Trudi Canavan Magier

Für Ivy Dauncey, meine Nana, die so gern Geschichten erzählt

Prolog

Reivan spürte die Veränderung vor allen anderen. Zuerst war es nur Instinkt, eher Gefühl als Wissen, dann fiel ihr auf, dass die Luft dumpfer roch und grießig wirkte. Sie betrachtete die rauen Wände des Tunnels und sah Ablagerungen einer pudrigen Substanz. Sie bedeckte eine Seite aller Ausbuchtungen und Rillen, als hätte sie ein Wind, der aus der Dunkelheit vor ihnen kam, dort hingeweht.

Ein Schaudern überlief sie bei dem Gedanken daran, was das bedeuten konnte, doch sie sagte nichts. Vielleicht irrte sie sich, und ihre Begleiter waren noch zu schockiert über ihre Niederlage. Alle kämpften sie mit der Notwendigkeit, den Tod von Freunden, Verwandten und Kameraden zu verarbeiten, all der Menschen, die sie zurückgelassen hatten, begraben in der fruchtbaren Erde des Feindes. Sie konnten keinen weiteren Grund zur Sorge gebrauchen.

Selbst wenn sie nicht in niedergedrücktester Stimmung nach Hause geeilt wären, hätte Reivan nicht gesprochen. Die Männer in ihrer Gruppe zeigten sich sehr schnell gekränkt. Genau wie Reivan hegten sie einen geheimen Groll, dass sie nicht genug angeborene Fähigkeiten besaßen, um Götterdiener zu werden. Daher klammerten sie sich an die einzigen Quellen der Überlegenheit, die ihnen zur Verfügung standen.

Sie waren klüger als durchschnittliche Menschen. Sie waren die »Denker«. Sie unterschieden sich von denen, die lediglich eine Ausbildung genossen hatten, durch ihr Vermögen, zu berechnen, zu erfinden, zu philosophieren und logisch abzuwägen. Das führte zu einer grimmigen Rivalität untereinander. Vor langer Zeit hatten sie eine eigene Hierarchie gebildet. Ältere hatten Vorrang vor Jüngeren. Männer hatten Vorrang vor Frauen.

Es war natürlich lächerlich. Reivan hatte bemerkt, dass der Geist mit dem Alter ebenso unflexibel und langsam wurde wie der Körper, in dem er ruhte. Nur weil es unter den Denkern mehr Männer als Frauen gab, bedeutete das nicht, dass Männer grundsätzlich klüger waren. In letzterem Fall trat Reivan mit großem Genuss den Gegenbeweis an… Aber dies war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Und ich könnte mich irren.

Der Geruch von Staub war jetzt stärker geworden.

Ihr Götter, ich hoffe, ich irre mich.

Plötzlich erinnerte sie sich an die Fähigkeit der Götterstimmen, Gedanken zu lesen. Sie blickte über ihre Schulter und war für einen Moment verwirrt. Sie hatte erwartet, Kuar zu sehen. Stattdessen trat eine hochgewachsene, elegante Frau hinter die Denker. Imenja, die Zweite Götterstimme. Ein Stich der Traurigkeit durchzuckte Reivan, als sie sich daran erinnerte, warum diese Frau die Armee jetzt anführte.

Kuar war tot, getötet von den heidnischen Zirklern.

Imenja sah zu Reivan hinüber, dann winkte sie sie zu sich. Reivans Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte noch nie zuvor mit einer der Götterstimmen gesprochen, obwohl sie zu der Gruppe von Denkern gehörte, die die Karten für die Route durch die Berge angefertigt hatten. Grauer, der Anführer der Gruppe, hatte persönlich die Aufgabe übernommen, den Götterstimmen Bericht zu erstatten.

Reivan hielt inne. Ein Blick auf die Männer vor ihr sagte ihr, dass diese den Ruf offensichtlich nicht bemerkt hatten. Grauer, dessen Aufmerksamkeit den Karten galt, war Imenjas Wink gewiss entgangen. Als Imenja sie erreichte, setzte sich Reivan wieder in Bewegung, wobei sie sich einen Schritt hinter der Götterstimme hielt.

»Wie kann ich dir dienen, Heilige?«

Imenja runzelte noch immer die Stirn, obwohl ihr Blick auf den Denkern ruhte. »Was ist es, was du befürchtest?«, fragte sie leise.

Reivan biss sich auf die Unterlippe. »Es ist wahrscheinlich jener Wahnsinn, der die Menschen unter der Erde erfasst, die Dunkelheit, die meinen Geist verwirrt«, erklärte sie hastig. »Aber… bisher war die Luft auf dem Weg durch die Tunnel noch nie so staubig. Und es lag auch nicht so viel Staub auf den Wänden. Die Muster lassen auf schnelle Luftbewegungen irgendwo vor uns schließen. Ich könnte mir verschiedene Gründe dafür denken…«

»Du befürchtest, dass es irgendwo in den Stollen zu Verschüttungen gekommen ist«, stellte Imenja fest.

Reivan nickte. »Ja. Und weiterer Instabilität.«

»Natürlichen oder unnatürlichen Ursprungs?«

Imenjas Frage und die Möglichkeiten, die dahinter standen, entsetzten Reivan zutiefst. »Ich weiß es nicht. Wer sollte so etwas tun? Und warum?«

Imenja zog die Brauen zusammen. »Ich habe bereits Berichte erhalten, nach denen die Sennoner unserem Volk jetzt, da die Nachricht von unserer Niederlage sie erreicht hat, Scherereien machen. Oder es könnten die Dorfbewohner aus der Gegend sein, die Rache suchen.«

Reivan wandte den Blick ab. Eine Erinnerung an Worns stieg in ihr auf, mit bluttriefenden Mäulern nach einem letzten »Jagdausflug« in der Nacht, bevor sie die Minen betreten hatten. Das Wohlwollen der Dörfler war der Armee nicht übermäßig wichtig gewesen – nicht, da der Sieg so gewiss war.

Wir hätten auch nicht über diesen Weg zurückkehren sollen. Wir hätten die Heiden aus Nordithania vertreiben und das Land für die Götter in Besitz nehmen sollen, bevor wir über den Pass nach Hause zurückgekehrt wären.

Imenja seufzte. »Geh wieder zu deiner Gruppe, aber sag nichts. Wir werden uns um mögliche Hindernisse kümmern, wenn wir ihnen begegnen.«

Reivan gehorchte und nahm wieder ihren Platz bei den Denkern ein. Da sie sich Imenjas Fähigkeit des Gedankenlesens überaus bewusst war, hielt sie Ausschau nach weiteren Störungen. Es dauerte nicht lange, bis sie welche fand.

Es war erheiternd zu beobachten, wie die anderen Denker langsam begriffen, was die stetig wachsende Menge an Geröll in dem Tunnel zu bedeuten hatte. Die erste Blockade, auf die sie trafen, rührte vom Einsturz eines kleinen Bereichs der Decke. Die Trümmer machten den Tunnel nicht unpassierbar, so dass sie lediglich darüber hinwegzusteigen brauchten, um ihren Weg fortzusetzen.

Dann wurden diese Hindernisse häufiger, und es wurde immer schwerer, sie zu überwinden. Mit Hilfe von Magie bewegte Imenja hier einen Felsbrocken zur Seite und schob dort einen Haufen Erdreich fort. Niemand spekulierte darüber, was das Herabstürzen dieser Hindernisse verursacht haben mochte. Alle wahrten klugerweise Stillschweigen.

Der Tunnel führte in eine der großen, natürlichen Höhlen, die man in den Bergwerken so häufig fand. Reivan starrte in den Raum vor ihr. Wo eigentlich nur Dunkelheit hätte sein dürfen, konnte man im schwachen Licht der Lampen der Denker bleiche Umrisse wahrnehmen.

Imenja ging voraus. Als sie die Höhle betrat, ließ sie ihr magisches Licht höher aufsteigen und heller werden. Blankes Entsetzen zeichnete sich auf den Mienen der Denker ab. Auch hier war das Dach eingestürzt, aber diesmal gab es keine Möglichkeit, die Blockade zu umgehen. Die gesamte Höhle lag voller Schutt, Geröll und Felsblöcke.

Einige der Brocken waren riesig. Wenn man unter einem derartigen Steinschlag begraben wurde… Reivan bezweifelte, dass man Zeit haben würde, zu begreifen, was geschah. Ein Krachen, Erschrecken, das Ende.

Besser als eine Klinge im Leib und ein langer, qualvoller Tod, dachte sie. Obwohl ich irgendwie das Gefühl habe, dass ein plötzlicher Tod einen Menschen um etwas beraubt. Der Tod ist eine Erfahrung des Lebens. Man bekommt nur einen einzigen Tod. Ich würde gern wissen, dass es geschieht, selbst wenn es bedeuten würde, dass ich Schmerz und Angst erleiden müsste.

Dann erregte ein unartikulierter Laut von Grauer ihre Aufmerksamkeit.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, rief er, und seine Stimme hallte in der Höhle wider. »Wir haben alles untersucht. Diese Höhle war stabil.«

»Sprich nicht so laut«, fuhr Imenja ihn an.

Er zuckte zusammen und senkte den Blick. »Vergib mir, Heilige.«

»Such uns einen anderen Weg hier hinaus.«

»Ja, Heilige.«

Er warf den Denkern, die er bevorzugte, einen Blick zu und versammelte dann einen kleinen Kreis von Männern um sich. Für kurze Zeit hörte man ihr Gemurmel, bevor sie ihm Platz machten und er selbstbewusst vortrat.

»Erlaube mir, dich zu führen, Heilige«, sagte er unterwürfig.

Imenja nickte den anderen Denkern zu und bedeutete ihnen, dass sie sich ihm anschließen sollten. Als die Armee kehrtmachte, wurde es eng im Tunnel, und das Atmen fiel ihnen merklich schwerer, obwohl die Götterdiener sich bemühten, durch die Spalten und Klüfte im Gebirge frische Luft von der Erdoberfläche herabzuziehen. Diener, Soldaten und Sklaven setzten in besorgtem Schweigen ihren Weg fort.

Unter der Erde war es schwer, das Verstreichen der Zeit richtig einzuschätzen. Da Reivan etliche Monate hier unten verbracht und den anderen Denkern dabei geholfen hatte, Karten von den Minen, den natürlichen Höhlensystemen und den Bergpfaden zu zeichnen, hatte sie inzwischen gelernt, in der Dunkelheit den Überblick zu behalten. Es war fast eine Stunde verstrichen, bevor Grauer den Seitentunnel erreichte, in den er sie führen wollte. Sein Verlangen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, trieb ihn über den neuen Weg voran.

»Hier entlang«, sagte er, während er wieder und wieder seine Karte zu Rate zog. »Hier müssen wir hinuntersteigen.« Die Denker eilten hinter ihm her, als er um eine Ecke bog. »Und dann müssen wir noch ein ganzes Stück in diese Richtung weitergehen…«

Es folgte eine Pause, und kurz darauf hörten sie aus der Ferne einen gellenden Schrei, der schnell wieder verklang. Die Denker liefen um die Ecke und blieben jäh stehen, so dass sie den Durchgang versperrten. Reivan spähte zwischen zwei Schultern hindurch und bemerkte ein gezacktes Loch im Boden.

»Was ist passiert?«

Die Denker traten beiseite, um Imenja durchzulassen.

»Sei vorsichtig, Heilige«, sagte einer von ihnen leise. Imenjas Züge wurden ein wenig weicher, und sie nickte dem Mann kurz zu, bevor sie langsam weiterging.

Sie muss bereits wissen, was Grauer zugestoßen ist, überlegte Reivan. Sie wird seine Gedanken gelesen haben, als er in die Tiefe gestürzt ist.

Imenja ging in die Hocke und berührte den Rand des Lochs. Sie brach ein Stück davon ab, dann erhob sie sich wieder.

»Lehm«, sagte sie und hielt ihn den Denkern hin. »Geformt von Händen und gestärkt von Stroh. Es gibt einen Saboteur. Einen Fallensteller.«

»Die Weißen haben ihre Abmachung gebrochen!«, zischte einer der Denker. »Sie haben nicht die Absicht, uns nach Hause gehen zu lassen.«

»Das ist eine Falle!«, rief ein anderer. »Sie haben gelogen, was die Fallen im Pass betrifft, damit wir diese Route nehmen! Wenn sie uns hier töten, wird niemand wissen, dass sie uns betrogen haben!«

»Ich bezweifle, dass dies ihr Werk ist«, erwiderte Imenja, während sie die Felswände um sich herum einer eingehenden Musterung unterzog. Schließlich schüttelte sie stirnrunzelnd den Kopf. »Dieser Lehm ist trocken. Wer immer das getan hat, ist schon vor Tagen von hier fortgegangen. Ich kann nichts hören als die Gedanken ferner Gaut-Hirten. Wählt einen anderen Führer aus. Wir werden unseren Weg fortsetzen, aber mit großer Vorsicht.«

Die Denker zögerten und tauschten unsichere Blicke. Imenja sah von einem zum anderen, und langsam trat Ärger in ihre Züge.

»Warum habt ihr keine Kopien gemacht?«

Die Karten. Reivan schaute zur Seite und kämpfte eine wachsende Mutlosigkeit nieder. Die Karten sind mit Grauer in die Tiefe gefallen. Wie typisch für ihn, anderen keine Kopien anzuvertrauen.

Was sollen wir jetzt tun? Einen Moment lang stieg Furcht in ihr auf, die jedoch schnell verebbte. Die meisten der größeren Stollen in den Minen führten auf die Hauptstollenöffnung zu. Die Minenarbeiter hatten schließlich, als sie vor langer Zeit die Stollen anlegten, nicht die Absicht gehabt, ein Labyrinth zu schaffen. Die kleineren Stollen, die den Erzadern gefolgt waren, und die natürlichen Höhlensysteme waren weniger berechenbar, aber solange die Armee sich davon fernhielt, würde sie zu guter Letzt den Weg ins Freie finden.

Einer der Denker aus ihrer Gruppe trat vor. »Wir sollten imstande sein, uns mit Hilfe unseres Gedächtnisses zu orientieren; immerhin haben wir im vergangenen Jahr eine beträchtliche Zeit hier verbracht.«

Imenja nickte. »Dann konzentriert euch darauf. Ich werde einige Götterdiener herrufen, die nach Fallen Ausschau halten.«

Obwohl alle Denker dankbar nickten, blieb Reivan eine gewisse Entrüstung bei ihnen nicht verborgen. Sie waren weder stolz noch dumm genug, die Hilfe von Zauberern abzulehnen, und vermutlich war ihnen auch klar, dass ein Teil der Schuld die Götterdiener treffen würde, sollte noch Schlimmeres geschehen. Trotzdem wurden die beiden Götterdiener, die jetzt vortraten, mit Missachtung gestraft.

Hitte erbot sich, die Führung zu übernehmen, und keiner der anderen legte Widerspruch ein. Das Loch wurde in Augenschein genommen, und man stellte fest, dass es sich um einen breiten Riss im Boden, in der Decke und in den Wänden handelte, aber die Kluft war schmal genug, um darüber hinwegzuspringen. Man holte eine Sänfte herbei, die als Brücke genutzt werden konnte, und band das Gepäck den Sklaven, die ihre Lasten ohnehin kaum zu tragen vermochten, auf den Rücken. Die Denker überquerten den Spalt, und die Armee folgte ihnen.

Reivan vermutete, dass sie nicht die Einzige war, die dieses langsame Tempo ungeduldig machte. Sie waren dem Ende ihrer Reise durch die Berge so nahe. Die Stollensysteme auf der hanianischen Seite waren weniger weitläufig und hatten sie zu einem ansonsten unzugänglichen Tal geführt, das von Gaut-Hirten genutzt wurde. Der längere Weg durch die großen natürlichen Höhlen hatte ihnen die Notwendigkeit erspart, über eine steile Anhöhe zu klettern. Von dort aus waren sie einen Tag lang über schmale Bergpfade marschiert. Als sie auf dem Weg zu der Schlacht diesen Teil passiert hatten, waren sie bei Nacht gewandert, so dass die fliegenden Spione ihrer Feinde sie nicht entdecken konnten.

Jetzt brauchten sie nur noch einen Weg durch die Minen auf der sennonischen Seite des Gebirges zu finden, und …

Was? Unsere Probleme liegen hinter uns? Reivan seufzte. Wer weiß, was uns in Sennon erwartet? Wird der Kaiser eine Armee aussenden, die uns den Rest gibt? Wird er das überhaupt nötig haben? Wir haben nur noch wenige Vorräte übrig, und die sennonische Wüste liegt noch vor uns.

Sie hatte sich noch nie so weit von daheim entfernt gefühlt.

Für eine Weile verlor sie sich in frühen Erinnerungen: wie sie in der Schmiedewerkstatt ihres Vaters saß oder ihren Brüdern dabei half, Dinge zu bauen. Sie übersprang die kurze Zeit der Kränkung und des Gefühls, verraten worden zu sein, nachdem man sie den Götterdienern übergeben hatte, und dachte an die Freude, mit der sie lesen und schreiben gelernt und noch vor ihrem zehnten Jahr alle Bücher in der Klosterbibliothek gelesen hatte. Sie hatte alles repariert, angefangen von Wasserrohren bis hin zu Roben, sie hatte einen Apparat zum Abschaben von Häuten erfunden und ein Rezept zum Einmachen von Drimma, das dem Sanktuarium mehr Geld eingetragen hatte als alle anderen Produkte des Klosters zusammen.

Plötzlich stolperte Reivan und verlor beinahe das Gleichgewicht. Sie blickte auf und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass der Boden vor ihr uneben war. Hitte hatte sie in die natürlichen Tunnel gebracht. Sie sah den neuen Anführer der Denker an und bemerkte die vorsichtige Selbstsicherheit seiner Bewegungen.

Ich hoffe, er weiß, was er tut. Aber es scheint so zu sein. Oh, besäße ich doch nur die Fähigkeit der Götterstimmen, Gedanken zu lesen.

Sie dachte an Imenja und hatte mit einem Mal Gewissensbisse. Statt wachsam und nützlich zu sein, war sie in einen Tagtraum verfallen. Von jetzt an würde sie besser Acht geben.

Im Gegensatz zu den höher in den Bergen gelegenen Stollen, die gerade und breit waren, waren die Gänge hier schmal und gewunden. Sie zweigten nicht einfach nur nach links und rechts ab, sondern stiegen in die Höhe und fielen wieder ab, und das häufig sehr unvermittelt. Die Luft wurde immer feuchter und schwerer. Imenja ordnete mehrmals Pausen an, um den Götterdienern Zeit zu geben, frischere Luft herabzuziehen.

Dann wurden die Wände des Tunnels jäh breiter, und Imenjas Licht erhellte eine riesige Höhle.

Reivan sog scharf die Luft ein. Überall um sie herum fanden sich fantastische weiße Säulen, einige so dünn wie ein Finger, andere breiter als die uralten Bäume von Dekkar. Manche hatten sich zu wahren Vorhängen vereinigt, andere waren abgebrochen, und über ihren Stümpfen hatten sich pilzähnliche Oberflächen gebildet. Alles glitzerte von Feuchtigkeit.

Als Reivan sich umdrehte, sah sie, dass Imenja lächelte. Die Zweite Götterstimme ging an den Denkern vorbei in die Höhle und blickte zu den Felsformationen auf.

»Wir werden hier für eine Weile Rast machen«, verkündete sie. Ihr Lächeln verblasste, und sie sah die Denker vielsagend an, bevor sie sich abwandte und die Armee in die Höhle führte.

Reivan blickte zu Hitte hinüber, und plötzlich wurde ihr klar, was Imenjas Verhalten hervorgerufen hatte. Auf Hittes Stirn standen Sorgenfalten. Kurz darauf entfernten sich die Denker von den Menschen, die in die Höhle traten, und begannen eine gedämpfte Unterhaltung.

Sie bewegte sich ein wenig näher an die Gruppe heran und konnte genug Worte auffangen, um ihren Verdacht bestätigt zu sehen. Hitte wusste nicht, wo sie waren. Er hatte geglaubt, weiteren Fallen ausweichen zu können, indem er sich in die natürlichen Tunnel begab, wo mögliche Fallen augenfälliger sein sollten, aber die Tunnel hatten sich nicht, wie er gehofft hatte, wieder mit den von Menschen geschaffenen Wegen vereint. Jetzt fürchtete er, dass sie sich verirrt hatten.

Reivan seufzte und ging weiter. Wenn sie noch mehr mit anhörte, würde sie vielleicht etwas sagen, was sie später bereute. Als sie sich ein gutes Stück von den Denkern entfernt hatte, stellte sie fest, dass die Höhle noch größer war, als sie zuerst geglaubt hatte. Die Geräusche der Armee verklangen hinter ihr, während sie zwischen den Säulen hindurchging, über kleine Erhebungen stieg und durch Pfützen watete. Imenjas Licht hüllte die verschiedenen Bereiche der Höhle entweder in strahlende Helligkeit oder in tintenblaue Schatten. An einer Stelle war der Boden über eine größere Fläche eben und erhob sich dann in geschwungenen Terrassen. Reivan prägte sich alle Öffnungen ein, die sie sah und bei denen es sich möglicherweise um Stollen handelte.

Während sie einen dieser Eingänge in Augenschein nahm, erklang hinter ihr ein tiefes, wortloses Geräusch. Sie erstarrte, sah sich vorsichtig um und fragte sich, ob ihr jemand gefolgt war. Die Stimme wurde lauter und drängender, bis sie sich in ein wütendes Stöhnen verwandelte. War es der Fallensteller? Ein Einheimischer, der auf Rache sann – außerstande, eine ganze Armee anzugreifen, aber sehr wohl bereit, an einzelnen Personen Vergeltung zu üben? Sie keuchte vor Angst und wünschte sich verzweifelt, dass sie sich nicht von den anderen abgesondert hätte oder dass ihre magischen Fähigkeiten nicht so gering gewesen wären, dass sie lediglich einen winzigen, jämmerlichen Funken hervorbringen konnte.

Wenn ihr allerdings jemand in böser Absicht gefolgt war, würde er seine Anwesenheit nicht durch lautes Stöhnen verraten. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen. Wenn das, was sie hörte, keine Stimme war, was war es dann?

Als ihr die Antwort auf diese Frage dämmerte, entlockte ihre eigene Dummheit ihr ein lautes Lachen.

Der Wind. Er weht durch diese Tunnel wie Atem durch ein Rohr.

Jetzt, da sie sich darauf konzentrierte, konnte sie eine Bewegung in der Luft wahrnehmen. Sie bückte sich, um die Finger in einer Pfütze zu befeuchten, dann ging sie mit ausgestreckten Händen auf das Geräusch zu. Ein schwacher Windhauch strich über ihre nasse Haut und führte sie zu einer größeren Öffnung an einer Seite der Höhle, wo er sich in eine stärkere Luftströmung verwandelte.

Lächelnd machte sie sich auf den Rückweg zu der Armee.

Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie sich weit von den anderen entfernt hatte. Inzwischen waren alle fünf Marschkolonnen eingetroffen und scharten sich um die Felsformationen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Statt Staunen und Überraschung lag Furcht in ihren Zügen. Außerdem waren sie für eine so große Ansammlung von Menschen zu still.

Hatten die Denker ihre Situation verraten? Oder hatten die Götterstimmen beschlossen, der Armee mitzuteilen, dass sie sich verirrt hatten? Als Reivan näher kam, sah sie die vier Götterstimmen auf einem Felsvorsprung stehen. Sie wirkten so gelassen und selbstsicher wie immer. Imenja blickte hinab und sah Reivan in die Augen.

Dann war plötzlich wieder das Stöhnen zu hören. Hier in der Höhle war es schwächer, und es war schwieriger zu erkennen, dass es sich um den Wind handelte. Reivan hörte die Menschen keuchen und Gebete murmeln, und jetzt begriff sie auch, was den Männern und Frauen solche Angst eingejagt hatte. Gleichzeitig sah sie Imenjas Mundwinkel vor Erheiterung zittern.

»Es ist der Aggen! Das Ungeheuer!«, rief jemand.

Reivan schlug die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu verbergen, und bemerkte, dass auch die anderen Denker lächelten. Der Rest der Armee schien dieser Idee jedoch Glauben zu schenken. Männer und Frauen scharten sich zusammen, und einige schrien vor Angst auf.

»Er wird uns fressen!«

»Wir sind in seine Höhle eingedrungen!«

Sie seufzte. Jeder hatte die Legende des Aggen gehört, einer gewaltigen Bestie, die angeblich unter diesen Bergen lebte und jeden fraß, der töricht genug war, in die Minen vorzudringen. In den älteren Minen gab es sogar Schnitzereien von dem Ungeheuer mit kleinen Opfernischen darunter – als ließe sich eine Kreatur von solcher Größe mit einer Opfergabe zufriedenstellen, die in einen solch kleinen Raum passte.

Oder als könnte es überhaupt überleben. Kein Geschöpf von so ungeheuren Ausmaßen, wie sie diesem Aggen zugeschrieben wurden, konnte sich von vereinzelten törichten Entdeckern ernähren. Und wenn es dazu in der Lage wäre, müsste es erheblich kleiner sein, als die Legenden behaupteten.

»Volk der Götter.« Imenjas Stimme hallte durch die Höhle, und ihre Worte fanden in der Ferne ein Echo, als jagten sie dem Stöhnen hinterher. »Fürchtet euch nicht. Ich kann keine anderen Geister hier unten wahrnehmen als unsere eigenen. Dieses Geräusch ist nur der Wind. Er strömt durch diese Höhlen wie Atem durch ein Rohr – aber nicht so melodisch«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Es gibt hier unten kein anderes Ungeheuer als unsere eigenen Fantasie. Denkt stattdessen an die frische Luft, die dieser Wind mit sich bringt. Ruht euch aus und erfreut euch an den Wundern, die euch umgeben.«

Die Armee war still geworden. Jetzt konnte Reivan Soldaten hören, die das Geräusch nachäfften oder sich über jene lustig machten, die ihre Ängste laut ausgesprochen hatten. Ein Götterdiener trat an Reivan heran.

»Denkerin Reivan? Die Zweite Stimme wünscht, dich zu sprechen«, sagte der Mann.

Reivans Herz setzte einen Schlag aus. Sie eilte hinter dem Mann her. Als sie den Felsvorsprung erreichte, wandten sich die anderen Götterstimmen ihr voller Interesse zu.

»Denkerin Reivan«, begann Imenja. »Hast du einen Weg ins Freie entdeckt?«

»Vielleicht. Ich habe einen Tunnel gefunden, durch den der Wind weht. Dieser Wind könnte von draußen kommen, aber wir werden erst wissen, ob der Tunnel passierbar ist, wenn wir ihn erkundet haben.«

»Dann erkunde ihn«, befahl Imenja. »Nimm zwei Götterdiener mit. Sie werden dir Licht geben und Verbindung mit mir aufnehmen, sollte sich der Tunnel als nützlich erweisen.«

»Ich werde tun, was du sagst, Heilige«, erwiderte Reivan. Sie machte das Zeichen der Götter über ihrer Brust, dann entfernte sie sich. Zwei Götterdiener, ein Mann und eine Frau, traten neben sie. Sie nickte ihnen höflich zu, bevor sie sie wegführte.

Sie fand den Tunnel mühelos wieder und ging hinein. Der Boden war uneben, und sie mussten an manchen Stellen steile Anhöhen erklimmen. Das Stöhnen wurde lauter, bis das Geräusch durch ihren Körper vibrierte. Die beiden Götterdiener rochen trotz des kalten Windes nach Schweiß, verloren jedoch kein Wort über ihre Ängste. Ihre magischen Lichter waren vielleicht eine Spur zu hell, aber Reivan beschwerte sich nicht darüber.

Als das Geräusch ohrenbetäubend wurde, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass der Tunnel sich vor ihnen zu einem Spalt verengte. Sie wartete darauf, dass der Wind ein wenig schwächer wurde, dann schob sie sich seitwärts in den Spalt. Die Götterdiener blieben unsicher stehen.

Der Spalt wurde noch enger, bis Reivan förmlich zwischen den Felswänden festsaß. Vor ihr lag nur Dunkelheit, aber sie konnte ertasten, dass die Wegenge um eine Kurve führte.

»Könnt ihr mit euren Lichtern ein wenig tiefer hineinleuchten?«, rief Reivan.

»Du wirst mich leiten müssen«, kam die Antwort.

Der kleine Lichtfunke schwebte an Reivans Kopf vorbei und hielt dann inne.

»Wohin jetzt?«

»Ein wenig weiter nach rechts«, rief sie zurück.

»Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte der andere Götterdiener. »Was ist, wenn du stecken bleibst?«

»Dann werde ich mich befreien«, erwiderte sie in der Hoffnung, dass sie recht hatte. Denk nicht darüber nach. »Ein wenig weiter nach vorn und dann nach rechts. Das ist es… jetzt nach links – nicht so schnell.«

Als sich das Licht dem Ende der Biegung näherte, konnte sie erkennen, dass der Tunnel dahinter wieder breiter wurde. Er mochte sich später abermals verengen, aber das konnte sie nur erfahren, wenn sie ihn weiter erkundete. Sie zwängte sich ganz durch die Lücke, spürte, wie der Druck nachließ, schob sich um die Biegung herum…

… und seufzte erleichtert auf, als sie feststellte, dass der Tunnel vor ihr immer breiter wurde. Sie brauchte nur wenige Schritte zu tun, dann konnte sie die Arme ausstrecken, ohne den Felsen zu beiden Seiten zu berühren. Vor ihr setzte sich die Rechtskurve fort. Das magische Licht der Götterdiener erhellte jetzt zwar nicht länger ihre Umgebung, aber vom Ende des Stollens kam ein schwacher Lichtschein. Sie eilte weiter und stolperte beinahe auf dem unebenen Boden. Als sie eine weitere Biegung erreichte, stellte sie dankbar fest, dass die Wände des Tunnels vor ihr grün und grau gefärbt waren.

Felsen und Bäume. Sie war draußen.

Lächelnd kehrte sie zu der Stelle zurück, an der der Tunnel sich verengte, und berichtete den Götterdienern, was sie gefunden hatte.


Reivan beobachtete, wie sich die Armee aus dem Tunnel ergoss. Während alle Männer und Frauen kurz innehielten, um sich umzusehen, stand ihnen die Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben. Dann gingen sie weiter den schmalen Pfad entlang, der zum oberen Ende der Schlucht hinaufführte. Inzwischen waren so viele Menschen vorbeigegangen, dass sie sie nicht mehr zählen konnte.

Einige Götterdiener hatten den Tunnel mit Magie verbreitert. Der Weiße Wald, wie Imenja diese Stelle genannt hatte, würde nicht länger von stöhnenden Winden heimgesucht werden. Es war zwar eine Schande, aber nur wenige Männer und Frauen in der Armee wären imstande gewesen, sich durch die schmale Lücke zu zwängen, wie Reivan es getan hatte.

Jetzt kam eine Gruppe von Sklaven heraus. Sie schienen genauso froh wie alle anderen zu sein, die Minen hinter sich lassen zu können. Am Ende dieser Reise würde man ihnen die Freiheit schenken und ihnen bezahlte Arbeit anbieten. Der Dienst in der Armee hatte ihnen eine Strafmilderung eingetragen. Trotzdem bezweifelte Reivan, dass sie mit ihrem Anteil an diesem gescheiterten Versuch, die Zirkler zu besiegen, prahlen würden.

Die Niederlage dürfte im Augenblick niemanden besonders interessieren, ging es ihr durch den Kopf. Sie sind einfach nur glücklich darüber, das Sonnenlicht zu sehen. Schon bald werden sie alle ängstlich darüber nachdenken, dass sie die Wüste durchqueren müssen.

»Denkerin Reivan«, erklang eine vertraute Stimme in ihrer unmittelbaren Nähe.

Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Imenja stand hinter ihr.

»Es tut mir leid, Heilige. Ich habe dich nicht kommen hören.«

Imenja lächelte. »Dann sollte ich mich dafür entschuldigen, dass ich mich an dich herangeschlichen habe.« Sie sah die Sklaven an, aber ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Ich habe die übrigen Denker vorausgeschickt, um einen Weg hinunter zur Wüste zu suchen.«

»Hätte ich mich ihnen anschließen sollen?«

»Nein, ich möchte mit dir reden.«

In diesem Moment wurde der Sarg mit Kuars Leichnam durch die Öffnung des Tunnels getragen, und Imenja hielt inne. Sie sah dem Sarg nach, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

»Ich glaube nicht, dass magische Befähigung eine unabdingbare Voraussetzung für alle Götterdiener sein sollte. Für die meisten vielleicht, aber wir sollten auch anerkennen, dass manche Männer und Frauen uns andere Talente zu bieten haben.«

Reivan hielt den Atem an. Imenja würde doch nicht…

»Würdest du eine Götterdienerin werden wollen, falls man es dir anböte?«

Eine Götterdienerin? Wovon Reivan ihr Leben lang geträumt hatte?

Imenja blickte zu Reivan hinüber, während diese sich noch bemühte, ihre Stimme wiederzufinden.

»Es… es wäre mir eine Ehre, Heilige«, stieß sie hervor.

Imenja lächelte. »Dann soll es so geschehen, sobald wir wieder zu Hause sind.«

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