KAPITEL DREISSIG

Fieberjahre:
November 1857 — April 1870

Beide taten genau das, was sie sich vorgenommen hatten: Abner Marsh setzte seine Suche fort, aber er fand sein Schiff nicht.

Sie verließen Aaron Grays Plantage, sobald Karl Framm kräftig genug war, um weiterzuziehen, und mehrere Tage nach Joshua Yorks Verschwinden. Marsh war froh, von dort wegzukommen. Gray und seine Leute waren mittlerweile mächtig mißtrauisch geworden und wollten wissen, warum nichts von einer Dampfschiffexplosion in den Zeitungen stand und warum kein Nachbar etwas gehört hatte und warum Joshua sich aus dem Staub gemacht hatte. Und Marsh verfing sich nach und nach im Netz seiner eigenen Lügen. Als er und Toby und Karl Framm flußaufwärts zogen, war die Fiebertraum verschwunden, wie er es auch erwartet hatte. Marsh kehrte nach St. Louis zurück.

Während des langen schweren Winters suchte Marsh ständig weiter. Er schrieb noch mehr Briefe, trieb sich in den Bars und den Billardsälen am Fluß herum, er engagierte weitere Detektive, er las zahllose Zeitungen, er fand Yoerger und Grove und den Rest der Mannschaft der Eli Reynolds und schickte sie als Kabinenpassagiere auf dem Fluß hinauf und hinunter, damit sie sich umsahen. Alle Bemühungen erbrachten nichts. Niemand hatte die Fiebertraum gesehen. Niemand hatte aber auch etwas von der Ozymandias gehört. Abner Marsh gelangte zu der Überzeugung, daß sie ihren Namen schon wieder geändert hatten. Er las jedes gottverdammte Gedicht, das Byron und Shelley je schrieben hatten, aber diesmal ohne irgendein Ergebnis. Es wurde so schlimm, daß er die verdammten Gedichte am Ende auswendig hersagen konnte, und er beschäftigte sich sogar mit anderen Dichtern, aber er fand nichts anderes als einen ziemlich ramponiert aussehenden Heckraddampfer vom Missouri namens Hiawatha.

Marsh erhielt einen Bericht von seinen Detektiven, doch der verriet ihm nicht mehr, als er längst wußte. Der Seitenraddampfer Ozymandias hatte Natchez an jenem Oktoberabend mit etwa vierhundert Tonnen Fracht, vierzig Kabinenpassagieren und etwa doppelt so vielen Decksfahrgästen verlassen. Die Fracht war nie ausgeliefert worden. Weder der Dampfer noch die Passagiere wurden jemals wiedergesehen, außer an einigen Holzplätzen am Strom unterhalb von Natchez. Abner Marsh las diesen Brief stirnrunzelnd mindestens ein halbes dutzendmal. Die Zahlen waren viel zu niedrig, was bedeutete, das Sour Billy überaus schlechte Arbeit leistete — es sei denn, er tat es ganz bewußt, damit Julian und sein Nachtvolk nicht zuviel Hektik und Unruhe erlebten. Hundertzwanzig Menschen waren weg, verschwunden. Das trieb Marsh den kalten Schweiß aus den Poren. Er starrte auf den Brief und erinnerte sich, was Damon Julian zu ihm gesagt hatte: Niemand auf dem Fluß wird jemals Ihre Fiebertraum vergessen.

Monatelang wurde Abner Marsh von furchtbaren Alpträumen von einem Schiff gepeinigt, das den Fluß hinunterfuhr, total schwarz, jede Lampe und jede Kerze gelöscht, mit großen schwarzen Planen rund um das Hauptdeck, damit nicht einmal das rötliche Licht aus den Ofenlöchern nach draußen drang, ein Schiff, so dunkel wie der Tod und so schwarz wie die Sünde, ein Schatten, der durch Mondschein und Nebel glitt, kaum zu erkennen, still und schnell. In seinen Träumen gab sie während ihrer Fahrt keinen Laut von sich, und weiße Gestalten huschten lautlos über die Decks und bevölkerten den großen Salon, und in ihren Kabinen hockten angsterfüllt die Passagiere, bis sich die Türen eines Nachts öffneten und sie zu schreien begannen. Ein‐ oder zweimal wachte Marsh selbst schreiend auf, und selbst in seinen Wachstunden konnte er es nicht vergessen, sein Traumschiff, eingehüllt in Schatten und Schreie, mit Qualm, so schwarz wie Julians Augen, und Dampf in der Farbe von Blut.

Als das Eis auf dem Oberlauf des Flusses allmählich brach, stand Abner Marsh vor einer schweren Entscheidung. Er hatte die Fiebertraum nicht gefunden, und die Suche hatte ihn an den Rand des Ruins getrieben. Seine Hauptbücher erzählten eine traurige Geschichte; seine Auftragsbücher waren nahezu leer. Er besaß eine Dampfschiffahrtsgesellschaft ohne ein einziges Dampfschiff, und ihm fehlten sogar die Mittel, um wenigstens eins von mittlerer Größe bauen zu lassen. Daher setzte Marsh sich widerstrebend mit seinen Agenten und Detektiven in Verbindung und blies die Suche ab.

Mit dem wenigen Geld, das ihm noch geblieben war, zog er flußabwärts dorthin, wo die Eli Reynolds noch immer in der Flußschlinge saß, in der sie sich festgefahren hatte. Man baute ein neues Ruder ein, reparierte notdürftig das Heckrad und wartete auf das Frühjahrshochwasser. Das Hochwasser setzte ein, der Seitenarm wurde wieder befahrbar, und Yoerger und seine Mannschaft brachten die Eli Reynolds zurück nach St. Louis, wo sie mit einem nagelneuen Schaufelrad sowie mit einer neuen Maschine mit doppelter Leistung und einem zweiten Kessel ausgerüstet wurde. Sie bekam sogar einen neuen Farbanstrich und einen gelben Teppich für die Hauptkabine. Dann brachte Marsh sie im New Orleans‐Geschäft unter, wofür sie eigentlich zu klein, zu schäbig und zu unzureichend ausgerüstet war, damit er seine Suche persönlich fortsetzen konnte.

Noch bevor er richtig anfing, wußte Abner Marsh, daß es so gut wie hoffnungslos war. Zwischen Cairo und New Orleans allein erstreckten sich elfhundert Meilen Flußlauf. Dann war da der obere Mississippi oberhalb von Cairo bis zu den Wasserfällen von St. Anthony. Da war der Missouri, da waren der Ohio und der Yazoo und der Red River und etwa fünfzig weitere kleinere Flüsse und Nebenarme, die während eines Teils des Jahres befahrbar waren, wenn man einen guten Lotsen engagiert hatte. Das Schiff konnte sich auf einem dieser Gewässer versteckt haben, und wenn die Eli Reynolds daran vorbeidampfte und es verfehlte, dann hieße das, daß man ganz von vorn anfangen müßte. Tausende von Dampfschiffen waren auf dem Mississippi‐Flußnetz unterwegs, und jeden Monat kamen neue Schiffe hinzu, was bedeutete, daß er eine ganze Menge ihm unbekannter Namen in den Zeitungen überprüfen mußte. Aber Marsh mochte nichts Besonderes sein, stur war er jedoch allemal. Er suchte weiter, und die Eli Reynolds wurde zu seinem Zuhause.

Sie bekam keine großen Aufträge. Die größten, schnellsten, luxuriösesten Dampfschiffe auf dem Fluß maßen sich miteinander auf der Strecke St. Louis nach New Orleans, und die Eli Reynolds, alt und langsam wie sie war, nahm den großen Seitenraddampfern nur wenige Aufträge weg. »Es liegt nicht nur daran, daß sie schnell ist wie eine Schnecke und doppelt so häßlich«, erklärte Marshs Agent ihm im Herbst 1858, während er ihm Bescheid sagte, daß er einen anderen Job annehmen würde, »Sie sind es genauso, und ich will verdammt sein, wenn das nicht die Wahrheit ist.«

»Ich?« brüllte Marsh. »Was zur Hölle meinen Sie damit?«

»Die Leute auf dem Fluß reden viel, müssen Sie wissen. Sie sagen, daß Sie der größte Unglücksrabe sind, der je ein Dampfschiff besessen hat. Sie sagen, irgendein Fluch liege auf Ihnen, schlimmer noch als der Fluch auf der Drennan Whyte. Bei einem Ihrer Dampfer seien die Kessel explodiert, so heißt es, und hätten jeden getötet. Vier Schiffe wurden im Packeis zerquetscht. Ein Schiff wurde verbrannt, weil auf ihm die Menschen an Gelbfieber starben. Und das letzte, so erzählt man sich, das hätten Sie selbst zuschanden gefahren, nachdem Sie verrückt spielten und Ihren Lotsen mit einem Knüppel verprügelt hätten.«

»Das war auch ein verfluchter Kerl«, schimpfte Marsh.

»Jetzt frage ich Sie, wer, zum Teufel, hat Lust, mit solch einem Verfluchten Geschäfte zu machen? Ich jedenfalls nicht, das kann ich Ihnen versichern. Ich nicht.«

Der Mann, der für Jonathon Jeffers angeheuert worden war, bat Marsh mehr als einmal, die Eli Reynolds von der New‐Orleans‐Strecke zu nehmen und sie ihre Fahrten auf dem oberen Mississippi oder dem Illinois machen zu lassen, wofür sie besser ausgerüstet sei, oder gar auf dem Missouri, der rauh und gefährlich, aber enorm einträglich war, wenn einem das Dampfschiff nicht an den Riffen zerschellte. Abner weigerte sich und warf den Mann hinaus, als er seine Bitten wiederholte. Er dachte sich, daß es undenkbar sei, die Fiebertraum auf einem der nördlichen Flüsse aufzustöbern. Überdies hatte er in den vergangenen Monaten an verschiedenen Holzplätzen in Louisiana oder an verlassenen Inseln in Mississippi und Arkansas haltgemacht und weggelaufene Sklaven aufgenommen und sie nach Norden in die freien Staaten gebracht. Toby hatte ihn mit einer Organisation in Verbindung gebracht, die sich ›Underground Railroad‹ nannte, die sämtliche Arrangements traf. Abner Marsh hatte nicht viel übrig für die gottverdammten Eisenbahnen und bestand darauf, die Organisation den ›Underground River‹ zu nennen, aber es vermittelte ihm ein gutes Gefühl, wenn er helfen konnte, so als füge er auf diese Art und Weise Damon Julian Schaden zu. Manchmal begab er sich zu den Flüchtlingen auf das Hauptdeck und fragte sie aus nach dem Nachtvolk und der Fiebertraum und solchen Dingen in der Annahme, daß die Schwarzen von Dingen wußten, von denen Weiße keine Ahnung hatten, aber keiner konnte ihm je etwas Nützliches erzählen.

Fast drei Jahre lang setzte Abner Marsh seine Jagd fort. Es waren schwere Jahre. 1860 war Marsh aufgrund der Verluste, die ihm durch den Betrieb der Eli Reynolds entstanden waren, hoch verschuldet. Er war gezwungen, die Büros zu schließen, die er in St. Louis, New Orleans und anderen Flußstädten unterhalten hatte. Die Alpträume peinigten ihn nicht mehr so häufig wie früher, aber im Lauf der Jahre hatte er sich immer mehr zurückgezogen. Manchmal kam es Marsh so vor, als sei die Zeit, die er mit Joshua York auf der Fiebertraum verbracht hatte, das letzte wahre Leben gewesen, das er kennengelernt hatte, und daß die Monate und Jahre seitdem verstrichen waren wie in einem Traum. Bei anderen Gelegenheiten empfand er genau das Gegenteil, daß dies die Wirklichkeit war, die rote Tinte in seinen Hauptbüchern, das Deck der Eli Reynolds unter ihm, der Geruch ihres Dampfs, die Flecken auf dem neuen gelben Teppich. Die Erinnerungen an Joshua, die Pracht des großen Dampfschiffs, das sie zusammen gebaut hatten, das kalte Grauen, das Julian in ihm geweckt hatte, diese Dinge waren der Traum, dachte Marsh, und kein Wunder, daß sie verschwunden waren, kein Wunder, daß die Menschen am Fluß ihn für verrückt hielten.

Die Ereignisse des Sommers 1857 wurden sogar noch traumgleicher, als — einer nach dem anderen — jene, die einen Teil von Marshs Erfahrungen geteilt hatten, sich aus seinem Leben verabschiedeten. Old Toby Lanyard war einen Monat nach ihrer Rückkehr nach St. Louis nach Osten abgezogen. Wieder zum Sklaven gemacht worden zu sein, reichte ihm, nun wollte er nur noch schnellstens weg aus den Sklavenstaaten. Marsh erhielt von ihm Anfang 1858 einen kurzen Brief, in dem er ihm mitteilte, er habe eine Stelle als Koch in einem Bostoner Hotel gefunden. Danach hörte er nie wieder etwas von Toby. Dan Albright fand eine Stelle auf einem nagelneuen, in New Orleans stationierten Seitenraddampfer. Im Sommer 1858 hatten Albright und sein Schiff jedoch das Pech, ausgerechnet während einer heftigen Gelbfieberepidemie in New Orleans zu sein. Die Krankheit raffte Tausende dahin, darunter auch Albright, und führte am Ende dazu, daß die Stadt ihre Abwasserbeseitigung derart verbesserte, daß sie im Sommer nicht mehr sosehr einer offenen Sickergrube glich wie vorher. Kapitän Yoerger führte die Eli Reynolds für Marsh bis nach der Sommersaison 1859, als er sich auf seiner Farm in Wisconsin zur Ruhe setzte, wo er ein Jahr später in Frieden starb. Als Yoerger ihn verlassen hatte, lenkte Marsh den Heckraddampfer selbst, um Geld zu sparen. Mittlerweile waren nur noch eine Handvoll vertrauter Gesichter bei der Mannschaft. Doc Turney war im vorhergehenden Sommer in Natchez‐under‐the‐Hill getötet und ausgeraubt worden, und Cat Grove hatte den Fluß endgültig hinter sich gelassen, um nach Westen zu ziehen, zuerst nach Denver, dann nach San Francisco und schließlich sogar bis nach China oder Japan oder irgendeiner anderen gottverlassenen Gegend. Marsh heuerte Jack Ely an, den alten zweiten Maschinisten von der Fiebertraum, um Turney zu ersetzen, und holte sich auch ein paar andere Leute aus der Mannschaft des verschwundenen Seitenpaddlers, aber sie starben oder zogen weiter oder fanden andere Jobs. Im Jahr 1860 waren nur noch Marsh selbst und Karl Framm von jenen übrig, die den Triumph und das Grauen des Sommers von 1857 am eigenen Leib miterlebt hatten. Framm lenkte die Eli Reynolds trotz der Tatsache, daß sein Können ihn eigentlich für weitaus größere und prächtigere Schiffe prädestinierte. Framm erinnerte sich an eine ganze Reihe Dinge, über die er nicht reden wollte, nicht einmal mit Marsh. Der Lotse war immer noch gutmütig und zu Späßen aufgelegt, aber er erzählte bei weitem nicht mehr so viele Geschichten, wie er es früher getan hatte, und Marsh sah in seinen Augen einen Ernst und eine Verbissenheit, die früher nicht dagewesen war. Framm trug jetzt auch eine Pistole bei sich. »Für den Fall, daß wir sie finden«, sagte er.

Marsh schnaubte. »Dieses kleine Ding kann Julian überhaupt nichts anhaben.«

Karl Framms Grinsen war noch immer schief und verschlagen, und sein Goldzahn reflektierte das Licht, aber in seinen Augen lag nichts Lustiges, als er antwortete: »Die ist nicht für Julian, Cap’n. Sie ist für mich. Die bekommen mich nicht mehr lebend.« Er sah Marsh an. »Ich könnte das gleiche auch für Sie tun, wenn es denn sein soll und wenn es soweit ist.«

Marsh schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Dazu wird es nicht kommen«, erklärte er und verließ das Ruderhaus. Er erinnerte sich für den Rest seiner Tage an diese Unterhaltung. Er erinnerte sich auch an eine Weihnachtsfeier in St. Louis im Jahr 1859, die von dem Kapitän von einem der großen Ohio‐Schiffe veranstaltet wurde. Marsh und Framm nahmen beide teil, ebenso alle anderen Dampfschiffer in der Stadt, und nachdem alle schon einiges getrunken hatten, fingen sie an, sich gegenseitig Flußgeschichten zu erzählen. Er kannte alle Geschichten, aber es war sehr friedlich und gemütlich und beruhigend zu hören, wie die Leute sie den Händlern und Bankiers und den schönen Frauen erzählten, die nicht eine davon je gehört hatten. Sie erzählten von Old Al, dem Alligatorkönig, von dem Phantomdampfer von Raccourci, von Mike Fink und Jim Bowie und Roarin’ Jack Russell, von dem großen Rennen zwischen der Eclipse und der A. L. Shotwell, von dem Lotsen, der ein schlimmes Flußstück bei Nebel befahren hatte, obwohl er längst gestorben war, von dem verdammten Dampfer, der vor zwanzig Jahren die Windpocken flußaufwärts gebracht hatte, an denen dann etwa zwanzigtausend Indianer starben. »Das hat den Pelztierhandel völlig ruiniert«, schloß der Erzähler seinen Bericht, und alle lachten, bis auf Marsh und ein paar andere. Dann berichtete einer von den Riesendampfern, von der Hurricano und E. Jenkins und solchen Schiffen, die sich ihren eigenen Wald auf dem Sturmdeck zogen und die so große Räder hatten, daß sie ein ganzes Jahr lang für eine volle Umdrehung brauchten. Abner Marsh lächelte.

Karl Framm schob sich mit einem Brandyglas in der Hand durch die Menge. »Ich kenne eine Geschichte«, sagte er, und seine Stimme klang leicht betrunken. »Die stimmt sogar. Da gibt es so einen Dampfer namens Ozymandias, wißt ihr …«

»Davon habe ich nie etwas gehört«, meinte jemand. Framm lächelte knapp. »Du solltest wirklich hoffen, daß du sie niemals zu sehen bekommst«, sagte er, »denn dann ist es mit dir aus. Sie fährt nur bei Nacht, dieses Schiff. Und sie ist dunkel, völlig düster. Schwarz wie ihre Schornsteine, jeder Zentimeter, außer daß sie drinnen eine Hauptkabine hat mit einem Teppich in der Farbe von Blut und Silberspiegel überall, die nichts reflektieren. Diese Spiegel sind immer leer, obwohl sich eine ganze Menge Leute an Bord befindet, bleiche hagere Leute in eleganten Kleidern. Sie lächeln sehr viel. Nur sind sie in den Spiegeln nicht zu sehen.«

Jemand schüttelte sich fröstelnd. Alle waren verstummt. »Warum nicht?« fragte ein Maschinist, den Marsh flüchtig kannte.

»Weil sie tot sind«, sagte Framm. »Jeder einzelne von ihnen ist tot. Aber sie legen sich nicht nieder. Sie sind Sünder, und sie müssen bis in alle Ewigkeit mit dem Schiff herumfahren, auf diesem schwarzen Kahn mit den roten Teppichen und den leeren Spiegeln, immer den Fluß hinauf und hinunter, niemals an einem Hafen anlegend, nichts.«

»Phantome«, sagte jemand.

»Geister«, fügte eine Frau hinzu, »wie auf dem Raccourci‐Schiff.«

»Aber nein, zum Teufel«, widersprach Karl Framm. »Durch ein Gespenst kann man hindurchgehen, aber nicht durch die Ozymandias. Sie ist real, und das erfährt jeder sehr schnell und schmerzhaft, der das Pech hat, ihr bei Nacht zu begegnen. Dieses tote Volk ist hungrig. Die Passagiere trinken Blut, müßt ihr wissen. Heißes rotes Blut. Sie verbergen sich im Dunkeln, und wenn sie die Lichter eines anderen Dampfers sehen, dann verfolgen sie ihn, und wenn sie ihn einholen, dann fallen sie über ihn her, alle diese toten weißen Gesichter, lachend, elegant angezogen. Und nachher versenken sie das Schiff, oder sie verbrennen es, und am nächsten Morgen ist nichts mehr zu sehen als ein paar Stangen, die aus dem Fluß ragen oder vielleicht auch ein gestrandetes Boot voller Leichen. Bis auf die Sünder. Die Sünder kehren wieder auf die Ozymandias zurück und fahren bis in alle Ewigkeit weiter.« Er trank seinen Brandy und lächelte. »Wenn ihr also des Nachts draußen auf dem Fluß seid, und ihr seht hinter euch auf dem Wasser einen Schatten, dann schaut genau hin. Es könnte ein Dampfer sein, von oben bis unten völlig schwarz, mit einer Mannschaft, die keine Gespenster sind. Sie hat keine Beleuchtung, die Ozymandias, daher kann man sie manchmal erst sehen, wenn sie schon dicht hinter einem ist und die schwarzen Räder das Wasser hochschleudern. Wenn ihr sie seht, dann solltet ihr froh sein, wenn ihr einen schnellen Lotsen habt und vielleicht auch etwas Petroleum an Bord oder eine kleine Ladung Talg. Denn sie ist groß, und sie ist schnell, und wenn sie einen von euch bei Nacht erwischt, dann ist es mit dem Betreffenden zu Ende. Achtet auf ihre Pfeife. Sie gibt erst dann ein Signal von sich, wenn sie weiß, daß sie wieder jemanden erwischt hat. Wenn ihr sie also hört, dann fangt schon mal an, eure Sünden aufzuzählen.«

»Wie klingt denn die Pfeife?«

»Genauso, als würde ein Mensch schreien«, sagte Karl Framm.

»Und wie lautet noch mal ihr Name?« fragte ein junger Lotse.

»Ozymandias«, sagte Framm. Er wußte, wie man das Wort aussprach.

»Was bedeutet das?«

Abner Marsh stand auf. »Es stammt aus einem Gedicht«, sagte er. »Betrachtet meine Werke ihr Mächt’gen und die Not.«

Die Festgäste sahen ihn verständnislos an, und eine dicke Lady kicherte schrill und nervös. »Auf diesem alten Satansfluß gibt es Flüche und noch weitaus schlimmere Dinge«, meinte ein kleinwüchsiger Zahlmeister. Während er seine Erzählung zum besten gab, ergriff Marsh Karl Framms Arm und zog ihn mit sich nach draußen.

»Warum, zum Teufel, haben Sie diese Geschichte erzählt?« wollte Marsh wissen.

»Um ihnen Angst einzujagen«, antwortete Framm. »Damit sie, wenn sie sie eines Nachts sehen sollten, vernünftig genug sind, so schnell wie möglich zu verschwinden.«

Abner Marsh ließ sich das durch den Kopf gehen und nickte dann widerstrebend. »Ich denke, das ist schon in Ordnung. Sie haben ihr Sour Billys Namen gegeben. Wenn sie Fiebertraum gesagt hätten, Mister Framm, dann hätte ich Ihnen Ihren gottverdammten Schädel abgerissen. Haben Sie verstanden?«

Framm hörte es, aber es machte ihm nichts aus. Die Geschichte war unter den Leuten, ob das nun gut war oder nicht. Marsh hörte eine leicht verzerrte Version davon aus dem Mund eines anderen Mannes, einen Monat später, als er im Planters’ House dinierte, und noch zwei weitere Male in jenem Winter. Die Geschichte wurde jedesmal leicht verändert, was sonst, und das betraf auch den Namen des schwarzen Dampfschiffs. Ozymandias war einfach für die meisten Erzähler zu schwierig auszusprechen, so schien es. Aber ganz gleich, welchen Namen sie dem verdammten Schiff gaben, es war immer die gleiche verfluchte Geschichte.

Etwas mehr als ein halbes Jahr später kam Marsh eine andere Geschichte zu Ohren, die sein Leben veränderte.

Er hatte soeben zum Abendessen in einem kleinen Hotel in St. Louis Platz genommen, billiger als das Planters’ House und das Southern, aber mit gutem Essen. Es wurde auch von nicht vielen Flußleuten besucht, was Marsh nur recht war. Seine alten Freunde und Konkurrenten hatten ihn in den vergangenen Jahren ziemlich schief angesehen oder ihn sogar gemieden, da er offensichtlich vom Unglück verfolgt wurde, oder sie hatten sich nur zu ihm setzen wollen, um sich über seine Pechsträhne zu unterhalten, und Marsh hatte zu dem allen nicht besonders viel Lust. Er zog es vor, wenn man ihn in Ruhe ließ. An jenem Tag im Jahr 1860 saß er friedlich bei Tisch und trank ein Glas Wein und wartete darauf, daß der Kellner eine gebratene Ente und Yamswurzeln und Bohnen und Brot servierte, das er bestellt hatte, als er angesprochen wurde. »Sie habe ich ja mindestens ein Jahr lang nicht mehr gesehen«, sagte der Mann. Marsh erkannte ihn nach einigem Nachdenken. Der Mann war vor ein paar Jahren Heizer auf der A. L. Shotwell gewesen. Widerwillig lud er ihn ein, Platz zu nehmen. »Da lasse ich mich nicht zweimal bitten«, sagte der Ex‐Heizer und zog sich sofort einen Sessel heran und fing an zu schwadronieren. Er war nun zweiter Maschinist auf einem New Orleans‐Schiff, von dem Marsh noch nie gehört hatte, und wußte eine Menge Klatsch und Flußnachrichten. Marsh hörte höflich zu und fragte sich, wann endlich sein Essen gebracht werde. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Die Ente wurde gebracht, und Marsh strich gerade Butter auf ein Stück heißes Brot, als der Maschinist sagte: »Sagen Sie mal, haben Sie von diesem Sturm unten in New Orleans gehört?«

Marsh kaute sein Brot, schluckte, nahm den nächsten Bissen. »Nein«, sagte er nicht sonderlich interessiert. So zurückgezogen, wie er die ganze Zeit gelebt hatte, hörte er nur wenig von Hochwasser, Stürmen und anderen Unglücksfällen.

Der Mann stieß einen Pfiff aus. »Verdammt, das war ganz schlimm. Einige Schiffe haben sich losgerissen und wurden ganz schön zu Klump gehauen. Die Eclipse war auch dabei. So wie ich hörte, hat sie ganz hübsch was abbekommen.«

Marsh schluckte das Brot hinunter und legte Messer und Gabel beiseite, die er gerade hochgehoben hatte, um der Ente zu Leibe zur rücken. »Die Eclipse«, sagte er.

»Yessuh.«

»Wie schlimm?« fragte Marsh. »Cap’n Sturgeon läßt sie doch reparieren, oder?«

»Teufel auch, sie ist viel zu stark beschädigt«, meinte der Maschinist. »Ich hörte, sie wollen sie nach Memphis schleppen und als Leichter einsetzen.«

»Als Leichter«, wiederholte Marsh dumpf und dachte an jene alten grauen Kästen, die die Landungsstellen in St. Louis und New Orleans und in den anderen großen Flußstädten säumten, Schiffe, ihrer Maschinen und Kessel beraubt, leere Hüllen, die nur noch dazu dienten, Fracht zu lagern und zwischen Schiff und Land hin und her zu pendeln. »Sie ist doch nicht … sie ist …«

»Was mich betrifft, ich denke, das hat sie verdient«, sagte der Mann. »Verdammt, wir hätten sie mit der Shotwell geschlagen, wenn nur nicht …«

Marsh erzeugte ein ersticktes grollendes Geräusch in der Kehle. »Verschwinden Sie verdammt noch mal von hier!« erhob er die Stimme. »Wenn Sie kein Shotwell‐Mann wären, dann würde ich Ihnen wegen dieser Worte in den Hintern treten. Und jetzt verschwinden Sie!«

Der Maschinist stand schnell auf. »Sie sind genauso verrückt, wie man es sich erzählt«, platzte es aus ihm heraus, eher er verschwand.

Abner Marsh saß lange an seinem Tisch, ließ das Essen vor sich unberührt und starrte ins Nichts, während sich ein grimmiger, kalter Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. Schließlich erschien zaghaft ein Kellner. »Stimmt etwas nicht mit der Ente, Cap’?«

Marsh schaute nach unten. Die Ente war schon etwas abgekühlt. Fett gerann allmählich um sie herum. »Ich habe keinen Hunger mehr«, sagte er. Er schob den Teller zurück, bezahlte seine Rechnung und ging.

In der folgenden Woche ging er seine Hauptbücher durch und zählte seine Schulden zusammen. Dann rief er Karl Framm zu sich. »Es hat keinen Sinn«, sagte Marsh zu ihm. »Sie wird niemals mehr gegen die Eclipse fahren, selbst wenn wir sie finden sollten, was wir auch nicht schaffen. Ich habe auch keine Lust mehr zu suchen. Ich gehe mit der Eli Reynolds auf den Missouri und sehe zu, was ich dort tun kann, Karl. Ich muß mal wieder Geld verdienen.«

Framm starrte ihn anklagend an. »Ich habe keine Lizenz für den Missouri.«

»Ich weiß. Ich lasse Sie deshalb gehen. Sie verdienen sowieso ein besseres Schiff als die Eli Reynolds

Karl Framm sog an seiner Pfeife und schwieg. Marsh konnte ihm nicht in die Augen schauen. Er raschelte mit den Papieren. »Ich zahle allen Lohn, den ich Ihnen noch schulde«, sagte er.

Framm nickte und wandte sich zum Gehen. An der Tür verharrte er. »Wenn ich einen neuen Job habe«, sagte er, »dann halte ich weiterhin die Augen offen. Wenn ich sie finde, dann hören Sie von mir.«

»Sie werden sie nicht finden«, sagte Marsh illusionslos. Dann schloß Framm die Tür, verließ seinen Dampfer und verschwand aus seinem Leben, und Abner Marsh war nun so allein wie nie zuvor. Nun war niemand mehr da außer ihm, niemand, der sich an die Fiebertraum erinnerte oder an Joshuas weißen Anzug und an die Hölle, deren Feuer hinter den Augen Damon Julians loderte. Nun war alles das nur deshalb noch lebendig, weil Marsh sich erinnerte, und Marsh hatte die Absicht zu vergessen.

Die Jahre verstrichen.

Die Eli Reynolds verdiente auf dem Missouri recht gut. Fast ein Jahr lang war sie dort unterwegs, und Marsh führte sie und hielt sie in Schuß und kümmerte sich um seine Fracht und seine Passagiere und seine Hauptbücher. Er verdiente während der ersten beiden Trips genug, um drei Viertel seiner beträchtlichen Schulden zu bezahlen. Er hätte sogar reich werden können, hätten die Ereignisse in der großen Welt sich nicht gegen ihn verschworen; die Wahl Lincolns (Marsh stimmte für ihn trotz der Tatsache, daß er Republikaner war), die Sezession, die Belagerung von Fort Sumter. Marsh dachte an Joshua Yorks Worte, als dieses Blutbad sich ankündigte: Der rote Durst hat die Nation erfaßt, und nur Blut wird ihn stillen können.

Eine ganze Menge Blut war nötig, dachte Marsh nachher voller Bitterkeit. Er redete nur selten über den Krieg oder seine Erlebnisse, und konnte mit denen, die in ihren Erzählungen die Schlachten immer wieder aufs neue schlugen, nicht viel anfangen. »Da war mal ein Krieg«, sagte er laut. »Wir haben gesiegt. Jetzt ist er vorbei, und ich weiß nicht, warum wir dauernd darüber reden sollen, als wäre es etwas, worauf man stolz sein müßte. Das einzig Gute war, daß er die Sklaverei beendet hat. Ansonsten kann ich nicht viel mit den Folgen anfangen. Menschen zu erschießen, ist nichts, womit man sich brüsten kann, verdammt noch mal.« Marsh und die Eli Reynolds kehrten während der ersten Kriegsjahre zum oberen Mississippi zurück und holten Soldaten von St. Paul und Wisconsin und Iowa in den Süden. Später diente er auf einem Kanonenboot der Union und nahm an einigen Schlachten auf dem Fluß teil.

Karl Framm kämpfte ebenfalls auf dem Fluß. Marsh hörte auch, daß er bei den Kämpfen um Vicksburg fiel, aber etwas Genaueres konnte er nicht in Erfahrung bringen.

Als wieder Frieden herrschte, kehrte Marsh nach St. Louis zurück und befuhr mit der Eli Reynolds den oberen Mississippi. Er gründete mit den Eignern oder Kapitänen von vier konkurrierenden Schiffen eine Gemeinschaft und richtete eine Paketlinie mit festen Fahrtzeiten ein, um effektiver mit den größeren Firmen Schritt halten zu können, die den Oberlauf fest in ihrer Hand hatten. Aber sie waren alle sture, ungestüme Männer, und nach einem halben Jahr ständiger Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten wurde die Gesellschaft wieder aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt stellte Abner Marsh fest, daß ihm die Lust am Dampfschiffgewerbe verlorengegangen war. Irgendwie hatte der Fluß sich verändert. Nach dem Krieg schien es nicht einmal mehr ein Drittel der Dampfer zu geben, die früher dagewesen waren, dennoch war der Wettbewerb härter geworden, da die Eisenbahn mehr und mehr ins Fracht‐ und Passagiergeschäft einstieg. Wenn man jetzt in St. Louis einlief, dann fand man nur noch vielleicht ein Dutzend Dampfer an der Anlegestelle, wo sie sich früher sicherlich über eine Meile weit gedrängt hatten. Es fanden in jenen Jahren nach dem Krieg auch noch andere Veränderungen statt. Die Kohle begann fast überall das Holz zu verdrängen, außer in den wilderen Abschnitten des Missouri. Staatliche Aufseher kamen mit Vorschriften und Gesetzen, die befolgt werden mußten, Sicherheitsüberprüfungen und Registrierungen und allem möglichen Zeug und versuchten sogar, die Rennen zu verbieten. Die Dampfschiffer veränderten sich ebenfalls. Die meisten Männer, die Marsh gekannt hatte, waren nun schon tot oder hatten sich zur Ruhe gesetzt, und diejenigen, die ihre Plätze einnahmen, waren Fremde mit seltsamen Gewohnheiten. Der alte, polternde, fluchende, freigebige, wilde Flußmann, der einen auf den Rücken klopfte, einem die ganze Nacht Drinks spendierte und die wildesten Lügen erzählte, war eine aussterbende Rasse. Selbst Natchez‐under‐the‐Hill war nur noch ein geisterhafter Schatten seiner selbst, wie Marsh hörte, fast genauso ruhig wie die Stadt auf dem Berg mit ihren eleganten Villen und ihren exotischen Namen.

Eines Abends im Mai 1868, mehr als zehn Jahre, nachdem er zum letztenmal Joshua York und die Fiebertraum gesehen hatte, unternahm Abner Marsh einen Spaziergang auf dem Uferdamm. Er erinnerte sich an den Abend, als er und Joshua sich zum erstenmal begegnet waren und den gleichen Weg gegangen waren; damals hatten die Dampfer sich geradezu am Pier gedrängt, große stolze Seitenpaddler und zähe kleine Heckpaddler, alte und neue Schiffe, und die Eclipse hatte zwischen ihnen gelegen, festgemacht an ihrem Leichter. Nun war die Eclipse selbst ein Leichter, und es gab Burschen auf dem Fluß, die sich selbst alte Dampfschiffer nannten, die sie niemals in ihrem Leben gesehen hatten. Und die Anlegestelle war fast leer. Marsh blieb stehen und zählte. Fünf Schiffe. Sechs, wenn er die Eli Reynolds mitzählte. Die Reynolds war nun schon so alt, daß Marsh beinahe Angst hatte, sie auf den Fluß hinauszusteuern. Sie müßte eigentlich das älteste Dampfschiff der Welt sein, dachte er, mit dem ältesten Kapitän. Und er und sie waren nun beide ein wenig müde.

Die Great Republic nahm Fracht auf: Sie war ein riesiger neuer Seitenraddampfer, der vor einem Jahr aus einer Werft in Pittsburgh heruntergekommen war. Es hieß, sie sei einhundertfünfzehn Meter lang, womit sie das größte Schiff auf dem Fluß war, nun da die Eclipse und die Fiebertraum verschwunden und vergessen waren. Sie war auch prächtig. Marsh hatte sie sicherlich schon dutzendmal betrachtet und war sogar einmal an Bord gewesen. Ihr Ruderhaus war reich ausgestattet mit Technik und Zierrat und besaß eine Zierkuppel als Dach, und das Glas und das polierte Holz und die Teppiche im Schiff waren so üppig, daß es einem fast das Herz brach. Sie sollte das feinste, schönste Dampfschiff sein, das jemals gebaut worden war, luxuriös genug, um alle älteren Schiffe vor Scham versinken zu lassen. Aber sie war nicht besonders schnell, hatte Marsh außerdem gehört, und es hieß auch, daß sie Verluste in beängstigenden Höhen einfuhr. Er stand da mit vor der Brust verschränkten Armen, sah grimmig und unerschütterlich aus in seinem düsteren schwarzen Mantel und schaute zu, wie die Schauerleute sie beluden. Die Arbeiter waren schwarz, und zwar jeder von ihnen. Das war auch anders geworden. Alle Schauerleute auf dem Fluß waren jetzt farbig. Die Immigranten, die vor dem Krieg als Schauerleute, Heizer und Deckshelfer gearbeitet hatten, waren weitergezogen, Marsh wußte nicht wohin, und die befreiten Sklaven hatten ihre Plätze eingenommen.

Während sie arbeiteten, sangen die Schauerleute. Ihr Lied war ein leiser melancholischer Gesang. Dunkel ist die Nacht und lang der Tag, lautete er. Und die Heimat ist so weit. Weine, Bruder weine nur. Marsh kannte den Gesang. Es gab auch noch eine weitere Strophe, die lautete: Vorüber ist die Nacht, der lange Tag, vorbei. Singt meine Brüder, singt. Aber diese Strophe sangen sie nicht. Nicht heute abend hier auf diesem verlassenen Dampferpier, wo sie ein Schiff beluden, das nagelneu war und prachtvoll und dennoch nicht genügend Aufträge bekam. Während er ihnen zusah und zuhörte, kam es Abner Marsh so vor, als läge der ganze Fluß im Sterben — und er selbst auch. Er hatte für den Rest seiner Zeit auf dieser Erde genügend dunkle Nächte und lange Tage erlebt, und er war sich nicht mehr sicher, ob er noch ein richtiges Zuhause hatte.

Abner Marsh verließ langsamen Schrittes die Anlegestelle und kehrte zu seinem Hotel zurück. Am nächsten Tag entließ er seine Offiziere und die Mannschaft, löste Fevre River Packets auf und gab die Eli Reynolds zum Verkauf frei.

Marsh nahm alles Geld, das er noch hatte, verließ St. Louis und kaufte sich ein kleines Häuschen in seiner alten Heimatstadt Galena in Sichtweite des Flusses. Nur war es nicht mehr der Fevre River. Sie waren hingegangen und hatten ihn in Galena River umbenannt, vor Jahren schon, und nun nannte jedermann ihn bei diesem Namen. Der neue Name wecke angenehmere Assoziationen, sagten die Leute. Für Abner Marsh war er jedoch weiterhin der Fevre, so wie er in seiner Kindheit als Junge von ihm zu sprechen pflegte.

Er unternahm nicht viel in Galena. Er las viele Zeitungen. Das hatte er zu seiner Gewohnheit gemacht in den Jahren, da er Joshua gesucht hatte, und er wollte auf dem laufenden bleiben, was die schnellen Schiffe und ihre Fahrtzeiten betraf. Die Robert E. Lee war 1866 aus New Albany gekommen und ein echter Renner. Die Wild Bob Lee nannten einige Flußleute sie, oder nur kurz Bad Bob. Und Cap’n Tom Leathers, ein harter, bösartiger, fluchender Flußmann, wie man ihn von den alten Dampfern kannte, hatte 1869 eine neue Natchez bauen lassen. Die neue Natchez war laut den Zeitungen schneller als alle vorigen. Sie schnitt durchs Wasser wie ein Messer, und Leathers prahlte auf dem ganzen Fluß, wie er es Cap’n John Cannon und seiner Wild Bob Lee bald zeigen würde. In den Zeitungen überschlug man sich. Er konnte geradezu das Rennen riechen, das schon bald in Illinois stattfinden würde, und es schien ein Ereignis zu werden, über das man noch in vielen Jahren reden würde. »Ich würde mir dieses verdammte Rennen gern ansehen«, sagte er eines Tages zu der Frau, die er eingestellt hatte, damit sie ihm das Haus sauberhielt. »Keiner hätte eine Chance gegen die Eclipse, darauf kann ich Ihnen mein Wort geben.«

»Beide haben viel bessere Zeiten als Ihre olle Eclipse«, widersprach sie ihm. Die Frau neckte ihn gern.

Marsh schnaubte. »Das heißt gar nichts. Der Fluß ist jetzt kürzer. Jedes Jahr fehlt ein weiteres Stück. Nicht mehr lange, und man kann von St. Louis nach New Orleans zu Fuß gehen.«

Marsh las noch mehr als nur Zeitungen. Dank Joshua hatte er eine Vorliebe für Gedichte entwickelt, ausgerechnet, und gelegentlich griff er auch nach einem Roman. Er fing auch mit der Holzschnitzerei an und bastelte sich genauestens ausgeführte Modelle von seinen Dampfschiffen, so wie er sie in Erinnerung hatte. Er bemalte sie und wählte für alle den gleichen Maßstab, so daß man sie nebeneinander stellen und sehen konnte, wie groß sie im Verhältnis zueinander gewesen waren. »Das war meine Elizabeth A.«, erklärte er stolz seiner Haushälterin an dem Tag, als er sein sechstes und größtes Modell fertigstellte. »Eins der schönsten Schiffe, die je auf dem Fluß unterwegs waren. Sie hätte Rekorde aufstellen können, wäre das Packeis nicht gewesen. Sie sehen deutlich, wie groß sie war, fast hundert Meter lang. Sehen Sie nur, wie riesig sie neben meiner alten Nick Perrot ist.« Er zeigte auf das betreffende Modell. »Und das ist die Sweet Fevre und die Dunleith — bei der hatte ich große Probleme mit der Backbordmaschine —, und neben der steht meine Mary Clarke. Bei der explodierten die Kessel.« Marsh schüttelte den Kopf. »Dabei starb eine ganze Menge Leute. Vielleicht war es meine Schuld. Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich darüber nach. Die kleine am Ende ist die Eli Reynolds. Sie sieht zwar nicht nach viel aus, aber sie war ein zähes altes Mädchen. Sie machte alles mit, was ich von ihr verlangte, und noch viel mehr, und immer war sie unter Dampf und ließ ihr Rad rotieren. Wissen Sie, wie lange dieser häßliche kleine Heckpaddler hielt?«

»Nein«, sagte die Haushälterin. »Hatten Sie denn kein anderes Schiff? Ein richtig schickes? Ich hörte …«

»Vergessen Sie, was Sie gehört haben, verdammt noch mal! Ja, ich hatte ein anderes Schiff. Die Fiebertraum. Sie war nach dem Fluß benannt.«

Die Haushälterin gab ein mißbilligendes Geräusch von sich. »Kein Wunder, daß diese Stadt nie bedeutend geworden ist wie andere, wenn Leute wie Sie dauernd vom Fevre River reden. Sie müssen ja denken, wir wären hier oben alle verrückt. Warum haben Sie das Schiff nicht mit dem richtigen Namen benannt? Der Fluß heißt Galena River.«

Abner Marsh schüttelte den Kopf. »Wechseln die den Namen eines Flusse — so einen verdammten Quatsch habe ich noch nie gehört. Was mich betrifft, so ist es der Fevre River, und es bleibt der Fevre River, ganz gleich, was dieser verfluchte Bürgermeister sagt.« Er blickte die Frau finster an. »Oder was Sie sagen. Zur Hölle, wenn sie weiterhin ihren ganzen Dreck in den Fluß leiten, dann ist das bald kein Fluß mehr, sondern nur noch ein mickriger Bach!«

»Nein, was für schlimme Worte! Ich hätte gedacht, daß jemand, der Gedichte liest, sich einigermaßen anständig und zivilisiert ausdrücken kann.«

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über meine Sprache«, sagte Marsh. »Und quatschen Sie in der Stadt nicht von den Gedichten, ist das klar? Ich kannte mal einen Mann, der diese Gedichte liebte, und das ist der einzige Grund, warum ich diese Bücher habe. Und Sie sollten nicht Ihre Nase in alles reinstecken, sondern dafür sorgen, daß meine Schiffsmodelle nicht verstauben.«

»Natürlich. Aber sagen Sie mal, wollen Sie von diesem anderen Schiff kein Modell anfertigen? Von dieser Fiebertraum

Marsh lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er, »nein, das werde ich nicht tun. Das ist nämlich das Schiff, das ich am liebsten vergäße. Wischen Sie jetzt endlich Staub, und hören Sie auf, mich mit Ihren dämlichen Fragen zu belästigen.« Er griff nach einer Zeitung und begann eine Meldung über die Natchez und Leathers neuestes Schiff zu lesen. Die Haushälterin schnalzte mit der Zunge und wandte sich endlich wieder ihrer Hausarbeit zu.

Sein Haus hatte einen hohen runden Turm nach Süden hinaus. Abends stieg Marsh mit einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee oft dort hinauf, manchmal auch mit einem Stück Kuchen. Er aß seit dem Krieg nicht mehr so wie früher. Das Essen schien nicht mehr wie sonst zu schmecken. Er war immer noch ein imposanter Mann, aber er hatte seit den Tagen mit Joshua und der Fiebertraum mindestens einhundert Pfund verloren. Am ganzen Körper hing sein Fleisch schlaff herab, als hätte er seine äußere Hülle einige Nummern zu groß gekauft in der Hoffnung, daß sie vielleicht irgendwann einlief. Er hatte auch große schlaffe Tränensäcke. »Die machen mich noch häßlicher, als ich ohnehin schon bin«, knurrte er manchmal, wenn er sich im Spiegel betrachtete.

Wenn er am Turmfenster saß, konnte er auf den Fluß hinausschauen. Er verbrachte viele Abende und Nächte hier oben, lesend, trinkend und aufs Wasser hinausblickend. Der Fluß bot im Mondschein einen wunderschönen Anblick, und er strömte an ihm vorbei, weiter und weiter, wie er schon dahingeströmt war, ehe er geboren wurde, und wie er noch strömen würde, wenn er tot und begraben wäre. Wenn er ihm zusah, breitete sich ein tiefer Frieden in Marsh aus, und dieses Gefühl war ihm sehr wertvoll. Die meiste Zeit über war er müde und melancholisch. Er hatte einmal ein Gedicht von Keats gelesen, in dem es hieß, daß nichts so traurig sei wie etwas Schönes, das sterben muß, und es kam Marsh so vor, als läge auf jedem schönen Ding in dieser Welt der Fluch der Vergänglichkeit. Marsh war auch einsam. Er hatte so lange auf dem Fluß gelebt, daß er in Galena keine richtigen Freunde hatte. Er bekam nie Besuch, redete mit niemandem als mit seiner verdammt lästigen Haushälterin. Sie ärgerte ihn beträchtlich, aber Marsh machte es im Grunde nichts aus; es war das einzige, das ihm gelegentlich noch das Blut in Wallung brachte. Manchmal dachte er, daß sein Leben vorüber sei, und das machte ihn so wütend, daß sich sogar sein Gesicht rötete. Es gab immer noch so viele Dinge, die er nie getan hatte, so viele unerledigte Angelegenheiten … Aber es ließ sich nicht leugnen, daß er alt wurde. Er hatte den alten Hickorystock immer bei sich, um ihn als Zeigestock zu benutzen und um elegant auszusehen. Nun hatte er einen teuren Stock mit goldenem Griff, der ihm das Gehen erleichterte. Und er hatte Falten um die Augen und sogar zwischen den Warzen und einen seltsamen braunen Fleck auf dem Rücken der linken Hand. Manchmal betrachtete er ihn und fragte sich, wie er wohl dorthin gekommen war. Er war ihm nie aufgefallen. Dann zerbiß er einen Fluch zwischen den Zähnen und griff nach einer Zeitung oder nach einem Buch.

Marsh saß in seinem Salon und las in einem Buch von Mister Dickens über seine Fahrten auf dem Fluß und durch Amerika, als seine Haushälterin einen Brief brachte. Er hustete überrascht und legte das Buch von Dickens auf den Tisch, wobei er halblaut murmelte: »Dämlicher Engländer, würde ihn am liebsten in den verdammten Fluß werfen.« Er nahm den Brief entgegen, riß ihn auf und ließ den Umschlag auf den Fußboden flattern. Einen Brief zu erhalten, war schon eine seltene Angelegenheit, aber der war noch sonderbarer; er war an die Fevre River Packets in St. Louis adressiert und ihm nach Galena nachgeschickt worden. Abner Marsh faltete das knisternde, leicht vergilbte Papier auseinander und atmete plötzlich zischend ein.

Es war altes Briefpapier, und er erinnerte sich sehr gut daran. Er hatte es vor dreizehn Jahren drucken und in die Schreibtischschublade in jeder Kabine seines Dampfers legen lassen. Am oberen Rand befand sich eine schöne Federzeichnung von einem großen Seitenraddampfer sowie der Schriftzug FIEBERTRAUM in reichverzierten geschwungenen Lettern. Er kannte auch die Handschrift, diesen graziösen, flüssigen Schwung. Die Nachricht war kurz:


Lieber Abner, Ich habe meine Wahl getroffen.

Wenn Sie wohlauf sind und Lust haben, dann kommen Sie so bald wie möglich zu mir nach New Orleans. Sie finden mich im Green Treein der Gallatin Street.

Joshua


»Verdammte Hölle!« fluchte Marsh. »Nach dieser langen Zeit glaubt dieser verdammte Narr, er kann mir einen kurzen Brief schicken und erwarten, daß ich sofort nach New Orleans aufbreche!

Und dazu noch ohne ein Wort der Erklärung! Wer, zum Teufel, glaubt der eigentlich zu sein?«

»Ich kann Ihnen das bestimmt nicht beantworten«, sagte seine Haushälterin.

Abner Marsh sprang auf. »Frau, wo, zum Teufel, haben Sie meinen weißen Rock hingehängt?« brüllte er.

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