie zu ihrer Erleichterung feststellte.

Hallo, Auraya.

Hallo, Chaia, erwiderte sie.

Hast du mich vermisst?

Sie starrte ihn einen Moment lang an, unsicher, wie sie antworten sollte. Es war nicht die Frage, die sie erwartet hatte. Er sah sie mit einem Lächeln an, wie er es während seiner amourösen Stimmungen an den Tag zu legen pflegte, aber aus irgendeinem Grund beunruhigte sie dieses Lächeln und stieß sie ab. Als er einen Schritt auf sie zutat, musste sie dem Drang widerstehen, vor ihm zurückzuweichen.

Es ist ein wenig schwierig, jemanden zu vermissen, wenn man sich nicht sicher ist, ob einem gefallen wird, was der Betreffende als Nächstes tun oder sagen wird, bemerkte sie, vielleicht ein wenig zu freimütig.

Sein Lächeln wurde breiter, und er streckte die Hand aus, um ihr über die Wange zu streichen.

Natürlich. Aber davon einmal abgesehen, hast du unsere gemeinsamen Nächte vermisst? Hast du meine Berührung vermisst?

Wo seine Finger über ihre Haut glitten, verspürte sie ein wunderbar angenehmes Kribbeln. Ein Schauer überlief sie.

Ja, gestand sie. Ein wenig.

Nur ein wenig? Er zog einen Schmollmund. War ich nicht aufmerksam genug?

Sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

Du warst mehr als aufmerksam. Sie trat zurück und entzog sich damit seiner Reichweite. Aber das war nur körperliches Wohlbehagen, Chaia. Das vermisse ich. Manchmal sehne ich mich sogar danach. Aber

Aber? Er zog die Augenbrauen hoch. Du hast mich nicht vermisst, nicht wahr? Liebst du mich nicht?

Sie wandte den Blick ab. Jetzt, da er sie mit dieser Frage konfrontiert hatte, wusste sie, dass er richtig vermutete.

Nicht so, wie menschliche Liebende es tun. Nicht auf die Art

Auf die Art, wie du Mirar geliebt hast, beendete er ihren Satz, und mit einem Mal war jedweder Humor aus seinen Zügen gewichen.

Ein Stich des Ärgers durchzuckte sie.

Nein. Es ist nicht vergleichbar mit dem, was ich für Mirar empfinde. Ist es Mitleid, was du willst?

Er starrte sie an, dann lächelte er.

Ich glaube, das habe ich herausgefordert. Und ich weiß, dass du mich nicht so liebst, wie du einmal Leiard geliebt hast. Seine Augen wurden schmal. Was empfindest du für mich?

Sie dachte nach.

Etwas zwischen der Liebe zu einem Gott und der Liebe zu einem Freund. Ich glaube… ich glaube, wir sind zu verschieden.

Ich habe dich immer als ebenbürtig behandelt, wenn wir miteinander allein waren. Du hast das Gleiche getan.

Ja, aber hier geht es nicht darum, dass wir so tun, als seien wir einander ebenbürtig. Sie schüttelte den Kopf. Eine Bewegung in der Schlafzimmertür erregte ihre Aufmerksamkeit. Unfug spähte hinaus. Vielleicht wäre es ebenso töricht, wenn ich von Unfug erwartete, romantische Liebe für mich zu empfinden. Er ist ein Veez, ich bin ein Mensch. Götter und Menschen mögen einander ähnlicher sein als Menschen und Veez, aber nicht ähnlich genug. Es gibt so viele Unterschiede darin, wie wir die Welt betrachten. So vieles, das wir voneinander nicht bekommen können, das nur unseresgleichen uns geben kann. Ich… Sie blickte zu Chaia auf. Aber du weißt das. Du kannst in meinen Geist sehen.

Ich kann nur sehen, was ist, nicht was du noch entscheiden musst, erwiderte er.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Dann kannst du sehen, was ich in anderen Angelegenheiten entschieden habe. Was werdet ihr, du und die anderen Götter, tun?

Er zuckte die Achseln, obwohl seine Miene jetzt sehr ernst war.

Darüber haben wir noch nicht befunden.

Sie runzelte die Stirn.

Warum nicht?

Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.

Wir sind nicht immer in allen Dingen einer Meinung, Auraya.

Welche Möglichkeiten erwägt ihr denn?

Ah, erwiderte er. Ich will nicht petzen.

Mit diesen Worten verschwand er. Eine Welle des Ärgers und der Frustration schlug über ihr zusammen.

Chaia? Ihre Sinne sagten ihr, dass er sich noch immer im Raum befand. Chaia! Ich weiß, dass du noch da bist. Ich kann dich spüren.

Das ist mir bewusst. Er zog sich zurück, aber bevor er aus ihren Sinnen entschwand, drangen Worte zu ihr vor, wie von einer fernen Stimme, die der Wind zu ihr herüberwehte.

Ich hatte damit gerechnet, dass du dich weigern würdest, Auraya. Wisse, dass du dir einen der Götter zum Feind gemacht hast.

Und dann verklang seine Stimme zu nichts. Sie drehte sich um die eigene Achse und fragte sich, ob er von ihrer Weigerung, Mirar zu töten, sprach oder von ihrem Eingeständnis, dass sie ihn nicht wie ein menschliches Wesen liebte. Und welchen der Götter hatte sie sich zum Feind gemacht: Chaia oder einen der anderen?


Imi ging langsam durch ihr Zimmer und berührte alles. Sie hatte das während der letzten Tage mehrmals getan, nicht sicher, ob sie sich damit überzeugen wollte, dass sie wirklich und wahrhaftig zu Hause war, oder ob sie das tat, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wie viel sich verändert hatte.

Die Schnitzereien an den Wänden hatten sie früher niemals besonders interessiert. Als Kind hatte sie sie wegen der Dinge gemocht, für die sie standen: berühmte Elai, die Göttin Huan, Geschöpfe des Meeres. Jetzt sah sie die Kunstfertigkeit, mit der sie hergestellt worden waren, und sie fragte sich, wie viel die Landgeher wohl für solche Schnitzereien bezahlen würden.

Und was konnten die Elai ihnen sonst noch verkaufen?

Sie hatte früher nie gern die traditionellen Schmuckstücke getragen, wie Erwachsene sie bevorzugten, doch nun wählte sie jeden Tag sorgfältig ein Schmuckstück aus ihrer Truhe aus. Ihre Lieblingsspielzeuge standen jetzt auf einem Regal, doch sie spielte nicht mit ihnen. Stattdessen stellte sie Teiti endlose Fragen nach der Geschichte der Elai, nach den Landgehern, die in der Vergangenheit Elai angegriffen oder verraten hatten, und sie wollte so viel wie möglich über Magie und über die Göttin erfahren. Wenn ihre Tante ihre Fragen nicht beantworten konnte, schickte sie sie aus, um andernorts die gewünschten Informationen zu finden, oder sie verlangte, mit Leuten zu sprechen, die ihr Auskunft geben konnten.

»Alle Landgeher haben Gaben – selbst die kleinen. Warum nicht auch wir?«, hatte sie den Palastzauberer gefragt, einen hässlichen alten Mann, der ständig Husten hatte und lockere Hautfalten, die ihm wie Tuch von den Knochen hingen.

»Die ältesten Dokumente erzählen uns, dass Huan Männer und Frauen mit schwachen Gaben ausgewählt hat, um die Elai zu erschaffen«, hatte er ihr erklärt. »Sie waren weniger widerstandsfähig gegen die Veränderungen, die sie bei ihnen bewirkte.«

»Widerstandsfähig? Wollten sie denn keine Elai werden?«

»Oh doch, aber jene von ihnen, die Magie besaßen, machten die Veränderungen immer wieder rückgängig, auch wenn sie es nicht wollten.«

»Was ist mit den Elai, die jetzt Gaben besitzen? Machen sie sich selbst rückgängig?«

Er zuckte die Achseln. »Wir neigen tatsächlich dazu, leichter krank zu werden und schneller zu altern.«

»Ist das bei den Siyee genauso?«

Er nickte. »Ihnen ist es jedoch besser ergangen. Sie haben einige Zauberer mit halbwegs mächtigen Gaben. Zumindest hatten sie die vor zehn Jahren, als ich sie das letzte Mal besucht habe.«

»Warum ist es ihnen besser ergangen?«

»Das weiß ich nicht«, hatte er eingestanden. »Warum fragst du nicht die oberste Priesterin?«

Sie war seinem Rat gefolgt. Die oberste Priesterin, eine Frau in Teitis Alter, hatte ihr erklärt, dass Huan die Dinge nicht hätte anders haben wollen.

»Dann will sie also nicht, dass wir uns verändern?«

»Nicht unbedingt. Wir können uns verändern. Aber wenn wir beginnen, uns auf eine Art zu verändern, die sie nicht wünscht, wird sie eingreifen. Sie hat das schon früher getan.«

Imi hatte darüber nachgedacht und dann eine andere Frage gestellt, die ihr zu schaffen gemacht hatte. »Wir huldigen lediglich Huan. Was ist mit den anderen Göttern? Warum huldigen wir nicht auch ihnen?«

»Weil Huan uns erschaffen hat.«

»Und sie gestattet es uns nicht, neben ihr auch den anderen Göttern zu huldigen?«

Daraufhin hatte die Priesterin die Augenbrauen hochgezogen, aber es war kein Ausdruck der Überraschung gewesen. Imi war ihrer Missbilligung mit Entschlossenheit begegnet.

»Wie sind denn die anderen Götter?«

»Chaia war immer bekannt als der Gott der Könige. Lore war der Gott des Krieges. Yranna die Göttin der Frauen und Saru der Gott des Wohlstands.«

»Du sagst das so, als hätten diese Dinge keine Gültigkeit mehr.«

»Sie haben ihre früheren Titel nach dem Krieg der Götter abgelegt. Aber dennoch sind diese Titel nach wie vor ein Hinweis auf ihre Natur. Chaia hat den Charakter eines Anführers und besitzt große Weisheit in allen Dingen, die die Erhaltung von Macht betreffen.«

Imi nickte. »Was ist mit den pentadrianischen Göttern?«

Die Priesterin zuckte die Achseln. »Ich weiß nichts über sie. Es heißt, nur fünf Götter hätten den Krieg der Götter überlebt und dass die Menschen in einigen Ländern noch immer toten Göttern huldigen, als seien diese real.«

»Die Götterdienerin Reivan hat mir erzählt, dass sie einmal ihren Gott in ihrem Geist habe sprechen hören. Das klingt so, als sei er real.«

»Sie könnte es sich eingebildet haben.« Die Priesterin hob die Schultern. »Ich weiß nichts über diese pentadrianischen Götter, und ich brauche auch nichts über sie zu wissen. Huan ist unsere Göttin und Schöpferin. Wir brauchen keine anderen Götter.«

»Nein. Aber es wäre gut, mehr über die Götter anderer Völker zu wissen.«

»Warum?«

»Für den Fall, dass Huan zu dem Schluss kommt, wir müssten uns verändern«, antwortete Imi. »Oder für den Fall, dass wir anfangen, uns zu verändern, und Huan dem kein Ende macht.«

»Ich bezweifle, dass sie es billigen würde, wenn wir anderen Göttern huldigten.«

»Ich glaube nicht, dass irgendein Elai das wollen würde. Aber andere Dinge können sich ändern, manchmal ohne dass wir es wollen. Wir sollten in der Lage sein, mit allen Herausforderungen fertigzuwerden.«

Daraufhin hatte die Priesterin gelächelt. »Du wirst eines Tages eine gute Königin abgeben.«

Bei der Erinnerung an dieses Gespräch stieg ein Gefühl leicht ironischen Stolzes in Imi auf. Sie hatte jetzt ihre Runde durch den Raum beinahe beendet. Als sie zum nächsten Regal kam, klopfte es an der Tür, und sie blieb stehen. Teiti kam aus ihrem kleinen »Zimmer« in Imis Höhle und öffnete die Tür. Als sie den Jungen sah, der dort stand, runzelte sie die Stirn.

»Komm herein, Rissi.«

Der Junge ging an Teiti vorbei auf Imi zu. Einige Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und verneigte sich. »Prinzessin«, sagte er. »Ich bin hergekommen, um dir über meine Funde Bericht zu erstatten.«

Teiti nahm die Förmlichkeit seiner Begrüßung mit einem anerkennenden Nicken auf, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Imi lächelte Rissi zu. Nachdem sie ihrem Vater einen ganzen Tag lang damit in den Ohren gelegen hatte, hatte er endlich zugestimmt, dass eine Einkerkerung von mehreren Monaten Strafe genug für den Jungen sei, der sie aus der Stadt und zu den Inseln gebracht hatte, wo sie gefangen worden war. Rissi war nicht wütend gewesen, dass sie ihn in Schwierigkeiten gebracht hatte. Stattdessen hatte er sich endlos dafür entschuldigt, dass es ihm nicht gelungen war, sie aufzuhalten oder zu retten. Er war jeden Tag in den Palast gekommen und hatte gefragt, ob er irgendetwas tun könne, um seinen Fehler wiedergutzumachen.

Teiti hatte Imi vorgeschlagen, sich eine nützliche Beschäftigung für den Jungen auszudenken, da seine Schuldgefühle – auch wenn sie unverdient waren – den Jungen offenkundig unglücklich machten. Teitis Rat hatte Imi auf eine Idee gebracht, und sie hatte Rissi beauftragt, Informationen zu sammeln. Ihr Vater benutzte den Röhrenraum, um die Stadtbewohner zu belauschen und zu erfahren, was die Leute von seiner Herrschaft hielten. Sie würde die Kinder benutzen.

Rissi hatte die anderen Kinder gebeten, ihren Eltern eine Frage zu stellen. Er sollte die Antworten auflisten und sie ihr geben.

Die Frage lautete: »Sollten die Elai die Freundschaft der Menschen suchen, die Prinzessin Imi gerettet haben?«

Imi lächelte Rissi an. »Was haben sie gesagt?«

»Das Ergebnis ist ausgeglichen«, erwiderte er. »Einige sagten, die Antwort laute ›ja‹. Genauso viele haben ›nein‹ gesagt. Einige Kinder haben keine Antwort bekommen oder die Antwort nicht verstanden, oder ihre Eltern konnten sich nicht entscheiden.«

»Also lautete die Hälfte der eindeutigen Antworten ›ja‹ und die andere Hälfte ›nein‹«, überlegte Imi laut. »Ohne dass jemand bisher versucht hätte, die Meinung der Leute zu ändern.«

»Du wirst doch deinen Vater nicht bitten, sich mit Landgehern anzufreunden, oder?«, fragte er.

»Gefällt dir die Idee nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Landgeher haben dich entführt und dazu gezwungen, wie eine Sklavin zu arbeiten. Sie sind gefährlich.«

»Nicht alle«, entgegnete Imi. »Die Pentadrianer waren gut zu mir.«

Er schüttelte abermals den Kopf, sagte jedoch nichts.

»Warum glaubst du mir nicht?«, hakte sie nach.

Er runzelte die Stirn. »Es ist nicht so, dass ich dir nicht glaube, aber…«

»Aber?«

Eine steile Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Es braucht nur ein schlechter Landgeher unter den guten zu sein, und wir sind alle tot.«

»Nicht wenn wir sie nicht hierherbringen. Wenn wir mit ihnen Handel treiben, sollten wir es an einem anderen Ort tun. Und darauf bestehen, dass es nur wenige von ihnen sein dürfen. Wir könnten sogar verlangen, dass sie die Waren irgendwo hinterlegen, wo wir unsere eigenen Handelsgüter deponiert haben.«

»Und wenn sie zurückkommen und uns angreifen? Wenn Plünderer die Waren stehlen?«

»Wir sollten einen schnellen Fluchtweg parat haben. Sie können nicht schwimmen wie wir, vergiss das nicht. Wir müssen aufhören, wegzulaufen und uns zu verstecken. Wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen.«

»Wir haben unsere Krieger.«

»Wir können nur Mann gegen Mann kämpfen. Wir brauchen etwas Besseres. Wir brauchen Bogenschützen. Und Befestigungen. Und Magie.«

Rissi schauderte. »Mir gefällt das nicht. Wir waren hier seit Generationen in Sicherheit. Warum sollten wir das ändern?«

»Weil wir nicht wachsen, Rissi. Sieh dir nur die Siyee an. Es gibt tausende von ihnen. Wir sitzen hier in unserer engen Stadt gefangen. Wir müssen wieder auf den Inseln leben können. Wenn wir uns vermehren wollen, brauchen wir Platz.« Sie seufzte. »Mein Vater hat angefangen, davon zu reden, einen Ehemann für mich zu suchen. Ich habe Teiti gefragt, wen er vielleicht auswählen würde, und es gab nur fünf junge Männer, die annähernd in meinem Alter waren, und sie alle waren Vettern, und ich mag keinen von ihnen besonders.«

»Das wirst du in einigen Jahren vielleicht anders sehen«, erklang Teitis Stimme aus ihrem »Zimmer«.

»Obwohl er tatsächlich gesagt hat, dass ich vielleicht einen Kriegerführer heiraten könnte, falls der Mann ihm gefällt. Auf diese Weise würde ich etwas frisches Blut in die Familie bringen«, fügte Imi hinzu, ohne auf Teitis Bemerkung einzugehen.

In Rissis Zügen spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Erheiterung. »Ein Ehemann? Schon?«

Sie nickte. »Ich glaube, er wollte mich lediglich von dem Thema Landgeher ablenken.«

Der Junge kicherte. »Das kann ich mir vorstellen. Soweit ich gehört habe, sprichst du seit deiner Rückkehr über kaum etwas anderes als die Pentadrianer und die Möglichkeit, dass die Elai mit Landgehern Handel treiben könnten.«

Sie runzelte die Stirn. »Glaubst du, das ist auch anderen zu Ohren gekommen? Glaubst du, dass es die Antworten der Leute beeinflusst hat?«

Er verdrehte die Augen. »Kannst du eigentlich über nichts anderes mehr nachdenken?«

Sie straffte sich. »Nicht, wenn ich an die Zukunft meines Königreichs denken muss.«

»Spielst du gar nicht mehr? Warum kommst du nicht mal zum Kinderbecken hinunter?«

Sie zögerte. »Mein Vater verbietet es«, gestand sie. »Er möchte nicht, dass ich mit törichten jungen Männern Umgang habe«, fügte sie hinzu und gab sich alle Mühe, einen ernsten Gesichtsausdruck beizubehalten.

Rissi wandte errötend den Blick ab. »Dann sollte ich wohl besser gehen.«

Mutlosigkeit stieg in Imi auf. Sie vermisste die Gesellschaft anderer Kinder. Rissi war zwar ein Junge, aber zumindest stand er ihr im Alter einigermaßen nahe.

»Du brauchst nicht zu gehen«, sagte sie. »Ich wollte nicht…«

Er schüttelte den Kopf und trat an die Tür. »Ich muss gehen. Ich werde am Kriegerbecken erwartet.«

»Komm morgen wieder her«, befahl sie. »Ich habe noch eine Frage, die die Kinder ihren Eltern stellen sollen.«

»Ich werde herkommen, Prinzessin. Auf Wiedersehen.«

Als sich die Tür hinter ihm schloss, verschränkte Imi die Arme vor der Brust und seufzte.

Weshalb habe ich das getan? Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mir eine gute Frage auszudenken.

44

Nach einigen Tagen hatte Mirar es aufgegeben, sich vor den Siyee zu verstecken. Sie waren sehr wachsam in ihrer Suche, und es bestand kaum eine Chance, dass sie ihn nicht bemerken würden, sobald er die verschneiten Hänge der Berge erreicht hatte, wo kein dichter Wald ihn vor ihren Augen verbergen konnte. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, seine Spuren im Schnee zu verwischen.

Sie versuchten jedoch nicht, sich ihm zu nähern. Jeden Abend verschwanden sie in den unteren Regionen im Wald. Jeden Morgen sah er sie am Himmel träge ihre Kreise ziehen und ihn beobachten. Er spürte keinerlei Ärger oder Wut bei den Siyee, daher bezweifelte er, dass sie wussten, warum sie ihn verfolgten.

Die ständige Wahrnehmung ihrer Gefühle machte ihn reizbar, und er hatte unangenehme Träume, in denen er von riesigen Augen mit weiß glühenden Flügeln verfolgt wurde. Einen Vorteil gab es jedoch, die Siyee in der Nähe zu haben: Eine Veränderung ihrer Gefühle würde möglicherweise seine Aufmerksamkeit erregen, sollte sich einer der Weißen nähern. Er erwartete jedoch nicht, dass das in den nächsten Wochen geschah. Mit Ausnahme von Auraya würden alle Weißen große Mühe haben, ihn in diesen Bergen zu erreichen.

Er erwachte jeden Tag beim ersten Licht der Dämmerung, leerte seinen Geist und ließ sich in eine Traumtrance sinken. Zuerst versuchte er dann, Auraya zu finden, aber sie antwortete niemals auf seine Rufe. Vielleicht ignorierte sie ihn. Oder die Götter hinderten ihn daran, sie zu erreichen. Oder sie war tot. Tagsüber quälte ihn der Gedanke, dass Letzteres zutreffend sein könnte. Wenn die Götter sie getötet hatten, dann traf ein Teil der Schuld auch ihn selbst.

Als er Aurayas Schweigen nicht länger ertragen konnte, rief er Emerahl. Jetzt, da sie ihm schroff Antwort gegeben hatte, konnte er spüren, dass sie noch immer wütend auf sich selbst war, weil sie ihm in der vergangenen Nacht unbeabsichtigt ihren Aufenthaltsort verraten hatte.

Gestern war die Landschaft genauso wie vorgestern, erzählte sie ihm an diesem Morgen. Nur dass ich mich jetzt in einem Sumpfgebiet befinde. Der Fluss teilt sich ständig aufs Neue, und ich habe die Hälfte des gestrigen Tages auf die Entdeckung vergeudet, dass die Seitenarme, die ich mir ausgesucht hatte, Sackgassen waren. Aber gestern Abend ist einer der Sumpfleute an mich herangetreten. Er sagte, er habe eine Nachricht von dem Freund der Möwe: »Folge dem Blut der Erde.«

Das Blut der Erde, überlegte Mirar. Flüssigkeit und Boden. Schlick aus den Roten Höhlen?

Ja. Es ist eigentlich ziemlich offenkundig. Mir war bereits aufgefallen, dass das Wasser von einem schmutzigen Schwarz bis zu einem nicht minder schmutzigen Rot reichte. Sobald die Sonne hoch genug steht, werde ich mich wieder auf den Weg machen. Wie ist es dir ergangen?

Meine Beobachter beobachten mich immer noch, antwortete er.

Glaubst du, dass du sie abschütteln kannst?

Nur wenn ich auf der anderen Seite einen weiteren Wald vorfinde. Dann werden sie gewiss den Rand der Wüste absuchen und mich wiederfinden. Sobald ich weit genug in die Wüste hineingewandert bin, werden sie mir nicht mehr folgen können. Sie können nicht genug Wasser transportieren.

Nein, aber du auch nicht. Du wirst am Brunnen Rast machen oder Wasser von Karawanen kaufen müssen. Jeder Sterbliche, dem du begegnest, könnte den Göttern deinen Aufenthaltsort offenbaren.

Sie hatte recht.

Sie müssen mittlerweile erraten haben, dass ich nicht auf dem Weg zur Küste von Si bin.

Ja. Allerdings wirst du dich irgendwann der Küste nähern müssen, wenn du nach Südithania vordringen willst.

Das ich niemals erreichen werde, sollte mich dort ein Weißer erwarten.

Ah, aber mir ist eine Möglichkeit eingefallen, wie du deine Chancen dort verbessern kannst.

Eine leise Hoffnung regte sich in ihm.

Wie?

Deine Leute. Wenn die Küstenstädte plötzlich voller Traumweber wären, wie viel Aufmerksamkeit wird man dann einem einzelnen schenken, der dort ankommt?

Es war keine schlechte Idee, wenn auch nicht ohne Nachteile.

Hast du denn auch eine kluge Idee, wie ich genug Traumweber an die sennonische Küste locken könnte?

Bitte Traumweberin Arleej, sie dort hinzuschicken.

Wenn ich mich mit Arleej in Verbindung setze, wird sie spüren, dass ich mich verändert habe. Sie könnte glauben, ich sei lediglich Leiard, der verrückt geworden ist.

Ja. Du wirst sie von der Wahrheit überzeugen müssen, geradeso wie du es bei Auraya getan hast – nur diesmal, ohne etwas über mich preiszugeben.

Natürlich. Aber wenn ich die Welt wissen lasse, dass ich zurückgekehrt bin, könnte das Konsequenzen haben. Wenn die Zirkler wüssten, dass der angeblich böse Zauberer Mirar seine gerechte Strafe überlebt hat, könnten sie sich gegen die Traumweber wenden.

Dann erzähl es nur Arleej. Bitte sie, den Traumwebern einen anderen Grund zu nennen, warum sie in die Dörfer gehen sollen. Es wird besser sein, wenn die Traumweber, die dir zu Hilfe kommen, keine Ahnung haben, wem sie helfen. Sollten die Weißen ihre Gedanken lesen, würden sie dich verraten. Wenn du nicht wie ein Traumweber, sondern wie ein gewöhnlicher Reisender gekleidet bist, wirst du nicht die geringste Aufmerksamkeit erregen.

Sie hatte recht. Es würde seine Chancen beträchtlich verbessern. Er hatte sich seinen Leuten erst offenbaren wollen, wenn er sicher sein konnte, dass er damit keinen Schaden anrichtete. Arleej würde seine Rückkehr gewiss geheim halten. Immerhin hatte sie seine und Aurayas Affäre für sich behalten, obwohl sie sie missbilligt hatte.

Ich glaube, das würde funktionieren. Danke, Emerahl, sagte er.

Ich tue alles für einen Freund.

Alles?

Fast alles, räumte sie ein.

Dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag in deinem Sumpf.

Haha. Du darfst derweil den Schlaf einer Traumweberin stören.

Ihr Geist zog sich aus seinen Sinnen zurück. Er hielt einen Augenblick inne, um sich neu zu orientieren, dann rief er einen Namen.

Arleej?

Nachdem er mehrmals gerufen hatte, hörte er eine schwache, schläfrige Antwort.

Hallo? Wer ist da?

Ich bin der, den du als Leiard kennst.

Er spürte, wie seine Verbindung zu ihr ins Wanken geriet, als sie vor Schreck beinahe erwachte.

Leiard! Aber… du bist nicht Leiard. Du klingst nicht wie er.

Nein. Ich bin er und bin es doch wieder nicht. Es gibt vieles, was ich dir erklären muss. Erinnerst du dich an die Netzerinnerungen von Mirar, die ich hatte?

Ja.

Es waren keine Netzerinnerungen. Es waren echte Erinnerungen. Ich bin Mirar.

Sie zögerte.

Wie lange ist es her, seit du dich das letzte Mal mit einem anderen Traumweber vernetzt hast?

Dies ist keine Illusion, die aus dem Verlust meines Selbstgefühls resultiert, Arleej. Ich habe Leiard erschaffen und meine eigenen Erinnerungen unterdrückt, um zu überleben. Lass es dir zeigen.

Er beschwor die Erinnerungen herauf und spürte, wie sie mit Mitgefühl, Wut und Staunen reagierte, als sie erfuhr, wie er überlebt hatte. Er erklärte ihr, wie er seine Identität zurückgewonnen hatte. Als er fertig war, schwieg Arleej lange.

Dann bist du also Mirar, sagte sie schließlich.

Ja. Ich bin zurück. Und wie immer habe ich alles vollkommen verpfuscht.

Er nahm ihre Erheiterung wahr.

Ich könnte mir vorstellen, dass du nicht viel Zeit hattest, für die Zukunft zu planen, als du unter dem alten Traumweberhaus von Jarime im Sterben lagst. Woher hättest du wissen sollen, dass das Kind, das du unterrichtet hast, eine Weiße werden würde? Sie ist ein außerordentlicher Mensch. Das Hospital, das sie in Jarime gegründet hat, ist ein großer Erfolg.

Ein Hospital?

Auraya hat Traumweber und Priester zusammengebracht, um Heilung für die Armen zu ermöglichen und Toleranz und Zusammenarbeit zu fördern.

Davon hat sie nie gesprochen.

Du hast in letzter Zeit mit ihr geredet?

Ja, wir haben beide die Siyee behandelt, die einer besonders heftigen Epidemie der Herzzehre ausgesetzt waren.

Davon wusste ich nichts. Soll ich Traumweber dorthin schicken?

Mit einem Mal hatte er ein schlechtes Gewissen. Wenn er sich früher mit Arleej in Verbindung gesetzt hätte, hätten einige Traumweber rechtzeitig die schwierige Reise nach Si antreten können, um zu helfen. Aber er war vollauf damit beschäftigt gewesen, sich zu verbergen, und da die anderen Traumweber nicht stark genug waren, um mit Magie zu heilen, wären sie nur von begrenztem Nutzen gewesen. Trotzdem brauchten auch diejenigen Siyee, deren Körper gegen die Seuche kämpfen konnten, Fürsorge während ihrer Krankheit.

Falls irgendwelche Traumweber bereit sein sollten, die Reise zu unternehmen, schick sie her. Aber bis sie hier ankommen, könnte Auraya die Krankheit bereits unter Kontrolle haben, antwortete er Arleej.

Wird sie das schaffen? Ganz allein? Ihre Fähigkeiten müssen größer sein, als ich dachte.

Ich habe sie alles gelehrt, was ich über die magische Heilkunst weiß, versicherte er ihr.

Das war sehr großzügig von dir, wenn man bedenkt, dass sie eine Weiße ist!

Ich weiß, dass sie ihre Gabe zum Nutzen der Menschen anwenden wird.

Ja. Du hast recht. Das Hospital in Jarime ist ein Beweis dafür.

Es hat keinen Protest dagegen gegeben? Keinen Ärger?

Natürlich hat es Ärger gegeben. Aber es wurde gemunkelt, dass Auraya das Krankenhaus gegründet hat, um zu beweisen, dass die Priester und Priesterinnen die besseren Heiler seien, damit die Menschen sich nicht versucht fühlen, sich uns anzuschließen.

Was nicht der Wahrheit entsprechen kann. Sie weiß, dass wir den zirklischen Priestern als Heiler überlegen sind.

Aber sie kann auch nicht gewollt haben, dass das Gegenteil geschieht.

Nein, gab er ihr recht. Sie würde die Menschen nicht dazu ermutigen, sich unserem Kult anzuschließen. Juran würde das nicht billigen, es sei denn, es gäbe für die Zirkler etwas dabei zu gewinnen. Ihn fröstelte mit einem Mal. Wissen. Sie werden Wissen über die Heilkunst von uns gewinnen.

Ja, aber sie werden nicht alles erfahren. Ich bezweifle, dass sie versuchen werden, irgendwelche Methoden der Vernetzung zu erlernen.

Bist du dir da sicher?

Sie zögerte.

Was denkst du?

Er überlegte.

Auf lange Sicht lassen Meinungen sich ändern, sagte er. In einigen Jahrzehnten, wenn Auraya diejenigen unter den Heilerpriestern ermutigt hat, die offenen Geistes sind, wird die allgemeine Einstellung gegenüber Gedankenvernetzungen günstiger sein. Außerdem gewinnt sie auf diese Weise Zeit, um in diesem Sinne auch auf die anderen Weißen einzuwirken. Sie denkt wie eine Unsterbliche.

Ich dachte nur, dass es eine Chance sei, dein Ansehen unter den Leuten zu verbessern, und

Und?

Manchmal habe ich das Gefühl, es ist wichtiger, dass unser Wissen überlebt, als dass wir überleben. Wir haben nie gezögert, anderen zu helfen, selbst wenn es zu unserem Nachteil war.

Ihr Eingeständnis beunruhigte ihn. Die Tatsache, dass die gegenwärtige Anführerin der Traumweber so über ihre Leute dachte, hätte ihn abstoßen sollen, aber bevor ihm die richtigen Worte einfielen, um sie zu beschwichtigen, wurde ihm bewusst, dass er Auraya aus ähnlichen Gründen unterrichtet hatte. Es stand ihm nicht frei, durch die Welt zu streifen und Wunder der Heilkunst zu vollbringen, daher hatte er ihr diese Fähigkeit vermittelt.

Vielleicht wäre es besser, wenn das Wissen der Traumweber an die Welt weitergegeben wurde, als zuzulassen, dass der Kult langsam ausstarb. In diesem Zeitalter konnten die Traumweber nichts anderes erleben als Verfolgung und Spaltung. Die Götter waren, durch die Weißen, zu mächtig.

Die Lebensart der Traumweber, ihre grundsätzliche Absage an den Krieg, ihr Streben nach Toleranz und Großzügigkeit mochten verloren gehen, aber was würde an ihrer Stelle erwachsen? Während die Traumweber für diese Philosophie standen, würden die Menschen sie ablehnen. Wenn es keine Traumweber mehr gäbe, würden einige Zirkler eine ähnliche Philosophie annehmen, ohne der Dinge angeklagt zu werden, die man den Traumwebern zum Vorwurf machte.

Jetzt, da du hier bist, werden wir wieder stärker werden, sagte Arleej, die sein Schweigen vielleicht als Entsetzen deutete.

Nicht wenn ich die nächsten Wochen nicht überlebe. Als ich Auraya unterrichtet habe, habe ich den Göttern unbeabsichtigt meine Identität preisgegeben. Ich bin gerade auf der Flucht zur sennonischen Küste.

Du kannst nicht zurückkehren, nur um so bald zu sterben! Gibt es irgendetwas, das ich tun kann, um dir zu helfen?

Vielleicht. Die Siyee haben sich auf meine Spur gesetzt und halten die Götter und die Weißen darüber auf dem Laufenden, wo ich bin. Wenn ich die Küste erreiche, werde ich mir ein Boot nehmen und aufs Meer hinaussegeln. So weit können mir die Siyee nicht folgen. Es ist meine einzige Chance zu entkommen. Aber an der Küste wird mit Sicherheit ein Weißer auf mich warten.

Was kann ich tun?

Schick Traumweber an die Küste. Viele von ihnen. Fülle die Straßen mehrerer Dörfer mit unseren Leuten. Mit ein wenig Glück wird es mir dann gelingen, unbemerkt durch eins der Dörfer zu ziehen.

Sie werden einige Zeit brauchen, um dort hinzukommen.

Ich weiß. Wir müssen den Zeitpunkt ihrer Ankunft mit großer Sorgfalt wählen. Die Zirkler könnten ahnen, was wir vorhaben, und die Traumweber vertreiben. Es besteht außerdem die Gefahr, dass sie zurückschlagen werden, sollte ich Erfolg haben.

Früher sind wir Gefahren ausgewichen. Und sobald die Traumweber von dir erfahren, werde ich zu viele Freiwillige haben, als dass ich damit fertigwerden könnte.

Nein. Sie dürfen nichts von mir erfahren, Arleej. Wenn sie es tun, werden die Weißen unsere Absichten aus ihren Gedanken lesen.

Du hast recht. Ich werde mir einen anderen Grund ausdenken, sie dort hinzuschicken, sagte sie.

Danke.

Wenn du dies überlebst, werden wir uns dann wiedersehen?

Ich hoffe es.

Vielleicht werde ich den südlichen Kontinent besuchen. Die Traumweber dort führen ein freieres Leben als selbst jene unter uns, die in Somrey leben.

Ich werde niemanden wissen lassen, wo ich mich aufhalte, erwiderte er. Die Pentadrianer mögen Traumweber in ihren Ländern dulden, aber ihre Toleranz würde sich vielleicht nicht auf mich erstrecken. Ich werde mich wieder mit dir vernetzen, wenn ich weiß, durch welches Dorf ich zu reisen beabsichtige.

Pass auf dich auf.

Das werde ich. Leb wohl.

Mirar löste sich aus der Traumtrance und schlug die Augen auf. Der Himmel hinter dem Eingang der Felsspalte, in der er Zuflucht gesucht hatte, war dunkel, und die Wolken hingen tief, was schlechtes Wetter versprach. Von den Siyee war nichts zu sehen. Er stand auf, betrachtete die unheilverkündenden Wolken und fluchte.

Sieht so aus, als zöge ein Schneesturm herauf.

Er würde heute nicht weit kommen, aber zumindest würde das Unwetter die Siyee vom Himmel fernhalten. Ausnahmsweise würde er einen Tag lang frei von der unguten Wahrnehmung der Gedanken der Siyee sein, die ihn beobachteten.


Als Reivan an Deck kam, sah sie Imenja im Heck stehen. Die Stimme lehnte mit gesenktem Kopf an der Reling. Reivan hatte sie während der vergangenen zwei Tage mehrmals in dieser Haltung vorgefunden. Jetzt trat sie neben ihre Herrin und war wenig überrascht zu sehen, dass die Frau auf das Wasser hinabblickte.

»Es ist erstaunlich, wie still es jetzt, da Imi uns verlassen hat, auf dem Schiff ist«, sagte sie. »Ich glaube, die Mannschaft vermisst sie.«

»Ja«, pflichtete Reivan ihr bei. »Oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass du Trübsal bläst.«

Imenja drehte sich zu Reivan um. »Ich blase Trübsal?«

»Ja. Immer schaust du in die Ferne oder aufs Wasser hinab.«

»Tue ich das?«

»Ja. Ich vermute, du bist enttäuscht, dass wir ohne einen Bündnisvertrag abgereist sind.«

»Du vermutest falsch«, erwiderte Imenja lächelnd. »Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen, Reivan. Der König mag uns weggeschickt haben, aber sein Volk hat keineswegs endgültig Abschied von uns genommen.« Sie deutete aufs Wasser. »Wir werden verfolgt.«

Eine leichte Erregung stieg in Reivan auf, und sie blickte suchend in die Wellen, konnte aber keine Spur von irgendwelchen Elai entdecken.

»Wissen sie, dass du weißt, dass sie da sind?«

Imenja lachte. »Was für ein Satz! Sie haben den Verdacht, dass ich sie gesehen haben könnte, aber sie sind sich nicht sicher.«

»Ist das der Grund, warum nur das Hauptsegel gehisst ist?«

»Ja. Ich möchte nicht, dass wir sie abhängen.«

»Und warum willst du das vermeiden?«

»Ich hoffe einfach, dass das Schicksal uns eine Chance schenken wird. Nun, um die Wahrheit zu sagen, haben Nachforschungen mit meinen Plänen ebenso viel zu tun wie das Schicksal. Bevor wir aufgebrochen sind, habe ich die Gedanken mehrerer Elai gelesen, die Plünderern begegnet waren. Ich habe in Erfahrung gebracht, an welchen Stellen die meisten Handelsschiffe angegriffen wurden.«

»Und diese Stellen fahren wir jetzt an?«

»Wir befinden uns bereits mitten in einem dieser Gebiete. Im Süden, hinter dem Horizont, befindet sich ein Plündererschiff. Ich habe die Gedanken seiner Mannschaft aufgefangen.«

»Du hoffst, dass man uns angreifen wird?«

»Nein. Ich bezweifle, dass die Plünderer das tun würden. Dies ist kein Handelsschiff. Selbst wenn ich ein einfaches Segel statt des unseren hissen ließe, wären die Plünderer doch in der Lage, ein Schiff an der Form seines Rumpfs zu erkennen.«

»Dann hast du also die Absicht, sie zu finden und anzugreifen? Ist das klug? Was wäre, wenn die Weißen hörten, dass wir ein Schiff zerstört haben? Sie werden vielleicht nicht erfahren, dass es sich um das Schiff von Plünderern handelte, und wenn doch, interessiert sie das vielleicht nicht.«

Imenja kniff die Augen zusammen. »Sie würden nichts davon erfahren, wenn es keine Überlebenden gäbe.«

»Aber falls die Elai noch immer bei uns sind, wird es Zeugen geben.«

»Genau das ist auch meine Absicht. Ich will den Elai wenn irgend möglich die Gelegenheit geben, an dem Angriff auf die Plünderer teilzuhaben.« Imenja runzelte die Stirn. »Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie das vonstattengehen soll. Wenn du ein Elai-Krieger wärst, was würdest du tun, um ein Plündererschiff anzugreifen?«

»Ich bin mir nicht sicher. Welche Vorteile haben sie ihren Feinden gegenüber? Sie können über einen langen Zeitraum den Atem anhalten, also könnten sie ihre Feinde mühelos ertränken.«

»Falls sie an die Plünderer selbst herankämen. Ich will wissen, ob sie einem Schiff Schaden zufügen könnten.«

Reivan zuckte die Achseln. »Die Elai kämen leicht an den Rumpf eines Schiffs heran, und nichts könnte sie an dem Versuch hindern, es zu beschädigen. Könnten sie durch den Rumpf brechen?«

»Nicht mit bloßen Händen.«

»Und auch nicht mit ihren Speeren. Sie brauchen eine Waffe, die eigens zu diesem Zweck geschaffen wurde. Oder Magie.«

»Wir können ihnen weder das eine noch das andere geben.«

»Ach nein?« Reivan grinste. »Es muss an Bord dieses Schiffes Werkzeuge für Holzarbeiten geben.«

»Aber würden die in einem Kampf schnell genug funktionieren?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es würde davon abhängen, wie lange der Kampf dauert und wie viele Werkzeuge benutzt würden.«

»Wie sonst könnten sie gegen die Plünderer kämpfen?« Sie hatten inzwischen den Bug des Schiffes erreicht. »Vielleicht indem sie sie auf ein Riff locken?«, meinte Reivan. »Aber ich bezweifle, dass das funktionieren würde. Die Plünderer müssen diese Gewässer ziemlich gut kennen. Ich bin mir sicher, dass mir etwas Besseres einfallen würde, wenn ich nur Zeit hätte und…«

Imenja hob plötzlich die Hand, um Reivan zum Schweigen zu bringen. Mit geschlossenen Augen blickte die Zweite Stimme zum Horizont hinüber.

»Ich glaube, unsere Plünderer haben soeben ein Opfer gefunden. Ja, ein Handelsschiff auf dem Weg nach Westen. Du solltest dir besser schnell etwas ausdenken, Reivan.«

»Ich dachte, du wolltest nicht, dass die Weißen davon erfahren. Oder hast du die Absicht, auch das Handelsschiff zu versenken?«

»Nein, ich glaube, es könnte nützlich für uns sein, wenn einige Kaufleute dankbar dafür wären, wenn ein pentadrianisches Schiff sie vor ihren Angreifern gerettet hätte.«

Reivan kicherte. »Wir können also in einem einzigen Kampf gleich zwei Völker beeindrucken. Aber wird es überhaupt zu einem Kampf kommen? Sobald die Plünderer uns näher kommen sehen, werden sie fliehen.«

»Und wir werden Jagd auf sie machen. Ich werde dafür sorgen, dass wir sie einholen.«

Eine Welle der Begeisterung schlug über Reivan zusammen. Aber ich darf mich von der Aussicht auf ein wenig Magie und Gerechtigkeit nicht blind machen lassen für mögliche böse Konsequenzen. »Falls die Kaufleute uns genug hassen, wäre es vorstellbar, dass sie behaupten werden, wir seien die Angreifer gewesen.«

»Die Weißen können Gedanken lesen«, rief Imenja ihr ins Gedächtnis. »Sie würden die Wahrheit sehr schnell erfahren. Sieh nur.« Sie zeigte nach Süden, wo man am Horizont die ersten Segel ausmachen konnte. »Die Plünderer.« Dann wandte sie sich nach Osten und kniff die Augen zusammen. »Das Handelsschiff ist direkt vor uns.«

Sie drehte sich zum Steuermann um und befahl ihm, in den Wind zu drehen. Reivan sah Imenja fragend an.

»Die Kaufleute haben ihre Verfolger noch nicht bemerkt«, erklärte Imenja. »Und wir wollen die Plünderer noch nicht verschrecken. Die Elai brauchen ein wenig Zeit, um sich vorzubereiten.«

»Ach ja?«

»Ja. Wir werden ihnen zeigen, wie sie die Zimmermannswerkzeuge anwenden können.«

»So?«

»Ja.«

»Ich bin davon überzeugt, dass sie das bereits wissen. Unter den Geschenken, die der König dir gemacht hat, finden sich einige beeindruckende Schnitzereien.«

»Ja, aber nur weil sie über talentierte Handwerker verfügen, heißt das nicht, dass ihre Krieger wissen, wie sie mit Holzhammer und Meißel umgehen müssen.«

Imenja rief nach dem Kapitän und gab ihm Weisung, sich für eine Verfolgung und einen Kampf bereitzumachen. Dann blieb sie auf dem Achterschiff stehen und rief die Elai namentlich an. Kurze Zeit später erschienen einige Schrittlängen vom Schiff entfernt zwei Köpfe.

»Wie sehr hasst ihr Plünderer?«, fragte sie herausfordernd.

Die beiden tauschten einen Blick, sagten jedoch nichts.

»Vor uns befindet sich ein Plündererschiff, das im Begriff steht, ein Handelsschiff anzugreifen. Ich habe die Absicht, es aufzuhalten. Werdet ihr mir helfen?«

»Wie?«, fragte einer der Krieger.

»Lasst es euch zeigen.« Imenja winkte einen der Seeleute heran. »Bringt uns Zimmermannswerkzeug. Holzhämmer und Meißel. Alles, was man benutzen kann, um ein Loch in den Rumpf eines Schiffes zu schlagen.«

»Ist das klug, Zweite Stimme?«, fragte der Seemann. »Was ist, wenn sie beschließen, auch uns zu versenken?«

»Das werden sie nicht tun«, versicherte sie ihm.

Als der Mann davoneilte, betrachtete Reivan die Elai. Sie wirken eher argwöhnisch als begeistert, dachte sie. Es wird nicht leicht werden, sie von unserem Vorhaben zu überzeugen.

Zu Reivans Überraschung kehrte der Seemann mit mehreren Holzhämmern und Meißeln zurück. Wenn ein Schiff an einem abgelegenen Ort repariert werden musste, so vermutete sie, wurde wohl von der gesamten Mannschaft erwartet, dass sie bei der Arbeit half, daher musste stets genug Werkzeug für alle an Bord sein.

Die beiden Elai waren näher herangeschwommen. Ein wenig weiter entfernt tauchten jetzt vier weitere Köpfe auf.

»Zeig ihnen, wie man die Werkzeuge benutzt«, befahl Imenja.

Der Seemann sah sich suchend um, dann griff er nach einem Eimer, klemmte ihn sich zwischen die Knie und begann, auf das Holz einzuhacken. Imjena drehte sich zu den Elai um.

»Ich werde euch diese Werkzeuge geben. Benutzt sie, um den Rumpf des Plündererschiffs aufzubrechen. Dann wird Wasser eindringen, und das Schiff wird sinken.«

»Aber wir können sie unmöglich einholen«, protestierte ein Elai.

»Oh doch, das werdet ihr, wenn ihr an Bord kommt«, erwiderte sie. »Mein Schiff ist schneller als ihres.«

Die beiden Elai verschwanden unter Wasser und kehrten dann bei den weiter entfernten vier Männern an die Oberfläche zurück. Mehrere Minuten verstrichen, bevor vier der Krieger abermals untertauchten und kurz darauf neben dem Schiff wieder erschienen.

»Wir werden euch begleiten«, sagte einer der Männer.

Als die Seeleute Seile hinabwarfen, damit die Elai ins Schiff klettern konnten, drehte Reivan sich mit einem Lächeln zu Imenja um. »Ich kann nicht glauben, dass du sie dazu überredet hast, an Bord zu kommen«, murmelte sie.

»Sie sind jung und wie Imi frustriert darüber, einen so großen Teil der Zeit in ihrer überfüllten Stadt eingesperrt zu sein«, erklärte Imenja leise.

»Wo sind die anderen?«, fragte Reivan und blickte in die Richtung, in der die beiden letzten Elai gewesen waren.

»Sie werden in einiger Entfernung folgen, falls sich dies als Falle erweisen sollte.«

Als die Elai schließlich auf dem Deck standen, trat Imenja vor, um sie zu begrüßen, und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Plündererschiff am Horizont. Sie erklärte ihnen, dass sie das Schiff in ein bis zwei Stunden eingeholt haben würden. Dann stellte sie ihnen Reivan vor.

Die Elai-Krieger hatten Mühe, auf dem schaukelnden Schiff das Gleichgewicht zu halten. Wenn Imenja sie einschüchterte, so wussten sie dies wohl zu verbergen. Die Seeleute reichten ihnen die Meißel und Hämmer. Die Elai nahmen sie selbstbewusst in Empfang, und Reivan kam zu dem Schluss, dass sie recht gehabt hatte: Sie wussten, wie diese Werkzeuge benutzt wurden.

Plötzlich machte das Schiff einen Satz nach vorn. Reivan hatte nicht bemerkt, dass sämtliche Segel gehisst worden waren. Jetzt, da der Wind in den Segeln zunahm, begannen die Seile und der Mast zu knarren. Die Mannschaft hielt inne und tauschte überraschte Blicke, aber die Elai schienen diese Veränderung ohne Frage hinzunehmen.

Sie werden noch nie an Bord eines Schiffes gewesen sein, rief sie sich ins Gedächtnis. Dieser unnatürliche Wind ist für sie lediglich eine weitere Eigenartigkeit des Geschehens.

Die Plünderer vor ihnen näherten sich jetzt dem Handelsschiff, das zu schwer und zu langsam war, um seinen Verfolger abzuschütteln.

»Haben sie uns gesehen?«, fragte Reivan.

»Ja«, antwortete Imenja. »Sie denken, sie können das Handelsschiff ausrauben und fort sein, bevor wir ankommen. Außerdem sind sie noch nie von einem pentadrianischen Schiff angegriffen worden.«

Je näher sie den Plünderern und ihrem auserkorenen Opfer kamen, desto schneller schienen sie sich vorwärtszubewegen. Plötzlich schwenkten die Plünderer von dem Kaufmannsschiff ab.

»Sie haben bemerkt, dass wir schneller sind, als sie dachten«, murmelte Imenja. »Jetzt beginnt die Jagd.«

Die Zeit zog sich in die Länge. Sie fuhren nahe genug an dem Handelsschiff vorbei, um die verwirrte und verängstigte Mannschaft sehen zu können, die sie beobachtete. Imenja hob die Hand und grüßte sie kurz, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Seeräubern zu.

Die Entfernung zwischen ihnen wurde stetig kürzer. Als sie nahe genug waren, um die Männer an Deck erkennen zu können, machte das Plündererschiff abrupt – oder so schnell, wie ein solches Schiff das zuwege bringen konnte – eine Halse.

»Sie haben beschlossen zu kämpfen«, sagte Imenja. Sie fuhr zu den Elai herum. »Jetzt ist eure Chance gekommen, euren Feind anzugreifen. Seid vorsichtig. Sobald sie begreifen, was ihr tut, werden sie Pfeile ins Wasser schießen.«

Die Krieger nickten, dann traten sie ohne ein Wort an die Reling und tauchten ins Wasser hinab.

»Bleib bei mir, Reivan«, sagte Imenja leise.

Die Luft summte unter den heranfliegenden Pfeilen. Imenja sprang zur Reling und breitete die Arme aus. Die Pfeile prallten an einer unsichtbaren Barriere ab.

»Das scheint mir kaum ein gerechter Kampf zu sein«, murmelte Reivan. »Sie können dich unmöglich besiegen.«

Imenja lachte. »Möchtest du, dass ich daneben stehe und um eines gerechten Kampfes willen meine Leute sterben lasse?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Reivan.

»Sei versichert, diese Leute sind Diebe und Mörder. Wir töten keine Unschuldigen.«

Das Plündererschiff fuhr in einigen Schritt Abstand vorbei. Enterhaken wurden geworfen, aber Imenjas Barriere blockte sie ab, und sie fielen ins Wasser. Reivan blickte hinab, konnte aber nicht weit unter die Oberfläche sehen.

»Was tun die Elai?«, fragte sie.

Imenja lachte leise. »Sie haben ihren Spaß. Ich kann nicht erkennen, ob sie Fortschritte machen, denn sie wissen es selbst nicht. Aber die Plünderer sind beunruhigt. Sie können das Klopfen hören.«

Jetzt trat ein Mann an die Reling des Plündererschiffs. Er war gut gekleidet, und an seinen Händen und auf seiner Brust glitzerte goldener Schmuck.

»Der Kapitän der Plünderer«, vermutete Reivan.

»Ja. Und er besitzt Talente.«

Der Mann hob die Arme, und die Luft kräuselte sich. Imenja lachte leise.

»Es scheint wirklich ungerecht zu sein«, gab sie zu. Sie blickte zu der Mannschaft hinüber, die Bogen bereithielt. »Feuer!«

Bevor die Pfeile ihr Ziel trafen, schlingerte das Plündererschiff im Wasser. Einige Plünderer kamen aus dem Rumpf heraufgeeilt. Ihre Entsetzensschreie ließen Reivan frösteln. Das Meer begann an den Seiten des Schiffes zu zerren und saugte es langsam in die Tiefe. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als die Plünderer mit einem Mal gegeneinander um einen Platz in dem kleinen Ruderboot kämpften. Der Plündererkapitän ließ von seinem magischen Angriff auf Imenja ab, um seinen Platz in dem Beiboot zu behaupten.

Das Schiff neigte sich zur Seite, und Wasser ergoss sich auf das Deck, bis es seine ersten Opfer fand. Als das Schiff in die Tiefe sank, stiegen Luftblasen auf. Mit einem Schaudern beobachtete Reivan, wie etliche Männer, die offenkundig nicht schwimmen konnten, im Wasser mit den Armen ruderten. Sie waren schon bald verschwunden. Dann wurde ihr klar, dass auch diejenigen, die mit kraftvollen Zügen schwammen, versanken, unter die Oberfläche gezogen von schattengleichen Angreifern.

Reivan wandte beklommen den Blick ab. Die verzweifelten Bitten und Wutschreie verklangen. Ein unheilverkündendes Schweigen breitete sich aus, und sie hörte Imenja seufzen.

»Es ist vorüber. Keine Überlebenden. Und die Elai haben den größten Teil des Kampfes selbst bestritten.«

»Keine Überlebenden?« Reivan blickte zu dem kleinen Ruderboot hinüber, das mit dem Kiel nach oben auf dem Wasser trieb. »Was ist mit dem Kapitän geschehen?«

»Um den haben sich unsere Freunde vom Meeresvolk gekümmert.«

Plötzlich erschienen ganz in der Nähe zwei dunkle Köpfe. Die weißen Zähne der Elai-Krieger blitzten, als sie sie angrinsten.

»Ihr wart sehr mutig«, rief Imenja. »Ihr habt uns praktisch keine Chance gegeben, sie selbst anzugreifen! Ihr habt das Plündererschiff ganz allein versenkt!«

»Ohne eure Hilfe hätten wir es nicht einholen können«, rief einer der Krieger zurück.

»Nein, aber sie haben uns kommen sehen«, erwiderte sie. »Ihr hättet euch leicht unter Wasser an sie heranschleichen können.«

»Willst du die Schneidewerkzeuge zurückhaben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Behaltet sie.«

Ein weiterer dunkler Kopf erschien. Der Krieger hielt einen goldenen Kelch in die Höhe. »Seht nur. Das Schiff ist voll davon.«

»Von Kaufleuten gestohlen«, bemerkte Imenja. »Das alles gehört jetzt euch. Ebenso wie sämtliche Schätze eines jeden Plündererschiffs, das ihr versenkt.«

Das Grinsen der Krieger wurde breiter.

»Aber überzeugt euch davon, dass ihr nur die Schiffe von Seeräubern versenkt«, warnte sie sie. »Solltet ihr ein Handelsschiff versenken, wird es Landgeher geben, die danach trachten werden, euer Volk für das Verbrechen zu bestrafen. Mächtige Landgeher mit mächtiger Magie. Neben ihnen würden sich Plünderer so gefährlich wie Kinder ausmachen, und mein Volk würde nichts tun können, um sie aufzuhalten.«

Das Grinsen in den Zügen der Krieger war verblasst. Imenja hob zum Abschied die Hand. »Gut gemacht, Krieger der Elai. Das Meer ist dank euch heute ein wenig sicherer. Geht und feiert euren Sieg mit eurem Volk.«

»Ja!«, stimmte der Krieger, der den Kelch geborgen hatte, ihr zu.

»Dann lebt wohl«, rief einer der anderen Krieger. »Und wir wünschen euch eine sichere Reise.«

»Vielen Dank für eure Hilfe!«

»Auf Wiedersehen!«

Jetzt kam der vierte Elai an die Oberfläche; er trug goldene Ketten um den Hals. Er sah sich um, stellte fest, dass seine Kameraden davonschwammen, und eilte hinter ihnen her.

Imenja drehte sich um und gab den Befehl, die Reise fortzusetzen.

»Nicht zu schnell«, fügte sie leise an den Kapitän gewandt hinzu. »Wenn der König der Elai von diesem Zwischenfall erfährt, möchte ich nicht, dass wir zu weit entfernt sind, um ihm die Gelegenheit zu geben, uns zu einer Rückkehr in sein Land einzuladen.« Der Kapitän nickte. Sie sah Reivan an und lächelte schief. »Das heißt«, murmelte sie, »falls er keinen Anstoß daran nimmt, dass ich einige junge, naive Krieger dazu verleitet habe, ein Plündererschiff zu versenken.«

45

Seit Emerahl in das Sumpfgebiet gekommen war, hatten die Einheimischen ihr jeden Abend eine Nachricht überbracht. Zuerst hatte es geheißen: »Folge dem Blut der Erde.« Das war offenkundig gewesen, da der rote Schlamm, den einige der Nebenläufe mit sich führten, kaum übersehen werden konnte. Sobald alles Wasser die gleiche Farbe hatte, hatte die Weisung »Begib dich zu dem flachen Berg« sie in dieselbe Richtung geführt. Nicht dass sie in einer geraden Linie hätte gehen können. Sie musste ihren Weg zwischen Inseln finden, deren kleinste nur wasserumspülte Grasbülten, deren größte aber schon kleine Hügel waren, und gleichzeitig alle für ihr Boot gefährlichen Untiefen meiden. Heute Morgen hatte sie sich bemühen müssen, »mit der stärksten Strömung zu kämpfen», die zu ihrer Erleichterung in einem ausreichend tiefen Kanal ging, um ihr Boot ohne Grundberührung hindurchzumanövrieren.

Sobald der Boden fest genug war, um mehr zu tragen als Grasbüschel, war sie auf eine hohe, üppige Pflanzenwelt gestoßen. Dünne Baumstämme ragten hoch in den Himmel, locker verwoben von Ranken aller Art. Wurden die Bäume allzu hoch für den sumpfigen Grund, lehnten sie sich schräg aneinander oder stürzten vollends um, und ihr gewaltiges Wurzelwerk erhob sich aus dem Morast.

Und es gibt keine Hinweise auf irgendwelche Höhlen, dachte Emerahl. Dazu finden sich hier einfach zu wenige Felsen. Ich schätze, ich habe noch einen weiten Weg vor mir.

Noch während ihr diese Überlegung durch den Sinn ging, erkannte sie, dass sie sich irrte. Der Fluss hatte eine Biegung gemacht, und vor ihr erhob sich eine Felswand, die kaum höher war als die Bäume. An ihrem Fuß hatte das Wasser flache Hohlräume ausgespült – keiner davon groß genug, um eine Höhle zu sein, aber es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sich das bald ändern würde.

Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Der Fluss folgte weiterhin diesen niedrigen Klippen. Emerahl widerstand der Versuchung, das Boot schneller voranzutreiben. Unter der Oberfläche des trüben roten Wassers lagen noch immer Baumstümpfe und Untiefen verborgen.

Die Felswand wellte sich und zwang den Fluss in einen gewundenen Lauf. Nachdem sie seinen Biegungen über eine Stunde lang gefolgt war, umrundete sie eine Ecke und stieß einen Seufzer der Zufriedenheit aus.

Vor ihr weitete sich der Fluss zu einem kleinen See, an dessen Ufer sie ein Maßwerk von Löchern und Höhlen vorfand. Gekräuseltes Wasser auf dem See verriet ihr, wo darin die Strömung verlief. Sie führte sie direkt zum Eingang einer größeren Höhle. Emerahl hielt darauf zu. Unmittelbar bevor sie die Höhle erreichte, blickte sie zum Himmel auf und verzog ihr Gesicht zu einem grimmigen Lächeln.

Höhlen. Warum verschlägt es uns Unsterbliche immer wieder in Höhlen?

Das gedämpfte Licht des Sumpfwaldes verblasste rasch. Emerahl schuf ein Licht und ließ es vor sich leuchten. Das Dach der Höhle fiel so weit ab, dass ihre Mastspitze sie berührt haben würde, hätte sie nicht bereits am Vortag den Mast gelegt, damit er sich nicht in den zahlreichen Ranken und Lianen verfing. In ihrem Licht erkannte sie Öffnungen zu beiden Seiten, die in ein Labyrinth natürlicher Hohlräume und Durchgänge führten.

Sie folgte der Strömung weiter in die Felswand hinein. Sie verlief geradlinig und verriet sich weiter durch ein leichtes Kräuseln der Wasseroberfläche. Die Luft war feuchtigkeitsgeschwängert, und es herrschte eine beklemmende Stille.

Plötzlich wurde die Decke vor Emerahl so hoch, dass sich ihr Licht darin verlor, und die Wände und Höhlen zu beiden Seiten verschwanden ebenfalls. Sie verlangsamte ihre Fahrt, lief vorsichtig in die Leere vor ihr ein und erhellte ihr Licht so weit, bis es eine riesige Höhle ausleuchtete. Nur die von ihrem Boot verursachten Wellen bewegten hier noch das stille Wasser. Am gegenüberliegenden Ende der Höhle erkannte sie knapp über der Wasseroberfläche einen Felssims.

Und auf dem Felssims stand ein großer irdener Krug.

Das ist vermutlich die Stelle, an der ich von Bord gehen soll, überlegte sie.

Sie lenkte das Boot an den Felsvorsprung, griff nach ihrer Vorleine und ging an Land. Der Krug war gefüllt mit klarem Wasser. Emerahl sah sich um. In der Nähe gab es zwei Höhleneingänge. Über dem größeren war ein Symbol eingemeißelt – zwei kleine durch eine Linie verbundene Kreise.

Als sie Zug auf dem Anlegeseil spürte, wurde Emerahl klar, dass sie das Boot würde festmachen müssen, damit die Strömung es nicht davontrug. Dafür kam auf dem ansonsten leeren Felssims nur der Krug in Frage, falls er fest genug stand. Sie schlang das Seil darum und trat einen Schritt zurück, bereit, danach zu greifen, wenn der Krug sich bewegte. Das Seil straffte sich, aber der Krug blieb stehen. Emerahl stieß ihn vorsichtig an. Er schien fest genug zu stehen. Sie wandte sich ab und näherte sich der durch das Symbol gezeichneten Höhle. Sie bewegte ihr Licht durch den Eingang, und es erhellte einen kleinen Raum.

Der Raum war rund. Die Wände waren mit einem kunstvollen Muster aus Punkten bemalt. In der Mitte stand ein weiterer mit Wasser gefüllter Krug. Von der Decke tropfte Feuchtigkeit hinein.

»Wer bist du?«

Die Stimme sprach im Flüsterton und in einer lange ausgestorbenen Sprache. Emerahl konnte nicht erkennen, aus welcher Richtung sie gekommen war. Es klang so, als hätten zwei Personen gesprochen, aber das mochte auch an dem Echo im Raum liegen.

Emerahl überlegte, welchen Namen sie nennen sollte. »Ich bin…« Wer immer dort wartete, würde ihren richtigen Namen vielleicht nicht kennen, ging ihr plötzlich auf. »Ich bin die alte Hexe.«

»Warum bist du hier?«

»Um dich zu treffen«, antwortete sie.

»Dann trink und sei mir willkommen.«

Emerahl betrachtete den Krug argwöhnisch. Das Wasser war so klar, dass sie auf den Grund des Gefäßes sehen konnte. Gab es hier irgendetwas, das sie fürchten musste? Gewiss hätte die Möwe sie nicht in eine Falle geschickt. Nein, sie legte nur wieder einmal übertriebene Vorsicht an den Tag. Die Einladung war wahrscheinlich ein Ritual des guten Benehmens. Also tauchte sie eine Hand in das Wasser, führte ein wenig davon an ihre Lippen und nippte.

Sofort begann ihr Mund zu brennen. Sie keuchte und zuckte zurück, als könne das den Schmerz lindern. Das Gefühl breitete sich langsam aus. Sie berührte abermals ihr Gesicht und stellte erschrocken fest, dass es schnell anschwoll.

»Was…?«, versuchte sie zu sagen, aber ihre geschwollenen Lippen konnten keine Worte mehr formen.

Die Möwe sagte, sein Freund würde mich ignorieren, falls er oder sie mich nicht würde sehen wollen, aber es war nie die Rede davon, dass dieser Freund mich töten würde! Warum sollte er?

Halt den Mund, sagte sie sich. Du bist vergiftet worden! Kümmere dich darum.

Sie ging rückwärts aus dem Raum, taumelte zu ihrem Boot hinüber und ließ sich hineinfallen. Ein Gefühl der Lähmung breitete sich in ihrem Körper aus. Sie hatte keine Kraft mehr, um das Anlegeseil zu durchschneiden.

Sie schloss die Augen und sandte ihren Geist nach innen.

Die Wirkung des Giftes strömte von ihrem Mund, ihrer Kehle und ihrem Magen aus in den Rest ihres Körpers. Sie dämmte sein Fortschreiten ein, indem sie die Wege blockierte, die das Gift nahm. Nachdem sie so viel wie möglich in ihre Kehle zurückgedrängt hatte, zwang sie es zusammen mit den Flüssigkeiten, mit denen es sich vermischt hatte, hinaus.

Nachdem sie es ausgespuckt hatte, ließ sie ihren Geist dem Gift folgen, das bereits ihr Blut verseucht hatte. Ein Brennen führte ihren Geist durch Organe und Gliedmaßen. Sie sah, dass es zu stark verdünnt war, um großen Schaden anzurichten. Schließlich beschleunigte sie ihren Herzschlag und filterte das Gift durch die Ausscheidungsorgane aus, sammelte es in einem kleinen Tropfen und leitete diesen aus ihrem Körper hinaus.

Schließlich holte sie dreimal tief Luft, öffnete die Augen und richtete sich auf.

»Meinen Glückwunsch, Emerahl, die alte Hexe. Du hast die Prüfung bestanden«, sagte eine Frauenstimme.

»Du hättest dir doch sicher etwas anderes ausdenken können, etwas, das ein wenig… höflicher gewesen wäre«, erwiderte Emerahl mit finsterer Miene.

Ein Lachen hallte durch die Höhle. Männlich und jung. Sie sind also zu zweit, überlegte Emerahl. Die Stimme hatte keinerlei Bosheit, aber reichlich Ironie enthalten. Emerahl konnte noch immer nicht beurteilen, woher die Stimme gekommen war.

»Wenn wir es hätten tun können, hätten wir es getan«, antwortete der Mann. »Bitte, verzeih uns, Emerahl. Wir mussten uns davon überzeugen, dass du die bist, die du zu sein behauptet hast.«

Emerahl stand auf und stieg aus dem Boot. »Mir wäre ein Rätsel lieber gewesen.«

Der Mann lachte abermals. »Ach ja? Ich finde Rätsel ärgerlich und angeberisch.«

Sie sah sich um. »Ich weiß nicht einmal, wer du bist, obwohl ich da einige Ideen hätte. Wie soll ich dich prüfen?«

»Komm durch die andere Höhle«, antwortete eine Frau.

Emerahl ging zum Eingang hinüber und hielt dort noch einmal inne.

»Keine Sorge, wir haben keine weiteren Prüfungen für dich vorbereitet.«

Trotzdem umgab sich Emerahl weiterhin mit einer starken Barriere, als sie in den Raum dahinter trat. Er war leer. Eine unregelmäßig geformte Treppe führte in die Höhe, und sie stieg langsam hinauf.

Sie gelangte in die Mitte einer weiteren großen Höhle. Der Boden war uneben, und hier und da waren Löcher zu sehen. An einigen der höheren Stellen lagen in bunten Farben gewobene Kissen. In die Wände waren Nischen gehauen, und dort stand eine Vielzahl von Gegenständen, die den Raum heimeliger wirken ließen, darunter Binsenkörbe, getöpferte Schalen und hölzerne Statuen. Sogar eine Vase mit Blumen war zu sehen.

»Willkommen, Emerahl. Oder ziehst du es vor, die Hexe genannt zu werden?«, sagte eine Frau hinter ihr.

Emerahl drehte sich um. In zwei Nischen an der hinteren Wand saßen ein Mann und eine Frau; beide hatten helles Haar, waren gutaussehend und schlicht gekleidet. Sie waren einander so ähnlich, dass sie miteinander verwandt sein mussten, was Emerahls Verdacht bezüglich ihrer Identität bestätigte.

»Ihr seid die Zwillinge«, sagte sie.

Der Mann grinste breit, während das Lächeln der Frau würdevoll und beinahe scheu war. An den Seiten ihrer Gesichter bildeten sich Lachfalten, was Emerahls Aufmerksamkeit auf die Narben lenkte, die sich über Gesicht, Hals und Schultern der beiden zogen.

Narben? Wenn sie Unsterbliche sind, hätten sie keine Narben haben dürfen.

Dann bemerkte sie, dass die Narben auf der linken Seite der Frau denen auf der rechten Seite des Mannes genau entsprachen, und plötzlich begriff Emerahl. Diese beiden Menschen waren früher einmal miteinander verbunden gewesen. Die Narben waren mit Absicht zurückgelassen worden, vielleicht als Erinnerung an ihre frühere Einheit.

»Das ist richtig«, erwiderte die Frau. »Ich bin Tamun.«

»Und ich bin Surim.«

»Sonne und Mond«, übersetzte Emerahl. »In der velianischen Sprache.«

»Ja. Unsere Eltern dachten, es würde uns vielleicht Glück bringen.«

»Hat es das?«

Die beiden tauschten einen Blick, dann zuckte Surim die Achseln. »Es stellte sich heraus, dass wir über unerwartet große Gaben verfügten. Einige Menschen würden das als Glück betrachten.«

»Mehr oder weniger«, pflichtete Tamun ihm mit einem schwachen Lächeln bei. Dann sah sie Emerahl an, und ihre Miene wurde wieder ernst. »Verzeihst du uns unsere kleine Prüfung? Es gibt einige Prüfungen, die nur ein Unsterblicher bestehen kann, und wir mussten sicher sein.«

Emerahl breitete die Hände aus. »Ich nehme an, ich hätte das Gleiche getan, wenn ich einen Verrat hätte fürchten müssen.«

Tamun nickte. »Wir haben im Laufe der Jahrhunderte von Zeit zu Zeit Berichte über dich gehört. Trotz unseres rüden Willkommens haben wir uns darauf gefreut, dich kennen zu lernen.«

»Mir ist es genauso ergangen«, erwiderte Emerahl. »Es ist seltsam, dass wir so lange gelebt haben und einander doch noch nie zuvor begegnet sind.«

Surim zuckte die Achseln. »Es ist nicht klug, mit seiner Unsterblichkeit zu prahlen, erst recht nicht in diesem Zeitalter. Wenn wir Unsterblichen alle einen bestimmten Wesenszug gemeinsam haben, dann ist es das Bedürfnis, uns abzusondern.«

Emerahl nickte. »Und doch habe ich den starken Drang empfunden, nach anderen Unsterblichen zu suchen.«

»Paradoxerweise ist es die wachsende Gefahr für unser Leben in diesem Zeitalter, die uns dazu treibt, zusammenzukommen«, bemerkte Tamun.

»Und einander zu unterstützen«, ergänzte Surim.

»Dann habt also auch ihr nach anderen Wilden gesucht?«, fragte Emerahl.

Tamun rümpfte die Nase. »Wilde. So nennen uns die Götter. Wir selbst haben uns früher Unsterbliche genannt, und das sollten wir auch jetzt tun.«

»Ja«, beantwortete Surim nun Emerahls Frage. »Wir haben nach anderen Unsterblichen gesucht.« Er stand auf und ging zu Emerahl hinüber. Dann ergriff er ihre Hände, lächelte herzlich und sah ihr in die Augen. »Wir sind zu lange von der Welt isoliert gewesen. Wir sehnen uns nach Gesellschaft.«

»Während der letzten hundert Jahre haben wir die Welt durch den Geist Sterblicher beobachtet, aber das ist nicht so befriedigend wie ein Leben unter ihnen«, pflichtete Tamun ihrem Bruder bei, bevor sie aufstand und sich reckte.

»Komm, setz dich«, sagte Surim und zog Emerahl zu einem Stapel Kissen. Tamun ließ sich neben Emerahl nieder. Sie zog einen kleinen Webstuhl zu sich heran und begann die Finger mit der mühelosen Geschicklichkeit eines Menschen zu bewegen, der eine bestimmte Arbeit schon sehr lange Zeit verrichtete.

»Ich habe mich immer gefragt, was ihr beiden so treibt«, bemerkte Emerahl zu ihm. »Die Berichte, die mir zu Ohren gekommen sind, legten die Vermutung nahe, dass ihr Propheten seid. Wie das Orakel.«

Surim lachte.

»Wir haben nie behauptet, wir seien in der Lage, die Zukunft zu sehen oder vorauszusagen«, erklärte Tamun. »Nicht so, wie die Seherin es behauptet hat. Sie konnte es nämlich gar nicht. Sie hat lediglich ihre Fähigkeiten als Gedankenleserin genutzt, um herauszufinden, was ein Mensch hören wollte, und dann hat sie dem Betreffenden zweideutige Antworten gegeben.«

»Außerdem hat sie absolut grauenhafte Gedichte geschrieben und sie Prophezeiungen genannt«, fügte Surim mit einer abschätzigen Geste hinzu. »All diesen Unfug über verschwundene Erben und magische Schwerter. Wir alle wissen, dass Schwerter keine Magie haben können.«

»Es sei denn, sie wären aus dem Holz eines Willkommensbaums gemacht«, warf Tamun ein. »Oder aus schwarzer Koralle.«

»Was bedeutet, dass sie als körperliche Waffe vollkommen nutzlos wären.« Surim sah Emerahl an und lächelte. »Achte gar nicht auf uns, meine Liebe. Wir haben den größten Teil eines Jahrtausends mit solchen Streitereien verbracht. Erzähl uns lieber etwas über dich und über die Welt. Die Möwe hält uns auf dem Laufenden, aber ihm kommen nur Gerüchte und Geschwätz zu Ohren. Du hast die jüngsten Ereignisse mit eigenen Augen gesehen.«

Emerahl setzte sich und lachte leise. »Zweifellos hat die Möwe euch davon erzählt. Es ist wahr, ich habe einige Dinge gesehen. Wenn auch nicht aus freien Stücken.«

Und sie begann zu erzählen, wie ein Priester sie vor über einem Jahr aus ihrem Leuchtturm vertrieben hatte.


Auraya ging in der Laube auf und ab.

Während der letzten Wochen war sie kreuz und quer durch Si geflogen, zu allen Dörfern, die von der Herzzehre betroffen waren. Überall hatte sie Anweisung gegeben, drei Lauben bauen zu lassen, geradeso wie Mirar es bei dem Stamm vom Blauen See getan hatte. Sie hatte den Siyee in jedem Dorf beigebracht, wie man Heilkuren zubereitete und wie man beurteilte, wann ein Patient wahrscheinlich magische Hilfe brauchte, um die Krankheit zu überwinden. Jetzt konnte sie, wann immer sie ein Dorf besuchte, jene versorgen, die sie am dringendsten brauchten, bevor sie ins nächste Dorf weiterflog.

Aber an diesem Morgen hatte Juran sich mit ihr in Verbindung gesetzt, um ihr mitzuteilen, dass die Götter später am Tag am Altar ihr Urteil verkünden würden. Dieser Umstand hatte sie dazu gezwungen, stundenlang in ihrer Laube zu bleiben, obwohl sie wusste, dass viele kranke Siyee ihre Hilfe brauchten, während sie untätig dasitzen musste. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Hände rang, wie ihre Mutter es immer getan hatte, wenn sie nervös gewesen war. Sie löste die Finger voneinander und seufzte verärgert.

Oh! Genug der Warterei! Ich wünschte, die Götter würden ihre Entscheidung bekanntgeben und die Angelegenheit endlich hinter sich bringen!

Mit verkrampftem Magen ging sie weiter im Raum auf und ab. Sie musste an Chaias Worte denken: Wisse, dass du dir einen der Götter zum Feind gemacht hast. Einen der Götter. Nicht zwei. Von allen Göttern hatte sie Huan und Chaia am meisten Grund geliefert, sie mit Missfallen zu betrachten. Hatte sie sich Huan mit ihrem Ungehorsam zur Feindin gemacht? Wahrscheinlich. Hatte sie Chaia mit ihrer Zurückweisung seiner Liebe gekränkt? Möglicherweise.

Sie hatte viele Male über die Entdeckung nachgegrübelt, dass die Götter sich, was ihr Schicksal betraf, nicht einig waren. Auf welche Seite mochte jeder Gott sich geschlagen haben? Chaia hatte angedeutet, dass ihre Weigerung, Mirar zu töten, vor allem Huan erzürnt hatte. Wie dachten die anderen Götter darüber?

Auraya?

Ihr Mund wurde trocken, als sie Jurans Gedankenstimme erkannte.

Juran? Ist es so weit?

Ja. Mairae und ich sind am Altar.

Sie nickte, wobei sie ganz vergaß, dass er sie nicht sehen konnte, und ging zu einem Stuhl. Als sie sich setzte, kam Unfug aus seinem Korb gehuscht und kletterte an der Wand der Laube hinunter, um sich auf ihrem Schoß zusammenzurollen. Jetzt, da es draußen langsam kühl wurde, nutzte er jeden warmen Körper, der für mehr als einige Sekunden still am selben Ort verharrte.

Auraya konzentrierte sich auf Jurans Geist, schloss die Augen und nahm die Bilder in sich auf, die er sah. Er war im Altar. Die Wände hatten sich geschlossen. Mairae saß auf ihrem Platz. Auraya spürte, wie Dyara und Rian sich mit Juran vernetzten. Als alle bereit waren, begann Juran das kurze Ritual.

»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Wieder einmal danken wir euch für den Frieden, den ihr über Ithania gebracht habt, und für die Gaben, die ihr uns geschenkt habt. Wir danken euch für eure Weisheit und Leitung.«

»Wir danken euch«, murmelte Mairae. Auraya hörte Dyara und Rian im Geist die Worte sprechen und wiederholte sie dann selbst.

»Ihr habt uns übermittelt, dass ihr jetzt bereit seid, das Urteil über Auraya zu verkünden. Bitte, erscheint und seid euren demütigen Dienern willkommen.«

»Leitet uns.«

Von Jurans Blickpunkt aus sah Auraya, wie an vier Stellen im Raum die Luft zu leuchten begann. Die Lichter nahmen langsam Form an und bildeten die Gestalten von Huan, Lore, Yranna und Saru. Sie fragte sich, wo Chaia sein mochte, dann wandte Juran den Kopf zur Seite, und sie stellte fest, dass der Gott rechts von Juran stand.

Juran, Dyara, Rian, Mairae und Auraya, sagte Chaia. Wir haben euch zu unseren Stellvertretern erwählt, auf dass ihr in unserem Namen in der Welt der Sterblichen handeln möget. Bisher waren wir zufrieden mit eurer Arbeit.

Wir haben stets Acht gegeben, euch nur mit Aufgaben zu betrauen, die ihr erfüllen konntet, ergänzte Yranna. Sie sah Juran an. Einmal, vor langer Zeit, waren wir gezwungen, einen von euch zu bitten, gegen sein Herz zu handeln. In jüngster Zeit blieb uns nichts anderes übrig, als von einem unter euch das Gleiche noch einmal zu verlangen.

Nur dass die Aufgabe diesmal unerfüllt geblieben ist, brummte Lore.

Zweimal haben wir Befehl dazu gegeben; zweimal wurde uns der Gehorsam verweigert, sagte Saru.

Huan blickte zu Juran hinüber, und Auraya schauderte, als ihr bewusst wurde, dass die Göttin nicht Juran ansah, sondern sie. Mit einem Mal zitterte sie. Die Furcht nagte an ihrer Entschlossenheit. Wie konnte sie sich gegen den Willen der Götter stellen, jener Götter, die sie immer bewundert hatte?

Aber wie konnte sie Wesen huldigen, die ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Rechtsprechung so leicht missachtete?

Wir räumen ein, dass Auraya noch neu in ihrem Amt ist, sagte Huan, aber ihre Unerfahrenheit sollte sie nicht in ihrer Fähigkeit beschränken, ihre Pflichten zu versehen. Einige von euch glauben, die Aufgabe, die wir ihr zugewiesen haben, sei ihrem Charakter nicht gemäß gewesen. Wir erwarten, dass ihr alle unangenehme Aufgaben ausführt, wenn es notwendig ist.

Auraya glaubt, unsere Entscheidung sei ein Unrecht gewesen, bemerkte Lore. Wir haben vor einem Jahrhundert ein Urteil über Mirar gesprochen, und an diesem Urteil hat sich nichts geändert.

Auraya widerstand dem Drang zu protestieren. Er hat sich geändert, dachte sie. Er ist nicht mehr der Mann, der er einmal war.

Die Zeit hebt die Verbrechen, die er in der Vergangenheit begangen hat, nicht auf, und daran ändert auch der Umstand nichts, dass er sich ein Jahrhundert lang hinter einer anderen Identität versteckt hat, sagte Huan.

Die Verbrechen, die man ihm zur Last legt, waren zu gering, um die Todesstrafe zu rechtfertigen, dachte sie. Aber sie schwieg. Die Götter kannten ihre Meinung. Es hatte keinen Sinn, sie auszusprechen.

Auraya verlangt Gerechtigkeit um ihres eigenen Gewissens willen, fügte Saru hinzu. Ihr könnt etwas Derartiges nicht jedes Mal tun, wenn wir von euch verlangen, einen Verbrecher hinzurichten.

In Zeiten wie diesen müsst ihr uns vertrauen, warf Yranna leise ein. Wenn die Not groß ist und die Gerechtigkeit hinter unseren Taten schwer zu erkennen.

Huans Blick wanderte nach oben, und Auraya vermutete, dass sie jetzt Chaia ansah.

Wir haben verfügt, dass Auraya nach Jarime zurückkehren muss, erklärte Chaia. Bildete sie es sich nur ein, oder klang er tatsächlich erschöpft und widerstrebend? Sie darf Jarime für einen Zeitraum von zehn Jahren nicht mehr verlassen, es sei denn, Nordithania würde angegriffen und sie befände sich in Begleitung eines anderen Weißen.

Chaia hielt inne. Auraya wartete darauf, dass er weitersprach.

Dies ist unser Urteil, beendete Chaia seine Rede.

Überrascht entspannte sich Auraya. Das war es? Sie haben mir die Gabe des Fluges nicht weggenommen? Allerdings sind zehn Jahre, die man an einem Ort verbringen muss, wohl eine lange Zeit

Auraya muss Si morgen verlassen und nach Jarime zurückkehren, sagte Huan.

Morgen? Auraya fror plötzlich.

Was ist mit der Herzzehre?, platzte sie heraus. Wer wird die Siyee heilen, wenn ich fort bin?

Sie werden allein damit fertigwerden müssen, sagte Huan. Die Krankheit tötet nur einen von fünf. Das ist bedauerlich, aber ihre Rasse wird es überstehen.

In ihrem Entsetzen fiel Auraya nichts ein, was sie darauf hätte erwidern können.

Wirst du unsere Strafe annehmen?, fragte die Göttin.

Auraya fühlte sich elend. So viele Siyee würden sterben. Und das alles nur ihretwegen.

Auraya?

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Göttin.

Wenn es sein muss. Ja, ich werde nach Jarime zurückkehren.

Huan nickte, ein Leuchten der Befriedigung in den Augen. Im nächsten Moment waren die Götter, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, verschwunden.


Etim stand aufrecht und steif vor dem König. In einer Hand hielt er seinen Speer, mit der anderen umfasste er den Holzhammer und den Meißel, die die Pentadrianer ihm gegeben hatten.

»Was haben sie als Gegenleistung verlangt?«, fragte der König.

»Nichts, Majestät«, antwortete Etim.

König Ais runzelte die Stirn, dann drehte er sich zu der jungen Frau an seiner Seite um, die eine Hand auf seinen Arm legte. Dies musste Prinzessin Imi sein, überlegte Etim. Sie sah älter aus, als er erwartet hatte. Dieser Eindruck war nicht nur auf die Erwachsenenkleider zurückzuführen, die sie trug, sondern vor allem auf die Reife in ihrem Blick, als sie ihren Vater anlächelte.

»Imenja hätte das Schiff wahrscheinlich selbst versenken können, Vater. Sie hat unsere Krieger gebeten, es zu tun, um etwas zu beweisen. Wir können gegen die Plünderer kämpfen, ohne uns selbst in allzu große Gefahr zu bringen.«

Der König zog die Brauen noch dichter zusammen. »Deine Priesterin hat uns in einen Krieg gezwungen. Sobald die Plünderer wissen, dass wir eins ihrer Schiffe zerstört haben, werden sie mit Verstärkung hierher zurückkommen.«

Sie wissen es nicht!, dachte Etim. Aber es stand ihm nicht zu, ungefragt seine Meinung zu sagen. Frustriert trat er von einem Fuß auf den anderen.

Dem König war die Bewegung nicht entgangen. Er sah Etim an und kniff die Augen zusammen. »Du stimmst mir nicht zu?«, fragte er mit einem warnenden Unterton in der Stimme.

Etim hielt es für besser, lediglich die Tatsachen anzuführen, statt eine Meinung zu äußern. »Wir haben niemanden am Leben gelassen. Niemanden, der davon erzählen könnte.«

»Niemanden, außer den Pentadrianern«, fügte der König hinzu.

»Sie werden nicht reden«, sagte Imi. »Aber ich möchte, dass die Plünderer davon hören. Ich möchte, dass sie uns fürchten. Ich möchte, dass wir Löcher in ihre Schiffe bohren, dass die Fische sich an ihren Leichen gütlich tun und dass die Stadt durch ihre Beute bereichert wird.« Sie lächelte. »Ich möchte, dass Kaufleute uns respektieren und Diebe uns fürchten. Mit der Hilfe der Pentadrianer kann uns das gelingen.«

Der König musterte seine Tochter mit großen Augen, aber Etim konnte nicht erkennen, ob dahinter Erstaunen oder Widerwille stand. Einen Moment später wandte der König den Blick ab. Er rieb sich das Kinn, dann sah er zu Etim hinüber.

»Was hältst du von diesen Pentadrianern, Krieger?«

Etim sann darüber nach, wie er am besten antworten sollte. »Ich wäre lieber ihr Freund als ihr Feind«, erwiderte er aufrichtig.

Ein schwaches Lächeln glitt über die Züge des Königs.

Imi kicherte. »Und genauso sollen die Menschen in Zukunft von uns denken.«

»Und in der Zwischenzeit müssen wir diesen pentadrianischen Landgehern vertrauen«, bemerkte der König säuerlich.

Imi zuckte die Achseln. »Nicht einmal sie können uns daran hindern, Löcher in den Rumpf ihrer Schiffe zu bohren.«

Die Augenbrauen des Königs zuckten in die Höhe. Etim konnte sich geirrt haben, aber er glaubte, in den Augen des Monarchen einen Funken von Interesse bemerkt zu haben. Imi streckte die Hand aus und berührte ihren Vater noch einmal kurz am Arm.

»Hast du meinen Vorschlag erwogen?«, fragte sie leise. »Hast du all die Bedingungen aufgelistet, die du an einen Bündnisvertrag knüpfen würdest?«

»Sie werden nicht damit einverstanden sein«, erwiderte er.

»Vielleicht nicht«, stimmte sie ihm zu. »Aber das wirst du erst wissen, nachdem du sie gefragt hast.«

Der König sah sie an, atmete tief durch und blickte dann zu Etim hinüber. »Bring mir den Ersten Krieger.«

Etim, der sich fragte, ob er soeben einen großen Wendepunkt in der Geschichte der Elai miterlebt hatte, eilte aus dem Raum.

46

Unfug, Owaya fliegen?« Auraya sah den Veez an, der hoffnungsvoll ihr Bündel untersuchte.

»Ja, Unfug. Auraya und Unfug fliegen… nach Jarime.« Sie war im Begriff gewesen, »nach Hause« zu sagen, aber die Worte kamen ihr nicht richtig vor. Sie hatte nicht länger das Gefühl, dass Jarime ihr Zuhause war.

Seufzend setzte sie sich und tätschelte den Veez. Sirri war entsetzt gewesen, als sie gehört hatte, dass Auraya fortging. Ohne meine Hilfe werden viele, viele Siyee sterben, dachte sie. Aber wenn die Götter mir stattdessen die Gabe des Fluges genommen hätten, hätte ich die entlegeneren Dörfer ohnehin nicht erreichen können.

Sie hatte erwartet, dass die Strafe der Götter, worin auch immer sie bestehen mochte, ausgesetzt werden würde, bis sie die Krankheit in Si unter Kontrolle hatten. Indem die Götter sie jetzt nach Jarime schickten, bestraften sie auch die Siyee für ihren Ungehorsam. Das war ungerecht. Sogar grausam. Aurayas Stimmung verdüsterte sich. Vielleicht hatte Mirar recht, was die Götter betraf …

Es war eine Ironie des Schicksals: Indem sie Mirar überredet hatte, sie seine heilende Gabe zu lehren, hatte sie dafür gesorgt, dass die beiden einzigen Menschen, die den Siyee helfen konnten, das Land verlassen mussten.

Im Geist hörte sie noch einmal Mirars Worte. »Komm mit mir. Wir werden Ithania verlassen und zu den fernen Kontinenten reisen.«

Was er vorgeschlagen hatte, war absurd. Es bedeutete, dass sie die Siyee hätte im Stich lassen müssen. Sie blickte auf den Ring an ihrem Finger hinab und lächelte schief. Selbst wenn man ihr befohlen hätte, alles aufzugeben, wofür der Ring stand – ihre Position, ihre Macht, die Fähigkeit des Fliegens, ihre Unsterblichkeit -, hätte sie es trotzdem vorgezogen, in Si zu bleiben und den Menschen zu helfen.

Sie blickte auf und betrachtete die Ansammlung von Gegenständen auf dem Tisch. Sobald sich die Neuigkeit von ihrer Abreise verbreitet hatte, waren die ersten Geschenke gekommen. Sie konnte nicht alles mitnehmen; ihr Bündel war nicht groß genug dafür, selbst ohne einen Veez, der die Hälfte des Platzes beanspruchte. Aber sie wollte ihr Zimmer im Turm mit Dingen füllen, die die Siyee angefertigt hatten, so dass die anderen Weißen bei jedem ihrer Besuche dort an das Schicksal der Siyee erinnert werden würden.

Sie überließ die Siyee nicht nur der Herzzehre, sondern auch den Pentadrianern. Wenn sie abermals versuchten, hier zu landen, würde keiner der anderen Weißen rechtzeitig herkommen können, um zu helfen. Und welchen Nutzen hätte ich ohne die Gabe des Fluges oder Kräfte, die von den Göttern verstärkt würden? Sie verzog das Gesicht. Wenn ich ein Schiff hätte, könnten wir die Stelle, an der die Pentadrianer landen, ziemlich schnell erreichen. Vielleicht würde mein Ruf sie abschrecken.

Es war eine große Versuchung. Vielleicht würde sie den Siyee helfen können, wenn sie, sobald sie die ersten Anzeichen der Krankheit zeigten, zu ihr fliegen würden. Sie könnte im Dorf des Sandstamms ein Haus einrichten, in dem sie Kranke heilte. Vielleicht würden einige Siyee in der Lage sein, Mirars heilende Gabe zu erlernen.

Dann sanken ihre Schultern plötzlich ein wenig herab. Sie war sich nicht sicher, ob sie Mirars Gabe noch immer besitzen würde, wenn sie den Ring der Götter ablegte. Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie ihn ablegen konnte, ohne dass etwas Schreckliches geschah.

Vielleicht sollte ich Chaia fragen, sagte eine dunkle, leise Stimme tief in ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und ging zum Tisch hinüber. Es ist absurd, ging es ihr durch den Kopf. Ich werde weder den Ring ablegen, noch mich von den Göttern abwenden. Ich muss ihr Urteil akzeptieren. Ich werde das Beste daraus machen.

In Jarime konnte sie Mirars Gabe an andere weitergeben. Es mussten sich doch Heilerpriester finden lassen, die dazu in der Lage waren. Vielleicht konnten die Siyee, die dem Tempel beitraten, diese Fähigkeit in ihre Heimat zurückbringen. Es würde zwar zu spät sein, um die meisten Siyee vor der Herzzehre zu retten, aber vielleicht würde es ein wenig dazu beitragen, dass sie ihr verziehen, dass sie sie im Stich gelassen hatte.

Was sie, wie sie hoffte, tun würden. Es würde ihr das Herz brechen, wenn sie in zehn Jahren würde feststellen müssen, dass sie in Si nicht länger willkommen war.


Jemand schrie. Nein – es waren viele Menschen, die schrien. Ihr Wehklagen klang auf eine beinahe komische Weise melodramatisch. Mirar versuchte, beunruhigt zu sein, machte sich aber nur Sorgen, dass er keine Beunruhigung verspüren konnte.

Mirar?

Emerahl? Machst du diesen Lärm? Das ist sehr irritierend.

Welchen Lärm meinst du?

Diesen Lärm.

Oh. Das. Du träumst.

Er hielt inne, um nachzudenken.

Wenn ich das tue, träume ich dich dann auch?

Nein. Ich versuche, mich mit dir zu vernetzen. Sieh zu, dass du dich unter Kontrolle bekommst, Traumweber.

Kontrolle. Natürlich. Er konzentrierte seine Willenskraft auf den Traum, und sofort klangen die Schreie gedämpfter. Allerdings hätten sie eigentlich ganz verstummen müssen. Dann fiel es ihm wieder ein.

Es ist der Schneesturm, erklärte er Emerahl. Der Lärm des Windes muss so laut sein, dass mein Geist nicht umhin kann, ihn wahrzunehmen, selbst im Traum.

Wie schön für dich.

Ja. Wie geht es dir?

Ich habe die Roten Höhlen erreicht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich habe meinen Gastgebern alles über dich erzählt. Sie sind sehr beeindruckt davon, dass es dir ein Jahrhundert lang gelungen ist, deine Identität zu ändern.

Ein Stich der Furcht durchzuckte Mirar. Das hatte sie ihnen erzählt? Was hatte sie sonst noch verraten?

Ob es mir etwas ausmacht?, erwiderte er. Nun, das kommt darauf an, wer deine Gastgeber sind.

Die Zwillinge.

Die Überraschung riss ihn um ein Haar aus dem Traumzustand heraus.

Ist das wahr?

Ja. Bist du ihnen jemals begegnet?

Einmal, vor langer Zeit. Etwa fünfzig Jahre bevor Juran auserwählt wurde, haben die beiden mich gewarnt, dass den Traumwebern während des nächsten Jahrhunderts schlimme Zeiten bevorstünden. Ich habe ihnen nicht geglaubt.

Sie sagen, sie könnten Regelmäßigkeiten im Gang der Welt erkennen. Sie schöpfen ständig die Gedanken Sterblicher ab und beobachten die Ausbreitung von Ideen. Sie meinen, das menschliche Verhalten sei die meiste Zeit ziemlich leicht vorauszusagen.

Nun, sie schöpfen auch schon sehr lange Gedanken ab, rief er ihr ins Gedächtnis. Ich habe schon wenige hundert Jahre, nachdem ich unsterblich geworden war, Gerüchte über ihre Existenz gehört.

Oh, sie sind erheblich älter, entgegnete sie. Sie haben viele, viele Jahrhunderte lang Sterbliche beobachtet, bevor sie gelernt haben, die Muster in ihrem Verhalten zu erkennen, und für ihre Voraussagen berühmt wurden.

Was sehen sie denn für die nächste Zukunft voraus?, fragte er.

Da sind sie sich nicht einig. Surim glaubt, es stehe eine große Veränderung bevor. Tamun hält das nicht für wahrscheinlich, so kurz nach dem Aufkommen der Zirkler und der Pentadrianer. Und auch das ist interessant. Sie sagen, die beiden Religionen seien gleichzeitig entstanden und gewachsen. Surim denkt, es stecke nicht mehr dahinter als mächtige Glaubensvorstellungen, die aufgekommen sind, um die Leere zu füllen, die nach dem Sterben so vieler Götter in der Welt entstanden ist. Tamun vermutet, dass mehr dahintersteckt – dass die Religionen miteinander verbunden sind.

Wissen die beiden, ob die pentadrianischen Götter real sind?

Sie sind real. Es gibt zu viele pentadrianische Gläubige, die sich an Begegnungen mit ihren Göttern erinnern können, als dass diese nicht real sein könnten. Niemand weiß jedoch, woher diese Götter gekommen sind. Sie unterscheiden sich insofern von den zirklischen Göttern, als dass sie selten vor Sterblichen erscheinen. Sie mischen sich nicht gern allzu sehr in die Angelegenheiten ihrer Anhänger ein.

Außer um ihnen zu befehlen, Nordithania zu überfallen?

Die Zwillinge glauben, das sei die Entscheidung des früheren Anführers gewesen, Kuar.

Interessant. Mir gefällt die Vorstellung von Göttern, die sich nicht einmischen, aber wenn das Ergebnis so aussieht, dass Sterbliche dergleichen Entscheidungen treffen

Erzähl mir nicht, du hättest deine Meinung geändert und dächtest, wir seien mit Göttern besser dran als ohne.

Nein. Niemals. Aber auch Sterbliche können erstaunlich dumme und grausame Entscheidungen treffen.

Selbst deine eigenen Anhänger?, fragte sie.

Natürlich nicht. Traumweber sind ohne Fehl vernünftig.

Ha!

Nun ja, die meisten.

Hast du dich mit der Traumweberältesten Arleej in Verbindung gesetzt?

Ja, sagte er. Sie trifft die Vorkehrungen, die du vorgeschlagen hast.

Wie hat sie die Neuigkeiten, was dich betrifft, aufgenommen?

Sie war überrascht.

Ich bin davon überzeugt, dass sie mehr war als nur überrascht. Die Zwillinge haben mir etwas erzählt, das du interessant und in der Zukunft vielleicht sogar nützlich finden wirst. Es gibt noch mehr Leere Räume auf der Welt, die frei sind von jeder Magie. Die meisten sind für niemanden von Nutzen, aber es gibt einige an entlegenen Stellen, die sich für dich vielleicht gut als Versteck eignen würden.

Wissen die beiden, wie diese Leeren Räume entstanden sind?

Nein. Nur dass ein großes magisches Ereignis stattgefunden haben muss, um an einer bestimmten Stelle auf der Welt so viel Magie abzuziehen. Vor dem Krieg der Götter hatten sie noch nie etwas von diesem Phänomen gehört.

Der Krieg der Götter dürfte wohl als großes magisches Ereignis durchgehen, bemerkte Mirar.

Ja. Ich habe es immer für seltsam gehalten, dass ein Krieg zwischen solchen Wesen keine Auswirkungen auf die materielle Welt gehabt haben soll. Die einzige Veränderung für die Sterblichen bestand darin, dass die Götter nicht länger erschienen oder dass sie Gaben verloren, die ihre Götter ihnen geschenkt hatten.

Ich frage mich, ob die Leeren Räume für die Götter eine Gefahr darstellen. Sie sind schließlich Wesen aus reiner Magie.

Gefährlich würde es wohl nur sein, wenn sie in einen solchen Raum hineinstolperten, denke ich.

Ja. Ich frage mich, ob wir das nicht irgendwie arrangieren könnten.

Emerahls Erheiterung erreichte ihn in Form einer sanften Welle des Vergnügens.

Es ist still geworden, sagte sie plötzlich.

Mirar lauschte. Er brauchte einen Augenblick, um die Bedeutung der Stille zu begreifen. Das Tosen des Windes war verebbt. Entweder hatte sein Unterbewusstsein den Lärm endlich ausgeblendet, oder der Sturm hatte sich gelegt.

Ich sollte wohl besser aufwachen und meinen Gastgebern gegenüber höflich sein, bemerkte Emerahl. Ich wünsche dir noch eine gute Reise, Mirar.

Danke, erwiderte er und dachte an den trügerischen Schnee und die zerklüfteten Berge, die er noch überwinden musste.

Ihr Geist zog sich aus seinen Sinnen zurück. Er holte tief Luft und riss sich aus dem Traum heraus. Zu seiner Erleichterung hatte das Brüllen des Sturms tatsächlich ein Ende gefunden. Als er die Augen aufschlug, sah er nur Dunkelheit, daher zog er Magie in sich hinein und schuf einen Lichtfunken. Seine Erleichterung schlug in Entsetzen um.

Der gesamte Eingang zu der riesigen Höhle, in der er Zuflucht gesucht hatte, war von einer Wand aus Schnee versperrt.

Deshalb konnte er den Wind nicht mehr hören.

47

Einen Tag nachdem die Elai das Plündererschiff versenkt hatten, befahl Imenja dem Kapitän ihres Schiffs, in der Nähe einer Ansammlung kleiner Inseln anzulegen. Die Inseln bestanden aus kaum mehr als Felsen, aber im Meer ringsum gab es reiche Bestände von Bullenfischen. Die Inseln waren zu weit von Borra entfernt, als dass die Elai hier Nahrung beschaffen konnten, und für jemanden, der keine Magie besaß, wäre es überdies zu gefährlich gewesen, sich in diese Gewässer zu begeben. Imenja hatte sich bisher jeden Tag mit einigen tollkühnen Seeleuten hinausgewagt, um Bullenfische zu sammeln, und zwei Tage lang hatten sie sich an der Delikatesse gütlich getan.

Alle, bis auf Reivan. Unglücklicherweise war sie die Einzige an Bord, die diese Bullenfische nicht mochte. Einige der Seeleute aßen sie sogar lieber roh. Reivan drehte sich schon bei dem bloßen Gedanken daran der Magen um. Der Schiffskoch hatte Reivans Widerwillen jedoch als eine persönliche Herausforderung aufgefasst. Jeden Abend bereitete er die Tiere auf eine andere Weise zu und suchte nach einer Möglichkeit, Reivans Meinung diesbezüglich zu ändern. Unter Imenjas wachsamem Blick hatte Reivan die Bullenfische angebraten, geröstet, in Suppen und sogar zu einem Brei zerdrückt probiert, aber bei dem starken, durchdringend fischigen Geschmack musste sie jedes Mal würgen.

Sie wünschte sich sehnlichst, dass das Schiff weiterfahren würde, aber die kulinarischen Freuden waren nicht der einzige Grund, warum Imenja an diesem Ort verweilte. Die Zweite Stimme musste den Elai-Kriegern Zeit geben, in ihre Stadt zurückzukehren und dem König die Neuigkeiten zu überbringen. Anschließend musste dann noch ein Bote zu ihnen hinausschwimmen können – falls der König sich dafür entschied, einen auszuschicken.

»Ich denke, ich lerne, das Leben auf dem Meer langsam zu mögen«, sagte Imenja. »Vielleicht sollte ich darauf verzichten, die Welt zu beherrschen, und stattdessen Händlerin werden.«

Reivan drehte sich zu Imenja um. »Das würde für dich vermutlich keine große Veränderung bedeuten. Du würdest nach wie vor andere herumkommandieren und mit Menschen vieler Nationen verhandeln. Aber ich denke, ich ziehe die schlichten Annehmlichkeiten des Sanktuariums vor.«

»Dort hat man viel mehr Platz«, stimmte Imenja ihr zu.

»Und dort gibt es keine… oh nein. Jetzt geht das schon wieder los.«

Sie hatte den Koch entdeckt, der sich dem Pavillon näherte. Er hielt ein hölzernes, mit einer umgestülpten Schale bedecktes Brett in Händen.

Imenja kicherte. »Er versucht nur, dir einen Gefallen zu tun.«

»Bist du dir sicher, dass er nicht vielmehr danach trachtet, mich krank zu machen?«

Der Koch trat in den Pavillon, machte hastig über der Brust das Zeichen des Sterns und hob dann mit einer schwungvollen Gebärde die Schale von dem hölzernen Brett. Reivan seufzte.

Auf dem Brett lag eine flache irdene Schale mit Bullenfischen. Er hatte ihre Schalen entfernt und sie dann gedünstet. Ein köstlicher Geruch von Kräutern drang an Reivans Nase, was ihr jedoch wenig Hoffnung machte, dass sie das Gericht mögen würde.

Der Koch hielt ihr eine Gabel hin. »Koste.«

Reivan schüttelte den Kopf.

»Koste einfach davon, Reivan«, sagte Imenja im Tonfall eines Menschen, der kein Nein als Antwort akzeptieren würde.

Seufzend griff Reivan nach der Gabel und spießte eins der schleimig aussehenden Wesen auf. Sie beäugte den Bissen schicksalsergeben und zwang sich, ihn in den Mund zu stecken.

Der übelkeiterregende Geschmack, den sie erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen kostete sie ein mildes Aroma, angereichert mit wohlriechenden Kräutern. Überrascht kaute sie vorsichtig, davon überzeugt, dass der Geschmack, den sie verabscheute, sich daraufhin entwickeln würde. Es geschah jedoch nichts dergleichen, und sie schluckte beinahe widerstrebend.

Der Koch grinste. »Es schmeckt dir.«

Sie nickte. »Es ist besser. Viel besser.«

»Wirklich?« Imenja nahm Reivan die Gabel ab und spießte einen Bissen von dem Brett auf. Sie schob ihn in den Mund und kaute, und ihre Augen weiteten sich. »Es ist wahr. Das Aroma ist raffiniert und köstlich. Du hast die Bullenfische gedämpft?«

Der Koch nickte.

»Merk dir, was du getan hast«, sagte sie. »Ich frage mich, ob wir Bullenfisch nach Hause transportieren können, um…«

Plötzlich veränderte sich ihre Miene. Mit gefurchter Stirn scheuchte sie den Koch weg, erhob sich und trat aus dem Pavillon. Reivan folgte ihrer Herrin, die zur Reling des Schiffes hinüberging und aufs Meer hinausstarrte.

»Ich glaube, wir werden gleich Besuch vom Meeresvolk erhalten«, murmelte sie. »Ja. Dort.«

Sie streckte die Hand aus und zeigte auf die Stelle, die sie meinte. Das Wasser war durchzogen von schwarzen Schatten und dem roten Licht der untergehenden Sonne, die sich auf der Oberfläche spiegelte. Reivan bemerkte jetzt einen kopfgroßen Gegenstand, der sich in den Wellen auf und ab bewegte. Einen Moment später war er verschwunden. Sie hielt nach weiteren Spuren von Elai aus, doch vergeblich.

»Wirf ein Seil aus«, befahl Imenja einem Seemann, der in der Nähe stand. Er beeilte sich, ihr zu gehorchen. Während das Seil auslief, spähte Reivan über die Reling.

Ein Kopf erschien, und zwei milchige Augen schauten zu ihnen auf. Die inneren Augenlider des Elai-Kriegers glitten zurück. Er griff nach dem Seil und begann hinaufzuklettern.

An der Reling angelangt, hielt er inne und musterte die Mannschaft mit offenkundigem Unbehagen. Er war älter als die Elai-Krieger, die das Schiff versenkt hatten. Als Imenja vortrat, um ihn willkommen zu heißen, drehte er sich mit ernster Miene zu ihr um.

»Ich bin gekommen, um euch eine Nachricht zu überbringen«, erklärte er. »König Ais, der Herrscher über Borra und die Elai, lädt die Zweite Stimme Imenja, Dienerin der pentadrianischen Götter, ein, folgenden Vorschlag zu überdenken.«

Er sprach langsam und bedächtig und hatte die Nachricht des Königs offenkundig auswendig gelernt. Als Reivan klar wurde, dass dies ein Vorschlag für ein Bündnis war, musste sie ein triumphierendes Lächeln unterdrücken.

»Der König schlägt vor, dass sein Volk und eures in Zukunft miteinander Handel treiben, aber nicht auf den Inseln von Borra. Inseln, die einige Tagesreisen von Borra entfernt liegen, könnten dafür in Frage kommen, sofern sie nicht von Plünderern besetzt sind. Als Gegenleistung für eure Hilfe bei der Verteidigung der Elai wird König Ais die Pentadrianer seinerseits bei dem Kampf gegen die Seeräuber unterstützen, aber nur, wenn das Risiko für seine Krieger nicht zu groß ist. Alle Wertgegenstände, die von Plündererschiffen geborgen werden, würden das Eigentum des Königs sein. Auch die Ausbildung der Elai im Kampf, in der Magie oder in der Errichtung von Verteidigungsanlagen würde fern von Borra stattfinden.«

Imenja nickte. »Liege ich richtig mit der Annahme, dass auch die Unterzeichnung eines Bündnisvertrages auf einer dieser entlegenen Inseln stattfinden würde?«

Der Bote nickte. Imenja wandte den Blick ab, als dächte sie nach.

Was sagst du dazu, Reivan?

Ich denke, dies ist das einzige Angebot, das wir bekommen werden. Es wird keine Diskussion über diese Bedingungen geben. Sollten wir einen Versuch in dieser Richtung unternehmen, werden wir nicht wieder von ihm hören.

Und was ist mit den Bedingungen?

Der einzige Teil, der unvernünftig klingt, ist der, dass ihnen die gesamte Beute zusteht. Sie würden bald darauf kommen, dass sie mehr Beute machen können, indem sie abwarten, bis ein Handelsschiff angegriffen wurde.

Imenja wandte sich wieder dem Boten zu. »Ich stimme im Namen meines Volkes diesen Bedingungen zu. Wenn du mir die Lage der Inseln beschreibst, von denen du gesprochen hast, werden wir morgen dorthin segeln.«

Der Bote wirkte überrascht, aber durchaus erfreut. Er beschrieb ihr den Weg, verneigte sich respektvoll, verabschiedete sich und trat an den Rand des Schiffes. Im Gegensatz zu den jüngeren Kriegern, die ins Wasser gesprungen waren, kletterte er vorsichtig hinunter und glitt fast ohne einen Spritzer in die See.

Imenja winkte Reivan zu sich heran. »Du befürchtest immer noch, dass sie eines Tages die Plünderer als die größte Gefahr für Handelsschiffe in diesen Gewässern ersetzen werden«, sagte sie leise. »Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Ich werde dafür sorgen, dass sie sich ein solches Tun gründlich überlegen.«


Etwas Warmes schmiegte sich zwischen Aurayas Schultern. Nach langen Stunden des Fliegens hatte Unfug angefangen, sich zu langweilen, doch er verstand – vielleicht instinktiv -, dass er den Schutz ihres Bündels nicht verlassen durfte. Stattdessen tat er etwas, worum sie ihn beneidete: Er schlief.

Die nächtliche Landschaft unter ihr zierte sich, Einzelheiten preiszugeben. Verschiedene Schattierungen von Dunkelheit kennzeichneten verschiedene Gebiete: Wälder waren dunkler als Felder, und Wasser war noch schwärzer. Von Zeit zu Zeit fand der Mond eine Lücke in den Wolken, und Auraya konnte Straßen und Häuser ausmachen.

Jetzt bemerkte sie etwas Ungewöhnliches am Boden. Eine Störung im natürlichen Muster, dort, wo Land und Wasser aufeinandertrafen. Als der Mond die Welt abermals in Licht tauchte, wurden harte Kanten und ein Durcheinander sich schneidender Linien sichtbar. Zwei Gebäude fingen das Licht auf und schienen es zurückzuwerfen. Die Kuppel leuchtete wie ein zweiter Mond, halb vergraben im Boden. Der Weiße Turm reckte sich wie ein anklagender Finger gen Himmel.

Als Auraya sich dem Turm zuwandte, dachte sie einmal mehr über den Empfang nach, der ihr dort vielleicht zuteilwerden würde. Würden alle vier Weißen sie dort treffen? Würden sie mitfühlend oder wütend sein? Würden sie von ihr erwarten, dass sie sich entschuldigte oder Erklärungen abgab? Während sie sich langsam hinabsinken ließ, machte sie sich auf eine Begegnung gefasst, die wahrscheinlich peinlich, wenn nicht sogar unerfreulich sein würde.

Als ihre Füße das Dach berührten, wurde ihre Umgebung mit einem Mal dunkler. Als sie aufblickte, sah sie, dass die Wolken sich wieder vor den Mond geschoben hatten. Niemand kam herbei, um sie zu begrüßen. Sie wartete mehrere Herzschläge lang ab, dann lachte sie leise.

Ich habe angenommen, die Götter würden Juran wissen lassen, dass ich komme. Aber anscheinend haben sie es nicht getan. Sie ging zur Tür hinüber und war selbst erheitert über sich, dass sie tatsächlich eine schwache Enttäuschung empfand. Vielleicht warten sie ja im Innern des Gebäudes auf mich oder in meinem Zimmer.

Sie trat durch die Tür des Daches und zog sie leise hinter sich zu. Auf dem Weg die Treppe hinunter begegnete sie niemandem – nicht einmal einem Diener. Als sie die Tür zu ihrem Quartier erreichte, hielt sie inne, um zu lauschen, doch sie konnte nichts hören. Schließlich öffnete sie die Tür. Ihre Räume waren düster und leer.

Sie legte ihr Bündel beiseite und schuf einen Lichtfunken. Ein schläfriger Unfug kam herausgekrochen. Er blinzelte sie an, dann sprang er auf einen Stuhl und rollte sich zusammen. Sie tätschelte ihn und sah sich um.

Alles war noch genauso, wie sie es zurückgelassen hatte, doch es fühlte sich nicht mehr so an wie früher. Die vertraute Umgebung erfüllte sie nicht mit Freude. Während sie von einem Raum zum nächsten ging, fragte sie sich, ob ihre mangelnde Erleichterung über ihre Heimkehr daran lag, dass dies für das nächste Jahrzehnt so etwas wie ein Gefängnis sein würde.

Sie setzte sich auf die Kante ihres Bettes und drehte den Ring an ihrem Finger.

Während ihres langes Fluges, einer Zeit, da nichts sie abgelenkt hatte, hatte sie viel Zeit mit Nachdenken verbracht. Zuerst hatte sie sich klargemacht, dass es keinen Sinn hatte, sich wegen ihrer Zukunft zu grämen. Es war alles geregelt, und sie konnte nichts tun, um etwas daran zu ändern. Aber etwas nagte an ihr, und schließlich hatte sie sich eingestanden, dass sie tatsächlich Alternativen hatte, auch wenn diese töricht oder lächerlich waren. Sie begann sie zu beleuchten und die Konsequenzen abzuwägen, um sich davon zu überzeugen, dass diese Möglichkeiten für sie nicht in Frage kamen.

Als sie Jarime erreicht hatte, war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass einige dieser Alternativen nicht gar so töricht waren, wie sie zuerst gedacht hatte. Dass sie, wenn sie sich für diese Möglichkeiten entschied, glücklicher oder zumindest für die Welt nützlicher sein würde.

Gleichzeitig machten diese Möglichkeiten ihr Angst. Sie hatte den Vorsatz gefasst zu schlafen, bevor sie irgendeine Entscheidung traf. Und es gab noch etwas, das sie wissen musste.

Sie legte sich auf ihr Bett und ließ sich langsam in Richtung Schlaf sinken. Als sie glaubte, der richtige Zeitpunkt sei gekommen, sprach sie einen Namen.

Mirar!

Es folgte ein langes Schweigen, dann antwortete eine vertraute Gedankenstimme.

Auraya? Bist du das wirklich?

Ja. Ich habe eine Frage an dich.

Ja?

Werde ich in der Lage sein, deine heilende Gabe auch andere zu lehren?

Nur unter seltenen Umständen.

Welchen Umständen?

Er antwortete nicht.

Mirar?

Haben die Götter schon über eine Strafe für dich entschieden?, fragte er.

Ja.

Wie lautet ihr Urteil?

Sie zögerte. Wenn er auch nur die mindeste Absicht hatte, Ärger zu machen, würde das Wissen, dass sie Jarime nicht mehr verlassen durfte, ihn vielleicht dazu ermutigen.

Das geht dich nichts an, erwiderte sie.

Ach nein? Betrachte es als einen Austausch von Informationen. Ich werde dir die Umstände erklären, die das Unterrichten des magischen Heilens begrenzen. Im Gegenzug sagst du mir, welche Strafe die Götter über dich verhängt haben.

Sie war verärgert, doch sie drängte diese Regung beiseite. Sie konnte zumindest einen Teil der Wahrheit preisgeben.

Sie haben mich nach Jarime zurückgeschickt.

Ah. Dann stehen die Siyee jetzt also ohne Heiler da, was deine Frage erklärt, wie man andere unterrichten kann. Sie haben dich bestraft, indem sie die Siyee bestrafen. Ich nehme an, sie hatten sonst nicht viel anderes, das sie dir hätten nehmen können.

Du hast nicht erwartet, dass sie mir die Gabe des Fliegens nehmen würden?

Nein. Seit dem Tag, an dem ich dich im Heilen unterwiesen habe, habe ich den Verdacht, dass diese Fähigkeit deine eigene ist. Jetzt bin ich mir dessen sicher.

Ein Frösteln überlief sie.

Wie meinst du das?

Du warst bereits eine mächtige Zauberin, als du den Zirklern beigetreten bist. Ich habe schon lange zuvor das Potenzial in dir gesehen. Kommt es dir nicht eigenartig vor, dass den anderen Weißen diese Fähigkeit nicht geschenkt wurde?

Ja, aber ihnen war es auch nicht bestimmt, nach Si zu gehen.

Ach nein? Du hast deine Fähigkeit selbst entdeckt. Wenn die Götter sie dir bestimmt hätten, damit du dich mit den Siyee anfreunden kannst, hätten sie dir diese Gabe dann nicht in einer Zeremonie verliehen, mit großem Pomp und Trara, so dass die Leute sie dafür hätten bewundern können?

Aber wenn Juran über größere Gaben verfügt als ich, dann könnte er es doch gewiss erlernen.

Hast du versucht, es ihm beizubringen?

Sie hielt inne. Jurans Bemühungen waren fruchtlos geblieben.

Das würde ja bedeuten, dass ich über größere Gaben – größere Stärke – verfüge als er!

Nicht wenn die Götter dich zurückhalten. Sie haben dich an die dritte Stelle gesetzt, aber da irgendwann erste Zeichen darauf hinwiesen, dass du über die Grenzen deiner Position hinauswächst, mussten sie dich unterdrücken.

Woher weißt du das?, verlangte sie zu erfahren.

Ich weiß es gar nicht. Ich vermute. Aber ich weiß sehr wohl, dass du stärker bist, als du glaubst. Stärker, als die Götter es beabsichtigt hatten. Ich habe es an dem Tag gespürt, an dem du versucht hast, mich zu töten.

Auraya durchzuckte ein Stich der Verärgerung.

Du hast meine Frage nicht beantwortet. Welche Umstände werden mich daran hindern, andere in deine heilende Gabe einzuführen?

Er hielt inne, bevor er antwortete.

Nur mit mächtigen Gaben gesegnete Zauberer werden in der Lage sein, sie zu erlernen. Vielleicht können die anderen Weißen es, vielleicht auch nicht.

Mutlosigkeit machte sich in ihr breit. Es würden keine Priester oder Siyee zurückkehren, um gegen die Herzzehre zu kämpfen.

Welche anderen Umstände gibt es noch?

Habe ich behauptet, es gäbe noch mehr?

Du hast im Plural gesprochen.

Das ist wahr. Da wäre noch dies: Wenn es dir gelingt, jemanden zu finden, dessen Gaben stark genug sind, um meine heilende Methode zu lernen, könnten die Götter den Betreffenden töten lassen. Erinnere dich, dass Huan sagte, es sei verboten.

Warum?

Das kann ich dir nicht sagen.

Kannst du nicht oder willst du nicht?

Ich will nicht.

Warum nicht?

Auch das kann ich dir nicht erzählen.

Sie spürte, wie ihre Ungeduld wuchs, und holte tief Luft.

Also, warum töten sie mich nicht?

Du bist eine Weiße.

Und wenn ich keine wäre, würden sie mich töten?

Ja. Oder vielleicht auch nicht. Das hängt davon ab, ob du die Zeit meinst, bevor du eine Weiße wurdest, oder eine Zeit, da du keine Weiße mehr sein wirst. Als du noch keine Weiße warst, hätten sie dich getötet.

Und wenn ich eine ehemalige Weiße wäre, dann nicht?

Ich bin mir nicht sicher. Denkst du daran, dein Amt niederzulegen?

Sie hielt inne, denn sie wusste, dass er die Lüge spüren würde, wenn sie es bestritt.

Denn wenn du das tust, fuhr er fort, könnten die Götter so wütend sein, dass sie dich trotzdem töten werden. Nicht dass es ihnen leichtfallen würde, jemanden zu töten, der so mächtig ist. Du könntest ihnen entkommen. Aber ich weiß, wie es ist, wenn man von den Göttern gejagt und verachtet wird. Dieses Leben würdest du nicht wollen, Auraya.

Nein, sagte sie. Ich habe nicht die Absicht, mich zu einer Feindin der Götter zu machen. Danke, dass du meine Fragen beantwortet hast, Mirar, wenn auch nicht erschöpfend.

Ich habe deine Fragen so erschöpfend beantwortet, wie du die meinen, erwiderte er. Viel Glück.

Als er die Verbindung abbrach, seufzte sie. Er ist zu gerissen. Aber gerissen oder nicht, er weiß nicht alles.

Allerdings wusste er vieles, das sie selbst nicht wusste. Sie hatte einige Dinge in ihrem Gespräch erfahren, obwohl sie noch darüber befinden musste, ob seine Behauptungen der Wahrheit entsprachen oder nicht. Es war unwahrscheinlich, dass sie vor dem Morgen viel Schlaf bekommen würde.

Doch als Unfug sachte auf das Bett sprang und sich neben ihr zusammenrollte, hatte sie die Reise vom Wachen zum Schlafen bereits angetreten.


Imi stieg in ihr Schlafbecken und bespritzte ihren Körper. Als das kühle Wasser ihre Haut besänftigte, seufzte sie vor Erleichterung.

Wie macht Vater das nur? Er hat zugehört, während dieser Kaufmann stundenlang geschwatzt hat, und dann hat er noch das endlose Gejammer der Weberin über sich ergehen lassen.

Als Imi ihren Vater gefragt hatte, ob sie bei ihm sitzen dürfe, während er sich um die Bitten, die Einwände und die Berichte kümmerte, mit denen die Leute sich an ihn wandten, hatte er zugestimmt, aber nur unter der Bedingung, dass sie ebenso lange bleiben würde wie er. Sie hatte bald entdeckt, dass er jeden Tag deutlich mehr Stunden auf dieses Tun verwandte, als sie erwartet hatte, und dass es die meiste Zeit furchtbar langweilig war.

Ihr Vater hatte, so argwöhnte sie, darauf bestanden, dass sie die ganze Zeit über an seiner Seite blieb, damit sie das Interesse verlor und keinen weiteren Versuch in diese Richtung unternehmen würde. Er prüfte ihre Entschlossenheit. Oder vielleicht wollte er auch nur, dass sie langsam lernte, wie das Königreich geführt wurde. Dieser Gedanke erfüllte sie gleichzeitig mit Furcht und mit Vorfreude. Und mit Kummer, denn der Tag, an dem sie die Herrschaft über Borra übernehmen würde, würde der Tag sein, an dem ihr Vater starb.

Ihre Entschlossenheit war nicht ins Wanken geraten, und zu guter Letzt war sie für ihr Durchhaltevermögen belohnt worden. Eines hatte sie während der letzten Zeit begriffen: Viele Händler und Krieger und sogar einige der Höflinge hätten von einem Bündnis mit den Pentadrianern viel zu gewinnen, und sie hatte ihren Vater darauf hingewiesen, wann immer er sie nach ihrer Meinung über einen Besucher gefragt hatte. Als ihr Vater beschlossen hatte, den Boten zu den Pentadrianern zu schicken, hatte ihr Herz über diesen Sieg jubiliert.

Jetzt, da sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, stiegen langsam Zweifel in ihr auf, die ihre Zuversicht beeinträchtigten. Imi stieg aus dem Becken und begann im Raum auf und ab zu laufen.

Was war, wenn die Pentadrianer sich nicht als vertrauenswürdig erwiesen? Was, wenn sie zurückkamen und sich irgendwie einen Weg in die Stadt erzwangen? Was, wenn Elai getötet wurden und alles ihre Schuld wäre?

Imenja würde das nicht zulassen, sagte sie sich. Sie ist ein guter Mensch. Und sie besitzt mächtige Gaben. Niemand würde es wagen, ihr den Gehorsam zu verweigern.

Wenn Imi sich keine Sorgen um die Zukunft machte, die ihrem Volk durch ihre Einmischung bevorstand, machte sie sich Sorgen, dass überhaupt nichts dergleichen geschehen würde. Dass die Pentadrianer sich auf die Bedingungen ihres Vaters nicht einlassen würden. Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass die Elai nichts von Wert besaßen, das einen Handel mit ihnen rechtfertigte, oder dass die Elai zu schwach waren, um nützliche Verbündete abzugeben.

Selbst wenn das der Wahrheit entspräche, selbst wenn es nicht zu der Allianz kommen sollte, hat sich vieles für uns verändert.

Sie dachte an das Strahlen in den Augen der Krieger, die das Plündererschiff versenkt hatten. Vater wird sie nicht ohne weiteres davon abhalten können, das noch einmal zu versuchen. Oder andere Möglichkeiten zu ersinnen, um den Seeräubern Schaden zuzufügen. Er kann es ihnen verbieten, aber es würde ihnen nicht gefallen. Sie runzelte die Stirn. Ist das der einzige Grund, warum er den Boten ausgeschickt hat? Fürchtet er, die Leute würden ihm grollen oder sich sogar gegen ihn wenden, wenn er ihnen diese Chance verweigert zurückzuschlagen? Hatte er das Gefühl, keine Wahl zu haben? Ist das meine Schuld?

Nein, sagte sie sich. Selbst wenn er denkt, er müsse den Kriegern nachgeben, braucht er sich deswegen noch lange nicht auf die Pentadrianer einzulassen. Wir brauchen sie nicht, um gegen die Seeräuber zu kämpfen.

Aber wenn die Seeräuber sich als ein zu mächtiger Feind erweisen sollten, würden die Elai einen Verbündeten wie die Pentadrianer benötigen, der ihnen half.

Wenn dies. Wenn das. So viele Wenns.

Es klopfte an der Tür. Imi sah zu, wie Teiti aus ihrem Zimmer kam, um zu öffnen. Als Rissi an ihrer Tante vorbeitrat, seufzte sie vor Erleichterung.

»Hallo, Prinzessin.«

»Rissi«, erwiderte sie. Dies war eine willkommene Ablenkung. Sie fragte sich, ob er wohl lange bleiben konnte. Vielleicht konnten sie ein Tischspiel miteinander spielen. Ihr war alles recht, solange sie nur nicht an ihre Sorgen denken musste. Sie führte ihn zu einigen Stühlen hinüber. »Teiti, könntest du uns etwas zu trinken schicken lassen? Vielleicht auch etwas zu essen?«

Ihre Tante musterte Rissi mit schmalen Augen, dann nickte sie und verließ den Raum. Als Imi sich setzte, nahm auch Rissi zaghaft Platz. An seinen Armen waren dunkle bläuliche Flecken.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte sie.

Er verzog das Gesicht. »Ich habe geübt.«

»Was hast du geübt?«

»Kämpfen.«

»Wozu das denn?« Sie runzelte die Stirn. »Ihr Jungen spielt doch nicht wieder Krieg, oder?«

Er grinste. »Nein. Ich und einige andere nehmen Unterricht in der Kriegskunst.«

»Oh.« Sie zuckte die Achseln. »Bist du nicht noch ein wenig jung dafür?«

Er machte ein finsteres Gesicht. »Nein.«

Sie biss sich auf die Lippen, als ihr klar wurde, dass sie ihn gekränkt hatte. Jungen waren so. Sie wollten älter wirken.

»Natürlich bist du nicht zu jung«, sagte sie entschuldigend. »Ist das etwas, das die Söhne aller Händler tun?«

Er wandte den Blick ab. »Wir müssen uns verteidigen können, wenn wir die Stadt verlassen.«

Sie sah ihn eindringlich an. Es steckte mehr hinter dieser Geschichte, das spürte sie. Er erwiderte ihren Blick, dann zuckte er die Achseln.

»Und außerdem will ich nicht Kaufmann werden. Ich will Krieger werden.«

Langsam trat Erschrecken an die Stelle ihrer Überraschung. Wenn er jetzt Krieger wurde, da die Krieger die Plünderer angreifen würden, könnte er dabei getötet werden. Und auch das wäre dann ihre Schuld.

»Der Erste Krieger hat mir versprochen, dass ich, sobald ich alt genug bin, einen Platz unter den Rekruten bekommen werde«, erklärte er. »Sofern ich die Prüfungen bestehe. Vater gefällt es nicht, aber er kann mich nicht aufhalten.«

»Warum?«, platzte Imi heraus.

Er breitete die Hände aus. »Weil er will, dass ich sein Geschäft übernehme.«

»Nein, ich meine, warum willst du Krieger werden?«

Er sah sie schweigend an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf seinen Zügen aus. »Weil, Prinzessin Imi, ich dich eines Tages heiraten werde.«

Teiti rettete sie vor der Notwendigkeit, sich eine Antwort auf diese Feststellung überlegen zu müssen. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde geöffnet, und ihre Tante kam hereingestürzt. Auf einer Hand balancierte sie ein Tablett mit Essen, und in der anderen hielt sie einen Krug. Sie stellte beides auf einen Tisch neben Imi und Rissi, dann richtete sie sich auf.

»Der König hat dir eine Nachricht geschickt, Prinzessin«, sagte Teiti. Wenn Rissi sie besuchte, benutzte sie stets und mit großem Nachdruck die königlichen Titel. »Der Bote ist von den Pentadrianern zurückgekehrt. Sie haben sich mit allen Bedingungen einverstanden erklärt.«

Imi sprang auf. »Wirklich! Das ist ja wunderbar. Ich muss sofort mit Vater reden!«

Und ohne auf Teitis Protest zu achten, dass sie ihnen soeben erst etwas zu essen gebracht habe, nutzte Imi die Gelegenheit zu fliehen.

Während sie durch den Palast eilte, blitzte Ärger in ihr auf. Ich müsste eigentlich überglücklich sein, aber das hat Rissi mir gründlich verdorben. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war noch nie im Leben so verlegen! Und wie kommt er bloß auf die Idee, dass er mich heiraten könnte, indem er Krieger wird?

Dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte es ihm erzählt. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Vater sie wahrscheinlich mit einem Mann von königlichem Geblüt verheiraten würde, es sei denn, er käme zu dem Schluss, dass ein Kriegerführer von hohem Rang frisches Blut in die Familie bringen würde.

Es dürfte eine Menge dazugehören, Vater zu beeindrucken, dachte sie. Aber er ist bereit, es zumindest zu versuchen.

Und das, so überlegte sie, war ziemlich schmeichelhaft. Würde irgendeiner ihrer Vettern, ihrer Vettern zweiten Grades oder ihrer entfernteren Verwandten das tun? Sie bezweifelte es.

Lächelnd verlangsamte sie ihren Schritt und widmete sich der Frage, wo ihr Vater zu finden sein würde.

48

Ah, da ist er«, sagte Tamun und blickte von ihrem Webstuhl auf, um sich zum Höhleneingang umzudrehen.

Emerahl sah Surim die Treppe heraufkommen. Um seinen Hals hing eine gewaltige Schlange, deren Körper so dick war wie sein Oberschenkel und so lang, dass er sich das Tier zweimal um die Schultern gelegt hatte. Er trug es in den Teil der Höhle, in dem sie ihre Mahlzeiten zubereiteten, dann streifte er es sich von den Schultern.

Er blickte zu Emerahl hinüber und grinste. »Das Abendessen. Wir werden es uns heute Abend gutgehen lassen.«

Emerahl betrachtete die Schlange voller Entsetzen.

»Das wird ein recht langweiliges Mahl werden, wenn das alles ist, was du mitgebracht hast«, erwiderte Tamun.

»Ich habe noch mehr«, verteidigte sich Surim. Er griff in einen gewebten Beutel, der zuvor unter dem Leib der Schlange verborgen gewesen war, und zog mehrere Dinge heraus, allesamt pflanzlichen Ursprungs, wie Emerahl erleichtert bemerkte. Sie betrachtete die Schlange, die reglos auf dem Boden lag.

»Hast du schon mal Takker gegessen?«, fragte Surim.

Emerahl riss den Blick von dem Reptil los. »Nein.«

»Sie sind köstlich«, erklärte er. »In der Beschaffenheit ähnlich wie Breem, aber ein wenig fleischiger im Geschmack.«

»Du hättest etwas Alltäglicheres mitbringen sollen«, sagte Tamun missbilligend. Sie sah Emerahl an und lächelte. »Du brauchst es nicht zu essen. Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns an diesen Ort angepasst hatten, aber wir haben uns an einige recht unübliche Ergänzungen unserer Kost gewöhnt. Du bist unser Gast, und…« Ihre Augen wurden schmal, als sie sich zu Surim umwandte. »Und man sollte nicht von dir erwarten, dass du dergleichen Dinge isst.«

Surim zog aufmüpfig die Augenbrauen hoch. »Nein, sie sollte mit besonderer Großzügigkeit behandelt werden. Und nur das Beste sollte gut genug für sie sein. Zum Beispiel seltene Leckerbissen wie geröstete Takker.«

»Ich werde sie probieren«, sagte Emerahl hastig und hoffte, auf diese Weise einem weiteren endlosen Streit zuvorzukommen. Es war nicht so, als wäre das Geplänkel der beiden in irgendeiner Weise verletzend, aber es konnte sich stundenlang hinziehen – und oft tat es das auch. »Und wenn das Takker-Fleisch mir nicht schmeckt, werde ich stattdessen mit Freuden das Gemüse essen.«

Surim lächelte breit. »Danke, Emerahl. Aber vielleicht möchtest du ja lieber hiervon kosten…«

Er holte aus dem Beutel eine Spinne, die mindestens doppelt so groß war wie seine Hand.

»Du machst dich über mich lustig«, sagte Emerahl.

»Das tut er tatsächlich«, brummte Tamun. »Hör auf damit, Surim.«

Er verzog das Gesicht. »Aber es macht so viel Spaß. Ich habe schon so lange niemanden mehr zum Spielen gehabt. Es ist nicht leicht, jemanden zu überlisten, der so alt ist wie du.«

Emerahl sah Tamun an. »Musst du das schon lange ertragen?«

»Seit fast zwei Jahrtausenden«, erwiderte sie gelassen. »Man sollte meinen, dass er nach all dieser Zeit begriffen hätte, dass seine Streiche nicht komisch sind. Es ist so, als würde man immer wieder und wieder denselben Witz erzählt bekommen. Manche würden es Folter nennen.«

»Nur weil ich alt bin, heißt das noch lange nicht, dass ich meinen Sinn für Humor verloren hätte«, entgegnete er. »Im Gegensatz zu manch anderen Leuten.«

»Ich amüsiere mich jeden Tag über dich«, sagte sie trocken.

Emerahl schüttelte den Kopf. »Ihr zwei hört niemals auf, wie?«

Surim grinste. »Keinen Augenblick lang. Nicht einmal nachdem wir uns voneinander getrennt hatten.«

Die Zwillinge hielten inne, um einander anzusehen, und in ihren Zügen lag ungeteilte Zuneigung. Emerahl blickte von einem zum anderen. Eine bestimmte Frage drängte sich ihr auf …

»Vor einem Jahrhundert«, sagte Tamun plötzlich, nachdem sie sich zu Emerahl umgewandt hatte. Ihre Miene war ernst. »Um der Entschlossenheit der Götter zu entgehen, die Welt von Unsterblichen zu befreien.«

Emerahl starrte sie entsetzt an. »Hast du soeben…?«

»Deine Gedanken gelesen? Nein.« Tamun zuckte die Achseln und wandte sich wieder ihrer Webarbeit zu. »Aber wir kennen diesen Gesichtsausdruck sehr gut.« Sie lächelte. »Keine Bange. Deine Neugier kränkt uns nicht. Frag nur.«

Emerahl nickte. »Wie konnte die Trennung euch retten?«

»Die Götter können, wie du inzwischen vielleicht bereits weißt, nicht ohne weiteres Einfluss auf die dingliche Welt nehmen«, erklärte Surim. Er hatte die Schlange inzwischen zu einem Tisch geschleift und nahm sie aus. »Sie müssen es durch einen Sterblichen tun, vorzugsweise jemanden, der über magische Gaben verfügt.«

»Also brauchen sie Priester und Priesterinnen, um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen«, fuhr Tamun fort. »Nachdem Juran Mirar getötet hatte, hat er sich auf die Suche nach uns Übrigen gemacht. Die Seherin war leicht zu finden…«

»Ich wette, das hat sie nicht vorhergesehen«, murmelte Surim.

»… und der Bauer ist überrascht worden. Wir haben zu spät von den Befehlen der Götter erfahren, um ihn zu warnen. Der einzige Unsterbliche, den wir warnen konnten, war die Möwe.«

»Er ist älter als wir alle«, sagte Surim und hielt in seiner Arbeit inne, um Emerahl in die Augen zu sehen. In seinen Zügen lag aufrichtiger Respekt.

»Ihn hat die Gewohnheit gerettet, ständig umherzuschweifen, seine Identität zu verbergen und sich den Anschein zu geben, nicht mehr zu sein als ein magerer Schiffsjunge.«

»Und die Menschen des Meeres schützen die ihren«, fügte Tamun hinzu.

»Wir dagegen waren beide wohlbekannt und besonders leicht zu erkennen. Natürlich haben wir versucht, uns zu verstecken – und für eine Weile ist uns das auch gelungen. Dann erklärten die Götter, dass Menschen wie wir ›Verirrungen der Natur‹ seien und bei der Geburt getrennt oder getötet werden müssten. Alle miteinander verbundenen Zwillinge aller Altersklassen wurden nach Jarime gebracht. Die meisten Versuche einer Trennung scheiterten.«

»Aber es gab auch einige Erfolge«, warf Tamun mit bewusster Munterkeit ein. »Oder zumindest haben wir den Leuten das erzählt. Die Tatsache, dass wir getrennt worden waren, ließ darauf schließen, dass Zirkler uns untersucht und akzeptabel gefunden haben mussten, daher konnten wir also unmöglich die berühmten Zwillinge sein.«

Emerahl zog die Brauen zusammen. »Diese verfluchten Götter.«

»Oh, du brauchst um unseretwillen nicht wütend zu sein«, sagte Tamun lächelnd. »Wir hatten schon immer vor, das zu tun. Wir haben nur nicht den Mut dazu aufgebracht. Was wäre, wenn es uns nicht gefiele? Was, wenn wir uns nicht wieder zusammenfügen könnten?«

»Wir bedauern nichts«, versicherte Surim Emerahl. »Und aus den damaligen Trennungen ist durchaus etwas Gutes erwachsen. Die Heilerpriester verstehen sich heute besser auf dergleichen Prozeduren, und es überleben mehr Kinder als früher.«

»Aber diejenigen, die sie töten…« Tamun runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Dafür hasse ich die Götter.«

»Unter anderem«, murmelte Surim.

Emerahl seufzte. »Ich hasse sie ebenfalls, obwohl sie mich lediglich dazu gezwungen haben, mich zu verstecken. Schlimmeres haben sie mir nicht angetan. Ich hasse sie vor allem wegen der Dinge, die sie Mirar angetan haben.« Emerahl seufzte abermals. »Wenn wir uns ihrer doch nur entledigen könnten.«

»Nun, sie können getötet werden«, sagte Tamun.

Emerahl starrte die Frau an. Tamun zuckte die Achseln. »Vor dem Krieg der Götter gab es viele Götter; danach gab es nur noch fünf.«

»Zehn jetzt«, korrigierte Surim sie.

Tamun beachtete ihn nicht. »Die Frage ist also die: Ist die Tötung eines Gottes etwas, das nur ein anderer Gott bewerkstelligen kann?«

»Und wenn es so ist, können wir einen Gott dann dazu überreden, bestechen oder erpressen, es für uns zu tun?« Surim kicherte. »Erzähl ihr von der Schriftrolle.«

»Ah, die Schriftrolle.« Tamun lächelte. »Während der letzten Jahrhunderte sind wir in den Gedanken Sterblicher gelegentlich auf Gerüchte über eine gewisse Schriftrolle gestoßen. Es heißt, sie enthalte die Geschichte des Krieges der Götter, die eine Göttin ihrer letzten Dienerin erzählte, bevor sie getötet wurde.«

Emerahls Herzschlag beschleunigte sich. »Wo ist diese Schriftrolle?«

»Das weiß niemand«, erwiderte Surim und riss dabei theatralisch die Augen auf.

»Aber gewisse Gelehrte in Südithania haben im Laufe der Jahre Hinweise darauf gesammelt und Nachforschungen angestellt. Von allen Menschen auf der Welt dürften sie diejenigen sein, die die Schriftrolle am ehesten finden könnten.«

»Es sei denn, jemand findet sie vor ihnen.«

Sowohl Surim als auch Tamun wandten sich zu ihr um, und beide sahen sie auf die gleiche erwartungsvolle, vielsagende Art und Weise an. Emerahl lachte.

»Wenn es darum geht, Andeutungen zu machen, seid ihr beide so feinfühlig wie ein dunwegischer Kriegshammer. Ihr wollt, dass ich die Schriftrolle finde.« Sie hielt inne, denn mit einem Mal stieg ihr ein köstlicher Duft in die Nase. »Ist das die Takker, die ich da rieche?«

Surim schnaubte. »Durchaus möglich.«

»Riecht gut.« Sie setzte sich ein wenig bequemer hin und drehte sich zu Tamun um. »Also, was könnt ihr mir sonst noch über diese Schriftrolle und die Gelehrten Südithanias erzählen?«


Die Insel lag weiter draußen im Meer als die Inseln von Borra. Mehrere felsige kleine Inseln zeigten den Weg dorthin, und jede einzelne davon erinnerte Reivan an winzige versunkene Berge. Als das Schiff nun in die geschützte Lagune segelte, die der König der Elai als ihren Treffpunkt ausgewählt hatte, wurde Reivan plötzlich klar, dass sie sich auf einen Krater zubewegten, der denen ähnelte, die sie in Avven gesehen hatte. Diese Inseln waren tatsächlich versunkene Berge. Wie Soldaten, die in Reih und Glied standen, erstreckte sich die Gebirgskette, die Nordithania teilte, nicht nur von Dunwegen bis nach Si, sondern auch bis in den Ozean hinein.

Die Lagune wurde von einem schmalen Strand gesäumt. In der Mitte stand eine kleine Schar dunkler Gestalten.

»Imi ist auch dort«, sagte Imenja.

Reivan lächelte. »Gut. Ich hatte gehofft, dass wir sie wiedersehen würden, bevor wir nach Hause zurückkehren. Und sei es auch nur, um uns davon zu überzeugen, dass sie gesund und munter ist.«

»Wir wissen, dass sie gesund und munter ist.«

»Ja, aber ich kann keine Gedanken lesen.«

»Glaubst du mir nicht?«

Reivan kicherte. »Natürlich tue ich das. Aber es ist anders. Es ist so, als bekomme man erzählt, dass etwas gut schmecke, ohne es jedoch selbst kosten zu können.«

Imenja sah Reivan von der Seite an. »Wie Bullenfisch?«

Reivan entschied, dass sie darauf nicht zu antworten brauchte. Sie deutete mit dem Kopf auf den Strand.

»Ist der König dort?«

»Ja.«

»Was hält er von alledem?«

»Er ist uns gegenüber noch immer argwöhnisch, aber er kann die Vorteile eines Bündnisses erkennen. Außerdem ist er sehr zufrieden mit sich, weil er die Bedingungen durchsetzen konnte, die er gestellt hat. Und er ist stolz auf Imi, auch wenn er gleichzeitig ein wenig Angst vor ihr hat.«

»Er hat Angst vor ihr?«

»Ja. Ihre Abenteuer haben sie verändert. Es ist schwer für ihn zu akzeptieren, dass sein kleines Mädchen als Erwachsene zurückgekehrt ist. Er ist die Art Mann, die keine Veränderungen mag.« Sie hielt inne. »Es ist noch jemand bei ihm. Eine Priesterin. Sie fragt sich, ob der König den Bündnisvertrag auf die von ihr vorgeschlagene Weise abändern wird.«

»Wie?«

Imenja lächelte. »Sie befürchtet, dass die Elai von unseren Göttern verführt werden könnten, daher will sie, dass der König uns verbietet, ihr Volk in unserer Religion zu unterweisen.«

»Was wirst du tun?«

Imenja antwortete nicht. Der Kapitän kam näher. Er teilte Imenja mit, dass das Boot bereit sei. Die Zweite Stimme nickte und sah Reivan an.

»Hast du alles?«

Statt einer Antwort hob Reivan den Beutel aus Ölhaut, in dem sich Pergament, Tinte und verschiedene Schreibwerkzeuge befanden.

»Dann lass uns gehen und ein wenig Geschichte schreiben.«

Sie stiegen in das Boot. Sobald sie Platz genommen hatten, begann die Mannschaft zu rudern. Niemand sprach. Als das Boot auf dem Sandstrand auflief, sprangen die Männer hinaus und zogen das Boot an Land. Imenja und Reivan stiegen aus. Die Mannschaft wartete neben dem Boot, während sie auf die Elai zugingen.

Wie bei ihrer früheren Begegnung war der König von einem Ring von Kriegern umgeben. Imi stand an seiner linken Seite und eine alte Frau an seiner rechten. Die Fremde trug goldenen Schmuck und prächtige Gewänder, und hätte Reivan nicht gewusst, dass Imis Mutter tot war, hätte sie sie für die Königin gehalten. Aber nein, dies musste die Priesterin sein. Einige Schritte hinter dem König stand ein anderer Mann. Zu seinen Füßen lagen zwei Steinplatten.

»Ich grüße dich, König Ais, Herrscher von Borra«, sagte Imenja.

»Willkommen, Imenja, Zweite Stimme«, erwiderte der König.

Imenja wandte sich an Imi. »Sei mir gegrüßt, Prinzessin Imi. Wie hast du dich zu Hause wieder eingelebt?«

Imi lächelte. »Gut, Zweite Stimme.«

Imenja blickte zu Reivan hinüber. »Das freut mich. Wollen wir nun die Bedingungen unseres Vertrages erörtern?«, fragte sie an den König gewandt.

Er nickte. Reivan hörte genau zu, während die beiden begannen, Themen der Kriegskunst und des Handels zu erörtern. Als sie später übereinkamen, wie der Wortlaut eines jeden Teils des Vertrages formuliert werden sollte, machte sie sich mit einem grauen Stock auf kleinen Pergamentstücken Notizen. Jeder Punkt wurde sorgfältig abgewogen, und es verging einige Zeit, bis das Thema Religion an die Reihe kam.

»Mein Volk ist es zufrieden, Huan zu folgen«, erklärte der König. »Aber uns ist auch bewusst, dass das Neue sehr verführerisch sein kann und dass auch kleine religiöse Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines Volkes zu Streit führen können. Ich muss euch daher bitten, dass ihr keinerlei Versuche unternehmen werdet, die Elai zu bekehren, indem ihr danach trachtet, sie mit euren Göttern vertraut zu machen. Und selbst wenn Mitglieder meines Volkes euch darum bitten, werdet ihr diese Gesuche ablehnen.«

»Mein Volk wird seine religiösen Praktiken für sich behalten«, versicherte ihm Imenja.

Es gelang Reivan nur mit Mühe, Imenja nicht überrascht anzusehen. Sie berührte den Anhänger, der um ihren Hals hing.

Wenn du dich darauf einlässt, wird Nekaun nicht viel Sinn in diesem Bündnis sehen.

Nein, aber mit der Zeit wird er eines erkennen: Je strenger irgendetwas verboten ist, umso fester kann man davon ausgehen, dass gewisse Personen es wollen werden.

»Ich habe ebenfalls Bedingungen, die ich in diesen Vertrag aufgenommen sehen möchte«, sagte Imenja laut.

Der König zog die Augenbrauen hoch. »Ja?«

»In meiner Heimat haben einige Leute der Sorge Ausdruck verliehen, dass dein Volk danach trachten könnte, Händler zu überfallen. Sie befürchten, deine Krieger könnten abwarten, bis die Seeräuber ein Handelsschiff ausgeraubt haben, bevor sie die Seeräuber ihrerseits angreifen. Es bestünde natürlich auch die Möglichkeit, dass sie die Händler direkt angreifen könnten. Ich habe diesen Personen versichert, dass ihr etwas Derartiges nicht tun würdet, aber sie verlangen diesbezüglich eine Zusage von euch.«

»Sie haben mein Wort, dass jeder meiner Krieger, der sich etwas Derartiges zu Schulden kommen lässt, bestraft werden wird.«

Imenja neigte den Kopf. »Tausche das Wort ›Krieger‹ gegen ›Elai‹, und erkläre genau, wie die Strafe für ein solches Vergehen aussehen soll, und man wird mit dieser Regelung zufrieden sein. Nimm außerdem zur Kenntnis, dass mein Volk diesen Bündnisvertrag als gebrochen ansehen wird, sollten die Elai andere Schiffe als die von Plünderern angreifen.«

Der König nickte. »Das klingt vernünftig.«

Imenja hielt seinem Blick stand. »Und sei gewiss, dass ich davon erfahren werde«, sagte sie. »Auf die gleiche Weise, wie ich davon erfahren habe, dass der Händler, der Imi von den Plünderern gekauft hat, schuldig war, dass deine Krieger meinem Schiff gefolgt sind und dass es einen zweiten Eingang zu eurer Stadt gibt, wo Wächter nach Plünderern Ausschau halten. Was ich mit den Talenten, die die Götter mir gegeben haben, nicht sehen kann, werden sie selbst mir erzählen. Ich werde es wissen, sollten die Elai zu Dieben werden.«

Die Stirn des Königs glättete sich langsam, als ihm klar wurde, was sie meinte. Er wandte sich zu Imi um, die plötzlich ein wenig verängstigt wirkte. Das Mädchen straffte sich.

»Ich habe dir erzählt, dass sie eine Zauberin ist«, sagte Imi zu ihrem Vater.

»Aber das wusstest du nicht«, murmelte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Der König wandte sich wieder zu Imenja um und kniff die Augen zusammen. »Woher soll ich wissen, dass du nicht mit weiteren Schiffen zurückkehren und meine Stadt erobern wirst?«

Imenja lächelte. »Ich habe kein Interesse daran, deine Stadt einzunehmen. Zum einen liegt sie zu weit entfernt von meiner Heimat, und zum anderen wäre da die Frage, was eine unterseeische Stadt von der Größe eines avvenschen Dorfes uns nutzen sollte. Dagegen kann ich den Wert von Handelsgeschäften und der Möglichkeit, diese Gewässer dafür zu sichern, durchaus erkennen. Wir beide gehen mit diesem Bündnisvertrag ein Risiko ein«, betonte sie. »Du musst darauf vertrauen, dass wir kein Interesse daran haben, deinem Volk Schaden zuzufügen. Wir dagegen müssen darauf vertrauen, dass ihr die Dinge, die wir euch lehren, nicht zum Bösen einsetzen werdet. Ich denke, es lohnt sich, das Risiko einzugehen.«

Der König nickte. »Ich hatte meine Zweifel. Ich gestehe, dass ich sie noch immer habe. Aber mein Volk muss sich weiterentwickeln und ist bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen.«

Er wandte sich zu dem Mann hinter sich um. Reivan sah, dass eine der Steinplatten mit Schriftzügen in der Sprache der Elai bedeckt war. »Bring sie her, und wir werden zusehen, wie du unsere Worte in Form von Versprechen in den Stein meißelst.« Er sah Imenja an. »Wir werden unseren Bündnisvertrag in beiden Sprachen niederschreiben.«

»Und in der Manier beider Völker«, stimmte Imenja ihm zu. Sie blickte zu Reivan hinüber. Auf ihren unausgesprochenen Befehl hin öffnete Reivan den Beutel aus Ölhaut und nahm Pergament, Tinte und ein Brett als Unterlage zum Schreiben heraus.

»Das Pergament wird dem Wasser nicht standhalten«, murmelte der Schreiber der Elai.

Reivan lächelte und holte ein Nachrichtenrohr, Ölhaut zum Einwickeln, Wachs und ein Stück Tau hervor. »Oh doch, das wird es«, versicherte sie ihm.

Er schien nicht überzeugt zu sein. Mit einem Achselzucken setzte sich Reivan mit übereinandergeschlagenen Beinen in den Sand und begann zu schreiben.


Zwischen Mirar und den wenigen Bäumen am Waldrand lag eine glatte, steile Schneedecke. Um hinabzugelangen, würde es das Einfachste sein, in langgestrecktem Zickzack hinunterzugehen. Wenn er versuchte, auf direktem Weg hinunterzukommen, würde er wohl den Halt verlieren.

Wäre das wirklich so schlecht?, fragte er sich. Es würde vielleicht schneller gehen, wenn ich hinunterrutsche. Er betrachtete die Bäume unter sich. Auch wenn sie kleiner waren als diejenigen, die tief im Wald wuchsen, waren ihre Stämme doch genauso hart. Wenn seine Rutschpartie außer Kontrolle geriet und er allzu viel Schnee dabei aufwirbelte, würde er den Weg vor sich vielleicht nicht genau erkennen können. Es bestand die Gefahr, dass er einen Baum nicht rechtzeitig bemerkte, um seine Magie zu benutzen, damit er nicht mit ihm zusammenstieß.

Ja, sagte er sich. Das wäre schlecht.

Er blickte wieder zu dem Berg hinauf und seufzte. Nur wenige Male in seinem langen Leben hatte er sich an so hoch gelegene, unwirtliche Orte gewagt und wenn, dann immer nur in Gesellschaft anderer. Die Ausblicke waren atemberaubend gewesen, aber die Wege oft trügerisch. Es war rohe magische Kraft vonnöten gewesen, um aus der eingestürzten Höhle herauszukommen, aber eine viel größere Herausforderung war es gewesen, nicht in schneebedeckte Felsspalten zu stürzen.

Langsam begann er den Abstieg über den weiten Hang. Der Schnee war locker und nicht besonders tief. Bei jedem seiner Schritte löste sich etwas davon und rutschte hangabwärts. Als er die Hälfte der Strecke bewältigt hatte, hielt er inne, um sich umzuschauen.

Einen Augenblick später begriff er, dass er sich immer noch bewegte, obwohl seine Beine stillstanden. Der ganze Hang war ins Rutschen geraten.

Sein Herz setzte einen Schlag aus und begann dann zu rasen. Die glatte Schneedecke warf Falten und Wellen. Sein Fluchtinstinkt zwang ihn, sich umzudrehen und zurückzueilen, aber der Weg, den er genommen hatte, war durch den Schnee, der sich von oben darübergeschoben hatte, fast unkenntlich geworden.

Die Bewegung ergriff seine Beine. Er versuchte, seinen Stand zu wahren, aber es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Seite und geriet ins Rutschen, während der Schnee wie in Wellen über ihm zusammenschlug.

Ich darf nicht in Panik geraten, ermahnte er sich. Der Schnee wird mich einfach hinabtragen. Die einzige Gefahr droht mir durch Ersticken und von den Bäumen dort unten.

Er zog Magie in sich hinein, umgab sich mit einer Barriere und ließ um sein Gesicht herum ein wenig Platz, so dass er atmen konnte. Er spürte, wie er in die Tiefe gerissen wurde. Dann verlangsamte sein Absturz sich plötzlich. Schnee bedeckte ihn. Das Gewicht, das gegen seine Barriere drückte, nahm zu.

Ich bin begraben.

Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Aus den Tiefen seines Geistes stieg Entsetzen auf. Er kämpfte dagegen an und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Der Druck auf seine Barriere schien stark genug zu sein, um ihn zu zerquetschen. Wenn er auch nur für einen Moment die Konzentration verlor, würde die Barriere in sich zusammenbrechen und…

Warum es nicht einfach zulassen?

An die Stelle der Furcht trat Benommenheit.

Warum dieses Leben nicht einfach loslassen? Finde heraus, was dahinter liegt. Die Diener der Götter könnten dich in wenigen Wochen aufspüren und töten, sobald du die Küste erreichst. Warum willst du es ihnen überlassen? Stirb hier und verwehre ihnen die Befriedigung. Stell dir vor, dass sie sich bis in alle Ewigkeit fragen werden, wo du geblieben bist

Die Kälte des Schnees war nichts im Vergleich zu dieser leeren Verzweiflung.

Welchen Grund gibt es zu leben? Mein Orden schwindet, und ich kann mich ihm nicht zu erkennen geben, ohne das Leben der Leute in Gefahr zu bringen. Die Frau, die ich liebe, ist so weit außer meiner Reichweite, wie sie es nur sein kann. Dies ist das Zeitalter der Fünf, und ich habe keinen Platz darin. Ich sollte einfach

»Hör auf, so verdammt melodramatisch zu sein«, sagte er laut.

Er schloss die Augen, zog einen gewaltigen Strom von Magie in sich hinein und kanalisierte sie dann. Ein dumpfer Knall folgte. Das Weiß über ihm stob aufwärts und zerfiel in alle Richtungen. Als es auf ihn hinabregnete, richtete er sich auf und besah sich seine Umgebung.

Er lag jetzt in der Mitte eines großen Kraters. Nachdem er aufgestanden war, kletterte er an einer Seite des Kraters hinauf und drehte sich um, um sein Werk zu betrachten. Das Loch war recht beeindruckend. Er lächelte.

Dann fiel ein Schatten über den seinen, und sein Lächeln verblasste. Als er aufblickte, sah er zwei Siyee davongleiten.

Seufzend wandte er sich ab und trottete auf den Wald zu.

49

Auraya blieb stehen und blickte zum Altar auf. Die fünf Seiten standen aufrecht, verschlossen gegen die Welt. Szenen des hinter ihr liegenden Tages gingen ihr durch den Sinn.

Unfug hatte ihre Rückkehr angekündigt; irgendwie hatte er sich aus ihrem Zimmer geschlichen, um sich auf die Suche nach Mairaes Veez, Sternenstaub, zu machen. Kurze Zeit später war sie in Jurans Quartier gerufen worden. Mairae war dort gewesen, zusammen mit den beiden Veez.

»Warum hast du uns deine Ankunft nicht mitgeteilt?«, hatte Juran gefragt.

»Ich hatte erwartet, dass die Götter euch davon in Kenntnis setzen würden. Es hat mich überrascht, dass ihr nicht da wart, um mich zu begrüßen.« Sie zuckte die Achseln. »Es war schon spät, und ich habe beschlossen, niemanden zu wecken.«

Daraufhin hatte er genickt. »Ich möchte, dass du mir alles erzählst, was passiert ist, angefangen von dem Augenblick, als du herausgefunden hast, dass Mirar als Leiard in Si war.«

Also hatte sie alles berichtet. Es hatte einige Stunden gedauert. Von Zeit zu Zeit hatten die anderen Weißen sie mit Fragen unterbrochen. Dyara und Rian hatten durch eine Vernetzung mit Juran zugehört.

Als sie schließlich zum Ende gekommen war, hatte Juran von der Strafe der Götter gesprochen und gefragt, ob sie bereit sei, diese anzunehmen.

»Für mich selbst bin ich dazu bereit«, hatte sie geantwortet. »Aber es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass die Siyee für meine Taten bestraft werden sollen.«

Du hättest an die möglichen Konsequenzen für die Siyee denken sollen, bevor du den Göttern den Gehorsam verweigert hast, hatte Dyara gesagt.

»Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass die Götter … dass sie… eine solche Entscheidung treffen würden«, erwiderte Auraya.

Du zweifelst noch immer an der Weisheit der Götter, warf Rian ein.

»Ja«, antwortete sie. Er hatte in den vergangenen Stunden mehrere derart herablassende Bemerkungen gemacht. »Wenn die Fähigkeit zu zweifeln keine Voraussetzung für einen Weißen wäre, hätten die Götter mich nicht erwählt. Und gewiss hätte eine solche Anforderung die Zahl der Kandidaten bei Auserwählungszeremonien verringert.«

Auraya erinnerte sich daran, dass Mairae bei ihrem Einwurf gelächelt hatte, aber als Juran sich in ihre Richtung gewandt hatte, hatte sie sofort eine Miene strenger Missbilligung aufgesetzt. In diesem Moment ist mir klar geworden, dass sie alle fanden, sie müssten sich benehmen, als sei ich ein unartiges Kind. Als müssten sie jedwedes Mitgefühl, das sie empfanden, unterdrücken, ob es nun mir oder meinen Entscheidungen galt.

Es gibt nur wenige, die würdig sind, den Göttern zu dienen, hatte Rian als Nächstes gesagt.

Daraufhin war sie zusammengezuckt. Ich weiß, ich bin eine Närrin gewesen, hatte sie gedacht. Ich bedauere es nicht, da meine einzige Alternative darin bestanden hätte, eine Heuchlerin und Mörderin zu sein. Ich wünschte nur, meine Entscheidung, lieber eine Närrin zu sein, hätte nicht solche Konsequenzen für die Siyee gehabt. Ich würde alles tun, um das wiedergutzumachen.

An diesem Punkt war Juran eingeschritten und hatte erklärt, dass sie sich bemühen sollten, zusammenzuarbeiten und unnötigen Streit zu vermeiden. Dass die Dinge wieder so werden sollten, wie sie es einmal gewesen waren. Mairae hatte ihn daraufhin mit einer Mischung aus Kummer und Mitleid angesehen.

»Ich bezweifle, dass die Dinge jemals wieder so werden, wie sie waren«, hatte sie gemurmelt.

Auraya fragte sich, auf wen Mairae ihre Worte bezogen hatte. Vielleicht auf sich selbst? Hatten die Entscheidungen der Götter eine weitere Weiße verleitet, Fragen zu stellen? Oder sprach Mairae von allen Weißen? Oder nur von mir?

Von den Siyee hatte sie jedenfalls offenkundig nicht gesprochen. Niemand schien sich auch nur die geringste Sorge um das Himmelsvolk zu machen. Als Juran Auraya schließlich aus seinem Quartier geleitet hatte, hatte sie sich zu ihm umgedreht und gefragt, ob er Mirars heilende Gabe erlernen wolle. Er hatte den Kopf geschüttelt, als entsetze ihn der bloße Gedanke daran.

Ein leises Seufzen der Luft lenkte Aurayas Aufmerksamkeit wieder auf den Altar. Die fünf Seiten klappten langsam auf. Ihr Herz setzte einen Moment lang aus, dann begann es zu rasen.

Ich stehe im Begriff, ein ungeheures Risiko einzugehen, dachte sie. Ich könnte alles verlieren. Aber wie Mairae gesagt hatte, die Dinge würden nie wieder so sein wie früher. Ich habe bereits eine Menge verloren. Wenn ich auch noch den Rest verliere, werde ich das einfach akzeptieren müssen.

Hastige Schritte hallten in der Kuppel wider. Auraya drehte sich um und sah, dass Juran und Mairae auf sie zukamen. Sie wandte sich ab, ging zu dem Altartisch hinauf und nahm auf ihrem Stuhl Platz.

»Weshalb hast du uns hierhergerufen?«, verlangte Juran zu wissen, als er den Altar erreichte.

»Ich habe eine Frage, die ich den Göttern stellen will«, antwortete sie und sah ihm dabei fest in die Augen. »Du möchtest die Antwort darauf vielleicht auch hören.«

Er starrte sie an, offenkundig verärgert darüber, dass sie eine Zusammenkunft einberufen hatte, ohne sich zuvor mit ihm zu beraten. »Und wie lautet diese Frage?«

»Das wirst du hören, sobald du den Ritus beginnst und die Götter erscheinen.«

Er zögerte, dann legte Mairae ihm eine Hand auf die Schulter.

»Nur zu. Ich bezweifle, dass wir auf andere Weise etwas aus ihr herausbekommen.«

Juran nahm seufzend seinen Platz ein. Mairae ließ sich anmutig auf ihren Stuhl sinken, und ihre Augen leuchteten vor Neugier.

»Du sorgst jedenfalls für Unterhaltung, Auraya«, sagte sie anerkennend in einer Lautstärke, die beinahe ein Flüstern war.

Auraya brachte ein Lächeln zustande. Sie sah Juran erwartungsvoll an. Er seufzte abermals, dann schloss er die Augen.

»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru«, begann er das Ritual. »Einmal mehr danken wir euch für den Frieden, den ihr über Nordithania gebracht habt, und für die Gaben, die es uns ermöglicht haben, diesen Frieden zu bewahren. Wir danken euch für eure Weisheit und Leitung.«

»Wir danken euch«, murmelte Auraya zusammen mit Mairae. Sie konzentrierte sich auf die Magie um den Altar herum, konnte aber keine Spur von den Göttern entdecken.

»Auraya wünscht, euch eine Frage zu stellen. Wenn ihr ihr eine Antwort gewähren wollt, bitte, erscheint vor uns.«

»Leitet uns«, sagte sie leise.

Juran öffnete die Augen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Als Auraya zu ihm hinüberblickte, sah sie Zweifel in seinen Zügen. Er erwartete nicht, dass die Götter reagieren würden. Aber noch während sie ihn ansah, spürte sie am Rand ihrer Wahrnehmung die Präsenz der Götter. Sie bewegten sich auf sie zu.

Langsam erschienen fünf leuchtende Gestalten rund um den Altar herum. Chaia erschien neben Juran. Er sah Auraya an und lächelte, aber dann verblasste sein Lächeln, als er ihre Gedanken las.

Wie lautet deine Frage, Auraya?

Huan hatte gesprochen. Plötzlich stieg Furcht in Auraya auf. Dies war die Göttin, der sie getrotzt hatte. Dies war außerdem die Göttin, die fraglosen Gehorsam verlangte.

Auraya zwang sich, Huan anzusehen, und nahm dann ihren ganzen Mut zusammen. »Werdet ihr mir gestatten, von meiner Position als Weiße zurückzutreten?«

Juran keuchte auf, und Mairae sog scharf die Luft ein.

»Nein, Auraya!«, sagte Juran. »Das ist nicht notwendig.«

»Wir waren heute alle ein wenig streng zu dir. Du darfst Rian nicht allzu ernst nehmen«, fügte Mairae hinzu.

Auraya hielt den Blick weiter auf Huan gerichtet. Die Augen der Göttin wurden schmal.

Wohin wirst du gehen?

»Nach Si.«

Huan betrachtete die anderen Götter.

Wir müssen darüber sprechen. Bleibt hier.

Die fünf Gestalten verschwanden. Auraya holte tief Luft und stieß den Atem dann langsam wieder aus.

»Auraya«, sagte Juran scharf. »Du hast erklärt, dass du die Strafe der Götter akzeptieren würdest.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Und das habe ich auch getan. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass sie die Siyee im Stich lassen.«

Er runzelte die Stirn. »Sind die Siyee es wert, dass du deine Position aufgibst, deine Unsterblichkeit – deine Gabe zu fliegen? Wie kannst du ihnen ohne diese Fähigkeit helfen?«

»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete sie. »Ich…« Sie schüttelte den Kopf. Am Rand ihrer Wahrnehmung war ein Summen erklungen. Sie konzentrierte sich auf dieses Geräusch und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie Worte ausmachen konnte.

dich gewarnt, dass dies geschehen könnte, aber du hast ja darauf bestanden, sie wieder und wieder zu prüfen.

Es war Chaia, wie sie erkannte. Er war wütend.

Nicht mehr, als wir auch die anderen geprüft haben, erwiderte Huan.

Nachdem sie viele Jahre lang in unseren Diensten gestanden haben!

Sie war die letzte Weiße. Es stand von vornherein fest, dass sie nicht den Luxus von allzu viel Zeit haben würde, um sich an ihre Rolle zu gewöhnen. Jetzt können wir einen würdigeren Ersatz für sie finden. Was sagt ihr Übrigen dazu?

Einverstanden, antwortete Lore.

Ja, fügte Yranna hinzu.

Gebt ihr, was sie will, pflichtete Saru ihnen bei. Dann können wir uns ihrer entledigen.

Nur wenn sie sich gegen uns wendet, korrigierte Chaia ihn energisch. Ich sage, wir sollten Auraya als Weiße behalten.

Du bist überstimmt, aber wir werden ihr gestatten, nach Si zu gehen. Der Schock über ihren Rücktritt wird genug Schaden anrichten, obwohl das Wissen, dass sie fortgegangen ist, um den Siyee zu helfen, einiges dazu beitragen wirdwartet. Sie kann uns hören!, rief Huan aus.

Ich habe euch gewarnt. Ihr wisst, dass sie uns spüren kann, wenn wir in der Nähe sind, sagte Chaia, und in seinem Tonfall schwang vielleicht ein wenig Selbstgefälligkeit mit. Ändert das eure Meinung?

Nein, sagte Huan.

Die Götter kamen näher und nahmen wieder ihre Positionen um den Altartisch ein. Auraya wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit über Juran angestarrt hatte, und sie wandte hastig den Blick ab. Die fünf Götter erschienen wieder.

Wir gewähren dir deine Bitte, erklärte Huan.

Unter gewissen Bedingungen, ergänzte Chaia. Du darfst nicht danach trachten, selbst über ein Land oder ein Volk zu herrschen. Wenn du dich gegen uns oder die Weißen stellst oder gegen unsere Arbeit, oder wenn du dich mit unseren Feinden verbündest, werden wir dich ebenfalls als Feindin betrachten.

»Das ist vernünftig. Ich akzeptiere eure Bedingungen.«

Leg den Ring ab.

Aurayas Herz begann abermals schneller zu schlagen. Sie streckte die Hand aus, dann zog sie langsam den weißen Ring vom Finger. Nachdem sie das getan hatte, stand sie auf und wandte sich zu Chaia um.

»Es war mir das größte Glück und die größte Ehre, euch zu dienen, aber es ist offenkundig, dass ihr einen Würdigeren als mich in dieser Position braucht. Ich habe nicht den Wunsch, mich von euch abzukehren. Ihr habt noch immer meinen Respekt und meine Liebe, und ich werde euch weiterhin als Priesterin dienen, wenn das für euch akzeptabel ist.«

Chaia sah Huan an.

Das wird wie immer eine Entscheidung sein, die die Weißen treffen müssen, antwortete er.

Huans Augen wurden ein wenig schmaler. Auraya sah Juran an, dann blickte sie auf den Ring hinab. Schließlich holte sie tief Luft und legte ihn auf den Tisch. Sie empfand nichts – keinen quälenden Verlust, überhaupt keine Veränderung. Sie machte einen Schritt zurück, richtete sich auf und blickte abermals zu Juran hinüber.

Er betrachtete den Ring mit grimmiger Miene. Nun, das sollte er auch, dachte sie. Die Weißen sind ohne ein fünftes Mitglied in ihren Reihen verletzlich. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Götter diesen Zustand nicht lange werden anhalten lassen. Ich bezweifle, dass sie noch einmal fünfundzwanzig Jahre damit warten werden, einen Ersatz für mich zu finden.

Sie sah Mairae an. Zu ihrer Überraschung lächelte die junge Frau und nickte. In ihren Augen lagen Freundschaft und Respekt. Sie bezweifelte, dass die anderen Weißen genauso empfanden. Dyara und Rian beobachteten sie gewiss durch Juran und Mairae. Dyara wird enttäuscht sein, ging es Auraya durch den Kopf. Rian dagegen dürfte überglücklich sein.

Deine Entscheidung lässt sich nicht rückgängig machen, sagte Huan. Es ist jedoch nicht notwendig, dass du in Jarime bleibst. Du darfst nach Si zurückkehren.

Auraya nickte und machte das förmliche Zeichen des Kreises. »Danke.«

Die Götter verschwanden.

Auraya hielt inne, unsicher, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Juran starrte noch immer den Ring an. Jetzt streckte er langsam die Hand aus und griff danach. Sein Blick wanderte zu ihr hinüber.

»Du hast alles für die Siyee geopfert«, stellte er fest.

Sie lächelte. »Ja.« Sie dachte an Mirars Überzeugung, nach der die Gabe des Fluges ihre eigene war.

»Vielleicht nicht wirklich alles«, sagte Mairae.

Auraya sah die Frau überrascht an.

»Ich kann jetzt deine Gedanken lesen«, erklärte Mairae.

»Natürlich.« Auraya schüttelte den Kopf. »Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Nun, wirst du versuchen zu fliegen?«

Auraya sah Mairae an, dann konzentrierte sie ihren Geist auf die Wahrnehmung ihrer Position innerhalb der Welt. Sie konnte es noch immer spüren. Schließlich zog sie Magie in sich hinein und ließ sich in die Höhe steigen. Mairae lachte triumphierend auf.

»Ja! Du kannst den Siyee immer noch helfen.«

Erleichterung durchströmte Auraya, und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Ich kann sie erreichen. Jetzt brauche ich nur noch herauszufinden, ob ich sie noch immer heilen kann.«

»Dann vermute ich, dass du so bald wie möglich aufbrechen wirst«, sagte Juran. Er wirkte müde. Auraya ließ sich wieder zu Boden sinken.

»Ja. Ich brauche lediglich Unfug und einige persönliche Dinge einzupacken.«

Er nickte, dann stand er auf. »Gib auf dich Acht, Auraya. Ich brauche dich nicht zu ermahnen, den pentadrianischen Zauberern aus dem Weg zu gehen. Ich… ich muss mich mit den anderen beraten, bevor ich entscheide, ob du weiterhin Priesterin bleiben darfst.«

»Ich verstehe.«

»Komm ab und zu vorbei, damit wir einander auf dem Laufenden halten können«, fügte Mairae hinzu.

Auraya lächelte. »Ihr beide müsst irgendwann einmal nach Si kommen. Vielleicht könntet ihr zur Küste segeln. Ich denke, es würde euch dort gefallen.«

Mairae tauschte einen Blick mit Juran. »Wir sollten diese Mühe tatsächlich einmal auf uns nehmen.«

Er nickte, dann geleitete er sie vom Altar hinab auf den Boden der Kuppel. »Das sollten wir tun. Und es könnte von großem Nutzen für uns sein, eine Priesterin in Si zu haben, die uns schnell erreichen kann.«

Auraya sah ihn von der Seite an. »Auch ich würde gern weiterhin mit dir zusammenarbeiten, Juran von den Weißen.«

Er musterte sie kurz, und zum ersten Mal, seit sie zurückgekehrt war, lächelte er. Ihr Boot war noch genau dort, wo sie es zurückgelassen hatte. Emerahl wandte sich zu Surim und Tamun um.

»Vielen Dank für eure Gastfreundschaft«, sagte sie.

Tamun lächelte und breitete die Arme aus. Zu Emerahls Überraschung trat die normalerweise so zurückhaltende Frau vor und zog sie an sich.

»Ich sollte dir danken, dass du hergekommen bist. So hatte ich jemanden zum Reden.«

»Jemand anderen als mich«, warf Surim ein.

»Es hat auch Spaß gemacht, mit euch zusammen zu sein«, erklärte Emerahl.

Als Tamun zurücktrat, umarmte auch Surim Emerahl und presste ihr damit beinahe den Atem aus dem Leib.

»Pass auf dich auf, alte Hexe.«

»Und ihr passt aufeinander auf.«

»Oh, darauf verstehen wir uns bestens. Wir haben schon immer aufeinander aufgepasst.«

»In guten wie in schlechten Zeiten«, ergänzte Tamun. Dann räusperte sie sich. »Das reicht jetzt, Bruder.«

Surim ließ Emerahl los und trat grinsend einen Schritt zurück. »Aber es ist so lange her, dass ich das letzte Mal eine andere Frau im Arm gehalten habe.«

Tamun schnalzte mit der Zunge. »Soweit ich mich erinnere, ist es erst einige Wochen her.«

»Einige Wochen sind eine lange Zeit.« Er blickte nachdenklich drein. »Hmmm, und ich glaube, ich sollte demnächst mal wieder einen Ausflug flussabwärts machen.«

»Dieses Sumpfmädchen beansprucht einen zu großen Teil deiner Aufmerksamkeit«, sagte Tamun missbilligend.

»Sie ist ein wenig alt, um als Mädchen durchzugehen, obwohl ich davon überzeugt bin, dass es ihr schmeicheln würde.«

Tamun sog scharf die Luft ein, sagte jedoch nichts. Sie reichte Emerahl einen Beutel – den Beutel, den Emerahl sie hatte weben sehen.

»Er enthält Essen und frisches Wasser und außerdem die einheimischen Heilmittel, über die wir gesprochen haben.«

»Danke.«

»Wir werden jede Nacht versuchen, uns mit dir in Verbindung zu setzen«, sagte Surim. »In unseren Träumen.«

»Und ich werde mich bei euch melden, sobald ich etwas Neues erfahre.«

Tamun und Surim nickten. Surim runzelte die Stirn. »Wir würden selbst hinausziehen, aber du kennst die heutige Welt viel besser als wir. Obwohl wir jeden Tag die Gedanken von Sterblichen abschöpfen, können wir nicht sicher sein, dass unser Wissen es uns ermöglichen würde zu überleben.«

»Und wenn wir fortgingen, müssten wir uns eigentlich trennen.« Surim fügte nicht hinzu, wie sehr ihnen das widerstreben würde. Seine normalerweise so muntere Stimme klang angespannt. »Wir werden von größerem Nutzen sein, wenn wir Gedanken abschöpfen und an andere weitergeben, was wir auf diese Weise in Erfahrung bringen.«

Emerahl lächelte und hob die Hände. »Hört auf damit. Ich verstehe euer Widerstreben. Ich möchte dies hier tun. Selbst wenn wir keine Möglichkeit finden, die Götter zu töten, lohnt es sich immer, etwas über sie zu erfahren – insbesondere über ihre Grenzen.«

»Das ist jetzt deine Mission«, sagte Surim kichernd. »So hätte die Seherin es jedenfalls genannt.«

Emerahl lachte. »Sie hätte es ›Mission Schriftrolle der Götter‹ genannt.

Tamun nickte. »Und sie hätte ein abscheuliches Gedicht darüber geschrieben und es eine ›Prophezeiung‹ genannt. Eine grünäugige Fee wird die Schriftrolle finden; sie wird die Welt retten und die Seelen aller, die sie bewohnen.«

»Hör auf. Bitte.« Immer noch kichernd wandte Emerahl sich dem Boot zu. Sie löste die Vorleine von dem Krug und ging an Bord. Sofort entfernte sich das Boot von der Anlegestelle und den Zwillingen.

»Die Strömung wird dich hinausbringen«, rief Surim.

»Viel Glück«, fügte Tamun hinzu.

Emerahl stellte den Beutel beiseite und blickte über die Schulter. Die Strömung hatte sie bereits ein gutes Stück durch die Höhle getragen. Die Geschwister winkten. Emerahl hob grüßend die Hand.

Dann, als ihr Boot den Höhleneingang auf der anderen Seite erreicht hatte, wandte sie sich nach vorn und lenkte es in den Haupttunnel.

Sie lächelte leise vor sich hin. Die Mission Götterrolle hatte begonnen.


Seit sie die Insel verlassen hatten, war kein Wort gefallen. Es konnte nichts gesagt werden, da sie den ganzen Weg mit nur wenigen kurzen Pausen schwammen. Als Imi zurückgefallen war, hatten zwei Krieger sie an den Händen genommen und hinter sich hergezogen, was Spaß gemacht hätte, wären nicht alle so ernst gewesen.

Als Imi nun neben ihrem Vater aus dem Wasser stieg, kostete jeder Schritt sie ungeheure Anstrengung. Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Beine brannten, nachdem sie eine so lange Strecke geschwommen war, und ihre Schultern taten weh. Sie war erleichtert, als ihr Vater, nachdem er den Rand des Mundes erreichte hatte, stehen blieb.

»Mein Volk. Bürger von Borra.«

Als plötzlich die dröhnende Stimme ihres Vaters neben ihr erklang, blickte sie überrascht auf. Bei dem Anblick der Menschenmenge in der Nähe des Eingangs zur Stadt wurde ihr mit einem Mal klar, dass viele Elai sich versammelt hatten, um auf ihre Rückkehr zu warten. Und auf Neuigkeiten.

»Heute habe ich mich auf ein großes Glücksspiel eingelassen, aber ich weiß, dass viele von euch meine Entscheidung gutheißen werden. Ich habe eine Übereinkunft mit den Pentadrianern getroffen. Sie werden mit uns Handel treiben, sie werden uns unterrichten – und ihr alle wisst, dass sie viel zu lehren haben -, und sie werden uns in schwierigen Zeiten zu Hilfe kommen. Eine solche Übereinkunft birgt immer eine Gefahr, und sie gründet auf Vertrauen und Anstand auf beiden Seiten. Aber sie bietet auch große Vorteile. Ich glaube, dass wir mit der Hilfe der Pentadrianer stärker werden können. Vielleicht stark genug, um uns nicht länger in dieser Stadt verstecken zu müssen. Vielleicht stark genug, um uns nicht länger vor den Landgeherplünderern fürchten zu müssen, vielleicht so stark, dass wir die Meere von diesem Schmutz werden befreien können.«

Er betrachtete die Gesichter vor ihm. Einige Elai runzelten die Stirn, aber die meisten wirkten erfreut. Er blickte zu Imi hinüber, dann nahm er ihre Hand.

»Gemeinsam werden wir stolz und stark werden, und wir werden es erleben, dass die Inseln wieder von Elai bevölkert sind!«

Irgendjemand brach in Jubel aus, dann schlossen sich weitere Stimmen an. Langsam fiel die Erschöpfung von Imi ab. Sie sah zu ihrem Vater auf und grinste. Er lächelte sie an, und zum ersten Mal war es kein wachsames, nur angedeutetes Lächeln, sondern ein Ausdruck der Entschlossenheit.

Und gemeinsam gingen sie durch die Menge und zum Palast hinüber.


Danjin ließ sich neben seiner Frau auf einen Stuhl sinken. Silava lächelte ihn an und legte den Brief, den sie las, beiseite. Dann stand sie auf, holte einen Krug Tintra, den sie neben dem Kohleofen gewärmt hatte, und schenkte ihm einen Becher ein. Nachdem sie wieder Platz genommen hatte, griff sie abermals nach dem Brief.

»Welche Tochter ist es diesmal?«, fragte er.

»Deine älteste«, erwiderte sie mit gespielter Missbilligung über seinen Tonfall. »Deine Enkelin hatte Fieber, aber sie scheint jetzt auf dem Weg der Besserung zu sein. Meinst du, wir könnten sie diesen Sommer wieder besuchen?«

»Das hängt davon ab, ob…«

Ein Klopfen unterbrach ihn. Ihre Dienerin erschien und eilte zur Tür hinüber. Danjin konnte einen flüchtigen Blick auf einen weißgekleideten Mann werfen, bevor die Tür wieder geschlossen wurde.

»Eine Nachricht für Pa-Speer«, sagte die Dienerin respektvoll, bevor sie Danjin einen metallenen Zylinder reichte.

Silava warf einen Blick auf die Nachricht. »Musst du wieder zum Tempel?«

Er betrachtete den Metallzylinder verwirrt. »Normalerweise fordern sie mich einfach auf zu kommen. Diese Botschaft ist sehr formell.«

»Vielleicht ist es eine Einladung zu einer besonderen Zeremonie.«

»Vielleicht.« Er begutachtete das Siegel. Es war ungebrochen. Und soweit er sehen konnte, war der Zylinder keine Fälschung.

Silava trommelte mit den Fingern auf die Armlehne ihres Stuhls. »Wirst du ihn öffnen?«

»Irgendwann.«

»Warum nicht jetzt?«

»Du hast noch nicht lange genug an mir herumgenörgelt.«

Sie warf ihren leeren Becher nach ihm, und er bückte sich. Lachend erbrach er das Siegel und kippte die Schriftrolle, die darin lag, heraus. Silava stand auf, um ihren Becher aufzuheben und sich Tintra nachzuschenken. Danjin rollte die Schriftrolle auf.

Sein Blick wanderte über die Worte, aber sein Geist weigerte sich, ihre Bedeutung zu erfassen. Oder zumindest wünschte er, es wäre so gewesen. Als er die Nachricht dreimal gelesen hatte, legte er sie beiseite, dann starrte er den Kohleofen an, während er mit seiner Ungläubigkeit kämpfte.

»Was steht denn drin?«, fragte Silava.

»Auraya ist zurückgetreten.«

Er sah, wie Silavas Kopf abrupt hochfuhr. Einen Moment lang sagte sie nichts.

»Steht auch drin, warum?«

»Nein, aber hier heißt es, sie sei nach Si zurückgekehrt. Sie ist hierhergekommen. Nach Jarime. Und sie hat mir nichts davon gesagt.«

»Natürlich nicht. Wenn jemand gewusst hätte, was sie vorhatte, hätte es einen Aufstand gegeben.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Ich hätte es geheim gehalten, aber wenn sie nicht wollte, dass die anderen Weißen von ihren Plänen erfuhren, hätte sie vielleicht…«

Es klopfte abermals an der Tür. Diesmal stand Danjin auf und öffnete. Ein weißgekleideter Bote überreichte Danjin mit feierlicher Miene einen weiteren Nachrichtenzylinder, machte das Zeichen des Kreises und eilte dann zu einem TempelPlattan zurück.

Danjin erbrach das Siegel und hielt die Schriftrolle in Händen, noch bevor er seinen Stuhl erreichte. Als er Aurayas elegante Handschrift sah, schlug eine Woge der Erleichterung über ihm zusammen. Sie hatte ihn nicht vergessen.

An Danjin Speer, ich habe nur wenig Zeit, um in Jarime zu verweilen, daher muss dieses Schreiben kürzer ausfallen, als mir lieb ist. Heute habe ich eine schwere Entscheidung getroffen, aber ich bedauere sie nicht. Ich bin von den Weißen zurückgetreten, um mich ganz der Aufgabe zu widmen, den Siyee zu helfen.

Ich wünschte, ich hätte dir diese Nachricht persönlich überbringen können, aber in jedem Augenblick, den ich zaudere, könnten weitere Siyee an der Herzzehre sterben. Ich möchte dir für all deinen Beistand und deinen Rat während der vergangenen anderthalb Jahre danken. Du warst mir ebenso ein Freund wie ein Ratgeber, und ich werde deine Weisheit und deinen Humor vermissen. Ich werde den Weißen empfehlen, dich als Ratgeber für meinen Ersatz einzustellen. Ich weiß, dass du deine Sache sehr gut machen wirst.

Alles Gute für die Zukunft

Auraya Färber

»Das hat sie hübsch gesagt«, meinte Silava. »Und es klingt so, als sei sie in Eile.«

Danjin blickte auf und stellte fest, dass seine Frau hinter ihm stand. Er musterte sie stirnrunzelnd. »Dieses Schreiben hätte geheime Informationen enthalten können.«

Sie tätschelte ihm die Schultern. »Es hätte so sein können. Ich bin ein Risiko eingegangen. Was wirst du mit dem Ring machen?«

Er blickte auf seine Hand hinab. »Ich nehme an, sie werden ihn zurückhaben wollen.«

»Wahrscheinlich. Und vielleicht funktioniert er auch nicht mehr.«

»Mag sein.« Er zog den Ring ab und schloss die Finger darum. Ein Stich der Traurigkeit durchzuckte ihn. »Sie war eine gute Weiße. Sie hat alles aufgegeben, um den Siyee zu helfen.«

»Ich weiß«, sagte Silava beschwichtigend. »Gib mir den Ring, und ich werde ihn für den Augenblick an einen sicheren Ort legen.«

Er reichte ihr das Schmuckstück. Ihre Schritte entfernten sich, dann blieb sie stehen, und kurz darauf kehrte sie zu ihm zurück. Sie nahm den Krug vom Kohleofen und füllte Danjins Becher nach.

»Trink. Das wird dich wärmen. Und bedenk eins: Es wird Monate dauern, bevor sie einen neuen Weißen finden. All diese Zeit werden wir ganz für uns haben.«

Er blickte zu ihr auf. »Und es wird uns wohl auch freistehen, unsere Töchter im Sommer zu besuchen.«

Sie heuchelte Überraschung. »Daran hatte ich gar nicht gedacht… aber du hast recht.«

Als sie davonging, lachte er leise. Zumindest seine Frau war glücklich. Als er sich noch einmal den Brief besah, stieg schmerzliche Erheiterung in ihm auf. Seit Auraya den Siyee das erste Mal begegnet war, war sie von ihnen bezaubert gewesen. Ich hoffe, das bedeutet, dass auch du glücklich bist, Auraya, dachte er. Ich hoffe, es ist das Opfer wert.

Und ich vermute, ich sollte dich wieder in der Welt der Sterblichen willkommen heißen.

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