Ginny zählte an ihren Fingern ab: »Hm - ich hatte zwei Würstchen, eine Eiscreme, eine Schachtel Crackers, eine Flasche Limonade, eine Tüte Erdnüsse, und - das ist alles.«

»Das ist alles.« Doris war entsetzt. »Wie ist dir denn jetzt?« Ginny zwinkerte. »Ich habe keinen Hunger«, gestand sie. »Hast du etwas gegessen?« fragte Doris ihren Mann. »Oh, mach dir meinetwegen keine Sorgen.«

»Warum nicht? Du siehst schlecht aus. Was ist denn passiert? Oder hast du auch Würstchen und Eiscreme und Erdnüsse und was weiß ich noch gegessen? Warum habt ihr nicht richtig zu Mittag gegessen? Zum Abendessen wird sie nicht mehr als ein Abführmittel bekommen.« »Sie kann das schon verkraften«, sagte Brade. »Kinder sind wie Strauße. Außerdem haben sie Anspruch auf einen verdorbenen Magen dann und wann.«

»Du bist wieder mal der große Philosoph«, erwiderte Doris trocken. »Aber du brauchst ja auch nicht notfalls nachts bei ihr am Bett zu sitzen. Jetzt rasier dich und sieh zu, dass deine braunen Schuhe mit den Plastiksohlen den richtigen Glanz bekommen. Ich habe dir deinen Anzug und dein Hemd schon herausgelegt, und um halb sechs fährst du los und holst Nadine, damit am Abend jemand bei Virginia ist. Hast du auch bestimmt etwas gegessen? Du siehst so käsig aus. Was war denn?« »Ich fürchte, ich habe Cap beleidigt.«

»Das ist aber auch schlimm«, sagte Doris, die Nase rümpfend. »Das ist es vielleicht wert, dass man sich den ganzen Tag verdirbt. Was war denn los?«

»Oh, er hat mir Ratschläge gegeben, was meine weiteren Forschungen betrifft«, antwortete Brade, den Zusammenhang vorsichtig formulierend, »und ich war nicht ganz seiner Meinung.«

»Nun, du bist nicht mehr sein Doktorand. Es wird Zeit, dass er das merkt.«

>Ja, da hast du recht.«

Doris setzte sich. Sie war im Unterkleid und hatte das Haar in Lockenwicklern eingerollt. Sie zündete sich eine Zigarette an und fragte dann: »Ist das alles?« »Wie meinst du das?« »Ist sonst nichts passiert?«

Brade zögerte nur einen Augenblick und sagte dann in entschiedenem Ton: »Sonst ist nichts passiert, und ich habe etwas gegen ein Kreuzverhör.«

»Du scheinst dir nicht viel aus der Gesellschaft heute abend zu machen.«

»Das habe ich noch nie getan, Doris, das weißt du doch. So ein Abend ist eine langweilige Notwendigkeit und nicht mehr.«

»Warum machst du nicht aus der Notwendigkeit eine Tugend und sprichst mit Littleby?«

»Worüber?«

»Worüber schon! Über deine Beförderung.«

Brade fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Doris, das geht nicht.

Erstens kann man auf so einer Gesellschaft nicht über administrative Dinge sprechen, und zweitens kann man über so etwas nicht sprechen.«

»Du meinst, du kannst darüber nicht sprechen.«

»Außerdem ist jetzt nicht der richtige Augenblick«, fügte Brade hinzu, »wo Ralph gerade ums Leben gekommen ist -«

Es klang wenig überzeugend.

»Gibt es da noch etwas, wovon du mir nichts erzählt hast?« fragte Doris.

Brade war verblüfft. »Nein, nichts.« »Bist du sicher?«

»Ja.«

Als ob das damit gar nichts zu tun hätte, sagte Doris: »Foster hat angerufen.«

»Foster?«

»Professor Merrill Foster, der die Vorlesung für die älteren Semester hält, die du halten solltest. Genügt das zur Identifizierung?«

»Schon gut, Doris, bitte. Ich bin nicht in der Stimmung für eine sarkastische Unterhaltung. Foster hat angerufen. Gut. Was wollte er denn?«

»Er wollte mit dir sprechen.« »Worüber denn?«

»Das hat er nicht gesagt. Er hätte offenbar lieber gleich mit dir gesprochen und wollte sich dann vergewissern, dass du heute abend bei Littleby erscheinst. Ich sagte, du würdest kommen.« . »Hm - was glaubst du, was er wollte?«

»Ich weiß es nicht, aber es hat sich recht aufgekratzt angehört. Seine Stimme hatte so diesen leicht erregten Klang. Aber wie ich Foster kenne, hat er schlechte Nachrichten für dich parat.«

12

Schlechte Nachrichten? Gab es dieser Tage überhaupt etwas anderes? Handelte es sich vielleicht um dieselben schlechten Nachrichten, die ihm Cap Anson schon gebracht hatte, nur bestätigt jetzt, auf Hochglanz poliert und zum Überreichen hübsch verpackt und verschnürt? Aber Brade ließ sich nichts anmerken. »Nun sieh nicht überall Katastrophen, Doris. Foster hat wahrscheinlich nur wieder eine anrüchige Geschichte gehört, die er loswerden will. Und jetzt habe ich gerade noch Zeit für ein Nickerchen.«

Er zog Hemd, Hose und Schuhe aus und legte sich hin, aber statt zu schlafen, steigerte er sich in eine zornige Stimmung hinein. Dass Littleby die Angelegenheit mit Cap Anson besprach, konnte er noch verstehen. Aber mit Foster darüber zu reden...

Er starrte zur Decke empor, als liefe dort der Film seiner Erinnerungen ab. Da war der Tag, an dem er Foster zum erstenmal gesehen hatte. Foster war damals noch ein ganz junger Mann Ende Zwanzig gewesen, der gerade von einer Universität im Mittleren Westen kam. Er war durch die Laboratorien geführt und den Fakultätsmitgliedern vorgestellt worden, und von Anfang an erweckte er den Eindruck von Größe, obwohl er körperlich gar nicht groß war. Er trug eine Art joviale Selbstsicherheit zur Schau und wusste genau, mit welchem Forschungsgebiet sich jeder einzelne beschäftigte, und konnte sich darüber unterhalten, ohne zu erkennen zu geben, dass er sich vorher eingehend informiert hatte, obwohl er genau das getan haben musste. Foster tat so, als gehöre ihm der jeweilige Boden, auf dem er gerade stand. Dieses Gebaren missfiel Brade, der unablässig gegen dieses Gefühl der Abneigung ankämpfte, auch nach Fosters relativ schnellem Aufstieg in eine Position, die der seinen innerhalb der Fakultät entsprach.

Doris hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. »Er ist ungehobelt«, sagte sie, »und ich glaube, mit ihm ist nicht zu spaßen.« Ungehobelt war er tatsächlich. Er genoss seine zahlreichen schlüpfrigen Geschichten, die er allerdings, das musste man ihm lassen, auch sehr wirkungsvoll zu erzählen wusste. Er trug ständig ein spöttisch kokettes Wesen zur Schau. Beim Anblick von Sekretärinnen, Technikerinnen und Studentinnen verdrehte er gleichermaßen die Augen, und er hatte so eine Art, Frauen, die neben ihm standen, ganz beiläufig den Arm um die Schultern oder um die Taille zu legen.

Die Geste schien harmlos zu sein - zumindest hatte, soviel Brade wusste, noch nie eine Frau aufgeschrien, ihm auf die Finger geklopft oder sich bei Littleby beschwert. Und darüber wunderte sich Brade bisweilen. Besaß Foster einen animalischen Magnetismus, der nur auf Frauen wirkte?

Mit einem gewissen inneren Schmunzeln hatte er daher erfahren, dass Merrill Foster einen zweiten Vornamen hatte, unter dem er bei allen weiblichen Wesen im Institut bekannt war- »Handies« Foster. Warum musste Littleby die Angelegenheit mit ihm besprechen? Wenn man ihn, Brade, nicht mehr haben wollte, so hatte er doch zumindest verdient, dass man die Formen wahrte.

Er schloss die Augen. Wenn es tatsächlich dazu kam, wenn man ihm auf eine solche beschämende Weise kündigte, dann würde er schon auf seine Art zurückzuschlagen wissen. Es erschien ihm in diesem Augenblick ein leichtes, sich die nötigen Kenntnisse anzueignen, um Ralphs Experimente zum Abschluss zu bringen, sich eine andere Stelle zu suchen, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen und die Chemie von seiner neuen Wirkungsstätte aus zu revolutionieren. Sollten sie dort an seinem Ruhm Anteil haben.

Er trieb auf der Grenzlinie zwischen Wachen und Schlafen, und Rachepläne verzerrten sich ins Phantastische, als Doris' Stimme alldem ein Ende machte: »Ich glaube, es ist Zeit, dass du dich anziehst.« Littleby wohnte in einem der älteren Vororte, die noch etwas auf sich hielten - hier achtete man darauf, dass keine Siedlungshäuser die vornehm-gepflegte Atmosphäre störten und die Grundsteuer in die Höhe trieben.

Littleby hatte sich vor jetzt etwa zehn Jahren in dieses gediegene Milieu eingekauft und war Besitzer eines Hauses geworden, das auf eine angenehme, wohnliche Weise alt war. Holztäfelung, breite Treppen und hohe Räume sprachen von einer Zeit, als Hauspersonal billig zu haben war und unnötige Arbeit das wahre Zeichen des Reichtums darstellte. Wo das Beharren auf den Gepflogenheiten früherer Tage unangebracht gewesen wäre, hatte man die moderne Technik zu Hilfe genommen -Küche und Badezimmer blitzten von Chromstahl und bunten Plättchen, und das geräumige Kellergeschoss hatte sich die Invasion von Waschmaschine, Trockenschleuder und anderem Zubehör der heutigen Reinlichkeit gefallen lassen müssen.

Mrs. Littleby begrüßte die Gäste gleich hinter der Haustür - in früheren Zeiten, vor dem Aussterben der Rasse der Dienstboten, hätte das zweifellos der Butler getan. Sie war eine Frau von kleiner Gestalt, ohne die gängigen Merkmale der Aristokratie. Ihr mausbraunes Haar, dem es sogar an der Energie fehlte, grau zu werden, war sorgfältig frisiert, sah aber nicht so aus. Ihre Augen schienen für eine Brille gemacht zu sein, aber sie trug keine, und ihr Kleid war so entsetzlich geschmacklos, dass es ihr beinahe schon wieder eine gewisse distinguierte Note verlieh. Sie war immer sehr liebenswürdig und aufmerksam zu ihren Gästen, vergaß nie ihre Namen, ihre Position und die Leistungen, durch die sie sich in der jüngsten Zeit hervorgetan hatten. Allein deshalb mochten sie alle. Sie sagte mit einem freundlichen Lächeln: »Professor Brade, wie schön, dass Sie kommen konnten. Und Mrs. Brade, was für ein reizendes Kleid Sie anhaben. Legen Sie doch bitte Hüte und Mäntel in der Garderobe ab. Professor Brade, ich war ja so erschüttert, als ich von dem schrecklichen Unfall Ihres Studenten hörte. Wie ich zu dem Professor sagte, der arme junge Mann ist ja erlöst, aber wie schlimm muss es für die sein, die ihm nahegestanden haben, und der Doktorvater ist doch in gewisser Hinsicht wie ein Familienangehöriger, denke ich immer. Ich hätte beinahe unsere kleine Gesellschaft verschoben, aber ich weiß, dass so viele sich darauf gefreut haben -« Brade murmelte höfliche Zustimmung, lächelnd und mit dem Kopf nickend, und bewegte sich langsam seitwärts weiter. Mrs. Littleby wechselte noch ein paar Worte mit Doris, dann musste sie ihre Aufmerksamkeit neuen Gästen zuwenden.

Als Brade aus der Garderobe heraustrat, hörte er auch schon Fosters Stimme. Das hatte sie so an sich. Ohne eigentlich lauter zu sein als andere Stimmen, hatte sie ein Timbre, das ihr einen besonders durchdringenden Klang verlieh.

Foster stand neben dem Tisch mit den Appetithappen und beäugte zwischen zwei Sätzen müßig und beiläufig die Horsd'oeuvres. Dann suchte er sich mit der Mühelosigkeit der langen Erfahrung einen schmackhaften Bissen aus und führte ihn zum Mund. Er hatte den Trick heraus, ihn im Mund verschwinden zu lassen, zu kauen und hinunterzuschlucken, ohne dass man den Eindruck hatte, er müsse im Gespräch innehalten.

Yardley und Gennaro, die beiden wissenschaftlichen Assistenten, waren sein unmittelbares Publikum, und das passte Foster zweifellos. Jüngeren gegenüber war es leichter, den Ton anzugeben.

Foster sagte gerade: »Der einzige andere mir bekannte Fall ist Wakefield, aus Südnebraska. Der heiratete tatsächlich ein Mädchen, das bei ihm studierte. Er hatte fünf, sechs Doktoranden, aber darunter war nur dieses eine Mädchen. Sehr hübsch, oben herum etwas spärlich entwickelt für meinen Geschmack, aber sonst durchaus in Ordnung. Ich habe da einen Sonderkursus mitgemacht, deshalb weiß ich das. Wakefield war Junggeselle, so um die Vierzig damals, durchaus kein alter Knacker oder so, er sah ganz gut aus, aber eben durch und durch Junggeselle. Verstehen Sie, so der Typ, der in seinen Fachzeitschriften nie einen Artikel über Funktion und Handhabung von Mädchen gesehen hat und deshalb glaubt, Mädchen seien einfach Jungen, die komische Kleider tragen.«

Er hielt inne mit der erfahrenen Miene dessen, der weiß, wann er mit einem Lacherfolg rechnen kann, und er wurde auch nicht enttäuscht. Er verzog das Gesicht nicht zu dem leisesten Lächeln, genoss aber den Beifall seines Auditoriums ganz offensichtlich, griff nach einem Cocktailglas und trank einen Schluck.

»Er musste aber doch ein paar Zeitschriften gelesen haben, keine Fachzeitschriften, nehme ich an, in denen etwas über Mädchen stand, oder es hatte ihn jemand aufgeklärt, denn eines schönen Tages lädt er alle Fakultätsangehörigen zu einer Cocktailparty ein und verkündet seine Verlobung, und seine hübsche Studentin steht errötend neben ihm und lächelt. Und dann haben sie geheiratet. Ich war zur Hochzeit eingeladen.«

»Wann war das, Merrill?« fragte Gennaro.

Foster angelte sich ein Krabbenb rötchen und schob nachdenklich die dicken Lippen vor. »Das war vor zehn Jahren. Soviel ich weiß, sind sie heute noch verheiratet. Aber«- er holte tief und gewichtig Luft- »für mich tut sich da ein Problem auf: Stellen Sie sich vor, Sie haben da eine Studentin, die Ihnen passabel erscheint, und Sie beschließen, alles hübsch legal zu machen, zu heiraten. Alles schön und gut, aber wie kommt es erst mal soweit? Bevor Sie ans Standesamt denken, fragen Sie sich vielleicht: Ist sie auch die Richtige für mich? Vielleicht ist sie's, vielleicht auch nicht. Wie finden Sie das heraus?« »Mir scheint«, sagte Yardley bedächtig (er war ein sehr gewissenhafter junger Mann mit einer etwas zögernden Sprechweise, der vielleicht gerade aus diesem Grund als Dozent nie großen Erfolg haben würde), »mir scheint, es gibt da viele Gelegenheiten. Sie sehen sich vielleicht bei Seminarübungen, und es wäre durchaus natürlich, wenn sie dann und wann zusammen essen gingen, um den Fortgang der Arbeit am Dissertationsthema zu besprechen.« »Ach, das meine ich nicht«, erwiderte Foster, verächtlich abwinkend. »Ich denke nicht an Zusammensein und Konversation machen. Mich interessiert: Wann fasst er sie einmal an? Wann küsst er sie und nimmt sie in die Arme? Denn Sie müssen überlegen ... « Er hielt inne, als sich ein schlankes, dunkelhaariges Persönchen näherte, noch sehr jung, sehr schüchtern wirkend. Ihre Stimme war ein Flüstern, und Fosters Stimme bekam auf einmal einen so weichen Klang, dass man glauben mochte, aus ihm spräche plötzlich ein ganz anderer Mensch. Er sagte: »Ja, Liebes«, nickte, und die junge Frau entfernte sich wieder. Brade kannte sie natürlich. Joan Foster, Merrills Frau, war ebenso zurückhaltend und vornehm, wie Foster ungehobelt und plump war, doch schien sie nie an seinem Gebaren Anstoß zu nehmen, und er passte sein Verhalten ihrer Gegenwart nur an, wenn er mit ihr direkt zu tun hatte.

Zum Donnerwetter, dachte Brade in plötzlicher Entrüstung, was treibt diesen Mann dazu, sich so unkultiviert aufzuführen, eine primitive Sprache zu sprechen, den Hanswurst zu spielen - wo doch jeder wusste, dass er im höchsten Masse gebildet und kultiviert und ein sehr begabter Chemiker war.

Den Faden wieder aufnehmend, fuhr Foster fort: »Also so ein Unternehmen verlangt eine gekonnte Flirtaufklärung. Was versteht davon aber schon ein unerfahrener armer Professor? Oder er stürzt sich Hals über Kopf-« Er drehte zufällig den Kopf gerade so weit zur Seite, dass er Brade entdeckte. Sein Blick hellte sich sofort auf. »Hallo, Lou, haben Sie zugehört?«

»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben«, antwortete Brade einschränkend.

»Na schön, dann sagen Sie Ihre Meinung dazu. Sie sind der Fachmann.« Er zwinkerte den jungen Assistenten zu, die es bei einer Auseinandersetzung zwischen Professoren vermieden, auch nur durch ein Lächeln Partei zu ergreifen. »Beschreiben Sie einmal die Züge dieser speziellen Partie, die zu einem Schachmatt führen.« »Falls es sich bei dem Problem um das Wechselspiel zwischen einer Studentin und einem Professor handelt und Sie die erforderlichen Züge nicht aus Erfahrung kennen«, erwiderte Brade, »kann sich kein Mensch anmaßen, über den Ausgang der Partie etwas vorherzusagen.« Die Assistenten lachten freundlich, aber Foster bekam geradezu einen Lachanfall. Er schlug sich auf die Schenkel und schüttelte den Kopf hin und her. Er reagierte natürlich viel enthusiastischer als nötig, aber das war, wie sich Brade plötzlich bewusst wurde, einer seiner Tricks. Er lachte immer herzhaft über Witze, die auf seine Kosten gingen. Das sollte dokumentieren, dass er »hart im Nehmen« war. Vielleicht war das Lachen sogar echt.

Foster fasste sich wieder und sagte, plötzlich in einen vertraulichen Flüsterton verfallend: »Übrigens, Lou, kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«

Aber Brade winkte grüßend zum andern Ende des Raumes hin, wo niemand stand. Er ging murmelnd weiter. »Bis später, Merrill. « Fosters Flüstern fiel in ein Vakuum.

Der Raum füllte sich langsam. Wenn sein Fassungsvermögen voll ausgeschöpft war, würde die Doppeltür zum großen Salon geöffnet werden; die üblichen zwei Kellner, die inzwischen die Speisen angerichtet hatten, würden verschwinden, und die Gäste würden sich anstellen, um ihren Schinken mit Käse, ihre Fleischklößchen und Berge von Spaghetti, ihre gebackenen Bohnen mit Kohlsalat und später ihren Kuchen und Kaffee in Empfang zu nehmen.

Brade ging Littleby aus dem Wege, während er dem andern Ende des Raumes zusteuerte, und der Leiter des Chemischen Instituts mochte ihn gesehen haben oder auch nicht. Brade hielt letzteres für wahrscheinlicher. Hätte Littleby ihn gesehen, hätte sich auch unter den derzeitigen Umständen bei ihm gewiss die Reflexreaktion eines mechanischen Lächelns gezeigt.

Brade stand nun ganz in der Nähe von Otto Ranke; er tat so, als geselle er sich zu der kleinen Gruppe, die sich um ihn gebildet hatte. Er sah sich noch rasch um: Foster war ihm nicht gefolgt. Gut! Er war einfach nicht in der Stimmung, sich von dem Mann bemitleiden zu lassen, der schließlich von der ganzen Sache profitieren würde. Es war offensichtlich, dass der assistierende Professor Merrill Foster seinen Nutzen aus der Angelegenheit ziehen würde. Er war im Begriff, sich sehr schnell einen Namen zu machen, und er war kämpferischer veranlagt als Brade und würde rücksichtsloser als er auf die Position des außerordentlichen Professors hinarbeiten. Das einzige Hindernis auf seinem Wege war Brade. Littleby mochte zögern (oder so tun, als zögere er), einen jüngeren Kollegen dem älteren vorzuziehen. Aber wenn Brade als Hindernis ausschied, würde Fosters Beförderung nicht lange auf sich warten lassen.

Brade erschauerte. Die Universität war kein stiller Zufluchtsort. Der Dschungel der Welt machte an ihren heiligen Mauem nicht halt. Diese trennten nur den einen Dschungel vom andern, und es fragte sich, wo es schlimmer zuging.

Sicherheit? Brade sah, dass Doris mit der jungen Mrs. Gennaro sprach. Plötzlich wurde er sich deutlicher der entrüsteten Stimme Rankes bewusst. Der Physikochemiker sprach recht hitzig auf seine Zuhörerschaft ein. »Was ist Krebs schließlich?« sagte er. »Eine Krankheit. Aber was ist eine Krankheit? Es gab einmal eine Zeit, da glaubten die Gelehrten, Krankheiten seien die Folge eines fehlenden Gleichgewichts zwischen den Säften im Körper. Als Pasteur behauptete, sie seien durch parasitische Mikroorganismen verursacht, da wurde er ausgelacht und verspottet, aber er behielt schließlich recht, mit gewissen Einschränkungen. Und vergessen Sie nicht! Der Mann war kein Mediziner, sondern Chemiker. Die Ärzte lachten, und erst die Unerbittlichkeit der Tatsachen ließ sie die Wahrheit erkennen. Jetzt denken die Mediziner bei Krankheiten nur an Keime und Viren, und es wird Zeit, dass man sie an der Nase packt und ihnen eine neue Wahrheit zeigt. Wir wissen bereits, dass Krankheiten nicht nur durch das Vorhandensein von Bakterien, sondern auch durch das Fehlen von bestimmten chemischen Verbindungen verursacht werden können. Durch das Fehlen eines Nahrungsfaktors - Vitamine, besondere Aminosäuren, Spurenelemente - oder das angeborene oder erworbene Fehlen eines Hormons oder Enzyms werden Stoffwechselkrankheiten ausgelöst, die jetzt um so größere Bedeutung erlangen, als wir so viele Infektionskrankheiten inzwischen unter Kontrolle haben.

Es ist wirklich Zeit für eine neue Verallgemeinerung. Alle Krankheiten sind auf die Veränderung des Proteinmoleküls zurückzuführen. An der Veränderung mag die fehlerhafte Reproduktion eines Proteins schuld sein, dann haben wir es mit einer Mutation zu tun. Sie kann dem Organismus durch das Fehlen eines wesentlichen Bauelements aufgezwungen sein. Ein anderer Organismus mag in den Körper eindringen und modifizierte Proteine bilden, wie das die Viren tun, oder Toxine produzieren, die Proteine verändern, wie das bei den Bakterien der Fall ist.

Wir müssen vom genetischen Code her eingreifen. Alles Leben ist Nukleoprotein, und Krankheit ist inadäquates Nukleoprotein. Um mit den Nukleoproteinen fertig zu werden, können wir uns nicht auf Biochemiker verlassen. Sie wissen dazu nicht genug, und die Mediziner können da auch nichts machen. Die Proteine müssen mit physikochemischen Methoden untersucht werden von Leuten, die in der Disziplin der physikalischen Chemie ausgebildet sind, und zwar in einer ganz modernen physikalischen Chemie.

Nun habe ich beim Gesundheitsministerium einen Forschungszuschuss zur eingehenden Untersuchung von Proteinen beantragt. Ich brauchte 500000 Dollar. Eine beträchtliche Summe, das gebe ich zu, aber es handelte sich ja auch um eine sehr wichtige und umfangreiche Untersuchung. Die Leute dort bezweifeln das; es müsste auch mit 5oooo Dollar gehen, meinen sie. Und warum? Weil der Forschungszuschuss die Nützlichkeit der Untersuchungen in Verbindung mit der Ätiologie des Krebses hervorhebt. Das bedeutet automatisch, dass die Sache den Pathologen vorgelegt wird.

Und was verstehen die Pathologen schon von Krebs, das möchte ich gern wissen. Was haben die schon -«

Brade löste sich von der kleinen Gruppe. Das Ziel mochte ein anderes sein, aber die Attitüde war die gleiche: die eines Industriellen, der nach staatlichen Subventionen Ausschau hält, ehe er ein Unternehmen vergrößert.

Er zuckte fast zusammen, als ihn plötzlich jemand an der Schulter berührte. Er drehte sich um. Es war Foster; er machte ein eher ernstes Gesicht.

Brade zwang sich zu einem Lachen. »Ihre Stimme klingt ja direkt unheilverkündend. Ist es etwas Schlimmes?«

»Ich weiß nicht, wie man's nennen soll. Ich dachte mir nur, es ist besser, Sie erfahren es.« Er sah sich vorsichtig um, aber es blickte gerade niemand zu ihnen hin, und er packte Brade noch fester am Arm und sprach noch leiser. »Es handelt sich um Ralph Neufeld.« »Um Ralph?«

»Psst- leise. Es schleicht da offenbar ein Detektiv oder so jemand herum und stellt Fragen. Doheny heißt der Mann. So ein kleiner Dicker.« »Wozu denn das?«

»Keine Ahnung. Mit mir hat er nicht gesprochen. Aber bei einem meiner Studenten hat er sich erkundigt, und ich habe davon erfahren. Der junge Mann hat den Eindruck gewonnen, dass Doheny Ralphs Tod nicht auf einen Unglücksfall zurückführt.«

13

Brade starrte Foster an. Er war völlig aus der Fassung gebracht. Foster murmelte etwas beklommen: »Ich dachte einfach, es ist besser, Sie erfahren davon.«

Brade musste innerlich umschalten. Seit Stunden war er darauf gefasst gewesen, von Foster gewissermaßen seine bevorstehende Entlassung bestätigt zu bekommen. Mit dieser Nachricht hatte er nicht gerechnet. Er versuchte einen unbekümmerten Ton anzuschlagen. »Was sollte denn außer einem Unglücksfall in Frage kommen?« »Ja, wissen Sie«, meinte Foster, »ein bisschen merkwürdig, finde ich, sieht die Sache ja aus. Man muss schon ein Anfänger sein, um Zyanid mit Acetat zu verwechseln. Und Neufeld war kein Anfänger.« »Sagt das der Detektiv?«

»Lou, ich weiß nicht, was der Detektiv sagt. Aber er hat mit diesem einen Studenten von mir gesprochen und ihn gefragt, ob Ralph niedergeschlagen gewesen sei, wie er mit der Arbeit vorangekommen sei, ob er einmal etwas von Schwierigkeiten oder so gesagt habe.«

Mrs. Littleby trat mit einem Tablett voller Cocktails auf sie zu. Foster lehnte etwas gepresst lächelnd mit einem Kopfschütteln ab, aber Brade griff nach einem Glas und trank einen Schluck, wobei er Foster nicht aus den Augen ließ.

»Was wollen Sie damit sagen, Merrill?« »Ich glaube, die Polizei vermutet Selbstmord.«

Brade hatte mit dem Wort gerechnet, trotzdem traf es ihn wie ein Schock. »Warum Selbstmord?« fragte er. »Warum nicht?«

»Seine Arbeit machte gute Fortschritte.«

»Und wenn schon - was wissen Sie von seinem Privatleben?« »Kennen Sie einen Umstand, der auf Selbstmord hindeutet?« Brade hatte nicht in heftigem Ton sprechen wollen, aber der Druck der Ereignisse lastete zu stark auf ihm und beeinträchtigte seine Selbstbeherrschung. Foster reagierte sofort. Er zog feindselig die Augenbrauen zusammen. »Lassen Sie mich aus dem Spiel. Ich wollte Ihnen nur einen Gefallen tun und Sie warnen. Wenn Sie sich deswegen aufregen, dann entschuldigen Sie - ich will nichts gesagt haben.«

»Warum stellen Sie sich so, als hätte die Sache irgend etwas mit mir zu tun?« fragte Brade. »Selbst wenn es Selbstmord gewesen wäre -« Da stand plötzlich Ranke zwischen ihnen. »Was höre ich da von Selbstmord?«

Brade sah ihn scharf an. Foster zuckte die Achseln, als wollte er sagen, er habe seine Pflicht erfüllt und wenn Brade ihm das auch noch übelnehme, dann müsse er eben die Folgen tragen. Foster sagte: »Wir sprachen gerade von Ralph Neufeld.« »Selbstmord?« Rankes Lippen verzogen sich zu einem Harpyienlächeln, und sein deutender Finger machte erst zwei Zentimeter vor dem zweiten Knopf an Brades Hemd halt. »Wissen Sie, das glaube ich auch. Der Junge war verrückt. Total verrückt. Wir können froh sein, dass er darauf verzichtet hat, sich samt dem Chemischen Institut und uns dazu in die Luft zu jagen.« Brade war, als hätte er Fieber. Der eine stand links, der andere rechts von ihm. Beide glaubten an Selbstmord. Warum? Brade sagte: »Warum Selbstmord? Warum fällt es Ihnen so leicht, an Selbstmord zu glauben? In spätestens einem halben Jahr hätte er seinen Doktortitel gehabt.« Ranke war noch immer die Harpyie. »Sind Sie dessen so sicher? Wie kam er denn mit seiner Arbeit voran?«

»Sehr gut«, gab Brade kurz angebunden zurück. »Wie wollen Sie das wissen?«

Brade war im Begriff zu antworten; er sah die Falle, die Ranke ihm gestellt hatte. Er konnte ihr nicht aus dem Weg gehen; sein Schweigen bedeutete nur, dass Ranke sich die Mühe machen musste, ihn hineinzustoßen.

»Ich nehme an, er hat Ihnen gesagt, er kommt gut voran«, fuhr Ranke fort.

»Das hat er allerdings«, erwiderte Brade, der Falle trotzend. »Wie wollen Sie wissen, dass er Ihnen die Wahrheit gesagt hat?« »Ich besitze die Duplikate seiner Aufzeichnungen.«

Ranke lächelte noch breiter, und auch Foster lächelte. Brade wurde sich einer plötzlichen Stille im Raum bewusst; die einzelnen Grüppchen hielten in ihren Gesprächen inne und blickten zu ihm hin; Doris zerknüllte ein Taschentuch in der Hand und biss sich auf die Unterlippe. Brade wusste, dass er keinen Chemiker hier im Salon davon überzeugen konnte, dass er genug von Kinetik verstand, um beurteilen zu können, ob Ralph mit seiner Arbeit gut vorangekommen war oder nicht.

Rankes Stimme war honigsüß, honigsanft: »Ich weiß, von welchen Theorien Ralph Neufeld ausging, und ich sage Ihnen, sie waren unsinnig. Ich war bereit, ihn das selbst herausfinden zu lassen auf die' minimale Chance hin, dass er dabei auf eine sekundäre Spur stieß, die doch noch zu etwas geführt hätte. Aber das hat natürlich nicht funktioniert. Es war unmöglich, mit ihm auszukommen. Da ist er zu Ihnen gegangen, und das war sein Verderben. Ein Student, der sich mit einem solchen Thema abgibt, ohne einen Fachmann auf dem Gebiet zu Rate zu ziehen, der fordert die Katastrophe selbst heraus.« Das musste Ranke am meisten geärgert haben. Ralph hatte den großen Mann nie zu Rate gezogen. Brade sagte: »Sie brauchen den Jungen nicht nachträglich zu verdammen, nur weil er sich von Ihnen nicht hat helfen lassen.«

Ranke reckte das Kinn in die Höhe. »Ob er zu mir kam oder nicht, das war mir gleich. Was zum Teufel hätte mich das kümmern sollen? Ich bin nur zufällig der Auffassung, dass er in eine Sackgasse geraten war. Und ich will Ihnen etwas sagen, Lou: Er war schließlich gezwungen, diese Tatsache zu erkennen. Er hatte sich wieder und wieder mit dem Problem herumgeschlagen, hatte seine Messdaten interpretiert und noch einmal interpretiert, bis er schließlich keinen Ausweg mehr sah. Er konnte Ihnen nur vorläufig noch sagen, dass er gut vorankam, und dann ging es nicht mehr weiter. Und das hieß: keine Promotion. Also hat er sich umgebracht. Warum nicht?«

»Weil seine Arbeit doch gute Fortschritte machte«, entgegnete Brade in kaltem Zorn. »Ich mag ja in der physikalischen Chemie keine Kapazität sein, aber ein Spengler bin ich auch nicht gerade. Im Notfall kann ich auch noch eine Waldensche Inversion von einer fotochemischen Kettenreaktion unterscheiden. Ich habe seine Berichte gelesen, und er machte gute Fortschritte.« Irgendwie sah er den Raum nicht so, wie er wirklich war. Vor seinen Augen hing ein Schleier, der alles verschwimmen ließ. Alle Männer und Frauen um ihn her schienen ihn anzustarren - mit Ranke und Foster in der vordersten Reihe. Und hinter ihm schien ein Abgrund zu gähnen.

Wölfe! Er kämpfte gegen die Wölfe. Die Ereignisse der vergangenen achtundvierzig Stunden rückten in einen seltsam leuchtenden Brennpunkt. Eine gewalttätige Stimmung war in die akademische Abgeschiedenheit eingedrungen und hatte alle in Panik versetzt. Jetzt versuchten sie die zürnenden Götter zu besänftigen. Sie hatten beschlossen, für ihre Sünden zu büßen und eine Bestrafung abzuwenden, indem sie Brade opferten.

Wenn es ein Unglücksfall war, würde Brade daran schuld sein. Wenn sie gezwungen wurden, von einem Selbstmord auszugehen, würden sie deutlich herausstellen, dass Brade daran schuld war, weil er seine Studenten nicht in der gehörigen Weise angeleitet hatte. Und sollte es Mord gewesen sein, so würde es nur einen einzigen Tatverdächtigen geben. Es war zweckdienlich, dass einer für das Institut starb. Wenn sie aber glaubten, er werde mit stoischem Gesichtsausdruck für den Dolchstoss die Brust entblößen, hatten sie sich geirrt. »Sie scheinen sehr davon überzeugt zu sein, dass Ralph sich das Leben genommen hat, Professor Ranke«, sagte er. »Ich frage mich, ob Sie nicht vielleicht ein inneres Schuldgefühl treibt.« »Ein inneres Schuldgefühl?« erwiderte Ranke hochmütig. »Ja. Sie haben ihn aus Ihrer Gruppe verstoßen. Sie haben ihn gezwungen, sich einen Doktorvater zu suchen, den Sie für inkompetent halten. Sie hatten ihm ganz klar zu verstehen gegeben, dass Sie seine Theorie für falsch hielten, noch ehe er mit den Experimenten begonnen hatte.« Brade merkte, dass sein Gegenüber zu einer Erwiderung ansetzte; er sprach lauter, ohne sich darum zu kümmern, dass alle Anwesenden zuhörten. »Und daraus, dass Sie ihn nicht leiden konnten, haben Sie auch keinen Hehl gemacht. Vielleicht hatte Ralph das Gefühl, dass Sie bei der mündlichen Prüfung ihn und seine Arbeit in Stücke reißen würden - ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Wert, den sie haben mochte. Vielleicht konnte er in einem Augenblick der Verzweiflung den Gedanken, einem lachsüchtigen kleinen Tyrannen, der an verletzter Eitelkeit litt, gegenüberstehen zu müssen, einfach nicht mehr ertragen.«

Ranke, der weiß geworden war, krächzte etwas Unverständliches. Foster sagte: »Ich glaube, wir sollten das der Polizei überlassen.« Aber Brade war noch nicht fertig. Er wandte sich sofort Foster zu. »Vielleicht war es auch Ihr C in synthetischer organischer Chemie, das ihn fertiggemacht hat.«

»Was reden Sie da?« sagte Foster, dem plötzlich nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein schien. »Ich musste ihm die Note geben, die er verdient hatte.«

»Hatte er die Note C verdient? Ich habe seine Prüfungsarbeit gesehen, und die war mehr als ein C wert. Und ich bin organischer Chemiker, das werden Sie zugeben, und ich bin in der Lage, eine Prüfungsarbeit in einem organischen Übungskurs zu beurteilen.«

Foster brauste auf. »Die Note bezieht sich ja nicht nur auf das Schriftliche. Da war die Arbeit im Labor, sein Benehmen in der Vorlesung -«

Brade unterbrach ihn barsch. »Es ist ein Jammer, dass niemand Ihr Benehmen in der Vorlesung beurteilt oder sich fragt, was für eine Befriedigung es Ihnen wohl bereiten kann, auf Studenten herumzuhacken, die sich nicht wehren können. Vielleicht lauert Ihnen mal einer von ihnen bei Nacht und Nebel auf, um eine längst fällige Rechnung zu begleichen.«

Mrs. Littleby kam aufgeregt näher und verkündete mit verzweifelt sanfter Stimme: »Ach, bitte - ach, bitte, es ist angerichtet, gehen wir alle hinüber, ja?«

Ranke und Foster entfernten sich. Brade schritt wie in der Mitte eines kleinen Vakuums durch die Tür zum großen Salon. Und dann war Doris an seiner Seite. »Was ist denn passiert?« fragte sie mit gepresster, gehauchter Stimme. »Wie hat das alles angefangen?«

Brade sagte durch zusammengebissene Zähne hindurch: »Sprechen wir vorläufig nicht darüber, Doris. Ich bin froh, dass es passiert ist.«

Und das war er auch. Da man ihm ohnehin kündigen würde, hatte er nichts mehr zu verlieren, und damit verband sich ein herrliches Gefühl der Freiheit, der Losgelöstheit. In der Zeit, die ihm noch an der Universität blieb, sollten ihn die Fosters und Rankes und alle diese ehrgeizigen Streber nicht mehr ungestraft anrempeln.

Das Gefühl des Trotzes übertrug sich. Man ging ihm aus dem Weg; man ließ ihn allein. So ging er von sich aus zu Littleby. »Professor Littleby.«

»Ah, Brade.« Das mechanische Lächeln des Leiters des Chemischen Instituts wirkte etwas gezwungen.

»Ich möchte doch den Vorschlag machen, Sir, dass die Vorlesung über die Sicherheitsbestimmungen als eine Angelegenheit des gesamten Instituts betrachtet wird, denn schließlich sind wir alle an Sicherheit in den Labors interessiert. Wenn ich Ihrem Vorschlag entsprechend dafür eine persönliche Verantwortung übernehmen soll, dann möchte ich, dass sich dieser Umstand in einer Verbesserung meiner Position innerhalb des Instituts ausdrückt.«

Er neigte den Kopf zu einem knappen Gruß und ließ Littleby stehen, ohne seine Antwort abzuwarten.

Auch das tat ihm gut - und kostete ihn nichts. Das war eben der Vorteil dessen, der alles verloren hatte - es gab nun nichts mehr zu verlieren. Brade und Doris gingen, sobald es die Regeln der Etikette erlaubten. Am Steuer saß Brade so kämpferisch wie zum Sprung geduckt. »Also davon habe ich genug«, sagte er. »Zu so einer Party gehe ich nie mehr, selbst wenn -«

Sie fragte mit überraschend sanfter Stimme: »Aber wie hat denn die Sache angefangen?«

»Foster wollte mich warnen. Er sagte, die Polizei glaube nicht an einen Unglücksfall. Und er selbst auch nicht. Kein Chemiker könne glauben, dass Ralph einen solchen Fehler gemacht hat. Ich nehme an, jemand hat sich deswegen mit der Polizei in Verbindung gesetzt.« »Aber warum? Warum sollte jemand Schwierigkeiten machen wollen?« »Manchen Leuten macht das eben Spaß. Und manche halten es vielleicht sogar für ihre staatsbürgerliche Pflicht. Es scheint, das Institut ist bereit, von einem Selbstmord auszugehen und es dabei bewenden zu lassen - vor allem, wenn man mir die Verantwortung zuschieben kann. Die Idioten - sie wissen nicht, was sie da für ein Gewitter heraufbeschwören.« »Aber -«

»Kein Aber. Es war Mord. Und sie müssen es auch wissen, sonst würden sie sich nicht so schnell mit einem Selbstmord abfinden. Aber die Art, wie es passiert ist - das war einfach zu kompliziert für einen Selbstmord. Er hatte das Natriumzyanid ja zur Hand. Um Selbstmord zu begehen, brauchte er nur ein paar Körner in den Mund zu nehmen. Ein Experiment in Gang zu setzen, um nach der Säurebildung Wasserstoffzyanid einzuatmen? Kein Mensch würde zum Selbstmord eine so umständliche Methode benutzen, die vielleicht nicht einmal funktioniert, wenn sich ihm ein unfehlbares Mittel anbietet.« Sein Denken hatte wieder umgeschaltet. Wieder war die Gefahr, die Stellung zu verlieren, vor der Gefahr, eines Mordes angeklagt zu werden, in den Hintergrund getreten.

Brade schlief in dieser Nacht tief und traumlos - Auswirkung der Ereignisse des gerade vergangenen Abends und der Erschöpfung, die nach zwei halb durchwachten Nächten in ihm gesteckt hatte. Beim Aufwachen fand er einen grauen, feuchten Morgen vor, und die Luft war herbstlich frisch.

Auch ihm war grau zumute. Was ihm am Abend zuvor wie ein heroischer Kampf vorgekommen war, stellte sich ihm jetzt lediglich als Marktweibergezänk dar. Die Gefahren, die ihm drohten, waren dichter herangerückt, und er sah keinen Ausweg.

Natürlich mochte man sich sagen, dass diejenigen, die am energischsten die Selbstmordtheorie verfochten, vielleicht auch diejenigen waren, die kein Interesse daran hatten, dass sich die Sache als Mord herausstellte. Und das geringste Interesse daran musste der Mörder haben.

Hieß dies, dass Ranke Ralphs Mörder war? Oder Foster? So einfach war das nicht. Er schob seinen Teller mit Schinken und Ei von sich und dachte an das Motiv.

Von Anfang an drehte sich alles um das Motiv. Er sagte zu Doris: »Ich gehe heute ins Institut.« »Heute? Am Sonntag?«

»Gerade deshalb. Ich nehme mir Ralphs Experimentaufzeichnungen vor.«

»Warum?«

»Du hast doch gehört, was Ranke gestern abend gesagt hat, oder? Er glaubt, Ralph sei mit seinen Untersuchungen in eine Sackgasse geraten, und ich könnte das nicht feststellen.« »Kannst du es denn?« fragte Doris.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Brade, »aber ich muss es herausfinden. Und mit der Arbeit selbst mache ich lieber auch gleich weiter, und dann werde ich's diesen- diesen Idioten mal zeigen.« »Weißt du, ich hab schreckliche Angst«, sagte Doris.

Brade stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr; er legte ihr den Arm um die Schulter. »Angst haben hilft uns jetzt nicht weiter. Wir müssen mit dieser Sache zu Rande kommen. Und das werden wir auch.«

Ihr Kopf ruhte an seiner Brust; sie hatte die Augen geschlossen. >Ja, Schatz«, sagte sie, und dann kam Ginny die Treppe heruntergepoltert. Doris schob ihn von sich und rief: »Du kommst leider zu spät, Virginia, du wirst deine Eier kalt essen müssen.«

Die Zwillingsklötze des Verwaltungsgebäudes der Universität ragten aus dem Grün des Campusgeländes heraus, als Brade von der Fifth Street in die University Road einbog. Das Gebäude wirkte unnatürlich ohne den werktäglichen Autoverkehr davor, ohne den Lärm, ohne den Benzingeruch.

Die Universität sah fremd und feindselig aus. Vielleicht war es, weil Sonntag war, vielleicht hatte er auch das Gefühl, nicht mehr ganz dazuzugehören. Etwas war geschehen am Abend zuvor. Er hatte Verbindungen zerrissen, hatte innerlich bereits die Tatsache akzeptiert, dass er nicht mehr eines der vielen Rädchen dieses Getriebes war. Der Parkplatz schien ihn feindselig anzustarren. Nur drei Wagen standen hier, wo man sonst kaum eine Lücke fand. Das Chemische Institut wirkte fremd, das Sekretariat und das Chemische Museum waren geschlossen, und seine Schritte hallten in der Sonntagsstille unnatürlich laut wider.

Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock hinauf. Die Türen auf dem Flur waren alle geschlossen, so dass er das Licht anknipste, um etwas zu sehen. .

Vor der Tür des Labors angelangt, in dem Ralph gearbeitet hatte, zog er seinen Schlüsselbund heraus und suchte nach dem passenden Schlüssel. Irgend etwas irritierte ihn dabei-ach so, ja, es war ein Schlüssel zuviel.

Mit einem jähen Gefühl des Unbehagens erinnerte er sich daran, dass der Kriminalbeamte ihm am Freitag Ralphs Schlüssel zurückgebracht hatte. Das Unbehagen war ausgelöst durch den gleichzeitigen Gedanken, dass der Beamte daran zweifelte, dass ein Unglücksfall vorlag-er schien einen Selbstmord, jedenfalls einen gewaltsamen Tod zu vermuten.

Brade drehte den Schlüssel im Schloss herum, öffnete die Tür, trat ein und blieb so verblüfft stehen, wie man immer stehen bleibt, wenn man jemanden an einem Ort antrifft, wo man sich allein glaubte. Und die andere Person im Labor, die ebenso überrascht war, starrte Brade an und hatte den Mund halb geöffnet, als wollte sie einen Schrei ausstoßen.

14

Brade fasste sich wieder. Mit beherrschter, wenn auch etwas bebender Stimme sagte er: »Guten Morgen, Roberta. Mit Ihnen hatte ich hier nicht gerechnet.«

Roberta Goodhue legte die Hände in den Schoss. Sie hatte in einem Notizbuch geblättert, und eine Schublade von Ralphs Arbeitstisch war herausgezogen, aber nun ließ sie die Seiten langsam wieder zuklappen. »Guten Morgen, Professor Brade«, sagte sie. »Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« »Ich- ich habe nur seine Sachen durchgesehen. Er-er ist gestern beerdigt worden, und da dachte ich, ich würde etwas finden, was ich behalten könnte, etwas -«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, und Brade hätte ihn beinahe statt ihrer vervollständigt: etwas zur Erinnerung an ihn. Er hatte großes Mitgefühl mit ihr. Was eignete sich wohl als Andenken an eine Romanze zwischen zwei Chemiedoktoranden? Ein altes Reagenzglas, in dem er eine seiner Lösungen nachlässigerweise hatte vertrocknen lassen? Ein paar verstreute Pulverkristalle, die er abgewogen hatte, die man in einen kleinen Umschlag tun und in ein Buch legen konnte? »Oh, ich wusste nicht, wann die Beerdigung war, sonst wäre ich auch gekommen.«

Aber Roberta sagte: »Schon gut. Nur seine Mutter und ich sind mitgegangen. Es hatte eine Beerdigung in aller Stille sein sollen.« Brades Gedanken wandten sich wieder dem Problem ihrer Anwesenheit hier im Labor zu. Er wusste genau, dass er beim letzten Mal abgeschlossen hatte. Sollte jemand nach ihm hier gewesen sein, jemand, der dann die Tür nicht abgeschlossen hatte? Doheny? Mit einem Nachschlüssel?

O Gott, jetzt sah er schon unter jedem Laborstuhl und hinter jedem Messglas einen Kriminalbeamten. Es konnte Greg Simpson gewesen sein, der das Labor gemeinsam mit Ralph benutzt und keinen besonderen Grund gehabt hatte, die Tür abzuschließen. Doch Roberta schien seine erste Frage gehört zu haben. »Ich habe einen eigenen Schlüssel«, sagte sie leise.

»Aha. Woher haben Sie den denn?« »Ralph hat ihn mir gegeben.« Brade schwieg einen Augenblick. Er schloss die Tür, setzte sich auf einen Hocker und sah Roberta ernst an. Die Sonne brach durch die Wolken, drang durch die nicht allzu sauberen Fensterscheiben und schien auf Robertas Arm, so dass die dünnen Härchen leicht rötlich aufschimmerten.

Sie sieht gar nicht so übel aus, wie man meinen könnte, dachte Brade etwas erstaunt. Gewiss, sie war weder groß noch schlank und hätte in Hollywood keine Chancen gehabt, aber sie hatte lange Wimpern und feingeformte Lippen, und die Haut am Oberarm war glatt und weich in der Tönung.

Warum sollte sich Ralph nicht einfach durch das zu ihr hingezogen gefühlt haben, was man Sex-Appeal nannte? Vielleicht hatten andere, sozusagen psychologische Gründe gar keine Rolle gespielt. »Ich wusste nicht, dass er jemanden einen Schlüssel für diese Tür gegeben hatte. Aber ich sehe natürlich ein, dass Sie eine logische Ausnahme sind.«

Sie machte ein unglückliches Gesicht.

»Hat er Ihnen den Schlüssel aus einem besonderen Grund gegeben?« Er hielt inne und fuhr dann in freundlicherem Ton fort: »Normalerweise würde mich das nichts angehen, aber unter diesen Umständen -« Sie strich sich mit einer raschen Handbewegung das Haar zurück und blickte zu ihm auf. »Ich weiß, was Sie denken, Professor Brade, und wir wollen uns nichts vormachen. Ich habe mich manchmal hier mit ihm getroffen - abends. Mit einem eigenen Schlüssel konnte ich allein kommen.«

»Sie meinen, es wäre auffällig gewesen, wenn Sie zusammen gekommen wären.«

»Ja.«

Brade fühlte, wie eine Welle peinlicher Verlegenheit über ihn hinwegspülte, aber er stellte die nächste Frage ganz unvermittelt in der Hoffnung, der Schock werde das Mädchen zwingen, die Wahrheit zu sagen. »Erwarten Sie ein Kind?«

Sie zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. »Nein.« Sie empörte sich nicht und zierte sich nicht. »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.«

»Na schön, Roberta. Ich werde niemandem etwas davon sagen.« »Ich danke Ihnen, Professor Brade, und ich möchte Ihnen sagen, dass es nicht schön von uns war, Ihnen gegenüber, entschuldigen Sie. Wenn wir erwischt worden wären, das wäre sehr - unangenehm gewesen. Auch für Sie.«

»Das wäre es für uns alle gewesen.«

»Es war nur so, dass wir tatsächlich heiraten wollten und nirgendwo anders wirklich allein sein konnten. Aber Sie wissen es jetzt, und wenn Sie es für besser halten, gebe ich das Studium hier auf. Es würde mir nicht viel ausmachen. Wirklich.«

»Nein«, sagte Brade mit Nachdruck, »Roberta, daran denke ich nicht. Was zwischen Ihnen und Ralph war, geht mich nichts an und ist erledigt. Ich habe nur gefragt, weil -«

Er hielt inne. Er konnte ihr nicht gut sagen, dass er sie sich einen Augenblick lang als die höchst unzeitgemäß in andere Umstände gebrachte Geliebte vorgestellt hatte, die auf eine Heirat drängt, schroff abgewiesen wird - ein so scharfzüngiger Mensch wie Ralph mochte ein Nein schon in recht sarkastische Worte gekleidet haben - und sich dadurch zu einem unversöhnlichen Hass angestachelt fühlt: zu einem tödlichen Hass.

Aber sie war nicht schwanger - oder behauptete es wenigstens. Restlos überzeugt war er noch nicht.

Recht unbeholfen fuhr er fort: »Schon gut. Nehmen Sie sich doch eine Woche frei. Im Laborkurs kommen wir eine Zeitlang auch ohne Sie aus. Ich finde schon jemanden, der Sie vertritt. Und wenn Sie dann das Schlimmste hinter sich haben -«

Sie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Professor Brade, aber ich möchte weiterarbeiten. Das ist nicht so schlimm, als wenn ich allein auf meiner Bude bin.«

Sie stand auf und klemmte sich die Tasche unter den Arm. Sie ging zur Tür und wollte sie gerade öffnen, als Brade ein neuer Gedanke kam.

»Einen Augenblick noch, Roberta.«

Sie blieb stehen, ohne sich zu ihm umzudrehen. Brade überlegte sich, wie er seine Frage formulieren sollte, ohne sich idiotisch vorkommen zu müssen.

»Ich hoffe, Sie haben nichts gegen eine sehr persönliche Frage.« »Ist sie noch persönlicher als die, die Sie mir schon gestellt haben, Professor Brade?«

Er räusperte sich. »Vielleicht, in gewisser Hinsicht. Ich habe aber meine Gründe für die Frage. Na ja - hatten Sie einmal Ärger mit Professor Foster?«

Jetzt wandte sie sich doch um. »Ärger, Professor Brade?« Ihre Augenbrauen gingen in die Höhe.

Er sagte: »Um es ganz unverblümt auszudrücken - hat Professor Foster zu Ihnen einmal anzügliche Bemerkungen gemacht?« »Das kann man kaum eine persönliche Frage nennen«, antwortete Roberta. »Professor Foster macht kein Geheimnis daraus. Ja, ich habe meinen Anteil an zweideutigen Bemerkungen über mich ergehen lassen. Wie alle andern Studentinnen. Nicht mehr, nicht weniger. Professor Foster ist sehr liebenswürdig und verteilt seinen Charme freizügig und gleichmäßig.« »Hat Ralph davon erfahren?«

Sie schien sich sofort wieder innerlich abzuschließen. »Warum fragen Sie das?«

»Weil ich glaube, dass Ralph davon wusste.« Das Mädchen schwieg. Brade fuhr fort: »Da Foster nicht gerade einen Hehl macht aus seinen Bemerkungen, dürfte Ralph davon erfahren haben, und er hat sich zweifellos darüber empört und sich mit Professor Foster angelegt.« »Niemand gibt etwas auf Professor Foster«, erwiderte Roberta zornig. »Er geht einem manchmal auf die Nerven, das macht weiter nichts. Wenn eine Studentin auch nur im geringsten auf seine Mätzchen einginge, würde er vor Angst zum Fenster hinausspringen.« »Ja, aber es geht hier doch darum, dass Ralph etwas darauf gegeben hat und Professor Foster klargemacht hat, wie er über ihn denkt.« »Ich gehe jetzt lieber, Professor. Ich - ich fühle mich nicht wohl.« Sie wandte sich wieder der Tür zu, drehte sich aber dann noch einmal um. »Ach - brauchen Sie Ralphs Notizbücher?« »Vorerst - ja. Aber später werde ich sie Ihnen sicher geben können.« Sie zögerte. Aber dann ging sie doch hinaus.

Fünf Minuten später sah Brade, der ans Fenster getreten war, wie sie zum Haupteingang herauskam und dann quer über den Campus ging. Sie war natürlich seinen letzten Fragen ausgewichen, aber das war auch eine Antwort. Natürlich! Ralph musste eifersüchtig geworden sein, musste befürchtet haben, einen Menschen zu verlieren, den er als seinen Besitz betrachtete. Er war genau der Typ, der sich durch Fosters Sticheleien aufgereizt fühlte.

Und er war der Typ, der voller Erregung von Foster verlangte, diese Späße zu unterlassen, der damit drohte, die Angelegenheit an höherer Stelle zur Sprache zu bringen. Und das war eine gefährliche Drohung.

Die Universität konnte Fosters Benehmen ignorieren, solange sich niemand beschwerte. Kam es aber zu einem Skandal, war das etwas ganz anderes. Etwas entscheidend anderes.

Ein Professor konnte sich sinnlos betrinken, mochte Vorlesungen halten, die niemand begriff, mochte sich nur einmal im Jahr waschen, unerträglich grob sein und allen auf die Nerven gehen. War er in fester, sozusagen beamteter Position, schadete das seiner Stellung nicht im geringsten.

Doch zwei Vergehen durfte er sich nicht zuschulden kommen lassen. Das eine hieß Untreue (ein relativ neues Vergehen), und das andere, sittliche Verfehlung, war so alt wie Abälard. Und in der Nähe dieses letzteren Vergehens bewegte sich Foster ständig. Wurde tatsächlich eine Klage vorgebracht, konnte ihn das seine Stellung kosten. War die Furcht vor einer Beschwerde ein Mordmotiv? War Mord ein Mittel, den möglichen Kläger aus der Welt zu schaffen? Oder erklärte sich dadurch nur die Note C?

Ja, Foster hätte ein Motiv gehabt; aber wie stand es mit der Möglichkeit zur Ausführung der Tat? Foster wusste nichts von der Art, in der Ralph seine Experimente durchführte. Wie konnte er geahnt haben, dass Erlenmeyerkolben mit Natriumacetat in Ralphs Labor auf ihn warteten? Brade zuckte die Achseln und wandte sich Ralphs Notizbüchern zu. Es waren fünf, und Ralph hatte sie gewissenhaft numeriert. Brade schlug eins auf.

Er hatte die Duplikate in seinem Arbeitszimmer, aber wenn Ralph sich nicht radikal von allen anderen Doktoranden unterschieden hatte, die Brade kannte, dann standen auf den Rückseiten der weißen Originalbogen noch zusätzliche Notizen und Kommentare. Er blätterte in dem Buch und konnte feststellen, dass Ralph der ideale Notizbuchführer gewesen war. Er drückte sich klar, knapp und fast pedantisch genau aus. Brade hatte die Notizbücher gesehen, in denen Cap Anson seinerzeit den Fortgang seiner Dissertationsexperimente vermerkt hatte, aber Ralph übertraf den alten Cap noch an Gründlichkeit.

Diesen Aufzeichnungen musste er, Brade, folgen können. Ralph erklärte seine Arbeit so genau, als setzte er bei dem, der sie lesen würde, nicht mehr als elementare Kenntnisse voraus.

Er griff zu dem Notizbuch Nummer eins. Die ersten Seiten bezogen sich auf die Zeit, als Ralph Neufeld bei Ranke gewesen war, und brachten eine Aufzählung der Werke, die er vor Beginn seiner Experimente gelesen hatte, eine Zusammenfassung ihres Inhalts sowie seine eigenen Kommentare und Theorien dazu. Das war alles sehr sauber und übersichtlich angelegt. Brade erinnerte sich, dass er diese Aufzeichnungen gesehen hatte-vor anderthalb Jahren, ehe er Ralph als Doktorand übernommen hatte.

Es überraschte Brade jetzt, dass sich hier Ralphs Labilität oder wie man es nennen wollte, überhaupt nicht zeigte. Hier war er ganz objektiv. Brade fand Bemerkungen wie: »Professor Ranke weist auf eine Unstimmigkeit im Konzept hin, die -«, oder: »Professor Ranke scheint nicht davon überzeugt zu sein, dass -« Die Kommentare hatten nie einen leidenschaftlichen Ton. Sie klangen kühl und sachlich. Sogar über das Ende der Zeit bei Ranke war lediglich zu lesen: »Heute war mein letzter Tag als Doktorand von Professor O. Ranke.« Nichts von Auseinandersetzungen mit anderen Studenten; kein Wort der Selbstrechtfertigung oder des Grolls. Auf der Seite stand nur dieser eine Satz.

Das nächste Datum lag einen Monat später, und die neue Seite begann mit der Feststellung: »Heute war mein erster Tag als Doktorand von Professor L. Brade.«

Die nun folgenden Seiten waren ihm vertraut. Anfangs hatte Ralph ihm die Duplikate wöchentlich übergeben und Seite für Seite erklärt. Später hatte er sie immer unregelmäßiger gebracht und immer flüchtiger und dann überhaupt nicht mehr erklärt. Hatte Ralph sich gesagt, dass er, Brade, ja doch nicht richtig mitkam? Hatte er deshalb Brade gehasst? (Aber Charlie Emmett glaubte, dass es Angst gewesen war, nicht Hass.) Brade biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob er etwas zu Mittag essen sollte. Nein. Die Sandwich-Bude im Institut war sonntags geschlossen; er hatte sich auch nichts mitgebracht; das nächste Restaurant war zehn Minuten Fußmarsch entfernt. Er beschloss, auf das Mittagessen zu verzichten. Er wandte sich wieder den Notizbüchern zu.

Ralph war bei der Beschreibung seiner einzelnen Experimente besonders gründlich gewesen. Er hatte jedes Mal die Durchführung des Experiments begründet und dann seine Interpretation angefügt. Wo das Ergebnis von den Erwartungen abwich, hatte er seine Theorien und Spekulationen darüber angefügt, was danebengegangen war. Alle diese Angaben waren äußerst nützlich, und Brade begann Mut zu fassen. Die mathematischen Berechnungen waren zwar schwierig, aber wenigstens waren keine Zwischenstufen ausgelassen. Wenn Ralph als Chemiker einen Fehler hatte, so den, dass er seinen Theorien zu sehr verhaftet war. Ein Experiment, das seine Theorien zu stützen schien, wurde kritiklos registriert, wogegen Experimente, die ihnen zuwiderliefen, mehrfach nachgeprüft und bisweilen »forterklärt« wurden.

In den ersten beiden Notizbüchern waren recht viele Experimente vermerkt, die nicht mit seinen Theorien übereinstimmten, und in den Kommentaren machte sich eine gewisse Verdrossenheit bemerkbar. Da hieß es etwa: »Muss die Temperatur besser kontrollieren. Mit Brade sprechen wegen anständigem Thermostat, wenn Arbeit überhaupt zu etwas führen soll.«

Es war das Fehlen des sonst immer gebrauchten »Professor«, das am deutlichsten auf Ralphs Gereiztheit hinzuweisen schien.

Auch auf Hass? Aber er hatte sich doch unter viel ungünstigeren Bedingungen beherrscht, als er noch bei Ranke gewesen war. Oder hatte Ranke, auch wenn er nichts von Ralphs Theorien hielt, einen festen Halt dargestellt, eine Stütze, wogegen Brade - nichts war?

Etwa zu diesem Zeitpunkt hatte Ralph die Duplikate unregelmäßig und in größeren Stößen abgeliefert, so dass Brade sich nur noch verschwommen an die einzelnen Seiten erinnern konnte.

Mit dem dritten Notizbuch begann sich plötzlich eine positive Entwicklung abzuzeichnen. Zum einen war Ralph in eine Richtung vorgestoßen, die sich später als sehr interessant erwies, und zum andern...

Brade hielt den Atem an, als er eine Seite umblätterte. Ralph beschrieb hier seine Versuchsanordnung bis ins Detail und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass er immer für einen Vorrat von zehn Kolben mit Natriumacetat sorgte. Brade empfand ein ganz merkwürdiges, fast unheimliches Gefühl bei dem Gedanken, dass jeder halbwegs erfahrene Chemiker, der zufällig diese Seite las, genau wusste, wie Ralph auf eben die Art vergiftet werden konnte, auf die er tatsächlich vergiftet worden war.

Aber er bot allen Spekulationen Einhalt. Zum Teufel mit Mord und Mördern. Im Augenblick musste er sich darüber klar werden, ob er in der Lage war, die angefangene Arbeit fortzuführen.

Die Experimente machten gute Fortschritte. Die Diagramme zeigten Punkte auf, die sich entlang einer geraden Linie bewegten. Brade war erleichtert. Dass er sich am Abend zuvor für Ralphs Arbeit stark gemacht hatte, war zum größten Teil Bluff gewesen, aber hier waren die Zeichnungen, die Gleichungen, alles von A bis Z. Jeder konnte sie nachprüfen und feststellen, dass Ralphs Arbeit gute Fortschritte gemacht hatte, dass seine Theorien stimmten. Sogar Ranke konnte das.

Brade nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich die zusätzlichen Notizen und Unrein-Berechnungen auf den Rückseiten anzusehen. Sie waren ausradiert worden.

Brade runzelte die Stirn. Theoretisch sollte in den Notizbüchern nichts radiert sein. Irrtümer, falsche Zahlen und dergleichen durften nur leicht durchgestrichen werden, so dass sie nicht zu irrigen Auslegungen führen konnten, aber noch lesbar waren. (Selbst Fehler erweisen sich manchmal als nützlich.)

Natürlich war das Radieren auf der Rückseite eines Blattes eine verzeihliche Sünde, da die Rückseiten ja nicht eigentlich Teil des Notizbuchs waren. Brade prüfte die Zahlen genau und legte seine Stirn noch mehr in Falten. Er dachte nach, blätterte ein paar Seiten weiter und stieß wieder auf radierte Stellen.

Dann saß er lange auf dem Stuhl, ohne die Bücher anzusehen, indes die Nachmittagsstunden dahinkrochen.

Es konnte nicht sein. Ihm war ein solcher Fall noch nie begegnet. Und doch - es schien keinen Zweifel zu geben.

Nein, es gab keinen Zweifel. Er hatte entdeckt, dass Charles Emmett sich nicht getäuscht hatte. Ralph musste ihn, Brade, gleichsam wie den Tod gefürchtet haben, und er wusste jetzt auch, warum. Und dieses Wissen drückte ihn nieder.

15

Es dauerte eine Weile, bis Brade seine Erkenntnis in allen ihren Konsequenzen durchdacht hatte. Jetzt konnte er Ralphs Arbeit nicht mehr fortführen. Es würde keine erstaunliche Entdeckung, keinen ungewöhnlichen wissenschaftlichen Beitrag geben; nichts, womit er das Institut und die Welt der Chemie insgesamt verblüffen konnte. Cap Anson hatte recht gehabt. Otto Ranke hatte recht gehabt. Er, Brade, hatte unrecht gehabt.

Er wusste nicht, wie oft es schon geklopft hatte. Als er schließlich ganz laut »Herein« rief, tat sich gar nichts. Nur die Klinke wurde mehrmals heruntergedrückt.

Brade stand auf, um die Tür aufzuschließen. Es war, als bewegten sich nicht seine Muskeln, sondern die eines andern. Sein Denken war so sehr mit andern Dingen angefüllt, dass er nicht dazu kam, sich zu fragen, wer wohl am Sonntag dort an der Tür sein mochte; ja, er besaß nicht einmal die Energie, Erstaunen zu zeigen, als der Kriminalbeamte, Jack Doheny, auf der Schwelle stand, in demselben dunkelblauen Anzug mit den feinen weißen Streifen, den er am Donnerstag abend getragen hatte, als sie sich vor Ralph Neufelds Leiche zum erstenmal begegnet waren.

Doheny blickte sich flüchtig um und sagte: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, sich ein bisschen mit mir zu unterhalten, Professor.« »Wenn Sie wünschen«, erwiderte Brade ziemlich teilnahmslos aus seiner niedergeschlagenen Stimmung heraus.

»Ich war zuerst bei Ihnen zu Hause, aber Ihre Frau sagte, Sie seien hier.« Er blickte sich noch einmal um. »Darf ich rauchen?« Dohney zündete sich eine Zigarre an und nahm, von Brade mit einer Handbewegung aufgefordert, auf einem Stuhl Platz. Er zog einen Aschenbecher zu sich heran und sagte: »Sieht so aus, als seien wir beide unter die Sonntagsarbeiter gegangen.« »Wollen Sie etwas wegen Ralph Neufeld wissen, oder kann ich Ihnen in anderer Weise behilflich sein?«

»Nein, es dreht sich schon um Ihren Studenten, Professor. Das lässt mir keine Ruhe. Komisch. Die Sache hat von Anfang an nicht gestimmt.« »Wieso nicht?« fragte Brade.

»Ja, wissen Sie, ich verstehe nichts von Chemie. Überhaupt nichts. Und da bin ich mir hier zuerst ziemlich verloren vorgekommen. Aber ich bin nun schon so lange in meinem Beruf tätig, dass ich das Gefühl habe, hier stimmt etwas nicht, auch wenn ich mir immer wieder sage, Jack, mach langsam, davon hast du keine Ahnung.« »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Oh, das ist nicht schwer zu erklären. Nehmen wir mal Sie, Professor. Angenommen, Sie haben eine neue Chemikalie in einem Reagenzglas, und Sie fragen sich, was die wohl für Eigenschaften hat. Ich wette, Sie können sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, noch ehe Sie sie testen. Sie sagen sich, das Zeug sieht so aus, als könnte es explodieren. Oder aufgepasst, das ist giftig; oder das wird schwarz, wenn ich dieses Zeug hier dazutue.«

»Wenn mir die chemische Formel des neuen Stoffes bekannt wäre«, erwiderte Brade, »könnte ich daraus gewisse Schlüsse auf seine Eigenschaften ziehen.«

»Und Sie würden sich kaum einmal irren, hm?« »Selten.«

»Eben. Das kommt mit der Erfahrung. Man kriegt so eine Art Fingerspitzengefühl, das man manchmal gar nicht erklären kann.« »Möglich, ja«, sagte Brade, nicht so recht überzeugt. »Schön, Professor. Nun nehmen Sie mal mich. Ich habe nun seit fünfundzwanzig Jahren mit Menschen zu tun, so wie Sie mit Chemikalien. Ich besitze eine Menschenkenntnis, wie man sie nicht auf der Schule lernt. Ich merke, wenn mit einem was nicht stimmt, so wie Sie bei so einem Pulver ein ungutes Gefühl bekommen. Manchmal täusche ich mich, so wie Sie sich im Umgang mit Chemikalien täuschen können, aber meistens habe ich recht - genau wie Sie auf Ihrem Gebiet.«

Brade spürte eine Unruhe in sich aufkommen, besaß aber genug Geistesgegenwart, um sich zu sagen, dass Doheny es vielleicht gerade darauf abgesehen hatte, ihn in Unruhe zu versetzen. »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte er.

»Ich will Ihnen damit nur sagen, dass am Donnerstag mit Ihnen etwas nicht gestimmt hat, als ich mit Ihnen sprach.«

»Da haben Sie recht. Ich war erschüttert. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, und das war nun sogar einer meiner Doktoranden. Ich war nicht ganz bei mir.«

>ja? Ich kann mir das gut vorstellen. Wirklich. Aber sehen Sie mal« -Doheny zog ruhig und methodisch an seiner Zigarre, damit sie gleichmäßig brannte-, »in der Chemie geht's eigentlich wie in der Küche zu. Sie haben Ihre Zutaten. Sie mischen sie, erhitzen sie - oder was weiß ich. Die Chemie ist vielleicht komplizierter, aber wenn Sie sich eine Köchin in der Küche vorstellen - da besteht doch eine Verwandtschaft mit einem Chemiker in einem Labor.

Jetzt nehmen Sie mal an, die Köchin backt einen Kuchen. Sie braucht Mehl, Milch, Eier, Vanille, Backpulver und so weiter. Sie stellt die Sachen alle auf den Tisch und fängt dann an und vermischt sie miteinander. Aber dann lässt sie die Büchsen und Flaschen und was weiß ich noch auf dem Tisch stehen. Vielleicht stellt sie die Milch wieder in den Kühlschrank, aber wahrscheinlich lässt sie, sagen wir, das Mehl, den Vanillezucker liegen. Anders ausgedrückt: Sie geht sicher nicht zur Speisekammer, holt Mehl, schüttet etwas heraus und tut das Mehl gleich wieder in die Speisekammer. Sie holt nicht die Milch heraus, gießt ein wenig dazu und stellt sie gleich wieder weg. Und so weiter. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja, durchaus, Mr. Doheny. Aber was hat das mit unserem Fall hier zu tun?«

»Ja, sehen Sie, Ihr Student war beim Teigmischen, gewissermaßen, und er wollte gerade hinzutun - Augenblick.« Doheny warf einen Blick auf ein Kärtchen, das er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte. »Natriumacetat, aber er erwischte statt dessen Natriumzyanid. Wieso stand dann die Flasche mit dem Zyanid nicht mehr neben ihm auf der Arbeitsplatte? Warum stand sie auf dem Regal?« »Was ist da schon für ein Unterschied, wo sie stand?« Brade wusste, was da für ein Unterschied war, er fragte sich nur, an was für einen Unterschied dieser plötzlich so bedrohlich wirkende Mann mit dem rundlichen, eher harmlosen Gesicht dachte. »Vielleicht will es nichts heißen«, fuhr Doheny nachdenklich fort. »Vielleicht stand die Flasche neben ihm auf dem Tisch, und Sie haben sie automatisch weggestellt, als Sie den Toten fanden. Ohne darüber nachzudenken, wissen Sie. Haben Sie das getan?«

Brade war sich der Bedeutung dieser Frage bewusst. Er wagte es nicht, mit einer Lüge zu antworten. Er sagte: »Nein.«

»Oder der junge Mann neigte zu unberechenbaren Handlungen. Vielleicht hat er etwas von dem Pulver herausgeschüttet und ist mit der Flasche die fünf Meter bis zum Regal zurückgegangen, ehe er weitermachte. Nur fiel mir auf, dass er einen leeren kleinen Krug hinter all dem Glaskram stehen hatte, an dem er arbeitete, und in dem Krug oder Kolben oder wie das heißt war noch etwas Pulver drin, als gehörte er zu denen, die solche Sachen erst mal stehen lassen. Das kam mir damals komisch vor.«

Brade presste die schmalen Lippen aufeinander. Er schwieg. »Ja, wie gesagt, das kam mir komisch vor«, fuhr Doheny fort. »Ich habe deshalb die Flasche aus dem Regal genommen, habe sie dorthin gestellt, wo der junge Mann experimentiert hatte, habe so ein paar Handgriffe simuliert und Sie dann gefragt: >Sagen Sie, fällt Ihnen da etwas auf?< Ich dachte, ich gehe gleich sicher und frage Sie, ob Sie diesen merkwürdigen Umstand auch bemerkt haben. Ich dachte, Sie sagen ganz bestimmt: He, wie kommt das, dass die Flasche im Regal steht und nicht an seinem Arbeitsplatz? Aber das haben Sie nicht gesagt. Sie haben nur ein ausdrucksloses Gesicht gemacht. Und da habe ich mir gesagt: Jack, mit dem Professor stimmt etwas nicht. Der ist zu klug, als dass ihm das nicht hätte auffallen müssen! Verstehen Sie, was ich meine? Sie und Ihre Chemikalien - ich und die Menschen.«

»Herrgott, ich war durcheinander«, entgegnete Brade zornig. »Ich habe gar nicht klar denken können.«

»Das will ich Ihnen zugestehen. Die Sache war nur so komisch, dass ich dachte, ich frage noch ein bisschen herum, ehe ich gehe. Und was soll ich Ihnen sagen? Ein paar Leute haben mir erzählt, dieses Acetat fühlt sich ganz anders an als Zyanid, wenn man mit dem Löffel hineinsticht. Stimmt das, Professor?«

Wieder zögerte Brade, und wieder sagte er sich, dass eine Lüge zwecklos war. »Ja, in gewisser Hinsicht.«

»Und dann haben mir noch einige Leute gesagt, Ralph sei so gewissenhaft und vorsichtig gewesen, dass sie sich nicht erklären könnten, wie ihm dieser Irrtum unterlaufen sein sollte. Er hätte sozusagen alles immer doppelt nachgeprüft. Stimmt das, Professor?« »Ja, er war sehr gewissenhaft.«

>Ja, sehen Sie, Professor« - das freundliche Lächeln wich nicht von Dohenys rotbackigem Gesicht -, »Sie waren so durcheinander, dass Sie mir davon nichts gesagt haben. Sie haben nicht einmal gesagt, der junge Mann kann die Flasche aus diesem oder jenem Grund eigentlich gar nicht verwechselt haben. Und Sie hatten inzwischen zwei Tage Zeit, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen, aber trotzdem haben Sie mich nicht angerufen und mir gesagt: >Mir ist da etwas aufgefallen, das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen.( Also war an meinem ersten komischen Gefühl bei Ihnen vielleicht doch etwas dran.« »Nicht viel«, sagte Brade in plötzlich aufwallendem Zorn, »nur dass ich in diesen Dingen nicht beschlagen bin. Ich bin kein Kriminalbeamter.« Doheny nickte. >Ja, ja. Ich gebe zu, es ist nicht viel - für sich allein betrachtet. Aber überlegen Sie noch einmal. Vielleicht waren Sie wirklich völlig durcheinander und so, aber schließlich haben Sie doch auch daran gedacht, nach dem Schlüssel Ihres Studenten zu diesem Labor zu fragen. Erinnern Sie sich?« »Ja, natürlich.«

»Schön, warum haben Sie danach gefragt? Sie hätten doch auch am nächsten Tag anrufen oder ihn auf dem Revier abholen oder ihn bei uns lassen können, da Sie sicher Ihren eigenen Schlüssel hatten. Aber Sie haben danach gefragt. Warum eigentlich?« Brade war empört. »Es fiel mir gerade ein. Weiter hatte das nichts zu bedeuten. Es fiel mir gerade ein.«

Doheny hob beruhigend die Hand. »Schon gut, schon gut. Vielleicht erklärt das die Sache. Ich behaupte ja nicht das Gegenteil. Ich dachte nur: Wie steht es mit einer anderen Erklärung dafür? Das ist mein Beruf, sehen Sie, mir andere Erklärungen einfallen zu lassen. Vielleicht lag Ihnen daran, dass niemand das Labor betritt ohne Ihr Wissen. Vielleicht machte es Sie nervös, dass die Polizei einen Schlüssel hatte.« Er klopfte behutsam die zu lang gewordene Asche seiner Zigarre ab. »Ich habe eben so meine Vermutungen angestellt.« Brade merkte, dass es ein Fehler gewesen war, auf das Mittagessen zu verzichten. Das leere Gefühl im Magen und der Zigarrenrauch verursachten ihm eine leise Übelkeit, die sein Denkvermögen beeinträchtigte. »Ich versichere Ihnen, dass ich an so etwas dabei nicht dachte.«

»Ich wollte der Sache nachgehen, Professor. Sie haben immerhin merkwürdig reagiert, und da habe ich mich, nachdem ich hinausgegangen war, noch eine Zeitlang draußen herumgetrieben. Im Labor von Ralph Neufeld ging das Licht an und brannte eine ganze Weile. Sie sind erst eine gute Stunde nach mir gegangen. Da habe ich mir von meinen Leuten den Schlüssel des jungen Mannes bringen lassen und bin noch einmal ins Labor gegangen, und da hatten Sie inzwischen an etwas gearbeitet. Es standen einige Chemikalien herum, die vorher nicht dagewesen waren, und auch ein paar Gläser oder Röhrchen mit Pulver.«

Brade räusperte sich mit einiger Mühe.

»Ich habe einen unserer Chemiker kommen lassen - wir haben auch Chemiker bei der Polizei, wissen Sie, und der hat sich alles angesehen und dann gesagt, es wäre möglich, dass Sie einen Zyanidtest gemacht hätten, und er hat etwas von dem Zeug in den kleinen Gläsern mit ins Polizeilabor genommen und festgestellt, dass es Acetat war. Also was haben Sie im Labor gemacht, Professor?« Brad sah keinen Ausweg mehr. Mit leiser, gleichmäßiger Stimme erzählte er Doheny, was er am Donnerstag abend in Ralphs Labor gemacht hatte, erwähnte den einen Kolben mit Zyanid und die anderen mit Acetat, schilderte die Methode, nach der Ralph experimentiert hatte. »Und Sie haben uns nichts davon gesagt.« Doheny blickte ihn fragend an. »Hatten Sie Angst, in einen Mordfall verwickelt zu werden?« »Wenn Sie damit meinen, dass ich fürchtete, der Verdacht könnte auf mich fallen - ja.«

»Nun, das war die falsche Reaktion. Damit bringen Sie sich doch erst recht in Verdacht.«

»Wieso?« sagte Brade aufbrausend. »Wenn ich der Mörder wäre, brauchte ich doch diese Kolben nicht zu testen. Ich wüsste doch, was drin ist.«

»Wenn Sie nicht der Mörder waren, warum haben Sie dann geschwiegen? Das würden die Geschworenen fragen. Wenn Sie erst einmal mit der Geheimniskrämerei anfangen, fragen sich diese Leute nämlich, was Sie wirklich im Labor gemacht haben. Vielleicht sagen Sie mir jetzt nicht die Wahrheit.« »Ich schwöre Ihnen -«

»Mir brauchen Sie nichts zu schwören. Heben Sie sich das für den Gerichtssaal auf, falls es soweit kommt.« Er klopfte wieder die Asche seiner Zigarre ab und setzte hinzu: »Wichtig ist: Sie hielten es von Anfang an für Mord.« »Mord oder Selbstmord.« »Selbstmord?«

»Sie glaubten doch, es könnte Selbstmord gewesen sein. Zumindest hat man sich hier erzählt, Sie hätten sich bei verschiedenen Leuten nach Ralphs seelischer Verfassung vor seinem Tod erkundigt.« »Wer hat Ihnen denn das gesagt?« »Spielt das eine Rolle?« »Nein. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie es mir sagen würden. Ja, ich habe Fragen gestellt, die die Möglichkeit eines Selbstmords betrafen, aber ich habe nicht daran geglaubt. Selbstmörder hinterlassen gewöhnlich eine Mitteilung.«

»Es gibt aber kein Gesetz, das ihnen das vorschreibt.« »Natürlich nicht. Aber gewöhnlich tun sie das. Sehen Sie, ein Selbstmörder kommt sich im allgemeinen sehr bemitleidenswert vor. Er stellt sich vor, dass nach seinem Tod alle, die schlecht zu ihm waren, sehr bedrückt sind und sich vornehmen, nett zu ihm zu sein, wenn sie es noch einmal mit ihm zu tun hätten. Daran zu denken, hält ihn gewissermaßen bei Laune, während er seine Vorbereitungen trifft. Der Gedanke daran, was für schwere Vorwürfe sich diese andern machen werden, wissen Sie. Deshalb hinterlässt er im allgemeinen eine Nachricht für den, der sich besonders betroffen fühlen soll - seine Mutter etwa oder seine Frau. Wenn ein Selbstmörder keine Nachricht hinterlässt, heißt das, dass es ziemlich sicher ist, dass die richtigen Leute auch ohne sein Zutun leiden werden. Im allgemeinen sind sie sich aber nicht sicher, und mir persönlich ist noch kein Selbstmörder untergekommen, der keine Nachricht hinterlassen hätte. Im Falle unseres Studenten hier fand sich nicht nur keine Nachricht, sondern er muss sich, wenn es tatsächlich ein Selbstmord war, große Mühe gegeben habe, dass es wie ein Unglücksfall aussieht. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Professor?« »Doch, das bin ich.«

»Selbstmörder tun das manchmal. Wenn's um eine Lebensversicherung geht, zum Beispiel, aber Neufeld war nicht versichert. Oder wenn die Familie sehr religiös eingestellt ist, aber Neufeld hatte nur noch seine Mutter, und die Religion scheint bei beiden keine große Rolle gespielt zu haben. Ich habe noch an andere Möglichkeiten gedacht, aber das hat zu nichts geführt. Es wäre hier einfach sinnlos gewesen, einen Selbstmord als einen Unglücksfall hinzustellen. Durchaus einen Sinn hat es dagegen, einen Mord als einen Unglücksfall erscheinen zu lassen. jemand hat also in den Kolben Zyanid getan.«

»Aber wer?« fragte Brade.

»Ich weiß es nicht«, sagte Doheny. »Vielleicht Sie.«

»Aber ich hatte doch keinen Grund dazu.« Brades Denken stand wie unter einer Art Betäubung, und er konnte über diese Dinge sprechen, ohne sich aufzuregen.

»Vielleicht doch. Ich habe mir bei meinem Herumfragen so einiges zusammengereimt. Zum Beispiel habe ich den Eindruck gewonnen, dass Ihre Stellung hier an der Universität etwas wackelig ist; dass es mit Ihnen abwärtsgeht. Ich sage nicht, dass es so ist, aber einige Leute haben Andeutungen in diesem Sinn gemacht. Und dieser Student, dieser Neufeld, kam nicht sehr gut mit Ihnen aus. Na ja, wenn Ihr eigener Doktorand beispielsweise herumgeht und sagt, Sie taugen nicht viel, so könnte das der Anstoß sein, der zu Ihrer Entlassung führt. Vielleicht wäre das für Sie Grund genug gewesen, ihm den Mund zu stopfen - für immer.«

Brade ging trotz seiner Empörung nicht darauf ein. Das war einfach zu lächerlich. »Mr. Doheny«, sagte er, »ich bin jetzt auf eine Sache gestoßen, die einen Selbstmord als logisch erscheinen lässt. Sie könnte auch eine Erklärung dafür liefern, dass Ralph versucht hat, einen Unglücksfall vorzutäuschen.«

»So? Dann schießen Sie mal los.« Das klang nicht sonderlich begeistert.

Brade starrte bekümmert auf die Notizbücher. Er hatte am Abend zuvor zu Ranke gesagt, er verstehe genug von physikalischer Chemie, um beurteilen zu können, dass Ralphs Arbeit gute Fortschritte gemacht hatte. Er hatte in der Hitze des Zorns gesprochen, aber er durfte sich trotzdem jetzt sagen, dass es keine Grosstuerei gewesen war. Zumindest konnte er die Resultate erfassen, die sich aus Ralphs Daten ableiteten. Er konnte beurteilen, wie sie sich zu seinen Theorien verhielten. Eines hatte er freilich dabei vorausgesetzt, weil man das einfach immer voraussetzte: die Aufrichtigkeit des Experimentierenden. »Ralph Neufeld hatte bestimmte Theorien aufgestellt«, begann er, »die er durch gewisse Experimente zu beweisen versuchte. Gelang ihm dieser Beweis, hätte er sich einen Namen gemacht und wahrscheinlich einen guten Posten angeboten bekommen. Gelang ihm der Beweis aber nicht, hätte er vielleicht sogar seine Promotion verpatzt. Verstehen Sie?«

»Natürlich.«

»Heute morgen habe ich nun seine Notizbücher durchgesehen und festgestellt, dass seine Arbeit zunächst nicht recht vorwärtsging. Er wurde immer nervöser und verzweifelter, bis er schließlich zu Maßnahmen griff, die garantierten, dass seine Theorien stimmten. Er begann falsche Beobachtungen einzutragen. Er fälschte seine Messdaten, um sie seinen Theorien anzupassen.« »So wie ein betrügerischer Bankangestellter die Bücher fälscht, um seine Veruntreuungen zu verdecken?« »Ja, genau.«

Doheny dachte über das Problem nach. Dann fragte er: »Würden Sie das vor Gericht auf Ihren Eid nehmen?«

Brade dachte an das, was er in den Notizbüchern gefunden hatte, an den plötzlichen Umschwung zu erfolgreichen Experimenten, die ausradierten Daten. Er dachte an Nebenumstände wie etwa das, was Simpson ihm von Ralphs Wut erzählt hatte, als er Ralph zu nahe gekommen war, während dieser Messdaten eintrug. Er sagte: »Ja, ich glaube schon. Aber Sie begreifen doch, ja? Bis zum Schluss hat er mit den Versuchen weitergemacht, als hätte er unter einem Zwang gestanden, den Schein des integren Wissenschaftlers zu wahren, obwohl er keiner mehr war. Was er tat, war etwas ganz Schreckliches, und schließlich wurde er nicht mehr damit fertig und nahm sich das Leben.«

»Aber warum hätte er einen Unfall vortäuschen sollen?« »Im Falle eines Selbstmordes würde man sich nach dem Grund fragen. Dabei mochte man seine Notizbücher durchlesen und sein schändliches Verhalten entdecken. Bei einem Unglücksfall würde niemand nach einem Motiv fragen. Sein Andenken würde ohne Makel bleiben.«

»Er hätte doch seine Notizbücher vernichten können.« »Ich habe Duplikate.«

»Musste er damit rechnen, dass Sie seine Arbeit fortführen und seinem Betrug sowieso auf die Spur kommen würden?« »Nicht unbedingt«, sagte Brade leise. »Er hat von meiner Fähigkeit, seiner Arbeit geistig folgen zu können, nicht viel gehalten. Vielleicht glaubte er, ich würde das Projekt einfach aufgeben, wenn er tot war. Sehen Sie jetzt, dass Selbstmord genau in diesen Vorgang hineinpasst, Mr. Doheny?« Doheny rieb sich mit der Hand kräftig das Kinn. »Etwas passt hinein, Professor«, sagte er. »Aber nicht Selbstmord. Was Sie mir gerade erzählt haben, könnte Ihr Todesurteil sein. Dass Sie ein so gutes Tatmotiv haben könnten, hätte ich gar nicht gedacht.«

16

Brade starrte Doheny restlos entsetzt an. »Schalten Sie einen Selbstmord so ohne weiteres aus? Ich habe Ihnen doch geschildert, wie sich das Fehlen eines Abschiedsbriefs oder dergleichen erklären könnte. Oder begreifen Sie nicht, ein wie schwerwiegendes Vergehen das Fälschen von Messdaten für einen Wissenschaftler ist?« Doheny ließ sich durch Brades wilden Blick nicht beeindrucken. Er streckte die rechte Hand aus. »Kann ich mir mal eines von diesen Büchern ansehen?«

Brade reichte ihm eines. Doheny blätterte darin herum. Er schüttelte den Kopf. »Kommt mir spanisch vor. Aber Sie können feststellen, dass mit den Zahlen hier was nicht stimmt, ja?« »Natürlich kann ich das«, sagte Brade.

»Na ja, müssen Sie ja auch können als Fachmann. Und ich kann feststellen, ob mit Selbstmord was nicht stimmt. Sehen Sie mal, nach meiner Erfahrung sind es zwei Sorten von Menschen, die gewalttätige Handlungen begehen. Die einen sind die, die sich selbst nicht leiden können. Sie glauben, sie taugen nichts. Sie haben nie Glück, sind nie am Drücker. Wenn ihnen was Dummes passiert - und was Gutes passiert ihnen nie -, dann geben sie sich immer selbst die Schuld. So jemand können Sie völlig ohne Grund in den Hintern treten, da wird er nicht wütend. Er denkt sich, er hat eben so diese Art von Hintern und ist selbst schuld, wenn er hineingetreten wird. Manchmal kommen sich solche Leute ganz kolossal vor und können sogar richtig ausgelassen sein, aber bald blasen sie wieder Trübsal.« »Der mechanisch-depressive Typ«, sagte Brade. »Nennt man sie so? Na ja, egal, diese Menschen können ein gewaltsames Ende finden. Sie sind die typischen Selbstmordkandidaten.

Bei denen muss man Messer und Stricke und so weiter gut verstecken, sonst ist es schon passiert. Ja, und dann gibt's diese andere Sorte -aber ich hoffe, ich langweile Sie nicht mit dieser Fachsimpelei.« Doheny drückte seine Zigarre aus. »Manchmal finde ich kein Ende mehr. Vielleicht interessiert Sie das gar nicht.«

»Bitte, fahren Sie fort. Ich kann mir denken, dass die Sache auch mich betrifft.«

»Na schön. Also da ist diese andere Sorte, das sind die Menschen, die die ganze Welt hassen. Nicht sich selbst, wohlgemerkt, aber alle andern. Was denen auch passiert, immer sind die andern daran schuld. So jemand kann die blödsinnigsten Sachen anstellen, und da ist er noch überzeugt, das ist so gekommen, weil jemand eine Strasse weiter geniest hat. Der bringt es fertig und tritt Sie in den Hintern und geht dann noch zur Polizei und beschwert sich, Sie hätten ein Buch in der Gesäßtasche gehabt und da hätte er sich die Zehen verletzt. Und er glaubt, alle hätten es nur auf ihn abgesehen und dächten an nichts anderes, als ihm eins auszuwischen.« »Der paranoide Typ«, sagte Brade.

»Schön - wenn er so heißt. Der Tote gehörte doch in diese zweite Gruppe, nicht wahr?«

»Ich glaube schon«, sagte Brade langsam.

»Garantiert. Jetzt- diese Leute nehmen sich nie das Leben, weil ja nie etwas ihre Schuld ist. Sie könnten sich umbringen, wenn Sie die Angaben gefälscht hätten und dann Ihr schändliches Verhalten nicht ertragen würden. Ralph Neufeld nicht. Er würde sich nie einen Vorwurf machen. Er wäre überzeugt, dass ein anderer daran schuld sei; er ist dazu gezwungen worden, verstehen Sie? Er würde sich sagen, er hat es nur aus Notwehr getan, gewissermaßen; oder um die Menschheit zu retten. Worum's auch immer geht, diese Menschen bringen sich nicht selbst um; sie bringen andere um - oder werden umgebracht.« Brade schluckte heftig, denn Doheny brachte überzeugende Argumente vor, wenn ihm auch die Fachausdrücke fehlten. »Nun schalten Sie mal einen Selbstmord aus«, fuhr Doheny fort, »und überlegen Sie logisch weiter. Angenommen, der junge Mann hätte weitergelebt und diese Arbeit hier beendet. Was wäre passiert?«

»Professor Ranke hätte den Betrug vielleicht in der mündlichen Promotionsprüfung entdeckt.«

»Und wenn dieser Professor nichts gemerkt hätte?«

»Dieser Fall ist der wahrscheinlichere. Keiner käme zunächst auf den Gedanken, Untersuchungsdaten anzuzweifeln. Ja, dann hätte er seinen Doktortitel bekommen und seine Arbeit veröffentlicht. Aber wenn dann andere Forscher versucht hätten, seine Ergebnisse zu verwenden und nachzuprüfen, hätte sich herausgestellt, dass seine Angaben nicht stimmten.«

»Hätten diese andern feststellen können, dass er sie bewusst gefälscht hatte?«

»Seine Daten wären so falsch gewesen, dass man wahrscheinlich Verdacht geschöpft hätte.«

»Und was hätte das für Sie bedeutet, Professor?« »Nichts Gutes«, murmelte Brade.

»Es hätte Ihnen vielleicht sogar sehr viel schaden können, ja?« »Ja, natürlich.«

»Vielleicht hätte der eine oder andere gedacht, Sie hätten bei der Fälschung Vorschub geleistet. Wäre das möglich?« »Ich bezweifle, dass man jemals auf diesen Gedanken käme«, sagte Brade entrüstet, aber er musste an Rankes Spleen denken und daran, wozu er fähig war.

Doheny betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. »Vielleicht hätte man sich auch gesagt, der junge Mann hätte sich den Betrug nur leisten können, weil er wusste, dass Sie ihm doch nicht auf die Spur kommen würden.«

Brade errötete und gab einen unartikulierten Laut von sich. Der Detektiv fuhr fort: »Wenn Sie also die Fälschung nicht heute, sondern, sagen wir, vor einem Monat entdeckt hätten -« »Ich habe sie heute entdeckt«, stellte Brade nachdrücklich fest. »Ich sage ja nicht, dass es so war. Wenn Sie die Sache also schon vor einem Monat entdeckt hätten, dann hätten Sie der Sache doch irgendwie ein Ende machen müssen, und Sie hätten Neufeld nicht einfach anzeigen oder melden können, denn dann hätten Sie noch immer ziemlich belämmert dagestanden. Vielleicht hätte es für Sie nur einen Ausweg gegeben - einen >Unfall< arrangieren, bei dem der junge Mann ums Leben kam, seine Notizbücher beiseite schaffen und die ganze Sache begraben.«

»Ich hatte bis heute die Absicht, seine Arbeit fortzusetzen«, entgegnete Brade. »Und dafür habe ich Zeugen.«

»Sie haben vielleicht Zeugen, die bestätigen können, dass Sie das gesagt haben. Aber führen Sie seine Arbeit wirklich fort?« »Jetzt kann ich es nicht mehr.«

»Und wenn ich heute nicht hereingekommen wäre, hätten Sie dann irgend jemandem den wahren Grund gesagt, weshalb Sie nicht weitermachen?«

Brades Lippen pressten sich zusammen.

»Sie sehen, was ich meinte, als ich vorhin von einem Tatmotiv sprach«, sagte Doheny. »Dass Sie die Fälschung erst heute entdeckt haben, dafür haben Sie keine Zeugen.«

»Wollen Sie mich verhaften?« fragte Brade zornig. »Nein.«

»Warum nicht? Wenn ich doch ein so gutes Motiv habe -« Doheny lächelte. »Ich bin noch nicht davon überzeugt, dass Sie es gewesen sind. Ich schnüffle noch immer herum. Aber Sie sind in einer schwierigen Lage, und ich rate Ihnen, unterstützen Sie mich, wenn Sie aus ihr herauskommen wollen. Gleich eine Frage: Wer war es?« »Ich weiß es nicht.«

»Keinen Verdacht? Keiner da mit einem Motiv?« »Ich-ich habe keinen wirklichen Grund, jemanden zu verdächtigen, und einfach Namen ins Spiel zu bringen, wäre unfair und - und feige.« Doheny räkelte sich auf seinem Stuhl. »Sie sind ein ganz ungewöhnlicher Bursche, Professor. Die meisten Menschen haben keine Skrupel, über andere Leute Hässliches zu sagen. Sie warten nur auf einen Vorwand, um gemein sein zu können, ohne sich gemein vorkommen zu müssen. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn sie sich sagen können, dass sie ein schreckliches Verbrechen aufklären helfen, ist alles gut. Wie kommt es, dass Sie da anders sind?« »Wird es mir nützen, wenn ich versuche, Argwohn zu verbreiten? Oder schaden?«

Doheny lächelte noch breiter. »Wissen Sie, ich glaube, Sie haben kein Vertrauen zu mir. Na, schauen wir uns doch mal nach möglichen Verdächtigen um. Es war sorgfältig geplanter Mord, also können wir Notwehr oder Totschlag ausscheiden. Was veranlasst einen zu morden? Vielleicht Angst. Wenn Sie's gewesen wären, vielleicht. Sie hätten Angst davor gehabt, was aus Ihrem Ruf wird, wenn diese manipulierten Notizbücher ans Tageslicht kamen. Oder Habgier? Aber der junge Mann besaß keinen Cent, und an einem Toten verdient allenfalls der Totengräber. Es könnte auch Liebe oder Hass gewesen sein, die kommen bei Mord meistens auf eines heraus. Ja, da gibt es doch hier eine gewisse Jean Makris, die dieser Ralph verschmäht zu haben scheint -und die das offenbar übelgenommen hat.« Brade war überrascht. »Wer hat Ihnen denn das erzählt?« »Oh, so zwei, drei Leute, Professor. Ich sage Ihnen ja, reden Sie einem ein, er tut ein gutes Werk, und Sie werden erstaunt sein, wieviel Schmutz er von sich gibt, und das mit dem größten Vergnügen. Ja, diese Jean Makris, versteht die etwas von Chemie? Sie ist doch nur Sekretärin, oder?«

»Sie könnte ein wenig davon verstanden haben«, sagte Brade zögernd. »Eine Sekretärin an einer Universität schnappt so manches Faustregelwissen von den Dingen auf, mit denen sie zu tun hat. Über Zyanid dürfte sie Bescheid wissen, das nehme ich doch an.« »Na, das wollen wir uns jedenfalls mal merken. Und wegen eines Alibis brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, weil die Vertauschung der Chemikalien irgendwann im Verlauf mehrerer Tage vorgenommen worden sein kann.«

»Ja.«

»Dann ist da noch ein Mädchen, das etwas mit Neufeld hatte. Eine Ihrer Studentinnen.«

»Das einzige Mädchen unter meinen Doktoranden. Ich habe das vorgestern erst erfahren.«

»Nicht früher? Haben die zwei ein Geheimnis daraus gemacht?« »Offenbar war nicht sicher, ob seine Mutter einer Ehe zustimmen würde.«

Doheny lachte leise. »Da sieht man wieder mal, dass junge Leute nicht immer gut informiert sind. Die Mutter wusste davon. Sie hat mir davon erzählt. Sie sagte, wenn ein Mädchen einen Jungen besucht, um sich mit ihm über Chemie zu unterhalten, dann unterhalten sie sich vielleicht auch über Chemie. Wenn sie aber zweimal in der Woche kommt, dann ist es mehr als Chemie.« Brade sagte zögernd: »Liebe ist gewöhnlich kein Mordmotiv, es sei denn - ein Partner will nichts mehr vom andern wissen.« »Daran dachte ich auch zuerst«, erwiderte Doheny. »Die Mutter sagt, das sei ausgeschlossen. Sie hätten sich einen Tag vor seinem Tod noch getroffen. Ich habe mich aber erkundigt. Sie waren zum Beispiel öfter in einem Drugstore und haben Eis gegessen oder ein Sodawasser getrunken. Der Mann dort kannte sie. Wie er sagt, waren sie etwa eine Woche vor dem Mord wieder einmal da und hatten eine Auseinandersetzung im Flüsterton.« »Ach«, sagte Brade überrascht.

»Hört sich interessant an, wie? Aber es ging nur darum, was sie bestellen wollten.« Der Kriminalbeamte lächelte. »Der Bursche hinter der Theke sagt, er hätte den Eindruck, Ralph hätte dem Mädchen von zu süßen Sachen abraten wollen.«

»Sie hat tatsächlich etwas Übergewicht, ja«, sagte Brade.

»Er musste aber nachgeben. Der Mann im Drugstore sagt, sie hätte ganz aufgeregt von einem Fudge gesprochen und hätte sich dann auch einen Fudge-Eisbecher bestellt. Er erinnert sich so genau daran, weil er nur wenig Sahne draufgehauen hat, damit sie am nächsten Morgen kein allzu schlechtes Gewissen hätte. Ist Ihnen die Schlussfolgerung klar?«

»Gibt es denn da überhaupt eine?«

»Na klar! Wenn ein Liebespaar Streit darüber bekommt, was für ein Eis bestellt werden soll, dann kann von Trennung keine Rede sein. Wenn er die Absicht hatte, sie sitzenzulassen, dann wäre es ihm gleichgültig gewesen, ob sie ein paar Kalorien mehr oder weniger zu sich nimmt. Ich nehme also an, dass seine Mutter recht hat und eine Trennung nicht beabsichtigt war.« »So sicher wäre ich da nicht«, entgegnete Brade. »Ralph könnte nur einen Vorwand zu einem Streit gesucht haben, um sie loszuwerden.« »Oh, vor die Geschworenen könnte ich damit nicht gehen«, gab Doheny sofort zu, »und ich habe das Mädchen auch nicht von meiner Liste gestrichen. Also, wen haben wir noch, Professor?« Brade hielt es nicht mehr aus. »Das führt zu nichts«, sagte er in heftigem Ton. »Was?«

»Ich weiß, weshalb Sie gekommen sind, und ich bin nicht ganz so töricht, wie Sie glauben. Sie haben mich in Verdacht, haben aber keine Beweise. Und jetzt reiten Sie die freundliche Tour, tun ganz offen und warten doch nur darauf, dass ich mich irgendwie verhaspele.« »Sie meinen so etwas wie Ihre Mitteilung, dass die Notizbücher gefälscht wurden?«

Brade errötete langsam. »Ja, so ungefähr. Nur dass das gestimmt hat und dass ich wirklich glaubte, es deute auf einen Selbstmord hin. Vielleicht habe ich mich da getäuscht. Aber Sie können aus mir nichts herausbekommen, was meine Schuld beweist, weil ich es nicht war. Ich kann Sie nicht daran hindern, mich für schuldig zu halten, das gehört zu Ihrem Beruf. Aber ich habe etwas dagegen, dass Sie mich auf diese hinterhältige Art bearbeiten.«

Das rundliche Gesicht des Kriminalbeamten blickte auf einmal sehr ernst. »Professor, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich könnte versuchen, Sie hereinzulegen, auch das gehört zu meinem Beruf. Aber das tue ich nicht. Ich bin auf Ihrer Seite, und ich will Ihnen auch sagen, warum.

Wenn Sie es getan hätten, hätten Sie einen jungen Menschen getötet, um Ihren wissenschaftlichen Ruf zu retten. Das tut aber nur jemand, der sich sehr klug vorkommt. Jemand, der glaubt, alle müssten wissen, wie schlau er ist, und wenn er's ihnen selbst sagen muss; wenn er ihnen ihre Ignoranz unter die Nase reiben muss.

Nun habe ich mich Donnerstag abend mit Ihnen unterhalten, Professor. Mit Ihnen, einem Chemiker, wo ich von Chemie keine Ahnung hatte. Sie mussten mir ziemlich viel erklären, und das haben Sie getan, ohne mir das Gefühl zu geben; dass ich ein Idiot bin, weil ich nicht weiß, was Sie sich in zwanzig Jahren an Wissen angeeignet haben. Wer sich mit einem Burschen wie mir so unterhalten kann, ohne dass ich mir dabei wie ein Dummkopf vorkomme, der gehört nicht zu denen, die jemanden umbringen, nur damit die Leute nicht erfahren, dass er nicht ganz so schlau ist, wie er gern erscheinen möchte.« »Ich danke Ihnen«, sagte Brade.

»Und Sie haben deshalb bei mir einen Stein im Brett. Das Dumme ist nur« - er erhob sich und ging etwas schwerfällig auf die Tür zu -, »ich und die Menschen, das ist wie Sie und die Chemikalien. Ich tippe meistens richtig, aber ab und zu irre ich mich auch mal. Na ja, im Augenblick will ich Sie nicht länger belästigen.« Er hob grüßend die Hand und ging hinaus. Brade sah ihm gedankenverloren nach.

Diese Gedankenverlorenheit hielt bis über das Abendessen hinaus an, das die Brades fast schweigend einnahmen. Sogar Ginny wirkte gehemmt und wurde dann fast im Flüsterton zu Bett geschickt. Erst später, als sehr leise gestellt das sonntagabendliche Fernsehspiel lief, Brade auf den Bildschirm starrte, ohne die Handlung wirklich zu verfolgen, nahm Doris ihm gegenüber Platz und fragte: »War heute etwas, wovon du mir erzählen wolltest?« Brade wandte ihr langsam das Gesicht zu. Sie war ein wenig blasser als gewöhnlich, wirkte aber ruhig. Er wunderte sich schon seit dem Abend zuvor darüber, dass sie die Szene bei Littleby noch mit keinem Wort erwähnt hatte. Er hatte erwartet, sie werde ihm wegen seines unüberlegten Ausbruchs heftige Vorwürfe machen.

Aber das hatte sie nicht, und sie tat es auch jetzt nicht.

So schilderte er ihr denn ohne Umschweife die Ereignisse des Tages – Robertas Enthüllungen, seine Entdeckungen bei der Durchsicht der Notizbücher Ralph Neufelds, sein Gespräch mit Doheny.

Sie unterbrach ihn mit keinem Wort, und als er fertig war, fragte sie nur:

»Und was willst du jetzt machen?«

»Irgendwie herausfinden, wer es war.« »Glaubst du, dass du das kannst?« »Ich muss es einfach können.«

»Du hast das alles am Donnerstag abend vorausgesagt, und ich habe es dir durch meine Verärgerung nur schwerer gemacht. Und jetzt habe ich große Angst, Lou.«

Und weil sie da so sichtbar verängstigt saß, überkam ihn eine jähe Zärtlichkeit, und er ging zu ihr und kauerte neben ihrem Sessel nieder. »Aber warum, Doris, warum? Ich habe es nicht getan, das weißt du doch.«

»Ich weiß es, ja.« Ihre Stimme klang erstickt und undeutlich. Sie sah ihn nicht an. »Aber die Polizei glaubt nun, du warst es.« »Das glaubt die Polizei nicht, davor habe ich keine Angst.« Er wurde sich plötzlich bewusst, dass er sie nicht nur tröstete. Die Furcht, die ihn am Abend zuvor so fest umklammert hatte, war fast völlig verschwunden, obwohl die Situation selbst viel gefährlicher geworden war. Gerade weil die Gefahr zugenommen hatte, ging jetzt ein gleichsam perverses Gefühl mit ihr einher. Die fast hundertprozentige Gewissheit, dass er seine Stellung verlieren würde, hatte ihn innerlich freigemacht, indem sie ihm die chronische Angst vor diesem möglichen Ereignis nahm; und die Tatsache, dass er unter Mordverdacht stand, hatte ihn von der Angst befreit, in Mordverdacht zu geraten.

»Wir müssen das jetzt durchkämpfen, Doris«, sagte er, »und wir werden es auch schaffen.«

Er fasste ihr unters Kinn. »Mit Weinen hilfst du mir gar nicht.« Doris blinzelte mit den Augen und lächelte tapfer. »Der Beamte scheint ein netter Mensch zu sein.«

»Er ist jedenfalls nicht so, wie ich mir Kriminalbeamte immer vorgestellt habe. Das Komische ist, dass seine klugen Schlussfolgerungen mich immer wieder überraschen, weil er für meine Begriffe wie der unbeholfene Polizist in einem Kriminallustspiel aussieht.« »Soll ich uns einen Drink machen? Nur einen kleinen?« »ja, gut.« Sie kam mit den zwei Gläsern wieder zurück und sagte ruhig: »Ich habe darüber nachgedacht, was der Beamte über den Typ von Mensch gesagt hat, der Ralph getötet haben könnte; den Typ, der sich so viel auf sein Wissen einbildet.« »ja - und?«

»Passt das nicht genau auf Otto Ranke?«

Brade nickte düster. »Ja. Aber das ist in seinem Fall nicht wichtig. Ranke hatte von Ralphs Betrug keine Beeinträchtigung seines Rufs zu befürchten. Im Gegenteil. Er hatte ja schon immer gesagt, dass Ralph in eine Sackgasse geraten war. Er hätte gewiss kein Interesse daran gehabt, Ralphs Betrug zu verschleiern. Nein, Liebes, auf dem Spiel stand nur mein wissenschaftlicher Ruf.« »Aber wer kommt dann in Frage?« Sie hatte mit ganz leiser Stimme gesprochen. »ja, weißt du, ich denke die ganze Zeit über eine kleine Sache nach. Wenn das, was Doheny mir gesagt hat, Wort für Wort stimmt, dann habe ich vielleicht eine Idee. Er hat ein Wort gebraucht, das eine zweite Bedeutung haben könnte, und ich glaube nicht, dass Doheny das aufgefallen ist.«

17

»Und was für ein Wort ist das?« fragte Doris interessiert. Brade sah sie einen Augenblick lang an, ohne sie zu sehen, dann sagte er leise:

»Wahrscheinlich will es nichts heißen - ich muss noch darüber nachdenken. Und jetzt gehn wir am besten ins Bett und sehen, dass wir gut schlafen. Soll es kommen, wie es kommt.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie sanft an sich.

Sie nickte. »Du hast auch morgen Vorlesung.«

»Ich habe jeden Tag Vorlesung; mach dir deshalb keine Sorgen.«

»Na schön. Ich stelle nur das Geschirr in den Spülautomaten, und dann legen wir uns schlafen.«

»Gut. Und, wie gesagt, mach dir keine Sorgen. Überlass das alles mir.«

Sie lächelte ihn an.

Er dachte an dieses Lächeln. Er lag im Bett und starrte in die Schwärze der Nacht hinaus. Neben ihm bewegte sich Doris, aber ganz leise und behutsam, um ihn nicht zu stören, falls er schon schlief. Ihr Lächeln war so herzlich und tröstlich gewesen, und er fragte sich, was es ausgelöst hatte.

Eingebildet auf sein Wissen? (Seine Gedanken hatten einen jähen Sprung gemacht.) Ja, das war Otto Ranke. Er wachte gewissermaßen eifersüchtig über seinem Ansehen. Warum nur? Sein Ruf stand außer Zweifel. Jeder wusste, dass er ein hervorragender Wissenschaftler war. Weshalb pochte er dann so sehr darauf?

War er stolz auf sein Können - oder hegte er Zweifel? War es eine Art Unsicherheit, ein Zweifel an der eigenen Intelligenz, die ihn zwang, sie immer wieder zur Schau zu stellen, sich damit zu brüsten und jeden an die Wand zu drängen, der seine Position bedrohen mochte? Und Foster? Vorwärtsstrebend. Ehrgeizig. Verheiratet mit einer jungen hübschen Frau, die ihn so nahm, wie er war. Was trieb ihn dazu, sich jedem weiblichen Wesen gegenüber als Mann von sexuellem Format aufzuspielen? Und jedem Mann gegenüber als schlagfertiger Wortheld, auch wenn es nur im sehr einseitigen Wettstreit zwischen Lehrer und Student war?

Sogar der alte Cap! Er hatte seine abgeschlossene und erfolgreiche Karriere hinter sich und war doch sehr auf seinen Namen und sein Andenken im Hinblick auf die Nachwelt bedacht und bemühte sich, ein Buch zustande zu bringen, das beides bewahren sollte. Brade biss sich auf die Lippen. Sie litten alle an der universalen Krankheit. Unsicherheit!

Man wurde in die Welt hineingeboren, und der Schoß war fort. Es war kalt, und das Licht schmerzte. Atmen und Essen erforderten Anstrengung. Alle schützende, dunkle, kuschelige Wärme war fort. Und man war nie wieder geborgen, nie wieder sicher. Er drehte sich plötzlich herum. »Doris!« Er hatte das Wort nur gehaucht, um sie nicht zu wecken, falls sie schon schlief. Aber ihre Stimme antwortete sofort, wenn auch ein wenig benommen: »Ja, Lou?«

»Du warst gar nicht so - aufgeregt, wie ich gedacht hatte.« Er dachte an den Abend bei den Littlebys, konnte sich aber nicht dazu bringen, dies ausdrücklich zu erwähnen.

Sie sagte leise: »Du wirst es schon richtig machen, Lou.« Ihre Hand bewegte sich unter der Decke und schob sich in die seine. Er fragte sich: Hat sie endlich einen Menschen gefunden, dem sie ihre Ängste anvertrauen kann, und macht das den Unterschied aus? Aber warum erst jetzt? Er, Brade, war doch immer schon dagewesen.

Und er fragte sich weiter: War ich das wirklich?

Brade holte tief Atem und begann in den Schlaf hinüberzugleiten.

Er kam am nächsten Morgen sehr leise zum Frühstück herunter, entschlossen, das dünne Gewebe des Friedens nicht zu zerreißen, in dem er und Doris eingesponnen waren. Die Eier mit Speck waren gerade fertig, und Doris lächelte kurz und war auch sehr still.

Brade hörte Ginny oben in ihrem Zimmer umhergehen. Er aß schnell, weil er fort sein wollte, wenn sie mit ihrer kindlichen Vitalität ins Zimmer stürzte. Er trank seinen Kaffee aus, betupfte sich den Mund mit der Serviette und sagte: »Ich gehe am besten gleich.«

»Ja«, sagte Doris. »Und - Lou -« »ja?« »Du rufst an, wenn - wenn etwas ist, ja?«

»Natürlich. Und wenn ich nicht anrufe, weißt du, dass alles in Ordnung ist. Und - mach dir keine Sorgen.« Er dachte an ihr Gespräch am Vorabend. »Ich mache das schon.« Sie lächelte etwas unsicher. »ja, gut.«

Er küsste sie ungestüm und ließ sie los, als er Ginnys Schuhe die Treppe herunterklappern hörte. »Bis später.«

Die Studenten wirkten in dieser Vorlesung entspannter. Das Dozentenpult hatte an Anziehungskraft verloren, und die notorischen Hinterbänkler hatten schon fast wieder ihre alten Plätze an der Peripherie eingenommen.

Brades Stimme war vielleicht ein wenig lauter als sonst; er wollte dokumentieren, dass alles seine Ordnung hatte. Seine Formeln fielen etwas großspuriger aus, wenn er sie an die Tafel schrieb, und er behandelte die Derivate der Karbonylgruppe mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit.

Er blieb noch nach der Vorlesung, um einige Fragen zu beantworten -ein weiterer Schritt zurück zum normalen Alltag. Aber dann war auch das erledigt, und er nahm aus dem Kasten neben der Tür zum Sekretariat seine Post heraus und stieg langsam zum vierten Stock hinauf, einer Welt entgegen, in der ein Mord geschehen war. Er sah seine Post im Hinaufgehen durch. Er hatte sie in der Aufregung des Freitagmorgens nicht abgeholt und auch am Sonntag nicht, und so war der Eingang von drei Tagen zusammengekommen. Es schien jedoch nichts Wichtiges darunter zu sein. Hersteller von Labormaterial und naturwissenschaftliche Verlage, die ihre Erzeugnisse anpriesen. Bei einem gelben Umschlag, wie er für den Postverkehr innerhalb des Instituts benutzt wurde, stutzte er. Sein Name stand darauf, mit der Maschine geschrieben, und als Absender war angegeben: Chemisches Institut. Was für eine offizielle Mitteilung ging ihm da zu? Das war aber schnell geschaltet nach der Szene vom Samstag abend. Er sah im Geist, wie Littleby an diesem Morgen ganz früh eintraf, um eine bestimmte Angelegenheit als erstes zu erledigen. Er schob die übrige Post in die Rocktasche und riss den gelben Umschlag auf. Er enthielt einen Mitteilungszettel mit nur zwei Zeilen darauf. »Die Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen werden im Katalog als vom Institut ausgehend geführt werden.« Und unterzeichnet war er von Littleby.

Brade war überrascht. Dann hatte Littleby auf seine grob vorgebrachte Forderung hin also doch nachgegeben. Von einer »Aufwertung seiner Position innerhalb des Instituts« war natürlich nicht die Rede, aber Brade hatte nicht einmal mit dem jetzt gemachten Zugeständnis gerechnet.

Er erreichte den vierten Stock und begegnete Otto Ranke, der aus seinen eigenen Räumen im fünften Stock herunterkam. Brade spürte geradezu, wie ihm das Adrenalin ins Blut schoss. Seine Oberlippe ging tatsächlich zu einer Art Blecken in die Höhe.

Es war Ranke, der im Vorbeigehen das Wort ergriff. In verblüffend herzlichem Ton sagte er: »Na, Lou, alter Junge, wie geht's? Sehen ja prächtig aus heute.«

Er klopfte Brade zweimal auf die Schulter, entblößte die Zähne zu einem Lächeln und eilte weiter die Treppe hinunter.

Brade starrte ihm überrascht nach. So leicht war das? Brauchte man nur einmal zu beißen, um zu zeigen, dass man Zähne hatte, und genügte dann schon die Andeutung eines Knurrens? Schüchterte man Ranke so mühelos ein? Er blickte auf den Mitteilungszettel, den er noch in der Hand hielt. Und Littleby auch?

Er war noch halb benommen, als er vor seinem Arbeitszimmer stand und den Schlüssel herumdrehen wollte. Die Tür war schon aufgeschlossen.

O Gott, das hieß, dass Cap Anson da war, und irgendwie fühlte sich Brade nicht in der Stimmung, über Caps ewiges Buch zu diskutieren. Er riss mechanisch die Tür auf und blieb auf der Schwelle stehen. Cap Anson war da. Und außerdem noch ein Fremder. Cap Anson, den Stock über den linken Arm gehängt, machte sich gerade an Brades Aktenschrank zu schaffen. Er holte die Kartons heraus, die die Nachdrucke der unter Brade entstandenen Dissertationen enthielten, sowie die Originalmanuskripte und andere Unterlagen. Auf jedem Karton stand in Tusche der Titel der Arbeit, ein Schema, das Brade wie so viele kleine professionelle Gewohnheiten von Anson übernommen hatte. Auf dem Regal darunter lagen säuberlich gebunden und etikettiert die Duplikatblätter der Notizbücher von Brades Doktoranden.

Scheint alles die Handschrift einer sehr ordnungsliebenden und sehr phantasielosen Hausfrau zu tragen, dachte Brade. Anson sagte: »Ich gebe ein bisschen mit Ihren Forschungsarbeiten an, Brade.« Aber Brade blickte den anderen Mann an. Er sah das sonnengebräunte Gesicht eines Sechzigers; eisengraues Haar, einen breiten, lächelnden Mund - und jetzt erkannte er die leicht gebeugte Gestalt natürlich. Er hatte diesem Mann auf Tagungen der American Chemical Society zugehört, und er hatte oft genug sein Bild gesehen, einmal auf dem Titelblatt der Chemical and Engineering News.

Er wartete die förmliche Vorstellung nicht ab, sondern streckte die Hand aus und sagte: »Dr. Kinsky.«

»Ja. Hallo, guten Tag. Dr. Brade, nehme ich an. Ich habe von Ihrer Arbeit gehört.« Straffe Fältchen zeigten sich um Mund und Augen, und er nickte bei jedem Satz ruckartig mit dem Kopf. »Habe sie mit Interesse verfolgt. Wir sind ja beide Schüler des guten alten Cap, wie?« Brade nickte ebenfalls und fragte sich, ob sich Joseph Kinsky wirklich die Zeit nahm, die unbedeutende Arbeit eines unbedeutenden Chemikers zu verfolgen. »Vielen Dank«, sagte er, und er wollte noch hinzufügen, dass auch er über die viel bedeutenderen Arbeiten Kinskys im Bilde sei, aber der andere sprach gleich weiter. »Es hat sich aber seit meiner Zeit einiges verändert. Hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich mich in Ihrem Labor umgesehen habe. Cap hat mich mitgeschleppt. Er schleicht noch immer überall herum. Wie zu meiner Zeit. Kein Student war vor ihm sicher.« Er blickte sich mit sichtbarer Wehmut um. »Ich habe die alte Universität gelegentlich besucht, aber jetzt war ich fünfzehn Jahre nicht hier.« »Aber setzen wir uns doch«, sagte Brade. »Sind Sie zum Mittagessen schon verabredet, Dr. Kinsky?«

»Wie? Nein, aber ich kann leider nicht so lange bleiben; ich wollte nur nicht wieder abreisen, ohne hier hereingeschaut zu haben. Waren glückliche Jahre damals. Kommen einem wenigstens jetzt so vor, nicht?«

Brade nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Schade, dass wir Sie nicht wenigstens einen Tag hier haben. Sind Sie schon lange in der Stadt?« »Seit über einer Woche. Hätte schon früher kommen sollen. Persönliche Angelegenheiten. Familie. Muss mir aber die beiden letzten Tage für den alten Cap reservieren.«

Der alte Cap! Brade ärgerte sich jetzt über den Ausdruck. Cap war alt, ja; über siebzig. Aber Kinsky ging auch schon stark auf die Sechzig zu. Doch da stand Cap und war offensichtlich gar nicht verärgert, sondern blickte Kinsky liebevoll an.

Cap sah Kinsky an, den begabten Schüler, die Leuchte der Chemie, den Mann, der seinem Lehrer Ehre machte.

Und Brade musste sich eingestehen, dass er eifersüchtig war; er war der gering eingeschätzte, wenig bemerkenswerte Student, der nun im Schatten des heimgekehrten erfolgreichen Studenten stand. Er zwang sich zu einem ruhigen Ton, als er sagte: »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, wie sehr ich Ihre Arbeiten über die Tetrazyklin-Synthese bewundere.«

»Ach, Unsinn.« Kinsky machte eine burschikos-wegwerfende Geste. »Nicht der Rede wert. Moran-Winter in Cambridge ist mir weit voraus.« »Er geht aber von einer anderen Seite heran. Ich glaube, das Aldosteron packen Sie vor ihm.«

»Meinen Sie? Wirklich? Das ist eigenartig, dass Sie das sagen. Sehr eigenartig, wenn man bedenkt -«

Cap Anson unterbrach ihn. »Joe war so liebenswürdig, sich gestern freizunehmen und einen Abend bei mir zu Hause zu verbringen. Er findet mein Buch sehr interessant.« Der alte Mann lachte leise und höchst befriedigt.

»O ja. O ja. Die Chemiker brauchen dieses Buch. Unbedingt. Zu viele von uns leben nur in der Gegenwart. Die Mathematiker und Physiker kennen die Geschichte ihrer Wissenschaft, weil neue Erkenntnisse die alten ergänzen. In der Chemie dagegen scheinen neue Erkenntnisse die alten zu ersetzen. Deshalb besteht die Neigung, die alten zu vergessen; und auf diese Weise wird zu vieles vergessen. Das Alte ist die Grundlage für das Neue. Ohne das Alte kann das Neue nicht recht verstanden werden.« »Sehr richtig«, murmelte Brade.

»Und Cap ist der Bursche, der uns das mal unter die Nase reibt. Wer diesen Stoff bringt, muss mehr sein als nur Chemiker. Der muss auch Philosoph sein, und das ist Cap ja auch.«

Wieder lachte Cap Anson in sich hinein, und Brade nickte ein wenig zögernd. Eine richtige Liebesorgie. Erwünschte, die Szene wäre beendet. Sie wirkte auf ihn niederdrückend.

Kinsky fuhr fort: »Früher war der alte Cap für mich natürlich niemals ein Philosoph. Eher ein Zuchtmeister.«

Brade lächelte schwach. »Das war er auch noch zu meiner Zeit.« »Er muss aber inzwischen einen kleineren Gang eingeschaltet haben. Doch, das muss er. Als ich ihn kennenlernte, war er in den Dreißigern. Voller Schwung und bärbeißig. Damals hat er seinen Namen bekommen. Ich wette, Sie kennen seinen richtigen Namen nicht. Ich wette, keiner kennt ihn, ohne vorher nachzuschlagen, wie?« Er machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht. Brade sah ihn interessiert an. »Heißt das, dass Sie ihm den Namen Cap gegeben haben?« »Ja, sicher. Was glauben Sie, warum er Cap heißt?« »Keine Ahnung. Ich kann mich erinnern, dass es früher mal einen Baseballspieler namens Cap Anson gab.«

»Das mag dazu beigetragen haben, dass der Name gleich saß, hatte aber nichts mit seinem Ursprung zu tun.«

»Cap soll einmal ein Boot besessen haben, habe ich gehört.« Brade sah den Witz, der darin liegen mochte. »Vielleicht ein Ruderboot.« Cap Anson, der den beiden mit wachsendem Zorn zugehört hatte, rief: »Das ist Unsinn!« Er stieß mit dem Stock zweimal gebieterisch auf. »Nein«, erwiderte Kinsky sofort. »Das ist gar kein Unsinn. Eine authentische Anson-Anekdote. Er hatte mich mal richtig heruntergemacht wegen einer Arbeit. Und Schimpfnamen hat er mir an den Kopf geworfen. Als ich dann dachte, jetzt fängt er noch an zu brüllen, da hörte er plötzlich auf. Und sah mich ganz fest an. Und sagte: >Kinsky, wenn Sie unter meiner Anleitung experimentieren, dann vergessen Sie nicht, dass ich der Kapitän des Schiffes bin. Sie können denken, was Sie wollen, bis ich Ihnen sage, was Sie zu denken haben. Von da ab denken Sie so, wie ich will, weil ich der Kapitän bin und Sie der Schiffsjunge. Verstanden?( So war's. Genauso. Von dem Tag an habe ich ihn nur noch Cap genannt, und bald kannte ihn keiner mehr unter einem andern Namen.«

Anson machte ein finsteres Gesicht. »Das ist alles nicht wahr.« Aus Mitgefühl mit seinem in Verlegenheit gebrachten Lehrer kehrte Brade unvermittelt zu seinem früheren Thema zurück. »Wie sind die Chancen einer erfolgreichen Aldosteron-Synthese, Dr. Kinsky - falls Sie darüber jetzt sprechen wollen?« »Kommt darauf an, kommt darauf an«, erwiderte Kinsky ein wenig geziert. »Nach meiner Ansicht sind sie recht gut, aber natürlich nicht nach Ihrer.«

»Nach meiner? Aber ich verstehe ja nichts davon - oder fast nichts.« »Ich dachte an Ihren Studenten. Schreckliche Sache. Hat mir furchtbar leid getan.«

»Ist nicht zu ändern«, murmelte Brade. »Welcher meiner Studenten hat sich denn für die Aldosteron-Synthese interessiert?« Kinsky sah ihn überrascht an. »Na, der, der jetzt den Unfall hatte. Wie hieß er noch - Neufeld. Er war absolut überzeugt, dass ich mit meiner Methode nie auf Aldosteron stoße. Ein sehr dogmatischer junger Mann. Hat mir das ins Gesicht gesagt.« »Was?« rief Brade erstaunt aus. »Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Ja, auf der Chemikertagung in Atlantic City letztes Jahr.« »Richtig, da ist er ja hingefahren. Ich hatte beantragt, dass das Institut seine Reisespesen übernimmt. Aber dass er mit Ihnen gesprochen hat, davon wusste ich nichts.«

Kinsky schnaubte durch die Nase. »Hat die Angelegenheit zweifellos nicht für erwähnenswert gehalten. Kam zu mir, nachdem ich meinen Vortrag über das Thema gehalten hatte, stellte sich vor und sagte ganz kalt, ich könnte mit meiner Methode unmöglich die geplante Synthese durchführen. Wollte mir nicht sagen, was er daran für falsch hielt. Hat mich praktisch einen Idioten genannt. Ganzes Jahr her jetzt, und ich hab's noch immer nicht vergessen. Übrigens, Brade, was wird nun aus seinem Thema, wo er tot ist?«

War es Brades überempfindliche Phantasie oder funkelten Kinskys Augen wirklich interessiert auf, als er diese Frage stellte?

18

Brade saß überrascht da und überlegte, wobei er zuerst Kinsky und dann Anson ansah, der die Lippen fest zusammengepresst hatte -offenbar dachte er an ihre letzte Begegnung, als gerade diese Angelegenheit zwischen ihnen zur Sprache gekommen war. Brade fragte sich, was er sagen sollte.

Er versuchte es auf die ausweichende Art. »Ich hatte noch keine Zeit, richtig darüber nachzudenken.«

Aber Anson rief in mürrischem Ton dazwischen: »Er hat vor, die Arbeit fortzuführen. Gegen meinen Rat, möchte ich hinzufügen. Ich werde alt, Kinsky. Früher sind meine Studenten meinem Rat gefolgt.« »Nun«, sagte Kinsky etwas verlegen, »wir werden alle alt.« Aber es trat ein Schweigen ein, und auf allen dreien lastete das Unbehagliche der Situation.

Schließlich stand Kinsky auf und sagte: »Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Brade. Wenn Sie mal in meine Gegend kommen, schauen Sie doch bitte bei mir herein.« »Vielen Dank, das werde ich tun.« Sie schüttelten sich die Hände.

Anson sagte in einem Ton, in dem noch immer ein wenig Schärfe mitklang: »Und, Brade, ich bin um fünf Uhr heute nachmittag bei Ihnen hier oben, um diese Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen mit Ihnen zu besprechen. Punkt fünf Uhr.«

»Fünf Uhr«, erwiderte Brade. Es war typisch für Cap, dass er die Möglichkeit, dass Brade um fünf Uhr etwas anderes zu tun haben könnte, überhaupt nicht in Betracht zog.

Kinsky lächelte. »Und wenn Cap sagt, fünf Uhr, dann meint er nicht eine Minute nach fünf. Oder hat er sich inzwischen geändert?«

»Nein, das hat er nicht«, erwiderte Brade.

Brade verspürte ein eigenartiges Gefühl der Bitterkeit. Es war, als hätte er seinen Vater verloren, dessen Existenz er sich gar nicht bewusst gewesen war. Aber war Cap Anson nicht eine Art Vater?

Es wurde ihm nun deutlich, nachdem er ihn dort hatte stehen sehen, neben seinem älteren Sohn, dem erfolgreichen Sohn, dem Sohn, der ihm Ehre gemacht hatte, der getan hatte, was ihm gesagt wurde, und sich ergeben vom Kapitän des Schiffes hatte abkanzeln lassen. Während Brade, der unwürdige Sohn, sich in eine Stellung ohne Aufstiegsmöglichkeiten hineinmanövriert hatte und diese Stellung vielleicht noch verlor. Und sich starrköpfig gezeigt hatte, als der gute alte Cap ihn auf einen neuen Weg führen wollte.

Armer Cap! Er war in Ehren und Ansehen alt geworden und beschloss seine Tage dennoch in Unsicherheit. Cap und sein Buch. Doris kommt zu mir zurück, dachte Brade, aber alles andere entzieht sich mir. Meine Doktoranden sterben. Ein Dissertationsthema löst sich in Betrug auf. Meine Stellung ist verloren. Cap Anson. . . In bitterer Selbstironie dachte er: Mein Vater liebt mich nicht. Er stand auf und ging durch die Verbindungstür in sein Labor. Es war einmal Teil des Arbeitszimmers gewesen, aber Anson hatte es abteilen und mit allen möglichen Anschlüssen einschließlich kalten und warmen Wassers und Gas versehen lassen.

Anson hatte immer die These vertreten, dass ein Professor, wie alt und verkalkt er auch war, nie vergessen durfte, wie sich ein Reagenzglas und eine Zange anfühlten. Er musste immer selbst ein paar Experimente durchführen - wie unwichtig, wie unbedeutend sie auch sein mochten. Brade war Anson auch in dieser Hinsicht gefolgt. Seine säurekatalysierten Umlagerungen unter Sauerstoffatmosphäre wollten nicht viel besagen, aber darauf kam es nicht an. Wichtig war, dass man, wie Anson sagte, etwas mit eigenen Händen tat und dabei ein Vergnügen empfand.

Doch nun sah Brade bekümmert auf seinen etwas wackeligen Versuchsaufbau und fragte sich, wo er dieses Vergnügen wohl finden mochte. Zur Zeit bot das verklebte Reaktionsgefäß einen höchst unvergnüglichen Anblick. Unvergnüglich in seinem hart gewordenen Inhalt, unvergnüglich in den Erinnerungen, die es auslöste. Er hatte die Anlage seit Donnerstag nachmittag nicht mehr berührt, als er auf der Suche nach titrierter Säure in Ralphs Labor gegangen war und einen toten Studenten vorgefunden hatte. Sie war seitdem abgestellt von dem Reaktionskolben über das Glas und Plastikröhrensystem bis zu der großen, blassgrünen Sauerstoffflasche. Ganz automatisch sah er zu der Flasche hinüber. Komisch! War die Flasche leer? Er hatte sie doch kurz vor dem letzten Experiment erst ausgewechselt. Der innere Druckmesser, der in die anderthalb Meter große Flasche hineinführte, hätte noch mindestens 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter anzeigen müssen, aber das tat er nicht. Er zeigte auf Null.

Wie kam das?

War der Verschluss offen gewesen, war das Gas langsam ausgeströmt? Der äußere Anzeiger, der mit der Außenwelt verbunden war, stand auch auf Null. Er prüfte den Absperrhahn - er war abgestellt. Keine undichte Stelle.

Hatte er das Hauptventil geschlossen, den wenigen Sauerstoff aus den Anzeigern herausgelassen und dann auch das zweite Ventil geschlossen? Das wäre die richtige, ordnungsgemäße Verfahrensweise gewesen, aber er konnte sich nicht erinnern, diese Handgriffe getan zu haben.

Er fasste nach dem Hauptventil oben auf der Flasche und versuchte, es im Uhrzeigersinn herumzudrehen. Es ging nicht. Offensichtlich war das Ventil schon geschlossen.

Automatisch wollte seine Hand im entgegengesetzten Uhrzeigersinn drehen, um Sauerstoff in den Druckmesser strömen zu lassen und die Bewegungen der Nadeln beobachten zu können - aber da hielt er auch schon inne.

Es bestand kein Zweifel, dass sein Leben in dieser Sekunde in der Schwebe hing, und durch dieses Innehalten rettete er es. Nicht sein bewusstes Auge, sondern sein Chemikerauge, seine fünfundzwanzigjährige Erfahrung und Gewohnheit sah es, sah das, was nicht ins Bild gehörte, und ließ ihn innehalten.

Und das, was nicht ins Bild gehörte, bot sich dem bewussten Auge dar als ein schwaches Glitzern, als eine ölig-feuchte Kante an dem Gewindestück zwischen dem Hauptdruckmesser und der Flasche selbst. Er kratzte mit dem Fingernagel und roch daran.

Er schien in einer ungeheuren Stille allein zu sein, als er nach dem Schraubenschlüssel griff und das passende Ende um das sechseckige Verbindungsstück legte. Das Ventil ließ sich mit einem eigenartigen Rutschen herumdrehen, das nicht normal war.

Der Messer ging ab, und das ganze Gewinde war feucht. Das Nadelventil war feucht. Er konnte die Flüssigkeit nicht mit Sicherheit identifizieren, aber sie hatte die sirupartige Konsistenz von Glyzerol. Wenn er das Hauptventil tatsächlich im umgekehrten Uhrzeigersinn gedreht hätte, wäre unter dem Luftdruck der Explosion wahrscheinlich die Wand des Labors hinausgeflogen.

Brade ließ den Messer klappernd auf eine Arbeitsplatte fallen und setzte sich. Er zitterte heftig angesichts der Todesgefahr, in der er geschwebt hatte.

Als er sich beruhigt hatte - er wusste nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war -, stand er auf und vergewisserte sich, ob die äußere Tür seines Labors geschlossen war. Dann schloss er auch die Tür seines Arbeitszimmers ab. Sollte man glauben, er sei zum Mittagessen gegangen. Mittagessen? Schon bei dem Gedanken drohte ihm übel zu werden.

Er starrte die Anzeiger an, die schimmernd feuchten und tödlichen Gewinde.

Er hatte die Flasche am Donnerstag benutzt, dem Tag, an dem Ralph ums Leben gekommen war. Damals war sie in Ordnung gewesen. Er hatte die Flasche seitdem nicht mehr benutzt, und jeder konnte in seinem Arbeitszimmer und Labor gewesen sein. Er war nicht Ralph. Er schloss sein Arbeitszimmer um fünf Uhr, wenn er ging, vielleicht ab -falls er daran dachte. Ganz bestimmt schloss er es nicht ab, wenn er beispielsweise ins Studentenlabor, in die Bibliothek oder zum Mittagessen ging.

Natürlich, Cap Anson war seit Donnerstag zweimal in seinem Labor gewesen, und das zweite Mal war Kinsky mit ihm zusammengewesen. Roberta war in Ralphs Labor gewesen, konnte auch in seinem gewesen sein. Praktisch jeder konnte in seinem Labor gewesen sein. Ohne es zu wollen, dachte er wieder an Kinsky. Der hatte sich in seinem Labor aufgehalten. Cap Anson war bei ihm gewesen, aber Cap brachte es fertig, sich plötzlich für etwas zu interessieren - eine Passage in einem Buch etwa, auf die man ihn hinwies - und dann für eine Zeitlang die Welt um sich her zu vergessen. Kinsky kannte gewiss diese Eigenart seines ehemaligen Lehrers. Er musste sie kennen. Ohne überlegen zu müssen, konstruierte er den Hergang der Ereignisse. Kinsky war Ralph begegnet. Ralph hatte sich damit gebrüstet, dass er mit seiner Arbeit beweisen würde, dass er, Kinsky, ein Idiot war. Gehörte Kinsky zu jener Gruppe von Menschen, die sich s0 viel auf ihr Wissen einbildeten, dass sie zu Mördern werden konnten, wenn ihr Ruf bedroht war? Hatte er Ralph getötet und vorgehabt, auch ihn, Brade, umzubringen, damit der Lehrer die Arbeit des Schülers nicht fortführte? Er hatte sich s0 angelegentlich danach erkundigt - und die Flasche war schon beschmiert gewesen. Hätte er das Glyzerol wieder abgewischt, wenn Brade ihn davon überzeugt hätte, dass er auf eine Fortführung der Arbeit verzichtete? Oder waren die Weichen endgültig gestellt gewesen - und hatte Kinsky nur eine morbide Neugier befriedigen wollen?

Unmöglich! Das war alles unmöglich! Kinsky war an dem Tag, als Ralph starb, in der Stadt gewesen; aber wie konnte er den Mord inszeniert haben, ohne die Einzelheiten von Ralphs Experimenten zu kennen? Brade fasste sich mit seinen kalten Händen an die heiße Stirn. Nein, es war seine Eifersucht auf Kinsky, die diese Überlegungen fabrizierte, nicht sein Verstand.

Wie konnte ein Chemiker, wenn er nicht unter einer Psychose litt, die Hoffnung hegen, mit einem Mord die Wahrheit zu unterdrücken, w0 sie doch jederzeit von einem anderen wiederentdeckt werden konnte? Aber jeder konnte unter einer Psychose leiden.

Und was, wenn die Sache mit Ralphs Tod nichts zu tun hatte? Zwei Mörder auf einmal? Unmöglicher Zufall? Aber konnte jemand einen Groll gegen ihn, Brade, unabhängig von dem Problem Ralph haben? Schon möglich - erst am Samstag hatte er Foster beleidigt - und Ranke. Tödlich beleidigt?

Er erinnerte sich der ungewöhnlichen Freundlichkeit Rankes vorhin auf der Treppe, und es überlief ihn dabei. War das nur die gönnerhafte Freundlichkeit gewesen, die ein Mörder dem Opfer erwies, das s0 gut wie tot und keinen Schuss Adrenalin mehr wert war? Oder Littleby? Brade hatte auch Littleby auf den Schlips getreten, und der Mitteilungszettel heute morgen mochte auch s0 eine gönnerhafte Geste sein. Hör auf, Brade!

Auf jeden Fall musste Doheny von der Sache erfahren, denn in diesem Falle konnte Professor Louis Brade nun ganz gewiss nicht der Schuldige sein, und wenn man nicht von zwei Mördern ausgehen wollte, hieß dies, dass er auch in Ralphs Fall unschuldig war.

Er griff zum Telefon und wählte. Eine nüchtern klingende Stimme meldete sich: »Polizeirevier neun - Martinelli am Apparat.« Brade sagte mit betont ruhiger Stimme: »Ich möchte gern einen Beamten namens Jack Doheny sprechen. Wann erwarten Sie ihn zurück? Aha, gut. Nein, nein, es müsste schon er selbst sein. Nein, s0 dringend ist es nicht. Sagen Sie ihm, ich hätte angerufen. Mein Name ist Brade, Professor Louis Brade. Er kennt mich. Sagen Sie ihm, ich müsste ihn s0 bald wie möglich sprechen. Meine Nummer ist Universität 2-1000, Apparat 125. Vielen Dank.«

Er legte auf und starrte das Telefon lange an. Dann bekam er doch Hunger.

Er holte sich unten ein belegtes Brötchen, das er mit auf sein Zimmer nahm. Er ging schnell. Er wollte niemandem begegnen. Er war nicht begierig, mit jemandem zusammenzutreffen, der vorhatte, sein Mörder zu werden.

Hier oben, hinter verschlossenen Türen, hatte der Tod auf ihn gewartet. Er trank den noch viel zu heißen Kaffee und merkte erst nachher, dass er vergessen hatte, sich Milch zu nehmen.

Dann ging es auf ein Uhr, und er dachte: Ich gehe ins Labor. Er schloss die Tür hinter sich ab, drückte zur Vorsicht mehrmals die Klinke herunter und ging den Flur entlang zum Studentenlabor. Charlie Emmett traf die letzten Vorbereitungen zur Demonstration der Semicarbazonbildung unter Druck. Das hieß, dass Emmett in etwa fünfzehn Minuten eine Glas-»Bombe« herstellen würde, wobei er die dicken Wände durch langsames Drehen in einer Flamme mit einer Siegelstelle verschloss, der kein Makel anhaften durfte, denn sie musste die mehrere Atmosphären Druck der erhitzten Dämpfe aushalten können, wenn die Reaktionsmischung in der Bombe erhitzt wurde.

Brade war immer sehr besorgt bei solchen Demonstrationen. Die Möglichkeit eines Unfalls war stets gegeben, aber den Studenten musste das Experiment gezeigt werden.

Emmett war natürlich der richtige Mann dafür. Brade sah ihm nicht zum erstenmal beim Herstellen einer Bombenröhre zu. Ruhige Augen beobachteten die ruhige Flamme, und ruhige Hände drehten das Verschlussende der Röhre herum, das sich zur Weißglut erhitzte. Man brauchte ruhige Hände und ein eiskaltes Herz, um Glyzerol auf die Fäden eines Sauerstoffmessers zu schmieren.

Brade schämte sich dieses Gedankens. Charlie Emmett? Der farblose Charlie Emmett? Was für ein Motiv sollte er haben? Roberta Goodhue kam heran, warf ihm ein kurzes, zuckendes Lächeln zu, ging schnell zur zweiten Experimentierbank und überprüfte die am Morgen für die Experimente des Tages dort aufgebaute Anordnung von Geräten und Chemikalien.

Brade sah auf seine Uhr. Es war fünf Minuten vor eins. In genau fünf Minuten würden die Studenten hereingeströmt kommen. Er dachte traurig darüber nach, dass der Lehrer durch ein halbes Dutzend Termine von Vorlesungen,. Laborübungen, Seminaren und Fakultätszusammenkünften an die Uhr gebunden war. Der Minutenzeiger rückte auf die Zwölf, und ein Student kam herein, entfaltete seine Gummischürze und streifte sich die Schleife über den Kopf. Er sagte pflichtschuldig: »Hallo, Professor Brade«, legte seine Bücher auf eine der Bänke und schlug einen von Säure verbrannten Laborleitfaden auf.

Dabei fiel ihm eine Reihe zusammengefalteter Zettel aus dem Buch, und der Student machte zuerst ein erstauntes, dann ein bestürztes Gesicht. Er ging rasch auf Emmett zu.

»Ach, Mr. Emmett, ich muss Freitag vergessen haben, meine Übungsarbeit abzugeben. Kann ich sie jetzt noch abgeben?« Er machte ein beklommenes Gesicht.

In etwas barsch-autoritärem Ton - vielleicht weil er sich der Gegenwart Brades bewusst war- sagte Emmett: »Gut, ich sehe sie mir nachher an. Aber passen Sie auf, dass das nicht noch einmal vorkommt.« Abwesend verfolgte Brade, wie der Student die Zettel hochhielt und Emmett sie entgegennahm. Jetzt kamen schnell die anderen Studenten herein. Die Zeit hatte gesprochen, die Zeit, die den Alltag eines Lehrers in kleine Stücke hackt.

Die Zeit - und was gerade geschehen war...

Es war, als wären die Studenten verschwunden, das Labor dazu, und als wäre er allein mit einem Gedanken, einem unmöglichen, schrecklichen Gedanken.

Er verließ unvermittelt das Labor. Zwei, drei Augenpaare folgten ihm erstaunt, aber er kümmerte sich nicht darum.

Er stand wieder vor dem Telefon, und er musste die Nummer in einem Buch nachschlagen.

»Es ist aber sehr wichtig«, erklärte er der energischen Stimme, die sich gemeldet hatte, »und dauert nur ein, zwei Minuten. Nein, bis drei Uhr kann ich nicht warten.«

Und das konnte er auch nicht. Er musste es jetzt wissen. Sofort. Das Warten war unerträglich, und er duckte sich innerlich bei dem Gedanken an die Peinlichkeit und Angst, die das alles bedeuten würde. Und die helle, hohe Stimme an seinem Ohr war jetzt verängstigt und bat ihn atemlos, er möchte seinen Namen nennen. Brade sprach schnell und eindringlich.

»Bestimmt?« sagte er schließlich. »War es ganz bestimmt so? Hat es sich genauso abgespielt?«

Er führte andere theoretische Möglichkeiten des Hergangs an, bis er dann aufhörte, weil er keine Hysterie erzeugen wollte. Er fragte nur noch einmal: »So war es also ganz bestimmt?« und legte dann auf.

Jetzt wusste er es also. Er kannte das Motiv, kannte den Ablauf der Ereignisse, wusste alles.

Oder glaubte es zumindest zu wissen.

Nur dass er kein erfahrener Kriminalbeamter war. Wie beweist man eine Vermutung? Er mochte es ruhig anders formulieren. Wie beweist man eine Gewissheit?

Er saß still da und dachte nach, bis die Sonne so weit gesunken war, dass sie ihm in die Augen schien. Er stand auf und ließ die Blende herunter. In dem Augenblick klopfte es. Diesmal erkannte er die breite Gestalt durch die Milchglasscheibe der Tür hindurch und öffnete sofort. »Kommen Sie herein, Mr. Doheny.« Er schloss die Tür hinter dem Beamten wieder ab.

»Guten Tag, Professor«, sagte Doheny. »Bin etwas spät von Ihrem Anruf verständigt worden und dachte, ich komme gleich, ohne mich lange anzumelden. Ich halte Sie doch nicht von einer Vorlesung oder so ab?« »Nein.«

»Na schön. Was haben Sie denn auf dem Herzen? Ich stelle mir vor, es muss schon etwas passiert sein, wenn jemand wie Sie die Polizei anruft.«

»Ja, da können Sie recht haben.« Nachdem Doheny sich gesetzt hatte, fügte er schnell hinzu: »Man hat versucht, mich zu ermorden.« Doheny, der gerade eine Zigarre aus seiner Westentasche herausholen wollte, schien zu erstarren. Seine Augen blickten auf einmal sehr kalt. »Ach ja? Sind Sie verletzt worden?«

»Nein, ich hatte Glück - im nächsten Augenblick wär's um mich geschehen gewesen.«

»So eine Sache um Haaresbreite?« »Ja, ganz recht.« Brade sah Doheny an, dass er ihm nicht glaubte. Der Beamte starrte ihn nur argwöhnisch an, er erweckte zum erstenmal den Eindruck, als sähe er in Brade einen möglichen Mörder.

19

Brade beschrieb mit zögernden Worten, wie er entdeckt hatte, dass an seiner Sauerstoffflasche herummanipuliert worden war. Doheny hörte mit halbgeschlossenen Augenlidern zu. Nur einmal zeigte er größeres Interesse; das war, als Brade auf das Glyzerol zu sprechen kam, das, wie er hinzufügte, fälschlicherweise auch Glyzerin genannt wurde. »Glyzerin? Meinen Sie Nitroglyzerin?«

Brade unterdrückte eine leise Verärgerung. »Nein. Das richtige Glyzerin - Glyzerol, meine ich - ist ganz harmlos. Es wird zur Herstellung von Süßigkeiten und Kosmetika verwendet.« »Harmlos? Ja, dann frage ich mich -«

»Harmlos unter normalen Bedingungen. Aber bedenken Sie, wenn ich diese Flasche aufgedreht hätte, wäre reiner Sauerstoff in die kleine Kammer innerhalb des Druckmessers eingeströmt - mit einem Druck von etwa 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Eine Vergleichszahl: Der Sauerstoffdruck in der uns umgebenden Luft ist etwa ein Kilogramm pro Quadratzentimeter auf Meereshöhe. Unter dem Einfluss des Hochdrucksauerstoffs würde das normalerweise harmlose Glyzerol schnell und heftig reagieren und eine Hitzemenge freisetzen -« »Sie meinen, es würde explodieren.«

»Ja. Das Hauptventil würde fortfliegen, so dass der übrige Sauerstoff herausgeschossen käme-und die Flasche selbst in eine Art Monstrum mit Düsenantrieb verwandelt würde. Das ganze Labor wäre zerstört worden, und ich wäre jetzt nicht mehr am Leben.« Doheny holte tief Luft und kratzte sich. »Könnte das Zeug zufällig drangekommen sein?« fragte er.

»Nein, keinesfalls. Die Gewinde an einer Sauerstoffflasche dürfen nie geschmiert werden, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es von selbst tun. Die Flasche war am Donnerstag in Ordnung, und jemand muss sich daran zu schaffen gemacht haben.« »Um Sie zu töten, ja?«

»Es kann kein anderer Grund vorgelegen haben. Außer mir benutzt niemand die Flasche. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ich am Hauptventil drehen würde. Ich hätte es vorhin um ein Haar getan.« Doheny nickte. An der Kälte in seinem Gebaren hatte sich nichts geändert. »Und was schließen Sie aus der Sache? Dass derjenige, der Ihren Studenten vergiftet hat, auch an der Sauerstoffflasche war?« »Zwei verschiedene Mörder hier auf der Universität wäre doch wohl etwas zuviel verlangt, oder?«

»Ja, allerdings. Und da sagen Sie sich, Sie sind der Mörder jedenfalls nicht, da Sie ja eines seiner Opfer sind, ja?« »Nun -«

»Aber genaugenommen sind Sie gar nicht sein Opfer, nicht wahr? Sie sind so gesund und munter wie eh und je, weil Sie nicht an diesem Ventil gedreht haben. Sind Sie sicher, dass Sie das Zeug nicht selber draufgeschmiert haben, Professor?« »Nun hören Sie mal -« »Nein, hören Sie lieber mal. Die Sache gefällt mir gar nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich mich getäuscht haben könnte. Ich hatte Sie allen Indizien zum Trotz als nicht schuldig eingestuft. Jetzt haben Sie sich erst richtig in Verdacht gebracht, weil Sie sich nicht ruhig verhalten konnten.« Dohenys Worte bekamen einen lebhafteren Klang. »Jemand, der unter Verdacht steht, könnte sich, wenn er schuldig ist, einfach still verhalten und nichts tun und sich sagen, dass die Polizei schon keine stichhaltigen Beweise gegen ihn auftreiben wird. Sie, Professor, bringen das nicht fertig, weil Sie zuviel Phantasie haben. Sie sind der Typ, der sich alle möglichen Sachen ausdenkt, die ihn nervös machen. Das nächstbeste ist, sich aus dem Staub zu machen; aber das können Sie auch nicht, Sie haben eine Familie, eine Stellung. Also bleibt Ihnen nur die dritte Möglichkeit, die sich dem Schuldigen bietet. Er kann zum Gegenangriff übergehen. Er kann Beweise fabrizieren, die ihn entlasten. Um das tun zu können, muss er in der Lage sein, sich vorzustellen, dass er schlauer ist als die Polizei. Das dürfte einem Professor nicht schwer fallen. Das Schlausein ist ja sein Beruf.«

Brade unterbrach ihn sehr energisch. »Ich sage Ihnen, das trifft in meinem Fall alles nicht zu!«

»Ja, ja, schon gut. Aber spinnen wir den Faden mal weiter. Ein gefälschter Beweis ist gewöhnlich ein solcher, der den Verdächtigen als das Opfer eines anderen erscheinen lässt. Wenn zum Beispiel irgendwo in Häuser eingebrochen wird und wir einen ganz bestimmten Burschen dort in der Gegend in Verdacht haben, dann erleben wir es nicht selten, dass auch im Haus des Verdächtigen eingebrochen wird. Dann steht er selbst als eines der Opfer da und kann nicht der Einbrecher sein - denkt er, dass wir glauben.«

»Aha - dann hätte ich also selbst an der Sauerstoffflasche herummanipuliert und Sie anschließend angerufen.« »Professor, Sie sind mir sympathisch - aber ich fürchte, das haben Sie getan.«

Brade hob den Druckmesser auf und sagte ruhig: »Wollen Sie das denn nicht als Beweisstück konfiszieren?«

»Das Ding ist als Beweis überhaupt nichts wert.«

Brade nickte. Er wischte die Gewinde an Druckmesser und Sauerstoffflasche mit einem weichen Lappen ab, den er zuerst in Alkohol und dann in Äther tauchte. Er blies noch Pressluft darüber. »Ich muss das später noch etwas gründlicher besorgen.« Er befestigte den Messer mit einer heftigen Drehung des Schraubenschlüssels wieder an der Flasche.

Er legte den Schraubenschlüssel hin und wandte sich Doheny zu, der ihn aufmerksam beobachtet hatte.

Brade sagte: »Sie verwenden eine Psychologie, die ich durchschaue, Mr. Doheny. Sie wollen mich in einem Netz logischer Überlegungen fangen und glauben, dass ich aus Verzweiflung ein Geständnis ablege und Sie dann den Beweis haben, mit dem Sie vor Gericht gehen können. Diese Psychologie hat aber einen Haken.« »Und der wäre?«

»Sie funktioniert nur, wenn Sie es mit dem Täter zu tun haben, und der bin ich nicht. Genauer gesagt: Ich weiß, wer es gewesen ist.« Doheny verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. »Wollen Sie jetzt mir mit Psychologie kommen, Professor?«

»Das wäre Unsinn - ich verstehe nichts davon.« »Na schön. Wer ist der Mörder?«

Das geduldig-gönnerhafte Gebaren Dohenys brachte Brade zur Verzweiflung. »Ich brauche auch Beweise, und ich werde sie Ihnen liefern.«

Er sah rasch auf seine Uhr, griff nach dem Telefonhörer und wählte seinen Hausanschluss. »Oh, Sie sind es. Gut, hier spricht Professor Brade. Die zweite Laborübung ist so ziemlich beendet, ja? Na schönwürden Sie bitte einmal in mein Arbeitszimmerkommen? ja.« Er legte auf. »Nur noch ein paar Sekunden, Mr. Doheny.« Roberta klopfte leise an die Tür, und Brade ließ sie herein. Sie trug einen grauen Laborkittel, der ihr viel zu groß war.

Sie brachte den schwachen Geruch eines Labors der organischen Chemie mit sich, den die Studenten zuerst nicht ausstehen können, an den sie sich dann aber gewöhnen.

Ihr Blick wirkte erloschen. Ihre Augen visierten eine imaginäre Ferne an.

Brade dachte unwillkürlich: armes Ding.

Er sagte: »Roberta, dieser Herr ist Mr. Doheny.«

Sie blickte nur kurz zu Doheny hin. »Guten Tag«, sagte sie leise. »Mr.

Doheny ist der Beamte, der den Fall bearbeitet.«

Ihre Augenlider gingen in die Höhe, und auf einmal war Leben in ihr.

»Ralphs Unfall?«

»Mr. Doheny glaubt nicht, dass es ein Unfall war. Und ich auch nicht. Es war Mord.«

Sie war jetzt erregt. »Warum sagen Sie das?« Ihr Blick wanderte zu Doheny hinüber, fixierte ihn. »Ich wusste, dass er unmöglich diesen Irrtum begangen haben konnte. Wer war es? Wer war es?« Brade dachte: Sie akzeptiert sehr schnell die neue Situation. Stellt sich sofort darauf ein.

Er sagte: »Das versuchen wir gerade herauszufinden. Aber da ist noch etwas anderes. Mr. Doheny hat leider von Ihrer Bekanntschaft mit Ralph erfahren.«

Sie warf ihnen beiden einen geringschätzigen Blick zu. »Das überrascht mich nicht.«

»Nein?«

»Mrs. Neufeld sagte mir, dass die Polizei sich bei ihr erkundigt hat.« An Doheny gewandt setzte sie hinzu: »Sie hätten mich gleich fragen können, ich hätte es Ihnen gesagt.«

Doheny lächelte und sagte dann in behutsamem Ton: »Wollte Sie nicht unnötig belästigen, Miss. Ich kann mir denken, dass diese Sache schwer genug ist für Sie.« »Allerdings, da haben Sie recht.«

»Mr. Doheny hat festgestellt, dass Sie sich gestritten haben, Sie und Ralph.«

»Wann?« fragte sie.

»Bitte, setzen Sie sich doch, Roberta«, sagte Brade. »Ich möchte da nur etwas klarstellen, und ich glaube, Sie können mir dabei helfen. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Roberta zögerte, aber dann setzte sie sich auf den Stuhl, der der Tür am nächsten stand. »Was haben Sie da von einem Streit gesagt, Professor Brade? Wo soll das gewesen sein?« »In einem Drugstore.«

Sie sah ihn überrascht an, und ein wenig überrascht war auch Doheny. Brade fuhr fort: »Es ging bei dem Streit um ein Fruchteis, das Sie bestellen wollten.«

Roberta schüttelte den Kopf. »Daran kann ich mich nicht erinnern. Wer hat Ihnen das gesagt?« Sie blickte von einem zum andern, angespannt, auf der Hut.

Doheny sagte nichts. Brade dachte: Er gibt mir Bewegungsfreiheit in der Hoffnung, dass ich irgendwo stolpere.

»Wie ich erfahren habe«, sagte er, »haben Sie Schokoladen-Fudge-Eiscreme bestellt, und darüber bekamen Sie Streit.«

»Nein.«

»Jedenfalls hat der Mann im Drugstore gehört, wie Sie sich im Flüsterton über etwas stritten, und er hat deutlich das Wort Fudge gehört, und dann haben Sie ein Fudge-Eis bestellt.« Er schwieg; Roberta schwieg, aber ihre Augen schienen sich zu vergrößern und in einem Gesicht zu schwimmen, das zusehends blasser wurde.

»Vielleicht könnten Sie Mr. Doheny erklären«, fuhr Brade fort, »wie es kommt, dass der Mann im Drugstore das, was er gehört hat, nicht richtig verstanden hat. Das heißt, vielleicht erklären Sie ihm die zweite Bedeutung des Wortes Fudge - ja?« Roberta schwieg.

»Eine Bedeutung, die es vor allem unter den Studenten hat.« Sie schwieg noch immer.

»Roberta, Sie werden nicht abstreiten wollen, dass Fudge soviel wie Fälschen bedeutet. Wenn bei Ihrem Streit im Drugstore das Wort Fudge fiel, ging es da vielleicht um gefälschte Messdaten bei Experimenten -und nicht um ein Fudge-Fruchteis?« »Nein -«, begann sie wieder.

»Roberta, ich habe Sie gestern in Ralphs Labor angetroffen, als Sie Ralphs Notizbücher durchsahen. Haben Sie wirklich nach einem Andenken gesucht? Oder ging es Ihnen mehr um die gefälschten Angaben? Vielleicht wollten Sie sie vernichten, damit man Ralphs Täuschungsmanöver nicht noch nachträglich auf die Spur kam?« Roberta brachte ein Kopfschütteln zustande. »Es hat keinen Zweck, es abzustreiten«, fuhr Brade fort. »Ich habe mir die Bücher auch angesehen. Und ich habe die gefälschten Angaben entdeckt.«

»So war es nicht«, rief sie in heftigem Ton aus. »Es war anders, meine ich. Es war nicht so, wie Sie es jetzt schildern. Er war verzweifelt. Er wusste nicht mehr, was er tat.«

Brade runzelte die Stirn. »Um Gottes willen, Roberta - Ralph wusste genau, was er tat. Sein Betrug lässt sich über einen Zeitraum von Monaten verfolgen. Versuchen Sie ihn nicht zu entschuldigen. Für so etwas gibt es keine Entschuldigung.«

»Bitte, glauben Sie mir, er hatte keinen klaren Gedanken mehr. Er musste seinen Doktor machen, das war alles, woran er dachte. Er war so sehr von seiner Theorie überzeugt, dass er glaubte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis er die richtigen Messdaten herausbekam, und -« »Und inzwischen hat er ein paar Daten gefälscht, für den Fall, dass sich die richtigen nicht rechtzeitig einstellen, nicht wahr?« »Professor Brade, ich schwöre Ihnen, er hatte nicht vor, diese Zahlen und Angaben je zu benutzen. Das heißt -« Sie streckte hilflos die Hände aus und gestikulierte die Worte, die nicht herauskommen wollten. Sie schluckte und setzte hinzu: »Er hätte es Ihnen gesagt. Er hätte es Ihnen gesagt, ehe er ins mündliche Examen gegangen wäre.« »Hat er Ihnen das gesagt?« fragte Brade. Ein großes Mitgefühl mit ihr stieg immer wieder in ihm hoch und ließ sich nicht unterdrücken. »Ich weiß, dass er es getan hätte.«

Endlich schaltete sich Doheny ein. Et beugte sich über den Tisch. »Professor, wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich hier kurz einhaken. Eine Frage, Miss - wie haben Sie von diesen Fälschungen erfahren? Ihr Freund hat doch nicht von sich aus davon angefangen, oder?«

»Nein, nein.« Einen Augenblick lang starrte sie Doheny ausdruckslos an. Dann sagte sie: »Ich habe einen Schlüssel zum Labor, und ich kam manchmal herein, wenn er mich nicht erwartet hatte. Einmal habe ich mich auf Zehenspitzen von hinten an ihn herangeschlichen, wissen Sie -«

Doheny nickte. »Um ihm die Augen zuzuhalten oder ihn zu kitzeln oder so. Klar, verstehe. Erzählen Sie weiter.«

»Er schrieb gerade in sein Notizbuch. Ich sah, was er machte. Er erfand einfach Zahlen, damit eine Gleichung stimmte. Ich fragte: >Was tust du da?<«

Sie schloss die Augen; die Erinnerung hatte sie übermannt. »Und - hat er es Ihnen gesagt?« fragte Doheny.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er - er hat mich geschlagen. Es war das einzige Mal. Er ist aufgesprungen und hat nach mir geschlagen und mich angestarrt wie ein Wilder. Dann hat es ihm leid getan, und - und er hat mich in die Arme genommen, aber -«

»Aber Sie wussten, was er gerade gemacht hatte?« »Ja.«

»Wann war das?«

»Vor etwa drei Wochen.«

»Und darüber haben Sie im Drugstore gestritten? Sie wollten, dass er aufhört und noch einmal anfängt, ja?«

»Ja.«

Doheny lehnte sich zurück und sah Brade an. Er hatte die Brauen in die Höhe gezogen. »Diese Runde geht an Sie, Professor. Nicht schlecht. Haben Sie noch ein paar Überraschungen?« »Möglich, ich bin mir nicht sicher«, begann Brade, und da ging die Tür auf. Brade wandte sich um. Cap Anson stand auf der Schwelle, den Schlüssel in der einen, den Stock in der anderen Hand.

Der alte Mann warf den anderen einen unverhohlen missvergnügten Blick zu und sagte ohne ein Wort oder Zeichen des Grußes: »Wir waren verabredet, Brade.«

»Ach, du lieber Gott, ja«, sagte Brade und sah auf seine Uhr. Es war genau fünf. »Cap, noch zehn Minuten, ja? Setzen Sie sich, bitte, wir sind gleich fertig.«

Er stand auf, ging um Anson herum und schloss die Tür, dann legte er dem alten Mann behutsam die Hand auf die Schulter und drückte ihn auf einen Stuhl. »Es dauert nicht lange.«

Cap Anson blickte vielsagend auf seine Uhr. »Wir haben ein gehöriges Pensum zu erledigen.«

Brade nickte und wandte sich wieder Roberta zu. »Die Frage ist jetzt, Roberta: In welcher Weise hat das alles Ihr Verhältnis zu Ralph beeinflusst? Ich meine diese Sache mit den gefälschten Messdaten.« Anson beugte sich vor und fragte, ehe noch jemand etwas sagen konnte: »Was höre ich da von gefälschten Messdaten?« Brade sagte: »Ralph hat offenbar die Ergebnisse seiner Experimente seinen Theorien angepasst. Das ist übrigens Mr. Doheny, der Kriminalbeamte, der in dem Fall ermittelt. Das ist Professor Anson.« Anson ignorierte die Vorstellung und sagte sehr erregt: »Warum haben Sie mir dann am Samstag erzählt, Sie wollten die Arbeit des jungen fortführen?«

»Ich habe den Betrug erst am Sonntag entdeckt - gestern«, erwiderte Brade. »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Roberta. Wie hat sich das alles auf Ihr Verhältnis zu Ralph ausgewirkt?« »Nun, wir haben gestritten, das war alles. Ich konnte ja verstehen, worum es ihm ging. Aber ich wusste, er hätte mir - er hätte das schließlich doch in Ordnung gebracht.« »Hat er das gesagt?« Roberta schwieg.

»Sie wissen, wie Ralph war, Roberta. Er war äußerst misstrauisch. Er neigte immer zu der Annahme, dass andere gegen ihn waren. Das stimmt doch, ja?« »Er hatte sehr viel durchgemacht.«

»Ich verurteile ihn ja auch gar nicht, ich versuche nur eine Tatsache festzuhalten. Sie gehörten zu den ganz wenigen Menschen, denen er Vertrauen entgegenzubringen versuchte, und nun hatten Sie etwas ausspioniert und machten ihm Vorwürfe und setzten ihm zu. Sie waren gewissermaßen zu seinen Verfolgern, seinen Feinden übergegangen. Sehen Sie, worauf ich hinauswill?«

Doheny unterbrach ihn. »Hören Sie mal, wie Sie da losgehen, könnte man meinen, Sie wollten beweisen, dass Neufeld die junge Dame hier umgebracht hat. Sie lebt aber noch.« »Natürlich«, entgegnete Brade, »aber wenn Ralph in Roberta einen Feind zu erblicken begann, musste er sie ja nicht gleich töten. Er konnte sich von ihr zurückziehen und die Verlobung auflösen. Sie wäre nicht das erste Mädchen gewesen, von dem er sich trennte, und es wäre durchaus möglich, dass er vorhatte, sich auch von ihr zu trennen.« Roberta schüttelte den Kopf. »Nein.«

Brade fuhr brutal fort: »Und es wäre durchaus möglich, dass ein sitzengelassenes Mädchen auf seine Weise Rache nimmt.« »Was sagen Sie da?« rief Roberta.

»Dass Sie vielleicht Ralph getötet haben.« »Aber das ist doch Wahnsinn.«

»Glauben Sie, ein anderer hat ihn wegen der gefälschten Angaben getötet?« fragte Brade kalt. »Wer wusste denn davon? Hat einmal jemand gehört, wie Sie miteinander darüber gestritten haben?« Er war aufgestanden und beugte sich zu dem Mädchen vor. Sie wich zurück. »Nein - das heißt, ich weiß es nicht.« »Haben Sie einmal über diese Sache in seinem Labor abends laut gestritten?« »J-ja. Einmal.«

»Und wer hat das gehört? Wer ging über den Flur und hat gehört, worüber Sie redeten?«

»Niemand. Ich weiß es nicht. Niemand!«

Cap Anson schaltete sich ein. »Aber Brade, warum quälen Sie das arme Mädchen so?«

Brade überhörte den Einwurf. »Wer hat Sie gehört, Roberta?« »Ich sage Ihnen doch, niemand. Wie kann ich das wissen?« »Er vielleicht?« Und Brades Finger deutete mit einer heftigen Bewegung auf Cap Anson.

20

Cap Anson sagte zornig: »Was soll das?« Für die Dauer weniger Augenblicke erstarrte die Szene zum Tableau. Da waren Brade und sein deutender Finger, der empörte Anson, der den Stock erhoben hatte, Roberta, die den Tränen nahe war, und Doheny, der alles mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete.

Brade musste den Arm sinken lassen. Er war innerlich wie entkräftet. Er hatte alles so sorgfältig inszeniert. Er wusste, dass Anson um Punkt fünf Uhr kommen würde, und er hatte Roberta zu diesem Augenblick genauso weit gehabt, wie er sie haben wollte, und sie dann jäh in den Abgrund gezerrt, damit er im Moment höchster Spannung das ganze Gewicht der Anklage auf Anson fallenlassen konnte.

Was hatte er erwartet? Dass Anson zusammenbrach und sich ein Geständnis entlocken ließ? Dass er, Brade, auf diese Art zu seinem Beweis kam?

Ja, das hatte er. Genau das hatte er erwartet, wie er sich jetzt eingestehen mußte.

Doheny meinte: >ja, ich muss auch sagen, Professor: Was soll das?«

»Cap Anson hat es getan«, entgegnete Brade kummervoll. »Was getan?« wollte Anson wissen.

»Ralph getötet. Sie haben Ralph getötet, Cap.«

»Das ist eine Verleumdung«, erwiderte Anson zornig.

»Das ist die Wahrheit«, sagte Brade niedergeschlagen. Wie musste man es anstellen, dass so etwas einfach als Tatsache anerkannt wurde?

»Sie haben mitgehört, wie Ralph und Roberta stritten. Wer außer Ihnen geht nachts die Flure entlang? Das ist eine alte Angewohnheit von Ihnen. Sie haben herausgefunden, dass Ralph für seine Arbeit Phantasieergebnisse benutzte.«

»Wenn Sie das sagen, muss es noch lange nicht so sein, Brade. Aber selbst wenn ich es erfahren hätte, worauf wollen Sie hinaus?« »Darauf, dass er mein Student war, Cap, und dass ich Ihr Student war.« Brade stand auf und sah den älteren Mann fest an. »Was Ralph tat, fiel auf mich zurück, aber ein Teil davon traf durch mich auch Sie. Ihre Berufsehre stand auf dem Spiel.«

»Meine Berufsehre«, sagte Anson mit bebender Stimme, »ist unantastbar. Nichts kann ihr etwas anhaben.«

»Das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass Sie sich Ihr Leben lang mit beiden Händen an sie geklammert haben. Wissen Sie noch, was Kinsky heute morgen sagte, Cap? Sie bezeichneten sich als den Kapitän des Schiffes der experimentellen Forschung. Sie waren der Kapitän; Ihre Studenten waren die Mannschaft. Und auf hoher See ist der Kapitän doch oberster Gerichtsherr seiner Mannschaft, Herr über Leben und Tod, nicht wahr- Kapitän?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Ich meine, dass Sie immer gern über Leben und Tod Ihrer Studenten verfügen wollten, wenn nicht bewusst, dann unbewusst - sonst hätten Sie sich nicht so gern Cap nennen lassen. Und nun haben Sie festgestellt, dass einer Ihrer Studenten - der Student eines Ihrer Studenten, aber eben deshalb wieder Ihr Student- das schlimmste Verbrechen im wissenschaftlichen Kodex begangen hatte, die eine ganz unverzeihliche Todsünde. Und da haben Sie ihn zum Tod verurteilt. Das mussten Sie tun. Hätten Sie ihn leben lassen und wäre die Wahrheit ans Licht gekommen, hätte Ihr Ruf -« Doheny unterbrach ihn, und seine Stimme schaltete sich so unerwartet ein, dass die anderen verblüfft waren. »Sie wollen damit sagen, dass der alte Herr in Neufelds Labor eingedrungen ist und sich an diesen kleinen Kolben zu schaffen gemacht hat, Professor, ja?« »Er hatte einen Hauptschlüssel.«

»Und wie konnte er über die Experimente des Studenten Bescheid wissen? Hat er sich eingeschlichen und dessen Notizen durchgelesen?« »Das brauchte er nicht. Er war ja immer in meinem Labor. Er war zum Beispiel am Freitag hier, als ich nach meiner Vorlesung hereinkam. Er war heute morgen nach der Vorlesung hier. Und vorhin ist er ja auch ganz einfach hereingekommen. Und die Duplikate von Ralphs Aufzeichnungen, die gefälschten Zahlen und alles andere, werden ja hier aufbewahrt. Ralph hat in seinen Notizen die Experimente ganz genau beschrieben - auch dass er immer eine bestimmte Anzahl Kolben auf Vorrat abgefüllt hat. Cap wusste genau, was er zu tun hatte. Seine peinliche Genauigkeit erleichterte es ihm, Ralphs detaillierte Aufzeichnungen zu verstehen und sich zunutze zu machen.« »Das sind alles unbewiesene Behauptungen«, sagte Anson. »Reine Phantasterei.«

Brade fuhr verzweifelt fort: »Dann erfuhren Sie, dass ich Ralphs Arbeit fortführen wollte -« Er hielt inne, um Atem zu holen; er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Und da wollten Sie das verhindern, Cap. Sie haben es im Zoo versucht; Sie haben alles getan, um mich für ein Thema aus der vergleichenden Biochemie zu interessieren. Als Ihnen das nicht gelang, haben Sie auch mich zum Tod verurteilt. Ich war im Begriff, Ihnen Unehre zu machen, und deshalb beschlossen Sie -« Doheny stand auf; sein breites Gesicht blickte etwas besorgt. »Professor«, sagte er, »immer langsam. Eins nach dem andern. Bleiben Sie bei Ralph Neufeld. Bleiben Sie bei Ralph Neufeld.« Brade wischte sich wieder mit dem Taschentuch übers Gesicht. »Schön«, sagte er, »ich bleibe bei Ralph Neufeld, und ich komme jetzt zu dem Punkt, der meine Behauptung beweist. Jawohl, beweist. Dieser Mann« - sein Finger zitterte, als er zum zweitenmal auf Cap deutete -»ist ein Sklave der Zeit. Das geht allen Lehrern so, aber er ist es in ganz besonderem Masse. Er hält seine Verabredungen auf die Minute genau ein. Er kam vorhin um Punkt fünf hier herein.« »Ja, das fiel mir auf«, sagte Doheny.

»Wir anderen machen ihm die Freude, wir finden uns zu Verabredungen mit ihm pünktlich ein, und er erwartet das inzwischen auch gar nicht anders. Ein Zuspätkommen duldet er nicht. Aber am vergangenen Donnerstag, als ich um fünf Uhr nachmittags mit ihm verabredet war, konnte ich nicht kommen, weil Ralph tot in seinem Labor lag - und ich im Institut bleiben musste. Woher wussten Sie das, Cap? Woher haben Sie vorhergewusst, dass ich ausgerechnet an diesem Tag die Verabredung nicht einhalten würde, wo ich mich sonst immer auf die Minute genau eingefunden hatte? Wann hatte ich einmal eine Verabredung nicht genau eingehalten? Mit welchem Recht nahmen Sie an, dass ich diesmal nicht dasein würde?«

»Wovon reden Sie da?« fragte Anson geringschätzig.

»Am Donnerstag nachmittag«, fuhr Brade fort, »um Punkt fünf Uhr trafen Sie meine Tochter auf der Strasse vor unserem Haus. Sie waren an dem Tag nicht im Institut gewesen. Niemand hatte Sie von Ralphs Tod benachrichtigt. Aber Sie gaben Ginny einen Stoss Manuskriptblätter Ihres Buches. Sie sagten: >Gib das deinem Vater, wenn er heimkommt.< Was brachte Sie zu der Annahme, dass ich nicht zu Hause war?«

»Nun, Sie waren nicht zu Hause«, erwiderte Anson. »Oder wollen Sie das abstreiten?« .

»Natürlich war ich nicht zu Hause, aber woher wussten Sie das? Sie haben Ginny nicht gefragt, ob ich zu Hause sei. Sie kamen nicht bis zur Haustür. Sie reichten ihr nur die Manuskriptseiten und sagten: >Gib das deinem Vater, wenn er heimkommt.< Sie wussten also, dass ich ausgerechnet dieses eine Mal nicht wie verabredet zu Hause war. Sie wussten, dass ich im Institut neben dem Tod Wache hielt. Wieso haben Sie das gewusst, Cap? Wieso haben Sie das gewusst?« »Bitte, schreien Sie nicht«, sagte Cap.

»Sie hatten meine Verabredung mit dem Tod inszeniert. Sie wussten, dass Ralph tot war, weil Sie den Erlenmeyerkolben vom Donnerstag vergiftet hatten. Sie wussten, dass ich den Toten vorfinden musste, wenn ich noch einmal kurz in Ralphs Labor hereinschaute, ehe ich ging. Und Sie wussten, dass ich das tun würde, weil dieses abendliche Hereinschauen ins Labor eines Doktoranden eine der Gewohnheiten war, die ich von Ihnen übernommen hatte. Aber auch so blieben Sie Ihrer Gewohnheit treu, eine Verabredung unbedingt einzuhalten, und Sie kamen bis vor mein Haus, um das Manuskript abzuliefern.« »Das ist alles Unsinn«, entgegnete Anson. »Ihre Tochter sagte mir, Sie seien nicht zu Hause.«

»Sie haben sie nicht danach gefragt.« »Doch.«

»Nein, Cap. Sie hat mir noch an demselben Abend gesagt, Sie hätten ihr aufgetragen, mir die Manuskriptseiten zu geben, wenn ich heimkomme. Als mir das heute mittag wieder einfiel, dachte ich, vielleicht hat sie mir nicht alles erzählt. Vielleicht fehlt noch etwas. Ich rief in ihrer Schule an, ließ sie an den Apparat holen, und dann musste sie mir alles noch einmal ganz genau erzählen. Ich habe sie sozusagen ins Kreuzverhör genommen. Sie haben sie nicht gefragt, ob ich zu Hause sei, Cap. Sie haben es einfach vorausgesetzt, weil Sie es wussten.»

Anson wandte sich an Doheny. »Ich nehme an, meine Aussage gilt mehr als die eines Kindes. Sie kann sich einfach nicht mehr erinnern. Wie sollte sie auch. Es war eine ganz flüchtige, beiläufige Begegnung vor immerhin schon vier Tagen.«

Doheny sagte: »Tja, Professor Brade, Ihr älterer Kollege hat recht, vor die Geschworenen könnten Sie damit nicht gehen.« »Aber ich habe Ihnen doch alles dargelegt«, erwiderte Brade. »Motiv, Gelegenheit zur Ausführung der Tat. Ablauf der Ereignisse. Es passt alles zusammen.« »Gewiss, gewiss«, sagte Doheny, »aber vieles passt zusammen. Ich kann eine Geschichte erfinden, in die Sie als Mörder hineinpassen oder die junge Dame oder sonstwer. Ist das nicht auch in der Chemie so? Können Sie nicht verschiedene Theorien für das eine oder andere Experiment aufstellen? »Ja«, sagte Brade ausdruckslos.

»Sie müssen eine finden, die Sie durch weitere Experimente untermauern können. Sehen Sie, sich einen logischen Ablauf von Ereignissen auszudenken, das ist alles schön und gut, aber Sie werden sich wundern, was ein Verteidiger aus so einer logischen Kette macht, wenn das alles ist, was Sie vorzuweisen haben.« Brade senkte den Kopf.

»Ich könnte Professor Anson verhaften, ihn vernehmen, aber wenn er unschuldig ist, würde das keinen guten Eindruck machen. Er ist auf seinem Gebiet bekannt und genießt einen guten Ruf. Als Beweismaterial brauche ich da schon etwas mehr als nur ein bisschen Logik. Ich müsste etwas Handfestes haben, so wie dieses Ding hier.« Er schlug mit der Faust gegen die Sauerstoffflasche, die einen dumpfen Ton von sich gab. »Etwas, an dem man ruhig mal drehen kann.« Er griff nach dem Hauptventil ...

Anson sprang entsetzt auf und schwang wild seinen Stock. »Lassen Sie die Finger von dem Ding, Sie verdammter Idiot -« Sein Stock pfiff durch die Luft.

Doheny machte eine rasche Bewegung, bekam den Stock zu fassen und zog Anson daran auf sich zu. »Ist etwas nicht in Ordnung mit dieser Flasche, Professor Anson?« fragte er ganz sanft. »Wie kommen Sie darauf?«

Cap Ansons Gesichtszüge verfielen jäh - er sah plötzlich noch viel älter aus.

»Woher wissen Sie, dass mit der Flasche etwas nicht in Ordnung ist?« fragte Doheny noch einmal.

Roberta schrie auf: »Sie haben ihn vergiftet, Sie haben ihn vergiftet!« und stürzte auf ihn zu. Brade fing sie auf und hielt sie fest.

Anson wandte mit einem Ruck das Gesicht dem Mädchen zu. »Er hatte es nicht anders verdient«, sagte er mit heiserer Stimme. »Er war ein Verräter an der Wissenschaft.«

»Dann haben Sie ihn also vergiftet?« fragte Doheny. »Sie sprechen in Gegenwart von Zeugen. Überlegen Sie sich das.«

»Ich hätte zuerst ihn beseitigen sollen.« Er deutete auf Brade und kreischte: »Inkompetent sind Sie! Ich habe Ihnen am Morgen danach gesagt, dass Sie es waren, und Sie sind auch dafür verantwortlich. Sie tragen die Verantwortung, weil Sie so nachlässig waren, ihn falsche

Daten eintragen zulassen. Sie haben seinen Tod zu einer Notwendigkeit gemacht.« Und dann ging er vom Schreien ins Flüstern über. »Ja, ich habe Ralph Neufeld vergiftet.« Und er ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Sie waren nun allein im Arbeitszimmer, Brade und Doheny. Der Kriminalbeamte hatte sich gerade die Hände gewaschen und trocknete sie an einem Papierhandtuch ab.

»Wird man streng mit ihm verfahren?« fragte Brade. Der Zorn des Augenblicks war verraucht, Cap war für ihn wieder Cap, ein alter Mann, ein etwas sonderbarer alter Mann, aber ein großer Chemiker und eben doch sein Lehrer, fast sein eigener Vater. Der Gedanke, dass er ins Gefängnis eingeliefert wurde...

»Meiner Ansicht nach kommt es nicht zu einer Verhandlung«, sagte Doheny und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Brade nickte traurig.

»Wissen Sie, Professor, ich muss sagen, ich bin froh, dass ich Sie von Anfang an doch richtig eingeschätzt hatte. Tut mir leid, dass ich einen Augenblick lang an Ihnen gezweifelt habe.« »Das Zweifeln gehört zu Ihrem Beruf.«

»Na schön. Aber Sie haben als Amateurdetektiv auch gute Arbeit geleistet.«

»Meinen Sie?« Brade lächelte schwach.

»Unbedingt. Sie hatten alles richtig inszeniert. Wenn ich Ihre Tatsachen zur Verfügung gehabt hätte, hätte ich es vielleicht auch geschafft, aber sicher nicht so gut und so schnell wie Sie.« »Na ja«, sagte Brade nachdenklich, »wissen Sie, ich hatte wahrscheinlich die Lösung die ganze Zeit parat, seit meine Tochter mir erzählte, was Cap zu ihr gesagt hatte. Aber ich konnte einfach nicht glauben, dass Cap es getan hatte, und so-so habe ich den Gedanken einfach beiseite geschoben. Du lieber Gott, als ich entdeckte, dass jemand an meiner Sauerstoffflasche gewesen war, da dachte ich zuerst an Cap, aber dann kam mir der Gedanke lächerlich vor. Warum hätte er das getan haben sollen? Nur weil ich mich geweigert hatte, Ralphs Arbeit sausenzulassen? Ich konnte ja noch nicht ahnen, dass er etwas von den Fälschungen wusste, dass er sich vorstellte, sein Ruf stehe auf dem Spiel.« Er neigte den Kopf. »Wann fiel bei Ihnen der Groschen?« fragte Doheny. »Als heute mittag die Laborübung begann. Ein ganz unbedeutender Umstand. Ich dachte darüber nach, wie sehr wir Lehrer an die Uhrzeit gebunden sind, und dabei denke ich immer an Cap. Und als ich gerade darüber nachdachte, reichte ein Student meinem Doktoranden, der diese Übung leitete, einen Stoss Papiere, und da sah ich Cap in einer ähnlichen Szene vor mir-ich sah ihn, wie er Ginny seine Manuskripte gab. Das hat dann alles weitere Nachdenken ausgelöst, und da war mir plötzlich der Hergang klar.« »Wie gesagt - gute Arbeit«, stellte Doheny anerkennend fest. »Nur hätten Sie beinahe alles verdorben.« »Wieso?«

»Ja, das war der Punkt, wo man Ihnen den Amateur anmerkte. Sie wollten dem alten Herrn alles auf den Kopf zusagen- aber wozu? Wenn er es gewesen war, dann war ihm das ja nicht neu. Verstehen Sie?« Man sagt einem Verdächtigen eben gerade nicht alles auf den Kopf zu! Man lässt etwas aus. Die Sache mit der Sauerstoffflasche zum Beispiel. Das durften Sie ihm nicht sagen. Wenn ich Sie nicht zurückgehalten hätte, hätten Sie vielleicht alles verdorben. Und was wäre dann gewesen?

Man darf einem, den man eines Verbrechens überführen will, immer nur einen Teil der Geschichte erzählen, und weil er sie ja ganz kennt, weiß er in der Aufregung später nicht mehr, welchen Teil Sie ihm erzählt haben - und welchen nicht. Dann bringen Sie ihn so weit, dass er Ihnen den Teil erzählt, den Sie ihm nicht erzählt haben. Verstehen Sie? Dann hat er sich verraten. So wie eben, als Professor Anson zu erkennen gab, dass er wusste, dass mit der Sauerstoffflasche etwas nicht stimmte.« »Ich bin Ihnen dafür zu Dank verpflichtet, Mr. Doheny.« Der Beamte zuckte die Achseln. »Nur so ein Trick, den der Beruf mit sich bringt. Ein alter Trick, aber die guten Tricks sind alle alt, zwangsläufig. Tja, ich glaube, ich verabschiede mich jetzt, Professor. Hoffe, wir sehen uns nicht wieder. Dienstlich, meine ich.« Brade schüttelte ihm zerstreut die Hand und blickte sich in seinem Arbeitszinmer um, als sähe er es zum erstenmal. »Haben Sie darüber nachgedacht«, sagte er, »dass diese ganze Sache knapp hundert Stunden gedauert hat?«

»Kam Ihnen länger vor, wie?« »Allerdings - wie ein ganzes Leben.« Doheny neigte den Kopf zur Seite und fragte: »Wie wird sich das alles auf Ihre Position hier auswirken?«

»Wie? Ach so, ja, wissen Sie« - in seinem kurzen Auflachen schwang eine Spur wilder Trotz mit -, »mir ist es eigentlich egal. Als ich herausgefunden hatte, dass ich mit der Kündigung rechnen muss, da fühlte ich mich auf einmal wie befreit. Ich brauchte mir jetzt keine Sorgen mehr darüber zu machen, ob ich meine Stellung verlieren würde, das hatte ich hinter mir. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe.«

»Doch, das haben Sie; ich verstehe, was Sie meinen.« »Als Cap mir schließlich sagte, dass man mir kündigen würde -« Brade hielt jäh inne und versank in Nachdenken. Hatte Cap ihm die Wahrheit gesagt? Hatte Littleby wirklich beschlossen, sein Anstellungsverhältnis nicht mehr zu verlängern? Oder war das nur ein Teil von Caps Taktik gewesen, ihn von Ralphs Arbeit abzubringen? Hatte es sozusagen zu seiner psychologischen Kriegführung gehört? Schließlich, wenn man an Littlebys versöhnlich stimmenden Mitteilungszettel von heute morgen dachte – Aber was sollte es? Gleichsam mit einem Stich der Erleichterung war sich Brade bewusst, dass ihm der Ausgang der Sache tatsächlich gleichgültig war. »Mir ist es egal«, sagte er. »Ich habe mich lange genug zurückgehalten und bemüht, nicht aufzufallen. Es macht viel mehr Spaß, auch einmal zurückzuschlagen. Als ich es Ranke und Foster vorgestern zeigte, da wurde mir klar, was so in einem steckt, was man erreichen kann, wenn man auf nichts Rücksicht zu nehmen braucht. Aber davon können Sie ja nichts wissen.«

Doheny beobachtete ihn mit den interessierten Augen des Amateurpsychologen. »Sie haben überhaupt einen ausgezeichneten Kampf gekämpft, Professor.«

Brade sagte mit plötzlich erwachender Energie. »Ja, es war ein Kampf, von Anfang bis zum Ende.« Das war es wirklich gewesen; er hatte gegen alles gekämpft, gegen mögliche familiäre Erschütterungen wie gegen die drohende Gefahr des elektrischen Stuhls. Er sagte langsam: »Und ich habe gewonnen.« »Das haben Sie, Professor.«

Brade lachte vor Erleichterung und Freude. Er dachte an Littleby. Der Ärmste musste mit seinen eigenen Problemen fertig werden, jetzt hatte er einen Mörder und einen Ermordeten in seinem Institut. Er würde sich in dieser Angelegenheit mit dem Dekan auseinandersetzen müssen, einem kleinen Tyrannen mit einem falschen Lächeln. Und der Dekan musste dem Präsidenten der Universität Rechenschaft ablegen. Und dann kamen die Kuratoren. Und dann die Presse. Die Reihe hinauf und hinunter war kein einziger sicher. Jeder musste mit seinem eigenen Teufel kämpfen. . Er sagte: »Ich gehe jetzt nach Hause. Es ist schon wieder spät geworden. Doris muss auch alles erfahren.« »Machen Sie sich wegen Ihrer Frau keine Gedanken«, sagte Doheny. »Ich dachte mir, dass Sie nicht dazu kommen werden, sie anzurufen, und da habe ich das erledigt und ihr gesagt, dass alles in Ordnung ist.

Ich habe gesagt, Sie kämen vielleicht etwas später, weil ich glaubte, die Jungens auf dem Revier wollten Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« »So?«

»Aber es sieht so aus, als wäre das nicht der Fall. Also gehen Sie ruhig nach Hause. Wenn ich Sie noch einmal sprechen muss, weiß ich ja, wo ich Sie finde.«

»Ja. Und vielen Dank, Mr. Doheny.«

Sie reichten sich noch einmal die Hand und verließen zusammen das Gebäude. Brade wandte sich der Treppe zu, die außen an der Hauswand entlang zum Parkplatz führte.

Er drehte sich ein letztes Mal um. »Und, Mr. Doheny, das Komische ist, dass ich nach all diesen Jahren endlich das Bewusstsein der Sicherheit habe. Was aus meiner Stellung wird, ist mir völlig gleichgültig; ich habe Sicherheit an der einzigen Stelle, wo es darauf ankommt: hier drin.« Er klopfte sich an die Brust.

Er eilte die Stufen hinunter und kümmerte sich kaum darum, ob der Beamte ihn verstanden hatte.

Er fuhr jetzt nach Hause zu Doris - mit seiner neugewonnenen Sicherheit im Herzen.

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