Trudi Canavan Götter

Für meinen Pa, »Wink« Dauncey,

der so gern bastelte

Prolog

Der Mann, der durch die Tür des Hospitals stolperte, war voller Blut. Es überzog sein Gesicht und seine Kleidung und quoll zwischen seinen Fingern hervor, die er sich auf die Stirn drückte. Als die Menschen in der Begrüßungshalle ihn sahen, verfielen sie einen Moment lang in Schweigen, dann kehrte die Normalität zurück und mit ihr der Lärm und die Geschäftigkeit. Irgendjemand würde sich schon um ihn kümmern.

Sieht so aus, als wäre ich diesmal dieser Jemand, dachte Priesterin Ellareen, nachdem sie zu den anderen Heilern hinübergeblickt hatte. Alle Priester, Priesterinnen und Traumweber waren beschäftigt, obwohl Traumweber Fareeh, der gerade den Arm eines Patienten verband, sich sichtlich beeilte.

Als der Neuankömmling sie näher kommen sah, wirkte er erleichtert.

»Willkommen im Hospital«, sagte sie. »Wie heißt du?«

»Mal Werkzeugmacher.«

»Was ist mit dir passiert?«

»Ich bin ausgeraubt worden.«

»Lass mal sehen.« Er gestattete ihr widerstrebend, seine Hand von seiner Stirn zu lösen. Aus einer Schnittwunde, die bis auf den Knochen reichte, drang weiteres Blut. Sie drückte seine Hand wieder auf die Verletzung. »Das muss genäht werden.«

Sein Blick wanderte zu dem Traumweber hinüber, der ihnen am nächsten stand. »Wirst du es machen?«

Sie unterdrückte einen Seufzer und bedeutete ihm, ihr den Flur hinunterzufolgen. »Ja. Komm mit.«

Es kam durchaus vor, dass Besucher des Hospitals um einen zirklischen Heiler baten, aber es war eher ungewöhnlich. Die meisten, die hierherkamen, waren bereit, jedwede Hilfe anzunehmen. Diejenigen, die die Traumweber nicht mochten oder ihnen nicht vertrauten, gingen anderswohin.

Die Traumweber arbeiteten bereitwillig mit zirklischen Priestern und Priesterinnen zusammen, und das Gleiche galt umgekehrt. Sie alle wussten, dass sie viele Menschen heilten, denen früher niemand geholfen hätte. Aber ein Jahrhundert der Vorurteile gegen die Traumweber ließ sich nicht binnen weniger Monate auslöschen. Ella hatte das auch nicht erwartet. Ebenso wenig wie sie es sich gewünscht hätte. Die Traumweber huldigten nicht den Göttern, daher starben ihre Seelen, wenn ihre Körper starben. Sie hatte großen Respekt vor ihnen als Heilern - niemand, der mit ihnen zusammenarbeitete, konnte leugnen, dass ihr Wissen und ihre Fähigkeiten beeindruckend waren -, aber ihre abschätzige, misstrauische Einstellung den Göttern gegenüber ärgerte Ella.

Ich billige auch keine blinde Intoleranz. Die Neigung einiger Menschen, jene zu fürchten, die anders waren als sie selbst, bis sie ihnen schließlich mit unvernünftigem Hass entgegentraten, verstörte sie mehr als die gewöhnliche Gewalt und die elende Armut, die die meisten Patienten in das Hospital führten.

In jüngster Zeit hatte eine neue Gruppe, die sich »wahre Zirkler« nannte, begonnen, die Helfer des Krankenhauses zu schikanieren. Ihre arrogante Überzeugung, dass ihre Huldigung der Götter würdiger war als die Ellareens und anderer, die den Traumwebern aufgeschlossener gegenüberstanden, erzürnte sie mehr als die Gleichgültigkeit der Traumweber. Das einzige Thema, bei dem sie mit ihnen übereinstimmte, waren die Pentadrianer. Im Gegensatz zu den Pentadrianern hatten die Traumweber niemals behauptet, Göttern zu folgen - Göttern, die nicht existierten -, oder diesen Betrug benutzt, um einen ganzen Kontinent davon zu überzeugen, dass die Zirkler Heiden waren und vernichtet zu werden verdienten.

Zumindest ist dieser Mann nicht zu stolz, unsere Hilfe zu suchen, dachte sie, während sie ihn den Flur hinunter in einen freien Behandlungsraum führte und ihn anwies, sich auf eine Bank zu setzen. Sie goss aus einem Trog Wasser in eine Schale und wärmte es mit Magie. Dann nahm sie ein Tuch aus einem Korb, gab einige Tropfen eines Wundreinigungsöls darauf, tauchte es in das Wasser und säuberte das Gesicht des Mannes. Dann machte sie sich daran, die Schnittwunde zu nähen.

Als sie fast fertig war, trat ein junger Priester, Naen, in die Tür.

»Deine Mutter ist soeben angekommen, Priesterin Ella.«

Sie runzelte die Stirn. »Sag ihr, dass ich zu ihr kommen werde, sobald ich mit diesem Patienten fertig bin.« Yranna, gib, dass sie bleibt, wo sie ist, bis ich Zeit für sie habe. Und dass sie nicht eine ihrer Launen hat.

Naen wird dafür sorgen, dass sie dich nicht stört, Ellareen, versicherte ihr eine Stimme.

Ella richtete sich auf und blickte sich um. Von der Frau, die sie gehört hatte, war nichts zu sehen. Höre ich etwa Stimmen wie dieser verrückte alte Mann, der ständig hierherkommt?

Nein, du bist nicht verrückt. Du bist so vernünftig wie die meisten Sterblichen. Vernünftiger sogar. Selbst wenn du ständig zu mir sprichst.

Wenn ich zu dir spreche … Bist du … Yranna?

Ja.

Das kann nicht sein.

Warum nicht?

Nun … du bist ein Gott. Eine Göttin. Warum solltest du mit mir reden?

Ich habe eine Aufgabe für dich.

Ein Schaudern, das eine Mischung aus Erregung und Furcht war, lief Ella über den Rücken. Gleichzeitig hörte sie, wie einer der Priester im Begrüßungsraum die Stimme hob.

»Vor dem Haus haben sich Menschen versammelt, die die Straße blockieren. Sie erlauben uns nicht, das Hospital zu verlassen … nein, wir können nicht… am besten, wir warten ab, bis sie wieder gehen.«

Nicht schon wieder die »wahren Zirkler«, dachte sie, während sie den letzten Stich zusammenzog.

Doch. Sie haben das Hospital umstellt.

Ella seufzte, dann schauderte sie, als sie mit einem Mal begriff.

Aber … diese Blockade muss anders sein als die früheren, sonst würdest du mich nicht bitten, eine Aufgabe für dich zu übernehmen.

Das ist richtig.

Worum geht es?

Ich möchte, dass du den Mann, den du behandelst, bewegungsunfähig machst. Benutze Magie, Drogen - was immer dazu erforderlich ist.

Ella erstarrte und sah den Mann an, der vor ihr saß. Mit geweiteten Pupillen erwiderte er ihren Blick. Es war nicht nur der Schmerz, der ihn unruhig machte, begriff sie. Es war Furcht.

Ihr Mund wurde trocken, und ihr Herz begann zu rasen. Er verfügte vielleicht über größere Gaben als sie. Auf jeden Fall war er ihr körperlich überlegen. Wenn dies hier schiefging …

Denk nicht darüber nach, sagte sie sich. Wenn die Götter verlangen, dass etwas geschehen soll, kann ich nur mein Bestes geben und ihnen gehorchen.

Die Wucht ihrer Magie warf ihn gegen die Wand und trieb die Luft aus seiner Lunge. Ella drückte ihn auf die Bank hinunter, hielt ihn dort fest und hoffte, dass er zu sehr damit beschäftigt war, nach Luft zu ringen, um die Gaben einzusetzen, die er vielleicht besaß.

Aber er wird nur allzu bald wieder klar denken können. Yranna hat Drogen vorgeschlagen

Sie griff nach einer Flasche Schlafdunstöl, goss etwas davon auf ein Tuch und hielt es dem Mann gegen die Nase, bis seine Augen glasig wurden. Die Droge würde ihn für einige Minuten benommen machen, aber was dann? Die Blockade könnte Stunden dauern.

Ich brauche ein schlafförderndes Mittel. Sie machte sich auf die Suche und fand einen fast leeren Krug mit Schlafleichtpulver. Sie rührte aus den Überresten einen dünnen Trank an und goss ihn dem Mann vorsichtig in den Mund. Die Prozedur weckte ihn für einen Moment; er hustete, dann schluckte er die Mixtur, bevor er wieder in einen Zustand der Bewusstlosigkeit hinüberglitt.

Sie trat zurück, um ihr Werk zu begutachten, und plötzlich wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie lange eine so geringe Dosis der Droge wirken würde. Eine halbe Tasse bescherte einem Menschen für eine volle Nacht Schlaf. Die Dosis, die sie ihm verabreicht hatte, würde vielleicht eine Stunde anhalten, wenn sie Glück hatte. Sie würde irgendwo gewiss noch mehr Schlafleicht finden, aber es war schwierig, den Trank einem vollkommen bewusstlosen Patienten zu verabreichen, schwierig und obendrein gefährlich, da die Mixtur in seine Lunge geraten könnte. Sie blickte auf den Mann hinab.

Yranna hat gesagt, ich soll dich bewegungsunfähig machen, dachte sie, nicht dich töten. Was hattest du überhaupt vor, Mal Werkzeugmacher?

Einem Impuls folgend griff sie nach einigen Streifen Verbandszeug, fesselte ihn an Händen und Füßen und knebelte ihn. Um ihr Tun zu verbergen, breitete sie eine Decke über den Mann, bis man nur noch den oberen Teil seines Kopfes sehen konnte.

Aber das würde ihn nicht daran hindern, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sobald er aufwachte. Die anderen werden wissen wollen, warum ich das getan habe. Was soll ich ihnen erzählen? Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr glauben würden, wenn sie berichtete, die Göttin habe ihr den Befehl dazu gegeben. Nun, irgendwann werden sie mir vielleicht glauben, aber in der Zwischenzeit werden sie ihn wahrscheinlich freilassen, so dass er tun kann, was immer er plant.

Er hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen, daher wäre es plausibel zu behaupten, er habe an Schwindel und Verwirrtheit gelitten. Schlafdrogen waren in solchen Fällen jedoch nicht die übliche Behandlung. Um die zu erklären, würde sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen.

»Ella!«, rief eine vertraute Stimme aus dem Flur.

Ella fuhr herum. Ihre Mutter musste Priester Naen entschlüpft sein. Sie eilte aus dem Raum, bevor sie sie mit einem gefesselten und geknebelten Patienten entdecken konnte.

Im Flur kam ihr eine dünne, ergrauende Frau entgegen, die ein sauberes, gut geschneidertes Kapas aus feinem Tuch trug. Als sie Ella sah, runzelte sie missbilligend die Stirn.

»Ella. Endlich. Ich muss ein kleines Gespräch mit dir führen.«

»Solange es nur klein ist«, erwiderte Ella geschäftsmäßig. »Lass uns zurück in die Begrüßungshalle gehen.«

»Du musst aufhören, hier zu arbeiten«, sagte ihre Mutter mit leiser Stimme, während sie Ella folgte. »Es ist zu gefährlich. Es ist schon schlimm genug zu wissen, dass du ständig dem Einfluss dieser Heiden ausgesetzt bist, aber jetzt ist alles noch schlimmer geworden. Die Gerüchte haben sich überall in der Stadt ausgebreitet. Es überrascht mich, dass du nicht von dir aus vernünftig genug gewesen bist, um fortzugehen aus diesem …«

»Mutter«, unterbrach Ella sie. »Wovon redest du eigentlich?«

»Mirar ist zurück«, antwortete ihre Mutter. »Oder hast du das noch nicht gehört?«

»Offenkundig nicht«, sagte Ella.

»Er war - ist - der Anführer der Traumweber. Ein Wilder, musst du wissen. Es heißt, er sei vor einem Jahrhundert doch nicht getötet worden; er habe überlebt. Er hat sich versteckt, und jetzt ist er zurückgekommen.«

»Wer sagt das?«, fragte Ella und versuchte, nicht allzu skeptisch zu klingen.

»Alle - und du brauchst mich gar nicht so anzuschauen. Viele Leute haben ihn gesehen. Und die Weißen bestreiten es nicht.«

»Haben sie denn überhaupt die Chance gehabt, das zu tun?«

»Natürlich haben sie die gehabt. Und du hörst mir jetzt zu. Du kannst hier nicht länger arbeiten. Du musst aufhören!«

»Ich werde nicht wegen eines Gerüchts Menschen im Stich lassen, die meine Hilfe brauchen.«

»Es ist kein Gerücht!«, rief ihre Mutter und vergaß dabei ganz, dass sie die Berichte über Mirars Rückkehr bereits selbst als Gerücht bezeichnet hatte. »Es ist die Wahrheit! Was ist, wenn er hierherkommt? Überleg doch nur, was er dir antun könnte! Du wirst ihn vielleicht nicht einmal erkennen. Er könnte in diesem Moment hier arbeiten, in Verkleidung! Er könnte dich verführen

Ella konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Sie verführen, wahrhaftig! »Die Traumweber interessieren mich nicht, Mutter.«

Aber die Frau hörte nicht zu. Während die möglichen Gefahren für Ellas Person immer ungeheuerlicher wurden, führte Ella ihre Mutter zu einer Bank in der Begrüßungshalle.

»Und jetzt sieh dir nur an, was passiert ist«, sagte ihre Mutter abrupt, während sie sich hinsetzte. »Weil er zurückgekommen ist, sitzen wir hier fest. Hat dieses Haus keine Hintertür? Können wir nicht …«

»Nein. Wenn so etwas passiert, stehen draußen vor dem Hintereingang immer schon Unruhestifter bereit.«

»Wenn du eine Hohepriesterin wärst, würden sie das nicht wagen.«

Ella unterdrückte ein Seufzen. Verrat mir eins, Yranna, sind alle Mütter so? Sind sie mit ihren Sprösslingen jemals zufrieden? Wenn es mir gelänge, eine Hohepriesterin zu werden, würde sie dann auf die Idee kommen, dass ich eine Weiße sein sollte? Und wenn ich durch ein Wunder zu einer Weißen würde, würde sie dann anfangen, an mir herumzunörgeln, dass ich eine Göttin werden solle?

Sie gab ihrer Mutter die gewohnte Antwort. »Wenn ich eine Hohepriesterin wäre, hätte ich überhaupt keine Zeit mehr, dich zu sehen.«

Ihre Mutter zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Wir bekommen dich ohnehin kaum noch zu sehen.«

Nur jeden zweiten oder dritten Tag, dachte Ella. Wie nachlässig ich doch bin. Wie schwer meine Eltern es haben. Wenn ich je so werden sollte, dachte sie, bitte, Yranna, sorg dafür, dass jemand mich umbringt.

»Hast du schon gehört, wer Auraya ersetzen wird?«, erkundigte sich ihre Mutter.

»Nein.«

»Du musst inzwischen doch irgendetwas gehört haben.«

Wie schafft sie es nur, dass selbst das so klingt, als sei es meine Schuld?

»Wie du schon so viele Male bemerkt hast, ich bin nur eine niedere Priesterin, die weder Beachtung noch Respekt verdient oder auch nur eine Einweihung in die tiefsten Geheimnisse der Zirkler«, erwiderte Ella trocken und vollauf darauf gefasst, für ihren Sarkasmus ausgescholten zu werden.

Aber ihre Mutter hörte ihr nicht zu. »Es wird einer der Hohepriester sein«, sagte ihre Mutter, wobei sie im Wesentlichen mit sich selbst sprach. »Wir brauchen jemanden, der stark ist - kein frivoles junges Mädchen mit einer Vorliebe für Heiden. Die Götter haben recht daran getan, diese Auraya hinauszuwerfen.«

»Sie ist nicht hinausgeworfen worden. Sie ist zurückgetreten, um den Siyee zu helfen.«

»Da habe ich aber etwas anderes gehört.« Das Gerücht, in das sie eingeweiht war, ließ die Augen ihrer Mutter triumphierend aufleuchten. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie sich geweigert habe zu tun, was die Götter von ihr verlangten, und dass sie ihr deshalb ihre Kräfte genommen hätten.«

Ella knirschte mit den Zähnen. »Nun, ich unterhalte mich ständig mit Yranna, und sie hat nichts dergleichen erwähnt. Außerdem verbringt eine gute Heilerin ihre Arbeitszeit nicht damit zu schwatzen.«

Ihre Mutter kniff die Augen zusammen und reckte das Kinn vor. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, hörte Ella jemanden ihren Namen rufen. Sie blickte auf, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie Priester Naen und Priester Kleven näher kommen sah. Beide wirkten beunruhigt.

»Was ist mit dem Mann mit dem Schnitt auf der Stirn geschehen, Ella?«, fragte Kleven.

»Er … er ist wütend geworden, als er hörte, dass wir hier in der Falle sitzen.«

»Also hast du ihn betäubt?«

Sie ließ ihre Mutter auf der Bank sitzen, erhob sich und eilte zu Kleven hinüber, bevor sie mit leiser Stimme erklärte: »Ja. Er war … sehr wütend. Ich habe Schlafdunst benutzt, und als ich keine abträglichen Nebenwirkungen bei ihm bemerken konnte, habe ich ihm eine winzige Dosis Schlafleicht gegeben.«

»Schlafleicht? Bei einem Mann, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat?«, rief Kleven aus. Er schüttelte den Kopf und ging auf den Flur zu. Ellas Herz setzte einen Schlag aus, und sie eilte hinter ihm her.

»Jeder, der eine Kopfverletzung hat und ein seltsames Benehmen an den Tag legt, sollte genau beobachtet werden«, erklärte Kleven ihr, während er in den Raum trat. Er zog die Decke von Mal Werkzeugmachers Kopf und entblößte den Knebel.

»Was ist das?«, fragte er. Er zog die Decke ganz weg und stieß einen leisen Schrei aus, als die Verbände, mit denen die Hände und Füße des Mannes gefesselt waren, sichtbar wurden.

»Er hat mich angegriffen«, erklärte sie ihm.

Er sah sie scharf an. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Sie zuckte die Achseln. »Ja. Er hat mich nicht angerührt.«

»Du hättest mir davon erzählen sollen.«

»Das wollte ich auch tun, aber … Meine Mutter hat mich abgelenkt.«

Er nickte, dann wandte er sich wieder dem bewusstlosen Mann zu. Als er sich daranmachte, die Verbände zu lösen, überlief sie ein Frösteln. »Ist das klug?«, fragte sie zögernd.

»Naen wird ihn im Auge behalten. Wie viel Schlafleicht hast du ihm verabreicht?«

»Nicht viel. Etwa einen Löffel voll.«

Bei Klevens Berührung flackerten die Augenlider des Mannes. Er war noch nicht aufgewacht, würde es aber bald tun.

»Halt«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Du darfst ihn nicht aufwachen lassen. Du musst ihn noch einmal betäuben.«

Kleven musterte sie forschend. »Warum?«

Sie seufzte. »Es ist unfassbar, aber du musst mir glauben. Ich bin vor ihm gewarnt worden und habe den Befehl erhalten, ihn festzusetzen. Es war …« Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß, es wird dir schwerfallen, das zu glauben - aber der Befehl kam von Yranna.«

Kleven zog die Augenbrauen hoch. »Von der Göttin?«

»Ja. Sie hat zu mir gesprochen. In meinen Gedanken. Und nein, normalerweise höre ich keine Stimmen im Kopf.«

Der Priester betrachtete sie nachdenklich. Sie sah den Zweifel in seinen Augen, konnte aber nicht erkennen, ob er zögerte, ihr zu glauben oder das Risiko einzugehen, gegen den Befehl eines Gottes zu verstoßen.

»Woher soll ich wissen, ob du das nicht erfunden hast?«

»Ich kann es nicht beweisen, wenn es das ist, was du meinst. Aber ich kann darauf hinweisen, dass ich bisher niemals unvernünftig gehandelt habe - ebenso wenig wie ich irgendwelche Anzeichen von Wahnsinn gezeigt habe.«

»Das ist wahr«, stimmte Kleven ihr zu. »Aber es ergibt keinen Sinn, dass Yranna zu dir sprechen sollte, ohne sich auch an uns Übrige zu wenden. Falls dieser Mann eine Gefahr für das Hospital darstellt, müssen wir alle es wissen.«

»Das hat mich ebenfalls verwirrt«, gestand sie. »Vielleicht ist die Gefahr vorüber… Aber ich bin nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Was ist mit dir?«

Kleven blickte zweifelnd auf den schlafenden Mann hinab.

»Kann ich irgendwie helfen?«

Sie drehten sich um und sahen Traumweber Fareeh in der Tür stehen. Ella unterdrückte ein Stöhnen. Kleven war noch nicht fertig mit dem Aufbinden der Fesseln, und als der Traumweber sie bemerkte, hob er die Brauen.

»Ein schwieriger Patient?«

Kleven sah Ella an. »In mehr als nur einer Hinsicht.«

Der Traumweber betrachtete den Schlafenden, dann wandte er sich ihnen beiden zu und nickte. Als er Anstalten machte, sich zu entfernen, seufzte Kleven. »Ella sagt, Yranna habe ihr aufgetragen, ihn bewegungsunfähig zu machen.«

Ella starrte den Priester überrascht an.

»Ah«, war alles, was Fareeh sagte.

Warum hat Kleven ihm das erzählt? Langsam dämmerte ihr der Grund für sein Verhalten. Wenn er es nicht getan hätte, würde Fareeh wissen, dass wir etwas vor ihm verbergen. Das könnte sich auf seine Einstellung uns gegenüber auswirken. Sie schüttelte den Kopf. Das Gleichgewicht von Vertrauen und Misstrauen zwischen unseren Leuten ist so leicht zu erschüttern.

»Glaubst du ihr?«, fragte Kleven.

Der Traumweber zuckte die Achseln. »Ich glaube nichts, wofür ich nicht mit meinen eigenen Sinnen Bestätigung finden kann, daher spielt die Frage des Glaubens keine Rolle. Entweder sie irrt sich, oder sie hat recht. So oder so ist die Situation beunruhigend. Ich kann nur vorschlagen, dass du sowohl den Patienten als auch die Priesterin in die Begrüßungshalle bringst, damit wir alle zugegen sind und uns darum kümmern können, sollte diese Angelegenheit zu irgendwelchen Problemen führen.«

Der ältere Priester nickte. »Ein guter Rat.«

Ella sah besorgt zu, während Kleven den bewusstlosen Mann mit Magie anhob und in den Flur hinaustrug. Besucher und Heiler, gleichermaßen gelangweilt und erpicht auf jedwede Abwechslung, beobachteten neugierig, wie dieser Fremde auf eine Bank gelegt wurde. Aber als die Zeit verstrich und der Mann nichts weiter tat, als zu schlafen, richteten sie ihre Aufmerksamkeit bald wieder auf andere Dinge.

Ella behielt den Fremden im Auge und fragte sich, was er vorgehabt haben mochte. Wolltest du uns angreifen? Wolltest du aus dem Raum schlüpfen, während wir anderweitig beschäftigt waren, und die Hintertür öffnen, um deine Leute hereinzulassen? Wann immer der Mann sich bewegte, machte Ellas Herz einen Satz.

Als seine Lider sich schließlich flatternd öffneten, erhob sie sich, gewappnet, jedweden Angriff mit Magie zu parieren.

»Setz dich, Priesterin Ella«, sagte Kleven gelassen, aber entschieden. Sie gehorchte.

Der Fremde stemmte sich mühsam auf den Ellbogen hoch und sah sich benommen um. Als sein Blick auf Ella fiel, schauderte er.

»Was ist passiert?«, fragte er nuschelnd. »Sie… sie hat mich angegriffen.«

»Bleib ruhig. Dir droht keine Gefahr«, erwiderte Kleven besänftigend. »Lass dir einen Moment Zeit, um dich zu sammeln.«

Der Blick des Mannes streifte im Raum umher. »Immer noch hier … Bin ich ein Gefangener?«

»Nein.«

Er rappelte sich hoch. Kleven trat zu ihm und stützte ihn.

»Lass mich gehen.«

»Alles zu seiner Zeit. Du hast eine kleine Dosis von einer Schlafdroge bekommen. Warte, bis die Wirkung sich legt.«

»Schlaf… Warum habt ihr mich betäubt?«

»Eine von uns glaubte, du wolltest uns Böses. Ist das wahr?«

Bei dem Ausdruck, der jetzt über die Züge des Mannes huschte, überlief Ella ein Schauer. Schuld!, dachte sie. Er hatte tatsächlich etwas geplant.

»Nein. Ich bin nur hergekommen, um…« Er griff sich an die Stirn und zuckte zusammen, als seine Finger die Naht ertasteten. Er holte tief Luft, straffte sich und stand auf. Einen Moment lang schwankte er, dann machte er einige Schritte. Die Wirkung der Droge ließ schnell nach, und niemand machte Anstalten, den Mann aufzuhalten, als er mit wachsender Zuversicht im Raum auf und ab ging.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte er. »Kann ich jetzt gehen?«

Kleven zuckte die Achseln und nickte. »Ich sehe keinen Grund, warum wir dich hier festhalten sollten… abgesehen davon, dass sich dort draußen eine feindselige Menge versammelt hat. Wenn du fortzugehen versuchst, wirst du dir noch eine solche Verletzung einhandeln, wenn nicht sogar Schlimmeres.«

Der Mann sah Ella vielsagend an. »Das Risiko gehe ich ein.«

Kleven hob die Hände. »Wir werden dich nicht aufhalten, wir können dich nur warnen. Ich werde die Tür entriegeln.«

Niemand rührte sich, als der Mann auf die Tür zuging. Ella runzelte die Stirn. Sie sollte froh sein, dass er das Hospital verließ, nachdem sein Plan vereitelt worden war. Aber irgendetwas nagte an ihr. Warum sollte Yranna diesen Mann ziehen lassen, wenn er das Hospital bedroht hatte? Yranna hatte gesagt…

Dann wurde ihr plötzlich klar, was sie zuvor nicht hatte in Worte fassen können.

»Halt!«, rief sie und sprang auf. Der Mann beachtete sie nicht.

»Ella…«, begann Kleven.

Als der Mann eine Hand an die Tür legte, zog Ella Magie in sich hinein und sandte eine Barriere aus, um ihn aufzuhalten. Er stieß gegen den unsichtbaren Schild und drehte sich um, um sie wütend anzufunkeln.

»Ella!«, blaffte Kleven. »Lass ihn gehen!«

»Nein«, erwiderte sie gelassen. »Yranna hat mir aufgetragen, ihn festzuhalten. Sie hat nicht gesagt, warum. Vielleicht wollte sie verhindern, dass er uns Schaden zufügt. Aber vielleicht wollte sie auch verhindern, dass er das Hospital verlässt.«

Der Mann entfernte sich rückwärts von der Tür und starrte Ella an, das Gesicht verzerrt vor Zorn. Sie spürte Klevens Hand auf ihrem Arm.

»Ella. Wir können nicht…«

Seine Stimme verklang, und sie hörte, wie er hastig Luft holte. Von der Tür ertönte ein Klopfen. Kleven ließ sie los.

»Lass deine Barriere sinken, Ella«, murmelte er. »Rian von den Weißen ist hier.«

Sie tat wie geheißen. Die Tür schwang auf. Ein Mann, der einen schmucklosen Zirk trug, trat über die Schwelle. Rian, der rothaarige Weiße, betrachtete den Fremden mit uralten Augen.

»Du hast uns eine hübsche Jagd beschert, Lemarn Schiffsmacher.«

Während der Fremde mit bleichem Gesicht zurückwich, trat eine Hohepriesterin in die Halle. Auf ein Nicken von Rian deutete sie mit der Hand auf den Mann und vollführte einige knappe Bewegungen. Im nächsten Moment ging er steif an ihr vorbei und durch die Tür, offensichtlich geführt von einer unsichtbaren Kraft.

Rian wandte sich den Menschen im Hospital zu. »Die Unruhestifter sind klugerweise weitergezogen. Ihr könnt jetzt gefahrlos fortgehen. Oder hierbleiben und eure Arbeit fortsetzen, ganz wie ihr wünscht.«

Überall im Raum wurden Seufzer der Erleichterung laut. Kleven trat vor und machte das formelle, beidhändige Zeichen des Kreises.

»Ich danke dir, Rian von den Weißen.«

Rian nickte und sah dann zu Ella hinüber. »Gut gemacht, Priesterin Ellareen. Wir suchen schon seit Monaten nach diesem Mann. Die Götter sind beeindruckt von deiner Ergebenheit und deinem Gehorsam. Es würde mich nicht überraschen, wenn mir zu Ohren käme, dass man dir gerade noch rechtzeitig eine Position als Hohepriesterin anbieten würde.«

Sie starrte ihn erstaunt an. Er erwartete offensichtlich keine Antwort, denn er wandte sich ab und trat hinaus.

»… gerade noch rechtzeitig …« Er will doch nicht etwa andeuten, dass… nein, das ist unmöglich.

Aber bis zur Erwählungszeremonie für den nächsten Weißen blieb nur noch ein Monat Zeit. Welchen anderen Grund könnte es für eine rechtzeitige Ernennung zur Hohepriesterin geben?

Ich brauche nur abzuwarten.

Benommen kehrte sie in das Hospital zurück und machte sich wieder an die Arbeit.


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