Teil 3

37

Obwohl er eine Woche am Rand des Waldes von Si Rast gemacht hatte, wo ihn der ansässige Stamm mit reichlich Nahrung und Wasser versorgte, musste Tyziss noch immer gegen eine tiefe, unbezähmbare Erschöpfung ankämpfen, wenn er flog. Er sehnte sich nach Ruhe, aber sein Verlangen, das Offene Dorf und seine Familie zu erreichen, war mächtiger. Obwohl sie inzwischen die Nachricht bekommen haben mussten, dass er den Pentadrianern hatte entfliehen können, wusste er, dass sie sich weiter um ihn sorgen würden, bis er zu Hause war.

Sreil flog ein kurzes Stück vor ihm. Ihr Anführer hatte seit seiner Befreiung aus dem Sanktuarium nur ein einziges Mal Rast gemacht. Er hatte sich geweigert, länger zu ruhen, fest entschlossen, dass nicht er derjenige sein würde, der die Rückkehr der Krieger ins Offene Dorf verzögerte.

Er muss vollkommen erschöpft sein, dachte Tyziss. Nur die Hälfte der befreiten Siyee hatte es zurück zur Grenze von Si geschafft. Das Wasser und das Essen, das die Pentadrianer ihnen mitgegeben hatten, waren nicht genug gewesen für die Reise, aber andererseits hätten die Siyee ohnehin nicht mehr tragen können.

Tyziss hatte beschlossen, über einen anderen Weg nach Hause zurückzukehren, an der Küste Sennons entlang. Er machte in Dörfern Halt, um Essen und Nahrung zu erbitten, weil er zu dem Schluss gelangt war, dass es keinen Grund mehr gab zu fürchten, dass sennonische Pentadrianer die Anwesenheit eines Siyee in ihrem Land melden würden.

Nur die Krieger, die zu demselben Schluss gekommen waren wie er, hatten die Reise überlebt. Es war jedoch die längere Strecke. Tyziss hatte vier Wochen gebraucht, um Si zu erreichen. Sreil war eine Woche später angekommen.

Als der erste Siyee es bis zur Grenze von Si geschafft hatte, war der einheimische Stamm mit Wasser für die folgenden Flüchtlinge in die Wüste geflogen, aber die meisten der Siyee, die gestorben waren, waren vermutlich binnen weniger Tage nach ihrer Ankunft in Sennon verdurstet. Einige waren wahrscheinlich in der Luft ohnmächtig geworden und vom Himmel gestürzt, andere waren vielleicht zu schwach gewesen, um sich wieder in die Luft zu erheben, nachdem sie für die Nacht gelandet waren, oder aber sie hatten die Orientierung verloren. Einige Tage, bevor Tyziss Si erreicht hatte, war er einer Spur schwacher Fußabdrücke gefolgt, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, dass sie von einem Landgeher stammten, der ihm vielleicht helfen würde. Stattdessen hatte er einen Siyee im Sand gefunden. Er war gelandet, nur um feststellen zu müssen, dass der Mann tot war. Es hatte ihn so viel Energie gekostet, abermals Anlauf zum Fliegen zu nehmen, dass er um ein Haar das Bewusstsein verloren hätte. Nachdem er eine kurze Strecke weitergeflogen war, hatte er in der Ferne einen Brunnen gesehen.

Armer Tilyl. Er hatte nicht gewusst, wie nah er dem Ziel war.

Er drängte diesen Gedanken beiseite und versuchte, an zu Hause zu denken, aber sein Geist bewegte sich immer wieder zu dunkleren Orten. Der Durst war nicht der einzige Mörder der Siyee gewesen. Als Sreil ihnen am Tag nach seiner Ankunft befohlen hatte, zum Offenen Dorf zu fliegen, hatte jemand nach dem Priester gefragt.

»Teel ist tot und Auraya gefangen«, hatte Sreil ihnen mit schwerem Herzen erzählt. »Sie hat in einem Traum zu mir gesprochen und es mir erzählt.«

Zumindest ist es ihr gelungen, uns alle bis auf einen zu befreien, sagte sich Tyziss. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es den Pentadrianern möglich war, Auraya festzuhalten. Sie war eine mächtige Zauberin. Aber das Gleiche galt für die pentadrianischen Anführer. Und sie waren zu fünft.

Der Siyee überwand einen Hügel, und auf einem Berghang vor ihm erschien eine große Narbe im Fels. Das Offene Dorf. In Tyziss stiegen so mächtige Gefühle auf, dass ihm ganz schwindlig wurde. Seine Armmuskeln begannen zu zittern. Er holte tief Luft und zwang sich, nicht die Kontrolle über seine Bewegungen zu verlieren.

Ich darf jetzt nicht scheitern, so kurz vor dem Ziel.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie diese ferne Fläche nackten Felsens erreichten. Einige Siyee flogen ihnen entgegen und begrüßten sie mit Pfiffen. Tyziss begann abermals zu zittern, als er seine Frau bemerkte. Er sah Tränen in ihren Augen. Seine eigenen Tränen wurden vom Wind schnell getrocknet.

Schließlich begannen sie zu kreisen, um zu landen. Als Tyziss festen Boden unter den Füßen spürte, seufzte er vor Erleichterung. Yissi umarmte ihn und zog ihn fest an sich. Er war zu Hause, endlich zu Hause.

»Die Mädchen?«, fragte er.

Yissi lächelte. »Es geht ihnen gut. Ich habe sie bei meiner Schwester gelassen.« Dann erschien eine Falte zwischen ihren Brauen. »Oh, Ty. Wirst du gleich wieder fortgehen? Du bist so dünn geworden. Du siehst vollkommen erschöpft aus.«

»Fortgehen?«, fragte er.

Er hörte Sreils Stimme lauter werden.

»Wann sind sie aufgebrochen?«, verlangte der junge Mann zu wissen.

»Beim letzten schwarzen Mond«, antwortete ein alter Mann, in dem Tyziss Sprecher Ryliss erkannte.

Sreil blickte zu den heimgekehrten Siyee hinüber. »Wir müssen uns ihnen anschließen.«

»Nein«, erwiderte Ryliss entschieden. »Du und deine Krieger, ihr seid erschöpft. Ihr habt nicht die Kraft, sie einzuholen.«

»Es wird reichen, wenn wir eine Nacht durchschlafen«, antwortete Sreil.

»Nein, Sreil. Ich verbiete es. Es sind zu viele fortgegangen, so dass wir beinahe schutzlos zurückgeblieben sind. Wir brauchen einige Kämpfer hier, für den Fall, dass wir angegriffen werden… Obwohl wir gehofft hatten, dass mehr von euch zurückkehren würden.«

»Wir sind zu wenige, um eine angreifende Armee zurückzuschlagen«, sagte Sreil. »Aber wir können den Zirklern helfen, gegen die Pentadrianer zu kämpfen. Es hat keinen Sinn, wenn wir bleiben…«

»Bist du so versessen darauf, diese armen Männer abermals durch die Wüste zu schleppen?«, fragte der alte Mann.

Sreil sah ihn an, dann schüttelte er den Kopf.

»Sie werden nicht im grünen Hania kämpfen, Sreil«, erklärte Ryliss. »Diese Schlacht soll auf dem Boden der Pentadrianer ausgefochten werden. Sie wollen Sennon durchqueren und auf den südlichen Kontinent vorstoßen. Du würdest sie nicht rechtzeitig erreichen. Wahrscheinlich würdest du sie niemals erreichen. Bleib hier, wo du gebraucht wirst.«

Sreils Schultern sackten herab. Er nickte, und die Siyee um ihn herum seufzten vor Erleichterung. Tyziss wandte sich zu Yissi um.

»Die Zirkler greifen Südithania an?«

Sie nickte.

Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Ein weiterer Krieg so kurz nach dem letzten?« Dann runzelte er die Stirn, als ein Verdacht in ihm aufstieg. »Wo sind meine Eltern?«

»Fort«, sagte sie seufzend. »Sie waren nicht die Einzigen, die zu alt oder zu jung waren, um in einen Krieg zu ziehen, und doch war unsere Armee nur halb so groß wie beim letzten Mal.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wenn ich mir nicht so sicher gewesen wäre, dass du zurückkommen würdest, hätte ich mich ebenfalls der Armee angeschlossen.«

Er sah sie forschend an, und angesichts ihrer ernsten Miene durchzuckte ihn ein Stich tiefer Zuneigung.

»Du? Eine Kriegerin?«, fragte er mit gespielter Ungläubigkeit.

Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Ein schöner Ehemann bist du. Ich erzähle dir, dass ich nie die Hoffnung aufgegeben habe und für deinen Tod Rache gesucht hätte, und du lachst mich nur aus?«

Er nickte. »Ja. Lass mich lachen. Ich habe in letzter Zeit nicht viel Grund dazu gehabt. Und nun - wo sind unsere Mädchen?«

Sie lächelte und führte ihn davon.


Emerahls von Magie genährter Lichtfunken enthüllte einen unberührten Raum. Sie duckte sich unter der kleinen Tür hindurch und trat ein, erleichtert zu sehen, dass sich nichts verändert hatte. Ihre Unterkunft war eine Kuppel aus verwobenen Schilfgräsern, die an dem sandigen Flussufer verankert waren. Alles hier am Fluss bestand aus Schilf, angefangen von den Booten bis hin zu den Möbeln der Häuser, eingeschlossen dieser kleinen Kuppeln, die man mieten konnte.

Die Wände vermittelten eine Illusion von Ungestörtheit, aber es gab reichlich Lücken in dem Gewebe, durch die jemand schauen konnte. Bisher hatte sie niemanden dabei ertappt, dass er ihr nachspionierte. Die Einheimischen betrachteten ein solches Tun als ein Verbrechen, aber das wäre kein Hindernis gewesen, wenn irgendjemand Verdacht geschöpft hätte, dass sie einen Schatz bei sich trug.

Sie öffnete den Schilfkorb, in dem der frisch gedämpfte Fisch und die Schilfsprossen lagen, die sie mitgebracht hatte. Während sie aß, betrachtete sie die Matte, unter der sie den Beutel mit ihrem Schatz versteckt hatte.

Er war eher lästig als nützlich gewesen. Während der vergangenen beiden Wochen war sie nicht auf eine einzige Stadt getroffen, die groß oder wohlhabend genug gewesen wäre, um dort etwas zu verkaufen. Selbst das kleinste Schmuckstück besaß offenkundig großen Wert. Jeder, dem sie etwas zu verkaufen versuchte, würde annehmen, dass sie es gestohlen hatte. Selbst wenn den Betreffenden das nicht scherte, würde er vielleicht erraten, dass sie noch mehr besaß, und versuchen, sie zu bestehlen. Obwohl sie zuversichtlich war, dass sie etwas Derartiges hätte verhindern können, wollte sie doch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Den Zwillingen zufolge war Raynora einige Tage, nachdem Emerahl ihm den Schatz abgenommen hatte, dabei erwischt worden, wie er sich in Barmonias Zelt schlich. Er hatte Barmonia davon überzeugen können, dass Emerahl ihn überlistet und beraubt habe. Barmonia hatte eine Warnung an die Denker in Glymma geschickt und ihnen Weisung gegeben, nach einer Frau von Emerahls Beschreibung Ausschau zu halten, die gestohlene Artefakte bei sich trug.

Das machte es gefährlich, den Schmuck in Glymma zu veräußern. Die Zwillinge suchten nach jemandem in der Stadt, an den sie vielleicht würde verkaufen können. Sie könnte einige der hässlicheren Schmuckstücke auseinandernehmen und die Edelsteine und Goldketten getrennt verkaufen, aber ihr gefiel der Gedanke nicht, etwas von dem Schatz irgendeinem Schurken zu überlassen, der seinen wahren Wert nicht kannte. Diese Dinge waren mehr als nur Stücke aus Gold und Edelsteinen; sie stammten aus einem anderen Zeitalter - einem Zeitalter, als es in Ithania mehr Götter als Länder gegeben hatte.

Es wäre sicherer, den Schatz auf dem nördlichen Kontinent zu verkaufen, aber das bedeutete, dass sie den schweren Beutel mit sich herumschleppen musste. Sie fühlte sich versucht, ihn irgendwo zu verstecken, hatte bisher aber noch keine Stelle gefunden, die ihr sicher genug erschien. In der Zwischenzeit ging ihr langsam das Geld aus. Für einen Heiler war hier nicht viel Gewinn zu machen. Traumweber waren ebenso alltäglich wie Schmiede und Tuchhändler. Vor einigen Tagen war sie gezwungen gewesen, ihr Arem zu verkaufen. Das Geld, das sie dafür erhalten hatte, sollte genügen, bis sie Glymma erreichte.

Wenn sie einige der Schmuckstücke verkaufen konnte, würde sie eine Überfahrt auf einem Schiff nach Karienne buchen. Wenn nicht, würde sie zu Fuß über die Landenge gehen oder feststellen müssen, ob sie sich auf einem der kleinen Boote verdingen konnte, um auf diese Weise eine Überfahrt zu bekommen. Diese Boote segelten nach Diamyane, der Stadt am sennonischen Ende der Landenge. So oder so, sie würde zu den Roten Höhlen und den Zwillingen reisen.

Die Zwillinge. Sie lächelte. Sie waren erschrocken, als sie von den Risiken erfahren hatten, die sie eingegangen war, indem sie die Denker allein aufgrund der wagen Vermutung verlassen hatte, dass die Geheimnisse der Götter sich unter den von Ray gestohlenen Schätzen befanden. Jetzt brannten sie darauf, die Diamanten mit eigenen Augen zu sehen. Vielleicht würden sie mehr Erfolg damit haben als Emerahl.

Als sie zu dem Schluss gekommen war, dass kein Fleisch mehr an den Gräten des Fisches verblieben war, wischte sie sich die Hände ab. Dann zog sie die Kette unter ihrer Kleidung hervor und untersuchte den Anhänger, der daran baumelte, mit großer Konzentration. Der Diamant war von zwei sich kreuzenden Silberringen eingefasst, auf denen sich Schriftzeichen befanden. Einige davon standen auf dem Kopf:

ein Licht/Tod

zwei Lichter/zwei

drei Lichter/drei

vier Lichter/

Sie besah sich den Diamanten genau. Die Ringe bildeten zusammen einen Rahmen für die vier größten Facetten des Steins. Wenn sie den Diamanten vor ihren Lichtfunken hielt, warf das Licht Formen an die Wände. Falls es sich dabei ebenfalls um Schriftzeichen handelte, waren diese entweder so alt oder so selten, dass Emerahl noch nie zuvor darauf gestoßen war. Das Problem war, dass die Zwillinge sie ebenso wenig kannten.

Während sich der Anhänger am Ende der Kette drehte, bewegten sich die Schatten der Schriftzeichen gleichzeitig nach links und nach rechts. Diejenigen, die sich nach rechts drehten, waren schwerer erkennbar, bis sie merkte, dass es gespiegelte Bilder der sich nach links bewegenden Zeichen waren. Als ihr Licht auf eins der Silberbänder fiel, wanderte eine dunkle Linie über die Wand. Dunkle Linien und Schriftzeichen wechselten einander ab.

Dann erkannte sie plötzlich ein Schriftzeichen. Es war ein vollständiges Zeichen des Sorli mit der Bedeutung »Licht«. Sie musterte den Diamanten eingehend. Die dem Licht zugewandte Facette des Steins befand sich zwischen den Ringabschnitten mit der Aufschrift ein Licht/Tod und zwei Lichter/ ein Schlüssel.

Sie drehte den Diamanten ein wenig zwischen den Fingern, aber nur so weit, dass ihr immer die gleiche Facette zugewandt blieb. Wenn sie nur die Schriftzeichen las, die aufrecht und richtig herum auf dem Diamanten erschienen, lauteten die Worte:

ein Licht/ein Schlüssel

Emerahl lächelte. Wenn sie auf dieselbe Weise vorging, lauteten die übrigen:

zwei Lichter/zwei Wahrheiten

drei Lichter/drei Geheimnisse

vier Lichter/Tod

Sie griff nach der Kette und ließ den Anhänger abermals herunterbaumeln. Dann schob sie ihren Lichtfunken näher heran und beobachtete, wie die Linien und Formen an der Wand größer wurden. Sie fand das Zeichen für »Licht«, und Erregung packte sie, als ihr klar wurde, dass das, was sie für weitere unvertraute Symbole gehalten hatte, in Wirklichkeit die simplen Schriftzeichen für Zahlen waren.

Aber die Erregung verebbte schnell. Sie konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen. Die unvertrauten Glyphen auf der verkehrt beschrifteten Seite überlappten sich und verwischten die vertrauten Symbole. Wenn sie ihren Funken näher an den Diamanten heranbewegte, wurde es noch schlimmer.

Wenn ich doch nur diese Symbole auf der umgekehrten Seite loswerden könnte… Sie blinzelte, dann lächelte sie. Natürlich kann ich das. Ich brauche das Licht lediglich an ihnen vorbeizuleiten.

Aber das bedeutete, dass sie ihr Licht in den Diamanten hineinbewegen musste. Sie war sich nicht sicher, ob sie das tun konnte, ohne den Stein zu beschädigen.

Sie ließ den Anhänger auf ihren Schoß fallen und wog das Risiko ab. Vielleicht sollte sie warten, bis sie die Zwillinge erreichte. Oder sie sollte sie zumindest fragen, ob es möglich war, ein Licht in einen Diamanten zu bewegen, ohne ihn zu beschädigen.

Sie betrachtete die Matte, unter der sie den Schatz versteckt hatte.

Vielleicht kann ich es zuerst an einem anderen Edelstein ausprobieren.

Vorher überprüfte sie jedoch den Geist der Menschen um sich herum. Die Leute, die ihr am nächsten waren, befanden sich in der benachbarten Binsenkuppel einige Schritte von ihr entfernt. Sie deckte den Schatz schnell und vorsichtig auf und achtete darauf, dass ihr dabei nichts auf die feuchtigkeitsdurchtränkte Erde fiel. Ohne lange suchen zu müssen, fand sie einen in einen dicken Goldring eingefassten Diamanten, der sich in einigen Ketten verfangen hatte.

Sie befreite ihn und betrachtete den Stein. Er war mit keinerlei Markierungen versehen. In den vergangenen Wochen hatte sie den gesamten Schatz bereits sorgfältig daraufhin überprüft und nichts entdeckt, was Schriftzeichen oder andere vielsagende Merkmale aufwies.

Dann führte sie ihr Licht nahe heran und machte es so klein und so kühl, wie es ihr möglich war. Langsam schob sie es an die Oberfläche des Diamanten heran. Und als sie den Lichtfunken mit ihrem Willen hineinbewegte, spürte sie keinerlei Widerstand.

Die Lichtwirkung in der Kuppel war recht hübsch. Die Facetten des Diamanten warfen ihr Muster auf die Wände. Sie bewegten sich und zeichneten die Bewegungen ihrer Hände um ein Vielfaches vergrößert nach. So sehr sie auch versuchte, die Hände ruhig zu halten, die ganze Kuppel wirkte doch, als zittere sie.

Nachdem sie das Licht wieder aus dem Edelstein herausgeführt hatte, legte sie ihn beiseite und nahm erneut den mit Schriftzeichen versehenen Stein zur Hand. Sie holte tief Luft, hielt ihn so ruhig sie konnte und bewegte ihr Licht hinein.

Ringsum an der Wand erschien ein Gewirr aus Schriftzeichen und Linien, erst rasch bewegt, dann stillstehend. Sie sah sich um und spürte Enttäuschung in sich aufsteigen. Die Schriftzeichen schoben sich immer noch übereinander und bildeten dabei unverständliche Symbole. Aber als sie einen Blick hinter sich warf, konnte sie ein kurzes Aufwallen von Erregung, Erleichterung und Triumph nicht unterdrücken. Ein Abschnitt war vollkommen klar. Linien und Zahlen umgaben die Schriftzeichen, die sie bereits identifiziert hatte.

Jetzt allerdings erwies sich das gerundete dunkle Riedgeflecht der Kuppel als Hindernis bei ihren Bemühungen zu verstehen, was sie sah. Was sie brauchte, war eine glatte, flache Wand. Oder irgendeine andere ebene Oberfläche.

Sie ließ ihren Blick durch die kleine Kuppel schweifen und stellte fest, dass das Tuch, das sie über ihr Bündel gebreitet hatte, eine relativ ebene Fläche bildete. Sie führte das Licht wieder aus dem Diamanten heraus, legte ihn hin und hängte die Decke mit Angelhaken und Zwirn unter die Kuppel.

Dann nahm sie den Diamanten wieder zur Hand und führte den Lichtfunken erneut vorsichtig hinein. Sie drehte den Stein so, dass die Seite mit der Inschrift ein Licht/ein Schlüssel der Decke zugewandt war und starrte auf die Form, die sich vor ihren Augen abzeichnete.

Es war ein von klaren Linien umrissenes Achteck, durch das nummerierte, gepunktete Linien führten und es in mehrere Segmente unterteilten. Im Zentrum stand das Schriftzeichen für »Licht«. Das ganze Diagramm bewegte sich durch das leichte Zittern ihrer Hände hin und her.

Sie hatte keine Ahnung, was es bedeuten mochte. Das Wort »Licht« in dem Achteck stand sicherlich für ein Licht in dem Diamanten. Aber was bedeuteten die Zahlen und die sich im Mittelpunkt des Achtecks schneidenden Diagonalen?

Auf Zahlen und Gleichungen habe ich mich nie besonders gut verstanden. Darum müssen sich die Zwillinge kümmern, beschloss sie. Sie starrte das Gebilde an, bis sie sich sicher sein konnte, dass sie sich an jede Einzelheit würde erinnern können, und zog dann ihr Licht aus dem Diamanten zurück. Im Anschluss legte sie sich ihn an seiner Kette um den Hals und verbarg den Rest des Schatzes wieder. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die ganze Kuppel durch einen magischen Schild gut geschützt war, legte sie sich nieder, um zu schlafen.


Zuerst dachte ich, es sei unwahrscheinlich, dass dieses gerettete Elai-Kind eine Prinzessin war, sagte Mirar zu Auraya. Eine Prinzessin wäre doch gewiss zu gut bewacht, um in die Hände von Seeräubern zu fallen. Aber jeder, dessen Gedanken ich abgeschöpft habe, hält es für wahr.

Das tun auch alle, denen ich begegnet bin.

Gestern hat Nekaun mir dann von dem Bündnis mit den Elai erzählt. Er schien recht stolz auf diese Tatsache zu sein, obwohl er nichts damit zu tun gehabt hatte. Es war einzig das Werk der Zweiten Stimme, Imenja, und ihrer Gefährtin.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der König der Elai aus einem geringeren Grund als der Rückkehr seiner Tochter ein Bündnis mit Landgehern schließen würde. Es ist eine beträchtliche Leistung.

Und eine Überraschung. Ich kann für die Pentadrianer keinen großen Nutzen in diesem Bündnis erkennen. Die Elai sind wohl kaum ein mächtiges oder großes Volk. Es wird ihnen vielleicht zu guter Letzt gelingen, die Zahlen der Piraten zu verringern, aber das wird dem Handel keinen großen Aufschwung geben, da nur wenige pentadrianische Kaufleute sich die Mühe machen, nach Toren oder Genria zu reisen.

Aber wenn sie Schiffe versenken können, werden sie vielleicht im Krieg ein wertvoller Verbündeter sein. Die Weißen müssen davon erfahren. Auraya hielt inne. Würdest du ihnen für mich eine Botschaft übermitteln?

Mirar wurde plötzlich flau im Magen.

Sie würden nichts glauben, was ich ihnen erzähle.

Sie brauchen ja nicht zu wissen, von wem es gekommen ist. Es müsste eine anonyme Warnung sein.

Ich bin mir nicht sicher, ob das klug wäre. Was werden die Weißen den Elai antun? Wenn sie wissen, dass das Meeresvolk sich den Pentadrianern angeschlossen hat, könnten sie die Elai vor der Schlacht angreifen, um zu verhindern, dass sie kämpfen. Dies ist vielleicht eine Angelegenheit, die besser verschleiert bleibt. Ich bezweifle, dass die Elai im Krieg eine große Rolle spielen werden, und wenn die Weißen gewinnen, besteht später wenigstens eine Chance auf Frieden.

Die Weißen werden sie nicht angreifen, versicherte Auraya ihm. Aber sie müssen wissen, dass ihre Schiffe in Gefahr sind.

Mirar wünschte langsam, er hätte das Thema nicht angeschnitten. Es schien ihm falsch zu sein, Auraya zu widersprechen, während sie wochenlang gefesselt in einem unterirdischen Gefängnis saß und er derweil wie ein Ehrengast behandelt wurde. Und er hatte noch keine Möglichkeit gefunden, sie zu retten, ohne dass seine Beteiligung offenbar wurde und das gute Verhältnis zwischen Traumwebern und Pentadrianern darunter leiden würde. Aber er konnte sich nicht von Schuldgefühlen und Mitleid dazu treiben lassen, etwas zu tun, womit er nicht einverstanden war.

Konntest du dich im Geiste weit genug wegbewegen, um die Gedanken der zirklischen Armee abzuschöpfen?, wechselte er das Thema. Hast du etwas von ihren Plänen belauschen können?

Noch nicht. Ich nehme an, ich werde auf das gleiche Problem stoßen, das ich schon hatte, als ich versucht habe, pentadrianische Kriegsräte auszuspionieren. Einige der Götter werden dort sein, und wenn ich nicht entdeckt werden will, werde ich mich fernhalten müssen.

Ein Stich der Furcht durchzuckte Mirar. Wenn er die Götter während des Gedankenabschöpfens nicht spüren konnte, wie Auraya es vermochte, dann konnten sie wahrscheinlich auch ihn nicht spüren. Unglücklicherweise war er noch immer ziemlich beschäftigt; mehrere Ergebene Götterdiener führten ihn im Sanktuarium oder in Glymma herum, wann immer ein Kriegsrat abgehalten wurde, so dass er ohnehin niemals die Gelegenheit bekam, sie auszuspionieren.

Du wirst einfach nach dem Kriegsrat die Gedanken der Gefährten abschöpfen müssen, um festzustellen, was sie wissen, riet er ihr. Und verfahre mit den Ratgebern der Weißen genauso.

Ja, pflichtete sie ihm bei. Obwohl es in den Gedanken der Gefährtin Reivan fast immer um Nekaun geht.

Sie ist vollkommen vernarrt in ihn, gab Mirar ihr recht. Und doch glaube ich nicht, dass sie ihn wirklich mag. Ich weiß, dass ihre Herrin es nicht tut… Meine Güte, wir tratschen wie alte Weiber!

Es könnte nützlicher Tratsch sein, falls wir die Situation zu unserem Vorteil verändern können.

Das ist wahr. Das Problem ist, ich habe keine Ahnung, wie wir das anfangen sollen.

Dir wird schon etwas einfallen. Oder mir. Im Augenblick habe ich nicht viel anderes zu tun.

Mirars Herz schnürte sich zusammen.

Bist du sicher, dass du zurechtkommst?

Ja. Mir geht es gut. Ich kann ein wenig körperliches Unbehagen ertragen.

Er wies sie nicht darauf hin, dass sie mehr als nur das zu erleiden hatte. Obwohl sie nichts sagte, wusste er, dass sie in steter Furcht leben musste. Nekaun konnte jeden Augenblick entscheiden, dass es an der Zeit sei, sie zu töten. Mirar war sich nicht ganz sicher, warum der pentadrianische Anführer es nicht bereits getan hatte.

Ein Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, und er spürte, dass er langsam aus der Traumtrance erwachte.

Ich muss Schluss machen, Auraya, sagte er. Ich werde mich heute Nacht mit dir vernetzen.

Das möchte ich dir auch geraten haben, sagte sie. Sonst werde ich…

Den Rest hörte er nicht mehr. Das Klopfen an der Tür zu seinen Räumen war laut und beharrlich. Er erhob sich vom Bett, sah sich um und seufzte.

Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass es mir nicht gelingen würde, mit diesen Stimmen zu einer Einigung zu kommen, dass sie mich in ihren Ländern nicht würden haben wollen. Jetzt, da ich feststelle, dass ich hier willkommen bin, kann ich diese Tatsache nicht genießen. Wenn Auraya nicht hier wäre, wäre ich entzückt von der Situation. Aber da sie ihre Gefangene ist, kann ich nicht umhin, sie als unsere Feinde zu betrachten.

Es war eine eigenartige und komplizierte Situation, und die Tatsache, dass die Zirkler gegen die Pentadrianer in den Krieg zogen, würde die Dinge nicht einfacher machen.

38

Das Knarren des sich öffnenden Tors zwang Auraya, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung zu lenken. Als ihr klar wurde, dass jemand in die Halle kam, krampfte sich ihr Magen zusammen, und ihr wurde flau, als sie sah, dass der Besucher Nekaun war.

Wie immer überschlugen sich die Fragen in ihrem Kopf. Würde er sie befreien? Würde er sie töten? Würde er sie befragen, sie foltern oder als Gegenleistung für ihre Freiheit irgendetwas Schreckliches von ihr verlangen?

Sie holte tief Luft, schob die Fragen und die Angst, die sie mit sich brachten, beiseite und straffte sich.

Nekaun blieb stehen und musterte sie schweigend, während sich um seine Lippen ein schwaches Lächeln abzeichnete.

Nein, es sieht so aus, als würde er dasselbe tun wie beim letzten Mal, beantwortete sie sich ihre früheren Fragen selbst.

Sie sehnte sich beinahe nach der Einsamkeit ihrer ersten Tage zurück, als man sie allein und unbeachtet in ihrem Gefängnis hatte sitzen lassen und die Götterdiener, die das Tor bewachten, der einzige Hinweis darauf waren, dass man ihre Anwesenheit hier nicht vergessen hatte.

Angekettet, wie sie war, konnte sie sich nicht hinlegen, um zu schlafen. Stattdessen musste sie in eine halb kniende, halb hängende Position sinken. Dann verlor sie langsam das Gefühl in den Armen, und ihre Schultern und Knie begannen zu schmerzen. Die Kälte in der Halle machte die Dinge nicht besser, aber das war die geringste ihrer Sorgen.

Nach einem Tag waren die Funktionen ihres Körpers zu einem unangenehmen Problem geworden. Zuerst wurde sie durstig, dann stieg quälender Hunger in ihr auf. Weder das eine noch das andere war leicht zu ertragen, aber die Konsequenzen waren weniger demütigend als der Drang, sich zu erleichtern. Sie konnte ihre Kleider nicht entfernen oder ihre Position allzu sehr verändern. Schließlich hatte sie sich so weit wie möglich zu einer Seite gestreckt, so dass sie zumindest nicht in ihrem eigenen Urin und ihren Exkrementen stehen musste.

Wer hätte gedacht, dass körperliche Vorgänge, die man jeden Tag erlebte und über die man kaum nachdachte, solches Unbehagen verursachen konnten? Sie hatte sich damit getröstet, dass diese Probleme ihr nicht allzu lange zusetzen würden, wenn man ihr nichts zu essen oder zu trinken brachte.

Als Nekaun nach drei Tagen zurückgekehrt war, war sie zu schwach gewesen, um zu stehen. Er hatte nichts gesagt, sondern nur sie und den Unrat neben ihr betrachtet und angewidert die Nase gerümpft. Dann war seine Miene nachdenklich geworden, und ein Leuchten war in seine Augen getreten. Er hatte sich zu den Götterdienern umgewandt und zu sprechen begonnen.

Als sie seine Anweisungen gehört hatte, hätte sie um ein Haar laut protestiert. Stattdessen hatte sie sich auf die Zunge gebissen und sich gesagt, dass es eine größere Demütigung gewesen wäre, ihn anzuflehen, als zu ertragen, was er vorhatte. Und ihr Flehen hätte ihn wahrscheinlich ohnehin nicht davon abgehalten.

Die Götterdiener hatten Domestiken gerufen, die ihr die Kleider vom Leib schnitten und eimerweise kaltes Wasser über ihr und dem Boden auskippten. Sie brachten ihr Wasser zu trinken und einen dünnen Brei, der, wie sie vermutete, aus irgendeinem Getreide hergestellt worden war. Sie konnte nicht selbst essen, daher musste sie zulassen, dass man ihr das Wasser und den Brei in den Mund goss.

Mittlerweile lag ein breites Lächeln auf Nekauns Gesicht. Das Leuchten in seinen Augen hatte sich verstärkt, als man sie entkleidet hatte, war dann aber wieder verschwunden, als die Domestiken ihr zu essen gaben. Es war offenkundig, dass er ihre Demütigung auskostete. Sie fühlte sich versucht, ihm den Brei ins Gesicht zu spucken, aber sie war zu hungrig, um ihn zu vergeuden.

An diesem Tag hatte sie entdeckt, dass sie leben wollte. Sie war sich noch nicht sicher, wie stark dieser Wille war, aber sie fürchtete sich davor herauszufinden, was sie möglicherweise zu tun bereit wäre, um nicht zu sterben. An welchem Punkt würde sie ihre Meinung ändern und den Tod herbeisehnen?

Wenn Nekaun die Antworten auf dieselben Fragen wissen wollte, so hatte er es jedenfalls nicht eilig, es herauszufinden. Bisher hatte er sie lediglich verhöhnt.

»Sei mir gegrüßt, Auraya«, sagte er. »Ich darf doch davon ausgehen, dass dein Quartier deine Zustimmung findet?«

Sie ignorierte ihn. Ähnliche Fragen hatte er bisher jedes Mal gestellt. »Gefällt dir dein Aufenthalt bei uns?« - »Gibt es irgendetwas, das ich dir besorgen kann?«

Als sie eine Bewegung hinter ihm wahrnahm, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Domestiken, die in den Raum geeilt kamen. Sie huschten zögernd an Nekaun vorbei. Die beiden ersten trugen Wassereimer. Auraya biss die Zähne zusammen und wappnete sich gegen die Kälte ihres alltäglichen Bades. Der zweite Eimer wurde auf den Boden geleert, dann machte ein Domestik sich daran, die Fäkalien mit einem Besen von dem Podest zu kehren.

Ein dritter Domestik hielt Auraya eine Wasserschale an den Mund. Sie trank sie aus, denn sie wusste, dass man ihr bis zum nächsten Tag nichts mehr geben würde. Der letzte Domestik hob die gewohnte Schale körnigen Breis an.

»Halt«, sagte Nekaun.

Mutlos beobachtete Auraya, wie der Domestik die Schale sinken ließ. Sie hoffte, dass es ihr gelang, eine teilnahmslose Miene beizubehalten und sich nichts von ihrer Angst anmerken zu lassen, als Nekaun näher kam, denn sie war davon überzeugt, dass er beim geringsten Anzeichen von Furcht nur weitere Möglichkeiten finden würde, sie zu quälen.

Er nahm dem Domestiken die Schale ab und hob sie an ihre Lippen.

Sie zögerte nur einen Moment lang. Wenn sie sich weigerte, aus seinen Händen zu essen, würde er sie hungern lassen, bis sie ihren Widerstand aufgab. Es war besser, so zu tun, als spiele es keine Rolle.

Er beobachtete sie lächelnd, während sie aß. Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern konzentrierte sich stattdessen auf eine kleine Narbe an seiner Nase. Die Narbe war ihr bisher nie aufgefallen. Sie fragte sich, woher sie rühren mochte.

Jetzt kippte Nekaun die Schale, so dass Auraya mit gierigen Schlucken trinken musste, damit der Brei nicht über den Rand schwappte und vergeudet wurde. Als die Schale leer war, trat Nekaun zurück, und hielt das Gefäß einem Domestiken hin.

»Geht«, befahl er den Dienern. Sie eilten erleichtert davon. Einer von ihnen fragte sich, warum sie die Erste Stimme hier fürchteten, aber nirgendwo sonst. Wahrscheinlich, so schlussfolgerte der Mann, lag es daran, dass er keine Ahnung hatte, was er in dieser Situation von Nekaun zu erwarten hatte. Die Zauberin war eine Feindin. Nekaun würde womöglich den Befehl geben, dass man ihr etwas Schreckliches antat, und der Domestik wollte nicht derjenige sein müssen, der diesen Befehl ausführte.

Falls Nekaun die Gedanken des Mannes hörte, so ließ er sich nichts davon anmerken. Er starrte Auraya an, die den Blick auf die Wand hinter seiner Schulter gerichtet hatte. Obwohl sie keine Gedanken von ihm spüren konnte, hatte sie manchmal das Gefühl zu wissen, was er dachte. So wie jetzt, als sein Blick an ihrem Körper hinunterwanderte. Sie wusste, dass er entweder Interesse an ihrer Nacktheit heuchelte, um sie einzuschüchtern, oder… oder es erregte ihn.

Er kam erst einen Schritt, dann einen weiteren auf sie zu. Ihr Herz begann zu rasen, und sie atmete ein wenig langsamer, um ruhig zu bleiben. Einen Schritt von ihr entfernt blieb er stehen und rümpfte die Nase.

»Also wirklich, Auraya«, sagte er kopfschüttelnd. »Du solltest besser auf dich Acht geben. Du riechst schrecklich.«

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stolzierte davon.

Sie sah ihm nach. Die Wachen verriegelten das Tor hinter ihm, dann verklangen seine Schritte.

Sie seufzte vor Erleichterung.

Er hat nur versucht, mich einzuschüchtern, sagte sie sich.

Sie lehnte sich an den Sockel des Throns, schloss die Augen und sandte ihren Geist in die Welt hinaus. Auf diese Weise verbrachte sie den größten Teil ihrer wachen Stunden. Außerdem sah sie mehrmals am Tag nach Unfug. Eine der Dienerinnen hatte ihn zu ihrem Schoßtier erkoren. Er blieb bei ihr, weil Auraya ihn in Traumvernetzungen dazu ermutigte. Außerdem war er es gewohnt, dass sie ihn bisweilen in die Obhut eines anderen gab.

Abends vernetzte sie sich mit Mirar. Den Rest der Zeit schöpfte sie Gedanken ab. Der Umstand, dass sie in einer kalten, leeren Halle angekettet war, war nicht gerade anregend. Zumindest nicht auf eine gute Art und Weise. Ihre Entdeckungsreisen in die Welt gaben ihr etwas zu tun.

Insgeheim war es eine Quelle des Stolzes für sie, dass sie sich von Tag zu Tag besser darauf verstand, die Gedanken anderer wahrzunehmen. Wann immer sie ihren Geist ausstreckte, konnte sie sich weiter von ihrer Position entfernen als beim letzten Mal. Auf diese Weise hörte sie am Tag nach ihrer Gefangennahme Gerüchte von einem bevorstehenden Krieg. Daraufhin ergab es auch einen Sinn, dass Nekaun seinen Schwur gebrochen hatte. Wenn die Zirkler eine Invasion planten, würde er nicht das Risiko eingehen, dass seine Bemühungen, sie zu bestricken, gescheitert waren. Wenn er sie gehen ließ, das wusste er, würde sie wahrscheinlich zu den Weißen zurückkehren, um an ihrer Seite zu kämpfen.

Hätte ich das getan?, fragte sie sich. Vielleicht. Es hätte mir nicht gefallen, aber wenn die Götter es mir befohlen hätten, hätte ich für sie gekämpft.

Was keinen Sinn ergab, war die Tatsache, dass Nekaun sie nicht getötet hatte. Warum hatte er sie gefangen genommen? Plante er einen weiteren Handel mit ihr als Geisel? Dachte er, er würde die Weißen dazu bewegen können, sich als Gegenleistung für ihre Herausgabe zurückzuziehen?

Sie lächelte schief. Damit wäre Huan niemals einverstanden.

Aber Chaia würde das vielleicht anders sehen. Sie dachte an seine Nachricht, die er ihr durch den sterbenden Siyee-Priester geschickt hatte. Keiner der Domestiken, die sie versorgten, hatte auch nur ein Wort mit ihr gesprochen, geschweige denn sein »Schlüssel«-Wort benutzt. Sie bezweifelte, dass sie durch Nekaun eine Nachricht von Chaia bekommen würde. Und außer ihm und den Domestiken hatte sie niemand besucht.

Aber andere Götter hatten es getan. Saru, Yranna und Lore waren für einen kurzen Moment erschienen. Aus ihrem Gespräch hatte sie entnommen, dass sie gekommen waren, um eine Bestätigung dafür zu finden, dass sie tatsächlich hier eingekerkert war, aber davon abgesehen hatte sie kaum etwas erfahren.

Hatte Chaia einen Plan, um sie zu befreien? Oder war er zu beschäftigt mit den Vorbereitungen des Krieges? Es gab nicht allzu viel, was er hier ausrichten konnte, in einem Land, in dem niemand ihm huldigte oder ihm gehorchte.

Vielleicht will er mich befreien, sobald die Zirkler gesiegt haben. Aber Nekaun wird vermutlich dafür sorgen, dass ich sterbe, falls die Pentadrianer verlieren. Er wird meinen Wachen den Befehl geben, mich zu töten.

Sie sah zu den Götterdienern am Tor hinüber.

Es sei denn, irgendjemand hält sie auf.

Sie dachte an den Hinweis der Götter, dass sie sich Mirars entledigen könnten, obwohl er jetzt den Schutz der Stimmen genoss. Wenn es hier einen gedungenen Mörder gab, konnte der Betreffende ihr vielleicht helfen.

Aber er würde nichts unternehmen, solange die Weißen es ihm nicht befahlen, und sie hatte den Weißen nicht mitteilen können, in welcher Situation sie sich befand. Selbst wenn Nekaun ihr den Priesterring nicht abgenommen hätte, hätte sie ihn nicht benutzen können. In dem Leeren Raum hätte er ohnehin nicht funktioniert. Also hatte sie stattdessen versucht, sich durch Traumvernetzungen mit Juran in Verbindung zu setzen. Doch ihre Bemühungen waren erfolglos geblieben. Sie hatte versucht, nach Mairae und sogar nach Dyara zu rufen, aber keine der beiden Frauen hatte geantwortet. An diesem Morgen hatte Mirar sie auf eine Idee gebracht.

»Du wirst einfach die Gedanken der Gefährten abschöpfen müssen, um festzustellen, was sie wissen. Und verfahre mit den Ratgebern der Weißen genauso.«

Sie konnte sich nicht mit den Weißen vernetzen, aber vielleicht konnte sie Danjin erreichen.

Sie ließ sich an dem Thron herabsinken, verlangsamte ihre Atmung und suchte die Traumtrance. Sobald sie den gewünschten Zustand erreicht hatte, rief sie Danjins Namen.

Zuerst bekam sie keine Antwort, aber nach mehreren Versuchen hörte sie eine vertraute, wenn auch verwirrte Gedankenstimme.

Auraya?

Ja, Danjin. Ich bin es.

Auraya… ich träume.

Das ist wahr und auch wieder nicht wahr. Dies ist die Art, wie Traumweber sich miteinander in Verbindung setzen.

Eine Traumvernetzung?

Ja.

Er zögerte, und sie spürte sowohl Sorge als auch Schuldgefühle.

Ich soll nicht mit dir reden.

Ein kalter Schauer überlief Auraya.

Warum? Glauben die Weißen, ich hätte die Seiten gewechselt?

Sie… müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Sie haben seit Wochen nichts von dir gehört.

Ich kann sie nicht erreichen. Ich bin überlistet worden. Nekaun hat mich eingekerkert, und zwar in einem… Sie hielt inne, denn ihr wurde klar, dass Danjin nicht wusste, was ein Leerer Raum war. Wussten es die Weißen? Sie selbst hatte bis zu ihrer Begegnung mit Jade keine Ahnung davon gehabt.

Auraya?, fragte Danjin besorgt.

Nekaun hat mir meinen Priesterring abgenommen. Ich habe versucht, mich im Traum mit Juran und den anderen zu vernetzen, aber es funktioniert nicht. Vielleicht schlafen sie einfach nie, wenn ich es versuche; vielleicht können sie mir auch nicht antworten… Oder ich werde daran gehindert, mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Du musst Juran sagen, dass ich gefangen genommen worden bin.

Danjin antwortete nicht.

Danjin?

Ja. Ich bin… nicht in Jurans Nähe. Ich werde es Ella sagen, und sie wird es weitergeben.

Sie spürte Wachsamkeit bei ihm.

Du bist dir nicht sicher, ob du mir glauben kannst, stellte sie fest.

Nein, gestand er. Die Weißen haben mir geraten, vorsichtig zu sein.

Sie fühlte sich gekränkt, doch dann machte diese Regung Verärgerung Platz.

In diesem Fall solltest du es ihnen vorsichtig beibringen. Es liegt an ihnen zu entscheiden, ob sie mir glauben oder nicht.

Ich möchte dir glauben. Ich glaube dir. Seine Stimme klang gequält. Ich werde dir glauben, bis ich einen Beweis für das Gegenteil habe, aber ich muss so tun, als glaubte ich dir nicht, bis ein Beweis für deine Verlässlichkeit erbracht ist.

Und es gefiel ihm nicht. Ah, Danjin, dachte sie. Ich vermisse dich.

Ich verstehe. Danke, Auraya.

Sie brach die Verbindung ab, kehrte ins Bewusstsein zurück und sah sich seufzend in der Halle um.

Nun, Chaia hat mich gewarnt, dass Huan die Menschen, die ich liebe, gegen mich benutzen würde.


In dem großen, gefliesten Raum hallten die Gespräche der Stimmen, Gefährten, Götterdiener und Denker wider. Reivan, die neben Imenja stand, blickte zu Boden. Die Mosaikkarte leuchtete sanft und spiegelte das Licht der Lampen wider. Man hatte Tonfiguren von Pentadrianern und Zirklern auf den Boden gestellt, und sie sahen aus wie Spielzeuge, die ein Kind vergessen hatte. Ein reiches Kind, denn die Figuren waren sehr kunstvoll gearbeitet. Reivan sah, dass sich unter den Zirklern auch kleine Siyee befanden. Im Gegensatz zu den geflügelten Gestalten, die in dem Mosaik abgebildet waren, waren diese Abbildungen zutreffend bis hin zu den Knochen, die man in den Membranen ihrer Flügel erkennen konnte.

»Nekaun kommt«, murmelte jemand, der in der Nähe des Eingangs stand.

Alle Anwesenden verfielen in Schweigen und drehten sich um. Als Nekaun den Raum betrat, zeichneten viele Hände das Symbol des Sterns in die Luft. Auf Nekauns Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck, der jedoch im nächsten Moment verschwand. Er sah sich im Raum um und nickte den Menschen darin zu.

»Verzeiht mir meine Verspätung«, sagte er. »Eine andere Angelegenheit hat mich aufgehalten.« Er ging zum Rand der Karte und blickte auf die Figuren der Zirkler hinab. »Ist das die Position der feindlichen Armee?«

»Unseren Spionen zufolge, ja«, antwortete der Ergebene Götterdiener Meroen. Der Mann war noch keine vierzig, hatte sich aber während des vergangenen Krieges als intelligenter Stratege erwiesen.

Nekaun ging um die Karte herum. Alle Blicke folgten ihm. Reivan hörte Imenja kaum wahrnehmbar schnauben und ahnte, was ihre Herrin dachte. Die Erste Stimme hätte nicht um die Karte herumgehen müssen - er stand einfach nur gern im Zentrum der Aufmerksamkeit.

»Hat der sennonische Kaiser auf meine Botschaft reagiert?«, fragte Nekaun an Vervel gewandt.

Die Dritte Stimme schüttelte den Kopf. »Nein.«

Nekaun muss die Antwort bereits gekannt haben, dachte Reivan, aber er hat wahrscheinlich um der anderen willen gefragt. Er nickte und sah sich im Raum um.

»Hat irgendjemand eine Idee, wie wir seine Meinung ändern könnten?«

Als niemand antwortete, runzelte Nekaun die Stirn und widmete sich wieder der Betrachtung der weißen Figuren.

»Wie groß ist die zirklische Armee?«

Jetzt begannen mehrere Menschen gleichzeitig zu sprechen. Mereon sprach von Tausenden, die sich bisher versammelt hatten, dann stellten einige andere Vermutungen darüber an, wie viele weitere Krieger noch dazustoßen würden. Die Dunweger hatten sich der Armee noch nicht angeschlossen. Schließlich stellte jemand die Frage, ob Sennon ebenfalls in den Krieg ziehen würde oder ob der Kaiser sich aus den Kampfhandlungen heraushalten und der zirklischen Armee lediglich gestatten würde, sein Land zu durchqueren.

»Diesmal sind weniger Siyee beteiligt«, fügte er hinzu.

»Wie schnell bewegt sich die zirklische Armee?«, fragte Nekaun. »Wann werden sie die Landenge erreichen?«

»Sie kommen stetig voran; wenn sie nicht durch Sandstürme aufgehalten werden, müssten sie binnen eines Mondkreislaufs hier sein«, sagte Shar. »Sie reisen durch die Wüste, und sie werden Wasser und Proviant mitnehmen müssen. In Diamyane wird man ihnen keine Vorräte zur Verfügung stellen können, daher werden sie alles Notwendige aus dem Norden mitbringen müssen.«

»Also greifen wir ihre Vorratskarawanen an.«

»Oder ihre Schiffe.«

Nekaun lächelte. »Unsere Elai-Freunde könnten sich am Ende doch als nützlich erweisen.« Er sah Imenja an. »Haben sie auf unsere Bitte geantwortet?«

»Ich bezweifle, dass die Nachricht sie bereits erreicht hat«, erwiderte sie.

Nekaun schaute sich im Raum um. »Worin bestehen unsere Stärken und worin unsere Schwächen?«

»Wir haben nur wenige Schwächen«, erwiderte Vervel. »Die Landenge stellt eine wirksame Barriere dar. Die Zirkler können sie nicht in großer Zahl überqueren. Wir haben reichlich Vorräte an Wasser und Nahrung und kämpfen auf vertrautem Boden. Wir sollten in der Lage sein, eine Armee aufzustellen, die es mit ihrer aufnehmen kann. Unsere Flotten sind gleich stark, aber unsere Seeleute sind besser ausgebildet.«

Der Ergebene Götterdiener Meroen schüttelte den Kopf. »Warum greifen sie uns an, wenn sie offenkundig nicht im Vorteil sind?«

»Sie verlassen sich wahrscheinlich auf Aurayas Hilfe«, bemerkte Shar.

Nekaun lächelte. »Vielleicht. Aber sie werden diese Hilfe nicht haben.«

»Werden sie umkehren, sobald sie erfahren, dass sie gefangen genommen wurde?«, fragte Genza.

Mehrere der Anwesenden antworteten gleichzeitig.

»Das wissen sie sicher bereits.«

»Wenn sie es nicht tun, werden wir dafür sorgen, dass sie es erfahren.«

»Schickt ihnen ihre Leiche.«

Nekaun lächelte immer noch, aber sein Lächeln hatte etwas Geistesabwesendes. Es war der gleiche eigenartige Gesichtsausdruck, den er auch bei seiner Ankunft zur Schau getragen hatte. Aus irgendeinem Grund fröstelte Reivan bei diesem Anblick. Das Lächeln hatte etwas Unangenehmes.

»Wenn die Zirkler die Landenge erreichen, werden sie aufgehalten«, sagte Meroen, wobei er mit schriller, lauter Stimme sprach, um sich Gehör zu verschaffen. »Aber eines dürft ihr nicht vergessen: Die Landenge stellt auch für uns ein Hindernis dar. Wir werden vielleicht in einen lang währenden Krieg verstrickt. Die Felder werden unbestellt bleiben, der Handel wird zum Erliegen kommen und die Stimmen werden auf der Landenge festsitzen, wenn wir den Weißen keine Gelegenheit bieten wollen, ihre Abwesenheit auszunutzen.«

Im Raum war es still geworden. Nekaun sah Meroen stirnrunzelnd an, dann ließ er den Blick von einem Gesicht zum nächsten wandern.

»Also, was tun wir, um ein Patt zu vermeiden?«

Leises Gemurmel setzte ein, während die Frage erörtert wurde.

»Wir könnten unsere Armee hinter den sennonischen Bergen verstecken«, schlug ein Denker vor. »Wenn die Zirkler in Diamyane eintreffen, greifen wir sie von allen Seiten an und treiben sie ins Meer.«

»Die Späher der Siyee würden uns sehen.«

»Und wir würden unseren größten Vorteil verlieren«, warf Nekaun ein. »Die Landenge. Nein. Sollen sie sich in Diamyane niederlassen. Wir werden sie von ihrem Nachschub abschneiden. Sollen sie ein wenig hungern, bevor wir sie brechen.«

Er lächelte abermals, und einen Moment lang war sein Blick auf einen weit entfernten Ort gerichtet. Reivan schauderte und wandte sich ab. Als sie sich wieder umdrehte, stellte sie fest, dass er sie beobachtete. Plötzlich kam sie sich töricht vor. Er kostete lediglich das Vorgefühl des Sieges aus. Es war nur verstörend, einen Anflug von Blutdurst in den Augen eines Mannes zu sehen, den sie in ihr Bett genommen hatte. Eigentlich hätte diese Regung ihn aufregender erscheinen lassen müssen. Mächtig. Gefährlich.

Aber so war es nicht.

Er wandte sich ab, und ein gänzlich anderer Ausdruck trat in seine Züge. Reivan gefror das Blut in den Adern.

Wenn sie es sich nicht nur eingebildet hatte… und sie wusste, dass sie das nicht getan hatte… war es ein Ausdruck unverhohlener Verachtung gewesen.

39

Die dunwegische Armee bot einen beeindruckenden Anblick.

Krieger marschierten in Zehnerkolonnen die Straße entlang. An der Spitze eines jeden Clans ging ein Mann, der mit nichts bekleidet war als einem kurzen Lederrock. In den Händen trugen diese Männer jeweils einen leuchtend bunt bemalten Speer. Die Mitglieder des Stammes wechselten sich in dieser Position ab, und wenn sie sich auszogen, wurde auf ihrer Brust das eintätowierte Muster ihres Clans sichtbar. Sie teilten sich diese Rolle nicht etwa, um zu vermeiden, allzu lange Stunden dem schlechten Wetter ausgesetzt zu sein, sondern weil alle Mitglieder eines Clans ansonsten um diese Ehre gekämpft hätten.

Jeder zweite Mann in der Armee trug mindestens die Hälfte seines Körpergewichts an Waffen. Selbst die Zauberer waren mit Waffen ausgestattet; die Tatsache, dass sie mehr als nur durchschnittliche Gaben besaßen, ersparte keinem Mann eine richtige Ausbildung in der Kriegskunst. Hinter den Truppen folgten zweirädrige, von eigens für die Schlacht abgerichteten Reynas gezogene Plattans; die Krieger ertrugen nicht gern die Entwürdigung, durch Reyna-Dung marschieren zu müssen, machten aber für die Reynas vor den Kampf-Plattans ihrer Anführer eine Ausnahme. Hinter den Kampfwagen kamen vierrädrige, von Arems gezogene Vorrats-Tarns und die Diener der Clans.

Danjin hatte einen guten Blick auf diese kämpferische Marschkolonne. Der Plattan, in dem er fuhr, war offen. Ella und I-Portak sahen nach vorn, während Danjin und die dunwegischen Ratgeber der Weißen und dem dunwegischen Anführer zugewandt fuhren. Sie brauchten nicht hinter sich zu sehen, um zu wissen, dass die Armee ihnen folgte; das rhythmische Stampfen von Stiefeln lieferte ein stetiges Hintergrundgeräusch zu ihren Gesprächen.

Noch faszinierender war es zuzusehen, wie die Armee ihr Lager aufschlug. Alle kannten ihre Aufgaben und versahen sie, ohne Rat oder Befehle zu brauchen. Alles wurde mit der Geschicklichkeit langer Übung ausgeführt, was ihrer gründlichen Ausbildung zu danken war. Falls irgendjemand unter den Dunwegern war, der den bevorstehenden Kampf fürchtete, so ließ er sich nichts anmerken.

Was mag wohl mit den Versagern geschehen? Den Jungen, die nicht zu starken Männern heranwachsen? Den Männern, die Verletzungen oder Krankheiten erleiden oder der Melancholie verfallen? Werden sie versteckt oder von ihrem Stamm verstoßen, um Diener zu werden?

Er dachte an den Tag zurück, an dem die Armee Chon verlassen hatte. Frauen hatten die Straßen gesäumt und ein duftendes Kraut vor den Kriegern verstreut. Einige hatten erschüttert gewirkt, andere erleichtert.

Ich hoffe, meine Briefe kommen zu Hause an. Er unterdrückte ein Seufzen. Ich wünschte, ich hätte Silava und die Mädchen noch sehen können. Sogar meinen Vater hätte ich gern noch einmal getroffen, obwohl ich mir sicher bin, dass er mich überleben wird, selbst wenn ich diesen Krieg überstehen sollte.

Seit er von dem Schicksal der Dorfbewohner erfahren hatte, hatte er jede Nacht von seiner Familie geträumt. Es war schon schlimm genug gewesen, die Hinrichtung der Pentadrianer mitanzusehen, obwohl es die Reaktion der Dorfbewohner war, die zu vergessen ihm am schwersten fallen würde. Einige waren in Jubel ausgebrochen, andere hatten geweint, aber die meisten Menschen hatten sich mit vor Angst schneeweißen Gesichtern schweigend aneinandergekauert. Sie hatten Grund zur Furcht gehabt. Die dunwegische Rechtsprechung war hart. Später, in Chon, waren die Dorfbewohner, die den Pentadrianern das herzlichste Willkommen bereitet hatten, hingerichtet worden. Jene, die lediglich nicht protestiert hatten, waren zur Arbeit in die Minen geschickt worden. Aber zu Danjins Erleichterung hatte I-Portak jenen gegenüber, die nicht die Macht besessen hatten, Einwände gegen die Anwesenheit der Pentadrianer zu erheben, Milde walten lassen. Sie waren zusammen mit den Alten und den Kindern in ihr Dorf zurückgeschickt worden. Danjin vermutete, dass das nur noch von wenigen Menschen bevölkerte Dorf jetzt ein trauriger Ort war.

In seinen Träumen von seiner eigenen Familie führte er lächerliche Gespräche mit seiner Frau und seinen Töchtern. Gelegentlich war ihnen nicht bewusst, dass er dort war, ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Als er nun an diese Träume dachte, durchzuckte ihn eine vertraute Mischung aus Furcht und Resignation. Und Traurigkeit. Wenn er nicht zurückkehrte …

Denk nicht daran, sagte er sich. Wenn du daran denkst, wird es auch geschehen.

Aber irgendwann zwischen seiner Abreise aus Chon und dem heutigen Tag hatte sich seiner die Überzeugung bemächtigt, dass er diesen Krieg nicht überleben würde, und diese Ahnung konnte er einfach nicht mehr abschütteln. Wo ist all die Zuversicht geblieben, die ich während des vergangenen Krieges verspürt habe? Er verzog das Gesicht. Es war nicht Zuversicht, sondern Unwissenheit.

Oder vielleicht hatte Auraya ihm Hoffnung gegeben. Sie fliegen zu sehen… Es war schwer gewesen, sich vorzustellen, dass irgendetwas sie würde bezwingen können.

Er schauderte. In der vergangenen Nacht hatte sie ihm in einem Traum erzählt, dass die Stimmen sie in Glymma eingekerkert hatten. Er hatte sie nicht sehen können, sondern nur ihre Stimme gehört, aber der Traum war ihm so real erschienen, dass er davon überzeugt war, sie müsse wahrhaft zu ihm gesprochen haben. Am nächsten Tag hatte er Ella von dem Traum erzählt und sie gefragt, ob sie glaube, dass Auraya sich tatsächlich mit ihm in Verbindung gesetzt haben könnte. Ella hatte es für möglich gehalten, hatte aber nichts Derartiges von den Weißen oder den Göttern gehört.

Nach dem Traum hatte Danjin lange wach gelegen und über Auraya nachgedacht. Er machte sich Sorgen, was geschehen würde, wenn sie tatsächlich eine Gefangene war. Wenn die Stimmen genug Macht besaßen, um sie festzuhalten, hatten sie auch genug Macht, um ihr etwas anzutun - und sie sogar zu töten.

Aber wenn sie diese Macht besitzen, warum haben sie sie dann nicht bereits getötet?

Jetzt befürchtete er, dass Auraya, wie Ella ihn gewarnt hatte, versuchte, ihn zu überlisten. Er erwog verschiedene Gründe, warum sie wünschen könnte, dass er glaubte, sie sei eine Gefangene. Um mich und die Weißen dazu zu bringen, anzunehmen, dass sie nach wie vor auf unserer Seite steht, obwohl das nicht der Fall ist. Warum sollte sie das tun? Er seufzte. Um uns in einen Kampf zu locken, den wir nicht gewinnen können.

Manchmal war er davon überzeugt, dass es nur ein Traum gewesen war und er keinen Grund zur Sorge hatte.

Wenn es kein Traum war, ist Auraya eine Gefangene, erklang Ellas Stimme in seinen Gedanken. Wenn es einer war, haben wir trotzdem reichlich Grund zur Sorge. Wir haben seit Wochen nichts mehr von Auraya gehört.

Aufgeschreckt von der Stimme in seinem Kopf, sah Danjin zu Ella hinüber.

Vorsicht, fügte sie hinzu. Einer der Vorteile von Gedankengesprächen ist der, dass andere nichts davon mitbekommen. Wenn du jedes Mal, so zusammenzuckst, verdirbst du alles.

Er wandte den Blick ab.

Hast du eine Ahnung, wo sie ist?, fragte er.

Nein. Und nein, die Götter wissen es auch nicht.

Was wird geschehen, wenn sie die Seiten gewechselt hat?

Die Götter sind zuversichtlich, dass sie sie daran werden hindern können, gegen uns zu kämpfen.

Sie daran hindern… Sie haben diese Gefangennahme doch nicht etwa selbst arrangiert, oder?

Ihre Erheiterung war wie das Klirren von Glas.

Vielleicht. Es wäre eine reife Leistung, nicht wahr? Den Feind, ohne seine Götter argwöhnisch zu machen, dazu zu bringen, jemanden einzukerkern, der bereit ist, sich ihnen anzuschließen.

Sie hatte recht. Es war eine törichte Idee.

Wenn sie die Gefangene der Pentadrianer ist, dann hat sie uns nicht verraten.

Nicht unbedingt. Sie könnte die Götter im Herzen verraten haben, aber immer noch nicht bereit sein, sich den Pentadrianern anzuschließen. Und vielleicht ist sie überhaupt keine Gefangene.

Vielleicht ist sie nicht einmal in Südithania, fügte er hinzu, wobei er mehr mit sich selbst sprach als mit Ella. Sie könnte an einem ganz anderen Ort sein.

Warum setzt sie sich dann nicht mit uns oder mit den Göttern in Verbindung?, fragte sie.

Diese Frage konnte er nicht beantworten. Er blickte zu Ella hinüber und sah ein mitfühlendes Lächeln um ihre Lippen spielen. Dann wurde ihre Miene plötzlich wieder ernst. Sie starrte ins Leere, und ihre Züge entspannten sich.

»Juran hat mich soeben darüber informiert, dass er die letzte Stadt vor dem Pass erreicht hat. Wir sollten binnen einer Woche zu ihm stoßen.«

I-Portak wandte sich zu ihr um. »Oder früher, wenn das Wetter so bleibt.«

Sie lächelte. »Deine Krieger beeindrucken mich stets aufs Neue mit ihrer Ausdauer, I-Portak. Du solltest dafür sorgen, dass sie sich ein wenig Kraft für die Reise durch die Wüste aufsparen.«

Er zog die Schultern hoch. »Das tue ich. Wüstenbedingungen sind uns nicht fremd. Erzähl das dem sennonischen Kaiser nicht, aber wir haben seit Jahrhunderten kleine Kriegertrupps zu Übungszwecken in die Wüste geschickt.«

Sie lachte leise. »Ich bin davon überzeugt, dass der sennonische Kaiser sich darüber im Klaren ist.«

Danjin musste sich ein Lächeln verkneifen, als I-Portak sie mit kaum verhohlenem Entsetzen ansah.

»Soll das heißen, all die Heimlichtuerei, mit der wir vorgegangen sind, ist umsonst gewesen?«, fragte er schließlich.

»Übung ist der einzige Weg zur Vollkommenheit«, zitierte sie die dunwegische Tradition.

Er kicherte und wandte sich ab. »Und Vollkommenheit gibt es nur im Reich der Götter.« Dann zuckte er die Achseln. »Solange der Kaiser Unwissenheit heuchelt, werden wir so tun, als blieben unsere Streifzüge durch sein Land unbemerkt.«


Am Stadtrand befand sich ein Übungsfeld für Kriegerdiener. Auraya schöpfte die Gedanken der Menschen dort ab und beobachtete sowohl körperliche als auch magische Übungsstunden. Als sie fand, wonach sie gesucht hatte, lächelte sie. Zwei Ergebene Götterdiener teilten sich eine Mahlzeit und erörterten dabei die Größe, die Stärken und die Schwächen der pentadrianischen Armee.

Ein lautes Klirren von Eisen unterbrach ihr Gespräch. Einen Moment lang fragte sie sich, warum der Mann und die Frau nicht reagierten. Dann krampfte sich ihr Magen zusammen, und Furcht griff nach ihrem Herzen, als ihr klar wurde, dass ihre eigenen Ohren das Geräusch hörten.

Sofort konzentrierte sie sich wieder auf ihre Umgebung. Sie schlug die Augen auf, sog scharf die Luft ein und stieß den Atem langsam wieder aus. Dieselben vier Domestiken wie zuvor kamen auf sie zugeeilt. Nekaun schlenderte hinter ihnen her.

Der Geruch von Blumen umwehte sie. Er ließ ihren Puls rasen, obwohl sie sich noch nicht sicher war, warum dieser Geruch sie beunruhigen sollte. Sie blickte zu den Domestiken hinüber und stellte fest, dass sie alle Eimer trugen. Außerdem hatten sie sich Taschen über die Schultern geworfen. Offenkundig hatten sie mehr vor, als sie nur zu waschen und ihr zu essen zu geben.

Sie widerstand der Versuchung, zu Nekaun hinüberzublicken.

Der erste Domestik schwang den Eimer in ihre Richtung. Sie wappnete sich gegen das kalte Wasser und hätte um ein Haar aufgekeucht, als sie stattdessen Wärme spürte. Bevor sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, kippte der zweite Domestik ihr weiteres Wasser über den Kopf. Auch dieses war warm.

Nachdem sie ihre leeren Eimer beiseitegestellt hatten, holten die Domestiken verschiedene Gegenstände aus ihren Taschen. Sie entkorkten getöpferte Krüge und nahmen händeweise eine Substanz heraus, die sehr feinem, nassem Sand glich.

Sie zuckte zusammen, als der erste Domestik die Substanz auf ihren Arm auftrug und ihre Haut damit einzureiben begann. Es war Sand. Dies, so fiel es ihr wieder ein, war die Art, wie die Einheimischen sich reinigten. Die Reichen benutzten einen feinen, seltenen Sand von irgendeinem fernen Ort. Die beiden Domestiken schrubbten ihr Arme, Hals und Kopfhaut und arbeiteten sich dann zu ihrer Verlegenheit weiter hinab. Ihre Berührung war sachkundig, und ihre Mienen waren ausdruckslos, aber Auraya knirschte mit den Zähnen und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Prozedur aus dem Gleichgewicht brachte.

Und die ganze Zeit über spürte sie, dass Nekaun sie beobachtete.

Schließlich hatten die Domestiken sie von Kopf bis Fuß sauber geschrubbt. Die beiden anderen kamen jetzt mit ihren Eimern herbei und wuschen ihr den Sand sorgfältig von der Haut. Dieses Wasser, das zum Abspülen diente, enthielt das Parfüm, das ihr zuvor aufgefallen war. Das Wasser war kühler, aber nicht kalt.

Als sie zurücktraten, kribbelte Aurayas Haut am ganzen Körper. Es hätte sich gut angefühlt, sauber zu sein, wäre Nekaun nicht zugegen gewesen.

Er hat mir noch keine einzige seiner dummen Fragen gestellt, ging es ihr durch den Kopf. Die Domestiken kehrten das Podest und eilten dann aus der Halle. Keiner von ihnen hatte etwas zu essen mitgebracht. Vielleicht weil es keinen Sinn hätte. Warum mir etwas zu essen geben, wenn ich ohnehin gleich sterben werde? Aber warum mich waschen? Ziehen sie es vor, saubere Menschen zu töten?

Die Torheit dieses Gedankens hätte ihr um ein Haar ein Kichern entlockt. Aber als Nekaun näher kam, erstarb alle Erheiterung. Ihre Haut fühlte sich allzu empfindlich an, ihr Körper allzu ungeschützt. Sie widerstand der Versuchung, sich zusammenzurollen, so weit es die Ketten ihr gestatteten.

»So ist es besser«, sagte er leise. »Versteh mich nicht falsch. Ich mag ein wenig Schweiß und Schmutz, aber vor regelrechtem Dreck ziehe ich die Grenze.«

Er blieb einen knappen Schritt von ihr entfernt stehen. Er versucht lediglich, mich einzuschüchtern, sagte sie sich. Und er befindet sich nun im Leeren Raum. Auch er ist verletzbar.

Jetzt, da sie normalerweise alles darangesetzt hätte, ihn nicht ansehen zu müssen, begegnete sie seinem Blick mit, wie sie hoffte, vollkommen ausdrucksloser Miene.

Er starrte zurück.

Dies ist anders als sonst, dachte sie. Sonst lächelt er immer und macht irgendeine schneidende, lächerliche Bemerkung, um darauf hinzuweisen, dass er die Macht über mich hat.

Als er das nächste Mal etwas sagte, sprach er avvensch. Die beiden Götterdiener, die die Tür bewachten, stutzten kurz und gingen dann hinaus.

In diesem Moment überlief sie ein Schauer puren Entsetzens. Warum sollte er die Wachen wegschicken, es sei denn, er stand im Begriff, etwas zu tun, das nicht einmal seine eigenen Leute wissen sollten?

»So«, sagte er. »Ein wenig Ungestörtheit.« Als er eine Hand nach ihr ausstreckte, widerstand Auraya dem Drang, zurückzuweichen, dann versuchte sie nicht zusammenzuzucken, als seine Finger sie am Hals berührten. Seine Hand schloss sich, warm und fest, um ihre Kehle.

»So dünn. Ich könnte dich gleich jetzt erwürgen«, murmelte er. »Aber das Töten bereitet mir kein Vergnügen.« Er ließ den Blick weiter nach unten wandern. »Habe ich dir je erzählt, dass ich der Erste Götterdiener des Tempels von Hrun war, bevor ich zur Ersten Stimme wurde?«

Seine Hand glitt weiter hinab, zu ihren Brüsten. Ihr Mund wurde trocken. Er will mich einschüchtern, wiederholte sie. Reagiere nicht darauf. Gib ihm nichts, und er wird das Interesse verlieren und weggehen.

»Hmm. Wie angespannt du bist.« Sein Atem war übelkeiterregend warm. Sie versuchte, ihn nicht einzuatmen. »Das bin ich auch. Hier, ich zeige es dir.«

Er drückte sich an sie und stieß sie dabei gegen die Steinmauer. Eingeengt von schwarzen Roben und angewidert von seinem Atem, überlief sie ein jähes Schaudern des Entsetzens, als sie unter seinen Gewändern die Härte seiner Lenden spürte.

Er hat wirklich vor, das zu tun…

Nein. Bleib ruhig. Das würde er nicht wagen. Es ist lediglich ein Einschüchterungsversuch.

Er nahm die linke Hand von ihrer Brust. Ihre Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer. Sie spürte seine Knöchel, die in ihren Leib drückten, als er an seinen Roben zerrte. Sein Atem ging schnell. Obwohl sie es eigentlich nicht wollte, blickte sie auf. Er bleckte die Zähne.

»Ja. So ist es richtig. Wo sind deine Götter jetzt, Auraya? Sie können dir nicht helfen.«

Ihre Gedanken wirbelten in zunehmend verzweifelten Kreisen umher, dann sah sie abrupt und mit schrecklicher Klarheit, dass er tatsächlich zu tun beabsichtigte, was er ihr angedroht hatte. Es wird widerlich und demütigend und schmerzhaft sein, aber ich kann es ertragen. Ich werde es ertragen müssen… Aber sie hatte hier und da einen Blick auf die Wunden und Narben im Geist der Frauen erhascht, die von Männern missbraucht worden waren. Er hat das Gleiche getan. Er weiß, dass er mir noch Schlimmeres antun wird als seinen… oh, ihr Götter. Sie hatte keine Möglichkeit, um auf magische Weise eine Empfängnis zu verhindern. Aber er wird nicht den Wunsch haben, ein Kind zu zeugen, überlegte sie. Allerdings befindet auch er sich im Leeren Raum. Seine Magie wird hier ebenfalls nicht funktionieren. Götter, nein! Sie unterdrückte einen Aufschrei, als sie sich selbst sah, angekettet und mit seinem Kind in ihrem geschwollenen Leib, an diesem Ort. Eingekerkert im Innern wie im Äußern. Aber wenn er im Leeren Raum ist, ist auch er verwundbar. Ich kann ihn verletzen. Ich kann ihn töten. Ihr Kiefer spannte sich. Ich werde ihm die Kehle herausbeißen. Ich werde…

»Nekaun.«

Die Stimme war unirdisch. Sie hallte und wisperte durch den Raum wie Wind. Nekaun wirbelte herum. Als Auraya über seine Schulter blickte, sah sie ein Wesen aus Licht. Ihr Mund wurde trocken. Sie hatte diesen Gott schon einmal gesehen.

»Sheyr!«, keuchte Nekaun.

»Komm her.«

Nekaun eilte von dem Podest und warf sich vor den Füßen der leuchtenden Gestalt zu Boden.

»Du darfst Auraya nichts zuleide tun«, sagte der Gott. »Rache wird kommen, aber nicht auf diesem Wege. Was du zu tun wünschst, könnte uns zum Nachteil gereichen.«

»Aber…« Das Wort war kaum hörbar.

Das Wesen aus Licht straffte sich. »Wagst du es, mich zu hinterfragen?«, donnerte es.

»Nein, Sheyr!« Nekaun schüttelte den Kopf, und sein ganzer Körper bebte bei dieser Bewegung.

»Für einen Moment der Befriedigung würdest du unnötige Risiken eingehen.« Der Gott hob den Kopf und starrte Auraya an. »Begnüge dich damit, dass sie allein und ohne Freunde ist, einzig mit ihrem Schatten als Gesellschaft.« Er wandte sich ruckartig wieder zu Nekaun um. »Hast du verstanden?«

»Ja.«

»Dann geh.«

Nekaun raffte sich auf und ergriff die Flucht. Die leuchtende Gestalt blickte abermals zu Auraya hinüber.

Sie zwinkerte, bevor sie verblasste.

An ihrer Stelle stand ein Götterdiener. Der Mann blinzelte und sah sich in der Halle um, dann wich er vor Auraya zurück. Sie blickte in seinen Geist und erkannte, dass der Mann seinen Willen einem Gott überlassen hatte. Anderenfalls wäre Sheyr nicht in der Lage gewesen, sie zu sehen oder mit einer realen Stimme zu sprechen.

Er hat mich gerettet. Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte sie solche Dankbarkeit für einen der pentadrianischen Götter empfinden, nachdem diese Nekaun befohlen hatten, seinen Schwur zu brechen und sie hier gefangen zu halten? »…einzig mit ihrem Schatten als Gesellschaft.«

Und jetzt dämmerte ihr die Bedeutung seiner letzten Worte. Schatten! Sie begann leise zu lachen und scherte sich nicht darum, dass eine gewisse hysterische Schärfe in ihrer Stimme lag.

Es war Chaia! Und Nekaun ist darauf hereingefallen!

40

Bei der ersten Gelegenheit schlüpfte Reivan aus dem Bett. Ihre Beine zitterten, und einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Als sie ihre Roben auf dem Boden sah, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich angekleidet besser fühlen würde. Diese Kleider waren jetzt jedoch zerrissen. Sie ging zu einer Truhe und zog eine andere Robe heraus.

»Was ist los?«

Sie drehte sich zu Nekaun um. Er lag nackt auf dem Bett und war so schön, dass es geradezu wehtat. Es raubte ihr den Atem, aber sie zwang sich, den Rücken durchzudrücken. Biete ihm die Stirn.

»Das war ausgesprochen unangenehm«, erklärte sie.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Es hat dir nicht gefallen?«

»Nein.«

»Sonst gefällt es dir doch immer. Bin ich hier nicht länger willkommen?«

»Nicht wenn es so sein wird wie dies hier. Du… du hättest mich beinahe erwürgt.«

»Manchen Frauen gefällt das. Sie sagen, ein wenig Furcht mache die Erfahrung erregender.«

Sie wandte sich ab und schlüpfte in die Robe. »Ich gehöre nicht zu diesen Frauen.«

»Sei nicht wütend. Wie konnten wir das wissen, bevor wir es ausprobiert haben?«

Ihr Ärger verebbte ein wenig. »Du hättest mich vorher fragen sollen.«

»Dann hättest du damit gerechnet. Überraschung ist ein Teil des Vergnügens.«

»Nicht für mich. Und der Rest war auch kein großes Vergnügen. Es war wie…« Sie verzog das Gesicht. Ihr Inneres fühlte sich zerschunden an.

»Wie was?«

Sie runzelte die Stirn. Da war irgendetwas in seiner Stimme… Selbstgefälligkeit? Beinahe so, als genösse er es, ihr Unbehagen zu sehen.

Sie wandte sich zu ihm um und hielt seinem Blick stand. »Es war so, als hättest du mich mit deinem… als hättest du mich damit verprügelt. Bei deiner Erfahrung in der Kunst der Liebe musst du doch wissen, dass so etwas für eine Frau nicht angenehm ist, oder?«

Er lachte. »Du bist wohl kaum die Göttin der Liebe. Du hast noch viel zu lernen. Ich denke, mit der Zeit würde dir ein wenig Grobheit schon gefallen.«

»Das glaube ich nicht.«

Er grinste. »Oh, ich denke, du hast das, was wir gerade getan haben, mehr als nur ein wenig erregend gefunden.«

Sie starrte ihn an. »Das kann nicht dein Ernst sein. Zu Anfang war es schön, aber später… Welchen Teil von ›Hör auf, du tust mir weh‹ hast du nicht verstanden?«

Er lachte. »Das hast du nicht ernst gemeint.«

»Du weißt, dass es mir ernst war.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, du hast es genossen, mir wehzutun. Du hattest denselben Ausdruck in den Augen, den ich bei dir sehe, seit du Auraya in Ketten gelegt hast. Ich habe fast erwartet, dass du ihren Namen rufen würdest.«

Sein Lächeln verblasste, und seine Augen wurden schmal. Er rollte sich zur Bettkante und stand auf. Sie beobachtete, wie seine Roben sich vom Boden in seine Hände erhoben und er sich mit schnellen, wütenden Bewegungen ankleidete.

Ihr eigener Zorn verebbte, und ein Gefühl der Benommenheit machte sich in ihr breit. »Du gehst.«

»Ja. Wenn meine Bemühungen nicht erwünscht sind«, sagte er, »werde ich irgendwo hingehen, wo es anders ist.«

Tränen der Kränkung schossen ihr in die Augen. Hör auf damit, befahl sie sich. Hör auf, dich wie eine Närrin zu benehmen. Er wollte dich verletzen, also lass ihn nicht sehen, dass er Erfolg hatte.

Er marschierte aus dem Schlafzimmer. Der Knall der zugeschlagenen Tür hallte durch ihre Räume. Die darauffolgende Stille dröhnte in ihren Ohren. Wieder und wieder hörte sie im Geiste seine Worte. »Du bist wohl kaum die Göttin der Liebe.«

Ich bin nicht gut genug für ihn. Deshalb war er so grob. Er hat die Geduld mit mir verloren.

Sie ging zum Bett hinüber, erfüllt von dem einzigen Wunsch, sich zusammenzurollen und sich ihrem Elend zu ergeben. Dann sah sie die Blutflecken. Ihr Blut. Es waren nur wenige Tropfen, aber genug, um sie an die Gewalt zu erinnern, die er ihr angetan hatte, an den wahnsinnigen Ausdruck in seinen Augen, die Hand um ihre Kehle und die Art, wie er über ihren Protest gelacht hatte. Wieder flammte Wut in ihr auf. Sie erhob sich und ging ins Badezimmer.

Ich werde jede noch so kleine Erinnerung an ihn wegwaschen, sagte sie sich. Er kann mit jeder Frau in Glymma schlafen. Meinetwegen kann er auch Auraya in sein Bett nehmen, wenn es das ist, was es braucht, um ihn zu befriedigen. Ich bin fertig mit ihm.


Wäre da nicht der ständige, quälende Gedanke daran gewesen, dass Auraya in ihrem Gefängnis unter dem Sanktuarium litt, hätte Mirar den Tag als besonders zufriedenstellend und vergnüglich eingestuft.

Er hatte sich mit über hundert Traumwebern von Glymma getroffen, um mit ihnen über ihre Rolle als Heiler nach der bevorstehenden Schlacht zu sprechen. Aus dem ganzen Kontinent kamen Traumweber in die Stadt gereist, und Arleej hatte ihn gebeten zu überwachen, dass alle ein Quartier und etwas zu essen bekamen. Obwohl die Anführer des Traumweberhauses den größten Teil dieser Arbeit leisteten, brauchten sie alle jemanden, der in Zweifelsfällen Entscheidungen traf und mit den Stimmen und Götterdienern in Verbindung blieb.

Die Traumweber waren zu einer großen Vernetzung zusammengekommen, und er hatte viel von ihnen erfahren. Er hatte seinen Gedankenschild gerade lange genug sinken lassen, um seine Identität zu bestätigen. Unter anderen Umständen hätte er ihnen gern von seinem »Tod« und seinem Überleben erzählt, aber Auraya spielte eine zu große Rolle in seiner Geschichte, und er konnte das Risiko nicht eingehen, dass die Stimmen die Gedanken der Traumweber lasen und herausfanden, dass er Auraya nicht so sehr verabscheute, wie sie glaubten.

Außerdem hatten die Traumweber, wie er bei dieser Gelegenheit erfahren hatte, den Verdacht gehabt, dass er nicht wirklich Mirar war, dass die Stimmen einen Traumweber angeworben hatten, der bereit war, sich als Mirar auszugeben, um Einfluss auf Nordithania zu gewinnen. Arleej hatte ihnen versichert, dass dies nicht die Wahrheit sei, aber einige Traumweber waren noch immer schockiert über die Entdeckung, dass er tatsächlich ihr legendärer, unsterblicher Begründer war.

Nachdem er mit dem Anführer des Traumweberhauses von Glymma gespeist hatte, war Mirar zu später Stunde ins Sanktuarium zurückgekehrt, wo die Einladung auf ihn gewartet hatte, sich mit der Zweiten Stimme Imenja zu treffen. Ein Götterdiener hatte ihn zu einem Balkon mit Blick auf einen Innenhof begleitet, wo ein Springbrunnen im Licht mehrerer Lampen funkelte. Imenja saß auf einem Riedsessel und erhob sich nun, um ihn zu begrüßen.

»Traumweber Mirar«, sagte sie. »Wie ist deine Zusammenkunft mit deinen Leuten gelaufen?«

»Sehr gut«, antwortete er. »Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, Traumweber ohne die ständige Angst vor Verfolgung leben zu sehen. Es macht mir Mut, zu beobachten, dass sie in Harmonie mit einer vorherrschenden Religion existieren können.«

Sie lächelte. »Geradeso wie in alten Zeiten?«

Er schüttelte den Kopf. »Ja und nein. In der Vergangenheit gab es so viele Götter, dass nur wenige von ihnen über eine derart absolute Macht verfügten, wie deine Götter es tun. Ein einzelner Gott mochte zwar über ein kleines Land wie Dunwegen herrschen, aber niemals über einen ganzen Kontinent. Und niemals im Einklang mit anderen Göttern.«

»Ich würde gern mehr über diese Zeiten hören. Wie nennen die Zirkler sie?«

»Das Zeitalter der Vielen.«

»Ja, und jetzt leben wir im Zeitalter der Fünf. Oder sollte es besser das Zeitalter der Zehn heißen?«

Mirar zuckte die Achseln. »Wenn ich dir Geschichten aus der Vergangenheit erzähle, werden es zumindest nicht deine Götter sein, von deren üblen Taten ich berichte.«

Sie kicherte. »Nein. Ich entnehme deinen Worten, dass die Zirkler nichts von der Vergangenheit ihrer Götter wissen?«

»Nein. Nur die Traumweber wissen Bescheid und geben Erfahrungen und Geschichten durch Gedankenvernetzungen weiter.«

»Dann ist das vielleicht der Grund, warum dein Volk dort schlecht und hier gut behandelt wird. Unsere Götter brauchen die Geschichten nicht zu fürchten, die die Traumweber erzählen.«

Mirar sah sie beeindruckt an. Ihre Worte ergaben durchaus einen Sinn, obwohl er sich nicht sicher war, ob er zu derselben Schlussfolgerung gekommen wäre.

Imenja blickte auf den Innenhof hinaus. »Ich muss dich warnen: Je näher der Krieg kommt, umso mehr werden wir wünschen, dass du uns in irgendeiner Weise hilfst.«

Als sie sich wieder zu ihm umwandte, sah er ihr gelassen in die Augen.

»Traumweber kämpfen nicht.«

»Nein, aber es gibt vielleicht andere Möglichkeiten, wie du uns von Nutzen sein könntest.«

»Wir heilen die Verwundeten. Was können wir sonst noch anbieten?«

Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um, so dass sie ihm zugewandt saß. »Was tut ihr, wenn jemand einen Patienten angreift, den ihr gerade heilt? Lasst ihr zu, dass man dem Betreffenden Schaden zufügt, oder beschützt ihr ihn?«

»Wir beschützen ihn«, antwortete er.

»Was tut ihr, wenn jemand einen Freund - oder einen Fremden - angreift? Lasst ihr zu, dass ihm Schaden zugefügt wird, oder beschützt ihr ihn?«

Er runzelte die Stirn, denn er glaubte zu wissen, wohin dieses Gespräch führen würde. »Wir beschützen ihn.«

Sie lächelte und blickte wieder auf den Hof hinaus. »Nekaun wäre vielleicht mit einem Kompromiss zufrieden.« Ihr Lächeln erstarb, und sie seufzte. »Ich kann dir nicht versprechen, dass er dich oder deine Leute nicht bestrafen wird, wenn ihr ihm nicht irgendetwas anbietet. Es muss dabei nicht um deine Anhänger gehen. Er möchte, dass es so aussieht, als hätten wir dich, den legendären Mirar, auf unserer Seite.«

Mirar schüttelte den Kopf. »Das könnte die Traumweber im Norden in Gefahr bringen.«

Sie musterte ihn mit bekümmerter Miene. »Ich weiß. Es ist eine Entscheidung, um die ich dich nicht beneide.« Sie stand auf und lächelte. »Aber wenn du dich uns anschließt, besteht eine gute Chance, dass wir siegen werden, und das wäre wahrscheinlich ein besseres Ergebnis für die Traumweber als die Alternative.«

Er nickte. »Du hast nicht unrecht.«

»Denk über meinen Vorschlag nach«, erwiderte sie. »Aber es ist schon spät, und selbst Stimmen müssen ab und zu schlafen.«

»Ebenso wie Unsterbliche«, sagte er und erhob sich. »Gute Nacht, Zweite Stimme Imenja.«

»Gute Nacht.«

Der Götterdiener, der ihn zu dem Treffen begleitet hatte, trat auf den Balkon und führte ihn zu seinen Räumen zurück. Mirar blickte für eine Weile aus dem Fenster und dachte über Imenjas Idee nach.

Ein Kompromiss. Einer, der nicht meine Leute einbezieht, sondern nur mich. Ich beschütze die Pentadrianer mit Magie. Das ermöglicht es den Stimmen, einen größeren Teil ihrer Magie auf die Kämpfe zu verwenden. Und da Auraya unter dem Sanktuarium eingekerkert ist, werden die Pentadrianer diesmal gewiss siegen.

Wie würden seine Anhänger einen solchen Sieg empfinden? Würde er den Respekt der Traumweber verlieren, wenn er für eine Seite Partei ergriff? Es war möglich, aber die südlichen Traumweber würden sich verraten fühlen, wenn sie wüssten, dass er die Eroberung des südlichen Kontinents durch die Zirkler hätte verhindern können.

Seufzend ging er zu Bett. Sobald er eine Traumtrance erreicht hatte, suchte er nach Aurayas Geist, aber die einzige Reaktion, die er bekam, war zusammenhanglos und widerstrebend, und er beschloss, sie schlafen zu lassen. Stattdessen rief er einen anderen Namen.

Emerahl.

Mirar, antwortete sie, ohne zu zögern. Ich habe gerade mit den Zwillingen gesprochen. Wie ist das Leben in Glymma?

Gut für mich, unverändert für Auraya.

Die arme Frau. Hast du eine Möglichkeit gefunden, sie zu befreien?

Nein. Sie wird zu gut bewacht, wie ich übrigens auch, aber ich hoffe, dass sich daran etwas ändern wird, denn der Krieg lenkt alle ab. Wenn ich auch nur das geringste Interesse zeige, beginnt Nekaun zu fragen, ob ich zugegen sein wolle, wenn er sie tötet. Wenn ich frage, warum er damit wartet, sagt er nur, dass »es geschehen werde, wenn die Götter es so verfügen«. Imenja hat mir heute Abend ein Angebot gemacht. Er erzählte ihr, was die Zweite Stimme vorgeschlagen hatte. Was soll ich deiner Meinung nach tun?

Lass dich da nicht mit reinziehen. Aber da du bereits mittendrin steckst, solltest du für keine Seite Partei ergreifen. Doch da diese Stimmen das wahrscheinlich nicht zulassen werden, tu, was Imenja vorschlägt. Allerdings nicht sofort. Wenn du jetzt nachgibst, werden sie mehr verlangen. Warte bis zum letzten Augenblick. Und wenn du kannst, mach Aurayas Schicksal zu einem Teil des Handels, selbst wenn das nur einen Aufschub ihrer Hinrichtung bedeutet.

Wie immer war sie ein Quell guter Ratschläge.

Das klingt nach einem guten Plan. Wie geht es mit der Schriftrolle der Götter voran?

Wir sind noch nicht dahintergekommen, was die Symbole bedeuten. Ich hatte nicht viel Zeit, daran zu arbeiten. Die Zwillinge wollen, dass ich Südithania verlasse, für den Fall, dass die Denker Jagd auf mich machen. Ich werde durch Glymma reisen. Sie hielt inne. Können wir uns irgendwo gefahrlos treffen? Ich möchte, dass du dir den Diamanten anschaust.

Ich würde ihn auch gern sehen, aber ich denke, das wäre zu riskant. Obwohl ich mich frei bewegen kann, weiß ich nicht, wo wir uns gefahrlos treffen könnten, und ich bin mir sicher, dass mir jemand folgt, wenn ich das Sanktuarium verlasse.

Den Zwillingen würde es nicht gefallen. Wir würden nicht nur das Risiko eingehen, dass die Stimmen uns finden und uns den Diamanten abnehmen und ihn zerstören, es würde auch die Gefahr bestehen, dass die Pentadrianer mich ebenfalls erpressen, damit ich mich ihnen anschließe.

Du hast recht, das sollten wir vermeiden, pflichtete Mirar ihr bei. Die zirklischen Götter wären begeistert, wenn das geschehen würde. Auraya zufolge haben sie sich mehr als nur einmal im Sanktuarium herumgetrieben.

Die pentadrianischen Götter jagen sie nicht davon?

Sie hat nichts davon gesagt, dass sie sie spüren könne.

Das ist eigenartig. Vielleicht fürchten sie die zirklischen Götter.

Vielleicht sind sie ihrem Wesen nach so anders, dass Auraya sie nicht spüren kann, meinte Mirar.

Möglicherweise wissen sie auch, dass sie Götter belauschen kann, und gehen ihr aus dem Weg. Ich schätze, wir werden es nie erfahren.

Es sei denn, sie beschließen, es uns zu erzählen.

Ich glaube nicht, dass das in nächster Zeit passieren wird. Gibt es sonst noch etwas Neues?

Nein.

Dann viel Glück. Ich werde es dich wissen lassen, wenn ich Nordithania erreicht habe.

Dir auch viel Glück.

Ihr Geist verblasste langsam. Mirar kämpfte eine beharrliche Erschöpfung nieder, dann machte er sich an seine letzte Aufgabe für die Nacht: Er sandte seinen Geist aus, um die Gedanken der Menschen um ihn herum abzuschöpfen.

41

Drei Tage waren verstrichen, und Nekaun war nicht zurückgekehrt. Die Domestiken versahen ihre gewöhnlichen Aufgaben; sie spülten Auraya mit kaltem Wasser ab und gaben ihr körnigen Brei zu essen. Nach der Prozedur zitterte sie jedes Mal vor Kälte, und sie wünschte beinahe, sie würden sie schmutzig lassen. Es war schlimm genug, dass sie ständig fror, aber die Kälte, die sie nach dem Waschen überfiel, raubte ihr alle Kraft.

Sie sehnte sich nach richtigem Essen und träumte manchmal sogar davon. Wenn sie die Gedanken essender Menschen abschöpfte, verzehrte ihr eigener Körper sich nach Nahrung. Außerdem hätte sie viel darum gegeben, sich hinlegen zu können. Ihre Arme schmerzten, und trotz ihrer Bemühungen, die Beine zu strecken, hatte sie manchmal schmerzhafte Krämpfe. Meistens war sie so müde, dass sie nur kraftlos an der Wand lehnte.

Ihre Streifzüge hinaus in die Welt lenkten sie von Kälte, Hunger und Schmerz ab. Durch andere Menschen sah sie die Sonne auf- und untergehen, spürte Glück, Liebe und Zufriedenheit. Sie begann, dem Geist jener auszuweichen, die Schmerzen oder Kummer litten. Die Gedanken der Menschen, die sich auf den Krieg vorbereiteten, schienen nicht mehr so wichtig zu sein.

Welchen Unterschied macht es, ob ich weiß, was sie planen? Ich kann ohnehin nichts tun, um sie aufzuhalten. Ich kann nicht einmal die Weißen erreichen und ihnen mitteilen, was ich erfahren habe. Danjin vertraut mir nicht. Chaia…

Chaia hatte sie gerettet. Aber dennoch stiegen Fragen in ihr auf. Wenn Chaia sich als ein anderer Gott ausgeben konnte, waren die übrigen Götter dann ebenfalls dazu in der Lage? Konnten pentadrianische Götter sich als zirklische ausgeben? Das musste der Grund sein, warum er ihr das Erkennungswort »Schatten« gegeben hatte.

Aber die Erinnerung an Chaia war zu sehr mit dem Gedanken daran verknüpft, was Nekaun ihr hatte antun wollen, daher wandte sie sich anderen Dingen zu.

Was nicht immer funktionierte. Manchmal weckte irgendetwas in ihr eine Erinnerung an erdrückende schwarze Roben und tastende, unerwünschte Hände. Dann kroch ihr eine Gänsehaut über den Leib, und ihr Herz raste.

Sie hasste sich dafür, dass dieser Zwischenfall eine solche Macht über sie hatte. Die Erschöpfung ist der Grund, warum ich mich so schwach fühle, sagte sie sich. Wenn ich stärker wäre, könnte ich besser damit umgehen. Sie verzog das Gesicht. Wenn Chaia Nekaun nicht gestört hätte, wäre ich in einem noch schlechteren Zustand.

»Auraya.«

Einen Moment lang dachte sie, die Stimme sei eine Erinnerung, aber als sie ihren Namen wiederholte, schlug sie die Augen auf und sah eine leuchtende Gestalt vor sich stehen. Der pentadrianische Gott, Sheyr, lächelte sie an.

»Komm aus dem Schatten, Auraya«, sagte er.

»Chaia«, flüsterte sie.

»Ja.«

Der Götterdiener fiel ihr wieder ein, der sichtbar geworden war, als Chaia beim letzten Mal verschwunden war.

»Wer ist…?«

»Ein anderer treuer Sterblicher«, erwiderte er. »Er wird sich an dieses Gespräch nicht erinnern. Er hat mir seinen Willen überlassen.«

»Er hat ihn Sheyr überlassen.«

Er zuckte die Achseln. »Einige Sterbliche sind leicht zu täuschen.«

Sie blickte zu den Götterdienern hinüber, die am Tor Wache standen. Die beiden verfolgten das Geschehen aufmerksam und voller Ehrfurcht. Sie mussten das Tor geöffnet haben, um den von einem Gott besessenen Mann einzulassen.

»Aber was ist mit den pentadrianischen Göttern?«, fragte sie.

Chaias Lächeln wurde breiter. »Ich habe dafür gesorgt, dass ihre Aufmerksamkeit anderswo gefesselt ist.«

»Sie müssen wissen, dass du Nekaun getäuscht hast. Werden sie deine Befehle zurücknehmen?« Wird Nekaun noch einmal herkommen, um zu beenden, was er angefangen hat?

Der Gott schüttelte den Kopf. »Wenn sie das täten, würden sie offenbaren, dass ein anderer in ihre Gestalt schlüpfen kann.«

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, dann runzelte sie die Stirn. »Bist du hier, um mich zu befreien?«

»Das kann ich nicht. Wenn dieser Sterbliche den Leeren Raum betritt, kann ich nicht länger Besitz von ihm ergreifen.«

»Aber du könntest ihm den Befehl geben, mich freizulassen.«

Er schüttelte abermals den Kopf. »Ich darf mich nicht einmischen, und ich kann dir nicht erklären, warum ich mich nicht einmischen darf.« Seine Lippen formten sich zu einem schiefen Lächeln. »Du weißt bereits, dass wir Götter uns an Vereinbarungen halten müssen.«

Plötzlich begriff sie. »Huan will, dass ich hierbleibe.«

»Nicht direkt.«

Auraya sah ihn mit schmalen Augen an. »Ah. Ich verstehe. Sie will mich tot sehen. Das ist dein Kompromiss?«

»Dich für den Augenblick hierzulassen, ja.«

»Also wollt ihr alle mich aus dem Weg haben.«

»Ja.«

»Es überrascht mich, dass du nicht meine Hilfe bei diesem Krieg willst.«

Er runzelte die Stirn. »Wie hast du vom Krieg erfahren?«

Ein kalter Schauer überlief sie. Er weiß noch immer nicht, dass ich Gedanken lesen kann.

»Ich glaube, Nekaun hat es mir erzählt. Du wolltest nicht, dass ich davon erfahre?«, konterte sie.

»Ich bin hergekommen, um es dir zu erzählen.« Er wandte den Blick ab, und seine Miene wurde nachdenklich, dann kam er einen Schritt näher und lächelte. »Ich liebe dich immer noch, Auraya. Ich werde tun, was ich kann, um dich hier herauszuholen. Dann… als Gegenleistung möchte ich dein Versprechen, dass du dich aus den Konflikten dieser Welt heraushalten wirst - selbst aus jenen, die die Siyee betreffen. Halte dich fern, oder Huan wird einen Vorwand und einen Weg finden, dich zu töten. Ich…« Sein Blick wanderte von ihr zu einem Ort zu seiner Linken, und er zog die Brauen zusammen. »Ich muss gehen.«

Auraya fing die Anwesenheit eines anderen Gottes auf, bevor sie wieder erlosch. Die Gestalt Sheyrs verschwand. An seiner Stelle stand ein Götterdiener, der das Knabenalter kaum überschritten hatte. Der junge Mann sah sich im Raum um, dann fiel sein Blick plötzlich auf Auraya. Er schaute zu Boden und lief dunkelrot an.

Vom Tor wurde eine Stimme laut. Der Junge fuhr herum, und als er die Götterdiener sah, die dort Wache standen, eilte er auf sie zu. Einer der Wachposten klopfte ihm auf den Rücken. Er blieb noch einen Moment, um ihnen aufgeregt von seiner Erfahrung zu erzählen, dann eilte er davon.

Auraya seufzte und lehnte sich an den Sockel des Throns. Chaia mag mich lieben, dachte sie müde. Aber nicht genug, um Huan zu trotzen und mich zu befreien. Wie viele von den jüngsten Ereignissen waren von den Göttern eingefädelt worden? Hatten sie den Befehl gegeben, sie einzukerkern, damit sie aus dem Weg war?

Sie dachte an Nekauns Reaktion auf den Befehl von Chaia/Sheyr: »Aber…«

Aber was? Hatte er den Befehl erhalten, sie zu vergewaltigen? Von einem Gott?

Sie schauderte. Es war unmöglich zu wissen, und langsam breitete sich wieder Unbehagen in ihr aus. Sie schloss die Augen und sandte ihren Geist aus, auf der Suche nach einer Ablenkung.


Emerahl, die am Heck des Bootes stand, beobachtete, wie die Stadt Glymma langsam zu einer Reihe von Lichtern in der Ferne schrumpfte. Sie war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Die letzten Tage waren voller lästiger Verzögerungen gewesen. Nachdem sie eine Passage auf einem Schilfboot den Fluss hinunter in die Stadt gekauft und ein Armband an einen Sammler verkauft hatte, der ihr von den Zwillingen empfohlen worden war, hatte sie entdeckt, dass es auf den Kais von Glymma nur so von Götterdienern wimmelte, die darauf brannten zu erfahren, wer in ihre Stadt kam und wer sie verließ. Es brauchte mehrere Bestechungen und einige verschleierte Drohungen, um einen Kapitän zu finden, der bereit war, sie über den Golf des Feuers nach Diamyane zu bringen.

Jetzt, da sie abreiste, verspürte sie eine ironische Enttäuschung darüber, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, die Stadt zu erkunden. Als sie zu den funkelnden Lichtern zurückblickte, stiegen außerdem Gewissensbisse in ihr auf. Irgendwo unter dem weit verzweigten Sanktuarium war Auraya angekettet, gefangen in einem Leeren Raum.

Wenn ich sie befreien könnte, müsste Mirar nicht sein Leben aufs Spiel setzen, um es zu versuchen. Sie schüttelte den Kopf. Aber wenn er es nicht zuwege bringen kann, bezweifle ich, dass es mir gelingen würde.

Während der Wochen, die sie die ehemalige Weiße unterrichtet hatte, hatte sie Auraya zu respektieren gelernt. Sie mochte sie sogar ein wenig. Ich hoffe, die Pentadrianer behandeln sie nicht allzu schlecht. Bei diesem Gedanken schnaubte sie leise. Natürlich behandelten sie sie schlecht. Sie war ihre Feindin. Sie hatte ihren ehemaligen Anführer getötet. Sie werden sie leiden lassen, wie man eine Frau nur leiden lassen kann. Es ist schließlich Krieg.

Seufzend wandte sie sich ab. Das hindert mich nicht daran zu hoffen, dass sie nichts von dem Kampfgeist und dem Optimismus verliert, die sie früher besessen hat. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen - ohne das Risiko einzugehen, dass ich in der gleichen Lage wie sie ende. Die beiden Lampen des Bootes zeichneten die Schatten der Masten auf das Deck. Auch sie warf zwei Schatten, und wo sie einander überlappten, formten sie eine auf komische Weise magere Silhouette ihrer selbst. Sie lächelte der Silhouette zu, erheitert darüber, dass sie sie überhaupt wahrnahm. Die tagelange Betrachtung der Formen, die der Diamant warf, hatte ihr Bewusstsein für Schatten nur allzu sehr geschärft. Zumindest brauchte der Diamant nur eine einzige Lichtquelle, um zu funktionieren …

Sie hielt den Atem an. War das vielleicht ein Irrtum?

Was würde geschehen, wenn sie zwei oder drei oder mehr Lichtquellen benutzte? Plötzlich gewannen die Glyphen auf den Seiten des Anhängers eine mögliche neue Bedeutung. Und das Diagramm …

ein Licht/ein Schlüssel

Das Diagramm konnte man mit nur einem einzigen Licht sehen, und es war der Schlüssel zu allem weiteren.

zwei Lichter/zwei Wahrheiten

Es war so einfach! Wenn man zwei Lichtquellen benutzte, überlappten die Schatten sich vielleicht auf eine Art und Weise, die andere Formen schuf. Möglicherweise sogar Schriftzeichen.

Sie sah sich um. Das Schiff war ein einfaches Handelsschiff. Sein breiter Rumpf wurde für den Transport von Fracht benutzt, nicht von Passagieren. Alle Seeleute waren an Deck. Sie schliefen nicht auf See, da die Reise über den Golf binnen einer Nacht oder eines Tages bewältigt wurde. Emerahl bezweifelte, dass sie jemals unter Deck gingen, es sei denn, um nach der Fracht zu sehen oder Essen und frisches Wasser heraufzuholen.

Eine Möglichkeit gab es, wie sie unter Deck gehen und sicherstellen konnte, dass sie nicht gestört werden würde. Sie trat neben den Kapitän und wartete, bis er sich zu ihr umwandte.

»Ich muss für eine Weile allein sein«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Wäre ich unter Deck ungestört?«

Er nickte knapp. »Ich werde dafür sorgen, dass niemand nach unten geht. Es steht ein Eimer dort.«

»Danke.«

Er deutete auf die Luke. Einige der Seeleute nickten ihr zu, als sie an ihnen vorbeiging. Sie erwiderte den Gruß und spürte, dass die Männer ihre Anwesenheit, jetzt, da sie Glymma verlassen hatten, eher mit Neugier als mit Furcht betrachteten. Dem Kapitän hatte sie erzählt, ihr Mann sei vor einigen Monaten nach Glymma gekommen, in der Hoffnung, einen Handelspartner zu finden. Er habe sie in der Stadt gelassen, während er nach Sennon zurückgekehrt sei, um Geschäfte zu tätigen. Der Krieg habe ihn daran gehindert, sie aus Glymma abzuholen, daher habe sie allein fliehen müssen.

Als sie die Luke erreicht hatte, stieg sie eine Leiter hinunter in die Dunkelheit. Sie schuf einen Lichtfunken und hielt Ausschau nach dem Eimer. Wenn sie ihn nicht benutzte, würde der Kapitän vielleicht argwöhnen, sie habe etwas von der Fracht gestohlen oder darin herumgeschnüffelt. Sie fand den Nachttopf nicht weit entfernt von der Stelle, an der die Männer ihre Reisetruhe mit dem Schatz verstaut hatten.

Nachdem sie eine Schnur aus ihrem Bündel genommen hatte, spannte sie diese über Haken zu beiden Seiten des Rumpfs, die normalerweise der Sicherung der Ladung dienten. Über die Schnur hängte sie ihr Kapas. Wenn doch jemand nach unten kam, würde er annehmen, sie habe es aufgehängt, um ungestört zu sein.

Sie überzeugte sich davon, dass der Eimer sauber war, dann drehte sie ihn um, setzte sich darauf und zog den Anhänger unter ihren Kleidern hervor.

Es war nicht einfach, den Diamanten auf einem schaukelnden Schiff ruhig zu halten. Schließlich benutzte sie Magie, um ihn in der Luft schweben zu lassen. Sie schuf einen Lichtfunken, ließ ihn in dem Diamanten kreisen und drehte den Stein so, dass die »Schlüssel«-Facette Schatten auf ihr Kapas warf.

Voller Spannung untersuchte sie das Diagramm. Eine gepunktete Linie kreuzte eine Seite des Achtecks, zwei kreuzten die nächste Seite, drei die darauffolgende und vier die letzte. Die Zahlen bezogen sich vielleicht auf Winkel. Das würde sie erst wissen, wenn sie es ausprobiert hatte.

Sie drehte den Anhänger so, dass die Seite mit der Aufschrift zwei Lichter/zwei Wahrheiten dem Umhang zugewandt war, und beschwor eine zweite Lichtquelle herauf. Dann bewegte sie die beiden Lichter im Zentrum des Diamanten umher. Als sie sich weiter voneinander entfernten, sah sie, dass die Schatten auf dem Kapas einander überlappten. Plötzlich bildeten sie erkennbare Schriftzeichen. Sie ließ die Lichtfunken verharren und zog sie ein wenig näher zu sich heran.

Da! Das ist es!

Gewöhnliche Zeichen der Sorli-Schrift bedeckten ihren Umhang. Mit einem gewisperten Jubeln des Triumphs begann sie zu lesen.


Als Surim das erste Mal in den Sumpf gekommen war, hatte er ihn für einen hässlichen, übelriechenden Ort gehalten. Nachdem er einige tausend Jahre lang in Luxus gelebt hatte, war ihm die schlammige, allzeit feuchte Wildnis wie ein Ort aus seinem schlimmsten Albtraum erschienen.

Aber während er sich an seine neue Heimat gewöhnt hatte, hatte er ihre Schönheit zu schätzen gelernt. So viel Leben, dachte er, während er das Boot durchs Wasser gleiten ließ. Solche Vielfalt an Pflanzen, Tieren und Insekten an diesem einzigartigen Ort. Die Einheimischen wussten dies bis zu einem gewissen Maß ebenfalls zu schätzen. Sie passten ihr Leben an den Sumpf an, ebenso wie sie den Sumpf an ihr Leben anpassten. Außenseiter verstanden es nicht - sie versuchten nicht, es zu verstehen. Sie fällten die Bäume, hoben tiefere, breitere Flüsse aus und versuchten, das wasserdurchtränkte Land trockenzulegen.

Der Sumpf war wunderschön während des Tages, aber unheimlich in der Nacht. Ohne sein Licht, das den Weg erhellte, hätte Surim sich in absoluter Dunkelheit verirrt. Er duckte sich unter einem Netz, das über den Fluss gespannt war, dann drehte er sich um und grüßte die gewaltige Spinne, die in der Mitte hockte.

»Sei vorsichtig, wo du deine Netze webst, oder ich werde dich zu meinem Abendessen machen«, erklärte er der Spinne. Er wandte sich wieder um und blickte an der Felswand vor ihm hinauf. Während er sein Boot daran entlangsteuerte, lauschte er den Geräuschen des Sumpfs. Jedes Zirpen, jedes Summen und jeder Ruf beschworen vor seinem inneren Auge den Besitzer der Stimme herauf. Ein Regenbogenflieger huschte an seinem Ohr vorbei.

Er manövrierte das Boot um eine Biegung des Flusses und hielt auf die dunklen Löcher im Sockel der Felswand zu. Als es hineinglitt, wichen die Schatten vor seinem Licht zurück.

»Flieht, Schatten!«, flüsterte er. »Flieht, so schnell ihr könnt!«

Das Boot trieb in eine Höhle. Ein anderes Licht und eine Gestalt zogen ihn auf die gegenüberliegende Seite hinüber. Tamun hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

»Du kommst spät.«

»Ach ja?« Er lächelte. »Ich wusste nicht, dass ich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein sollte.«

Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Du weißt, was ich meine. Normalerweise kehrst du vor Einbruch der Dunkelheit zurück.«

»Das ist wahr«, pflichtete er ihr bei. »Es war eine ungewöhnliche Nacht. Oder die gewöhnlich ungewöhnliche Nacht.« Er lenkte das Boot zu dem Felsvorsprung hinüber und erhob sich. »Wie viele Male muss etwas ungewöhnlich sein, um gewöhnlich ungewöhnlich sein zu können?«

Sie rümpfte die Nase. »Erheblich seltener, als du dumme Fragen stellst. Beeil dich. Emerahl hat die Geheimnisse entschlüsselt.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging über den Felssims in die Höhlen.

Eine Welle der Erregung stieg in Surim auf. Er sprang aus dem Boot, band es hastig fest und eilte ihr nach.

Den Göttern widerstrebte es bekanntermaßen, mit Sterblichen oder Unsterblichen über ihre eigenen Beschränkungen zu sprechen. Als er und Tamun Hinweise darauf gefunden hatten, dass es irgendwo in Südithania möglicherweise eine Schriftrolle voller Geheimnisse eines toten Gottes gab, hatte dieses Wissen sich zu einer quälenden Verlockung entwickelt. Surim hatte sogar erwogen, die Höhle zu verlassen, um selbst danach zu suchen. Es war das Risiko einer Entdeckung durch die Götter beinahe wert. Beinahe. Davon abgehalten hatte ihn nicht der Gedanke, dass die Götter ihn vielleicht bemerken und seine Ermordung veranlassen könnten, sondern der Umstand, dass Tamun in diesem Fall allein zurückbleiben würde. Zum ersten Mal in zwei Jahrtausenden. Er bildete sich gern ein, dass er ohne sie überleben könne. Von ihnen beiden hatte er sich während des letzten Jahrhunderts am meisten verändert. Er wollte das Risiko nicht eingehen, dass sie ohne ihn nicht überleben konnte.

Unsere Stärke ist unsere Schwäche. Unsere Schwäche ist unsere Stärke. Die Trennung unserer Körper war schon schwer genug zu akzeptieren. Der Tod ist unvorstellbar.

Dann war Emerahl gekommen und hatte die Suche nach der Schriftrolle der Götter mit Freuden aufgenommen. Tamuns Meinung nach war sie ein zu großes Risiko eingegangen, als sie die Denker verlassen und darauf gesetzt hatte, dass die Geheimnisse sich irgendwo in dem Schatz befanden. Surim kümmerte das nicht. Nur jemand, der bereit war, einige Risiken einzugehen, konnte die Suche überhaupt übernehmen. Und Emerahl hatte recht gehabt.

Er folgte Tamun hinauf in ihre Lieblingshöhle. Dort legten sie sich beide in das Nest von Kissen, das Surim gemacht hatte. Er hörte sie tief ein- und ausatmen und schloss ebenfalls die Augen, bevor er sich mühelos in die Netztrance sinken ließ und seine Gedanken mit denen von Tamun verband.

Emerahl?, riefen sie.

Tamun. Surim. Endlich.

Sei mir gegrüßt, Surim, erklang eine andere Stimme. Surim empfand eine leichte Überraschung.

Möwe?

Ja. Ich bin es.

Ich dachte, er würde vielleicht hören wollen, was sie zu sagen hat, erklärte Tamun. Und die Möwe meinte, es sei an der Zeit, dass Mirar von seiner Existenz erführe.

Und ich habe mich immer noch nicht ganz von der Überraschung erholt, fügte Mirar hinzu.

Spar dir das für später, sagte Emerahl. Ich bin dahintergekommen, wie man die Glyphen in dem Anhänger sichtbar machen kann.

Mit leichter Erheiterung hörte Surim zu, während sie ihre Entdeckung beschrieb.

Es ist zu einfach, beendete Emerahl ihre Ausführungen. Ich kann nicht fassen, dass ich es nicht von Anfang an begriffen habe.

Die meisten Rätsel sind einfach, sobald man die Lösung kennt, erwiderte Surim. Also, was sagen die Schriftzeichen?

Ich habe mit der Seite begonnen, auf der »zwei Lichter/zwei Wahrheiten« geschrieben steht. Die Zeichen lauten: »Alle Götter wurden sterblich geboren. Sie haben zuerst gelernt, unsterblich zu sein. Zuletzt haben sie gelernt, Götter zu werden.« Es folgt eine Lücke, dann: »Alle Götter lieben/hassen/haben Bedürfnisse wie Sterbliche. Alle Götter brauchen Sterbliche, um die Welt zu sehen/ zu verändern/mit ihr in Beziehung zu treten.«

Die fünf Unsterblichen schwiegen eine Weile. Als das Schweigen sich in die Länge zog, fragte sich Surim, ob sie überhaupt noch vernetzt waren.

Das erklärt einiges, sagte er, als er es nicht länger ertragen konnte.

Das tut es allerdings, pflichtete die Möwe ihm bei.

Dann waren die Götter also Unsterbliche, überlegte Mirar. Bedeutet das, dass wir Götter werden könnten? Das würde erklären, warum sie uns so sehr fürchten.

Sie fürchten, dass wir entdecken, wie wir Götter werden können, pflichtete Surim ihm bei.

Aber würden wir das wollen?, fragte die Möwe leise. Es heißt, die Götter könnten menschliche Gefühle wahrnehmen, brauchen jedoch Sterbliche, um in der Welt etwas auszurichten.

Verlangen zu verspüren, aber nicht in der Lage zu sein, es zu befriedigen, sagte Mirar. Kein Wunder, dass die Götter keinen Sinn für Humor haben.

Erklärt der Anhänger, wie man ein Gott werden kann, Emerahl?, fragte Tamun.

Nein, erwiderte sie.

Dann hast du also auch die anderen Seiten gelesen?

Ja.

Erzähl uns, was dort steht.

Drei Lichter verraten uns drei Geheimnisse, erwiderte Emerahl. Sie lauten: »Kein Gott kann an zwei Orten gleichzeitig sein. Kein Gott kann existieren, wo es keine Magie gibt. Kein Gott sammelt und erhält Seelen sterblicher Toter.«

Das Schweigen, das nun folgte, dauerte länger an als das vorherige. Diesmal war Surim zu beschäftigt mit der Bedeutung des Textes, um sich daran zu stören.

Die Götter nehmen keine Seelen! Die Lüge, die sie über tausende und abertausende Jahre aufrechterhalten hatten, war so gewaltig, dass Surim schwindlig wurde. Sie brauchen Sterbliche, um auf die Welt einzuwirken, dachte er. Also ist es unabdingbar, dass die Sterblichen glauben, sie brauchten Götter.

Dies wird deine Traumweber beruhigen, Mirar, sagte Emerahl.

Beruhigen? Ich weiß nicht. Sie wissen, dass sie jede Chance, dass ihre Seele nach ihrem Tod erhalten bleibt, verwirkt haben, wenn sie Traumweber werden. Aber wie werden sie sich fühlen, wenn dies kein ganz besonderes Opfer mehr ist?

Ich denke, die meisten von euch glauben ohnehin nicht an Seelen, erwiderte Tamun.

Was ist mit den beiden anderen Geheimnissen?, fragte die Möwe.

Wir wussten, dass Götter in Leeren Räumen nicht existieren können, und argwöhnten, dass sie nicht an zwei Orten gleichzeitig sein können, sagte Surim. Was erzählt uns die letzte Seite des Anhängers, Emerahl?

Ich dachte schon, ihr würdet nie mehr fragen, antwortete sie selbstgefällig. Die vierte Seite ist, wenn ihr euch erinnert, der Tod. Hört euch das an: »Alle Götter sind gleich mächtig. Keiner kann den anderen beeinflussen außer durch die Position.« Es folgt eine Lücke, dann: »Sechs umringen einen, und er wird unbeweglich. Sechs umringen einen und nehmen Magie, das führt zu Gefangennahme oder Tod.«

Sechs umringen einen?, wiederholte Surim.

Einer oben, einer unten, einer auf allen vier Seiten, sagte Mirar. Das Opfer in der Mitte. Wenn die Sechs alle Magie abziehen, kann der Gott darin nicht existieren.

Die Leeren Räume!, rief die Möwe aus. Ich wette, genauso sind die Leeren Räume geschaffen worden.

Natürlich, sagte Emerahl. Hm. Ich frage mich, wie ich mich fühlen werde, wenn ich das nächste Mal in einem Leeren Raum bin, wissend, dass dort ein Gott gestorben ist.

Das hängt von dem Gott ab, murmelte Mirar. Wenn ich wüsste, wo einige bestimmte Götter gestorben sind, könnte ich in Versuchung geraten, dort hinzugehen und ein kleines Fest zu veranstalten.

Irgendetwas stimmte nicht. Surim musste sich die Geheimnisse einige Male vor Augen halten, bevor er es verstand. Wenn also sechs Götter einen anderen umringen müssten, um ihn oder sie zu töten…

Es gibt nur fünf Götter, warf Mirar ein. Wo ist der sechste?

Sorli war die Sechste. Sie hat sich getötet, rief Emerahl ihm ins Gedächtnis. Erinnere dich an die Geschichte über die Schriftrolle. Sorli fühlte sich wegen der Dinge, die sie getan hatte, schuldig und nahm sich das Leben.

Wie?, fragte Mirar. Ah, natürlich. Die Leeren Räume. Sie muss einen davon betreten haben.

Und hat sich ins Nichts gestürzt, stimmte die Möwe ihm zu. Sie muss sich tatsächlich sehr schuldig gefühlt haben.

Hättest du das getan?, fragte Emerahl. Hätte irgendeiner von euch das getan?

Auch dies dürfte von dem jeweiligen Gott abhängen, sagte Mirar. Ich würde mich nicht im Mindesten schuldig fühlen, wenn ich mir sämtliche Götter vom Hals schaffen würde, die wir jetzt haben.

Aber du bist ein Traumweber. Du tötest nicht, stellte Surim fest.

Ich töte keine Menschen. Ich denke, was die Götter betrifft, könnte ich eine Ausnahme machen, obwohl sie früher ebenfalls Menschen waren.

Warum fragst du, Emerahl?, wollte Tamun wissen.

Ich habe überlegt, erwiderte Emerahl, deren Gedankenstimme angespannt vor Erregung klang, ob Unsterbliche Leere Räume schaffen können.

Ein Schaudern überlief Surim.

Wir könnten es versuchen, meinte Tamun.

Mit vereinten Kräften, ergänzte Mirar.

Wenn wir zu sechst wären, beendete die Möwe ihre Überlegungen. Wir sind nur fünf.

Auraya könnte…, begann Mirar.

Das wird sie nicht tun, bemerkte Emerahl. Sie glaubt immer noch, ihnen zu dienen.

Was das betrifft, könnte sie in letzter Zeit ihre Meinung geändert haben, entgegnete er.

Dieses Risiko können wir nicht eingehen, sagte Tamun entschieden. Wenn sie weiß, wozu wir in der Lage sind, könnte sie die Götter warnen. Im Gegensatz zu den Göttern können wir nicht binnen eines Augenblicks auf die andere Seite der Welt fliehen, falls es nicht funktioniert.

Man sollte ihr den Rest erzählen - alles, was wir erfahren haben, abgesehen davon, wie die Götter getötet wurden, sagte Emerahl. Sie muss über die wahre Natur der Götter, denen sie dient, Bescheid wissen.

Die anderen murmelten zustimmend.

Also, was tun wir ohne sie?, fragte Mirar. Warten, bis ein anderer Unsterblicher seine Macht erringt? Das könnte tausend Jahre dauern.

Wenn es notwendig ist, werden wir darauf warten, dass das geschieht, erwiderte Tamun. Oder wir warten, bis die Götter Auraya so sehr gegen sich aufgebracht haben, dass wir sicher sein können, dass sie sie genauso sehr hasst, wie wir es tun.

Was immer als Erstes geschieht, stimmte die Möwe ihr zu. Obwohl uns vielleicht keine andere Wahl bleiben wird, als auf einen neuen Unsterblichen zu warten, sollte Aurayas gegenwärtige Situation ein schlimmes Ende nehmen.

Nicht, wenn ich es verhindern kann, sagte Mirar.

Ich bitte dich, Mirar, begann Tamun. Geh keine törichten Risiken ein. Es wird lange dauern, wenn wir darauf warten müssen, dass zwei Unsterbliche ihre…

Ich muss Schluss machen, sagte Mirar abrupt.

Als Mirar aus ihrer Vernetzung verschwand, stieß Surim einen Seufzer aus.

Ich wünschte wirklich, du würdest aufhören, ihn auf solche Weise zu ermutigen, Schwester.

42

Das Ziehen in ihren Schultern war zu einem scharfen Schmerz geworden, während ihre Hände vor einiger Zeit alles Gefühl verloren hatten. Auraya öffnete die Augen und zwang sich, die Beine auszustrecken. Ihre Knie knackten, und ihre Oberschenkelmuskeln begannen zu zittern.

Das ist nicht gut, dachte sie. Ich werde schwächer. Ich brauche Bewegung. Sie dehnte die Muskeln und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Als das Gefühl in ihre Hände zurückkehrte, kam es ihr vor, als würden tausend Nadeln ihre Haut durchstechen. Was würde ich nicht alles tun für einen Stuhl…

Plötzlich verzehnfachte sich der Schmerz, als etwas ihren Arm berührte. Sie rang nach Luft und blickte auf, dann keuchte sie überrascht, als zwei runde Augen in ihre blickten.

»Unfug!«

Der Veez hockte auf der Sitzfläche des Throns und beugte sich zu ihr vor. Er sprang hinunter, und als er auf ihren wunden Schultern landete, zuckte sie zusammen.

»Was tust du hier?«, flüsterte sie. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst bei der netten Dienerin bleiben.«

»Owaya«, erwiderte er, und seine Schnurrhaare kitzelten sie am Ohr. »Böser Mann. Jagen.«

Er verströmte Furcht und Erregung. Auraya konzentrierte sich auf seine Gedanken und fing bruchstückhafte Erinnerungen auf. Ein Mann, den er kannte. Einer, mit dem sie viel Zeit verbracht hatte. Schreie. Ein Ausweichen vor magischen Angriffen. Flucht.

»Nekaun«, zischte Auraya. »Er hat versucht, dich zu töten.« Sie sandte dem Veez ein Gefühl von Mitleid und Stolz. Kluger Unfug.

Er schmiegte sich an ihr Ohr. »Kraulen.«

»Ich kann nicht«, antwortete sie und demonstrierte ihm, was sie meinte, indem sie an den Ketten zog. »Auraya gefangen.«

»Owaya befreien«, sagte er entschieden. Dann huschte er ihren Arm hinauf und schnupperte an den Handschellen. Ein Hoffnungsschimmer stieg in ihr auf, und sie blickte zu den Wachen hinüber. Sie schienen ganz in ein Gespräch vertieft zu sein. Unfugs Schnurrhaare bebten, dann legte er plötzlich die Ohren flach an den Kopf. Sie spürte seine Verwirrung, und plötzlich verstand sie.

»Keine Magie«, erklärte sie. »Keine Magie hier. Du benutzt Magie, um Schlösser zu öffnen.«

Der Veez verstand nicht. Er sprang auf den Thron und hockte sich an den Rand der Sitzfläche. Sein Fell stand ihm zu Berge, und sie spürte, dass er zutiefst unglücklich war.

Sie konnte nichts sagen, um ihn zu trösten, daher schwieg sie. Seufzend schloss sie die Augen und sandte ihren Geist in die Welt hinaus.

Gewohnheitsmäßig streifte sie die Geister der beiden Götterdiener, die sie bewachten. Sie sprachen gerade über die beiden Male, da Sheyr Besitz von Sterblichen ergriffen und die Halle betreten hatte. Es war ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass der Gott möglicherweise nicht der gewesen war, als der er sich ausgegeben hatte. Sie wussten nicht, dass der eine Mann den Verstand verloren hatte, während der andere jetzt jede Nacht mehrmals schreiend aufwachte. Auraya wusste das, weil sie den Geist der beiden abgeschöpft hatte.

Sie bewegte sich weiter weg und fing die Gedanken anderer Götterdiener auf. Sie waren beschäftigt mit ihren alltäglichen Aufgaben, kleinen Kümmernissen, Klatsch und Tratsch, Freunden und Verwandten und mit dem Krieg. Auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem streifte sie weiter umher. Mehrmals erregte Nekauns Name ihre Aufmerksamkeit. Einige Frauen, Götterdiener und Domestiken grübelten voller Unbehagen über seinen Besuch in ihrem Schlafzimmer nach. Auraya schrak vor diesen Erinnerungen zurück, dann stolperte sie über die Dienerin, die Unfug versorgt hatte. Es freute sie zu sehen, dass die Frau sehr erregt war, sowohl über Nekauns Versuch, den Veez zu töten, als auch darüber, dass das Tier nicht zurückgekehrt war.

Schließlich verließ Auraya das Sanktuarium und blickte in die Gedanken der Bürger von Glymma. Sie waren mit alltäglichen Belangen beschäftigt: Arbeit, Familie, Liebe, Hunger, Essen, Ehrgeiz, Schmerz und Freude. Der Krieg war allen gegenwärtig.

Am vergangenen Tag war es ihr gelungen, sich über die Grenzen der Stadt hinaus zu einigen Dörfern am Fluss zu bewegen. Heute hatte sie ihre Sinne in eine andere Richtung ausgestreckt. Dort fanden sich weniger Menschen, was nicht überraschend war, da dieses Gebiet ringsum von Wüstensand umgeben war. Die meisten Menschen konzentrierten sich darauf, Magie und körperliches Geschick einzusetzen, um eine Art Gefährt zu kontrollieren. Als sie genauer hinschaute, wurde ihr langsam klar, dass es sich dabei um Boote handelte, die, vom Wind angetrieben, über den Wüstensand glitten.

Sieht so aus, als würde das Spaß machen, ging es ihr durch den Kopf.

Auraya!

Als der Ruf kam, ließ sie sich automatisch in eine Traumtrance sinken.

Mirar?

Wie geht es dir?

Ich bin müde, und mir tut alles weh. Nekaun hat versucht, Unfug zu töten. Er ist jetzt hier.

Der Bastard. Es ist eine Schande, dass dieses Volk von einem solchen Mann regiert wird. Die anderen scheinen erheblich netter zu sein.

Selbst Shar, derjenige, der seine Worns in Toren unschuldige Menschen hat töten lassen?

Nun… ich habe mich bisher nicht allzu oft mit ihm unterhalten. Aber wie dem auch sei, ich muss dir etwas mitteilen. Die anderen Unsterblichen fanden, du solltest es wissen.

Die anderen Wilden?

Ja. Emerahl und einige andere, denen es gelungen ist, den Weißen zu entkommen.

Emerahl?

Die Frau, die dich gelehrt hat, deinen Geist zu verbergen.

Oh! Jade.

Ja. Jade. Emerahl. Die Hexe. Er hielt inne. Sie machen sich große Sorgen um dich und haben mir geholfen, nach einer Möglichkeit zu suchen, dich zu befreien.

Das haben sie getan? Obwohl ich eine Weiße bin?

Du bist keine Weiße mehr, Auraya.

Oh. Das ist wahr. Aber trotzdem. Immerhin bin ich eine Verbündete der Götter und all das.

Bist du dir sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?

Ja. Ich bin nur müde. Was wollten diese Wilden mir mitteilen?

Ich kann dir nur einen Teil von dem erzählen, was wir herausgefunden haben, weil die anderen sich nicht sicher sind, ob man dir alles anvertrauen kann, sagte er.

Sie zwang sich, sich zu konzentrieren.

Also gibt es Dinge, die sie mir nicht anvertrauen wollen?

Ja.

Und du stimmst ihnen zu?

Sagen wir nur, dass ich weiß, mit welchen Geheimnissen man dich belasten kann und mit welchen nicht.

Sie erwog seine Worte und stellte fest, dass sie ihn dafür mochte. Er möchte mir etwas erzählen, aber er will mich nicht in eine schwierige Position bringen.

Also, was sind das für Geheimnisse, die du mir anvertrauen kannst?

Es steckt eine Geschichte dahinter. Ich kann nicht die Namen aller Beteiligten nennen, aber da du Emerahl kennengelernt hast, darf ich dir ihren Anteil an dem Ganzen wohl erzählen.

Er berichtete kurz von den Gerüchten über eine Schriftrolle, die die Geheimnisse der Götter enthielt, und dass Emerahl sie gefunden hatte.

Das ist die Aufgabe, die sie verschieben musste, um mich zu unterrichten?

Ja. Also, diese Schriftrolle wurde von Sorlis letztem Priester angefertigt… Er fuhr fort, ihr die Geschichte der Schriftrolle zu erzählen. Am Ende des Krieges gab es sechs Götter, sagte er. Sorli hat sich selbst getötet, nachdem sie die Geheimnisse der Götter bewahrt hatte, damit andere sie finden konnten.

Und du hast die Geheimnisse entdeckt?

Emerahl hat es getan, und sie hat sie auch entziffert. Folgendes darf ich dir erzählen: Alle Götter kamen als Sterbliche zur Welt, wurden Unsterbliche und verwandelten sich dann in Götter.

Sie waren zuerst Wilde?

Ja. Und sie waren früher einmal gewöhnliche Sterbliche mit mächtigen Gaben. Es kommt noch mehr, und das wird dir nicht gefallen. Ich glaube nicht, dass es irgendjemandem gefallen wird. Den Göttern wird es gewiss nicht gefallen, wenn jemand davon erfährt. Ich könnte…

Sprich weiter, Mirar.

Die Götter können immer nur an einem Ort gleichzeitig sein, und kein Gott kann existieren, wo es keine Magie gibt.

Das wusste ich bereits.

Aber ich wette, dass du dies bestimmt nicht wusstest: Die Götter nehmen die Seelen der Menschen nach ihrem Tod nicht auf. Es ist eine Lüge, die sie seit Jahrtausenden benutzt haben, um Sterblichen einen Grund zu geben, ihnen zu gehorchen.

Aurayas Neugier verwandelte sich in Ungläubigkeit.

Das kann nicht wahr sein. Ich glaube es nicht.

Du willst es nicht glauben. Dies sind die Worte, die Sorli selbst hat niederschreiben lassen. Sie war die sechste Göttin, die dem Zirkel geholfen hat, alle anderen Götter zu töten. Wie hat sie es ausgedrückt? »Kein Gott sammelt und erhält Seelen sterblicher Toter.«

Sie hat gelogen. Sie war wahrscheinlich wahnsinnig. Schließlich hat sie sich das Leben genommen. Vielleicht hat sie überhaupt nie existiert, und dies alles ist ein Trick, den jemand vor Jahrhunderten eingefädelt hat, um sich an den Göttern zu rächen.

Du glaubst es nicht, weil du es nicht glauben willst. Und ich kann dir kaum einen Vorwurf daraus machen. Ich…

Nein, du glaubst es, weil du es glauben willst. Es passt nur allzu gut in deine Sicht der Welt, Mirar. Findest du diese Geschichte nicht selbst verdächtig? Wenn ich dich überlisten wollte, würde ich es genauso einfädeln. Ich würde dir erzählen, was du hören willst, damit du nicht an dem zweifelst, was noch damit verbunden ist. Sie hielt inne, als ihr ein unangenehmer Gedanke kam. Was war noch damit verbunden?

Das kann ich dir nicht erzählen.

Dann… sei einfach vorsichtig. Wenn dies ein Trick ist, könnte der andere Teil der Geschichte eine Falle sein.

Er zögerte lange, bevor er antwortete.

Ich werde es im Gedächtnis behalten. Es gibt noch etwas, von dem ich glaube, dass ich es dir mitteilen kann.

Ja?

Die Leeren Räume wurden geschaffen, wenn ein Gott getötet wurde.

Eine Mischung aus Erschrecken und Erregung machte sich in ihr breit.

Hat diese Schriftrolle euch gesagt, wie die Götter einander getötet haben?

Gibt es einen Gott, den du gern töten würdest?, fragte er zurück.

Vielleicht.

Wen? Ah! Die pentadrianischen Götter natürlich. Was haben sie dir jemals angetan?

Sie haben mich in einem Leeren Raum anketten lassen.

Ein vernünftiger, wenn auch persönlicher Groll, räumte er ein.

Und sie haben ihr Volk dazu angestiftet, Nordithania zu überfallen, fügte sie hinzu.

Ja, das war nicht sehr höflich.

Ich nehme an, du wirst mir erzählen, dass sich die zirklischen Götter schlimmerer Vergehen schuldig gemacht haben?

Das könnte ich tun. Aber ich werde es nicht tun. Also hegst du keinen persönlichen Groll gegen sie?

Nur einen kleinen. Wenn Huan mich tot sehen will, scheint es mir nur gerecht, dass ich ihr das Gleiche wünsche.

Klingt ver… warte. Huan will dich tot sehen?

Warum überrascht dich das? Du hast mich gewarnt, dass die Götter versuchen würden, mich zu töten.

Aber sie haben es nicht getan.

Chaia eilt immer wieder zu meiner Rettung. Nun, jedenfalls soweit es ihm möglich ist, da es »Regeln« und dergleichen Dinge gibt, die ihm dabei im Wege stehen. Er sagt, er könne mich nicht befreien.

Ach ja? Ich hatte angenommen, dass sich keiner der zirklischen Götter in das Sanktuarium wagen könne, ohne die Aufmerksamkeit der pentadrianischen Götter zu erregen.

Dasselbe habe ich auch gedacht. Sie erzählte ihm in knappen Worten, dass Chaia zweimal in Gestalt Sheyrs aufgetreten sei, obwohl sie nicht erwähnte, warum. Er sagt, Sheyr werde die Pentadrianer nicht darauf aufmerksam machen, weil er damit eingestehen würde, dass etwas Derartiges geschehen kann.

Und dann wird niemand wissen, ob er es wirklich ist, wenn er einmal erscheint. Wie ärgerlich für ihn. Die anderen… ah. Ich muss Schluss machen, Auraya.

Was immer du tust, bring meinetwegen weder dich noch die Traumweber in Gefahr.

Aber sein Geist hatte sich bereits aus ihrer Wahrnehmung entfernt, und sie hörte keine Antwort.

Seufzend ließ sie sich für eine Weile treiben, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Mirar zurück.

Er ist so viel selbstsicherer als Leiard, ging es ihr durch den Kopf. Obwohl Leiard auch so war, als er noch im Wald lebte. Erst in Jarime und in der Nähe der Weißen wirkte er ängstlich. Nur… er war nicht ängstlich, als wir Liebende waren. Da war er eher…

Die Erkenntnis traf sie wie ein Strahl purer Energie. Als Leiard ihr Geliebter gewesen war, hatte er größere Ähnlichkeit mit Mirar gehabt. Die ganze Zeit über, während sie mit Leiard zusammen gewesen war, war Mirar bei ihr gewesen, wenn auch in einer verringerten, halb vergessenen Gestalt.

Vielleicht waren es nur ihre gegenwärtige Schwäche und Verletzbarkeit, die ihre Gefühle verstärkten, aber mit einem Mal wurde sie von Sehnsucht nach ihm überwältigt. Und dieser Regung folgte ein nicht minder starkes Entsetzen.

Ich muss vorsichtig sein, sagte sie sich verzweifelt. Wahrscheinlich könnte ich mich in jeden verlieben, der mich von hier fortholt, und ich würde niemals wissen, ob das Gefühl echt ist.


Während der letzten Tage war die dunwegische Armee zwischen den Hohlen Bergen auf der rechten und dem Meer auf der linken Seite marschiert. Die Straße hatte über sanft gewellte Hügel geführt, das Wetter war mild gewesen, und der Geruch des Meeres hatte der Luft eine saubere, frische Schärfe verliehen. Der Wald von Dunwegen machte felsigem Land Platz, das bedeckt war von hohen Gräsern und vom Wind gebeutelten Sträuchern und Bäumen.

Die spärliche Pflanzenwelt gab hier und da den Blick auf weißen Sand und blaues Wasser frei. Wann immer Danjin einen weiteren scheinbar idyllischen Strand sah, stieg eine sehnsüchtige Enttäuschung in ihm auf. Er konnte kaum innehalten, um die Schönheit der Landschaft auszukosten; er war Teil einer Armee, und diese Armee eilte in den Kampf mit einer anderen.

Diese Straße wurde gelegentlich von Händlern benutzt, die Waren nach Dunwegen brachten, aber während des größten Teils des Jahres begünstigte das Wetter eher einen Transport mit Schiffen. I-Portak betrachtete von Zeit zu Zeit den Horizont, zweifellos auf der Suche nach den Kriegsschiffen seines eigenen Volkes. Nach mehreren hundert Jahren Frieden in Nordithania unterhielten einzig die Dunweger eine Flotte von Kriegsschiffen und bildeten ihre Krieger in der Kunst der Seeschlachten aus. Spionen zufolge besaßen die Pentadrianer ihre eigene kleine Flotte und verfügten auch über eine gewisse Fähigkeit darin, sie zu benutzen. Während des vorangegangenen Krieges hatte Danjin Lanren Liedmacher, den Kriegsratgeber der Weißen, gefragt, warum die Pentadrianer nicht nach Jarime gesegelt seien, statt durch die Berge zu marschieren.

Der Mann hatte ihm erklärt, dass eine Seereise um die westliche Seite des Kontinents herum wegen ungünstiger Winde sehr lange dauern würde, während die Ostseite von dunwegischen Kriegsschiffen bewacht wurde. Den Dunwegern wäre die Gelegenheit, ihre Fähigkeiten an einem Feind zu erproben, sehr willkommen gewesen.

Doch nichts hinderte die Dunweger daran, nach Süden zu segeln. Nicht wenn Sennon die Zirkler unterstützte. Die dunwegischen Kriegsschiffe sollten in Karienne, der sennonischen Hauptstadt, auf den Rest der Armee treffen und dann den Versorgungsschiffen auf ihrem Weg nach Süden, zur Landenge Grya, sicheres Geleit geben.

Aber zuerst müssen wir Karienne erreichen, dachte Danjin. Wir müssen die sennonische Wüste durchqueren und uns darauf verlassen, dass Sennon uns mit genug Wasser versorgen wird, um zu verhindern, dass die Armee verdurstet.

Das Land wurde stetig trockener. Rückblickend wurde Danjin klar, dass er seit mindestens zwei Tagen keinen Baum mehr gesehen hatte, der größer gewesen wäre als ein Mensch. Die Grasbüschel waren jetzt noch spärlicher. Die Erde war so trocken und staubig wie Sand. Als er an Ella und I-Portak vorbeischaute, sah Danjin die Wasserträger an der Kolonne von Kriegern entlanglaufen. Wann immer ein Kämpfer nach etwas zu trinken verlangte, füllten sie ihm aus großen Wasserschläuchen den Becher. Während der nächsten Wochen würde man ihrer Dienste dringend bedürfen.

I-Portak richtete sich auf seinem Sitz auf. Ellas Miene wurde mit einem Mal eindringlicher. Beide blickten über Danjins Kopf hinweg. Kurz darauf neigte sich der Plattan zur Seite, und Danjin wurde klar, dass der Wagen die Kuppe eines Hügels überwunden hatte und jetzt steil nach unten fuhr.

»Hier beginnt die Wüste«, murmelte I-Portak.

Danjin und die anderen Ratgeber drehten sich um. Eine bleiche Ebene erstreckte sich vor ihnen, durchbrochen nur von Dünen. Vom Fuß des Hügels führte die Straße schnurgerade bis zum fernen Horizont, wo Sand und Staub wie Rauch in den Himmel stiegen. Ein Wüstensturm vielleicht. Danjin hatte von Stürmen gehört, die so heftig waren, dass der Sand Reisenden die Haut vom Körper scheuerte oder sie bei lebendigem Leib begrub.

»Das ist die Armee«, hörte er Ella sagen. »Sie sind gut vorangekommen.«

Danjin lehnte sich erleichtert zurück. Kein Sturm. Nur die Zirkler.

»Wir müssten sie heute Abend eigentlich erreichen«, erwiderte I-Portak. »Oder früher, wenn du es wünschst.«

Danjin wandte sich wieder um und war froh zu sehen, dass Ella den Kopf schüttelte.

»Heute Abend wird früh genug sein. Wir sollten uns nicht überanstrengen, solange es nicht unbedingt sein muss.« Ihre Schultern hoben sich leicht und verrieten einen unterdrückten Seufzer. Danjin verkniff sich ein Lächeln.

Diese Reise erwies sich als überaus langweilig. Obwohl Ella während eines großen Teils der Fahrt zu dem pentadrianischen Dorf ihre Aufmerksamkeit auf den Geist des flüchtenden Dieners konzentriert hatte, war sie oft genug »aufgetaucht«, um sich zu unterhalten - oder um Danjin und Gillen beim Spiel zuzusehen. Selbst Yem war als Gefährte interessanter gewesen als I-Portak und seine Ratgeber.

Ella blickte zu ihm hinüber, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann beugte sie sich vor.

»Hast du dieses kleine Reisespiel dabei, Danjin?«

Er nickte.

»Dann lass uns eine Partie spielen, um uns die Zeit zu vertreiben.«

Überrascht zog er sein Bündel unter seinem Sitz hervor und holte die Spielschatulle heraus. Nachdem er die Schublade aufgezogen hatte, nahm er die Steine heraus und stellte sie auf ihre Positionen auf dem Brett. I-Portak beobachtete ihn voller Interesse.

Umso größer war Danjins Verlegenheit, als er den letzten Spielstein nicht finden konnte. Wie immer ließ sich die Schublade nicht zur Gänze öffnen. Der Stein hatte sich vermutlich irgendwo im hinteren Teil verklemmt, aber er konnte die Schachtel weder kippen noch schütteln, ohne dass die Steine, die bereits aufgestellt waren, verrutschten. Schließlich schob er den Finger in die Schatulle und stellte fest, dass der letzte Spielstein sich tatsächlich verklemmt hatte.

Seufzend kippte er die anderen Steine auf seinen Schoß und versuchte, den eingeklemmten Stein herauszuholen. Wenn er die Schublade schloss und die Schachtel schüttelte, konnte er etwas in ihrem Innern klappern hören.

Nein, dachte er plötzlich. Es sind zwei Dinge darin.

Als er die Schublade wieder öffnete, stellte er fest, dass der Spielstein nach vorn gerutscht war. Er nahm ihn heraus und griff dann abermals in die Lade.

Es war noch immer etwas darin. Etwas, das gerade ein wenig zu breit war, um die Schublade aufzuziehen.

Er griff danach und drückte vorsichtig den Deckel der Schachtel nach oben. Der Gegenstand rutschte hindurch, und die Lade fiel vollends heraus. Danjin öffnete die Hand und starrte auf einen weißen Ring hinab.

Ella beugte sich vor und nahm ihm den Ring ab. »Das ist ein Priesterring.«

»Ja«, pflichtete Danjin ihr bei. »Aber wie ist er in mein Spiel gekommen?«

Sie zuckte die Achseln, dann runzelte sie die Stirn. »Es sei denn…« Ihre Augen wurden schmal, und sie sah ihn argwöhnisch an. »Was ist aus Aurayas Netzring geworden?«

Plötzlich begriff Danjin, was geschehen sein musste, und Gewissensbisse regten sich in ihm. Er spürte, wie sein Gesicht warm wurde.

»Ich, äh, nun…«

»Du hast ihn nicht zurückgegeben, nicht wahr?«

Er breitete die Hände aus. »Es hat niemand danach gefragt. Ich habe ihn beiseitegelegt und vergessen.«

»Hast du ihn dort hineingelegt?« Sie zeigte auf die Spielschachtel.

»Nein.« Er runzelte die Stirn. »Das muss jemand anders getan haben. Vielleicht jemand, der wollte, dass ich ihn finde.«

Sie besah sich den Ring noch einmal. »Jemand, der wollte, dass du in der Lage bist, dich mit Auraya in Verbindung zu setzen?«

»Ich kann den Ring wohl kaum zu einem anderen Zweck benutzen.«

Zu seiner Überraschung gab sie ihn ihm zurück. »Streif ihn über.«

»Jetzt?«

»Ja. Ich möchte feststellen, ob er funktioniert.«

Um mit Auraya zu sprechen… Eifer und Zweifel wetteiferten in ihm. Er blickte zu Ella auf.

»Was ist, wenn sie…?« Er unterbrach sich hastig und brachte es fertig, I-Portak nicht anzusehen.

»Du trägst auch meinen Ring«, bemerkte sie. »Ich müsste eigentlich alles hören, was sie dir sagt.«

Er holte tief Luft und schob den Ring auf einen Finger. Nichts geschah. Ella zog die Brauen zusammen.

»Ruf nach ihr«, schlug sie vor.

Er konzentrierte sich auf Auraya.

Auraya!

Stille folgte. Er rief wieder und wieder und fragte sich, ob sie ihn ignorierte, ob sie schlief oder - und bei diesem Gedanken erschrak er - ob sie tot war.

»Danjin.«

Er hob den Kopf. Ella sah ihn mit undeutbarer Miene an.

»Gib ihn mir.«

Er nahm den Ring ab und legte ihn auf ihre ausgestreckte Hand. Sie lächelte, dann verbarg sie den Ring unter ihrem Zirk.

»Den sollte ich fürs Erste besser behalten«, sagte sie.

»Denkst du…?«

Ich weiß nicht, was ich denken soll, antwortete sie. Ich werde keine Mutmaßungen anstellen, bevor Juran ihn überprüft hat.

Dann beugte sie sich vor und warf einen vielsagenden Blick auf das Spielbrett.

»Es ist schon eine Weile her, aber ich war einmal eine ziemlich gute Spielerin.«

Er brachte ein Lächeln zustande, dann griff er nach der Schachtel und begann, die Steine von neuem auf dem Brett anzuordnen.

43

Diamyane war noch immer so trocken und hässlich, wie Emerahl es von ihrem früheren Besuch auf dem Weg zu den Roten Höhlen in Erinnerung hatte. Seit sich die Nachricht von der heranrückenden zirklischen Armee herumgesprochen hatte, hatte sich Panik breitgemacht. Am vergangenen Tag hatten die Pentadrianer jedes Schiff in der Gegend beschlagnahmt, um zu verhindern, dass die Zirkler es benutzten. Jetzt flüchteten die Menschen aus der Stadt - meistens zu Fuß und mit ihrer Habe auf dem Rücken.

An ihrer Stelle war die Stadt nun von Traumwebern bevölkert. Heute kam es Emerahl so vor, als sei jeder dritte oder vierte Mensch, dem sie begegnete, ein Traumweber. Kein Wunder, dass man sie Boten des Krieges nannte, dachte Emerahl. Es hieß, wenn eine Schlacht bevorstehe, würden gewiss Traumweber und Aasvögel erscheinen. Erstere haben die Verwundeten geheilt, Letztere haben sich um die Toten gekümmert.

Bis zu dem letzten Kampf zwischen Zirklern und Pentadrianern hatte sie sich stets von Schlachtfeldern ferngehalten. Es war gefährlich, sich in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Nun verspürte sie ein seltsames Widerstreben, fortzugehen. War es Neugier, die sie verlockte zu bleiben?

Nein, befand sie. Es ist mehr als das. Es ist dieser nagende Gedanke, dass sich eine Gelegenheit für uns Unsterbliche bieten könnte, die Informationen in dem Diamanten zu benutzen. Wie unwahrscheinlich das auch sein mag, wenn wir nicht hier sind, um die Chance zu ergreifen, werden wir lange auf eine weitere Gelegenheit warten müssen.

Wo die Zirkler und die Pentadrianer aufeinandertrafen und die Weißen gegen die Stimmen kämpften, würden auch die Götter sein. Alle an einem Ort. Das geschah nicht oft. Tatsächlich würde es wahrscheinlich nur während eines Krieges geschehen.

Wir brauchen sechs Unsterbliche. Alles hängt von Auraya ab. Glaube ich wirklich, dass sie uns helfen würde, sie zu töten, wenn sie frei wäre?

Sie schüttelte den Kopf. Nein, aber Mirar glaubt, dass wir hier sein sollten, falls er doch recht behält.

Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Die Möbel waren alt, und es gab nur wenige Annehmlichkeiten, aber der Raum bot einen Blick auf die Hauptstraße, die in die Stadt führte. Die Bewohner waren in aller Eile aufgebrochen und hatten den größten Teil ihrer Habe zurückgelassen. Sie hatte nur geringfügige Gewissensbisse, dass sie diese Dinge in Besitz genommen hatte, da sie bisher jede Nacht Plünderer davongejagt hatte. Da die Märkte geschlossen waren, hatte sie kaum eine andere Wahl, als sich an den mageren Essensvorräten zu bedienen. Ich sollte wohl Vorräte von den Traumwebern kaufen, aber sie werden alles brauchen, was sie haben, und was hier ist, wird verderben, wenn niemand es isst.

Sie sah aus dem Fenster und beobachtete zwei weitere Traumweber, die die Straße hinabgingen. Ihre Gedanken wanderten wieder zu der Frage zurück, wie sie die Götter töten könnten.

Sechs Angreifer, dachte sie. Einer von oben. Einer von unten. Einer auf jeder Seite. Wie sollen wir das anstellen?

Anders als die Götter waren Unsterbliche der Schwerkraft unterworfen. Sie konnten Positionen auf allen Seiten einnehmen, aber zu diesem Zweck müssten sich die Götter in der Nähe des Bodens befinden. Die Plätze oben und unten stellten dennoch ein Problem dar.

Außer für Auraya, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie kann fliegen. Der Platz oben ist offensichtlich ihrer, falls sie sich dazu entscheidet, ihn einzunehmen. Und was ist mit dem Platz unten?

Als nichtkörperliche Wesen konnten Götter durch feste Gegenstände hindurchgehen. Unsterbliche konnten das nicht. Wer immer den Platz unten einnahm, würde hoffen müssen, dass sich an der richtigen Stelle eine Höhle oder ein Tunnel fanden.

Und wo wird die richtige Stelle sein? Sie schürzte die Lippen. Die Weißen und die Stimmen werden einander vor der Schlacht wahrscheinlich gegenübertreten und die üblichen Drohungen und Prahlereien austauschen. Sie lächelte, als ihr klar wurde, wo diese Begegnung vermutlich stattfinden würde. Auf der Landenge.

Sie dachte an ihren letzten Besuch in Diamyane zurück und vergegenwärtigte sich den Tunnel, durch den sie in nördlicher Richtung mit der Familie gereist war, um den Weisen Mann von Karienne predigen zu hören. Der Tunnel war von Dieben kontrolliert worden, aber das ließ sich ändern.

Sie sind vielleicht zusammen mit den Einheimischen geflohen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie Häuser plündern; das dürfte zur Zeit das einträglichere Gewerbe sein. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie sich daran erinnerte, wie die Diebe vor ihrer Magie geflohen waren, als sie das Tor, an dem sie Reisende abfingen, eingeschmolzen hatte.

Das einzige Problem bei diesem Tunnel bestand darin, dass er quer unter der Landenge verlief und nicht längs. Und er lag in der Nähe der Küste von Diamyane. Also mussten sie und die anderen Sterblichen hoffen, dass die Begegnung direkt über dem Tunnel stattfinden würde, was unwahrscheinlich war.

Dann fiel ihr wieder ein, was der Vater der Familie ihr erzählt hatte. Er hatte gesagt, dass es in der Vergangenheit mehrere Tunnel unter der Landenge gegeben habe, dass sie jedoch aufgefüllt worden seien. Vielleicht ließen sich einige dieser Tunnel wieder öffnen.

Aber welche? Ah, das ist alles ein schöner Tagtraum, überlegte sie trocken. Und so wird es wahrscheinlich auch bleiben. Sie stand auf, ging zum Bett hinüber und legte sich nieder. Ich sollte besser herausfinden, was Mirar im Schilde führt.

Also schloss sie die Augen, verlangsamte ihre Atmung und leitete ihren Geist in den Schlaf hinein. Als sie den richtigen Zustand erreicht hatte, rief sie Mirars Namen. Sie bekam keine Antwort, daher streckte sie ihre Sinne aus, um die Geister der Menschen um sie herum abzuschöpfen. Die meisten dachten, wie vorauszusehen, über Dinge nach, die mit dem bevorstehenden Kampf zusammenhingen. Sie streckte sich nach den Kais aus und fand einige pentadrianische Spione. Dann folgte sie den wenigen Händlern, Reisenden und Pentadrianern, die sich auf der Landenge aufhalten durften.

Emerahl!

Sie ließ die eben noch belauschten Geister in ihrem Bewusstsein verblassen.

Mirar. Wie sieht es in Glymma aus?

Unverändert. Wo bist du?

In Diamyane.

Wann wirst du aufbrechen?

Ich… ich weiß es nicht, gab sie zu. Ich denke langsam, dass wir alle hier sein sollten, nur für den Fall des Falles. Wenn sich keine Möglichkeit bietet, die Götter zu töten, haben wir nichts verloren, aber wenn sich eine solche Gelegenheit auftäte und wir nicht hier wären…

Dann werden wir uns verfluchen, beendete er ihren Satz.

Ja. Sie erzählte ihm von ihrer Idee, die Unsterblichen um die Götter herum und im Tunnel zu postieren.

Es würde sich lohnen, diese Möglichkeit näher zu erkunden. Aber eins ist dir doch klar: Wenn wir angreifen, während die Weißen und die Pentadrianer aufeinandertreffen, werden jene von uns, die sich nicht unter der Erde befinden, zu sehen sein.

Ja. Wenn du dich bereiterklärst, die Pentadrianer zu schützen, dann wirst du ohnehin dort sein. Was uns Übrige betrifft, wir werden hoffen müssen, dass die Aufmerksamkeit der Götter der Begegnung ihrer Stellvertreter gilt. Ich könnte mich verkleiden als... tatsächlich, das ist eine Idee. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich als Traumweberin ausgäbe?

Sie spürte seine Erheiterung.

Warum fragst du mich? Beim letzten Mal hast du es auch nicht getan.

Damals konnte ich dich nicht fragen, weil ich nicht wusste, dass du in der Nähe warst, entgegnete sie.

Das ist wahr. Du bist herzlich willkommen, dich meinen Leuten anzuschließen. Wenn ich einen Vorwand finden kann, warum Traumweber den Weißen auf die Landenge hinaus folgen sollten, könntest du dich ihnen vielleicht anschließen.

Dann werden Surim und Tamun sich von den Seiten nähern müssen. In Booten.

Ja. Ich brauche nur noch Auraya zu befreien.

Sie fing einen Anflug von Verzweiflung von ihm auf.

Noch keine Ideen?

Ich habe die Gedanken mehrerer Götterdiener abgeschöpft, aber dabei habe ich lediglich erfahren, dass es unmöglich wäre, sich in ihren Kerker hineinzuschleichen und sie zu befreien. Mein bisheriger Plan ist einfach: Ich werde darauf bestehen, Auraya persönlich von der Niederlage der Weißen berichten zu dürfen. Das wird sie bis nach der Schlacht am Leben erhalten. Während die Pentadrianer ihren Sieg feiern, werde ich mich nach Glymma zurückstehlen und sie befreien.

Ein kühner Plan. Sie wird dich dafür hassen, dass du geholfen hast, die Weißen zu töten.

Und sie wird auch sich selbst die Schuld daran geben. Aber wie dem auch sei, vor die Wahl gestellt, ob sie überlebt oder die Weißen, würde ich mich jederzeit für Auraya entscheiden. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie den zirklischen Göttern bereits die Schuld an ihrer Zwangslage gibt. Anscheinend hasst sie Huan, die, wie sie sagt, dafür gesorgt hat, dass die Siyee gefangen genommen wurden. Außerdem weiß ich von Auraya, dass Huan erpicht darauf ist, sie zu töten. Chaia hat zugegeben, dass er sie nur befreien könne, wenn die anderen Götter damit einverstanden wären.

Dann würde sie also Huan töten, aber nicht die anderen. Ich wüsste nicht, wie wir das zuwege bringen sollten.

Nein. Und wenn unser Plan funktionieren soll, müssen wir sie immer noch vor der Schlacht befreien.

Ja. Hmm. Mir ist gerade etwas eingefallen. Wir brauchen Auraya nicht nur als unsere sechste Unsterbliche, sondern auch noch für etwas anderes. Sie ist die Einzige von uns, die spüren kann, ob die Götter tatsächlich genau dort sind, wo wir sie haben wollen.

Du nimmst diese Angelegenheit wirklich ernst, nicht wahr?

Ich versuche lediglich herauszufinden, wie es sich machen ließe, sollte sich die Gelegenheit tatsächlich bieten.

Dann solltest du die Theorie zuerst erproben. Ich möchte sicher sein, dass ich genug Magie in mich hineinziehen kann, um einen Leeren Raum zu schaffen, bevor ich mich in die Nähe sowohl der Weißen als auch der Stimmen wage und versuche, ihre Götter zu töten.

Ja, es wäre vernünftig, sich davon zu überzeugen, dass es funktioniert. Einer von uns sollte einen Versuch unternehmen, einen Leeren Raum zu schaffen. Einer der Zwillinge vielleicht, da du oder ich unliebsame Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden, wenn wir so viel Magie verbrauchten.

Ja. Also, dann plaudere ein wenig mit den beiden. Ich werde mit Arleej reden. Und feststellen, ob ich eine Möglichkeit finden kann, Auraya vor der Schlacht zu befreien.

Ein Stich der Sorge durchzuckte sie.

Sei vorsichtig.

Ich bin immer vorsichtig. Nach all dieser Zeit habe ich das Leben doch recht liebgewonnen.

Nachdem seine Präsenz verblasst war, richtete Emerahl ihre Gedanken auf die Zwillinge.

Surim. Tamun.

Sie antworteten prompt wie immer.

Wir grüßen dich, Emerahl.

Ich habe einige Ideen und Vorschläge für euch.

Welche?

Wie lange würdet ihr beide und die Möwe brauchen, um nach Diamyane zu kommen?

Hör mal, Emerahl, sagte Tamun streng. Du warst mit uns einer Meinung. Du hast nicht geglaubt, dass Auraya sich jemals gegen die Götter wenden würde.

Das ist wahr. Aber wenn eine Chance bestünde, dass sie sich anders verhalten würde, denke ich, dass ihr hier sein solltet. Also, ich habe nachgedacht…


Seit sie mit kaltem Wasser abgespült worden war, hatte Auraya nicht mehr aufhören können zu zittern. Sie sehnte sich nach einer Decke oder nach einem winzigen Funken Magie, um die Luft um sich herum zu wärmen. Unfug hatte sich um ihren Hals zusammengerollt. Sein Atem roch schlecht, und sie mochte sich lieber nicht vorstellen, was er gefangen und gefressen hatte. Sie war dankbar für das Wenige an Wärme, das er ihr schenkte, aber er war zu klein, um viel bewirken zu können. Ihre Brust schmerzte, und die Schultern taten weh …

Denk an etwas anderes, sagte sie sich.

Es war schwer zu denken. Sie war müde, und ihr Geist schien von Tag zu Tag langsamer zu arbeiten. Aber sie hatte reichlich Zeit. Ab und an beschäftigte sie sich damit, über die »Geheimnisse« nachzugrübeln, die Mirar ihr offenbart hatte. Diese Geheimnisse stammten anscheinend von einer Göttin, die sich getötet hatte. Wie beging ein Gott Selbstmord? Sie runzelte die Stirn, denn sie war davon überzeugt, dass die Antwort wichtig sein müsse. Sie könnte ein Hinweis darauf sein, wie die Götter einander getötet hatten.

»Leere Räume wurden geschaffen, wenn ein Gott getötet wurde.«

Dies war ein weiterer Hinweis. Ein Leerer Raum war ein Ort, an dem es keine Magie gab. Die Götter waren Wesen aus Magie, weshalb sie sich nicht in einen Leeren Raum wagen konnten. Was würde geschehen, wenn sie es versuchten? Würden sie sterben? Und wenn ja, dann war dies vielleicht die Art, wie diese Göttin sich getötet hatte.

Konnten andere Götter einen Gott zwingen, einen Leeren Raum zu betreten? Vielleicht. Aber Mirar hatte gesagt, Leere Räume würden geschaffen, wenn ein Gott getötet wurde. Das bedeutete, dass Leere Räume mit Vorsatz geschaffen wurden. Vielleicht um zu töten.

Also, wie schuf man einen Leeren Raum? Wie schuf ein Gott einen Mangel an Magie? Nun, das ist offenkundig. Man braucht nur alle Magie an einem bestimmten Ort in sich hineinzuziehen.

Sie blinzelte. War es wirklich so einfach? Sog ein Gott alle Magie von dem Ort ab, an dem ein anderer sich befand, um ihn oder sie zu töten? Was hinderte den anderen Gott daran, das Gleiche zu tun? Warum würden sie einander nicht einfach ausweichen?

Sie schüttelte sich. Bei all diesen Fragen drehte sich ihr der Kopf. Sie ließ ihre Gedanken für eine Weile schweifen, zu müde, um sich die Mühe zu machen, Geister abzuschöpfen. Ihre Sinne waren stumpf geworden, und sie hatte nicht die Energie, sich zu konzentrieren. Einige Zeit später hörte sie Schritte, war aber zu erschöpft, um die Augen zu öffnen und festzustellen, wer sich ihr näherte. Erst als Unfug von ihrem Hals herunterglitt und kalte Luft über ihre Haut strich, raffte sie sich auf.

»Auraya.«

Am Rand des Podests stand eine leuchtende Gestalt. Sheyr.

»Chaia?«, krächzte sie überrascht.

»Ja. Ich bin gekommen, um dir einen Fluchtweg anzubieten, Auraya.«

»Die anderen Götter haben endlich zugestimmt, ja?« Das Sprechen löste das Bedürfnis aus zu husten. Sie widerstand dem Drang. »Wie hast du Huan überzeugt?«

Er lächelte. »Gar nicht. Sie wissen nicht, was ich dir anbieten will, und sie würden es auch nicht gutheißen.«

Sie straffte sich, und Hoffnung keimte in ihr auf. Würde er den anderen um ihretwillen trotzen? Dann schüttelte sie ein Hustenkrampf. Als er sich gelegt hatte, war ihr schwindlig, und ihre Lunge brannte.

»Also, was ist das für ein Angebot?«, flüsterte sie.

»Ich kann dich nicht befreien«, erklärte er. »Das werden die anderen nicht zulassen. Aber sie haben nichts darüber gesagt, dass ich dich nicht unterrichten dürfe. Ich könnte dir etwas beibringen, das es dir ermöglichen würde, dich selbst zu befreien.«

Sie starrte ihn an. Er lächelte.

»Sprich weiter. Ich höre zu.«

»Mir ist seit einiger Zeit klar, dass deine Gaben die anderer Zauberer bei weitem übertreffen. Du bist unsterblich, aber du besitzt größere Macht als Unsterbliche. Du kannst Gedanken lesen. Du kannst die Gegenwart von Göttern spüren. Du kannst uns hören, wenn wir miteinander sprechen. Es würde nur einer geringen Anleitung durch mich bedürfen, damit du dich uns anschließen kannst.«

»Mich euch… anschließen?«

»Ja. Um selbst ein Gott zu werden.«

Er muss sich über mich lustig machen, dachte sie. Aber warum sollte er das tun? Es wäre ein jämmerlicher Scherz. Vielleicht ist er doch Sheyr. Er ist hier, um mich zu quälen.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie Mirars Stimme. »Alle Götter kamen als Sterbliche zur Welt, wurden Unsterbliche wie wir und verwandelten sich dann in Götter.«

Prickelnde Erregung durchströmte ihre Adern, schmerzhaft in ihrer Intensität. Ich könnte eine Göttin sein!

Aber Mirars Stimme in ihrer Erinnerung fuhr zu sprechen fort. »Die Götter empfinden weiter menschliche Gefühle, aber sie können die körperliche Welt weder wahrnehmen noch darauf einwirken, außer sie bedienen sich der Hilfe Sterblicher.«

Nun, die Sache musste einen Preis haben, dachte sie. Und es ist bestimmt besser, als tot zu sein.

»Die Götter nehmen die Seelen der Menschen nach ihrem Tod nicht auf.«

Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Bei der plötzlichen Bewegung wurde ihr schwindlig. Sie holte tief Luft, um das Gleichgewicht wiederzufinden, was ihr nur einen neuerlichen Hustenanfall eintrug. Als sie ihren Atem wiedergefunden hatte, blickte sie zu Chaia auf.

»Warum?«

Er lächelte.

»Ich möchte dich nicht verlieren, Auraya. Du bist krank. Dein Körper wird sterben, wenn du keine Chance bekommst, ihn zu heilen. Wenn du ein Gott wärst, würdest du nie wieder krank werden. Wir könnten immer zusammen sein.«

»Aber wenn ich sterbe, wären wir ohnehin zusammen. Du wirst meine Seele haben.«

Sein Lächeln verschwand. »Das wäre nicht dasselbe, Auraya. Die Toten können die Lebenden nicht berühren. Ich möchte, dass du an meiner Seite die Welt beherrschst.«

»Und an Huans Seite?«

»Nicht, wenn du es nicht wünschst.«

»Wenn wir Feinde wären, wäre das für die Sterblichen wohl kaum von Nutzen.«

»Du würdest auf die Ausschöpfung deiner vollen Fähigkeiten verzichten, nur aus Angst vor Huan?«

Sie wandte den Blick ab. »Nein.«

Er streckte die Hand aus. »Willst du dich mir anschließen, Auraya?«

Sie sackte in ihren Ketten zusammen. Ich weiß nicht, ob ich ein Gott werden will. Von der dinglichen Welt getrennt zu sein. Sie und andere Menschen nur durch deren Geist zu kennen… und die anderen Unsterblichen würden für mich unsichtbar sein. Würde Mirar mich als seine Feindin betrachten? Immer mehr Konsequenzen gingen ihr auf, zu viele, als dass sie in ihrem erschöpften Zustand darüber hätte nachdenken können.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich bin zu müde, um mich damit zu beschäftigen. Ich brauche Zeit.«

Chaia nickte. »Also gut. Ich werde dir erklären, was du tun musst. Du bist krank, und ich fürchte, wenn ich das nächste Mal zurückkehre, wird es zu spät sein.«

Auraya nickte. Sie schloss die Augen und konzentrierte all ihre Kraft darauf, Chaia zuzuhören, als dieser beschrieb, was sie tun musste, um ein Gott zu werden.

44

Mirar hatte den Weg zum unterirdischen Verlies aus den Erinnerungen und Gedanken der Götterdiener und Domestiken entnommen, die Auraya bewachten oder versorgten. Es gab drei Tore, die den Weg versperrten, ein jedes bewacht von zwei magisch starken Götterdienern.

Als er sich dem ersten Tor näherte, beobachteten ihn die beiden dort postierten Götterdiener mit wachsamen Blicken. Mirar lächelte ihnen zu.

»Dies ist also der Ort, an dem die berühmte Auraya festgehalten wird?«, fragte er beiläufig.

Die beiden Männer sahen einander an, dann wandte sich einer von ihnen Mirar zu und nickte.

»Darf ich hineingehen?«, fragte Mirar.

»Nur in Gesellschaft einer Stimme«, sagte der andere.

Mirar schaute durch das Tor und zuckte die Achseln. »Dann vielleicht ein andermal.« Er drehte sich um und kehrte den Flur hinauf zurück.

Nichts anderes hatte er erwartet. Die Stimmen mussten einen Grund haben, sie am Leben zu erhalten, daher würden sie nicht wollten, dass er sie tötete. Noch nicht.

Die Stimmen würden von seinem Besuch an den Toren erfahren. Auch das war beabsichtigt. Sie sollten wissen, dass er über Auraya nachdachte und dass sie in jedwedem Handel, den er mit ihnen schloss, vielleicht eine Rolle spielen würde.

Er bog um eine Ecke, blieb stehen und blinzelte überrascht. Nekaun kam auf ihn zugeschlendert.

Im Sanktuarium reisen Neuigkeiten eindeutig sehr schnell. Er muss verborgene Späher haben, die alle Flure zu dem unterirdischen Bereich beobachten.

»Erste Stimme Nekaun«, sagte Mirar. »Was für ein Zufall. Ich habe mich gerade gefragt, wen ich bitten sollte, mich zu Auraya zu bringen.«

Nekaun zog die Augenbrauen hoch. »Du möchtest mit ihr sprechen?«

Mirar verzog das Gesicht. »Nein. Ich möchte sie lediglich sehen. Unsere Gespräche waren unterhaltsam, als sie frei war, aber ich fürchte, dass es keinen Spaß machen würde, mit ihr im Geiste die Klingen zu kreuzen.«

Nekaun ging an ihm vorbei und drehte sich um. »Dann komm mit. Lass uns stattdessen ihren Anblick genießen.«

Die beiden Wachen wirkten nicht überrascht, als Nekaun und Mirar erschienen. Stattdessen hielten sie das Tor weit geöffnet. Die Mauern dahinter waren aus nacktem Stein. Alles war mit Staub bedeckt.

»Ich habe das Gefühl, dass dieser Teil des Sanktuariums lange nicht mehr benutzt worden ist.«

Nekaun lächelte. »Das ist wahr. Nicht dieser alte Schrein.«

»Ein Schrein?«

»Dieser Hügel war für tausende von Jahren ein geheiligter Ort. Das Sanktuarium wurde über den Ruinen eines alten Orts der Huldigung gebaut: des Schreins von Iedda.«

»Iedda? Einer der toten Götter?«, fragte Mirar überrascht. »Ich hätte gedacht, deine Götter hätten eher einen neueren Ort gewählt. Etwas, das nicht mit alten Göttern in Verbindung steht.«

»Warum? Die Untaten der alten Götter sind mit ihnen gestorben.«

Mirar blickte zur Decke empor und nickte. »Indem sie das Sanktuarium über dem Schrein errichtet haben, haben sie vermutlich die alten Sitten durch neue ersetzt. Wenn der Schrein noch existierte, und sei es auch nur als eine Ruine, würden die Erinnerungen länger erhalten bleiben.«

»Er existiert noch«, versicherte ihm Nekaun. »Komm mit.«

Sie gingen durch ein weiteres Tor. Der Flur führte weiter hinab und machte dann eine abrupte Biegung. Zwei Götterdiener standen vor dem dritten Tor. Dahinter befand sich eine große Halle. Das Erste, was Mirars Aufmerksamkeit erregte, war ein riesiger Thron.

Dann sah er die Gestalt, die an den Thron gekettet war. Nackt, schmutzverkrustet und magerer, als er sie in Erinnerung hatte, lehnte Auraya kraftlos am Sockel. Er konnte erkennen, dass ihre Stirn von Schweiß glänzte, und er konnte das schwache Geräusch gequälten Atmens hören.

Sie schien nicht wach zu sein.

»Was hält sie dort fest?«, zwang er sich zu fragen.

»Sie ist in einem Leeren Raum. Weißt du, was das ist?«

Mirar nickte. »Ich bin schon früher auf Leere Räume gestoßen.« Er konnte den Blick nicht von Auraya losreißen, obwohl er wusste, dass Nekaun ihn genau beobachtete.

»Du hast Mitleid mit ihr«, sagte der pentadrianische Anführer.

Mirar seufzte und nickte. »Ich bemitleide jeden, den die Götter - der Zirkel - benutzen und manipulieren. Ich kann mich der Frage nicht erwehren, was aus ihr hätte werden können, wäre sie nicht von ihren Priestern dazu erzogen worden zu hassen. Es ist eine meiner bedauerlichen Eigenschaften, meinen Feind zu bemitleiden.«

»Glaubst du, du könntest den Schaden wiedergutmachen?«

»Nein.« Mirar schüttelte den Kopf. »Sie würde mir niemals eine Chance geben. Bei der ersten Gelegenheit würde sie mich töten.«

Nekaun schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Diese Gelegenheit wird sie nicht bekommen. Aber wenn die Weißen den Sieg davontragen, wird es natürlich nicht Auraya sein, die du zu fürchten hättest.«

Mirar wandte sich zu Nekaun um. »Ich kann nicht für euch kämpfen«, erklärte er der Ersten Stimme unumwunden. »Ebenso wenig wie meine Anhänger das vermögen. Damit würden wir ein tausend Jahre altes Gesetz brechen.« Er senkte den Blick. »Aber ich kann meine Macht zur Verteidigung einsetzen. Ich kann dich, die anderen Stimmen und eure Armee schützen. Als Gegenleistung erbitte ich nur eine kleine Gefälligkeit.«

Nekauns Augen wurden schmal. »Und die wäre?«

Mirar wandte sich zu Auraya um. »Ich möchte derjenige sein, der Auraya mitteilt, dass die Weißen besiegt wurden.«

Nekauns Mundwinkel zuckten. »Ah.«

Als er nichts weiter sagte, wandte Mirar sich zu ihm um.

»Wirst du mein Angebot und die daran geknüpften Bedingungen annehmen?« Mirar hielt inne und runzelte die Stirn. »Ich vermute, du musst dich mit den anderen besprechen.«

Die Erste Stimme blickte zu Auraya hinüber, dann schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht nötig. Wir haben alle Alternativen und Möglichkeiten erörtert. Deine Bedingung ist akzeptabel.«

Er streckte die geöffnete Hand aus und spreizte die Finger ab. Mirar zögerte kurz, dann tat er das Gleiche. Nekaun ergriff seine Hand.

»Dann haben wir also einen Handel.«

Mirar nickte. »Einen Handel.«

Nekaun ließ Mirars Hand wieder los, drehte sich um und kehrte durch den Flur zurück. Mirar sah Auraya ein letztes Mal an, dann folgte er ihm.

»Ich sollte hinzufügen, dass deine Gefangene meiner sachkundigen Meinung nach an einem Fieber leidet«, sagte er leise. »Und das Geräusch, das sie beim Atmen macht, gefällt mir auch nicht allzu sehr. Mir wäre es lieber, wenn sie, wenn die Zeit kommt, am Leben wäre und gesund genug, um die Neuigkeit zu verstehen, dass ihre Welt ein Ende gefunden hat.«

Nekaun sah ihn an und nickte. »Es wäre eine Schande, wenn ihr das Ende der Geschichte entgehen würde. Ich werde einige meiner Heiler zu ihr schicken.«

Mirar nickte. »Wenn du den Rat eines Traumwebers brauchst, bin ich sicher, dass einer von ihnen bereit wäre zu helfen.«

»Danke. Ich werde es im Kopf behalten, für den Fall, dass Aurayas Heilung die Fähigkeiten meiner Götterdiener übersteigen sollte.«


Etwas an Chaias Angebot machte keinen Sinn, aber Auraya hatte nicht genug Kraft, um wirklich darüber nachzudenken.

So viel zu dem Thema, dass man sich Zeit lassen soll, um sich zu besinnen. Warum mache ich mir überhaupt die Mühe? Die Vorstellung, keinen Körper zu haben und die Welt nur durch Sterbliche wahrnehmen zu können, mag mir nicht gefallen, aber das muss immer noch besser sein, als tot zu sein.

Vor allem wenn Mirar recht hatte und die Götter gelogen hatten mit der Behauptung, die Seelen von Menschen nach ihrem Tod anzunehmen. Chaia hatte etwas darüber gesagt, dass die Seelen der Toten keine Verbindung mit der Welt der Lebenden hatten. Ein Gott hatte sie, war das also nicht die bessere Wahl?

Sie grübelte für eine Weile darüber nach, aber ihre Gedanken schweiften ab. Dann riss sie ein Kälteschock jäh aus ihrer Benommenheit. Wasser. Sie begann wieder zu zittern. Ein Domestik kam heran und hob eine Schale mit Brei an ihre Lippen. Sie nahm einen Schluck, dann begann sie zu husten und konnte nicht aufhören…

Etwas schlug ihr ins Gesicht. Sie begriff, dass sie ohnmächtig geworden war, und mühte sich nach Kräften aufzuwachen. Ich muss essen. Muss die Augen öffnen…

Das Gesicht vor ihr war unvertraut. Ein Mann. Er runzelte die Stirn. Es waren auch noch andere zugegen. Warum sind sie hier? Dann sah sie Nekaun am Rand des Podests stehen, und plötzlich war sie wachsamer als während der ganzen letzten Tage.

Aus den Gedanken der Götterdiener um sie herum las sie, dass man ihnen befohlen hatte, sie zu heilen. Sie las auch, wie sie ihren Zustand einschätzten: Ihre Lunge war verschleimt von einer Entzündung, ihr Körper litt an Wassermangel und war geschwächt durch ein Zuwenig an guter Nahrung. Außerdem las sie ihren Abscheu darüber, sie behandeln zu müssen. Sie hätten sie lieber sterben lassen.

Die Heilmittel, mit denen sie ihr Brust und Arme einrieben, rochen schmerzlich vertraut. Zumindest benutzten sie die richtigen Mittel. Sie förderten ein großes Hemd zutage. Einer der Götterdiener trat an Nekaun heran, der einen kleinen Gegenstand in die Hand des Mannes legte. Der Götterdiener kehrte zurück und trat vor Aurayas linken Arm. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie spürte, wie die Kette gelockert wurde - Nekaun hatte dem Mann den Schlüssel zu den Schlössern gegeben. Sie starrte ihn an und konnte nichts anderes mehr sehen. Dieser eine kleine Gegenstand raubte ihr die Freiheit. Ein so simples Ding. Jeder konnte es benutzen. Dazu bedurfte es keiner Magie …

Dann fiel ihr Arm herunter, und Schmerz zuckte durch ihre Schulter, und sie vergaß alles andere.

Die Götterdiener massierten ihren Arm und ihre Schulter, bis der Schmerz nachließ, dann streiften sie ihr das Hemd über den Kopf und schoben ihren Arm durch den Ärmel. Ihr Arm wurde ausgestreckt, um ihn wieder anzuketten, dann befreiten sie ihren rechten Arm und manövrierten sie in diese Seite des Hemdes. Der Stoff war rau und wärmte zwar nicht ihre Hände und Füße, aber sie konnte sich immerhin Erleichterung verschaffen, ohne ihre »Kleider« zu besudeln.

Der Götterdiener gab den Schlüssel Nekaun zurück, dann half er den anderen, ihr mehr Wasser einzuflößen und sie mit Brot zu füttern. Als sie fertig waren, lehnte Auraya sich an den Thron, erschöpft, aber zum ersten Mal seit Wochen frei von Hunger und Durst. Mit halb geschlossenen Augen sah sie zu, wie Nekaun und die Götterdiener fortgingen.

Lasst mich aus dem Leeren Raum, dachte sie in ihre Richtung. Alles, was ich brauche, um wieder gesund zu werden, ist Magie. Sie schloss die Augen. Oder ich muss ein Gott werden.

Dann runzelte sie die Stirn. Wie kann ich ein Gott werden, wenn ich in einem Leeren Raum bin? Götter sind Wesen aus Magie. Sie können in einem Leeren Raum nicht existieren. Sobald ich ein Gott bin, werde ich aufhören zu existieren.

Sie schüttelte den Kopf. Chaia musste die Absicht haben, sie zuvor freizulassen. Aber das war es nicht, was er gesagt hatte. Er hatte gesagt, sie könne es selbst tun, während er fort sei.

Plötzlich überlief sie ein kalter Schauder, kälter als das Wasser, das man ihr zuvor über den Körper gegossen hatte.

Es sei denn, dies wäre ein Trick.

Hatte Chaia versucht, sie loszuwerden?

Aber er liebt mich.

Es gab keine Möglichkeit für sie, ein Gott zu werden und zu überleben.

Ein leises Zirpen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Thron. Unfug starrte zum Eingang hinüber.

»Böser Mann«, sagte er leise.

»Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Jetzt weg.«

Langsam gingen ihr verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf. Wenn sie tatsächlich die Fähigkeit besaß, ein Gott zu werden, könnte er versuchen, es zu verhindern, indem er sie ermutigte, die Verwandlung an dem einen Ort vorzunehmen, an dem ein solches Tun sie töten würde, statt das Risiko einzugehen, dass es an einem anderen Ort geschehen würde.

Wenn er ihren Tod wünschte, dann war etwas geschehen, das ihn veranlasst hatte, seine Meinung über sie zu ändern. Huan behauptete, sie sei gefährlich. War etwas passiert, das Chaia überzeugt hatte?

Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Mirar gesagt hatte. Er hatte ihr erzählt, dass die anderen Wilden wichtige Geheimnisse herausgefunden hätten. Geheimnisse, die er ihr nicht anvertrauen wollte. Sie dachte an seine Frage: »Gibt es einen Gott, den du gern töten würdest?« Sie hatte vermutet, dass dies lediglich eine schnippische Bemerkung gewesen sei, aber was, wenn es ihm ernst gewesen war? Was, wenn die Wilden tatsächlich einen Gott töten konnten?

Dann ist er die Gefahr, nicht ich. Chaia sollte wissen, dass ich niemals… Aber andererseits, ich würde es tun, wenn es auf die Frage hinausliefe, ob ich sterbe oder Huan…

Sie verzog das Gesicht. Offensichtlich empfand er nicht genauso. Oder er konnte nicht darauf vertrauen, dass sie nicht auch die restlichen Götter töten würde. Er konnte nicht länger in ihren Geist sehen, und sie war, wie er gesagt hatte, mächtiger und stärker geworden als ein Unsterblicher.

Er vertraute ihr nicht. Er hatte versucht, sie zu töten. Lange Zeit starrte sie ins Leere und verspürte nur ein schreckliches Gefühl des Verlusts, das Gefühl, verraten worden zu sein. Sie war zu müde für Zorn, zu müde, um nach Entschuldigungen für ihn zu suchen. Ihr blieb nur noch genug Energie, um sich in ihr Schicksal zu fügen. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus, und mit diesem einen Atemzug ließ sie den letzten Rest ihrer Ergebenheit gegenüber den Göttern entweichen.

45

Danjin.

Die Stimme klang träumerisch und traurig. Danjin wurde sich langsam bewusst, dass er nicht länger schlief, doch auch noch nicht hellwach war.

Daaaanjinnnnn.

Er kannte die Stimme. Als er sie zuordnen konnte, verspürte er eine gelinde Überraschung.

Auraya?

Ja, ich bin es. Wie geht es dir?

Ich schlafe.

Nicht ganz. Wir sind wieder in einer Traumvernetzung.

Ach ja? Er erschrak, und seine Gedanken schärften sich. Wo bist du?

Immer noch eingesperrt. Ich fühle mich besser. Ich war krank. Um ein Haar wäre ich gestorben, glaube ich. Offensichtlich ist das kein Teil von Nekauns Plänen. Er hat mir Kleidung und besseres Essen bringen lassen.

Kleidung? Ein Stich des Entsetzens und der Sorge durchzuckte Danjin, als ihm klar wurde, was das bedeutete.

Ich wette, du hast nicht erwartet, dass du schon so bald wieder in einen weiteren Krieg ziehen würdest, sagte sie.

Ein warnendes Kribbeln überlief ihn. Woher wusste sie von dem Krieg? Hatten die Stimmen es ihr erzählt? Natürlich hatten sie das getan.

Nein, sagte er wachsam.

Ich habe die Armee beobachtet, erklärte sie. Ich habe beobachtet, wie ihr alle durch die Wüste marschiert seid, und ich habe beobachtet, wie die Pentadrianer sich auf die Begegnung mit euch vorbereitet haben. Ich wünschte, ich hätte dir etwas zu erzählen.

Mir zu erzählen…?

Ein Geheimnis, das die Pentadrianer betrifft. Etwas Wichtiges, das euch helfen würde, die Schlacht zu gewinnen. Aber die Spione und Ratgeber der Weißen wissen bereits alles.

Wie hast du…?

Ich habe Gedanken abgeschöpft, Danjin. Es gibt nicht viel anderes, was ich tun könnte - außer mit Unfug reden, und du weißt ja, was für ein wunderbarer Gesprächspartner er ist. Ich wünschte, ich könnte häufiger mit dir reden. Wir alle wissen, dass die Stimmen mich töten werden, bevor sie in die Schlacht gegen die Weißen ziehen. Es wäre schön, während meiner letzten Tage jemanden zum Reden zu haben, der nicht ständig gekrault werden will oder mich mit Bröckchen von allem überschüttet, was er fangen und fressen konnte.

Danjin fühlte sich, als würde er ersticken. Wie konnte sie so beiläufig von ihrem Tod sprechen? Vielleicht lag das daran, dass sie das alles nur erfand?

Nein, dachte er. Da ist noch irgendetwas anderes. Sie tut so, als nähme sie das alles auf die leichte Schulter, aber in Wirklichkeit ist sie verzweifelt. Trauer und Mitleid überwältigten ihn. Sie ist allein. Sie weiß, dass sie dazu verdammt ist zu sterben. Wie kann die erstaunlichste Frau, die ich kenne, so enden? Wahrscheinlich besteht die einzige Alternative darin, in irgendeiner aufsehenerregenden magischen Schlacht zu sterben.

Danjin?

Ich bin hier.

Für den Fall, dass du dies für einen Traum hältst, will ich dir Folgendes erzählen. In Kürze wird ein Bote des sennonischen Kaisers in eurem Lager eintreffen.

Dann verschwand sie aus seinem Bewusstsein. Danjin öffnete die Augen, richtete sich auf und sah sich um. Er griff nach seiner Decke, um sich gegen die kalte Nachtluft der Wüste zu schützen, und verließ sein Zelt.

Die Vorstellung, dass Auraya sie beobachtete, war gleichzeitig beunruhigend und tröstend. Er musste wissen, ob ihre Worte der Wahrheit entsprachen, und zu diesem Zweck ging er am besten in das Zelt der Weißen hinüber und stellte fest, ob tatsächlich ein Bote des Kaisers eingetroffen war.

Im Licht des Mondes wirkten die Zelte des zirklischen Lagers wie eine gewaltige, mystische Geisterarmee. Sie breiteten sich in alle Richtungen aus, beleuchtet von Lampen im Innern oder Feuern von außen. Die Armee war nicht größer als diejenige, die einige Jahre zuvor die Pentadrianer besiegt hatte - tatsächlich war sie sogar kleiner -, aber von dort, wo er stand, schien sie unendlich zu sein.

Der Teil der Wüste, in dem die Armee sich für die Nacht niedergelassen hatte, war relativ flach. Da es hier keine Flüsse oder Hügel gab, auf die sie Rücksicht nehmen mussten, hatten sie die Zelte, die Vorratskarren und die Plattans in einem kreisförmigen Muster aufgestellt: ein Rad, in dem die Weißen und die Anführer ihrer Verbündeten sich in der Nabe versammelten, während die Lücken zwischen den Armeen eines jeden Landes die Speichen bildeten. Danjin wusste nicht, ob diese Anordnung irgendwelche taktischen Vorzüge bot. Vielleicht sollte diese machtvolle Benutzung des Symbols der Götter den Menschen lediglich eine gewisse Sicherheit geben.

Als er das Zelt des Kriegsrats erreichte, wies er den Wachposten an, in seinem Namen um die Erlaubnis zu bitten einzutreten.

Brauchen wir zusätzliche Unterstützung?, fragte sich Danjin. Beim letzten Mal haben wir gesiegt. Aber allein die Tatsache, dass man die Götter auf seiner Seite hat, ist keine Garantie für einen Sieg. Dafür sind die Pentadrianer der beste Beweis. Außerdem kennen die Pentadrianer uns jetzt besser. Sie werden nicht dieselben Fehler machen.

»Hier kommt mein stets zweifelnder Danjin«, erklang eine vertraute Stimme aus dem Innern des Zelts.

Die Türlasche wurde aufgezogen, und Ella winkte ihn herein. Juran und Dyara standen neben einem Tisch, auf dem eine Karte lag, die Danjin aus dem letzten Krieg kannte. Mairae und Rian waren abwesend.

Der Anführer der Zirkler sah Danjin an und nickte. Danjin machte das Zeichen des Kreises.

»Also, Danjin. Warum kannst du nicht aufhören, dir Sorgen zu machen?«, fragte Ella.

»Irgendjemand muss es tun«, antwortete er. »Betrachte es als meine persönliche Aufgabe, mir in deinem Namen Sorgen zu machen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und blickte zu Juran hinüber, um dessen Lippen ein schwaches Lächeln spielte.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, erkundigte sich Danjin.

Ella lachte. »Nein. Juran hat gerade eben etwas ganz Ähnliches bemerkt. Er meinte, du seist mein Gewissen und mein gesunder Menschenverstand.«

»Bin ich das?« Danjin sah Juran an. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob das bedeutete, dass Juran glaubte, Ella habe einen Mangel an Gewissen und gesundem Menschenverstand.

Juran lachte leise. »Du vertraust nicht blind darauf, dass die Dinge sich so fügen werden, wie die Götter es wollen«, erklärte er. »Ella kann nichts anderes akzeptieren als Sieg.«

»Warum sollten sie uns nach Südithania schicken, wenn sie nicht dafür sorgen können, dass wir siegen?«, fragte sie.

»Es besteht immer das Risiko eines Scheiterns«, antwortete Juran. »Und sei es auch noch so gering.«

»Warum bringen wir eine Armee mit, wenn die Macht der Götter, kanalisiert durch die Weißen, alles wäre, was notwendig ist?«, fragte Danjin.

Ella schüttelte den Kopf. »Wir wissen alle, dass die Armee nur benötigt wird, um das Land zu beherrschen, das man erobert. Der eigentliche Kampf wird mit Magie ausgetragen. Magie ist die Domäne der Götter, daher ist uns der Sieg gewiss.«

»Es sei denn, die pentadrianischen Götter sind stärker«, bemerkte Juran.

»Wenn das so wäre, hätte der Zirkel uns nicht in den Krieg geschickt.«

Juran lächelte und hob die Hand. »Genug davon. Danjin ist hergekommen, um über andere Dinge zu sprechen.« Danjins Herz setzte einen Schlag aus, als der zirklische Anführer ihn ernsthaft musterte. »Ich sehe, du hast wieder mit Auraya gesprochen.«

Danjin nickte, dann berichtete er alles, woran er sich erinnern konnte. Als er fertig war, tauschten die Weißen schweigend einen Blick und setzten sich auf die ihnen eigene Art miteinander in Verbindung.

»Sie lebt; sie war krank, aber es geht ihr besser«, fasste Dyara Danjins Ausführungen zusammen. »Kann sie uns wirklich sehen?«

Juran zuckte die Achseln. »Wir können nur abwarten, ob dieser Bote auftaucht.« Er wandte sich an Danjin. »Ella hat mir erzählt, dass du unter deinen Sachen den Netzring gefunden hast, den Auraya für dich gemacht hat. Weißt du, warum er dort war?«

Danjin stieg die Röte ins Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher… aber ich habe den Verdacht, dass meine Frau ihn dort hingelegt haben könnte.«

»Warum sollte sie ihn verstecken?«

»Oh, sie hat ihn sicher nicht mit Absicht versteckt«, erwiderte Danjin hastig. »Wenn sie für mich packt, legt sie häufig irgendwelche Dinge an eigenartige Orte, damit mehr in mein Gepäck hineinpasst. Wahrscheinlich wollte sie, dass ich den Ring fand, wenn ich das Spiel öffnete, und hat nicht bemerkt, dass er in der Schublade festklemmen würde.«

Juran nickte. »Aber warum hat sie ihn überhaupt eingepackt?«

»Das war wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme. Ich habe im Laufe der Jahre viele merkwürdige Dinge in meinem Gepäck gefunden, und wenn ich sie danach frage, antwortet sie im Allgemeinen, sie habe den betreffenden Gegenstand ›für alle Fälle‹ eingepackt.«

»Aber für welchen Fall?«, fragte Juran versonnen. Seine Worte klangen so, als habe er laut nachgedacht und keine Antwort erwartet. Danjin zuckte die Achseln. Der zirklische Anführer nahm etwas aus seiner Robe. Es war ein weißer Ring. Danjin vermutete, dass es sich um den fraglichen Netzring handelte.

Juran hielt ihn ihm hin. »Streif ihn über.«

»Aber…« Ella sah Juran an, der ihren Blick mit undeutbarer Miene erwiderte. Sie biss sich auf die Lippen und sah zu, wie Danjin den Ring entgegennahm.

Die schwachen Spuren der Sorge auf ihrem Gesicht löschten jeden Eifer aus, den Danjin angesichts der Möglichkeit, sich mit Auraya in Verbindung zu setzen, empfunden hatte. Er erwog zu fragen, ob es gefährlich sei, den Ring zu benutzen. Und wenn es so war? Juran hatte es ihm befohlen, und er würde sich nicht weigern.

»Was soll ich sagen?«, fragte er.

Ella zuckte die Achseln. »Sag ihr, wir seien alle erleichtert, dass sie noch lebt.«

Er nickte. Dann holte er tief Luft, streifte den Ring über und schloss die Augen.

Auraya?

Es kam keine Antwort. Er rief noch mehrere Male, dann sah er die Stimmen an und zuckte die Achseln.

»Vielleicht funktioniert er nicht mehr.«

»Nimm den Ring ab, Danjin«, sagte Ella.

Juran streckte die Hand aus. Danjin zog den Ring ab und übergab ihn. Die drei Weißen runzelten die Stirn.

»Das bringt uns nicht weiter, nicht wahr?«, fragte er zaghaft.

Juran sah ihn nachdenklich an. »Der Ring mag uns zwar nicht in die Lage versetzen, mit Auraya zu sprechen, aber eine andere Eigenschaft hat er nicht eingebüßt. Während du ihn am Finger hattest, konnte ich deine Gedanken nicht lesen. Ella konnte es, da du ihren Netzring trägst, daher musste ich dich durch ihren Geist beobachten.«

»Dann ist es also der richtige Ring?«

»Ja, eindeutig. Wir wussten von diesem Fehler, hatten damals aber keine Zeit, einen anderen anzufertigen, da Auraya nach Si aufbrechen musste.«

Juran betrachtete den Ring versonnen, dann blickte er zu Ella hinüber. »Dies könnte ein Vorteil für uns sein. Solange Danjin den Ring trägt, wird niemand außer uns seine Gedanken lesen können.«

»Außer uns - und Auraya«, stellte sie fest.

Seine Lippen wurden schmal. »Ich wünschte, ich wüsste, ob man ihr vertrauen kann.« Er schloss die Finger um den Ring und ließ die Hand sinken.

Der Eingang zum Zelt wurde geöffnet, und ein Wachposten trat ein und machte das Zeichen des Kreises. »Ein Bote des sennonischen Kaisers bittet um eine Audienz bei den Weißen.«

Juran sah Danjin an, aber sein Lächeln wirkte gezwungen. »Danke, dass du uns auf dieses Ereignis aufmerksam gemacht hast, Danjin. Jetzt solltest du wohl besser versuchen, ein wenig Schlaf zu bekommen.«

Als Danjin zur Türlasche hinüberging, berührte Ella ihn sanft am Arm. »Zumindest ist sie am Leben«, sagte sie leise.

Er seufzte. »Ja, aber für wie lange noch?«

»Das liegt in den Händen der Götter«, erwiderte sie.

Er nickte, dann trat er in die Wüstennacht hinaus und ging zu seinem Zelt.


Die Möwe spürte, wie die Macht der Welle sich hinter ihm sammelte. Als sie ihn erreichte, streckte er sich und ritt auf dem Kamm der Welle. Die Felssäule mit ihrer steilen Wand schien auf ihn zuzuschießen. Im letzten Augenblick drehte er ab, fing automatisch den Aufprall ab, spürte die vertrauten Risse unter den Fingern und die schmalen Vorsprünge, die den Füßen Halt gaben. Während die Welle sich zurückzog, begann er zu klettern.

Er hatte dies so viele Male getan, dass er nicht darüber nachzudenken brauchte, wo er sich als Nächstes festhalten konnte. Als er die Höhle erreichte, zog er sich hinein und richtete sich auf.

Er blickte noch einmal hinaus und betrachtete die dunklen Wellen, die den Felssockel umwogten. Er konnte keine Spur von dem Schiffswrack entdecken. Selbst an einem klaren, hellen Tag hätte er nicht so weit sehen können. Aber er brachte seinen Geist zur Ruhe und griff hinaus.

Schweigen.

Die Möwe schüttelte den Kopf und seufzte. Sie waren wahrscheinlich alle ertrunken. Die Ironie des Ganzen war, dass er die Absicht gehabt hatte, das Piratenschiff selbst zu versenken, aber zur richtigen Zeit. Nachdem er Gelegenheit gehabt hatte, die Mannschaft kennenzulernen und die Unglücklichen von den Schlechten zu scheiden.

Er hatte keine Zeit gehabt. Wenn er nicht geschlafen hätte, hätte er die herannahenden Elai vielleicht gespürt und jenen Seeleuten, die es wert waren, gerettet zu werden, helfen können. Aber er musste schlafen, geradeso wie jeder Sterbliche es musste.

Doch er vergeudete keine Mühe darauf, sich über die Elai zu ärgern. Ihre Angriffe auf die Schiffe der Seeräuber waren nach allem, was sie erlitten hatten, gerechtfertigt. Er machte sich allerdings Sorgen, wohin ihre neu entdeckte Zuversicht und ihre Vorliebe für das Töten sie führen würde, aber er würde nicht versuchen, sie in irgendeine Richtung zu lenken. Obwohl er und die Elai gleichermaßen berühmt waren für ihre Beziehung zum Meer, hatten sie keine andere Verbindung. Seit Jahrtausenden war er eine legendäre Gestalt in den Märchen der Landgeher, die die Elai hassten. Die Elai waren eine junge Rasse, erschaffen von einer Göttin, die Unsterbliche hasste.

Huan, dachte er düster. Stirnrunzelnd vergegenwärtigte er sich die eigenartigen, entstellten Geschöpfe, tot oder kaum noch am Leben, auf die er vor langer Zeit zufällig gestoßen war. Über ein Jahrhundert lang tauchten immer wieder solche Geschöpfe auf. Erst als gegen Ende dieses Jahrhunderts die frühen Vorfahren der Elai erschienen waren, hatte er die Lösung für dieses Rätsel gefunden. Die missgebildeten Geschöpfe waren Experimente und Fehlschläge der Zauberer gewesen, die Huans großen Ehrgeiz erfüllt hatten, ein an das Leben im Meer angepasstes Volk zu erschaffen. Sie und ihre Anhänger hatten nicht so leiden müssen, wie die Menschen und Tiere es taten. Zumindest haben die Menschen ihr Schicksal freiwillig gewählt, obwohl sie gewiss nicht erwartet haben, dass man sie ins Meer werfen oder zum Sterben allein lassen würde, wenn ein Experiment scheiterte.

Zu guter Letzt hatte Huan Erfolg gehabt. Aus der Vision einer Göttin und der Bereitschaft Sterblicher, ihren Befehlen zu folgen, waren zwei wundersame Völker entstanden, die Elai und die Siyee. Aus Grausamkeit war Schönheit geworden. Dies war auch die Natur des Ozeans. Manchmal waren die schönsten Geschöpfe die tödlichsten. Sternfächerfische waren leuchtend bunt, aber so giftig, dass ein Stich von ihren Stacheln binnen weniger Atemzüge töten konnte. Die Doi waren verspielte, intelligente Geschöpfe, und sie waren treu und liebevoll. Die Seeleute hielten es für ein glückliches Omen, wenn Doi in der Bugwelle ihres Schiffes schwammen. Aber die Möwe hatte Doi ihresgleichen mit einer Grausamkeit behandeln sehen, die er ansonsten nur bei Menschen beobachtet hatte.

Er zuckte die Achseln. Die Götter waren einst Sterbliche gewesen. Sie wurden von denselben Gefühlen und Bedürfnissen getrieben. Daher war es keine Überraschung, dass sie genauso grausam sein konnten wie Menschen. Es gab nur ein Problem: Während nur wenige Menschen geneigt waren, sich schlecht zu benehmen, waren alle Götter irgendwann einmal grausam mit Menschen verfahren.

Nein, nicht alle, korrigierte er sich. Die alten Götter waren nicht alle schlecht gewesen. Ist es so eigenartig, dass jene, die übrig geblieben sind, zu Grausamkeit neigen? Sie waren es, die die Bereitschaft hatten, die übrigen zu ermorden.

Seine Gedanken begannen, in alten, vertrauten Kreisen umherzuschweifen. Das störte ihn im Grunde nicht weiter, aber er hatte sich bereitgefunden, sich in dieser Nacht mit den Zwillingen in Verbindung zu setzen. Also zog er sich in den hinteren Teil der Höhle zurück und legte sich auf einige alte Decken. Dann schloss er die Augen und sandte einen Gedankenruf aus.

Möwe, antwortete Tamun. Du bist spät dran.

Achte nicht auf sie, warf Surim ein. Sie hat schlechte Laune.

Oh? Warum denn?

Es geht alles zu schnell. Das macht ihr Angst.

Ich habe keine Angst!, protestierte Tamun.

Kein bisschen, pflichtete Surim ihr wenig überzeugend bei.

Was geht zu schnell?, fragte die Möwe.

Emerahl will, dass wir nach Diamyane gehen, erklärte Surim. Und du auch.

Sie will versuchen, die Götter zu töten?

Nur wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Sie hat vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass es eine Schande wäre, wenn sich eine solche Möglichkeit auftäte und wir nicht da wären, um sie zu nutzen.

Das ist wahr.

Bist du bereit, nach Diamyane zu gehen und dich mitten auf ein Schlachtfeld zu stellen, mit allen Risiken, die ein solches Tun mit sich brächte, nur für den Fall, dass es Auraya irgendwie gelingen sollte zu entkommen und dass sie sich dazu entscheidet, uns zu helfen, ihre geliebten Götter zu töten?

Die Möwe dachte nach. Er konnte erkennen, welche Vorteile es hatte, an einem Ort zu sein, an dem die Weißen und die Stimmen aufeinandertrafen. Die Götter würden gewiss zugegen sein. Sie würden vielleicht in der Lage sein, sie alle gleichzeitig zu töten.

Aber er konnte auch erkennen, dass ihre Chancen auf Erfolg gering waren.

Aber wenn es auch nur die geringste Chance gab …

Ja, sagte er. Wenn ich mich im Wasser verborgen halte, ist eine Entdeckung unwahrscheinlich.

Tamun fluchte.

Tut mir leid, Schwester, sagte Surim. Diesmal hat Emerahl gewonnen. Wir sollten besser anfangen zu packen.

Und ich habe eine weite Reise vor mir, fügte die Möwe hinzu.

Wirst du es rechtzeitig schaffen?

Ja, falls ich noch heute Nacht aufbreche.

Dann reise wohl. Wir werden morgen Abend wieder zu dir sprechen, beendete Surim ihre Unterhaltung.

Die Möwe schlug die Augen auf und starrte zur Decke der Höhle empor. Er erhob sich und ging zum Höhleneingang hinüber. Nachdem er die Augen abermals geschlossen hatte, sandte er seinen Geist aus und suchte nach einem vertrauten Gedankenmuster.

Er brauchte nicht lange, um es zu finden. Träge, männlich und ruhig erhob sich der Geist bei seiner vertrauten Präsenz. Er stellte eine Frage; sie wurde bejaht.

Erfreut wartete die Möwe.

Einige Zeit später spürte er, dass der gleiche Geist gleich einzutreffen erwartete. Er senkte den Blick und sah den gewaltigen Kopf des Roale, so groß wie ein Fischerboot, aus dem Wasser aufsteigen, sich umwenden und wieder hinunterkrachen. Ein Auge glitzerte im Sternenlicht.

Danke, sagte er zu dem Geschöpf. Wir werden gemeinsam nach Süden schwimmen, wo das Wasser warm ist und voller Fische.

Ja, antwortete der Roale. Nahrung.

Die Möwe streckte die Arme aus, sprang von dem Felsen und tauchte ins Meer ein.


Wann immer die Stimmen sich in Abwesenheit Nekauns trafen, war Reivan unbehaglich zumute, doch auch in seiner Anwesenheit fühlte sie sich nicht länger wohl.

Die anderen Stimmen hatten sich nicht gegen ihn verschworen, doch in seiner Abwesenheit waren sie eher geneigt, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Es machte die Dinge nicht besser, dass sie häufig über Möglichkeiten sprachen, wie sie die Konsequenzen seiner Fehler eindämmen könnten, oder kurz davor standen, sich offen über seine Methoden zu beklagen.

Heute sprachen sie über den letzten verbliebenen Ehrengast des Sanktuariums, den Traumweber Mirar. Obwohl Reivan ihn inzwischen mehrmals gesehen hatte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass dieser Mann über tausend Jahre alt war. Es lag nicht daran, dass er keinen Tag älter wirkte als dreißig - Imenja war ebenfalls weit älter, als sie erschien, aber sie hatte eine Ausstrahlung, die auf das Selbstbewusstsein und die Weisheit einer älteren Frau schließen ließ. Mirar gebrach es an der Aura der Macht, die Reivan erwartet hatte. Er wirkte zu bescheiden, um ein großer Zauberer der Legende und der Begründer eines so alten Kultes zu sein, wie die Traumweber es waren.

Die Stimmen machten sich wegen wichtigerer Dinge Sorgen.

»Also, kann Mirar nun Gedanken lesen oder kann er es nicht?«, fragte Shar.

»Er kann es nicht«, antwortete Genza.

»Aber deine Prüfung hat funktioniert. Er hat reagiert.«

»Er hat eine Gefahr für sich selbst gespürt, aber nicht das Wesen dieser Gefahr«, erklärte Genza. »Wenn er gewusst hätte, worin die Gefahr bestand, wäre er niemals in den Alkoven getreten. Das lässt darauf schließen, dass er die Fähigkeit hat, die Stimmung der Menschen um ihn herum zu spüren, nicht aber, ihre Gedanken zu lesen.«

»Wenn ich tausend Jahre oder länger Menschen beobachtet hätte, wäre ich auch in der Lage, ihre Stimmungen zu spüren«, bemerkte Vervel. »Ist das eine magische Fähigkeit oder lediglich eine gute Beobachtungsgabe?«

»Der gedungene Mörder war außer Sicht«, rief Genza ihm ins Gedächtnis. »Es war keine Beobachtung, sondern Frucht einer Befähigung.«

»Es gibt eine letzte Prüfung, der ich ihn gern noch unterziehen würde«, sagte Imenja. Die anderen wandten sich zu ihr um. »Eine Prüfung, bei der er seine Fähigkeit gewiss verraten würde.«

»Und die wäre?«

»Gewähren wir unseren Gefährten Einblick in das wahre Wesen der Beziehung zwischen Mirar und Auraya.«

Die drei anderen Stimmen tauschten einen Blick.

»Wenn er Gedanken lesen kann, wird er wissen, was wir wissen«, warf Vervel ein.

»Ja. Aber er wird auch wissen, dass wir ihm im Gegenzug für seine Hilfe in der Schlacht etwas zu bieten haben. Solange er weiß, dass wir bereit sind, ihm dieses Angebot zu machen, können wir uns seiner Unterstützung gewiss sein.«

»Die wir aber verlieren könnten, falls Auraya stirbt«, ergänzte Genza.

»Höchstwahrscheinlich«, pflichtete Imenja ihr bei. Die Stimmen tauschten abermals einen eindringlichen Blick, dann nickte sie. Als sie zu sprechen begann, sah sie einen Gefährten nach dem anderen an.

»Die Götter haben uns mitgeteilt, dass Mirar und Auraya früher einmal Liebende waren. Es ist eher wahrscheinlich, dass er den Wunsch hat, sie zu retten, als sie zu töten.«

Liebende? Reivan richtete sich überrascht auf. Gewiss nicht!

»Sie huldigt den Göttern, die seinen Tod wollen!«, protestierte Vervels Gefährte, Karkel.

Reivan erinnerte sich noch an etwas anderes. »Mirar sagte, Auraya habe versucht, ihn zu töten. War das eine Lüge?«

»Wahrscheinlich«, antwortete Shar.

»Bedeutet das, dass er ein Spion der Weißen ist?«, fragte Vilvan, Genzas Gefährte.

»Das haben die Götter nicht gesagt.« Imenja breitete die Hände aus. »Sie haben lediglich davor gewarnt, dass er versuchen würde, sie zu retten.«

»Indem er fragt, ob er Auraya die Nachricht von der Niederlage der Weißen überbringen dürfe, sorgt er dafür, dass sie noch ein Weilchen länger lebt«, sagte Genza.

»Und indem wir andeuten, dass wir ihm Auraya geben werden, stellen wir sicher, dass er uns während der Schlacht hilft«, bemerkte Shar.

Genza runzelte die Stirn. »Wir werden ihm doch Auraya als Gegenleistung für seine Hilfe nicht wirklich geben, oder?«

Imenja seufzte. »Wenn wir unsere guten Beziehungen zu Mirar erhalten wollen, müssen wir das in Erwägung ziehen. Mir gefällt die Idee nicht, aber sobald die Weißen fort sind, dürfte Auraya kaum noch eine Bedrohung für uns sein. Nekaun ist nicht damit einverstanden. Er will Auraya nur so lange am Leben erhalten, wie Mirar uns von Nutzen ist.«

Vervel kicherte. »Mir tut Mirar ein wenig leid. Er scheint ein guter Mann zu sein.«

»Wenn Mirar ein guter Mann ist, wird er seine Anhänger durch seine Taten nicht gefährden wollen«, fügte Shar düster hinzu.

Vervel verzog das Gesicht. »Wenn er Auraya immer noch liebt, so unglaublich das vielleicht wäre, steht ihm eine schwere Entscheidung bevor. Er wird sich vielleicht zwischen seiner Geliebten und seinen Anhängern entscheiden müssen. Jetzt tut er mir erst recht leid.«

Shar schnaubte. »Mir tut niemand leid, der einen solch schlechten Geschmack in Bezug auf Frauen hat«, murmelte er.

Imenjas Lippen formten ein Lächeln, dann wurde ihre Miene wieder ernst. »Ich glaube nicht, dass wir Mirar eine solche Entscheidung aufzwingen sollten. Die Traumweber sind sehr nützliche Leute, die für uns nur eine kleine Bedrohung darstellen. Wir sollten nicht das Risiko eingehen, wegen einer persönlichen Abneigung gegen Auraya oder unseres Verlangens nach Rache unsere Freundschaft mit ihm zu gefährden. Dann wären wir nicht besser als die Zirkler.«

»Ich gebe dir recht«, sagte Vervel. »Dies könnte der Grund sein, warum die Götter sie am Leben erhalten wollen.«

»Fürs Erste. Sollte Auraya sich als Ärgernis erweisen, können wir uns später ihrer entledigen. Und schließlich ist sie nur eine Sterbliche«, bemerkte Shar.

»Aber was ist mit Nekaun?«, fragte Genza. »Wir alle wissen, wie gern er sie töten würde.«

Imenja hielt inne, dann hob sie den Kopf und sah die anderen der Reihe nach an. »Wenn wir in diesem Punkt übereinstimmen, können wir ihn vielleicht vom Gegenteil überzeugen.«

Schweigen senkte sich über den Raum. Reivans Herz raste. Imenja schlug vor, dass sie sich gegen Nekaun zusammentaten. Bis jetzt waren die anderen niemals bereit gewesen, der Ersten Stimme die Stirn zu bieten.

»Ich werde es zumindest versuchen«, sagte Vervel.

»Und ich auch«, fügte Genza hinzu.

Shar zuckte die Achseln. »Er würde den Göttern nicht trotzen, aber wenn er es versucht, habt ihr meine Unterstützung.«

Stille folgte. Imenja senkte den Kopf.

»Danke.« Sie sog scharf die Luft ein, dann stand sie auf. »Reivan und ich werden jetzt prüfen, ob Mirar Gedanken lesen kann. Wenn nicht, sollte ich trotzdem in der Lage sein, dafür zu sorgen, dass Mirar nicht versucht, Auraya zu retten und unsere Pläne zu durchkreuzen.«

»Wie willst du das zuwege bringen?«, fragte Genza.

Imenja lächelte. »Ich werde ihn lediglich wissen lassen, dass wir ihm als Gegenleistung, wenn er uns hilft, diesen Krieg zu gewinnen, anschließend Auraya übergeben werden, und dass er dann mit ihr verfahren kann, wie er wünscht«

Shar kicherte. »Er wird denken, dass wir ihm direkt in die Hände spielen. Es sei denn natürlich, er kann Gedanken lesen.«

»Ich schätze, das werden wir bald herausfinden«, erklärte Genza.

46

Als Auraya erwachte, erinnerte sie sich, wo sie war, und stöhnte. Es hatte auch seine Nachteile, dass sie ein wenig von ihrer Kraft zurückgewonnen hatte: Sie konnte jetzt mit mehr Energie fühlen und denken. Meistenteils verspürte sie Langeweile und quälende Enttäuschung. Sie beschäftigte sich wieder damit, Gedanken abzuschöpfen, aber in den Gedanken der Menschen außerhalb der Halle gab es nur ein Thema, den Krieg.

Krieg, Krieg, Krieg, ging es ihr durch den Kopf. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen, dass sie sich so sehr damit beschäftigen, aber ich wünschte mir wirklich, sie könnten an etwas anderes denken oder die Sache zumindest endlich hinter sich bringen. Dieses Warten ist unerträglich.

Und doch brachte jeder Augenblick sie dem Tod näher. War sie so versessen darauf zu sterben?

Es wäre so viel behaglicher als dies hier, dachte sie ironisch. Und vielleicht würde Unfug mich dann verlassen und den Weg zu einem sicheren Ort finden. Ein Stich der Furcht durchzuckte sie. Seit Nekauns letztem Besuch, als die Götterdiener sie mit Heilmitteln behandelt hatten, war Unfug nicht wieder aufgetaucht. Sie streckte ihren Geist aus und rief seinen Namen.

Unfug?

Ein vertrauter Geist berührte den ihren und sandte eine formlose Beruhigung, und Auraya seufzte vor Erleichterung. Wo er auch war, er war nicht verängstigt oder verletzt.

Unfug tut was?

Jagen, erwiderte er.

Sie lächelte. Er hatte einiges Geschick darin entwickelt und schleppte Vögel und kleine Tiere in die Halle hinunter. Manchmal bot er ihr welche an, aber selbst wenn sie sich dazu hätte überwinden können, sie zu essen, wäre es beinahe unmöglich gewesen, das ohne ihre Hände zu bewerkstelligen. Es wäre ihr vielleicht gelungen, die kleineren Tiere im Ganzen herunterzuschlucken, aber bei dem bloßen Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um.

Zufriedengestellt, dass der Veez wohlauf war, schloss sie die Augen und sandte ihren Geist aus. Zuerst suchte sie in den Gedanken im Sanktuarium nach Zeichen von Mirar. Sie sah Neuigkeiten, die sich unter den Domestiken ausbreiteten, die zu dieser frühen Stunde wach waren. Mirar hatte sich bereiterklärt, in der Schlacht auf der Seite der Stimmen zu stehen. Er würde ihrer Verteidigung seine Stärke leihen, aber da Traumweber Gewalt verabscheuten, würde er an dem Angriff auf den Feind selbst nicht teilnehmen.

Wie klug von dir, Mirar, dachte sie.

Auraya?

Überrascht ließ sie sich in eine Traumvernetzung sinken.

Mirar? Hast du mich denken hören?

Nein. Woran hast du denn gedacht?

An dich.

Wirklich? Ich hoffe, es waren gute Gedanken.

Mir ist soeben das jüngste Gerücht zu Ohren gekommen. Der legendäre Mirar hat sich bereiterklärt, den Stimmen zu helfen, aber nur bei der Verteidigung.

Ah. Ja. Ein Kompromiss. Ich… es tut mir leid. Wenn ich dies tun könnte, ohne deinen früheren Freunden Schaden zuzufügen, täte ich es.

Als ihr klar wurde, worauf er anspielte, hielt sie inne. Wenn er den Stimmen half, würden die Weißen wahrscheinlich besiegt werden. Juran, Dyara, Mairae und Rian würden sterben - und die neue Weiße, Ellareen.

Ich kann ihm keinen Vorwurf machen, dass er sich für diesen Weg entschieden hat, ging es ihr durch den Kopf. Er muss sich um seiner Leute willen auch weiter mit den Stimmen gutstellen. Und wenn die Weißen gewinnen, werden die Traumweber in Südithania genauso behandelt werden wie die im Norden. Obwohl sich die Situation im Norden langsam verbessert, wird es noch Jahre dauern, bis die Menschen den Traumwebern dort den Respekt entgegenbringen, den sie bei den Pentadrianern genießen.

Aber sie wollte nicht, dass die Weißen starben. Oder dass Nordithania von Pentadrianern regiert wurde. Die Vorstellung, dass Nekaun über den Norden herrschte, verursachte ihr Übelkeit.

Wir werden Glymma heute verlassen, erzählte Mirar ihr. Wir werden weniger als einen Tag brauchen, um die Landenge zu erreichen. Gestern Nacht hat die Zweite Stimme Imenja mir versprochen, dass sie dich mir im Gegenzug für meine Hilfe nach der Schlacht übergeben würden. Ich habe keine Ahnung, wie lange diese Schlacht dauern wird. Auf der Landenge werden sich die Soldaten immer nur in geringer Stärke gegenübertreten können. Die dunwegische Flotte und die pentadrianischen Kriegsschiffe haben dieses Problem natürlich nicht, daher wird es vielleicht eine Seeschlacht werden. Dann sind da noch die Weißen und die Stimmen. Werden sie gleichzeitig auf Schiffen oder auf der Landenge kämpfen, oder werden sie bis später warten?

Wenn die Stimmen den magischen Vorteil haben, werden sie die Weißen zwingen, von Anfang an gegen sie zu kämpfen, sagte Auraya. Auf diese Weise werden weniger Menschen ihres eigenen Volkes sterben.

Das ist wahr.

Wenn deine Hilfe zu einer schnellen Beendigung der Schlacht führt, wirst du zumindest das Leben Sterblicher retten.

Ich hoffe es. Er zögerte. Ich habe eine Nachricht an meine eigenen Leute geschickt und vorsichtig angedeutet, dass sie ihre Magie zur Verteidigung der Seite nutzen sollten, die sie zu unterstützen wünschen, seien es nun Pentadrianer oder Zirkler.

Wie werden die Stimmen darauf reagieren? Sie werden argwöhnen, dass du den Befehl dazu gegeben hast!

Ich werde darauf hinweisen, dass ich ihnen zwar keine Befehle geben kann, dass ich meine Leute andererseits aber nicht daran hindern kann, es mir gleichzutun. Ich kann ihnen kaum etwas verbieten, das ich selbst tue. Und der Vorteil läge nach wie vor auf der Seite der Stimmen, denn ich und die Traumweber hier sind stärker als diejenigen, die die Zirkler verteidigen.

Du bist klüger, als gut für dich ist, beschied sie ihm.

Ach ja? Du musst Emerah… warte. Da klopft jemand an meine Tür. Ich muss Schluss machen.

Viel Glück.

Dir auch.

Dann war er fort. Auraya starrte auf den Boden und spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog.

Ich hoffe, er weiß, was er tut. Wenn er stirbt… Sie schluckte heftig. Ich glaube, ich würde es tatsächlich bedauern. Und nicht nur wegen des letzten Restes Leiard, der mit ihm sterben würde. Oder weil ich dann wahrscheinlich ebenfalls sterben werde. Ich denke, ich werde es tatsächlich bedauern zu wissen, dass Mirar der Wilde nicht länger existiert.


Die breite Promenade außerhalb des Sanktuariums war gut geeignet als Sammelplatz einer Armee. Tausende waren dort zusammengekommen. Götterdiener in schwarzen Roben standen in säuberlichen, disziplinierten Reihen auf der einen Seite, Soldaten in schwarzen Uniformen mit schimmernder Rüstung in starrer Formation auf der anderen. Kunstvoll geschmückte Sänften für die Stimmen und ihre Gefährten und Ratgeber warteten vor der Treppe. Größere, vierrädrige Tarns mit Vorräten bildeten den Abschluss.

Es war ein beeindruckender Anblick. Wenn Mirar nicht ganze Armeen durch eine Handvoll Zauberer hätte umkommen sehen, hätte er geglaubt, der Sieg sei den Pentadrianern sicher.

Wären diese Menschen überhaupt hier, wäre da nicht eine Handvoll Zauberer, die von ihren Göttern angetrieben werden?, fragte er sich. Es war unmöglich, darauf eine Antwort zu finden. Die Welt war nie frei von Göttern gewesen, wer konnte da sagen, wie die Sterblichen sich ohne sie benommen hätten? Er hatte Kriege erlebt, die aus so dürftigen Gründen wie Rache für eine Kränkung oder aus simpler Habgier geführt worden waren. Die Sterblichen brauchten keine Götter, um einander zu töten. Sie waren durchaus in der Lage, selbst Gründe zu finden, um das zu tun.

Die Erste Stimme Nekaun trat vor, um das Wort an die Menge zu richten. Mirar hörte nach wenigen Sätzen nicht mehr zu. Er hatte das alles schon früher gehört.

»Woran denkst du?«, erklang dicht neben ihm eine leise Stimme.

Als er sich umdrehte, sah er die Zweite Stimme an seiner Seite stehen.

»Ich denke über die Sinnlosigkeit des Krieges nach«, antwortete er.

Imenja lächelte. Er fand sie liebenswürdig, aber sie hatte lange genug gelebt, um ihre Fähigkeit, anderen Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu geben, so weit zu verfeinern, dass man es nicht wahrnahm.

»Du denkst, dieser Krieg sei sinnlos?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Selbst wenn ihr die Weißen tötet und die Zirkler besiegt, wird der Zirkel der Götter weiter existieren.«

Sie nickte. »Das ist wahr. Was nach dieser Schlacht kommt, wird wichtiger sein als der Krieg selbst. Wir hoffen, dass die Menschen im Norden mit der Zeit einsehen werden, dass unsere Sitten besser und freundlicher sind, und dass sie sich dann ebenfalls den Fünf anschließen werden. Es wird immer jene geben, die auch weiterhin dem Zirkel huldigen, aber die Macht des Zirkels über Nordithania wird verringert sein.«

»Dann ist dieser Krieg in deinen Augen also nicht gänzlich sinnlos«, vollendete er ihre Ausführungen.

Sie lächelte abermals. »Nein. Aber ich würde es verstehen, wenn du wünschtest, dass wir auch die zirklischen Götter töten könnten. Die Welt wäre dann viel sicherer für dich. Weshalb lächelst du?«

Mirar lachte leise. »Allein der Gedanke, dass ihr die zirklischen Götter für mich töten würdet.« Und noch etwas anderes erheitert mich: Wenn wir Unsterblichen die Stimmen und die Weißen »entdecken« ließen, wie man es angehen muss, könnten wir Unsterblichen uns einfach zurücklehnen und zusehen, wie sie unsere Probleme aus der Welt schaffen.

Was vielleicht kein schlechter Notfallplan wäre, wenn sich keine Gelegenheit bot, Auraya zu befreien, oder wenn sie sich weigerte, ihnen zu helfen. Er hatte bisher keine andere Möglichkeit zur Befreiung Aurayas finden können, als sich mit Gewalt einen Weg in ihr Gefängnis zu erzwingen, was das gute Verhältnis zwischen den Stimmen und ihm gewiss trüben und vielleicht auch für seine Leute Konsequenzen haben würde. Die beste Möglichkeit für die Traumweber bestand darin zu hoffen, dass Imenja ihr Versprechen halten würde.

Wenn die Stimmen die Schlacht jedoch gewannen, würden vielleicht keine Weißen mehr da sein, die die pentadrianischen Götter angreifen konnten. Trotzdem konnten die Stimmen die zirklischen Götter töten, und das war möglicherweise alles, was die Wilden brauchten. Die pentadrianischen Götter hatten bisher keinen allzu schlechten Eindruck gemacht.

Nekaun verfiel in Schweigen, und die Menge jubelte. Dann bedeutete er Imenja und den anderen Stimmen mit einer weit ausladenden Geste, ihm zu den Sänften hinunterzufolgen. Imenjas Lächeln veränderte sich leicht, und Mirar war davon überzeugt, dass es jetzt ein erzwungenes Lächeln war.

Als die Stimmen hinuntergingen, folgte er ihnen mit einigen Schritten Abstand, zusammen mit ihren Gefährten und Ratgebern. Kurz bevor sie die Wagen erreichten, drehte Genza sich zu ihm um, und ihre Augen waren schmal und nachdenklich.

»Hättest du etwas dagegen, wenn der Traumweber mit mir reisen würde, Erste Stimme?«, fragte sie. »Du weißt, ich finde lange Reisen ermüdend.«

Nekaun blieb stehen, um sie mit hochgezogenen Augenbrauen zu mustern. »Es wird wohl kaum eine lange Reise werden«, sagte er. Dann wandte er sich zu Mirar um und lächelte höflich. »Traumweber Mirar, würdest du mir die Ehre erweisen, mir Gesellschaft zu leisten, wenn wir aufbrechen?«

»Die Ehre ist ganz meinerseits«, erwiderte Mirar glatt.

Genza zuckte die Achseln. »Vielleicht später, wenn all das Gerede über Gewalt und Strategie anfängt, ihn zu langweilen.«

Sie nahmen in den Sänften Platz, die von mehreren muskulösen, in prächtige Gewänder gehüllten Sklaven angehoben wurden. Die Armee konnte ihre Anführer deutlich sehen. Und mich, überlegte Mirar grimmig. Er hatte in der vergangenen Nacht die Träume der Traumweber erkundet. Ihre Reaktion auf sein Abkommen mit den Stimmen war gemischt. Einige waren damit einverstanden, andere nicht. Mit wenigen Ausnahmen glaubten sie alle, er sei zu dem Handel gezwungen worden, wahrscheinlich durch die Umstände, vielleicht auch durch eine direktere Drohung.

»Lass dir von Genza nicht das Gefühl geben, du seist zu irgendetwas… verpflichtet«, sagte Nekaun zu ihm, als die Sänfte sich in Bewegung setzte.

»Gewiss nicht«, erwiderte Mirar lächelnd. Als sie im Sanktuarium angekommen waren, hatte Genza aufgehört, mit ihm zu flirten; das brauchte Nekaun allerdings nicht zu wissen.

»Ich finde, ich sollte dich warnen. Sie kann sehr beharrlich sein. Je mehr Widerstand du ihr leistest, umso interessanter wirst du ihr erscheinen.«

»Ich kenne diesen Typ Frau«, versicherte Mirar ihm trocken.

Nekaun kicherte. »Davon bin ich überzeugt. Außerdem weißt du sicher, dass sie dich in Ruhe lassen würde, sobald sie ihre Neugier befriedigt hat. Sie möchte lediglich herausfinden, ob dein Ruf verdient ist, ein Gefühl, das sie gewiss mit vielen Frauen teilt.«

»Ich bin kein Sklave meines Rufs«, erwiderte Mirar.

»Nein, das bist du nicht. Das respektiere ich.« Nekauns Augen leuchteten zufrieden auf. »Du bist ein Mann, der weiß, wann er flexibel sein muss und wann unnachgiebig.«

Mirar verkniff sich eine Grimasse angesichts dieses Hinweises auf seine Bereitschaft, den Stimmen zu helfen. Er lächelte verschlagen. »Ich dachte, es seien nur Frauen, die solche Gerüchte über mich ausstreuen.«

Als die Sänfte sich zwischen den Reihen von Götterdienern und Soldaten hindurchbewegte, hallte die Promenade von Nekauns Gelächter wider.

Als Tamun vom Bug des Bootes aufblickte, lächelte sie. Ihr Bruder stand mit geraden Schultern da, das Haar vom Wind zerzaust. Das Boot schoss durch das Wasser, angetrieben von Magie, geleitet von seiner Willenskraft. Von beiden Seiten des Bugs spritzte Wasser auf, und der Rumpf erzitterte, wann immer er auf eine Welle schlug.

Sie betrachtete die Muskeln seiner Arme, die er sich verdient hatte durch viele Stunden, die er durch den Sumpf gerudert war. Er war männlicher geworden, seit sie hier Quartier genommen hatten. Ihre Schwester war zu einem recht gutaussehenden Bruder geworden. Warum hatte sie das nicht schon vorher bemerkt?

Vielleicht verbrachte sie so viel Zeit mit ihm, dass sie nie zurücktrat und ihn ansah. Aber die Veränderungen waren nicht nur körperlicher Natur. Und Surim hatte sich langsam verändert, um ihr Zeit zu geben, sich daran zu gewöhnen. Außerdem war er abenteuerlustiger geworden.

Das war ihm früher wahrscheinlich nicht möglich, dachte sie. Sie waren körperlich wie auch geistig miteinander verbunden gewesen. Tamun strich über die Narbe an ihrer Seite. Wie immer brachten die Erinnerungen an ihre Trennung Schmerz und Kummer, aber es war auch eine Erleichterung gewesen. Mehr für ihn als für mich, gestand sie sich. Wir mögen Zwillinge sein, aber wir unterscheiden uns in vielen Dingen. Ich sitze in unserer Höhle und grolle ihm, dass er mich allein lässt, voller Angst, dass die Götter mich finden werden, wenn mich irgendjemand sieht. Er erkundet den Sumpf und mischt sich unter die Menschen dort überzeugt davon, dass die Veränderung die Götter daran hindert, ihn zu erkennen. Und jetzt waren sie weit fort von den Roten Höhlen, weit fort von dem Sumpf, und sie schossen über das Wasser zu ebendem Ort, an dem tausende von Sterblichen und vielleicht einige Unsterbliche sie sehen würden - und die Götter würden sich dort gewiss ebenfalls versammeln. Sie schauderte. Es war Wahnsinn. Aber es war auch unbestreitbar vernünftig. Wenn sie die Götter jemals töten wollten, dann mussten sie in ihrer Nähe sein.

Dass diese Gelegenheit sich während der nächsten Tage bieten würde, war zweifelhaft. Wenn sie allzu viel darüber nachdachte, wurde ihr unangenehm schwindlig. Sie schloss die Augen und streckte ihre Sinne auf der Suche nach anderen Geistern aus.

Zuerst fand sie einige Fischer. Sie kehrten spät von ihrer morgendlichen Arbeit zurück. Als Nächstes begegnete sie der Mannschaft eines Handelsschiffs, das nach Süden fuhr, um Vorräte nach Diamyane zu bringen. Mehrere sennonische Kämpfer und ein zirklischer Priester waren an Bord, und dunwegische Kriegsschiffe segelten ganz in ihrer Nähe. Sie rechneten damit, dass die Pentadrianer versuchen würden zu verhindern, dass die Vorräte die zirklische Armee erreichten.

Sie bewegte sich ein klein wenig weiter, angezogen von dem Summen vieler Geister. Die zirklische Armee marschierte jetzt entlang der Küste. Die Soldaten und ihre Anführer wussten, dass sie nur noch eine Tagesreise von Diamyane entfernt waren. Die erfahreneren Priester, Priesterinnen und Veteranen sahen der Schlacht sowohl mit Grauen als auch mit Entschlossenheit entgegen.

Sie ließ ihren Geist weiter schweifen und gelangte an ihr Ziel. Diamyane war überlaufen von Aasgeiern, Traumwebern und sennonischen Truppen, die man vorausgeschickt hatte, um die Ankunft der Armee vorzubereiten. Sie suchte den Geist der Traumweber, dann forschte sie in ihren Gedanken nach Emerahl. Oder nach der Frau, für die Emerahl sich ausgab.

Da ist sie.

Tamun lächelte über die Gedanken in Bezug auf die rothaarige Fremde. Arleej, die offizielle Anführerin der Traumweber, war sich nicht sicher, was sie von Emmea halten sollte. Mirar hatte sie gebeten, Emmea in alle Gespräche und Pläne mit einzubeziehen. Die Frau war durchaus sympathisch. Wenn auch bisweilen ein wenig ungeduldig.

Arleej berichtete Emerahl, was geschehen war, als sie Juran von den Weißen von Mirars Entscheidung erzählt hatte, dass er und alle Traumweber ihre Gaben benutzen würden, um einer der beiden Parteien beizustehen.

»Er ist schneeweiß geworden«, bemerkte Arleej.

Emerahl kicherte. »Was hat er gesagt?«

»Er hat unser Angebot zu helfen, angenommen. Ich vermute, er hätte gern abgelehnt. Er muss Verrat argwöhnen, aber da die Zirkler ohnehin schwächer sind, nachdem Mirar sich auf die Seite des Feindes gestellt hat, muss Juran dieses Risiko eingehen.«

»Du fühlst dich doch nicht versucht, dich gegen die Zirkler zu wenden, oder?«

»Nein, natürlich nicht.« Arleej reagierte mit Erheiterung auf die Frage. »Außerdem hat Juran meinem Vorschlag zugestimmt, dass einige von uns den Weißen folgen, wenn sie zu der Begegnung mit den Stimmen die Landenge hinunterziehen. Das wäre in jedem Fall von Vorteil, da Mirar gewiss zusammen mit dem Feind erscheinen wird.«

»Ich würde gern ein Teil dieser Gruppe sein«, erklärte Emerahl. »Mirar hat mich zu dir geschickt, weil ich stark bin, und ich kann helfen, das Gleichgewicht der Macht, das durcheinanderzubringen er gezwungen war, wieder auszugleichen.«

Arleej dachte kurz nach, dann nickte sie. »Du bist uns herzlich willkommen.«

Das Gespräch wandte sich praktischen Belangen zu, und Tamun konnte keine Traumvernetzung mit Emerahl eingehen, bevor die Frau schlief, daher bewegte sie sich nach Süden, wo sie auf weitere menschliche Geister traf. Die pentadrianische Armee marschierte auf die Landenge zu. Sie war noch einen halben Tag von deren Anfang entfernt, hatte aber nicht die Absicht, sie zu überqueren. Sie brauchte länger, um Mirar zu finden, da in seiner Nähe nur ein einziger Geist unbeschirmt war. Der Name der Frau war Reivan, und sie war die Gefährtin der Zweiten Stimme, Imenja.

Reivan betrachtete Mirar mit wachsamen Respekt. Ihr gefielen seine Ideale und sein Widerwille gegen jedwede Gewalt, obwohl sie beides nicht für praktikabel hielt. Das Wissen, dass sie sich in der Gesellschaft eines Mannes befand, der mehr als tausend Jahre alt war, erfüllte sie mit großer Ehrfurcht. Den pentadrianischen Anführer betrachtete sie mit widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken: Da waren noch Reste von Verliebtheit, außerdem Sorge, Wut und ein langsam, aber stetig wachsender Hass.

Tamun? Surim?

Tamun erkannte die Gedankenstimme der Möwe. Sie zog sich widerstrebend von der Gefährtin zurück und konzentrierte sich auf den anderen Unsterblichen.

Sei mir gegrüßt, Möwe. Wo bist du?

Ich nähere mich dem Golf des Grams und werde heute Nacht die Landenge erreichen.

Weißt du von den Tunneln, die Emerahl beschrieben hat?

Ja. Ich habe sie früher oft benutzt, als sie noch offen waren.

Wir können nur hoffen, dass es unter dem Ort, an dem die Weißen und die Stimmen aufeinandertreffen, ebenfalls einen Tunnel gibt.

Mir ist eine Lösung für dieses Problem eingefallen. Wenn ich einen kleinen Teil der Landenge zum Einsturz brächte, müssten die Stimmen und die Weißen auf gegenüberliegenden Seiten stehen, um einander anzusehen.

Ah. Zweifel befielen sie, als sie über diesen Vorschlag nachsann. Sie werden sich fragen, wer den Einsturz verursacht hat und warum. Das würde vielleicht den Argwohn der Götter erregen.

Vielleicht, räumte er ein. Ich könnte es so einrichten, dass es wie ein natürliches Ereignis aussieht.

Aber es würde trotzdem als ein zu großer Zufall erscheinen.

Dann fällt mir nur eine einzige andere Lösung ein.

Welche?

Ich werde in der Mitte der Landenge, unter der Straße, einen Tunnel ausheben müssen.

Das wird einige Zeit dauern.

Etwa einen Tag. Ich werde in der Mitte beginnen, wo sich die Weißen und die Stimmen höchstwahrscheinlich treffen werden. Die Sache hat nur einen Nachteil.

Und der wäre?

Es könnte dazu führen, dass die Landenge trotzdem einstürzt. Hoffentlich geschieht das erst in einigen Jahren und nicht, während ich mich darin aufhalte.

Dann solltest du vorsichtig sein, Möwe. Falls die Landenge doch einstürzt, werden wir dich finden. Wenn nötig, werden wir dich ausgraben.

Dann sollte ich besser Mirar um einige Lektionen darüber bitten, wie man sein Begräbnis überlebt, erwiderte er trocken. Ich muss Schluss machen. Der Roale wird vergessen, dass er mich auf dem Rücken trägt, wenn ich ihn nicht von Zeit zu Zeit daran erinnere. Falls er beschließt abzutauchen, werde ich mein Ziel bis heute Abend nicht mehr erreichen.

Als sein Geist verblasste, holte Tamun einige Male tief Luft. Was sie taten, war in mehr als einer Hinsicht gefährlich. Es würde vielleicht nicht einmal funktionieren. Aber wenn es die Befreiung von den Göttern bedeutete, würde sie es wieder und wieder versuchen.

Einige Risiken lohnten, dass man sie einging.

47

Die Sonne war vor kurzer Zeit hinter dem Horizont verschwunden; sie war mit stetiger Zielstrebigkeit gesunken, als durchliefe sie geduldig die notwendigen Schritte, wohlwissend, dass die morgige Schlacht gewiss kommen würde. Ein Leuchten erfüllte den westlichen Himmel, der an manchen Stellen eine eigenartige Farbe angenommen hatte. Als Reivan darauf zuging, fragte sie sich, ob irgendein Denker wusste, warum der Himmel zu diesen Zeiten so unmögliche Farben wie Grün und Purpur annahm.

Dann erreichte sie Imenja und blieb stehen. Die Zweite Stimme starrte auf die Landenge, die in das unheimliche Licht des glühenden Himmels getaucht war. Das Land streckte sich in der Dunkelheit einem kaum sichtbaren Schatten entgegen.

Sennon. Nordithania.

»Sie sind noch nicht da«, sagte Imenja.

»Werden wir übersetzen und Diamyane einnehmen?«, fragte Reivan. Sie hatten diese Möglichkeit bei verschiedenen Gesprächen erörtert.

»Nein. Wenn wir hierbleiben, sind wir im Vorteil. Die Zirkler können nur in geringer Stärke vordringen, daher können wir uns mühelos einen nach dem anderen vornehmen.«

»Und wenn die Weißen vor der Armee herziehen?«

»Dann werden wir Stimmen gegen sie kämpfen.«

»Und die Soldaten überflüssig machen«, bemerkte Reivan.

Imenja lächelte schief. »Ja. Was gar nicht so schlecht wäre. Der Krieg ist nicht freundlich zu Sterblichen, die keine Befähigungen besitzen.«

Reivan schauderte. Diese Beschreibung traf auch auf sie zu. Imenja wandte sich um und legte Reivan eine Hand auf die Schulter.

»Keine Sorge. Du wirst geschützt sein.«

»Ich weiß.« Reivan seufzte. »Aber ich werde auch nutzlos sein.«

Das Licht war fahler geworden, und Imenjas Gesicht lag im Schatten. Reivan konnte ihren Ausdruck nicht erkennen.

»Nicht für mich«, sagte Imenja und drückte Reivans Schulter. Dann blickte sie hinter sich. »Das Zelt ist aufgebaut. Wir sollten uns zu den anderen gesellen.«

Sie gingen zurück ins Lager. Was zuvor eine trockene, staubige Ebene gewesen war, war jetzt bedeckt mit schwarzen, spitz zulaufenden Formen, zwischen denen wie orangefarbene Sterne Feuer flackerten. Als Reivan das erste Mal beobachtet hatte, wie die Zelte aufgebaut wurden, war sie entsetzt gewesen. Der fünfkantige Zuschnitt war eine unnötige Komplikation, mit der einige der Domestiken nur mit Mühe zurechtkamen, und der schwarze Stoff zog die Hitze der Sonne gnadenlos auf sich. Manchmal fragte sie sich, ob die Pentadrianer ihren Symbolismus nicht zu weit trieben.

Wenn die Sonne aufging, würden die Krieger nicht in ihren überhitzten Zelten hocken. Sie würden Blut vergießen. Oder mitansehen, wie Zauberer tödliche Magie freisetzten, und hoffen, dass sie nicht zufällig am falschen Ort waren, wenn ein solcher Angriff in die Irre ging. Sie dachte darüber nach, was Imenja gesagt hatte. Ein Kampf einzig zwischen den Stimmen und den Weißen klang zu gut, um wahr zu sein. Aber die Götterdiener und die Priester würden sich nicht aus der Schlacht heraushalten. Sie würden ihre Seite mit zusätzlicher Magie stärken. Sobald die Stimmen die Weißen besiegten oder, die Götter mochten ihnen beistehen, die Weißen den Stimmen eine Niederlage beibrachten, würde es keinen Sinn mehr haben, wenn die Götterdiener oder die Priester den Kampf fortsetzten. Aber sie würden es vielleicht dennoch tun. Einfach aus Ergebenheit ihren Göttern gegenüber.

Und was dann?, fragte sich Reivan. Was wird mit den Armeen geschehen, wenn eine Seite besiegt ist?

Sie bezweifelte, dass die Stimmen die Zirkler einfach nach Hause ziehen lassen würden, wie die Weißen es den Pentadrianern nach der letzten Schlacht gestattet hatten. Außerdem wusste sie, dass dies ein Kampf sein würde, in dem weder die Stimmen noch die Weißen die jeweils anderen würden am Leben lassen können.

Imenja hielt inne und seufzte. Als Reivan aufblickte, sah sie, dass sie sich einem großen Zelt näherten. Es war nicht schlicht und fünfseitig wie die übrigen, sondern sternenförmig angelegt. Der Eingang zum Zelt war eine Lücke zwischen zwei Zacken des Sterns. Als sie Imenja hineinfolgte, fand sie sich in einem fünfseitigen Raum wieder. In jede Wand war eine Türlasche eingelassen. Wahrscheinlich führten diese Ausgänge zu den privaten Räumen der Stimmen.

Ein großer Teppich bedeckte den Boden, und mehrere Stühle aus geflochtenem Ried standen bereit. Auf kleinen, niedrigen Tischen warteten Schalen mit Nüssen und getrockneten Früchten und Wasserkrüge. Als Imenja sich einem Götterdiener zuwandte, zeichnete dieser das Symbol des Sterns nach. Dann senkte er den Blick und deutete auf eine Türlasche.

Imenja schob die Lasche beiseite, dann hielt sie sie für Reivan auf, nachdem sie hindurchgetreten war. Auch dieser Raum war mit Teppichen bedeckt, und neben einem großen Bett standen Truhen.

»Wo soll ich schlafen?«, fragte Reivan.

»Es sollte in der Nähe ein Zelt für dich bereitstehen.«

Reivan nickte.

»Ist dein Quartier zu deiner Zufriedenheit?«

Sie drehten sich um und sahen Nekaun lächelnd in der Tür stehen. Bei seinem Anblick bekam Reivan eine Gänsehaut.

»Ich bemerke kaum, dass ich das Sanktuarium verlassen habe«, erwiderte Imenja trocken.

Nekauns Lächeln wurde breiter. »Das wird sich morgen ändern.« Er blickte über seine Schulter. »Das Essen ist da. Kommt und esst.«

Er zog sich von der Tür zurück. Reivan drehte sich wieder zu Imenja um und stellte fest, dass die andere Frau lächelte.

»Schön zu sehen, dass er keine Macht mehr über dich hat«, murmelte sie. »Obwohl ich wünschte, du hättest diesen Zustand auf einem weniger schmerzlichen Weg erreicht.«

Reivan blinzelte überrascht, dann nickte sie, als ihr aufging, dass Imenja recht hatte. Wenn sie Nekaun jetzt sah, verspürte sie nicht länger dieses Prickeln der Erregung und Bewunderung, ebenso wenig wie die Schwäche, die sie früher in Nekauns Gegenwart befallen hatte. Sie ersehnte seine Aufmerksamkeit also nicht länger. Nicht mehr seit…

Sie schauderte, als sie sich an das letzte Mal erinnerte. Er hatte eine grausame, boshafte Seite an sich offenbart, die sie nie wieder vergessen würde, ein Umstand, über den sie einerseits froh war, der ihr andererseits aber auch ein wenig Sorgen machte. Wenn sie ihn jetzt sah, fühlte sie sich abgestoßen.

Imenja klopfte Reivan im Vorbeigehen auf die Schulter.

»Lass uns essen gehen.«

Reivan folgte ihrer Herrin und sah, dass die anderen Stimmen und ihre Gefährten bereits eingetroffen waren. Domestiken trugen Platten mit dampfenden Speisen in den Raum und füllten die Luft mit köstlichen Gerüchen. Sie setzte sich neben Imenja und begann zu essen. Die Ergebenen Götterdiener und selbst ein paar Denker kamen herein. Nekaun hielt eine kleine Ansprache; er berichtete, dass, während sie sich an einem Festmahl gütlich taten, die Zirkler erschöpft ihre letzte Marschetappe in Angriff nahmen, nur um morgen besiegt zu werden.

Die Gespräche drehten sich um den Krieg. Ein Ergebener Götterdiener meldete, dass mehrere zirklische Vorratsschiffe versenkt worden seien. Während des allgemeinen Geplappers bekam Reivan ein Gespräch der Denker mit, in dem es um ein riesiges Meeresgeschöpf ging, das man im Golf des Grams hatte schwimmen sehen. Sie wollten das Tier töten und untersuchen.

»Wenn ihr das tut, werden wir unsere Unterstützung in diesem Krieg aufkündigen«, dröhnte eine laute, tiefe Stimme mit starkem Akzent.

Alle drehten sich zum Eingang um. Reivans Herz tat einen Satz, als sie den Mann erkannte. Als sie sich umschaute, konnte sie sehen, welche Wirkung der imposante König der Elai auf jene unter den Anwesenden hatte, die noch nie zuvor einem Elai begegnet waren.

Selbst wenn König Ais ein Landgeher gewesen wäre, hätten sein hoher Wuchs, die Breite seiner Brust und der Goldschmuck, den er trug, ihn zu einer einschüchternden Gestalt gemacht. Seine blauschwarze Haut, das Fehlen jedweder Körperbehaarung, die mit doppelten Lidern versehenen Augen und die Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen verstärkten nur die Fremdartigkeit, die einige Menschen vielleicht faszinierend und andere abstoßend fanden. Der König trat in den Raum und blickte mit schmalen Augen zu den Denkern hinüber.

»Der Ru-al ist ein uraltes, gütiges Geschöpf des Meeres, und obwohl wir von einem Tier genug Nahrung gewinnen würden, um viele, viele Familien zu versorgen, machen wir Elai keine Jagd auf sie. Einen Ru-al aus reiner Neugier zu töten wäre…« Der König der Elai schüttelte den Kopf. »Es wäre ebenso verschwenderisch wie grausam.«

»Niemand wird das Geschöpf töten«, versicherte Nekaun und trat auf den König zu. »Willkommen in Avven und im pentadrianischen Kriegslager, König Ais. Ich hoffe, deine Reise war nicht allzu schwierig.«

Während die beiden Anführer weitere steife Höflichkeiten austauschten, wandte Reivan sich wieder ab. Die Menschen starrten den König der Elai voller Faszination an. Nekaun musterte die Anwesenden stirnrunzelnd, und jene, die den Neuankömmling angestarrt hatten, wandten sich hastig ab und verwickelten ihre Nachbarn in ein Gespräch.

»König Ais hat bemerkenswert gut Avvensch gelernt«, sagte Imenja. Reivan nickte. Die Zweite Stimme sah sich im Raum um, dann sprach sie Vervel an. »Wo ist Mirar?«, fragte sie leise.

Vervel zuckte die Achseln. »Er hat sich in sein Zelt zurückgezogen.«

»Die Reise hat ihn erschöpft?«, fragte Shar lächelnd. »Oder war es Genza? Er hat eine lange Zeit mit ihr verbracht.«

Genza musterte die Fünfte Stimme mit verächtlich hochgezogenen Augenbrauen. »In einer Sänfte. In voller Sicht der Armee.«

»Was für ein Glück für ihn.«

»Kann ein Unsterblicher ermüden?«, fragte Vervel nachdenklich. Niemand antwortete.

»Vielleicht hat er sich ins Sanktuarium zurückgeschlichen«, sagte Genza. Als Nekaun sich wieder zu ihnen gesellte, sah sie den Anführer fragend an. »Ist Auraya sicher eingesperrt?«

Die Erste Stimme lächelte unangenehm. »Das ist sie. Keine Sorge. Mirar wird beobachtet. Und ihre Wachen haben Anweisung, sie zu töten, sollte irgendjemand versuchen, sich einzumischen.« Imenja sah ihn scharf an. Er erwiderte ihren Blick, und sein Lächeln wurde breiter. »Ich fühle mich versucht, ihnen auch ohne Anlass den Befehl dazu zu geben und ihren Leichnam dann herbringen zu lassen, um ihn den Weißen zu präsentieren. Das könnte ihnen zu denken geben.«

Die anderen Stimmen tauschten einen Blick, schwiegen jedoch.

»Aber du wirst es nicht tun«, sagte Imenja leise. »Weil sie der Grund ist, warum er uns hilft.«

Nekaun zuckte die Achseln. »Mirar wird es nicht riskieren, die freundlichen Beziehungen mit uns zu trüben.«

»Und wir sollten es ebenfalls nicht tun.«

Die Erste Stimme schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Wir brauchen die Traumweber nicht.«

Im Raum war Stille eingekehrt. Alle lauschten und beobachteten die beiden Stimmen mit großer Aufmerksamkeit. Reivan stellte fest, dass ihr Herz hämmerte. Imenja hatte Nekaun noch nie öffentlich herausgefordert.

Imenja schürzte nachdenklich die Lippen. »Vielleicht sollten wir unser Volk befragen, bevor wir eine so weitreichende Entscheidung für die Menschen treffen. Ich möchte nicht, dass wir unnötige Meinungsverschiedenheiten unter ihnen verursachen oder ihnen den Zugang zu den überlegenen Heilkünsten der Traumweber verwehren. Vielleicht könnten wir über die Frage abstimmen.«

Sie sah die anderen Stimmen an. Sie nickten und wandten sich dann mit erwartungsvoller Miene zu Nekaun um.

Er zog die Brauen zusammen, und einen Moment lang glaubte Reivan, er werde eine finstere Miene aufsetzen. Aber er lächelte plötzlich und breitete die Hände aus. »Natürlich werden wir das tun. Nach dem Krieg. Für den Augenblick sollten wir uns auf die gegenwärtige Situation konzentrieren. Kommt und lasst euch Ais vorstellen, den König der Elai.«

Während die Stimmen ihm folgten, blieb Reivan, wo sie war. Sie beobachtete Nekaun. Irgendetwas nagte an ihr.

Dann begriff sie. Nach dem Krieg würde es keinen Sinn mehr haben, das Volk wegen der Traumweber zu befragen. Nekaun würde Auraya bereits getötet haben, oder Mirar würde versucht haben, sie zu retten, wodurch Nekaun gezwungen wäre, seine Drohung wahrzumachen.

Die Zweite Stimme sah Reivan durch den Raum hinweg an und nickte. Es war offenkundig, dass ihre Herrin ihre Gedanken gelesen hatte oder dass sie unabhängig von ihr zu derselben Schlussfolgerung gelangt war. Nekaun wusste von Imenjas Versprechen Mirar gegenüber, dass man ihm Auraya nach dem Krieg übergeben würde. Wollte Nekaun die anderen Stimmen mit seinem Gerede, Auraya zu töten, nur reizen? Oder würde er sie töten, um dem einzigen Versuch der anderen Stimmen, sich in seine Herrschaft einzumischen, zu trotzen?

Reivan schauderte. Sie konnte nicht sagen, was wahrscheinlicher war.


Die endlosen Tage im Plattan hatten Danjins körperliche Verfassung nicht gerade verbessert. Schweiß lief ihm übers Gesicht und durchnässte seine Tunika. Als er die Riemen umfasste, schnitten sich ihm die Ringe an den Fingern ins Fleisch. Seine Schultern schmerzten, und er sehnte sich danach, sich einfach niederzulegen und das Bewusstsein zu verlieren.

»Lass dir Zeit«, hatte Ella gesagt und ihm auf die Schulter geklopft. »Nimm dir die ganze Nacht, wenn es nötig ist. Sorge nur dafür, dass du bis zum Sonnenaufgang weit genug entfernt bist.«

Dann hatte sie ihn und das Boot so weit sie konnte aufs Meer hinausgestoßen. Nach dem Funkeln der Lichter zu beiden Seiten schätzte er, dass sie ihn über die halbe Strecke des Golfs getrieben hatte. Sobald das Boot seine Fahrt verlangsamt hatte, hatte er zu rudern begonnen.

Etwa alle hundert Ruderschläge hielt er inne, um Atem zu schöpfen. Als er das nächste Mal den hundertsten Ruderschlag erreichte - er hatte schon vor langer Zeit den Überblick verloren, wie viele hundert es inzwischen waren -, drehte er sich um und blickte hinter sich. Zu seiner Erleichterung war es ihm gelungen, in die richtige Richtung weiterzurudern. Die Lichter des pentadrianischen Lagers befanden sich zu seiner Linken. Zu seiner Rechten herrschte Dunkelheit. Hinter sich konnte er gerade noch eine dünne, bleiche Linie erkennen: den Strand.

Und während er dorthin schaute, flammte ein winziges, blaues Licht auf und erlosch sofort wieder.

Endlich! Das Signal! Er drehte sich wieder um und legte sich, angespornt von einer zweifelnden Erregung, abermals in die Riemen. Er verspürte sogar eine gewisse Befriedigung darüber, dass er für eine Aufgabe auserwählt worden war, die eigentlich eher einen jüngeren, abenteuerlustigeren Mann erfordert hätte.

»Warum ich?«, hatte er Ella gefragt.

»Du kennst Auraya gut genug, um ihr zu widerstehen, sollte sie sich durch den Ring mit dir in Verbindung setzen und versuchen, dich auf ihre Seite zu ziehen. Außerdem bist du klug genug, um Heldentaten zu vermeiden.«

»Wie dem Versuch, sie zu retten?«

Sie hatte gelächelt. »Ja. Selbst wenn dein Geist abgeschirmt ist, würdest du niemals in das Sanktuarium hineinkommen oder ihre Wachen überwältigen können.«

Natürlich hatte er diese Möglichkeit erwogen. Wenn er die Chance bekommen hätte, Auraya zu befreien, hätte er es getan. Nicht nur aus Sorge und aus Treue ihr gegenüber, sondern auch um der Zirkler willen. Sie brauchten ihre Stärke, um die Waagschale wieder zu ihren Gunsten zu senken.

Aber die Weißen hatten Danjin nicht ausgeschickt, um Auraya zu befreien. Sie hatten ihn fortgeschickt, um sich mit dem zweiten Grund zu treffen, der das Gleichgewicht der Macht störte.

Der Boden des Bootes knirschte über Sand. Danjin zog die Riemen ein und wappnete sich gerade gegen die Schwierigkeit, aufstehen zu müssen, als er um ein Haar von seinem Sitz gefallen wäre, als das Boot von einer unsichtbaren Kraft ans Ufer gezogen wurde. Er hielt sich fest und drehte sich um, wobei er erwartete, jemanden zu sehen, der am Bug zog.

Aber da war nichts. Er bewegte sich auf einen Schatten zu, der die Gestalt eines Mannes hatte. Wohl ein Dutzend Schritte davor blieb das Boot stehen. Danjin erhob sich und stieg aus. Kaltes Wasser umspülte seine Füße und Knöchel. Er blickte stirnrunzelnd hinab, aber nicht wegen seiner durchnässten Hosen und Stiefel.

Ich sollte mich besser gut mit ihm stellen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Boot allein zurück in tieferes Wasser ziehen könnte.

Er blickte zu der Gestalt auf, holte tief Luft und watete darauf zu. Dass er verraten worden und dies ein Götterdiener war, war die schlimmste Möglichkeit, aber nicht die einzige Quelle seiner Furcht. Selbst wenn es der richtige Mann war, und obwohl Danjin schon früher mit ihm gearbeitet hatte, gab es so vieles an ihm, was man fürchten und missbilligen konnte.

Als Danjin sich einige weitere Schritte genähert hatte, blickte er der Gestalt in das immer noch kaum erkennbare Gesicht.

»Willkommen in Südithania, Danjin Speer«, sagte Mirar trocken.

Ein Frösteln überlief Danjin. Die Stimme war allzu vertraut, aber der Tonfall hatte etwas an sich, das er noch nie zuvor bei diesem Mann gehört hatte. Leiard war stets wortkarg und würdevoll gewesen. Wenn er etwas gesagt hatte, dann stets auf eine ruhige, beinahe entschuldigende Weise.

Obwohl leise gesprochen, schrien diese Worte die Zuversicht des Sprechers geradezu heraus. Aber es war keine Arroganz, wie Danjin feststellte. Es lagen einfach hohes Alter und Erfahrung in ihnen. Dies war die Stimme Mirars, des Unsterblichen.

Oder vielleicht höre ich auch nur, was ich zu hören erwarte, dachte er ironisch.

»Vielen Dank, Mirar«, erwiderte Danjin. »Obwohl ich mich fragen muss, ob du die Erlaubnis hast, mich im Namen der Pentadrianer willkommen zu heißen.«

»Was sie nicht wissen, wird sie nicht stören«, erwiderte Mirar.

Hatte da ein Anflug von Verachtung in Mirars Stimme gelegen?, fragte sich Danjin.

»Aber je eher ich zurückkehre, umso geringer ist die Chance, dass meine Abwesenheit bemerkt wird und Fragen aufwirft«, fügte Mirar nach kurzem Schweigen hinzu. »Was willst du mir sagen?«

Danjin straffte sich. »Die Weißen haben mich hergeschickt, um dir ein Angebot zu machen. Ich bin mit ihnen vernetzt. Wenn du also irgendwelche Fragen oder Bitten hast…«

»Sie wollen, dass ich mich aus der Schlacht heraushalte«, unterbrach Mirar ihn. »Dem kann ich nicht zustimmen.«

Danjin schluckte. »Nicht einmal im Gegenzug für die Freiheit deiner Leute?«

Mirar schwieg einen Moment lang. »Machen sie mir ein Angebot, oder drohen sie mir?«

»Es ist keine Drohung«, sagte Danjin hastig. »Sie werden versprechen, deinen Leuten zu gestatten, all ihre Gaben zu benutzen, einschließlich Gedankenvernetzungen - wenn du darauf verzichtest, den Pentadrianern zu helfen.«

»Und als Gegenleistung dafür, dass ich die Pentadrianer im Stich lasse, werden meine Leute hier leiden. Welche Seite wird diesen Krieg wohl eher gewinnen, wenn ich das Angebot der Weißen annehme, Danjin Speer?«

»Das lässt sich unmöglich vorhersagen.«

»Und welche Seite wird den Sieg davontragen, wenn ich bei den Pentadrianern bleibe?«

Danjin seufzte. »Deine.«

Frag ihn, ob Auraya ihm den Tod ihrer Freunde und der Menschen ihres Volkes vergeben würde. Ellas Stimme war ein Flüstern in Danjins Gedanken. Er widerstand dem Drang, ihren Ring zu berühren.

»Wie wird Auraya zu dir stehen, wenn du mithilfst, den Tod ihrer Freunde, ihrer Familie und ihres Volkes herbeizuführen?«, fragte er mit betont sanfter Stimme.

»Oh, sie wird außer sich sein vor Entzücken«, antwortete Mirar, dessen Stimme vor Sarkasmus troff. »Aber zumindest besteht eine geringe Chance, dass sie nicht tot sein wird. Wenn die Weißen siegen, wird sie sterben.«

»Ist das der Grund, warum du das tust?«, flüsterte Danjin. Warum flüstere ich? Denke ich, dass die Weißen mich dann nicht hören?

Mirar antwortete nicht. Sein Schweigen mochte andeuten, dass er nicht bereit war, irgendetwas zuzugeben. Dass er noch immer Gefühle für Auraya hat? Danjin dachte über Mirars Antworten nach. Er hatte nichts preisgegeben. Vielleicht will er nicht eingestehen, dass seine Gründe nicht gerade nobel sind. Dass er dies aus Rache tut.

»Gibt es irgendetwas, das die Weißen dir anbieten können?«, fragte Danjin.

Er war überrascht, Mirar seufzen zu hören. »Nein. Aber sei versichert, dass ich keine Zugeständnisse machen werde, was die Einstellung meiner Leute jedweder Gewalt gegenüber betrifft. Es ist ein Jammer, dass dein Volk nicht genauso konsequent geblieben ist. Noch vor wenigen Jahren waren sie erzürnt über die Bereitschaft der Pentadrianer, ein anderes Land anzugreifen. Jetzt trachten sie danach, ihrerseits anzugreifen. Sag den Weißen, dass sie, wenn meine Unterstützung der Pentadrianer den Zirklern zum Nachteil gereicht, ihre Invasionspläne vielleicht fallen lassen sollten. Es wäre besser für alle.«

Ärger flammte in Danjin auf. Wie konnte dieser heidnische Zauberer es wagen zu denken, er könne den Lauf eines Krieges verändern, als sei er ein Gott? Aber dann kam ihm eine Idee, bei der sich seine Entrüstung ein wenig legte.

»Wenn die Weißen also einverstanden wären, auf die Invasion zu verzichten, würdest du dann ebenfalls deine Unterstützung der Pentadrianer zurückziehen?«

Mirar hielt inne. »Ich würde es erwägen.« Er drehte sich abrupt um, um hinter sich zu blicken. »Eine Patrouille nähert sich. Du solltest gehen.«

Ein Stich der Furcht durchzuckte Danjin. »Wie weit?«

»Du hast genug Zeit fortzukommen, wenn du jetzt aufbrichst. Ich werde dein Boot so weit wie möglich aufs Meer hinausschieben.«

Danjin nickte dankbar, dann wurde ihm klar, dass man ihn bei dieser Dunkelheit wahrscheinlich ebenso schlecht sehen konnte wie Mirar.

»Danke«, sagte er.

Er wandte sich ab, eilte zu dem Boot hinüber und ging an Bord. Als er ein Spritzen von Wasser hörte, drehte er sich um und sah, dass Mirar ihm gefolgt war.

»Ich werde für Auraya tun, was ich kann«, sagte Mirar leise. »Aber sei gewarnt. Wenn sie zurückkehrt, wirst du feststellen, dass sie nicht mehr die Frau ist, die du gekannt hast. Die Götter haben sie verraten und sie benutzt wie einen Spielstein in einem Spiel schäbiger Rache untereinander. So etwas durchlebt man nicht und bleibt dabei frei von Verbitterung.«

Danjin schauderte. Diesmal hatte die Stimme des Mannes eindeutig den Klang hohen Alters und großer Erfahrung. Er hielt sich mit beiden Händen fest, als das Boot sich vom Sand befreite. Sobald es im Wasser trieb, drehte es sich, und Danjin blickte zum Ufer hinüber; er war gerade noch in der Lage, die Gestalt zu erkennen, die dort stand. Dann schnellte das Boot abrupt nach vorn. Es bewegte sich immer schneller und schneller, bis zu beiden Seiten die Gischt aufspritzte. Mit hämmerndem Herzen klammerte sich Danjin an die Seiten des Bootes. Er machte sich Sorgen, dass es gegen irgendein Hindernis prallen könnte, hatte aber zu große Angst, sich umzusehen.

Als das Boot endlich langsamer wurde, schlug eine Welle der Erleichterung über Danjin zusammen. Die Lichter der pentadrianischen Küste waren beruhigend weit entfernt. Er wandte sich um und sog die Luft ein. Die Lichter von Diamyane waren unerwartet nah.

Mirar hat mich weiter hinausgeschickt als Ella. Er runzelte die Stirn. Bedeutet das, dass er stärker ist?

Einige Minuten grübelte er über diese Frage nach. Das konnte doch gewiss nicht sein. Ella hatte Auraya ersetzt, daher musste sie ungefähr genauso stark sein wie diese. Die Götter hätten Auraya nicht den Auftrag gegeben, Mirar zu töten, wenn sie schwächer wäre als er.

Ein Spritzen in der Nähe des Bootes lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Er spähte über den Rand, ohne zu erwarten, etwas zu sehen. Doch stattdessen blickte er in ein Paar Augen.

Gelähmt vor Überraschung starrte er zurück. Dann schossen zwei dunkle Hände aus dem Wasser auf seine Kehle zu.

Er wich zurück und stieß die Hände gleichzeitig von sich, wobei er kalte, schlüpfrige Haut berührte. Die Hände packten den Rand des Bootes. Sie waren außerordentlich groß, und zwischen den Fingern spannten sich Schwimmhäute. Er hörte ein Klatschen, und als er sich umdrehte, sah er auf der anderen Seite des Bootes eine weitere Hand auftauchen - mit einer eigenartigen Waffe.

Ella!

Ich sehe sie! Gib mir einen Moment Zeit, um dich zu finden!

Köpfe tauchten auf. Schwarze, kahle Köpfe mit eigenartig trüben Augen. Furcht durchzuckte Danjin. Er griff nach einem der Riemen und schlug auf den ersten Angreifer ein. Der Kopf wurde rechtzeitig eingezogen. Er fuhr herum und attackierte den zweiten Angreifer. Ein befriedigendes Krachen war das Ergebnis.

Der Mann ließ sich ins Wasser sinken, dann verschwand auch der erste Angreifer. Danjin fragte sich, ob er ihm eine tödliche Verletzung beigebracht hatte. Wenn er den Mann verwundet hatte, würde sein Gefährte vielleicht versuchen, ihn fortzubringen. Wenn er ihn nicht verletzt oder ihn getötet hatte, würde zumindest einer der Angreifer zurückkehren, um Rache zu üben.

Zu seinem Entsetzen tauchten ganz in der Nähe zwei Köpfe im Wasser auf. Ein Mann blutete heftig aus der Nase, und sein Gesicht war zu einer Grimasse des Hasses verzerrt. Das Blut schimmerte leuchtend rot auf den weißen Zähnen des Mannes.

Aber gerade eben war es noch zu dunkel, als dass ich so gut hätte sehen können…

Die beiden Männer blickten auf, und als sie sich dem Ufer zuwandten, trat mit einem Mal Furcht in ihre Züge. Sie verschwanden unter Wasser. Danjin drehte sich nun ebenfalls um und sah einen Lichtfunken auf sich zuschnellen. Er wedelte mit den Armen, dann fiel er auf den Boden des Boots, als es sich plötzlich wieder in Bewegung setzte. Mit einem Seufzer der Erleichterung beschloss er, liegen zu bleiben.

Die Fahrt ans Ufer war barmherzig kurz. Als das Boot langsamer wurde, zog er sich wieder auf den Sitz. Ella stand am Strand, eine weiße, leuchtende Gestalt der Güte. Als das Boot den Sand hinaufglitt, kam sie ihm entgegen, obwohl sie sich dabei ihr Kleid und den Zirk durchnässte. Eine Welle der Zuneigung zu ihr stieg in ihm auf.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Danjin?«

Er stieg aus und blickte an sich hinab. »Mir geht es gut. Ich habe ein paar blaue Flecken abbekommen, aber davon abgesehen bin ich glücklich zu leben.« Er schaute hinter sich. »Was waren das für Geschöpfe?«

»Elai«, antwortete sie stirnrunzelnd. »Heute Nacht sind mehrere unserer Vorratsschiffe und ein dunwegisches Kriegsschiff versenkt worden. Das war keine Waffe, die du gesehen hast. Es war ein Werkzeug, um Löcher zu bohren.«

Danjin nickte. Natürlich. Jetzt, da sie ihn darauf hingewiesen hatte, erkannte er, dass es sich um ein Werkzeug handelte, wie man es für Schiffsreparaturen benutzte. In den Händen des Meeresgeschöpfes hatte es auf exotische Weise bedrohlich gewirkt.

»Wir werden eine Möglichkeit finden müssen, gegen sie zu kämpfen, oder wir werden hier niemals eine längere Schlacht durchstehen können«, fügte Ella hinzu.

»Nun, ich bin froh, dass er keine Gelegenheit bekommen hat, Löcher in mich hineinzubohren«, sagte er.

Sie lächelte. »Ich bin ebenfalls froh. Ich wünschte, ich hätte dich nicht dorthin schicken müssen, aber wir hätten uns sonst nur durch Arleej mit Mirar in Verbindung setzen können, und vielleicht wäre er auf irgendeinen Vorschlag eingegangen, solange seine Leute nichts davon erfuhren.«

»Hat sich denn irgendetwas daraus ergeben?«, fragte er.

Sie sah ihn an, dann zuckte sie die Achseln. »Möglicherweise. Wir werden darüber sprechen müssen. Und du solltest noch einige Stunden schlafen, bevor die Armee ankommt.«

»Ich glaube nicht, dass ich das tun werde.«

»Nein, aber du wirst es versuchen«, entgegnete sie energisch. »Ich brauche dich morgen gut ausgeruht und in bester Verfassung.«

Mit diesen Worten legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn auf die Stadt zu.

48

Als Auraya sich ihres schmerzenden Körpers wieder bewusst wurde, hätte sie um ein Haar laut aufgestöhnt.

Zumindest wenn ich schlafe, nehme ich nichts von alledem wahr. Ich verspüre weder Schmerz noch Verzweiflung, ebenso wenig wie Langeweile oder Sorgen oder… was ist das?

Etwas schnupperte an ihrem Ohr. Sie wandte den Kopf. Einen Moment lang waren runde Augen und eine spitze Nase alles, was sie sehen konnte. Eine schmale, rosige Zunge leckte ihr über die Wange.

»Owaya«, sagte Unfug leise.

»Du bist wieder da.« Sie schluchzte beinahe vor Erleichterung.

»Unfug jagen. Unfug finden.«

Er steckte sich etwas in den Mund und huschte ihren Arm hinauf.

Als sie ihre Position veränderte, ließ der Schmerz, der ihre Arme durchzuckte, sie erstarren. Sie atmete tief durch und wartete darauf, dass das Blut wieder zu fließen begann.

Das Gewicht des Veez und seine zappelnden Füße machten die Sache nicht besser. Als das Gefühl zurückkehrte, jagte ihr jede seiner Bewegungen einen Schauer der Qual über den Arm.

»Au! Das tut weh!«

Er beachtete sie nicht. Sie beugte sich vor und versuchte zu erkennen, was er tat.

Und eine Woge schwindelerregender Hoffnung raubte ihr den Atem.

Unfug hielt einen Schlüssel im Maul. Er versuchte, ihn in das Schloss der Fessel um ihr Handgelenk zu schieben. Auraya starrte ihn an, aber als sie sah, dass er das falsche Ende des Schlüssels in das Schlüsselloch zu schieben versuchte, wurde sie schlagartig wieder klar im Kopf. Sie sah zu den Wachen hinüber. Die beiden Götterdiener lehnten mit gesenktem Kopf an der Mauer neben dem Tor. Als sie ihren Geist ausstreckte, stellte sie fest, dass beide Männer verdrossen waren, weil man sie zurückgelassen hatte.

Ich bin der stärkste Ergebene Götterdiener in Glymma und ende als Gefängniswärter, dachte einer von ihnen. Ich muss etwas falsch gemacht haben. Was habe ich getan?

Auraya wandte sich wieder zu Unfug um, berührte seinen Geist und sandte ihm die Idee, den Schlüssel umzudrehen. Der Veez hielt inne, dann tat er mithilfe von Pfoten und Maul, was sie ihm vorgeschlagen hatte.

Er schien eine Ewigkeit zu brauchen, um den Schlüssel in das Schlüsselloch zu schieben. Als er sein Ziel erreicht hatte, spürte sie, dass er nicht recht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Dann fiel ihm wieder ein, wie er normalerweise Schlösser mithilfe von Magie öffnete. Im Allgemeinen gab es etwas darin, das sich drehen ließ. Er versuchte, den Schlüssel anders zu halten, aber seine Pfoten waren nicht an ein solches Vorgehen gewöhnt. Ein leises Geräusch erklang, und Auraya blickte abermals zu den Wachen hinüber. Als sie sah, dass einer sie beobachtete, krampfte ihr Magen sich zusammen.

»Du solltest dich besser beeilen«, sagte sie zu Unfug. »Oder sie werden heute Abend Veez-Braten essen.«

Als der Götterdiener die Hand nach dem Tor ausstreckte, stieg tiefe Verzweiflung in Auraya auf. Unfug musste es gespürt haben, da er plötzlich ihren Arm hinunterlief und ihr Gesicht leckte.

»Nein, nein, nein!«, murmelte sie.

Zu ihrer Erleichterung huschte er zurück zu dem Schloss und begann daran zu schnuppern. Kurz darauf hörte sie, wie das Tor geöffnet wurde und der zweite Wachposten eine Frage stellte. Sie wandte sich ab und beobachtete ängstlich, wie Unfug den Schlüssel anstarrte. Aus den Augenwinkeln sah sie die Wachen in die Halle treten.

Unfug nahm den Schlüssel ins Maul und drehte.

Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken, und Unfug sprang auf den Thron. Auraya biss die Zähne zusammen; ihr Handgelenk war so lange in einer Position festgehalten worden, dass jede Bewegung schmerzte. Trotzdem zog sie die Hand aus der Fessel und drehte sie, um nach dem Schlüssel zu greifen.

Die Schritte der beiden Götterdiener wurden lauter und dann schneller, als sie den Schlüssel herauszog und den Arm so weit verbog, bis sie den Schlüssel in die Fessel an ihrem anderen Handgelenk schieben konnte. Sie drehte ihn, und das Schloss sprang auf.

Sie nahm ein Aufblitzen von Licht wahr, das der Wachmann ausgesandt hatte, und warf sich zur Seite. Magie versengte den Sockel des Throns. Keuchend vor Anstrengung und mit rasendem Herzen ging sie hinter dem gewaltigen Stuhl in Deckung.

Ich muss aus dem Leeren Raum herauskommen! Sie konnte Schritte hören, die sich von beiden Seiten näherten. Die Götterdiener gingen um den Thron herum.

Zaghaft griff sie nach Magie - und fand sie. Der Bereich hinter dem Thron lag nicht innerhalb des Leeren Raums! Nachdem sie gierig weitere Magie in sich hineingesogen hatte, umgab sie sich mit einem Schild. Im gleichen Moment kamen die Götterdiener um den Thron herum und griffen an. Einen der Männer warf sie mit einem magischen Schlag zu Boden, dann wandte sie sich dem anderen zu. Die Augen geweitet vor Überraschung und Entsetzen, starrte er sie an.

Sie bedachte ihn mit einem Blick, von dem sie hoffte, dass er ihrem maßlosen Zorn gerecht wurde, dann machte sie einen Schritt auf ihn zu.

Er floh.

Lächelnd richtete sie sich auf, zog abermals Magie in sich hinein und sandte sie in ihren Körper, um ihn zu heilen. Aber noch während sie das tat, spürte sie, dass die Quelle verebbte. Als sie sich weiter von dem Thron entfernte, stellte sie zu ihrer Verwirrung fest, dass sie sich abermals an einer Stelle befand, an der es keine Magie gab.

Dann fiel ihr wieder ein, dass der Leere Raum in der Höhle in Si ebenfalls in seinem Zentrum Magie enthalten hatte. Ein Ring der Leere umgab einen magischen Kern. Hier war es genauso - oder zumindest war es so gewesen, bis sie die letzte Magie verbraucht hatte.

Je schneller sie den Leeren Raum verließ, desto besser. Sie ging um den Thron herum bis zum Rand des Podests und stieg dann herunter. Sie war wieder von Magie umgeben. Sie zog sie in sich hinein und spürte, wie der Schmerz zurückwich, während sie sich heilte.

»Auraya.«

Ihr Herz erstarrte, als sie die Stimme erkannte. Sie drehte sich um, und ihr Mund wurde trocken.

Eine leuchtende Gestalt stand in der Nähe, und in ihren Augen loderten Zorn und Hass.

Huan.

Auraya verstärkte hastig die Barriere um sich herum.

»Tut mir leid, dass ich dir deinen Fluchtversuch verderbe«, sagte die Göttin.

»Nein, es tut dir nicht leid«, stieß Auraya hervor. Das Entsetzen war einer eigenartigen Mischung aus Trotz und Resignation gewichen. »Du hast nach einem Vorwand gesucht, mich zu töten, und jetzt hast du ihn gefunden.«

»Ich will dich nicht töten«, erklärte Huan. »Aber ich werde es tun, wenn es sein muss.« Sie machte einen Schritt auf Auraya zu. »Ich werde einen Handel mit dir schließen.«

»Einen Handel?«

»Ja. Ich bitte nur um eine Kleinigkeit: dass du deinen Geist für mich öffnest. Dafür werde ich dich am Leben lassen.«

Auraya betrachtete die leuchtende Gestalt. Hinter den Zügen der Göttin konnte sie gerade noch den leeren Gesichtsausdruck des Götterdieners erkennen, der ihr seinen Willen überlassen hatte. Es war der Ergebene Götterdiener, der solchen Missmut darüber empfunden hatte, dass er sie bewachen musste. Der mächtigste Ergebene Götterdiener in Glymma. Die Göttin würde seine Kräfte verstärkt haben, aber in welchem Maß? Gewiss würde er nicht so stark sein wie die Stimmen.

Gleichzeitig erwog sie Huans Bitte. Was würde es schaden, wenn ich ihr meinen Geist offenbarte? Huan würde wissen, dass Auraya eine Unsterbliche geworden war, aber das vermutete sie wahrscheinlich ohnehin. Sie würde wissen, dass Auraya von Jade - Emerahl - gelernt hatte. Sie würde erfahren, dass es noch andere Wilde gab, die wussten, wie man einen Gott tötete.

Ich weiß ebenfalls, wie man einen Gott tötet. Wenn sie das sieht, wird sie mich auf jeden Fall töten.

Außerdem würde sie erfahren, dass Auraya stark genug war, um eine Göttin zu werden, aber wenn Chaia das wusste, argwöhnte Huan es vermutlich ebenfalls.

Wenn es so ist, dann muss ich stärker sein als dieser Ergebene Götterdiener.

Bei diesem Gedanken trat ein Lächeln in Aurayas Züge. »Ich glaube nicht, dass du mich daran hindern kannst fortzugehen.«

Huans Augen blitzten auf. »Du irrst dich. Aber wenn es einer Bestätigung bedarf…«

Die leuchtende Gestalt öffnete eine Hand. Weißes Licht flammte auf und prallte gegen Aurayas Barriere. Auraya taumelte rückwärts und zog weitere Magie in sich hinein, um sich zu verteidigen, dann erwiderte sie den Angriff der Göttin.

Sofort entbrannte ein tödlicher Kampf zwischen ihnen, bei dem es um Stärke und Schnelligkeit ging. Sie spürte, wie die Magie um sie herum schwächer wurde, da sie beide danach griffen. Die Luft zwischen ihnen vibrierte. Auraya wehrte Hitze, Blitze und gewaltige, unbarmherzige Stöße ab.

Sie zieht Schlag um Schlag mit mir gleich. Diese Erkenntnis war schlimmer als die ungeheure Wucht von Huans Angriff. Der Ergebene Götterdiener muss mächtiger sein, als ich gedacht habe. Wenn die Pentadrianer ihre Stimmen wählen, ist es wahrscheinlich möglich, dass es Ergebene Götterdiener gibt, die ebenso mächtig oder mächtiger sind, als die Stimmen es waren, bevor die Götter ihre Kräfte verstärkt haben.

Huan kam näher, versperrte ihr den Fluchtweg und drängte sie auf eine Seite der Halle hinüber. Auraya kam nicht an ihr vorbei. Langsam verebbte die Magie, die sie erreichen konnte, und sie musste zurückweichen, um mehr Magie in sich hineinziehen zu können. Huan beobachtete sie lächelnd.

Ich habe verloren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

Aber Auraya kämpfte weiter und weigerte sich aufzugeben. Sie benutzte die Säulen der Halle, um sich zu beschirmen. Huan sprengte große Steinbrocken aus den Säulen, und eine nach der anderen brach zusammen, bis Auraya befürchtete, dass das Dach einstürzen würde. Als die Magie in der Halle so dünn geworden war, dass Auraya ihren Angriff nicht länger aufrechterhalten konnte, verlor sie an Boden. Huan drosch auf ihre Barriere ein, die schließlich nachgab.

Eine eigenartige Macht umschlang Auraya. Sie zog sie nach vorn, bis sie nur noch wenige Schritte von der leuchtenden Gestalt entfernt war.

»Jetzt«, höhnte Huan, »öffnen wir deinen Geist.«

Halsstarriger Trotz flammte in Auraya auf. Sie wird mich ohnehin töten, ganz gleich, ob ich es tue oder nicht.

»Nein«, entgegnete sie.

Huan kniff die Augen zusammen. »Du denkst anscheinend, du hättest eine Wahl. Ich werde dich vom Gegenteil überzeugen.«

Magie entströmte der Göttin und umschlang Aurayas Körper. Drang in ihren Körper ein. Ein bohrender Schmerz pulsierte in ihren Gliedmaßen und riss an ihrem Innern. Alles um sie herum war in grelles Weiß getaucht, und ihre Augen brannten. Die ganze Welt bestand nur aus Qual.

Dann hörte es auf. Ihre Sehkraft kehrte zurück, und sie stellte fest, dass sie auf dem Boden lag, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, gefallen zu sein. Sie fühlte sich am ganzen Körper zerschunden und rang nach Luft; wahrscheinlich hatte sie während Huans Angriff zu atmen aufgehört. Unwillkürlich zog sie Magie aus der fast verebbten Quelle in sich hinein und begann, sich zu heilen.

So ist das, dachte sie. Dann soll es also Folter sein. Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, bis ihr plötzlich Mirar und Jade einfielen. Ich darf sie nicht verraten. Irgendwo in den Tiefen ihres Wesens fand sie die Kraft, Stillschweigen zu bewahren.

»Siehst du?«, sagte Huan. »Es braucht nicht allzu viel Magie. Ich kann jahrelang so weitermachen, wenn ich will. Und ich kann dir viel, viel Schlimmeres antun. Ich kann dich an Schmerzen sterben lassen. Langsam. Sehr langsam.«

Erneut fragte sich Auraya, was in ihrem Geist war, das die Göttin sehen wollte. Jades Identität kam ihr in den Sinn. Die Geheimnisse, die Mirar ihr anvertraut hatte. Die Erkenntnis, dass die Wilden irgendetwas im Schilde führten. Sie wussten, wie man Götter tötete. Wollten sie es selbst versuchen?

Ich könnte Huan das alles sehen lassen und schnell sterben. Wenn ich mich ihr widersetze, wird mir das nur Schmerz eintragen.

Aber wenn ich sie in meinen Geist einlasse, werden die Wilden jedwede Chance verlieren, die Götter zu töten.

Und die Götter verdienen es zu sterben.

Sie dachte an die Geschichten, die Jade ihr erzählt hatte, an die Lügen der Götter, an Huans Intrigen und an die zum Scheitern verurteilte Mission der Siyee. Plötzlich brodelte Zorn in ihr auf. Ich kann das ertragen. Es wird nicht leicht sein… und ich hoffe inständig, dass die Wilden Erfolg haben werden. Sie funkelte Huan an. Ich möchte nicht in dem Wissen sterben, dass ich ihnen die Chance genommen habe, dieses Miststück zu töten.

Als Huan Aurayas Blick auffing, straffte sie sich, und abermals entströmte ihr Magie. Für eine lange Zeit nahm Auraya nichts wahr als die Qual, die durch ihren Körper kroch, und die Erkenntnis, dass Schmerz ein Brennen sein konnte, eine unerträgliche Kälte, eine Vielzahl schrecklicher Gefühle.

Als es aufhörte, lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Ihre Nase blutete, und ihre Stirn pulsierte, als hätte ihr jemand mehrfach gegen den Kopf getreten. Sie versuchte sich zu bewegen, versuchte es mit aller Kraft. Endlich gehorchte ihr Körper ihrem Wunsch, und sie rollte sich auf den Rücken. Tausend verschiedene Schmerzen machten sich bemerkbar, und sie konnte kaum atmen.

Huan, die einige Schritte entfernt stand, sah auf sie herab.

»Du stirbst«, stellte sie fest.

Ihr Götter, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte ihr diesen selbstgefälligen Ausdruck aus dem Gesicht schlagen - oder ihr die Augen auskratzen! Aber… Huan kann mich nur durch die Augen eines Sterblichen sehen, ging es Auraya plötzlich durch den Kopf. Wenn ich sie aus diesem Götterdiener herauslocken kann, wird sie mich zumindest nicht sterben sehen. Ha! Wenn ich sie aus dem Götterdiener herausbekäme, könnte sie mir überhaupt nichts mehr antun!

»Wirklich Pech«, stieß Auraya mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Selbst wenn Chaia meine Seele nimmt, werde ich dir nicht verraten, was ich weiß.«

Huan lachte. »Chaia ist nicht hier. Und ich will deine Seele nicht. Du wirst aufhören zu existieren.«

Auraya lachte. »Wenn die Götter an dem Ort sein müssten, an dem ein Mensch stirbt, um seine Seele zu nehmen, könnten sie unmöglich alle Seelen aufnehmen. Sie müssten an zu vielen Orten gleichzeitig sein…« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Aber ihr nehmt keine Seelen, nicht wahr? Es ist alles eine Lüge.«

Huans leuchtende Augenbrauen hoben sich. »Tatsächlich? Was macht dich da so sicher?«

»Chaia hat es mir erzählt«, log Auraya.

»Ach ja?« Huans Augen wurden schmal. »Ich glaube nicht, dass er dich so sehr mag, wie er behauptet. Er liefert mir immer neue Gründe, dich zu töten.«

»Dann töte mich.«

Huan schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, ich würde dich sterben lassen, ohne vorher in deinen Geist zu blicken? Ich muss wissen, was er sonst noch preisgegeben hat.«

Auraya hatte nur einen Augenblick Zeit, um den bitteren Triumph über die Entdeckung auszukosten, dass Mirars »Geheimnis« der Wahrheit entsprach, bevor der Schmerz von neuem einsetzte. Diesmal war es noch schlimmer, und als der Angriff endete, blieb der Schmerz bestehen. Sie spürte warme Feuchtigkeit hinter dem Kopf, und als sie sich bewegte, knirschte ihr Schädel auf beunruhigende Weise. Ein Stechen in einem ihrer Arme sagte ihr, dass ein Knochen gebrochen war. Ihre Fersen schienen in Flammen zu stehen. Ihr ganzer Körper war zerschunden. Ihr Kiefer tat weh, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Zähne sich gelockert hatten.

Huan sah lächelnd auf sie herab. »Öffne mir deinen Geist, Auraya.«

Wenn ich das tue, wird sie den Götterdiener verlassen müssen, dachte Auraya. Das ist mein Köder. Wenn sie zu mir kommt, werde ich meinen Geist wieder verschließen. Aber ich kann sie nicht daran hindern, in den Götterdiener zurückzukehren…

Sie stöhnte. Der Schmerz in ihrem Kopf verschlimmerte sich. Sie zog Magie in sich hinein und begann, den Schaden zu heilen, und der Schmerz verebbte ein wenig. Es ist ein Glück, dass ich nicht in dem Leeren Raum bin.

Der Leere Raum! Wenn sie Huan dazu bringen konnte, ihn zu betreten… Nein, darauf würde die Göttin niemals hereinfallen.

»Öffne deinen Geist, und der Schmerz wird enden«, gurrte Huan und beugte sich über sie.

Ich brauche einen Leeren Raum. Sie erinnerte sich an ihre Vermutung darüber, wie sie entstanden sein mussten. Ich muss an einem bestimmten Ort alle Magie abziehen. Wenn Huan es spürt, wird sie sich davon entfernen. Und dann werde ich keine Magie mehr haben, um mich zu heilen. Abgesehen von allem, was ich vorher in mich hineingezogen habe…

»Lass mich einfach in deinen Geist sehen, und es wird alles vorüber sein.«

Sie fortlocken… einen Leeren Raum schaffen… sie daran hindern, in den Götterdiener zurückzukehren. Plötzlich fügte sich alles zusammen. Auraya schlug die Augen auf und starrte Huan an.

»Also schön«, krächzte sie. »Schau hinein. Schau hinein und sieh, wie sehr ich dich hasse.«

In Huans Augen blitzte Triumph auf. Ihre leuchtenden Züge verschwanden, und das Gesicht des Ergebenen Götterdieners erschien. Er blinzelte überrascht.

Auraya streckte ihren unversehrten Arm aus und packte den Mann am Knöchel. Gleichzeitig zog sie alle Magie in sich hinein, die sie spüren konnte. Macht durchströmte sie. Ihre Sinne ganz und gar auf die Magie der Welt eingestellt, spürte sie, wie eine Präsenz fortgezwungen wurde und dann floh. Sie spürte, wie die Magie um sie herum sich teilte wie ein zerrissener Stoff und eine Sphäre des Nichts zurückließ.

Es war ein Riss in der Welt, etwas Schreckliches. Sie schrie entsetzt auf. Eine andere Stimme erklang, und sie spürte Hände um ihren Arm. Als der Ergebene Götterdiener ihre Hand von seinem Knöchel zog, riss der Schmerz sie zurück in die Welt.

Er wird andere herrufen, falls Huan das nicht bereits getan hat, dachte sie, und Panik stieg in ihr auf. Magie entströmte ihr. Da der Mann sich noch immer in dem Leeren Raum befand, hatte er keine Chance, sich zu beschirmen. Sie hörte seine Knochen bersten, als der Angriff ihn traf. Er flog rückwärts durch den Raum und fiel mit zuckenden Gliedern zu Boden.

Sie verwandte nur einen flüchtigen Augenblick des Mitleids auf ihn, dann schrie ihr Körper wieder nach ihrer Aufmerksamkeit. Sie benutzte alle Magie, die sie in sich hineingezogen hatte, und heilte möglichst viel von dem Schaden in ihrem Körper, bevor sie aus dem Leeren Raum kroch und abermals nach Magie griff. Gebrochene Knochen fügten sich langsam zusammen, Schwellungen gingen zurück, und blaue Flecken verblassten. Schließlich erhob sie sich. Abermals wurde sie von stechenden Schmerzen bestürmt, als die Nerven, die unter Huans Folter bis zum Bersten gespannt worden waren, protestierten.

Sie ging zum Tor, wo stärkere Magie sie umgab. Sie brauchte nur wenig davon, um das Schloss aufzubrechen. Dann drehte sie sich um und ließ den Blick durch die Halle wandern. Ihr kam der Gedanke, dass sie sie mühelos zerstören könnte. Aber dann fiel ihr ein, dass sich noch jemand darin befand, dem sie auf keinen Fall Schaden zufügen wollte.

»Unfug«, rief sie leise. »Unfug!«

Eine kleine, pelzige Gestalt sprang vom Thron und kam auf sie zugehüpft. Der Veez schnellte an ihrer blutverschmierten Kleidung empor, hinauf auf ihre Schultern. Auraya kraulte ihn zwischen den Ohren und trat aus der Halle in den Tunnel.

Und fand sich einer Handvoll Götterdienern gegenüber. Sie standen in einer Reihe und blockierten den Durchgang. Einen Moment später spürte sie, wie Huan sich ihnen anschloss.

Bei den Göttern, verflucht soll sie sein!, schoss es ihr durch den Kopf. Dann wurde ihr die Ironie dieses Gedankens bewusst, und sie stieß ein halb ersticktes, irre klingendes Lachen aus.

Sie kann mich nur angreifen, wenn sie von einem Götterdiener Besitz ergriffen hat, aber diese Männer sind wahrscheinlich nicht so stark wie der letzte. Die Starken sind in die Schlacht gezogen.

Als die Götterdiener sie attackierten, stellte Auraya zu ihrer Erleichterung fest, dass sie recht gehabt hatte. Aber weitere würden sich dieser Gruppe anschließen, während sie versuchte, sich einen Weg aus dem Gebäude zu kämpfen.

Muss ich das überhaupt tun?

Abermals verspürte sie den Drang, diesen Ort zu zerstören. Sie wusste, dass sich über der Halle eine dicke Felsschicht befand, auf der die Gebäude des Unteren Sanktuariums standen. Sie entfernte sich einige Schritte von den Götterdienern und zog sich auf die Seite der Halle zurück, in der es noch Magie gab. Die Männer folgten ihr. Als sie direkt innerhalb des Tores stand, wandte sie sich zu dem Raum um, zog Magie in sich hinein und richtete sie gegen die Decke.

Ein ohrenbetäubendes Dröhnen folgte, und der Boden zitterte. Dort, wo ihre Magie eingeschlagen war, wurden Risse sichtbar. Trümmer regneten in die Halle hinab. Der Angriff der Götterdiener stockte. Als Auraya hinter sich blickte, sah sie, dass die Männer entsetzt zurückwichen.

Sie brauchte noch drei weitere Stöße, ein jeder mächtiger als der vorangegangene, um durchzubrechen. Risse durchzogen die Decke der Halle, und schwaches Sonnenlicht sickerte hindurch und schuf Vorhänge aus Licht in dem Staub, der die Trümmer auf dem Boden einhüllte.

Die Götterdiener waren geflohen.

Auraya hielt inne, um den zitternden Unfug zu streicheln, der sich jetzt hinten an ihrem Hemd festklammerte. Dann richtete sie sich auf, sog gierig Magie in sich hinein und ließ sie frei. Mit einem schrecklichen Krachen stürzte ein großes Stück der Decke in die Halle und begrub den Thron unter sich. Trümmer flogen an Auraya vorbei und prasselten auf ihre Barriere. Sie wartete nicht darauf, dass der Staub sich legte, sondern stieg über die Steinbrocken hinweg, wobei sie darauf achtete, keinen der beiden Leeren Räume zu betreten.

Über ihr erschienen weiße Wände, ein Teil des Sanktuariums. Beim Anblick des Himmels darüber sang ihr Herz. Der Himmel war rosafarben. Morgendämmerung.

»Owaya fliegen«, sagte Unfug ihr ins Ohr.

»Ja«, erwiderte sie. »Halt dich gut fest.«

Sie spürte, wie der Veez sich an sie klammerte, dann stieg sie aus dem Loch auf und in den Himmel empor.


Die Sonne geht auf, sagte Tamun. Schon bald werden die Armeen erwachen. Heute wird sich die Welt abermals verändern, ganz gleich, ob wir Erfolg haben oder nicht.

Emerahl verbarg ihre Erheiterung. Manchmal redeten die Zwillinge wie Geschichtenerzähler, mit dramatischem Tonfall und nicht minder dramatischen Worten. Sie waren in älteren Zeiten aufgewachsen, und vielleicht war das der Grund, warum sie sprachen wie Figuren in einem historischen Schauspiel.

Nein, ich glaube nicht, dass die Menschen in ferner Vergangenheit so geredet haben, wenn sie die Wäsche wuschen oder eine Mahlzeit zubereiteten, überlegte sie. Dies ist lediglich die Art der Zwillinge, uns daran zu erinnern, dass unser Plan ebenso riskant ist wie die Taten der Helden aus alter Zeit und dass unser Vorhaben die Welt dramatisch verändern wird.

Dann erklang eine neue Stimme in ihrer Vernetzung.

Ich bin fertig, eröffnete die Möwe ihnen. Ich habe einen Tunnel unter der gesamten Landenge geschaffen und mit dem verbunden, den Emerahl benutzt hat. Außerdem habe ich Tunnel gegraben, die von dem Längstunnel in der Mitte zu beiden Seiten abzweigen und ins Meer führen, so dass Tamun und Surim ein Versteck für sich selbst und ihre Boote haben werden.

Dazu musst du die ganze Nacht gebraucht haben, sagte Emerahl beeindruckt. Wenn wir heute unsere Chance nicht bekommen, wird dieser Ort wie geschaffen dafür sein, die Götter zu einem späteren Zeitpunkt dorthin zu locken.

Nur wenn wir bald einen sechsten Unsterblichen finden, sagte die Möwe warnend. Nach allem, was ich getan habe, wird die Landenge nicht mehr lange existieren.

Falls sich keine Gelegenheit bieten sollte - und es sieht nicht danach aus -, müssen wir weiter Ausschau nach neuen Unsterblichen halten, bemerkte Emerahl. Da die Zirkler und die Pentadrianer mächtige Zauberer schon in jungen Jahren auswählen, müssen wir damit rechnen, in ihren Reihen geeignete Kandidaten zu finden. Es wird allerdings schwer werden, jemanden für unsere Sache zu gewinnen.

Und sobald es uns gelungen ist, werden wir nach einer Möglichkeit suchen, alle Götter gleichzeitig an einen Ort zu holen, wo wir sie umringen können, fügte Surim hinzu.

Surim? Tamun? Jetzt hatte sich auch Mirar zu ihnen gesellt.

Mirar, antworteten sie.

Die Pentadrianer rüsten sich für die Schlacht. Dies wird meine letzte Gelegenheit sein, mich mit euch zu vernetzen. Seid ihr alle bereit?

Noch nicht ganz, antwortete Surim. Wir sind in Diamyane eingetroffen. Die Möwe hat die Tunnel angelegt, daher sollten er, Surim und ich in Bälde unsere Positionen eingenommen haben. Emerahl muss auf die Weißen warten. Wie geht es Auraya?

Ich weiß es nicht. Sie hat nicht geschlafen, als ich mich mit ihr in Verbindung setzen wollte. Ich habe es mit Gedankenabschöpfen versucht, aber es ist niemand dort. Nicht einmal Wachen.

Ich werde es ebenfalls versuchen, erbot sich Surim.

Sie warteten schweigend. Emerahl fragte sich, ob die anderen die gleiche Furcht verspürten. Die Stimmen hatten möglicherweise den Befehl hinterlassen, Auraya zu töten, weil sie dachten, dass Mirar erst nach der Schlacht von dem Verrat erfahren würde. Das würde den Mangel an Wachen erklären. Es hatte keinen Sinn, eine tote Gefangene zu bewachen.

Sie war der einzige Schwachpunkt in unserem Plan, sagte Surim leise. Wir haben eine perfekte Falle aufgebaut; wir wissen, dass wir Leere Räume schaffen können, da es Tamun gestern gelungen ist. Jetzt hätten wir nur noch Auraya gebraucht.

Wir mussten trotzdem hier sein, nur für den Fall des Falles, wiederholte Emerahl dieselben Worte zum tausendsten Mal. Ihr wurde flau vor Enttäuschung. Wenn wir die Geheimnisse der Götter früher entdeckt hätten, hätten wir alle nach einer Möglichkeit suchen können, sie zu befreien.

AURAYA IST FREI!

Surims Stimme war so laut in Emerahls Geist, dass sie um ein Haar aus der Traumvernetzung herausgerissen worden wäre.

Sie lebt? Sie ist frei? Wie? Wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?, fragte Mirar hektisch.

Ah! Ich sehe sie. Sie beraubt gerade einen Kaufmann, bemerkte Tamun trocken. Sie stiehlt etwas zu essen. Etwas Tuch. Ah, sie hat dem Mann versprochen, zurückzukehren und ihn zu bezahlen, wenn sie kann. Er glaubt ihr natürlich nicht, und ich…

Das ist ein schönes Stück Tuch, fügte Surim hinzu. Wer hätte gedacht, dass sie einen so guten Geschmack hat. Ich schätze, dass ihr diese törichten weißen Roben schon lange gegen…

Sie hat nicht viel Auswahl, rief Tamun ihm ins Gedächtnis. Sie kann unmöglich mit diesem schmutzigen Lumpen am Leib…

WO IST SIE?, fragte Mirar.

Die Zwillinge hielten inne.

In der Nähe der Berge.

Das ging aber schnell, warf die Möwe ein. Die Berge sind mehrere Tagesritte von Glymma entfernt.

Sie reist sehr schnell, wenn sie will, sagte Mirar stolz.

Das ist gut, denn wenn sie herkommen und uns helfen will, ist Eile geboten, sagte Surim.

Warum ist sie in die Berge gegangen?, fragte Emerahl. Die Schlacht findet in der entgegengesetzten Richtung statt.

Sie möchte sich so weit wie möglich von den Stimmen und den Göttern entfernen, mutmaßte Mirar.

Und sie hat sich nicht zu den Weißen gesellt, sagte Tamun. Du hast ihr erzählt, dass du die Stimmen verteidigen würdest. Sie weiß, dass den Weißen eine sichere Niederlage bevorsteht. Hat sie sich von ihnen abgewandt, oder wartet sie nur auf den richtigen Zeitpunkt?

Darauf habe ich keine Antwort. Aber du kannst dir sicher sein, dass sie eine Möglichkeit zu handeln hat, von der sie gar nichts weiß, weil du mir nicht erlauben wolltest, ihr unsere Pläne mit den Göttern zu eröffnen.

Wir müssen sie einweihen, sagte Surim.

Nein, das ist zu riskant, protestierte Tamun. Wenn sie uns an die Götter verrät…

Wir sind in der Hoffnung hergekommen, dass wir eine Chance bekommen könnten. Wenn sie nicht Bescheid weiß, wird es diese Chance nicht geben.

Wie können wir sie erreichen?, fragte Mirar. Sie ist wach und wird wahrscheinlich auch wach bleiben, bis sie eine noch größere Strecke zurückgelegt hat. Wartet… ich habe eine Idee.

Sein Geist zog sich aus der Vernetzung zurück.

Wir dürfen es ihr nicht sagen, begann Tamun. Es ist ein zu großes…

Tut mir leid, Schwester, unterbrach Surim sie. Aber du bist überstimmt. Hab ich recht? Emerahl?

Es ist ein Risiko, antwortete Emerahl. Aber ich glaube nicht, dass sie uns an die Götter verraten würde. Nicht wenn sie weiß, dass wir ohne sie ohnehin nichts ausrichten können. Sie hat in der Vergangenheit alles darangesetzt, uns keinen Schaden zuzufügen.

Bist du dir sicher?

Ich bin mir niemals absolut sicher.

Möwe?, fragte Tamun.

Emerahl und Mirar kennen sie am besten. Ich stimme den beiden zu.

Ihr seid alle Narren. Wenn sie…

Jade?

Sie alle verstummten, überrascht, Aurayas Stimme zu hören.

Ja, ich bin es, sagte Emerahl hastig, als sich das Schweigen in die Länge zog.

Oder sollte ich sagen, Emerahl?

Das ist mein ältester Name.

Unfug hat gerade angefangen, im Schlaf Namen zu bellen. Da waren Mirar und du und dann noch »Willinge«.

Die Zwillinge.

Also hat sich einer von euch im Traum mit Unfug vernetzt?

Ja, sagte Mirar. Das war ich.

Wer sind die anderen?

Wir sind die Zwillinge.

Die Zwillinge, hm? Ich dachte, ihr wärt schon lange tot.

Ganz und gar nicht. Ich bin Surim.

Und ich bin Tamun.

Hallo, sagte Auraya. Man begegnet nicht jeden Tag einem Mythos. Da war noch ein anderer Name. Klang wie »Löwe«.

Das war dann wohl ich, die Möwe.

Ah. Ein weiterer lebender Mythos.

Du bist also entkommen, sagte Tamun.

Ja. Was ich zum Teil Unfug verdanke. Er hat mir den Schlüssel gebracht.

Was wirst du jetzt tun?, fragte Mirar.

Ich weiß es nicht.

Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.

Seid ihr in Schwierigkeiten?

Nicht direkt… und keiner von uns würde dir einen Vorwurf machen, wenn du unsere Bitte ablehnst.

Sag mir, worum es geht.

Emerahl erklärte, dass die Leeren Räume Orte seien, an denen Götter ihren Tod gefunden hatten.

Ich weiß. Mirar hat es mir erzählt. Der Zirkel hat die anderen Götter getötet, indem er die Magie von diesen Stellen abgezogen hat, nicht wahr?

Ja. Hat er dir das erzählt?

Nein. Ich hatte vor kurzem eine interessante Erfahrung mit Huan.

Wirklich?

Sie hat mich angegriffen. Da ist mir wieder eingefallen, was Mirar von Leeren Räumen gesagt hat, und ich habe beschlossen, eine Theorie zu überprüfen, die ich während der langen Stunden der Gefangenschaft in einem Leeren Raum entwickelt habe.

Huan ist tot?, fragte Surim aufgeregt.

Nein. Sie ist mir ausgewichen. Aber das ist vermutlich der Grund, warum ihr mich braucht. Ihr braucht sechs Unsterbliche, um zu verhindern, dass sie entkommen.

Ja, erwiderte Emerahl. Wirst du uns helfen?

Ja.

Es folgte ein langes Schweigen. Emerahls Erregung wuchs, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Die Chance war gekommen. Es würde funktionieren.

Was ist mit Chaia?, fragte Tamun.

Wieso musstest du jetzt diese Frage stellen!, rief Surim aus.

Weil wir nicht wollen, dass sie im letzten Augenblick ihre Meinung ändert, antwortete Tamun.

Chaia hat versucht, mich zu töten, erklärte Auraya ihnen. Er ist genauso wie die anderen. Wenn ich ihm nicht trauen kann, dann bin ich genau wie jede andere Wilde…

Wir wissen, was du meinst, versicherte ihr Surim. Keinem von uns gefällt die Aussicht, sich über Jahrtausende hinweg wie ein Verbrecher verstecken zu müssen. Deshalb sind wir hier.

Erklärt mir euren Plan.

Als Tamun diesen zu erläutern begann, hätte irgendetwas - der Klang eines Horns - Emerahl um ein Haar aus dem Schlaf gerissen.

Ich muss Schluss machen, erklärte sie.

Dann kehrte Emerahl jäh ins Bewusstsein zurück und sah sich Arleej gegenüber, die sich über sie beugte.

»Tut mir leid, wenn ich dich bei etwas gestört habe«, sagte die Frau. »Aber der Bote der Weißen steht an der Tür und fragt, warum wir uns ihnen noch nicht angeschlossen haben.«

49

Außerstande, ein Gähnen zu unterdrücken, legte Danjin eine Hand auf den Mund. Trotz Ellas Befehl hatte er nicht gut geschlafen. Als das Horn blies, um die Armee zu wecken, hatte seine Erleichterung darüber, dass die Nacht vorbei war, ihn gerade so weit entspannt, dass er eingeschlafen war. Als er wieder aufwachte und Ellas Zelt erreichte, war sie bereits fort. Ein Diener teilte Danjin mit, wo sie zu finden sei. Diese Nachricht hatte ihn dann endgültig geweckt.

Sie war zu den Weißen auf der Landenge gegangen.

Nachdem er das Zelt verlassen hatte, war er bis zum Beginn der Landenge gerannt. Dort hatte er zu seiner Erleichterung erfahren, dass die Weißen noch nicht weitergezogen waren. Ella lächelte, als sie ihn sah, dann winkte sie ihn zu sich.

»Ich wollte dich nicht wecken«, erklärte sie. »Nach der letzten Nacht brauchtest du dringend Ruhe.«

»Hmpf«, brummte er. »Ich kenne die Wahrheit. Du wolltest dich ohne mich davonstehlen.«

Sie grinste. »Ha! Du bist zu klug für mich.« Dann wurde sie wieder ernst. »Bist du dir sicher, dass du mitkommen willst? Wir nehmen nur eine kleine Gruppe Zeugen mit. Unter ihnen sind mit mächtigen Gaben gesegnete Priester und Priesterinnen, außerdem Traumweber, aber sie werden dich vielleicht nicht schützen können, wenn die Stimmen mit ihrer ganzen Macht angreifen.«

Ein Stich der Furcht durchzuckte Danjin. Er tat ihn mit einem Achselzucken ab.

»Im Krieg gibt es immer Risiken, und du wirst mich vielleicht brauchen.«

Er sagte nicht, warum. Falls Auraya sich dem Feind angeschlossen hatte, bestand eine geringe Chance, dass seine Anwesenheit sie vielleicht dazu bringen könnte, ihre Meinung zu ändern. Es war eine sehr geringe Chance, aber es lohnte sich, wenn sie für diesen Fall bereit waren.

Ella nickte. »Es ist möglich, dass wir dich brauchen, ja.« Sie blickte an ihm vorbei. »Und hier kommen unsere Traumweber. Ich bezweifle, dass sie einen so guten Grund wie du hatten, zu verschlafen.«

Als Danjin sich umdrehte, sah er mehrere Männer und Frauen in Traumweberwämsern näherkommen. Er erkannte die Traumweberälteste Arleej und Traumweberratgeberin Raeli. Die beiden entfernten sich von dem Rest der Gruppe und gingen auf Juran zu. Als ihr kurzer Wortwechsel endete, lächelte Ella.

»Es wird Zeit, dass wir unsere Gegner kennenlernen«, sagte sie. »Sei vorsichtig, Danjin.«

»Das werde ich«, versicherte er ihr.

Als sie sich zu den Weißen gesellte, trat er neben Lanren Liedmacher. Der Militärratgeber lächelte grimmig, dann folgten sie den Weißen, die sich auf den Weg über die Landenge machten.

Alle schwiegen. Danjin beobachtete abwechselnd die weißen Gestalten vor ihm, deren Zirks sich im Gehen sanft hinund herwiegten, und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Straße vor ihnen, wobei er versuchte, den Feind auszumachen. Die Zeit schleppte sich dahin. Die Sonne stieg höher, und ihre Strahlen verströmten schon jetzt eine Wärme, die einen heißen Tag versprach. Das Wasser schwappte in einem sanften, aber beständigen Rhythmus an die Seiten der Landenge.

Sie mussten bereits über eine Stunde gegangen sein, als Lanren befriedigt mit der Zunge schnalzte. »Da kommen sie.«

Danjin starrte in die Ferne, konnte aber nichts erkennen. Vielleicht waren irgendwo in dem Dunst vor ihnen dunkle Flecken auszumachen.

»Du hast gute Augen, Lanren.«

Der Mann zuckte die Achseln.

Mehrere weitere Minuten verstrichen, bevor die dunklen Punkte in der Ferne zu sich bewegenden Gestalten wurden. Als diese sich in menschliche Umrisse verwandelten, war Danjin davon überzeugt, noch einmal eine Stunde gegangen zu sein.

Langsam wurden weitere Einzelheiten deutlich. Es waren sechs Personen. Fünf davon trugen Schwarz. Der andere verschmolz beinahe mit dem Grau der Straße.

Mirar, dachte Danjin. Er beschwor Erinnerungen an den Mann herauf, mit dem er in der vergangenen Nacht gesprochen hatte, und verspürte eine Mischung aus Sympathie und Verärgerung.

Ich wünschte, Auraya hätte ihn getötet. Ich verstehe, warum sie es nicht getan hat, aber wenn sie ein klein wenig härter gewesen wäre, stünden die Chancen jetzt nicht gegen uns.

Schon bald konnte Danjin feststellen, welche der Stimmen männlich und welche weiblich waren. Vier von ihnen erkannte er, aber er interessierte sich mehr für den einen, den er nicht kannte. Nekaun, die neue Erste Stimme, war auf eine exotische Weise attraktiv. Er verströmte Arroganz und lächelte, während er auf die Weißen zuschritt.

Als Danjin auf die kleine Ansammlung von Menschen blickte, die den Stimmen folgte, erlitt er einen leichten Schock. Ein großer, kahlköpfiger Mann mit dunkler Haut war unter ihnen. Er hatte zu große Ähnlichkeit mit den Meeresmenschen, die Danjin angegriffen hatten, um nicht derselben Rasse anzugehören. Goldener Schmuck glänzte im Licht. In diesem Moment tauchte der Mann ein Tuch in eine große Schale, die ein Diener an seiner Seite trug, und bespritzte sich mit der Flüssigkeit.

Das muss der König der Elai sein, dachte Danjin. Die Weißen hatten die Anführer von Somrey, Toren, Genria, Sennon und Si nicht mitgebracht, für den Fall, dass es zu einem magischen Kampf kam und sie außerstande sein würden, mehr als sich selbst zu schützen. Die Stimmen mussten sich ihrer überlegenen Stärke sehr sicher sein. Nun, sie haben Mirar auf ihrer Seite, daher sind sie eindeutig im Vorteil.

Einige Schritte voneinander entfernt blieben die Weißen und die Stimmen stehen und musterten einander wachsam. Danjin hörte hinter sich eine Traumweberin leise sprechen.

»Mirar ist bei den Stimmen. Solange wir hier zurückbleiben, können wir den Vorteil, den sie durch ihn haben, nicht wettmachen.«

»Wir werden uns ihnen anschließen, falls sie zu kämpfen beginnen«, erwiderte Arleej.

»Dann könnte es zu spät sein«, beharrte die Frau.

Er wandte sich um, um festzustellen, wer da gesprochen hatte, hielt dann aber jäh inne, als er sah, dass Lanren zum Himmel emporblickte.

»Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte der Mann.

Danjin drehte sich gerade rechtzeitig wieder um, um etwas Blaues über den Himmel huschen zu sehen. Es kam auf sie zu und nahm Gestalt an. Eine weibliche Gestalt. Als ihm klar wurde, wer es war, wurden ihm die Knie schwach und eine Welle der Erleichterung und des Glücks schlug über ihm zusammen.

Auraya.

Sie war endlich frei, und sie war gekommen, um ihnen zu helfen. Die Pentadrianer waren nicht länger im Vorteil. Jetzt waren die Zirkler stärker, falls Mirars Behauptung, nicht kämpfen und töten zu wollen, der Wahrheit entsprach. Auraya würde für die Zirkler kämpfen und für die Götter.

Die Weißen hatten sie jetzt ebenfalls bemerkt. Die Stimmen folgten ihrem Blick, und das Lächeln des Anführers verschwand. Auraya ließ sich tiefer sinken, und der blaue Stoff ihres Kleides umwogte sie. Als sie näher kam, sah er, wie dünn und blass sie war. Sie trug gar kein Kleid, sondern hatte sich ein Stück Tuch um den ausgezehrten Leib gewickelt.

Er lächelte in sich hinein. Nach dem Ausdruck auf den Gesichtern der Stimmen zu schließen, gehörte Aurayas Erscheinen nicht zu ihrem Plan.

Dann hielt Auraya abrupt inne und schwebte für eine Weile über den Weißen und den Stimmen. Ihre Miene zeigte etwas, das er noch nie zuvor in ihren Zügen gesehen hatte.

Es waren Zorn und Hass.


Während Auraya von hoch oben beobachtete, wie die Weißen und die Stimmen sich einander näherten, löste sich der Knoten in ihrem Magen. Sie konnte Mirar an der Seite der Stimmen ausmachen. Etwa hundert Schritte hinter den Anführern gingen die Gefährten und Götterdiener. Das Schlusslicht bildeten Ratgeber, Priester, Priesterinnen und Traumweber.

Kann ich wirklich tun, was die anderen Unsterblichen von mir wollen? Wenn sie Huan töten wollten, würde ich ihnen alle Unterstützung geben, um die sie gebeten haben, aber Chaia…

Was war mit Chaia? Er hatte versucht, sie zu töten.

Aber er war in der Vergangenheit so gut zu ihr gewesen.

Das macht seinen Verrat umso schlimmer. Wenn ich seinen Köder geschluckt hätte, wäre ich gestorben, ohne zu wissen, dass er sich gegen mich gewandt hat.

Und die anderen Götter? Sie hatten ihr nichts angetan. Und sie haben auch nichts getan, um mir zu helfen. Ich habe erlebt, wie sie ganz nach Laune einmal Chaia und dann wieder Huan unterstützt haben.

Und die pentadrianischen Götter? Sie wusste nichts von ihnen. Aber sie hatten ihr Volk gegen Nordithania in den Krieg ziehen lassen. Sie hatten Nekaun befohlen, seinen Schwur zu brechen und sie unter dem Sanktuarium anzuketten.

Dann kam ihr ein neuer Gedanke.

Sie müssen ebenfalls sterben. Wenn die zirklischen Götter sterben, wird Nordithania verletzbar sein. Die Pentadrianer werden es abermals angreifen. Es wird zu viel Blutvergießen geben.

Wenn alle Götter an diesem Tag getötet wurden… Es würde keinen Grund mehr für eine Schlacht geben. Sie konnte den Tod vieler Menschen verhindern.

Nur nicht den Tod der Götter natürlich. Aber das erscheint mir gerecht. So lange haben sie uns in dem Glauben gelassen, sie könnten uns ein Leben nach dem Tod geben, obwohl sie uns in Wirklichkeit nur Lügen aufgetischt haben, damit wir ihnen gehorchten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass sie das gleiche Schicksal erleiden.

Aber wie würde die Welt ohne Götter sein? Würden die Sterblichen ohne ihre Leitung in Chaos und Barbarei versinken? Würden die Zauberer ihre Macht missbrauchen, wenn es keine Priesterschaft mehr gab, die die mit Gaben gesegneten Menschen ausbildete und leitete?

Und dieser Krieg ist nicht barbarisch? Die Götter missbrauchen ihre Macht nicht ebenfalls?

Die Weißen vor ihr gingen jetzt langsamer. Sie hatten sich den Stimmen bis auf hundert Schritt genähert. Schließlich blieben beide Gruppen etwa ein Dutzend Schritte voneinander entfernt stehen.

Wo sind die Götter? Plötzlich durchzuckte sie die Erkenntnis, dass sie sie nicht spüren konnte, und sie streckte ihre Sinne aus. Dann konnte sie mit einem Mal etwas wahrnehmen - den Zirkel. Die Götter huschten so schnell zwischen den Weißen und den Stimmen hin und her, dass Auraya sie nicht bemerkt hätte, hätte sie nicht nach ihnen Ausschau gehalten. Verwirrt über dieses Verhalten ließ sie sich tiefer hinabsinken und konzentrierte sich noch mehr auf ihr Tun. Obwohl sie weder die Gedanken der Stimmen noch die der Weißen lesen konnte, konnte sie nach wie vor die Stimmen der Götter hören.

Bruchstücke von Gesprächen erreichten sie.

…wir haben dem niemals zugestimmt.

Sie erkannte Huan.

Natürlich haben wir das getan. Wir wussten, dass es Elemente geben würde, die sich unserer Kontrolle entzogen, entgegnete Chaia.

Kleinigkeiten. Das Wetter oder Krankheiten. Nicht diese verfluchten Unsterblichen, die sich in alles einmischen. Du hast sie ermutigt…

Ich habe niemals auch nur einen von ihnen zu irgendetwas ermutigt.

Du hast sie uns nicht vom Hals geschafft! Du hast Auraya verraten, dass wir keine Seelen nehmen!

Das habe ich nicht getan.

Würdet ihr endlich aufhören zu streiten? Das war Lore. Gleich beginnt der beste Teil des Spiels.

Ein Spiel? Auraya schüttelte den Kopf. Was für ein Spiel? Und warum sind sie in den Gedanken beider Seiten? Wie können die Götter überhaupt in den Geist der Stimmen eindringen? Gewiss würden die pentadrianischen Götter das verhindern. Und wo sind die pentadrianischen Götter überhaupt?

Dann dämmerte ihr plötzlich die Antwort. Es war so offensichtlich, dass sie sich wie eine Närrin fühlte, weil sie es nicht vorher begriffen hatte.

Die zirklischen Götter sind die pentadrianischen Götter.

Als ihr die Wahrheit aufging, begann ihr Körper vor Zorn zu zittern. Sie waren alle getäuscht und verraten worden. Die Weißen, die Stimmen, alle Sterblichen, überall. Chaia hatte sich nicht als Sheyr ausgegeben, als er in die Halle kam. Er ist Sheyr.

Die Götter stritten nach wie vor. Immer noch benommen von der Erkenntnis der Wahrheit, musste Auraya sich dazu zwingen, sich wieder auf das Gespräch der Götter zu konzentrieren.

…nicht interessant!, zischte Huan. Es ist kein gerechter Wettkampf.

Die Wilden sind ein unkontrollierbares Element. Das ist doch aufregend, widersprach Lore ihr.

Ich bin Huans Meinung, warf Yranna ein. Wir haben uns von Anfang an auf gewisse Regeln verständigt. Wenn eine Seite wegen der Wilden den Sieg davontragen sollte, wäre es kein richtiger Wettbewerb.

Ein plötzlicher Verdacht stieg in Auraya auf. Sie schob ihn beiseite. Diese Möglichkeit war einfach zu furchtbar.

Wir können jetzt nichts mehr daran ändern, sagte Chaia. Lasst uns einfach die Schlacht genießen.

Aurayas Herz erstarrte.

Die Schlacht genießen.

Wenn Chaia sie nicht zu töten versucht hätte, hätte sie niemals geglaubt, dass er etwas Derartiges würde sagen können. Aber er hatte es getan, und sie hatte ihn gehört. Ihm war nicht klar, dass sie in der Nähe war und ihn und die anderen Götter belauschte. Sie konnte ihr Gespräch weiter verfolgen. Das Wort »Spiel« fiel wieder und wieder. Und mit jedem Mal brach ein wenig mehr von ihrem Widerstand gegen die Wahrheit weg. Sie betrachtete die Stimmen und die Weißen. Weißgekleidete Männer und Frauen, schwarzgekleidete Männer und Frauen. Spielsteine. Und das Brett war die ganze Welt.

Wir sind nichts weiter als Spielsteine für sie.

Sie ließ sich hinabsinken, auf der Suche nach einer Stelle direkt über den Stimmen, den Weißen und den Göttern, die wie Aasvögel um sie herumschwirrten.


Als Auraya, umwogt von blauem Tuch, vom Himmel herabgekommen war, hatte Mirars Herz kurz zu schlagen aufgehört. Einen Moment lang war er voller Zweifel. Sie würde sich den Weißen anschließen. Sie würde die Unsterblichen verraten.

Jetzt würden sie einander in der Schlacht gegenüberstehen. Und im Gegensatz zu ihm war sie bereit zu töten.

Dann hielt sie inne und schwebte über ihnen. Die Weißen und die Stimmen starrten zu ihr empor.

Jemand stieß ihm in die Rippen. Er drehte sich zu der zweiten Stimme Imenja um. Ihre Miene war grimmig.

»Ich schätze, unser Handel ist geplatzt«, murmelte sie. »Geh, wenn du es wünschst. Ich werde dafür sorgen, dass er dich nicht aufhält.«

Er sah sich um. Alle Stimmen und alle Weißen waren wie gebannt von Aurayas Anblick. Dann nahm Mirar eine Bewegung hinter den Weißen wahr und sah, dass Emerahl mit langen Schritten näher kam, gefolgt von einer verwirrten Arleej. Er wandte den Kopf zur Seite, wo Tamun über den Rand der Straße spähte. Auf der anderen Seite entdeckte er Surim, der in diesem Moment verschwand, damit man ihn nicht sehen konnte.

Alle sind an ihrem Platz, nur ich nicht.

Er zog sich von den Stimmen zurück. Nekaun funkelte ihn wütend an, aber Imenja trat zwischen sie. Mirar eilte davon, dann drehte er sich noch einmal um und schaute zu Auraya empor.

Sie erwiderte seinen Blick und nickte.

»Jetzt!«, rief sie.

Schneller, als er es jemals zuvor in seinem Leben getan hatte, zog Mirar Magie in sich hinein.


Reivan keuchte auf, als eine leuchtende Sphäre aus Licht die Weißen und die Stimmen umgab. Das Licht war so grell, dass es in den Augen wehtat.

»Was geht da vor?«, rief jemand. Sie erkannte die tiefe Stimme des Elai-Königs.

»Sie greifen einander an!«, entfuhr es einem Götterdiener. »Greift den Feind an!«

»Wie? Wir können sie nicht sehen!«

»Und sie können uns nicht sehen«, stieß Reivan hervor. »Wir können nichts anderes tun, als uns selbst zu schützen und abzuwarten.«

Zu ihrer Überraschung verfielen die Männer und Frauen um sie herum in Schweigen. Mit hämmerndem Herzen hielt sie sich die Augen zu und murmelte ein Gebet an die Götter, dass Imenja lebte und unverletzt war.


Es überraschte Emerahl, wie viel Magie sie in sich hineinziehen und festhalten konnte. Es gab jedoch eine Grenze, und als sie diese erreichte, wandelte sie die Magie in Licht um. Die anderen taten das Gleiche und umgaben die Weißen und die Stimmen mit einer gewaltigen, blendenden Sphäre.

Dann war die Magie von einem Moment auf den anderen ausgeschöpft, und das Leuchten verschwand.

Emerahl stellte fest, dass sie sich in unbehaglicher Nähe von zehn verwirrten Zauberern befand. Wachsam und unsicher schauten sie sich um. Eine der Stimmen bedachte sie mit einem durchdringenden Blick.

Zeit zu gehen, sagte sie sich, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Wir wissen nicht, ob es funktioniert hat.

Dann bildete sich ein Schimmer in der Mitte der Landenge. Emerahls Magen sank ihr in die Knie, als sie Chaia erkannte. Er sah nicht sie an, sondern Auraya. Vier weitere Gestalten erschienen.

Mit trockenem Mund und hämmerndem Herzen nutzte Emerahl die Ablenkung und ging zum Rand der Straße. Niemand machte Anstalten, sie aufzuhalten. Alle waren zu benommen und verwirrt. Zu ihrer Erleichterung saß Surim dort in einem schmalen Boot und wartete auf sie. Sie rutschte den steilen Hang der Landenge hinunter und kletterte an Bord.

»Hat es funktioniert?«, flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Chaia ist erschienen. Er lebt noch.«

»Und ist gefangen in dem Leeren Raum«, bemerkte eine neue Stimme leise. Sie und Surim drehten sich um. Tamun und die Möwe kamen in einem weiteren Boot aus einem Spalt in der Wand der Landenge gepaddelt. »Vergesst nicht, in der Mitte eines Leeren Raums findet sich oft noch Magie. Wir haben nur eine magielose Hülle um sie herum geschaffen.«

»Gefangen für alle Ewigkeit«, sagte Surim achselzuckend, und ein böses Lächeln schimmerte in seinen Augen auf. »Eigentlich gefällt mir das noch besser.«

»Mir gefällt es nicht«, knurrte Emerahl. »Wenn sie leben, besteht eine Chance, dass sie dort drin lange genug aushalten, bis die Magie wieder zurückfließt.«

»Dann werden wir einfach noch einmal herkommen und ihnen den Rest geben müssen, wenn weder die Weißen noch die Stimmen zugegen sind, um uns aufzuhalten«, sagte Surim.

»Damit werden sie rechnen. Sie werden dafür sorgen, dass die Götter gut bewacht sind.«

»Von wem? Wenn die Götter ihre Macht nicht stärken, werden die Weißen und die Stimmen nicht mehr so stark sein«, warf die Möwe ein.

»In dem Leeren Raum werden sie es sein«, entgegnete Emerahl.

»Aber die Götter brauchen diese Macht, um zu überleben.«

»Wo ist Auraya?« Die Möwe spähte zum Ufer der Landenge hinauf.

Emerahl folgte seinem Blick. »Als ich fortgegangen bin, schwebte sie noch immer über ihnen.«

»Sie muss einige Entscheidungen treffen«, sagte Tamun. »Und wenn sie fertig ist, kann sie wegfliegen. Wir können das nicht. Wir sollten aufbrechen.«

»Was ist mit Mirar?«

Tamun betrachtete stirnrunzelnd die Felswand. »Er ist wahrscheinlich geblieben, weil Auraya es auch getan hat.«

Schweigend starrten sie zu der Landenge empor. Emerahl seufzte.

»Ich werde warten«, erbot sie sich. »Ihr drei verschwindet von hier.«

50

Die leuchtende Gestalt Chaias blickte zwischen Auraya und Juran hin und her. Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte ihn nicht hören.

Natürlich, dachte sie. Ich kann ihn nicht hören, weil zwischen uns ein Leerer Raum ist. Er kann sich nur mittels Gedankenrede verständigen - und seit ich gelernt habe, meinen Geist abzuschirmen, ist ihm diese Möglichkeit verwehrt. Er muss entweder Besitz von einem anderen Menschen ergreifen, oder… ich lasse meinen Gedankenschild sinken.

Juran nickte und blickte auf. »Chaia bittet darum, dass du herunterkommst und mit uns sprichst«, sagte er stirnrunzelnd. »Er möchte wissen, warum du getan hast… was immer es ist, das du getan hast.«

Auraya erwog seine Bitte, wobei sie sich deutlich bewusst war, dass die Weißen und die Stimmen sie beobachteten. Als sie Nekaun sah, schauderte sie. Sie wollte so weit wie möglich von ihm fortkommen.

Aber die Weißen mussten die Wahrheit erfahren. Selbst wenn sie ihr nicht glaubten.

Können sie, die Stimmen oder die Götter, mir etwas antun? Sie könnten mich angreifen, aber nur indem sie die Magie innerhalb des Leeren Raums verbrauchen. Die Götter würden das nicht wollen. Sie verbrauchen schon Magie, einfach indem sie sich sichtbar machen. Sobald die Quelle erschöpft ist, werden sie aufhören zu existieren.

Sie holte tief Luft und zog Magie in sich hinein, um ihren Schild zu verstärken und damit sie nicht abstürzte, wenn sie durch den Leeren Raum flog. Dann ließ sie sich zu Boden gleiten.

Chaia wandte sich zu ihr um. Sie würde ihn noch immer nicht hören können, es sei denn, sie ließ den Schild sinken, der ihren Geist umgab. Sie sah die Weißen und die Stimmen an und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie ihre Gedanken lesen konnte. Was bedeutete, dass sie nicht länger über die Gaben verfügten, die die Götter ihnen verliehen hatten. Sie konnten nicht mehr die Gedanken der anderen lesen.

Trotzdem kostete es sie bewusste Anstrengung, den Schleier sinken zu lassen. Sobald sie es getan hatte, begann Chaia zu sprechen.

Einmal mehr haben wir dich unterschätzt, Auraya. Du und deine unsterblichen Freunde, ihr habt uns in eine Falle gelockt. Sag uns zumindest, warum.

»Warum?«, wiederholte sie. »Du weißt, warum.« Ein Stich des Ärgers durchzuckte sie. »Ich nehme an, du wolltest mich von meinem Elend erlösen, als du mir erzählt hast, ich könne aus dem Sanktuarium entkommen, indem ich eine Göttin werde.«

Er runzelte die Stirn.

Ich habe dir niemals vorgeschlagen, eine Göttin zu werden. Ich würde dich nicht in dieser Gestalt gefangen sehen wollen. Es wäre ein Gefängnis für dich.

»Warum hast du mir dann erzählt, wie…« Zweifel regte sich in ihr. Hatte er ihr wirklich vorgeschlagen, es zu tun? Sie war an jenem Tag so krank gewesen. Gewiss hatte sie nicht nur davon geträumt… »Du sagtest, es sei besser für mich, eine Göttin zu werden, als zu sterben. Dass es nicht das Gleiche sei, wenn du meine Seele nehmen würdest.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Nun, da Huan zugegeben hat, dass ihr keine Seelen nehmt, hattest du wahrscheinlich recht.«

Chaia sah Huan an. Die anderen Götter wandten sich ebenfalls zu ihr um, und Huan straffte sich und musterte sie trotzig.

Du hast ihr verraten, wie man ein Gott wird?, fragte Yranna anklagend. Du hast dich als jemand anderer ausgegeben?

Chaia wandte sich wieder zu Auraya um.

Habe ich unser Schlüsselwort benutzt? Habe ich »Schatten« gesagt?, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. Ihre Erinnerung war zu nebelhaft. »Ich weiß es nicht mehr«, gestand sie. »Ich war so krank. Es fiel mir schwer zu denken.«

Huan lachte.

Ja, es war leicht, dich zu täuschen.

Auraya hob den Blick und schauderte, als sie den hämischen Ausdruck in den Zügen der Göttin sah.

Du gibst es also zu?, fragte Chaia Huan. Die Göttin funkelte ihn an und sagte nichts.

Wer hätte es sonst sein können?, warf Lore voller Verbitterung ein. Keiner von uns hat die Regeln so oft gebrochen wie Huan.

Regeln! Die Regeln galten für das Spiel, nicht für Bedrohungen unserer Existenz!, brüllte Huan. Wenn ihr auf mich gehört hättet, als ich euch vor ihr gewarnt habe, sie zeigte auf Auraya, wäre dies alles nie geschehen.

Chaia lächelte grimmig.

Wir alle haben uns irgendwann angewöhnt, dich zu ignorieren, wann immer du deinen törichten, verrückten Unsinn von dir gegeben hast. »Unsterbliche könnten Götter werden! Wenn sie es tun, werden sie uns alle töten! Auraya ist gefährlich!«

Huan hatte offensichtlich recht, stellte Lore fest.

Schweigen machte sich breit. Schließlich stieß Juran einen erstickten Laut aus.

»Ich verstehe nicht. Was ist passiert?«

Die Wilden haben uns das angetan, was wir vor vielen Jahrhunderten mit den anderen Göttern gemacht haben, erklärte Lore. Sie haben die Magie um uns herum abgezogen und uns in einer kleinen Oase im Zentrum dieses Raums gefangen. Wir können nicht von hier fort.

Nicht, solange die Magie nicht zurückgeflossen ist, fügte Yranna leise hinzu. Was tausende von Jahren dauern könnte.

Juran starrte Auraya an. »Du hast ihnen dabei geholfen?«

Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. »Ja.«

»Warum?«

»Weil sie uns belogen haben. Sie nehmen keine Seelen. Sie spielen Spiele mit uns, als seien wir…«

Unverfrorenes Gelächter übertönte ihre Worte. Alle drehten sich zu Nekaun um.

»Du hast deine eigenen Götter in ein Gefängnis gesperrt?« Er schüttelte den Kopf. »Was kann ich dir dafür geben, dass du mir diesen Dienst erwiesen hast? Gold? Land? Einen Platz an meiner Seite?«

Eine Gänsehaut überlief Auraya. Es würde zumindest befriedigend sein, diesem einen Menschen die schlechten Neuigkeiten zu überbringen.

»Die zirklischen und die pentadrianischen Götter sind ein und dieselben«, erklärte sie ihm. »Sie haben Doppelrollen gespielt.« Sie sah zuerst Chaia an, dann jeden einzelnen der Weißen und der Stimmen. »Versteht ihr, dies alles ist ein Spiel für sie. Und ihr seid die Spielsteine. Die Toten in diesem Krieg und in dem vorangegangenen waren nichts weiter als Punkte für die eine oder die andere Seite. Punkte, keine realen Menschen mit Familien und Freunden. Keine…«

»Sie sind nicht ein und dieselben«, knurrte Nekaun mit zorndunklem Gesicht. »Meine Götter sehen nicht so aus wie diese. Sie klingen nicht einmal so wie sie.«

Was Auraya sagt, ist wahr, erklärte Chaia. Seine Gestalt veränderte sich, und plötzlich war er Sheyr. Die Stimmen starrten ihn entsetzt an.

»Das ist ein Trugbild!«, rief Nekaun aus.

Auraya drehte sich zu ihm um. »Du wirst die Wahrheit schon früh genug erfahren. Wenn die Götter deine magischen Gaben nicht stärken, wirst du schwächer sein. Du kannst nicht länger Gedanken lesen. Und unsterblich bist du ganz gewiss nicht.«

Ein Ausdruck der Unsicherheit trat in Nekauns Augen, und Auraya sah den gleichen Ausdruck auf den Gesichtern der Weißen.

»Es tut mir… leid«, sagte sie. »Aber wenn die Götter euch und die Stimmen weiterhin gegeneinander ausgespielt hätten, hättet ihr ohnehin nicht lange überlebt. Wenn ihr diesen Krieg fortführt, besteht natürlich eine gute Chance, dass ihr trotzdem sterbt.« Sie verzog das Gesicht. »Das ist eure Entscheidung. Ich werde euch weder helfen noch an irgendetwas hindern.«

Juran blickte von Auraya zu Chaia. »Ist das wahr?«

Ja.

Eine der Weißen stieß einen wortlosen Schrei des Zorns aus. Alle wandten sich zu der neuen Weißen, Ellareen, um, die Auraya mit vor Wut schneeweißem Gesicht anstarrte.

»Du«, fauchte sie. »Du Verräterin! Du verdienst es nicht zu leben!«

Sie machte eine abrupte Handbewegung, und ein weißes, pulsierendes Licht schnellte durch die Luft und prallte von Aurayas Barriere ab.

NEIN! AUFHÖREN!, schrien die Götter wie aus einem Munde. Yranna stellte sich vor Ella hin.

Wir brauchen die Magie, die du für den Angriff auf sie benutzt, um zu überleben, Ellareen. Würdest du uns töten, um uns zu rächen?

Ellareen starrte die Göttin wild an, dann schüttelte sie den Kopf. Sie trat einen Schritt zurück und sah Auraya mit hasserfüllten Augen an.

Dann drosch ein weiterer Angriff auf Aurayas Barriere ein, gefolgt von einem irren Lachen. Menschen und Götter brachen gleichermaßen in Protest aus, als sie sich der Quelle des Angriffs zuwandten. Nekaun lachte abermals, dann sandte er einen Schlag gegen Juran.

»Ihr Narren«, sagte er. »Ihr habt mir soeben erzählt, wie ich eure eigenen Götter töten kann!«

Chaia nahm wieder Sheyrs Gestalt an.

HALT!, befahl er. Nekaun lachte weiter.

»Darauf falle ich nicht noch einmal herein. Ich nehme an, du warst derjenige, der mich aufgehalten hat, als ich mich ein wenig mit Auraya amüsieren wollte. Nun, ich…«

Plötzlich taumelte er zurück, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Der Schauer, der bei seinen Worten über Aurayas Rücken gekrochen war, verebbte, als sie sah, dass die anderen Stimmen ihn mit ihrer Magie wegzogen. Er leistete ihnen Widerstand, konnte aber wenig ausrichten. Dann durchfuhr ihn plötzlich ein Ruck, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen, und er fiel bewusstlos zu Boden.

Sofort wandten sich die Stimmen wieder den Göttern zu, und alle lächelten befriedigt. Ein kurzes Schweigen folgte, dann sprach Juran Chaia an.

»Was wird aus den Sterblichen werden, wenn wir eure Leitung verlieren? Wie sollen wir verhindern, dass wir in gesetzloses Chaos stürzen?«

Jähe Zuneigung zu ihm stieg in Auraya auf. »Solange es gute Anführer wie dich gibt, Juran, werden die Sterblichen schon zurechtkommen.«

Chaia lächelte.

Sie hat recht.

»Und wenn ich sterbe?«, fragte Juran mit gepresster Stimme.

Der würdige Stellvertreter, den du auswählst, wird deinen Platz einnehmen.

Wir wählen ihn aus, korrigierte Huan ihn und trat vor, um Chaia wütend zu mustern. Dann wandte sie sich zu den Weißen und den Stimmen um. Eure Götter sind nicht tot. Wir leben! Ihr werdet hier einen Tempel erbauen. Ihr werdet hierherkommen, um unseren Rat zu suchen, was die Führung eurer Länder betrifft.

Chaia schüttelte den Kopf. Das Problem beim Krieg ist, dass die Mächtigsten und Skrupellosesten überleben. Sie geben keine angenehme Gesellschaft ab.

Huan sah ihn höhnisch an.

Du hast ebenfalls überlebt, stellte sie fest und wandte sich dann wieder an die Weißen und die Stimmen. Eine neue Ära der Zusammenarbeit muss beginnen. Ihr werdet hier einen Tempel errichten und Priester ernennen, die uns dienen. Ihr werdet eure stärksten Zauberer als Wachen hierlassen, während…

Auraya hörte nicht mehr zu, als sie Chaias Blick auffing.

Sie ist eine Närrin, sagte er. Wenn nicht einer deiner Freunde zurückkehrt, um uns den Rest zu geben, werden wir irgendwann doch zugrunde gehen. Es kostet nicht viel Energie, um unsere Existenz aufrechtzuerhalten. Wir könnten vielleicht sogar lange genug leben, um diesem Gefängnis zu entrinnen, aber wir wären dann nicht mehr dieselben. Die meisten der Götter, die wir in Leere Räume eingesperrt haben, haben den Verstand verloren, Auraya. Wir brauchen die Sterblichen als Verbindung mit der Welt der Dinge.

Gewissensbisse durchzuckten sie. »Es tut mir leid, dass ich dir misstraut habe. Ich hätte begreifen müssen, dass du das nicht warst. Aber gib die Hoffnung nicht auf. Viele Sterbliche werden hierherkommen. Sie werden diesen Tempel bauen, den Huan verlangt. Sie werden verhindern, dass du dem Wahnsinn anheimfällst.«

Er nickte.

Ja. Das werden sie tun. Wirst du es ebenfalls tun?

Sie zögerte, dann nickte sie. »Für dich werde ich es tun.«

Chaia lächelte.

Es ist gut, das zu wissen. Wenn Huan nicht wäre, würde ich dir das Versprechen abnehmen zurückzukommen. Aber wir beide wissen, dass Huan dir weiterhin nach dem Leben trachten wird, selbst aus dem Leeren Raum heraus. Was mich betrifft, so bin ich es schon vor tausend Jahren müde geworden, ein Gott ohne Körper zu sein. Ich würde lieber überhaupt nicht existieren, als tausend Jahre hier in ihrer Gesellschaft gefangen zu sein.

Aurayas Herz setzte einen Schlag aus. Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf. »Sprich nicht so, als würdest du sterben, Chaia. Ich werde eine Möglichkeit finden, den Leeren Raum zu heilen. Es muss einen Weg geben.«

Chaia streckte die Hand aus und strich über ihre Wange; seine Berührung war gleichzeitig fremd und vertraut.

Tu das, Auraya. Es wäre in jedem Falle gut. Und benutze niemals das Wissen, das Huan dir offenbart hat. Das Leben als Gott ist nicht so herrlich, wie wir es die Sterblichen gern glauben machen. Ich habe schreckliche Dinge getan, aber ich bedaure es nicht, dich geschützt und gefördert zu haben. Lebwohl, Auraya.

Er trat von ihr zurück. Verwirrt konzentrierte sie sich auf die Magie um die Götter herum, weil sie erwartete, dass sie ersterben würde. Aber was übrig blieb, war noch genug, um Chaia und die anderen am Leben zu erhalten. Dann spürte sie, wie alle Magie auf Chaia zuströmte.

Und endlich begriff sie, was er tat.

»Chaia! Nicht!«

Grelles Licht blendete sie. Obwohl sie nichts sehen konnte, konnte sie die Götter immer noch spüren. Sie spürte, wie sie einer nach dem anderen verschwanden, Huan mitten im Satz. Chaia erlosch als Letzter, aber nicht bevor sie seine letzten drei Worte hörte.

Vergiss mich nicht.

51

Als die leuchtenden Gestalten zwischen den Weißen, den Stimmen und Auraya erschienen waren, hatte Reivan zuerst Ehrfurcht, dann Angst verspürt. Sie zweifelte nicht daran, dass sie Götter waren, aber welche Götter waren sie?

Mirar war an den Rand der Straße getreten, als wolle er sich ins Meer stürzen, aber dann hatte er innegehalten und gelauscht. Reivan konnte das Gespräch nicht hören. In ihrer Neugier hatte sie sich nach vorn geschoben, aber bevor sie nahe genug herangekommen war, hatte Auraya einen Schrei ausgestoßen, und ein zweiter Lichtblitz durchzuckte die Luft.

Benommen wie sie war, brauchte Reivan eine Weile, bevor sie wieder sehen konnte. Die Weißen und die Stimmen blickten alle zu Auraya hinüber. Die Götter waren verschwunden.

»Sie sind fort!«, rief Auraya. »Chaia hat die anderen Götter und sich selbst getötet!«

Obwohl Reivan nicht hören konnte, was gesprochen wurde, war offenkundig, dass die Weißen und die Stimmen gegen ihre Worte protestierten. Aurayas Gesichtsausdruck war schrecklich. Entsetzen und Trauer verzerrten ihre Züge. Sie presste die Hände an die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf und ging davon.

Als sie sich abwandte, starrte der Anführer der Zirkler ihr nach. Plötzlich begann Mirar zu sprechen, und Reivan zuckte zusammen.

»Lasst sie gehen«, sagte er und trat neben Auraya, um ihr eine Hand auf die Schulter zu legen. Sie lehnte sich an ihn.

Eine rührende Szene, dachte Reivan mit einem schiefen Lächeln. Die Götter hatten recht, was die beiden betrifft. Wer hätte das für möglich gehalten?

Mirar zog Auraya an den Straßenrand, und Reivan sah eine Frau in einem kleinen Boot herbeirudern. Auraya hielt inne, dann ließ sie sich von Mirar das Ufer hinab und in das Boot helfen.

»Was jetzt?«, fragte einer der Weißen.

»Wir gehen nach Hause«, sagte ihr Anführer.

Als sie sich abwandten, erklang lautes Gelächter. Ein Frösteln überlief Reivan, als ihr klar wurde, dass Nekaun wieder bei Bewusstsein war und sich erhoben hatte.

»Oh, was für ein wunderbarer Trick! Ihr wusstet, dass ihr verlieren würdet, daher haben eure Götter ihren Tod vorgetäuscht, damit ihr nach Hause zurücklaufen könnt, ohne dass euer Stolz dabei Schaden nimmt. Und ihr behauptet, eure Götter und unsere seien dieselben, so dass wir euch nicht verfolgen werden. Ah! Jetzt durchschaue ich euren Plan. Ihr glaubt, ihr könnt uns hinüberlocken und…«

»Halt den Mund, Nekaun«, sagte Imenja.

Nekaun starrte sie mit zornumwölkter Miene an. »Die Götter werden deinen Verrat nicht ungesühnt lassen«, begann er.

Imenja verdrehte die Augen und wandte ihm den Rücken zu. Sie und die anderen Stimmen zogen sich von den Weißen zurück, gingen an Nekaun vorbei und kamen auf Reivan und ihre Gefährten zu.

»Kommt sofort zurück!« Niemand drehte sich auch nur um, um ihn anzusehen. »Ich befehle es euch.«

Die Stimmen ignorierten ihn. Reivan zuckte zusammen, als er die Hand hob, um sie mit Magie anzugreifen, aber nichts geschah. Er starrte seine Finger an, runzelte die Stirn und sah sich verwirrt um.

Imenja blickte lächelnd zu Reivan hinüber. »Er war schon immer ein wenig langsam.«

»Was ist passiert?«

»Das lässt sich nicht so leicht erklären.« Imenja betrachtete die anderen Stimmen, als sie zwischen den Götterdienern, den Ratgebern und dem König der Elai stehen blieb. »Nach dem ersten Lichtblitz habe ich eine Veränderung gespürt. Ein Nachlassen der Magie.« Sie sah ihren Anhänger an und runzelte die Stirn.

»Das… das ergibt keinen Sinn«, sagte Reivan.

»Nein, das tut es nicht.« Imenja seufzte. »Auraya behauptet, die Götter seien tot. Alle Götter. Ich glaube, sie hat recht.«

Reivan musterte sie entgeistert.

»Aber diese leuchtenden Gestalten? Wer waren sie?«, fragte ein Ratgeber.

»Sie waren die Götter. Ihre Götter. Unsere Götter. Ein und dieselben, wie sich herausgestellt hat. Sie sind von irgendetwas, das Auraya und Mirar getan haben, gefangen genommen worden. Aber es hat sie nicht getötet. Das haben die Götter selbst getan. Sie haben irgendetwas getan, und… das hat ihnen den Rest gegeben. Zumindest ist es das, was Auraya vermutet.«

»Und du glaubst ihr?«, fragte der König der Elai.

»Ja.«

Während sie sich auf den Weg zurück nach Avven machten, dämmerten Reivan langsam die Konsequenzen des Geschehenen.

»Du hast deine Befähigungen nicht verloren?«, fragte ein Götterdiener.

»Wahrscheinlich habe ich noch die Befähigungen, über die ich bereits verfügte, bevor ich eine Stimme wurde. Das bedeutet, dass ich meine Unsterblichkeit verloren habe. Wahrscheinlich bin ich nicht mächtiger als unsere stärksten Ergebenen Götterdiener. Nur dass ich… immer noch Gedanken lesen kann.«

Sie hatte ihre Unsterblichkeit verloren? Reivans Kehle schnürte sich vor Mitgefühl zusammen.

»Wenn du und die anderen Stimmen nicht mehr so mächtig seid wie früher, werdet ihr dann überhaupt weiter herrschen?«, fragte der König der Elai.

»Werden wir ohne die Götter anfangen, gegeneinander zu kämpfen? Wird die Welt in Chaos versinken?«, fügte ein Götterdiener hinzu, in dessen Stimme ein Anflug von Hysterie durchklang.

Reivan konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Wir haben doch auch vorher schon gegeneinander gekämpft.«

Imenja lachte leise. »Ja, das ist wahr. Aber werden wir jetzt noch einen Grund dazu haben? Was denkst du, Gefährtin Reivan? Sollen wir uns bemühen, weiterhin über unser Volk zu herrschen, oder sollen wir uns irgendwo auf einem Berg eine stille, kleine Hütte suchen und auf das Ende der Welt warten?«

Reivan sah Imenja an und bemerkte den fragenden Ausdruck in den Augen der Frau. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass dies nicht nur ihre Herrin war, die sie um Rat fragte, sondern eine Freundin, die Trost brauchte.

»Ich denke, die Dinge in Südithania werden sich zum Besten fügen, solange du seine Herrscherin bist.«

Imenja lächelte. »Ich hoffe, der Rest des Südens stimmt dir zu, Reivan.«

Reivan nahm eine Bewegung hinter Imenjas Schulter wahr; Nekaun kam auf sie zu, das Gesicht starr vor Zorn.

»Aber ich denke, dir steht zunächst ein Kampf bevor«, murmelte sie.

Imenja lachte. »Oh, ich glaube nicht, dass Nekaun ein Problem darstellen wird. Er hat in der kurzen Zeit seit seiner Wahl eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen vor den Kopf gestoßen.« Sie straffte sich. »Und ich werde es ihm auf keinen Fall durchgehen lassen, dass er dich und die anderen Frauen, die er in jener Nacht verletzt hat, so schlecht behandelt hat.« Sie sah die übrigen Stimmen an. »Was meint ihr dazu?«

Reivan war gleichzeitig überrascht und entsetzt zu erfahren, dass sie nicht die einzige Götterdienerin war, die erlebt hatte, was Nekaun unter »erregender« Liebe verstand.

»Ich finde, wir sollten das strengste unserer Gesetze anwenden«, sagte Genza. Vervel und Shar nickten.

Imenja fuhr zu Nekaun herum.

»Nekaun, ehemals Erste Stimme der Götter, hiermit klage ich dich der Vergewaltigung einer Götterdienerin an, ein Vergehen, dessen du dich, wie ich weiß, dreimal schuldig gemacht hast. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Nekaun war mit ungläubiger Miene stehen geblieben. Reivan schaute in die Gesichter der vier anderen Stimmen, und ihr Herz hämmerte vor Furcht, während gleichzeitig eine düstere Hoffnung in ihr aufstieg. Gewiss würden sie nicht… Aber jetzt, da sie Nekaun nicht mehr als ihren Herrscher dulden mussten, würden sie ihm sicher die Stirn bieten.

Nekaun, der sich inzwischen von seiner Überraschung erholt hatte, sah Imenja höhnisch an.

»Das würdest du nicht wagen.«

»Und ob ich es wage«, entgegnete sie.

»Die Götter werden es niemals zulassen.«

»Die Götter sind tot, Nekaun.«

Er verdrehte die Augen. »Du bist wirklich eine Närrin, wenn du das glaubst. Selbst wenn es wahr wäre, wird niemand es glauben - ebenso wenig wie die Anklage, die du erhoben hast. Die Menschen werden denken, es sei nichts als eine bequeme Lüge, um mich loszuwerden. Das Volk hat mich gewählt, vergiss das nicht. Es wird ihm nicht gefallen, wenn du seiner Entscheidung trotzt.«

Imenja sah den König der Elai an. »Würdest du mir den Gefallen tun, ein Wort zu denken? Aber sprich es nicht laut aus.«

Der König runzelte die Stirn, dann zuckte er die Achseln.

»Rebellion«, sagte Imenja. »Hab ich recht?«

Der König nickte.

»Denk ein anderes Wort.« Sie hielt inne. »Vertrag«, erklärte sie. Der König nickte abermals. Nachdem sie diesen Vorgang noch drei weitere Male wiederholt hatte, blickte Imenja zu den Stimmen, den Götterdienern und den Ratgebern hinüber. »Habt ihr alle euch davon überzeugt, dass ich nach wie vor Gedanken lesen kann?«

Sie nickten.

»Glaubt ihr mir, wenn ich sage, dass Nekaun schuldig im Sinne der Anklage ist?«

Wieder nickten sie.

»Werdet ihr dies bezeugen, falls es jemals bestritten werden sollte?«

Auch diese Frage beantworteten sie mit einem Nicken. Solchermaßen zufriedengestellt, drehte Imenja sich wieder zu Nekaun um.

»Wenn ich dich wegen Unfähigkeit anklagen und dasselbe Ergebnis erzielen könnte, würde ich es tun«, erklärte sie. »Aber die Anklage, eine Götterdienerin vergewaltigt zu haben, ist sehr viel schwerwiegender, und es wäre nicht richtig, den Frauen, denen du das angetan hast, Gerechtigkeit zu verwehren.« Sie sah die anderen Stimmen an.

Vervel nickte. »Auf ein einziges Vergehen dieser Art stehen zehn Jahre Sklaverei. Ein zweites wird mit lebenslänglicher Sklaverei bestraft. Ein drittes…«

»…wird mit dem Tod bestraft«, beendete Nekaun Vervels Ausführungen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr habt keine…«

Reivans Gesicht wurde sengend heiß. Sie hörte einen Aufschrei des Zorns von Imenja, und plötzlich waren Licht und Lärm um sie herum. Ebenso plötzlich wurde alles wieder still. Reivan sah sich um. Mehrere Götterdiener lagen auf dem Boden, einige stöhnend, einige reglos. Imenja, Vervel, Genza und Shar standen über einem verkohlten, noch zuckenden Körper.

Nekaun, schoss es ihr durch den Kopf. Davon wird er sich nicht erholen. Der Gedanke erfüllte sie mit einer unerwartet machtvollen Erleichterung, aber als sie auf das verbrannte Fleisch hinabblickte, begann ihre Wange zu schmerzen. Heftig zu schmerzen. Imenja schaute zu ihr auf, und Mitgefühl ließ ihre Züge weicher erscheinen.

»Es tut mir leid, Reivan«, sagte sie und kam auf sie zugeeilt. »Ich habe dich nicht rechtzeitig geschützt. Ich hatte erwartet, dass er die Stimmen angreifen würde, nicht die Götterdiener.«

Reivan schüttelte den Kopf. »Es ist nichts.« Sie betrachtete Nekaun, der inzwischen aufgehört hatte zu zucken. »Ich nehme an, ihr habt ein hübsches Exempel an ihm statuiert.«

Imenja stieß ein atemloses Lachen aus. »Oh ja, das denke ich auch. Wenn man sich anschickt, die Welt zu beherrschen, muss man das eine oder andere Exempel statuieren. Und für den Anfang kann ich mir niemanden vorstellen, der dafür besser geeignet wäre als unsere ehemalige Erste Stimme.«

Reivan musterte Imenja forschend, konnte aber nicht entscheiden, ob ihre Herrin es ernst meinte oder nicht. Imenja erwiderte ihren Blick. »Was gibt es?«

»Du… Der Tod der Götter scheint dich nicht allzu sehr aus der Fassung zu bringen.«

»Oh, das ist ein Irrtum«, erwiderte Imenja mit Nachdruck. »Er bringt mich aus der Fassung, und ich bin wütend. Ja, ich werde immer wütender. Aber ich habe noch nicht entschieden, was ich deswegen unternehmen will.«

»Auraya verfolgen und sie töten?«

»Ich bin nicht auf Auraya wütend.«

Reivan zog überrascht die Augenbrauen hoch. Bei der Bewegung spannte sich die Haut auf ihrer Wange, und sie zuckte zusammen.

Imenja runzelte die Stirn. »Ich werde es dir später erklären. Wir müssen dich zu einem Traumweber schaffen.« Sie betrachtete die am Boden liegenden Götterdiener, dann wandte sie sich jenen zu, die noch standen. »Geht zurück und holt Hilfe«, befahl sie ihnen. »Verlasst euch nicht darauf, dass eure Anhänger funktionieren.« Zwei der Götterdiener nickten und eilten davon.

König Ais räusperte sich. »Wenn du mich nicht mehr brauchst, Zweite Stimme, werde ich zu meinem Volk zurückkehren.«

Sie neigte den Kopf. »Ja. Danke für deine Unterstützung, König Ais. Wir wissen deine Hilfe sehr zu schätzen.«

Er lächelte schwach. »Ich vermute, dass sie nicht länger vonnöten ist.«

»Nein. Aber es wäre uns eine Ehre, wenn wir auch in Zukunft weiter mit deinem Volk zusammenarbeiten dürften.«

Er verbeugte sich leicht. »Die Ehre wäre ganz meinerseits. Leb wohl. Und viel Glück.«

Sie sahen ihm nach, während er zum Straßenrand hinüberging. Er verschwand hinter der Böschung, und einen Moment später hörten sie ein leises Spritzen. Imenja wandte sich lächelnd zu Reivan um.

»Wir haben viel zu tun, und ich hoffe, du wirst mir dabei helfen.«

»Natürlich«, erwiderte Reivan. »Was immer geschieht, ich bin nach wie vor deine Gefährtin.«

Imenjas Lächeln wurde breiter, dann nahm sie ihren Arm, und sie gingen zusammen die Landenge hinab, auf ihre Heimat und eine neue, unerwartete Zukunft zu.


Die Weißen kehrten langsam und schweigend nach Diamyane zurück, die Köpfe gesenkt, die Gesichter gezeichnet von Trauer und Schock. Keiner der anderen Ratgeber sprach sie an, daher tat auch Danjin es nicht.

Er verstand nicht, was geschehen war, und die Fragen überschlugen sich in seinem Kopf. Was hatte Auraya getan? Spielten Mirar und die Traumweberin, die trotz Arleejs Protest nach vorn gelaufen war, eine Rolle bei dem Ganzen? Warum war Auraya so erregt gewesen, als sie sie verlassen hatte?

Er dachte daran, wie Mirar sie getröstet und dann zu einem Boot jenseits der Landenge geführt hatte, und Ärger stieg in ihm auf. Irgendetwas war noch immer zwischen den beiden. Das war offenkundig.

Schließlich erreichten die Weißen das Ende der Landenge. Die Hohepriester und Priesterinnen standen erwartungsvoll bereit, darauf gefasst, dass die Schlacht beginnen würde. Die Weißen blieben stehen und tauschten einen Blick. Juran wandte sich zu den Ratgebern und Traumwebern um, die ihnen zu der Begegnung mit dem Feind gefolgt waren, dann hob er die Hand, um den anderen Weißen zu bedeuten, dass sie warten sollten.

Als Danjin und die Übrigen ankamen, ergriff Juran das Wort.

»Die Götter sind tot«, sagte er. »Sowohl der Zirkel als auch die Fünf existieren nicht mehr. Es wird keine Schlacht geben. Packt eure Sachen und bereitet euch auf die Heimreise vor.«

Benommenes Schweigen folgte, dann wurden die Weißen mit Fragen überhäuft. Sie ignorierten sie, tauschten einige wenige Worte und gingen dann jeder in eine andere Richtung davon. Als Danjin sah, dass Ella sich auf den Weg zu den Schiffen machte, lief er hinter ihr her. »Ellareen!«, rief er, als er sie fast erreicht hatte. Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. Er blieb stehen und stellte erschrocken fest, dass ihr Tränen über die Wangen strömten.

»Hallo, Danjin«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab.

»Was ist passiert?«, hörte er sich fragen.

Sie wandte den Blick ab. »Genau das, was Juran gesagt hat. Die Götter sind tot.«

»Wie?«

»Auraya…« Ellas Stimme bebte vor Erschütterung. Ihr Blick war fest auf die Landenge gerichtet. »Die anderen Wilden. Sie haben sie in eine Falle gelockt. Sie haben sie getötet.«

Blankes Entsetzen verschlug Danjin die Sprache. Auraya hat uns verraten, dachte er. Aber nicht indem sie sich den Pentadrianern angeschlossen hat, wie wir befürchtet haben. Sie hat sich den Wilden angeschlossen.

Ella ging auf eine Gruppe von Dunwegern zu, die ein Schiff aus dem Wasser gezogen hatten. Sie drehte sich nicht um, um festzustellen, ob er ihr folgte. Er ließ den Blick schweifen und stellte fest, dass alle Schiffe Schlagseite hatten und teils vom Meer überspült wurden. In größerer Entfernung vom Ufer war statt der dunwegischen Kriegsschiffe nur noch ein Wald aus Masten zu sehen.

Die ganze Flotte war gesunken.

Die Elai waren die Einzigen, die bei diesem Krieg Gelegenheit hatten, ihre kämpferischen Fähigkeiten zu erproben, ging es ihm durch den Kopf. Die Dunweger werden enttäuscht sein zu hören, dass es nun doch nicht zur Schlacht kommen wird.

Der Krieg war vorüber, noch ehe er begonnen hatte. Danjin hätte erleichtert darüber sein sollen, aber stattdessen fühlte er sich leer. Ella blieb stehen, und es gelang ihm, sie einzuholen.

»Die Elai«, murmelte sie und starrte aufs Wasser hinaus. »Ich muss etwas unternehmen, was sie betrifft.«

Dann ging sie weiter. Danjin bemerkte eine Bewegung auf dem Wasser. Ein winziges Boot mit drei Gestalten an Bord. Etwas leuchtend Blaues blitzte auf.

Auraya, dachte er. Die Wilden. Die Götter hatten die ganze Zeit über recht. Sie sind gefährlich. Wenn sie Götter töten können, wozu sind sie dann sonst noch imstande?

Er schauderte, denn er hatte plötzlich zu frieren begonnen. Als er die Hände unter sein Wams schob, stieß er auf einen Gegenstand in einer der Innentaschen. Er griff hinein und zog ihn heraus.

Ein glatter, weißer Ring lag auf seiner Hand. Ein Frösteln überlief ihn. Es war Aurayas Netzring. Ella hatte ihn am vergangenen Abend nicht zurückverlangt, daher hatte Danjin ihn eingesteckt in der Absicht, ihn ihr auszuhändigen, sobald sich eine Gelegenheit bot.

Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Auraya stiegen in ihm auf. Er hatte gedacht, dass sie eine gute Weiße abgeben würde. Später hatte er sie wie eine Tochter zu lieben gelernt, und er hatte sie für ihr Mitgefühl und ihren scharfen Verstand bewundert. Er hatte hart für sie gearbeitet und sich um sie gesorgt, während sie in Glymma eingekerkert gewesen war. Und er hatte niemals an ihr gezweifelt.

Sie hat uns verraten, dachte er. Sie hat sich gegen die Götter gewandt. Sie hat sie getötet.

Er schloss die Finger um den Ring, holte weit aus und warf ihn mit aller Macht von sich. Im nächsten Moment verschwand er im trüben Meerwasser.

Dann drehte er sich um und ging zurück in die Stadt.

Weder Mirar noch Emerahl oder Auraya sprachen während der Fahrt zur sennonischen Küste auch nur ein einziges Wort. Mirar beobachtete Auraya eingehend. Mit verschlossener, reservierter Miene starrte sie auf den Boden des Bootes.

Ich werde den anderen von Huans List erzählen müssen und davon, dass Auraya zu spät erfahren hat, dass Chaia nicht versucht hat, sie zu töten, sagte er sich. Und dass er sich selbst und die anderen getötet hat. Wenn ich es nicht tue, werden sie nicht verstehen, warum sie trauert.

Er konnte ihren Kummer nicht teilen. Chaia hatte zu seiner Zeit schreckliche Dinge getan. Die Welt war ohne ihn besser dran. Aber Mirar wusste, dass er Auraya das nicht sagen konnte. Niemals.

Schließlich knirschte der Rumpf des Bootes über den Ufersand. Auraya blickte zum Strand hinüber, während Emerahl das Boot mithilfe von Magie aus dem Wasser hob und neben einem anderen absetzte.

Sie standen auf und stiegen aus. Sie waren an dieser Stelle von Sanddünen umgeben, so dass man sie nur vom Wasser aus sehen konnte. Drei weitere Gestalten saßen am Strand und warteten auf sie. Sie hatten ein kleines Lagerfeuer errichtet. Mirar fing den Geruch von gebratenem Fisch auf.

»Das ist ein schönes Willkommen«, sagte er.

»Die Möwe hat den Fisch beigesteuert«, erwiderte Surim und reichte Mirar einen Becher. »Ich habe den Kahr mitgebracht.«

Mirar nahm einen Schluck von dem starken Alkohol. »Ah!«, seufzte er. »Das habe ich gebraucht. Ich fürchte, ich habe nichts beizusteuern.«

»Du hast uns Auraya gebracht«, sagte Tamun.

Sie alle sahen Auraya an, die nur schweigend ins Feuer starrte.

»Also, was werden wir jetzt tun?«, fragte Surim, während er einen weiteren Becher mit Kahr füllte und ihn Emerahl reichte. »Irgendwelche Pläne?«

Emerahl zuckte die Achseln. »Ich hatte schon immer den Wunsch, eine Schule für Zauberei und Heilung zu gründen.«

Mirar sah sie überrascht an. »Ich dachte, du wolltest niemals wieder im Mittelpunkt von irgendetwas stehen, nachdem man dir als Hexe gehuldigt hat?«

»Ich wollte tatsächlich nie, dass es so weit kommt, und ich habe fast all meine Kraft aufgewandt, um dieser Gefahr zu entrinnen. Wenn ich selbst etwas anfangen und meine Energie hineinstecken würde, wäre es vielleicht anders. Außerdem…« Sie prostete ihm mit ihrem Becher zu. »Außerdem habe ich einen Experten an meiner Seite, der genau weiß, wie man eine Gruppe von Zauberern organisiert. Wie sehen deine Pläne aus?«

Er zuckte die Achseln. »Ich werde den Traumwebern helfen, sich von den letzten hundert Jahren zu erholen. Diesmal habe ich zwei Kontinente, die ich durchstreifen muss. Ich wusste immer, dass meine Leute sich im Süden ausgebreitet hatten, aber bevor ich dort war, hatte ich keine Ahnung, warum das so war.«

»Weil die Götter damit beschäftigt waren, die Dinge im Norden durcheinanderzubringen«, erwiderte Surim.

»Was ist mit euch beiden?«, fragte Emerahl und sah Surim und Tamun an. »Was werdet ihr tun?«

Surim blickte zu seiner Schwester hinüber. »Zunächst einmal werden wir aufhören, uns zu verstecken. Ich würde gern reisen.«

»Ich möchte auf keinen Fall wieder berühmt werden«, erklärte Tamun. »Außerdem, wie könnten wir den Menschen Ratschläge erteilen? Wir wissen nicht, welche Veränderungen der Tod der Götter mit sich bringen wird.« Sie wandte sich zu ihrem Bruder um. »Und ich möchte auch nicht reisen. Ich glaube…« Sie hielt inne, um nachzudenken. »Ich glaube, ich würde mich gern irgendwo niederlassen. An einem Ort, an dem Menschen Dinge herstellen. Handwerker. Künstler. Irgendetwas in der Art.«

»Und ich werde dich besuchen - vielleicht werde ich die Dinge verkaufen, die deine Leute herstellen!«, rief Surim. »Ich könnte Händler werden!«

Die Möwe kicherte. »Ich schätze, ich werde euch auf dem Wasser sehen.«

»Du willst nichts verändern, nicht wahr?«, sagte Emerahl.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Das Meer ist mein Zuhause. Ich habe tausend Jahre gebraucht, um es zu finden, und ich kann keinen Grund erkennen, daran etwas zu ändern.«

Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen. Tausend Jahre, bevor er die Möwe wurde, ging es Mirar durch den Kopf. Und er war schon eine Legende, bevor ich unsterblich wurde. Wie alt ist er?

»Ich werde nach Si zurückkehren«, sagte Auraya, und sie alle sahen sie an.

Mirar wurde mit einem Mal leichter ums Herz. Sie wird zurechtkommen, dachte er. Mit der Zeit wird sie die Götter und Chaia vergessen. Und sie hat reichlich Zeit, das zu tun.

Auraya runzelte die Stirn. »Nachdem ich Unfug geholt habe«, fügte sie hinzu. Sie berührte den blauen Stoff, den sie um ihren Leib geschlungen hatte. »Und ich muss den Kaufmann für dieses Tuch und das Essen bezahlen, das ich ihm abgenommen habe.«

Emerahl kicherte. »Dann wirst du etwas Geld brauchen.«

Auraya blickte auf. »Ja.«

»Ich habe das Zweitbeste neben Geld. Tatsächlich habe ich es ganz in der Nähe vergraben.«

»Den Schatz«, sagte Surim.

Emerahl lächelte. »Ja. Ich glaube, ich kann ein wenig für Auraya erübrigen. Schließlich hätte sie wohl kaum in Lumpen erscheinen können - oder ganz und gar unbekleidet. Das wäre unpassend gewesen.«

»Ich weiß nicht…«, widersprach Mirar.

»Unfug«, meldete Surim sich zu Wort. »Hat er Auraya nicht befreit? Wer ist dieser Mann?«

»Ein Veez«, antwortete Mirar.

Surim sah Mirar überrascht an, dann grinste er. »Meinst du, dass es nach allem, was du getan hast - oder nicht tun konntest -, um Auraya zu befreien, ein Veez war, dem es gelungen ist?«

»Ja«, erwiderte Emerahl.

Surim lachte. »Ob diesem armen Geschöpf wohl klar ist, dass es dir jede Chance verdorben hat, dass Auraya dir voller Dankbarkeit in die Arme sinken würde?«

Emerahl schnaubte. »Um der Frauen überall auf der Welt willen, sag mir, dass du das ohnehin nicht getan hättest, Auraya.«

Aurayas Mundwinkel zuckten. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Sie sah Mirar an. »Ich schätze, wir werden es nie erfahren.«

Er zuckte die Achseln. »An der Vergangenheit lässt sich nichts mehr ändern. Aber die Zukunft sieht gut aus. Voller endloser Möglichkeiten.«

Als er den Blick abwandte, beobachtete er, dass die anderen selbstgefällig grinsten, bevor sie ihre Züge hastig wieder glätteten.

»Und keine Götter«, ergänzte Emerahl.

»Aber immer noch reichlich Sterbliche«, warf die Möwe ein. »Unterschätzt sie nicht. Sie können ebenso gefährlich sein wie Götter. Gefährlicher sogar, da die Götter durch die Notwendigkeit eingeschränkt waren, willige Anhänger zu finden, die ihr Werk verrichteten.«

Die anderen dachten schweigend über seine Bemerkung nach.

»Wir sollten in Verbindung bleiben«, sagte Emerahl und blickte in die Runde. »Wir sollten einander besuchen - und vielleicht einmal im Jahr zusammenkommen.«

»Ja«, stimmte Surim ihr zu. »Vielleicht in Tamuns neuem Künstlerreich.«

Mirar stellte zu seiner Freude fest, dass Auraya nickte.

»Ich werde euch alle besuchen, solange ihr mir Bescheid gebt, wo ihr seid, da ich die Kontinente bereisen werde«, erklärte er. Dann sah er Auraya an. »Werde ich in Si willkommen sein?«

Sie lächelte beinahe. »Natürlich.«

Hoffnung regte sich in Mirars Herz. Vorsicht, sagte er sich. Zieh keine voreiligen Schlüsse. Du darfst sie nicht drängen. Sie braucht Zeit, um sich von allem zu erholen, was geschehen ist.

Emerahl erhob sich. »Wenn wir diesen Schatz holen wollen, tun wir es besser, bevor wir zu viel getrunken haben.« Sie wandte sich an Auraya. »Würdest du mir helfen, ihn herzutragen?«

Auraya zuckte die Achseln, dann stand sie auf und folgte Emerahl zu den Sanddünen. Als Mirar ihren ausgezehrten Körper betrachtete, durchzuckte ihn ein Stich der Sorge. Sie soll ihr helfen, den Schatz zu tragen? Das glaube ich nicht. Er stand auf und folgte den beiden Frauen.

Kurze Zeit später hatte er Auraya bereits eingeholt. Außer Atem war sie stehen geblieben. Emerahls Fußspuren führten über den Gipfel einer Düne. Auraya drehte sich mit einem kläglichen Lächeln zu ihm um.

»Deine Heilmethode hat ihre Grenzen«, bemerkte sie.

Er nickte. »Man kann nur von den Reserven zehren, die man angesammelt hat. Aber dem sollten einige gute Mahlzeiten wohl Abhilfe schaffen.«

Auraya nickte und sah stirnrunzelnd zu Boden. Er trat beunruhigt auf sie zu.

»Geht es dir gut?«

Sie hob den Blick, lächelte und kam dann ohne Vorwarnung zu ihm, um ihn auf den Mund zu küssen. Es war mehr als ein freundschaftlicher Kuss, auch wenn die Berührung nur kurz war.

Der kleine Vorfall ließ ihn vor Überraschung erstarren, und sein Herz begann zu hämmern.

»Wofür war der?«, gelang es ihm schließlich zu sagen.

»Das war ein Dankeschön«, antwortete sie. »Während der ganzen Zeit meiner… meiner Gefangenschaft hast du mir Gesellschaft geleistet. Du hast mir Hoffnung und Mut geschenkt.« Sie hielt inne. »Und wie du schon sagtest, die Zukunft ist voller endloser Möglichkeiten.«

Sie lächelte abermals, dann wandte sie sich ohne auf eine Erwiderung zu warten um, entschlossen, Emerahl auf die Sanddüne hinaufzufolgen.

Mirar sah sie auf der anderen Seite der Düne verschwinden und ging hinter ihr her, wohlwissend, dass er grinste wie ein Narr. Aber es kümmerte ihn nicht.

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