ZWEI Menschen

Zwischenspiel

Alyce und Joan schlurften in der Menge der Passagiere auf das Flughafengebäude zu. Sie waren nur für ein paar Minuten in der dichten Rauchwolke gewesen, und doch musste Joan sich auf den Arm von Alyce Sigurdardottir stützen. Sie hatte das Gefühl, zu schmelzen.

Das Erste, was Joan nach dem Verlassen des Flugzeugs gespürt hatte, war ein Erdbeben. Eine außergewöhnliche Wahrnehmung, eine traumartige Verschiebung, die schon zu Ende war, kaum dass sie begonnen hatte.

Das Beben war natürlich vom Rabaul verursacht worden.

Unter der Insel Papua Neu-Guinea war Magma in Wallung geraten – geschmolzenes Gestein mit einem Volumen von tausend Kubikkilometern. Diese große Aufwallung war mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern pro Monat durch Spalten in der dünnen Erdkruste zur riesigen alten Caldera namens Rabaul emporgestiegen. Das war eine erstaunliche Geschwindigkeit für ein geologisches Ereignis und kündete von gewaltigen Energien. Die aufsteigende Masse hatte das darüber liegende Gestein aufgewölbt und das Land unter eine enorme Spannung gesetzt.

Rabaul hatte schon viele kataklysmische Ausbrüche zu verzeichnen. Zwei dieser Eruptionen waren von menschlichen Wissenschaftlern datiert worden: eine vor fünfzehnhundert Jahren und die andere ungefähr zweitausend Jahre zuvor. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis es wieder geschehen würde.

Die anderen Passagiere, die durch die rauchige Luft zum kleinen Flughafen-Terminal gingen, schienen das Beben gar nicht mitzubekommen. Bex Scott war von ihrer Mutter Alison und ihrer Schwester abgeholt worden – die goldene Augen und grünes Haar hatte. Unter einem Himmel, der von fernen Feuern erhellt wurde, und über einem Land, das unbemerkt von ihnen sich schüttelte, plauderten die genmodellierten Kinder fröhlich mit ihrer eleganten Mutter. Joan bemerkte, dass sie die silbernen Ohrhörer noch in den Ohren stecken hatten. Es war, als ob sie in einem Neonnebel umherliefen.

Joan erinnerte sich zerknirscht an ihren beiläufigen Ausspruch, dass Bex schon ein ausgesprochener Pechvogel sein müsste, wenn Rabaul just in dem Moment ausbrach, wenn sie in der Nähe war. Hier draußen auf dem schwankenden Boden wurde sie Lügen gestraft. Aber vielleicht würde der Berg sich auch wieder beruhigen. Wie dem auch sei, die meisten Leute dachten gar nicht darüber nach. Es war eine überfüllte Welt mit vielen Problemen, die akuter waren als ein grummelnder Vulkan.

Der Weg zum Flughafengebäude schien endlos. Es war ein trister Schuppen, trotz der Firmenlogos, mit denen jede freie Fläche zugepflastert war. Die intervallartigen Erschütterungen des Bodens waren eine urzeitliche Störung, und das laute Wimmern der Düsentriebwerke klang wie das Stöhnen enttäuschter Tiere.

Und dann hörte Joan ein fernes Bersten, als ob feuchtes Holz in ein Feuer geworfen würde. »Shit. War das etwa ein Schuss?«

»Da stehen Demonstranten am Flughafenzaun«, sagte Alyce Sigurdardottir. »Ich habe sie schon beim Landeanflug entdeckt. Es ist eine große Zusammenrottung, wie damals bei den Atomkraftgegnern.«

»Nur für uns?«

Alyce lächelte. »Man kann keine große Konferenz über die Globalisierung veranstalten, ohne dass Demonstranten sich ein Stelldichein geben. Aber was soll’s, das hat Tradition; sie machen bei diesen Konferenzen schon so lang Rabatz, dass die Veteranen bereits Wiedersehentreffen veranstalten. Sie sollten sich geschmeichelt fühlen, dass die Sie so ernst nehmen.«

»Dann werden wir uns noch mehr anstrengen müssen«, sagte Joan grimmig, »sie von unsrem neuen Angebot zu überzeugen… ich habe den Eindruck, dass Sie Alison Scott nicht mögen.«

»Scotts ganzes Leben und ihre Arbeit ist Show-Business. Sogar ihre Kinder hat sie für ihre kommerziellen Zwecke eingespannt – nein, sie hat sie eigens dafür erschaffen. Sehen Sie sie sich doch nur mal an.«

Joan zuckte die Achseln. »Aber Sie können es ihr doch nicht zum Vorwurf machen, dass sie ihre Kinder genetisch modelliert hat.« Sie strich sich über den Bauch. »Ich glaube zwar nicht, dass ich das für den Junior hier drin wollte. Aber Eltern haben immer schon das Beste für ihre Kinder gewollt. Die beste Schule, den Speer mit der besten Steinspitze, den besten Ast im Feigenbaum.«

Das rang Alyce ein Lächeln ab. »Gegen Genmodellierung in einem gewissen Maß wäre nichts zu sagen, wenn alle es sich leisten könnten. Zum Beispiel sind die beschränkten Selbstheilungskräfte unseres Körpers keine physiologische Unabdingbarkeit. Wieso sollten wir amputierte Gliedmaßen nicht wie Seesterne nachwachsen lassen? Wieso sollten wir nicht mehr Gebisse haben als nur zwei? Oder wieso tauschen wir verschlissene und arthritische Gelenke nicht einfach aus?«

»Aber glauben Sie wirklich, dass Alison Scott ihr Geld damit gemacht hat? Schauen Sie sich ihre Kinder an, das Haar, die Zähne und die Haut. Die ›inneren Werte‹ sind unsichtbar. Wozu soll man viel Geld ausgeben, wenn man seine Errungenschaften nicht zur Schau stellen kann? Neunzig Prozent des Geldes, das derzeit in Genmodellierung investiert wird, dient dem Aufpolieren der Fassade. Die armen Kinder von Scott sind nichts anderes als mobile Reklametafeln für ihren Reichtum und ihre Macht. Das ist wirklich ein Ausbund an Dekadenz.«

Joan legte Alyce den Arm um die Hüfte. »Das kann schon sein. Aber wir müssen für vieles offen sein. Wir brauchen Scotts Beitrag genauso sehr, wie wir Ihren brauchen… Wissen Sie, ich habe das Gefühl, einen Felsklotz im Bauch zu tragen«, sagte sie atemlos.

Alyce verzog das Gesicht. »Da erzählen Sie mir nichts Neues. Ich habe selbst drei Kinder. Aber ich bin zu ihrer Geburt jedes Mal nach Island zurückgegangen. Schlechtes Timing, hm?«

Joan lächelte. »Ein Unfall. Die Konferenz ist schon seit zwei Jahren in der Planung. Was das Baby betrifft…«

»Die Natur nimmt wie immer ihren Verlauf, trotz unsrer nichtigen Sorgen. Und der Vater?«

Der Vater, auch ein Paläontologe, war zwischen die Fronten eines sinnlosen Scharmützels geraten, das nach dem Zusammenbruch des kenianischen Staates stattgefunden hatte. Er hatte Lagerstätten mit Hominiden-Fossilien vor Dieben zu schützen versucht, aber ein Banditen-Anführer hatte geglaubt, er würde Silber, Diamanten oder einen Impfstoff gegen AIDS verteidigen. Dieser Vorfall und das Kind, das sie von ihm erwartete, hatten Joan in ihrem Entschluss bestärkt, die Konferenz zu einem Erfolg werden zu lassen.

Aber sie wollte jetzt nicht darüber sprechen. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie.

Alyce schien zu verstehen.

Schließlich betraten sie das Flughafengebäude. Joan empfand die kühle Luft aus der Klimaanlage wie eine kalte Dusche und bekam beim Gedanken an die vielen Kilowatt Wärmeenergie, die dadurch woanders in die Luft gepumpt wurden, zugleich ein schlechtes Gewissen. Eine Quantas-Mitarbeiterin, eine Aborigines-Frau, führte sie zu einer Empfangslounge. »Es hat ein kleines Problem gegeben«, sagte sie wie auf einem Endlostonband zu den ankommenden Passagieren. »Wir sind aber nicht in Gefahr. In Kürze erfolgt eine Durchsage…«

Alyce und Joan gingen erschöpft zu einer unbesetzten Metallbank. Dann holte Alyce ihnen etwas zu trinken.

Die intelligenten Wände der Lounge waren mit aktuellen Meldungen von Fluglinien, Nachrichten, Unterhaltung und Telekommunikations-Schnittstellen erfüllt. Es wimmelte von Passagieren. Viele waren Konferenzteilnehmer; Joan kannte die Gesichter aus der Programmbroschüre und dem Internet. Sie alle litten offensichtlich unter dem Jetlag und an Orientierungslosigkeit und wirkten entweder erschöpft oder aufgedreht.

Ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit einer Kutte, die man früher vielleicht als Hawaii-Hemd bezeichnet hätte, näherte sich Joan zaghaft. Der Kahlköpfige schwitzte stark und hatte ein anscheinend gewohnheitsmäßiges Grinsen im Gesicht. Er hatte einen Holo-Sticker, der immer gleiche Bilder vom Mars, dem neuen robotischen Landungsfahrzeug der NASA und einem orangefarbenen Himmel zeigte. Als Kind hätte Joan ihn vielleicht als Eierkopf bezeichnet. Aber er war nicht älter als fünfunddreißig. Also ein Eierkopf der zweiten Generation. Er streckte die Hand aus. »Ms. Useb? Mein Name ist Ian Maughan. Ich bin vom JPL. Äh…«

»Das Jet Propulsion Laboratory der NASA. Ich erinnere mich natürlich an Ihren Namen.« Joan erhob sich mühsam und schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, dass Sie die Einladung angenommen haben. Noch dazu in diesem Stadium Ihrer Mission.«

»Es läuft prima, dank des großen Ju-Ju«, sagte er und zeigte ihr den Holo-Sticker. »Das sind Live-Aufnahmen aus dem Internet, natürlich unter Berücksichtigung der Laufzeit vom Mars… Johnnie hat die Brennstoff-Fabrik schon aufgebaut und arbeitet nun an der Metallextraktion.«

»Eisen aus dem rostigen Marsgestein.«

»Ganz genau.«

›Johnnie‹ hieß mit richtigem Namen John von Neumann. Er war der amerikanische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts, der das Konzept universaler Replikatoren präsentiert hatte -Maschinen, die, mit den entsprechenden Rohmaterialien gefüttert, alles herzustellen vermochten, sogar Kopien von sich selbst. ›Johnnie‹ war ein Technologieprojekt, ein Replikator-Prototyp mit dem ultimativen Ziel, aus den Rohstoffen des Planeten eine Kopie von sich zu fertigen.

»Er hat in der Öffentlichkeit wie eine Bombe eingeschlagen«, sagte Maughan. »Die Leute sind fasziniert. Ich glaube, es liegt an der Zielgerichtetheit, mit der er eine Komponente nach der andern fertigt.«

»Reality-TV vom Mars.«

»Ja, so in der Art. Mit diesen Einschaltquoten haben wir ganz bestimmt nicht gerechnet. Nach siebzig Jahren hat die NASA die Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit immer noch nicht erkannt. Aber die Aufmerksamkeit kommt uns sehr gelegen.«

»Wann, glauben Sie, wird Johnnie… ähem… geboren? Noch ehe ich versuche, mich zu replizieren?«

Maughan lachte gezwungen; der Verweis auf Joans menschliche Biologie hatte ihn peinlich berührt, was aber nicht verwunderlich war. »Das ist durchaus möglich. Aber er gibt sich sein eigenes Tempo vor. Darin liegt gerade auch die Schönheit des Projekts. Johnnie ist autonom. Wo er nun dort oben ist, braucht er nichts mehr von der Erde. Und weil er und seine Söhne uns keinen Cent mehr kosten, ist das ein ausgesprochen kostengünstiges Projekt.«

Söhne?, fragte Joan sich.

»Allerdings ist Johnnie eher ein Konstruktions- als ein Wissenschaftsprojekt«, sagte Alyce Sigurdardottir, nachdem sie mit zwei Bechern Cola für sich und Joan zurückgekommen war. »Nicht wahr?«

Maughan lächelte unbekümmert. Joan wurde sich erst jetzt bewusst, dass er trotz seines Aufzugs ein JPL-Mitarbeiter war, der um den Nutzen der Öffentlichkeitsarbeit wusste; sonst wäre er nämlich nicht gekommen. »Das will ich nicht bestreiten«, sagte er. »Aber so läuft das eben bei uns. Bei der NASA mussten Engineering und Wissenschaft schon immer Hand in Hand gehen.« Er wandte sich wieder an Joan: »Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich eingeladen haben, obwohl ich immer noch nicht den Grund dafür kenne. Ich bin kein Biologe, sondern von Haus aus ein Computerspezialist. Und Johnnie ist im Grunde auch nur eine Raumsonde, ein Haufen Silizium und Aluminium.«

»Bei dieser Konferenz geht es nicht nur um Biologie«, sagte Joan. »Ich wollte die besten Köpfe aus vielen Fachgebieten hier zusammenbringen und miteinander bekannt machen. Wir werden lernen müssen, in ganz neuen Bahnen zu denken.«

Alyce schüttelte den Kopf. »Obwohl ich diesem Projekt eher skeptisch gegenüberstehe, glaube ich, dass Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen, Dr. Maughan. Denken Sie noch mal darüber nach. Sie sind nackt auf die Welt gekommen. Sie nehmen, was die Erde Ihnen gibt – Metalle und Öl – und formen es, verleihen ihm Intelligenz und schicken es durch den Weltraum zu einer anderen Welt. Das Image der NASA ist immer miserabel gewesen. Aber was Sie tun, ist so… so romantisch.«

Maughan verbarg sich hinter einem flauen Scherz. »Beim Jupiter, Ma’am, ich muss Sie zu meiner nächsten Karriere-Planung hinzuziehen.«

Die Lounge füllte sich zusehends mit Passagieren. »Weiß jemand, was hier los ist?«, fragte Joan.

»Das sind die Demonstranten«, sagte Ian Maughan. »Sie werfen Steine aufs Flughafengelände. Die Polizei versucht zwar, sie zurückzudrängen, aber es herrscht ein ziemliches Chaos. Wir durften wohl landen, aber es ist zu unsicher, unser Gepäck zu holen und den Flughafen zu verlassen.«

»Schrecklich«, sagte Joan. »Dann werden wir während der ganzen Konferenz einen Belagerungszustand haben.«

»Wer ist der Urheber?«, fragte Alyce.

»Hauptsächlich die Vierte Welt.« Eine Dachorganisation, basierend auf einer christlichen Kleinstsekte, die vorgab, die Interessen der globalen Unterklasse zu vertreten: der so genannten Vierten Welt, Menschen, die noch weniger sichtbar waren als die Nationen und Gruppierungen, die die Dritte Welt ausmachten – sie waren die Ärmsten, ohne jede Perspektive, die von den reichen Nationen des Nordens und Westens nicht einmal wahrgenommen wurden. »Sie glauben, Pickersgill sei selbst in Australien.«

Joan verspürte einen Anflug von Unbehagen. Wo Gregory Pickersgill, der britischstämmige charismatische Führer des zentralen Kults auftauchte, kam es immer zum Eklat – manchmal auch mit Todesfolge. Sie verdrängte diese Sorge. »Überlassen wir das der Polizei. Wir müssen eine Konferenz leiten.«

»Und einen Planeten retten«, sagte Ian Maughan mit einem Lächeln.

»Verdammt richtig.«

In einer Ecke des Flughafengebäudes kam Unruhe auf, als eine große weiße Kiste hereingerollt wurde. Sie sah aus wie ein großer Kühlschrank. Kameras wurden Alison Scott in einem Blitzlichtgewitter ins Gesicht gehalten.

»Ein Gepäckstück, das offensichtlich nicht warten konnte«, murmelte Alyce.

»Ich glaube, das ist Lebendfracht«, sagte Maughan. »Ich habe sie darüber sprechen hören.«

Die kleine Bex kam zu Joan gelaufen. Joan sah, dass Ian Maughan bei ihrem blauen Haar und den roten Augen groß guckte; vielleicht waren die Leute in Pasadena nicht ganz auf der Höhe der Zeit. »Oh, Dr. Useb.« Bex nahm Joans Hand. »Ich will Ihnen zeigen, was meine Mutter mitgebracht hat. Ihnen auch, Dr. Sigurdardottir. Bitte kommen Sie. Sie waren im Flugzeug so nett zu mir. Ich hatte wirklich Angst vor dem ganzen Rauch und dem Rütteln.«

»Du warst aber nicht in Gefahr.«

»Ich weiß. Aber ich hatte trotzdem Angst. Sie haben das gesehen und mir geholfen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen was zeigen.«

Also ließ Joan, mit Alyce und Maughan im Schlepptau, sich durch die Lounge führen.

Alison Scott sprach gerade in die Kamera. Sie war eine große, beeindruckende Frau. »… Mein Fachgebiet ist die Evolution der Entwicklung. Evo-devo, wie die BLÖD-Zeitung sich ausdrücken würde. Dabei geht es um das Verständnis, wie man zum Beispiel einen abgetrennten Finger nachwachsen lässt. Dies erreicht man durch die Untersuchung uralter Gene. Man nehme einen Vogel und ein Krokodil, und man bekommt einen Einblick in das Erbgut ihrer gemeinsamen Vorfahren: eines Reptils aus der Ära vor den Dinosauriern, das vor etwa zweihundertfünfzig Millionen Jahren gelebt hat. Schon vor der Jahrhundertwende war es einer Gruppe von Wissenschaftlern gelungen, das Wachstum von Zähnen in einem Hühnerschnabel ›einzuschalten‹. Die alten Baupläne sind noch vorhanden, nur für andere Zwecke entfremdet worden; alles, was man tun muss, ist nach dem richtigen molekularen Schalter zu suchen…«

Joan hob die Augenbrauen. »Meine Güte. Man könnte glatt meinen, es sei ihre Konferenz.«

»Die Frau ist im Show-Business tätig«, sagte Alyce mit kalter Geringschätzung. »Nicht mehr und nicht weniger.«

Mit Elan tippte Alison Scott auf die Kiste neben sich. Eine Wand wurde transparent. Der dicht gedrängten Menge entrang sich ein Keuchen – und dann ertönte ein gedämpfter Ruf. »Bitte bedenken Sie«, sagte Scott, »dass das, was Sie hier sehen, eine genetische Rekonstruktion ist – nicht mehr. Die Einzelheiten wie Hautfarbe und Verhalten hatte man willkürlich festlegen müssen…«

»Mein Gott«, sagte Alyce.

Die Kreatur in der Kiste sah auf den ersten Blick wie ein Schimpanse aus. Das nicht mehr als einen Meter große Geschöpf war ein Weibchen; die Brüste und Genitalien waren unverkennbar. Und sie beherrschte den aufrechten Gang. Joan erkannte das sofort an der besonderen Geometrie der seitlich ausgestellten Hüfte. Im Moment ging sie jedoch nirgends hin. Sie hatte sich in eine Ecke gekauert und die Beine an die Brust gezogen.

»Ich sagte Ihnen doch, Dr. Useb, dass Sie nicht im Staub nach Knochen buddeln müssen«, sagte Bex. »Nun können Sie sich mit Ihren Vorfahren treffen.«

Wider Willen war Joan fasziniert. Ja, sagte sie sich: Ich begegne meinen Vorfahren, den haarigen Großmüttern. Dafür habe ich mein Leben lang gearbeitet. Alison Scott versteht das offensichtlich. Aber ist diese arme Schimäre überhaupt real? Und wenn nicht – wie sahen sie wirklich aus?

Bex fasste Alyce impulsiv an der Hand. »Sehen Sie?« Die roten Augen leuchteten. »Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich wegen des Aussterbens der Bonobos keine Sorgen machen müssen.«

Alyce seufzte. »Aber Kind, wenn wir schon keinen Platz für die Schimpansen haben, wo sollen wir dann einen Platz für sie finden?«

Der geklonte Australopithecine fletschte vor Entsetzen in einem panischen Grinsen die Zähne.

KAPITEL 9 Die Läufer Zentral-Kenia, Ostafrika, vor ca. 1,5 Millionen Jahren

I

Sie liebte es zu rennen, mehr als alles andere in ihrem Leben. Das war es, wozu ihr Körper gemacht war.

Bei einem Sprint schaffte sie hundert Meter in sechs oder sieben Sekunden. Bei einer langsameren Gangart bewältigte sie eine Meile in drei Minuten. Sie konnte rennen. Wenn sie rannte, brannte der Atem in der Lunge, und die Muskeln der langen Beine und pumpenden Arme schienen zu glühen. Sie liebte das stechende Gefühl des Staubs, der auf der nackten, mit Schweiß überzogenen Haut klebte und den Ozon-Geruch des von der Sonne verbrannten, trockenen Landes.

Es war schon spät in der Trockenzeit. Die Mittagshitze lastete schwer auf der Savanne, und die im Zenit stehende Sonne erfüllte die Szenerie mit einer lichten Symmetrie. Das spärliche gelbe Gras zwischen den sanften vulkanischen Hügeln war überall von den großen Pflanzenfresser-Herden abgegrast und zertrampelt. Ihre Wanderwege, die sie kreuzte, waren wie Straßen, die Weiden und Wasserläufe miteinander verbanden. In diesem Zeitalter prägten die großen Grasfresser die Landschaft; von den vielen Arten von Menschen in der Welt hatte noch keine diese Rolle übernommen.

In der Mittagshitze versammelten die Grasfresser sich im Schatten oder lagen einfach im Staub. Sie sah statische Herden elefantenartiger Tiere, die wie graue Wolken in der Ferne anmuteten. Plumpe, langbeinige Straußenvögel pickten lustlos auf dem Erdboden. Schlanke Räuber schliefen bei ihren Jungen. Sogar die Aasfresser, die kreisenden Vögel und die flinken Hyänen ruhten sich von ihrem grässlichen Werk aus. Nichts regte sich außer dem Staub, den sie aufwirbelte, nichts außer ihrem Schatten, der zu einem dunklen Fleck unter ihr geschrumpft war.

Völlig in ihren Körper und die Welt versunken lief sie ohne Plan und Ziel, lief mit einer Geschmeidigkeit und Schnelligkeit, wie sie bisher keiner Primatenart zu Eigen gewesen war.

Sie dachte nicht in menschlichen Kategorien. Sie war sich nichts außer ihres Atems bewusst, der angenehmen schmerzenden Muskeln, des Bauchs und des Lands, das unter ihren Füßen dahinzufliegen schien. Dennoch sah dieses nackte Wesen aus wie ein Mensch.

Sie war groß – über hundertfünfzig Zentimeter; ihre Art war größer als alle anderen Vormenschen. Sie war schlank und geschmeidig und wog nicht mehr als fünfundvierzig Kilogramm; sie hatte dünne Gliedmaßen, Muskeln wie harte Knoten und einen flachen Bauch und Hinterteil. Sie war erst neun Jahre alt, stand aber schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden – die Hüften wurden schon breiter, und die kleinen festen Brüste waren schon gerundet. Aber sie war noch im Wachstum. Sie würde eine Größe von annähernd zwei Metern erreichen, die schlanken Proportionen aber beibehalten. Die verschwitzte Haut war kahl außer einem lockigen schwarzen Haarschopf und dunklen Haarbüscheln in der Schamgegend und unter den Armen. Sie hatte allerdings noch so viele Haare wie ein Menschenaffe, nur dass sie zu einem hellen Flaum reduziert waren. Ihr Gesicht war rund und klein mit einer fleischigen Stupsnase, die wie die eines Menschen hervorsprang und nicht wie bei einem Affen flach auflag.

Vielleicht war ihre Brust etwas hoch und etwas konisch; vielleicht hätte sie mit den langen Gliedmaßen auch etwas unproportioniert gewirkt. Aber ihr Körper lag bereits innerhalb der Grenzen menschlicher Variation; sie hätte als Bewohner einer Wüstenregion durchgehen können wie die Dinka im Sudan, die Massai und andere afrikanische Stämme, die eines Tages das Land durchstreifen würden, das sie nun durchquerte.

Sie wirkte menschlich. Nur der Kopf passte nicht ins Bild. Über den Augen verlief ein dicker Knochenwulst, der in eine lange, fliehende Stirn überging. Von dort verlief der Schädelknochen fast waagerecht bis zum Hinterkopf. Die Konturen des Kopfes wurden zwar durch das dichte Haar kaschiert, aber das geringe Schädelvolumen war trotzdem unverkennbar.

Sie hatte den Körper eines Menschen und den Schädel eines Affen. Aber die Augen waren klar und neugierig. Mit ihren neun Jahren war sie – in diesem kurzen Moment aus Leben, Licht und Freiheit und von der Freude über ihren Körper erfüllt – so glücklich, wie sie es nur zu sein vermochte. Für einen menschlichen Betrachter wäre sie eine Schönheit gewesen.

Ihre Leute waren Hominiden, den Menschen näher stehend als Schimpansen und Gorillas und mit der Spezies verwandt, die man eines Tages als Homo ergaster oder Homo erectus bezeichnen würde. In der ganzen Alten Welt lebten viele Varianten und noch mehr Sub-Spezies, die auf demselben Bauplan beruhten. Sie waren eine erfolgreiche und flexible Art, aber es gab nicht annähernd genug Knochen und Schädelfragmente, um ihre ganze Geschichte zu erzählen.

Irgendetwas stob vor ihren Füßen auf. Erschrocken und keuchend blieb sie stehen. Es war eine Schilfratte, ein Nagetier; es war bei der Nahrungssuche gestört worden und huschte davon.

Und sie hörte einen Schrei. »Weit! Weit!«

Sie schaute zurück. Ihre Leute, die sich in der Ferne verschwommen abzeichneten, hatten sich auf dem felsigen Abschnitt versammelt, wo sie die Nacht verbringen wollten. Einer von ihnen, ihre Mutter oder Großmutter, hatte den höchsten Punkt der Felsen erklommen und rief sie durch die vorm Mund zu einem Trichter geformten Hände an. »Weit!« Das war ein Ruf, den kein Menschenaffe hervorzubringen vermocht hätte, nicht einmal Capo. Das war ein Wort.

Die Sonne hatte den Zenit inzwischen überschritten, und die Schatten zu ihren Füßen wurden wieder länger. Bald würden die Tiere aufwachen, und sie wäre dann nicht mehr sicher und würde den Schutz der schlafenden sonnigen Welt verlieren.

Allein und so weit von ihren Leuten entfernt, verspürte sie einen Anflug von Furcht. Jeden Tag, wann immer die Gelegenheit sich ihr bot, rannte sie zu weit weg, und jeden Tag musste sie zurückgerufen werden. Sie hatte keinen Namen. Kein Hominide hatte sich bisher einen Namen gegeben. Doch wenn sie einen gehabt hätte, dann wäre es ›Weit‹ gewesen.

Sie drehte sich zum Felsen um und rannte mit stetigen, raumgreifenden Schritten auf ihn zu.

Die Gruppe umfasste vierundzwanzig Leute.

Die meisten Erwachsenen hatten sich über die Landschaft in der Nähe der verwitterten Sandsteinklippe verstreut. Sie bewegten sich wie schlanke Schatten durch das staubige Gelände und suchten lautlos und routiniert nach Nüssen und kleinen Tieren. Die Mütter kümmerten sich um die kleinsten Kinder; sie hatten sich bei ihnen am Rücken festgeklammert oder krabbelten ihnen zwischen den Füßen umher.

Weits Mutter durchsuchte einen kleinen Akazienhain, der von einer durchziehenden Deinotherium-Herde gründlich verwüstet worden war. Diese urtümlichen Elefantenartigen hatten mit den nach unten gerichteten Stoßzähnen und kurzen Rüsseln die Bäume umgeknickt und zersplittert, den Boden zertrampelt und die Wurzeln ausgerissen. Hominiden waren hier nicht die einzigen Nahrungssucher: Warzenschweine und Buschschweine stießen grunzend und quiekend die hässlichen Schnauzen in die aufgewühlte Erde. Die Zerstörung war erst vor kurzem erfolgt. Weit sah, wie große Käfer den frischen Deinotherium-Dung vergruben, und Erdferkel und Honigdachse wühlten auf der Suche nach den Käferlarven im Boden.

Ein solcher Platz war eine ergiebige Nahrungsquelle. Eine gute Strategie, in einem unbekannten Gebiet Nahrung zu finden, war die, den Spuren anderer Tiere zu folgen, insbesondere ›destruktiver‹ Arten wie Elefanten und Schweinen. In dem verwüsteten Wäldchen würde Weits Mutter Nahrung finden, die sonst verborgen oder unzugänglich gewesen wäre. Inmitten der gefällten Baumstämme fanden sich sogar Hebel, Widerlager und Grabstöcke, um Wurzeln aus dem Boden zu reißen, abgebrochene Äste, von denen man nur noch die Früchte pflücken musste und Palmsplitter, um Mark zu zapfen.

Weits Mutter war eine ruhige, stolze Frau und sogar für ihre Art groß gewachsen; auf sie hätte der Name Ruhig gepasst. Sie hatte zwei Kinder bei sich; das schlafende Baby über der Schulter und einen Sohn. Der Junge war halb so alt wie Weit, aber schon fast so groß wie sie. Ein dürrer Junge, den Weit sich als den Bengel vorstellte: frech, clever und unverschämt erfolgreich, wenn es darum ging, sich der Zuwendung und Großzügigkeit der Mutter zu versichern.

Ruhigs Mutter, Weits Großmutter, war bei ihr. Sie war Mitte Vierzig und schon zu steif, um noch eine große Hilfe bei der Nahrungssuche zu sein. Aber sie unterstützte ihre Tochter, indem sie ein Auge auf das jüngste Kind hatte. Kein Mensch hätte sich gewundert, alte Leute in dieser Gruppe zu sehen; das wäre nur allzu natürlich gewesen. Von den früheren Primaten-Arten war jedoch keine alt geworden – nur wenige hatten überhaupt über die fruchtbaren Jahre hinaus überlebt. Wieso sollten ihre Körper sie am Leben erhalten, wenn sie keinen Beitrag mehr zum Gen-Pool zu leisten vermochten? Doch nun war das anders; bei Weits Art spielten auch alte Leute eine Rolle.

Schnaufend und verstaubt erklomm Weit den Felsen. Er war nur eine hundert Meter durchmessende Erhebung mit Büscheln zähen Grases, ein paar Insekten und Eidechsen. Für die Leute war er jedoch eine temporäre Heimatbasis, eine Insel relativer Sicherheit in dieser offenen Savanne, diesem Meer voller Gefahren. Auf dem Felsen besserten zwei Männer hölzerne Speere aus. Sie wirkten abwesend und ließen die Blicke schweifen, als ob die Hände selbständig arbeiteten. Ein paar der älteren Kinder spielten und bereiteten sich auf diese Art aufs Erwachsenwerden vor. Sie balgten sich, spielten Fangen und übten schon einmal das Balzen. Zwei Sechsjährige spielten ›Onkel Doktor‹ und fummelten sich gegenseitig an den Brustwarzen und Bäuchen herum.

Weit war kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen und in dieser Gruppe die Einzige in ihrem Alter. Deshalb sonderte sie sich von den anderen ab und bestieg den Gipfel dieses erodierten Sandsteinfelsens. Sie fand ein Stück eines Antilopenkiefers, den ein Aasfresser hier abgelegt hatte und der von hungrigen Mündern und emsigen Insekten sauber abgenagt worden war. Sie zerschmetterte den Knochen auf dem Stein und schabte mit einer scharfen Kante den Schweiß und Schmutz von Beinen und Bauch.

Von dieser Warte breitete die Landschaft sich wie ein komplexes Panorama aus. Es war ein weites Tal. Ein Ensemble aus Kuppen, erstarrten Lavaströmen, Verwerfungen und Kratern kündete von geologischen Apokalypsen. Im Osten – und hinterm Horizont im Westen – hatte das Land sich aufgewölbt und bildete ein mit fruchtbarem vulkanischem Boden überzogenes Plateau, das bis zu einer Höhe von dreitausend Metern aufragte. Dieses Plateau lief in einer senkrecht ins Tal abstürzenden Wand aus.

Dies war das Rift Valley, ein Riss zwischen zwei aneinandergrenzenden tektonischen Platten. Vom Roten Meer und Äthiopien im Norden verlief er dreitausend Kilometer durch Kenia, Uganda und Tansania und endete in Mosambik im Süden. Seit zwanzig Millionen Jahren hatte die geologische Aktivität in dieser großen Wunde Vulkane erschaffen, Hochländer emporgehoben und Tiefebenen zu Tälern gefaltet, die Wasser zu den größten Seen des Kontinents leiteten. Das Land war auch umgeformt worden, indem Ascheschicht auf Ascheschicht gepackt und breite Lagen aus Schiefer und Schlammstein eingezogen wurden. An den vulkanischen Hängen wuchsen Regenwälder, und ein Flickenteppich aus Vegetation – Waldgebiete, Savanne und Buschland – bedeckte den Boden des Tals. Es war ein üppiger, bunter und vielgestaltiger Ort.

Und er war voller Tiere.

Als die Sonne sich dem Horizont entgegensenkte, wurden die Tiere der Savanne lebendig. Die Nilpferde suhlten sich in den Feuchtgebieten, und die Herden der majestätischen Elefantenartigen wanderten gemächlich über das Grasland. Es gab viele Elefantenarten, die sich nur in der Form des Rückens, des Kopfes und des Rüssels geringfügig unterschieden.

Sie verständigten sich mit lautem Trompeten und zogen wie Geisterschiffe durchs Staub-Meer, das sie aufwirbelten. Wie diese großen Pflanzenfresser hingen auch viele andere Arten vom Gras ab: Hasen, Wildschweine, Schilfratten und Wühlschweine. Zu den Jägern der Pflanzenfresser zählten Schakale, Hyänen und Mungos, die wiederum noch stärkeren Tieren als Beute dienten.

Die Tiere der Savanne wären menschlichen Betrachtern erstaunlich bekannt vorgekommen, denn sie hatten sich schon gut an die dort herrschenden Bedingungen angepasst. Aber der Reichtum und die Vielfalt des Lebens hier hätten einen Beobachter dennoch verblüfft, der nur das Afrika des Menschenzeitalters kannte. Dies war mit Blick auf Anzahl, Vielfalt und Populationsgröße der Säugetierarten die reichste Region der Erde. An diesem überfüllten Ort mit dem fein austarierten Ökosystem lebten Savannen-Bewohner wie Antilopen und Elefanten direkt neben Waldbewohnern wie Schweinen und Ratten. Das Rift Valley war eine üppige Landschaft, die vielen Tierarten wie Elefanten, Schweinen, Antilopen – und Hominiden Gelegenheit zur Anpassung geboten hatte. Das war der Schmelztiegel, in dem Weits Art sich entwickelt hatte.

Aber sie waren nicht hier geblieben.

Nach Capos Ära hatte Weits Art die letzten urzeitlichen Fesseln des Walds abgestreift, war zu Nomaden geworden und hatte sich über Afrika hinaus ausgebreitet: Die ersten Hominiden waren bereits entlang der ganzen Südküste der asiatischen Landmasse ausgeschwärmt. Doch dann hatten Weits Großmütter unwissentlich einen großen Bogen nach Norden, Osten und Süden geschlagen und waren nach vielen Generationen hierher zurückgekehrt, an den Ort, an dem ihre Art entsprungen war.

Weit saß auf der Felskuppe und ließ den Blick prüfend und berechnend über die Landschaft schweifen. Auf ihren Wanderungen folgten die Leute meistens Wasserläufen. Sie waren von Norden zu diesem Ort gekommen, und sie sah den Strom, dem sie gefolgt waren – eine silberne Schlange, die sich durch das Gras und das Buschland schlängelte. Entlang der Ufer war das Land morastig und mit Nährstoffen schier geschwängert. Dort wuchs eine Vielfalt von Bäumen, Büschen und Gräsern, zwischen denen statuettenartige Termitenhügel aufragten. Im Osten stieg das Gelände an und wurde trocken und öde, und im Westen wurde der Wald dichter und bildete einen undurchdringlichen Gürtel. Als sie jedoch nach Süden schaute, erkannte sie die Möglichkeiten von morgen, einen Savannen-Korridor mit der Mischung aus Gras, Büschen und Wäldchen, wie die Leute sie bevorzugten.

Weit war noch jung. Sie machte sich erst noch mit der Welt vertraut und lernte, wie sie sie sich zunutze machen konnte. Aber sie hatte ein tiefes Verständnis der Umwelt. Sie war bereits in der Lage, eine unbekannte Landschaft wie diese einzuschätzen und Nahrungs-, Wasser- und Gefahrenquellen auszumachen – und sogar Routen für die weitere Wanderung zu planen.

Diese Fähigkeit war notwendig. Nachdem Weits Art durch widrige Umstände auf offenes Land verschlagen worden war, hatte sie ein neues Bewusstsein für die Natur entwickeln müssen. Sie war gezwungen, die Gewohnheiten der Wildtiere zu verstehen, die Verteilung der Pflanzen, den Wechsel der Jahreszeiten und die Bedeutung von Spuren, um die endlosen Rätsel der komplexen Savanne – die keinen Fehler verzieh – zu lösen. Im Gegensatz dazu hatte ihr entfernter Vorfahr Capo, der ein paar tausend Kilometer nordwestlich von diesem Ort gelebt hatte und gestorben war, die Merkmale seines üppigen Waldes sich eingeprägt: Unfähig, das Land zu begreifen und neue Muster zu erkennen, hatte das Neue ihn immer wieder in Staunen versetzt.

Nun kehrten die Erwachsenen mit den Kindern zum Felsen zurück. Sie brachten Nahrung mit. Weil sie nackt waren, trugen sie nur so viel, wie sie mit den Händen zu greifen und im Arm zu halten vermochten. Die meisten von ihnen kauten mit vollem Mund. Die Leute aßen so schnell sie konnten. Sie bedienten sich selbst und fütterten nur enge Familienangehörige, wobei sie auch einem Mundraub nicht abgeneigt waren, wenn sie glaubten, nicht dabei erwischt zu werden. Die Mahlzeit verlief schweigend und wurde nur von Rülpsern, genüsslichem beziehungsweise ärgerlichem Grunzen unterbrochen, wenn jemand einen verfaulten Happen erwischte und einem gelegentlichen Wort – »Mir!«, »Nuss«, »Knacken«, »Weh weh weh…«

Das waren simple Substantive und Verben, besitzanzeigende und fordernde Sätze aus einem Wort ohne inhaltliche und grammatische Struktur. Und doch war es eine Sprache: Die Worte waren Begriffe, die sich auf konkrete Dinge bezogen – ein System, das dem Schnattern von Capos Horde und allen anderen Tieren weit überlegen war.

Da kam Weits Bruder, der Bengel. Er trug den schlaffen Kadaver eines kleinen Tieres, vielleicht eines Hasen. Und ihre Mutter Ruhig trug einen Arm voll Wurzeln, Früchte und Palmmark.

Weit bekam plötzlich Hunger. Sie eilte wimmernd, mit ausgestreckten Armen und offenem Mund zu ihrer Mutter.

Ruhig zischte sie an und drehte sich mit der Nahrung theatralisch von ihrer Tochter weg. »Mir! Mir!« Das war ein Tadel, der von bösen Blicken ihrer Großmutter noch verstärkt wurde. Weit war nämlich schon zu alt, um wie ein kleines Kind zu betteln. Sie hätte lieber mitkommen und ihrer Mutter helfen sollen, anstatt ihre Energie damit zu vergeuden, sinnlos durch die Landschaft zu laufen. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder, dem Bengel, der hart gearbeitet und sogar eigenes Fleisch erbeutet hat… All das in einem Wort.

Man lebte nicht mehr so in den Tag hinein wie in Capos Zeit. Heute versuchten die Erwachsenen, den Kindern etwas beizubringen. Die Welt war zu komplex geworden, als dass die Kinder noch die Zeit gehabt hätten, alle Überlebens-Techniken von Grund auf zu erlernen; man musste sie das Überleben lehren. Und eine der Aufgaben der Alten wie Weits Großmutter bestand darin, ihnen dieses Wissen zu vermitteln.

Dennoch streckte Weit wieder die Hände aus und winselte kläglich wie ein Tier. Nur noch dieses eine Mal. Nur noch heute. Morgen werde ich mithelfen.

»Graah!« Wie Weit kalkuliert hatte, ließ Ruhig die Nahrung auf den Boden fallen. Sie hatte Nüsse und Schmink-Bohnen gesammelt und gab Weit eine Schote, in die sie gleich hineinbiss.

Bengel setzte sich zu seiner Mutter. Er war noch zu jung, um bei den Männern zu sitzen, die sich über ihre eigene Nahrung hermachten. Bengel hatte seinen Hasen mit aller Kraft mittendurch gerissen. Nun riss er den Kopf und die Gliedmaßen ab und schlitzte mit einem spitzen Stein den Brustkorb auf. Aber der kleine Metzger mühte sich sichtlich.

Seine Familie wusste es nicht, aber er war schwer an Hypervitaminose erkrankt. Ein paar Tage zuvor hatte einer der Männer ihm ein paar Brocken von einer Hyänenleber gegeben, die sie in einem kurzen Kampf über den Überresten einer Antilope erlegt hatten. Wie bei den meisten Fleisch fressenden Räubern war die Leber voller Vitamin A gewesen, und diese schleichende Vergiftung würde sich bald im Körper des Jungen bemerkbar machen.

In einem Monat würde er tot sein. In einem Jahr hätte selbst seine Mutter ihn vergessen.

Doch fürs Erste knuffte Ruhig ihn sanft, nahm ihm einen Teil des Hasen ab und gab ihm zu verstehen, dass er mit seiner Schwester teilen sollte.

Seit Capos Zeit war die Welt ständig kühler und trockener geworden.

Nördlich des Äquators erstreckte ein großer Taiga-Gürtel sich über Nordamerika und Asien um die Welt – ein Wald aus immergrünen Bäumen. Und im hohen Norden hatte sich zum ersten Mal seit dreihundert Millionen Jahren eine Tundra herausgebildet. Der Lebensraum, den die Tiere in der Taiga vorfanden, war karg im Vergleich zu den alten Mischwäldern aus Laub- und Nadelbäumen. Gleichzeitig dehnte das Grasland sich aus – Gras war anspruchsloser als Bäume. Jedoch vermochten die Grasflächen im Vergleich zu den schrumpfenden Waldgebieten nur einer verringerten Zahl von Tierarten einen Lebensraum zu bieten. Schließlich kam es im Lauf der Austrocknung wieder zu einem Artensterben.

Trotz abnehmender Qualität war die Quantität des Lebens aber erstaunlich.

Das Erfordernis, jahreszeitlich bedingte Verknappungen des Nahrungsangebots zu überstehen und die Anforderung an den Magen, ganzjährig minderwertige Nahrung zu verdauen, begünstigte die Entwicklung großer Pflanzenfresser. Große Säugetiere, eine neue ›Megafauna‹ in einem Maßstab, wie man ihn seit dem Tod der Dinosaurier nicht gesehen hatte, breiteten sich über die Welt aus. Die urtümlichen Mammuts hatten sich bereits über das nördliche Eurasien verbreitet und wanderten über Landbrücken, die durch den sinkenden Meeresspiegel in regelmäßigen Abständen geschlagen wurden, nach Nordamerika ein. Die in gemäßigtem Klima lebenden Tiere hatten kein Fell und ernährten sich von Blättern anstatt von Gras. Sie sahen aus wie typische Elefanten, hatten aber schon die hohen Kronen und geschwungenen Stoßzähne ihrer wuscheligen Nachfahren.

Gleichzeitig existierten Riesenkamele in Nordamerika, und Asien und Afrika wurden vom mächtigen moschusochsenartigen Sivatherium durchstreift. Eine Art großes Nashorn mit der Bezeichnung Elasmotherium machte das nördliche Eurasien unsicher. Für ein Rhinozeros hatte es lange Beine und ein Horn, das eine Länge von bis zu zwei Metern erreichte. Es sah aus wie ein muskulöses Einhorn.

Und im Gefolge dieser mächtigen Fleischpakete tauchten neue spezialisierte Räuber auf. Die neu entwickelten Katzen hatten die Technik des Tötens perfektioniert. Mit den seitlichen Reißzähnen vermochten sie die Haut zu durchstoßen, zu zerfetzen und in den Körper einzudringen, um dann mit den Schneidezähnen ins Fleisch zu beißen. Die Säbelzahntiger waren die Krönung. Sie waren doppelt so groß wie die Löwen des Menschenzeitalters und mächtige, muskulöse Räuber. Sie hatten die Statur von Bären und kurze kräftige Gliedmaßen. Sie waren auf Kraftentfaltung ausgelegt, nicht auf Geschwindigkeit, und jagten aus dem Hinterhalt. Ihr Maul war so groß, dass sie die Beute darin zu zermalmen vermochten. Gegen die Katzen wirkten selbst die Hunde wie Generalisten; die Katzen wurden die perfekten Landjäger.

Da ertönte ein Ruf von der Ebene. »Schau, schau! Ich, schau ich!« Leute standen auf und schauten, was los war.

Ein Mann näherte sich. Er war groß, muskulöser als der Rest und hatte einen dicken Augenwulst, der wie ein Erker vorsprang. Dieser Mann, Braue, hatte derzeit die Führung inne und war der Chef der engen, wettbewerbsorientierten Gemeinschaft der Männer. Und er hatte sich ein totes Tier um die Schultern gelegt, eine junge Elenantilope.

Die acht anderen erwachsenen Männer der Gruppe jubelten und schrien pflichtschuldig und rannten den felsigen Abhang hinunter. Sie klopften Braue auf den Rücken und strichen respektvoll über das Tier. Dann liefen sie umher und führten einen Freudentanz auf, wobei sie eine spektakuläre Staubwolke aufwirbelten, die glühend im Licht der untergehenden Sonne hing. Gemeinsam schleppten sie die Antilope den Hang hinauf und warfen sie auf den Boden. Die älteren Kinder kamen herbei gerannt, bestaunten das Tier und stritten sich schon um das Fleisch. Bengel war auch dabei. Er war aber schon so geschwächt, dass die anderen Kinder ihn mit Leichtigkeit abdrängten. Weit sah, dass ein abgebrochener Speer in der Brust der Antilope steckte. Damit hatte Braue seine Beute getötet; er hatte wohl im Hinterhalt gelegen und den Speer vielleicht dort stecken lassen, um seine Leistung zu dokumentieren.

Braue protzte inzwischen mit einer eindrucksvollen Erektion. Die Frauen, einschließlich Ruhig, Weits Mutter, machten subtile Zeichen der Bereitwilligkeit – eine einladende Handbewegung hier, leicht gespreizte Schenkel dort.

Weit, die noch keine Frau, aber auch kein Kind mehr war, hielt sich im Hintergrund. Sie knabberte an einer Wurzel und harrte der Dinge, die da kommen würden.

Ein paar Erwachsene hatten vulkanische Kieselsteine aus dem nahe gelegenen Fluss mitgebracht. Nun bearbeiteten Männer und Frauen die Kieselsteine mit flinken Bewegungen, wobei sie die Steine mit den Fingern erforschten. Die Steine verwandelten sich ohne eine bewusste Anstrengung in Werkzeuge – dies war eine schon alte Fähigkeit, die in einen separaten Abschnitt eines starr strukturierten Bewusstseins eingebettet war –, und schon nach wenigen Minuten hatten sie primitive, aber brauchbare Hack- und Schneidwerkzeuge angefertigt. Sobald ein Werkzeug fertig war, fiel der Hersteller damit über die Antilope her.

Die Haut wurde vom After bis zum Hals aufgeschnitten und vom Körper abgezogen. Die Haut wurde weggeworfen; bisher hatte noch niemand eine Verwendung für Tierhäute gefunden. Der Kadaver wurde schnell zerlegt. Die scharfen Steinklingen schnitten in Gelenke, trennten Gliedmaßen ab und zerteilten sie, durchdrangen den Brustkorb, legten die weichen, warmen inneren Organe frei und lösten schließlich das Fleisch von den Knochen.

Es war eine schnelle, effiziente und fast unblutige Angelegenheit: Hier waren erfahrene Fleischer am Werk, die ihr Handwerk durch Generationen lange Übung erlernt hatten. Aber die Fleischer arbeiteten nicht zusammen. Obwohl sie Braue respektierten und ihm zugestanden, sich die besten Stücke sowie Herz und Leber zu nehmen, konkurrierten sie beim Ausnehmen des Kadavers und grunzten und gifteten sich gegenseitig an. Trotz der Werkzeuge in den Händen machten sie sich wie ein Wolfsrudel an der Antilope zu schaffen.

Die Frauen beteiligten sich kaum am Kampf ums Fleisch. Der unspektakuläre Streifzug durch den Akazienhain und das umliegende Gelände war erfolgreich gewesen, und ihre Bäuche und die der Kinder waren schon voller Feigen, Lavendel, Beeren, Grasschösslingen und Wurzeln – Früchte des Landes, die man vorm Essen nicht großartig zubereiten musste.

Als das Fleisch fast vollständig entbeint war, schritt man zur Verteilung. Braue stolzierte mit dem Messer in der einen und einem großen Haxenstück in der anderen Hand zwischen den Männern umher. Er schnitt Stücke vom Fleisch ab und reichte sie an ein paar Männer weiter – aber nicht an alle. Diejenigen, die er übergangen hatte, wandten sich ab. Doch sie würden später versuchen, Stücke des besten Fleischs von den anderen zu klauen. All das gehörte zu den endlosen Machtspielchen der Männer.

Dann machte Braue den Frauen seine Aufwartung und überreichte ihnen Fleischstücke wie ein huldvoller König. Vor Ruhig blieb er mit seiner stolzen Erektion stehen und schnitt ein großes zartes Stück aus der Keule. Mit einem Seufzer nahm sie es an. Sie aß etwas davon und legte den Rest dann neben ihrem Kind ab, das in einem Nest aus trockenem Gras schlief. Dann legte sie sich auf den Rücken, öffnete die Schenkel und streckte die Arme aus, um Braue zu empfangen.

Braue war nicht primär aus dem Grund jagen gegangen, um seine Leute mit Nahrung zu versorgen. Großwild bildete nur die Spitze der Nahrungspyramide der Gruppe; der größte Teil war pflanzliche Nahrung, Nüsse, Insekten und kleine Tiere, die von den Frauen, älteren Kindern und Männern gleichermaßen erbeutet wurden. Großwild eignete sich als Nahrungsreserve für schlechte Zeiten – zum Beispiel Dürre, Überschwemmungen oder harte Winter. Jedoch zog der Jäger einen mehrfachen Nutzen aus der Jagd. Mit dem Fleisch der Antilope vermochte Braue seine Machtposition unter den Männern zu stärken und sich zugleich Zugang zu den Frauen zu verschaffen, was der eigentliche Zweck seines endlosen Kampfs um die Macht war.

Mit der größeren Intelligenz, dem großen unbehaarten Körper und der rudimentären Sprache waren sie die menschlichsten Geschöpfe, die bis dato existiert hatten. Dennoch wäre ihre Lebensweise Capo in vielerlei Hinsicht vertraut gewesen. Braues Vorfahren waren schon in dieses gesellschaftliche Muster gefallen – Männchen, die um die Vorherrschaft kämpften, Weibchen, die durch Blutsbande miteinander verbunden waren, und Jagen, um sich Vorteile zu verschaffen –, lange bevor Capo den schicksalhaften Entschluss getroffen hatte, sein Wäldchen zu verlassen. Es gab auch andere Lebensweisen für Primaten, und es wären auch andere Gesellschaften denkbar gewesen. Doch nachdem das Muster sich erst einmal etabliert hatte, war es kaum noch möglich, es aufzubrechen.

Zumal das System gut funktionierte. Die Nahrung wurde verteilt, und der Frieden wurde gewahrt. Auf die eine oder andere Art wurden die Leute mit Nahrung versorgt.

Als Braue ejakuliert hatte, wischte Ruhig die Schenkel mit Blättern ab und widmete sich wieder dem Fleisch. Sie benutzte eine weggeworfene Steinklinge, um es zu schneiden und gab einen Teil davon ihrer Mutter, die schon zu alt war, als dass Braue sich noch für sie interessiert hätte. Den Rest gab sie Weit, die gierig darüber herfiel.

Und später, als die Dämmerung einsetzte, machte Braue sich an Weit heran. Sie sah ihn als eine große, fleischige Silhouette gegen den roten Sonnenuntergang. Er hatte seine Portion des Eland-Fleischs schon fast verspeist, aber sie roch noch das Tierblut an ihm. Er hatte einen Beinknochen dabei. Er ging vor ihr in die Hocke und beschnüffelte sie neugierig. Dann schlug er den Knochen auf den Stein, sodass er zerbrach. Sie roch das leckere Mark, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Ohne zu überlegen griff sie nach dem Knochen.

Er zog ihn zurück und lockte sie zu sich.

Je näher sie kam, desto deutlicher roch sie ihn: das Blut, den Schmutz, den Schweiß und einen schwachen Geruch von Sperma. Dann erbarmte er sich und gab ihr den Knochen, den sie gierig ausschleckte. Währenddessen legte er ihr die Hand auf die Schulter und streichelte ihr über den Körper. Sie versuchte nicht zurückzuzucken, als er ihre kleinen Brüste berührte und an den Brustwarzen zog. Doch als er ihr mit den tastenden Fingern zwischen die Beine griff, stieß sie einen leisen Schrei aus. Er zog die Hand zurück und roch ihren Geruch. Dann gelangte er offensichtlich zu dem Schluss, dass sie ihm nichts zu bieten hatte und zog grunzend weiter.

Aber das Mark hatte er ihr dagelassen. Gierig schlang sie es hinunter und verspeiste den größten Teil, ehe der Knochen ihr von einer alten Frau entrissen wurde.

Das Licht verschwand schnell vom Himmel. In der Savanne erwachten die Räuber zum Leben und markierten ihr blutiges Reich mit Gebrüll.

Die Leute versammelten sich auf der Felseninsel. Hier an diesem unwirtlichen Ort sollten sie eigentlich sicher sein: Ein lüsterner Räuber würde sich aus der Deckung wagen und hier heraufklettern müssen, wo er intelligenten, großen und bewaffneten Hominiden gegenüberstand. Doch eine Garantie gab es nicht. Hier in der Gegend gab es einen Säbelzahntiger namens dinofelis, der wie ein übergroßer Jaguar aus dem Hinterhalt jagte und sich aufs Töten von Hominiden spezialisiert hatte. Dinofelis vermochte sogar auf Bäume zu klettern.

Mit Anbruch der Dunkelheit gingen die Leute ihren Verrichtungen nach. Ein paar nahmen Nahrung auf. Andere betrieben Körperpflege, reinigten schmutzige Fußnägel und drückten Blasen aus. Manche fertigten Werkzeuge. Viele dieser Aktivitäten waren monoton und ritualistisch. Im Grunde war niemand sich bewusst, was er tat.

Ein paar Leute kämmten sich: Mütter mit Kleinkindern, Geschwister, Paarungsgefährten, Frauen und Männer festigten ihre subtilen Bande. Weit war mit dem dichten Haupthaar ihrer Mutter zugange und frisierte es zu einer Art Zopf. Auch jetzt bedurfte das Haar noch intensiver Pflege. Sonst verfilzte es und zog Läuse an, die dann auch noch entfernt werden mussten.

Diese Leute waren die einzige Säugetier-Spezies, deren Haarkleid nicht wartungsfrei war – im Gegensatz zur prächtigen Mähne, die manche Affen zierte. Weit musste sich sogar regelmäßig die Haare schneiden lassen. Jedoch war den Leuten nur deshalb Haar gewachsen, weil sie etwas zum Kämmen brauchten. Hier draußen in der Savanne zahlte es sich aus, Mitglied einer großen Gruppe zu sein, und die Gruppe brauchte soziale Mechanismen, um den Zusammenhalt zu gewährleisten. Allerdings hatte man heute keine Zeit mehr für die ausgiebige Ganzkörper-Fellpflege der alten Affen, der Capo und seine Vorfahren gefrönt hatten. Wie sollte man auch eine Haut kämmen, die so kahl geworden war, dass sie schwitzen konnte. Dennoch hielten sie mit dieser primitiven Frisiertechnik eine alte Tradition aufrecht.

Die Art und Weise, wie die Leute bei den Verrichtungen sich verständigten, war nicht mit einer menschlichen Gruppe zu vergleichen. In der zunehmenden Dunkelheit drängten sie sich schutzsuchend zusammen, aber es fehlte ein richtiges Gemeinschaftsgefühl. Es gab kein Feuer, keine Kochstelle, keinen organisatorischen Mittelpunkt. Sie wirkten menschlich, aber ihr Bewusstsein glich nicht dem der Menschen.

Wie schon in Capos Zeit praktizierten sie ein striktes ›Schubladendenken‹. Der eigentliche Zweck von Bewusstsein bestand nach wie vor darin, den Leuten bei der Ermittlung dessen zu helfen, was im Bewusstsein der anderen vorging: Sie hatten nur ein Selbst-Bewusstsein im menschlichen Sinn, wenn sie miteinander umgingen. Die Grenzen des Bewusstseins waren viel enger als bei den Menschen; es gab vieles, was im Dunklen lag und das sie taten, ohne darüber nachzudenken. Selbst bei der Werkzeugfertigung und der Nahrungszubereitung arbeiteten die Hände selbständig; das Bewusstsein führte nicht mehr Regie als bei Löwen oder Wölfen. Ihr Bewusstsein war gleitend und fließend. Sie fertigten Werkzeug so unbewusst, wie Menschen gingen und atmeten.

Dennoch pflegte die Gruppe – ob Mensch oder nicht – eine Kommunikation. Diese Verständigung erfolgte zwischen Müttern und Kindern, den sich gegenseitig Kämmenden und den Paaren. Es wurden jedoch nicht viele Informationen ausgetauscht; die ›Gespräche‹ waren kaum mehr als lustvolle Seufzer, wie das Schnurren von Katzen.

Aber ihre Worte klangen wie Worte.

Die Leute hatten lernen müssen, mit einer Ausstattung zu kommunizieren, die für andere Aufgaben gedacht war – ein Mund, der essen sollte, Ohren, die nach Gefahren lauschen sollten – und die nun behelfsmäßig eine andere Funktion übernehmen musste. Der aufrechte Gang hatte ihnen dabei geholfen: Die Verlagerung des Kehlkopfs und eine Veränderung der Atemtechnik hatten die Qualität der Laute verbessert, die sie zu erzeugen vermochten. Um von Nutzen zu sein, mussten Laute aber schnell zu identifizieren und eindeutig sein. Und die Hominiden vermochten das nur in dem Maß zu leisten, wie die Anlagen es ihnen ermöglichten. Während die Leute sich gegenseitig zuhörten, nützliche Laute imitierten und in anderen Situationen verwendeten, hatten Phoneme – die kleinste unterscheidbare lautliche Einheit, in die Sprache zerlegt werden kann – sich in Abhängigkeit von kommunikativen Erfordernissen und anatomischen Beschränkungen herausgebildet.

Aber es gab noch nichts wie eine Grammatik – also keine Sätze – und gewiss keine Narrativen, keine Geschichten. Und der eigentliche Zweck der Kommunikation bestand auch noch nicht darin, Informationen weiterzugeben. Niemand sprach über Werkzeuge, Jagd oder Nahrungszubereitung. Sprache war sozial: Sie wurde für Befehle und Forderungen verwendet, für den Ausdruck von Freude und Schmerz. Und sie trat an die Stelle des Kämmens: Mit Sprache, selbst wenn sie weitgehend inhaltsleer war, vermochte man viel schneller Beziehungen herzustellen und zu verstärken, als wenn man Läuse aus dem Schamhaar zupfte. Und man vermochte sogar mehrere Leute gleichzeitig zu ›kämmen‹.

Dabei war die Entwicklung der Sprache hauptsächlich durch den Mutter-Kind-Kontakt vorangetrieben worden. Zu dieser Zeit sprachen die Vorfahren der menschlichen Geistesgrößen nur ›Mütterisch‹.

Und die Kinder sprachen gar nicht.

Das Bewusstsein der Erwachsenen entsprach hinsichtlich der Komplexität etwa dem eines heutigen fünf Jahre alten Kindes. Die Kinder jener Zeit erlangten erst als Erwachsene die Sprachfähigkeit – vorher reichte es nur zu einem schimpansenartigen Schnattern. Es war auch erst ein, zwei Jahre her, seit die Worte der Erwachsenen einen Sinn für Weit ergaben, und Bengel vermochte mit sieben noch gar nicht zu sprechen. Die Kinder waren wie Menschenaffen, geboren von menschlichen Eltern.

Als das Licht erlosch, legte die Gruppe sich schlafen.

Weit schmiegte sich an die Beine ihrer Mutter. Der zu Ende gehende Tag wurde zu einem Glied in einer langen Kette von Tagen, die bis zum Anfang ihres Lebens zurückreichte – Tage, an die sie sich nur verschwommen erinnerte und zu denen sie kaum einen Bezug herzustellen vermochte. In der Dunkelheit stellte sie sich vor, wie sie in die gleißende Helligkeit des Tags hineinrannte, rannte und rannte.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie zum letzten Mal neben ihrer Mutter einschlief.

II

Vor einer Million Jahren hatte die tektonische Drift langsam, aber unaufhaltsam zu einer Kollision zwischen Nordund Südamerika geführt, bei der der Isthmus von Panama entstanden war.

An und für sich schien das ein nichtiges Ereignis zu sein, und Panama ein vernachlässigbares Landstück. Doch wie damals schon Chicxulub war diese Region wieder einmal zum Epizentrum einer weltweiten Katastrophe geworden.

Durch Panama nämlich wurde der alte äquatoriale Fluss, der zwischen den beiden amerikanischen Teilkontinenten hindurchströmte – die letzte Spur der paradiesischen Tethys-Strömung –, blockiert. Nun waren die mächtigen interpolaren Flüsse die einzigen atlantischen Strömungen, die wie große Fließbänder kaltes Wasser transportierten. Die weltweite Abkühlung verstärkte sich dramatisch. Die verstreuten Eisberge, die im Nordmeer schwammen, vereinigten sich, und Gletscher breiteten sich wie Klauen über die nördlichen Landmassen aus.

Die Eiszeit hatte begonnen. In ihrer größten Ausdehnung würden die Gletscher über ein Viertel der Erdoberfläche bedecken; das Eis würde sich bis hinunter nach Missouri und Südengland erstrecken. Die Zerstörung war gewaltig. Beim Durchgang der Gletscher wurde das Land bis aufs Urgestein abgehobelt. Zurück blieben Berge mit kahlen Flanken, polierten Oberflächen und gefräste, mit Geröll übersäte Täler. Seit zweihundert Millionen Jahren hatte es auf der Erde keine nennenswerte Vergletscherung gegeben; und nun wurde ein Vermächtnis aus Gestein und Knochen, das tief ins Zeitalter der Dinosaurier zurückreichte, völlig zerstört.

Auf dem Eis selbst vermochte nichts zu leben – rein gar nichts. Am Rand des Eises breiteten sich öde Tundra-Gürtel aus. Selbst an weit vom Eis entfernten Orten wie in den Äquatorialregionen Afrikas verschärften Änderungen der Windmuster die Trockenheit, und die Vegetation zog sich an die Küsten und Flussufer zurück.

Die Abkühlung verlief jedoch nicht einheitlich. Der Planet neigte sich und schwankte in seinem endlosen Tanz um die Sonne, änderte unmerklich den Neigungswinkel, die Inklination und die ›Feinabstimmung‹ der Umlaufbahn. Und mit jedem Zyklus kam und ging auch das Eis, sodass der Meeresspiegel schwankte wie der Kammerinhalt des pumpenden Herzens. Selbst das Land, das von kilometerdickem Eis zusammengepresst oder durch sein Abschmelzen freigegeben wurde, hob und senkte sich wie eine steinige Flut.

Manchmal war der Klimawechsel geradezu brutal. Binnen eines einzigen Jahrs konnte der Schneefall in einem Gebiet sich verdoppeln und die Durchschnittstemperatur um zehn Grad fallen. Lebewesen, die mit so krassen Schwankungen konfrontiert wurden, zogen weg oder starben.

Sogar die Wälder marschierten. Die Fichte erwies sich als ein schneller Wanderer und vermochte alle zwei Jahre einen Kilometer zurückzulegen. Die Kiefer war ihr dicht auf den Fersen. Die großen Walnussbäume, massive Stämme mit schweren Samen, schafften immerhin hundert Meter pro Jahr. Vor den Eiszeiten waren die Tiere der mittleren Breiten der nördlichen Hemisphäre eine bunte Mischung aus äsenden Herdentieren wie Damwild und Pferden gewesen, mit großen Pflanzenfressern wie Nashörnern und schnellen Fleischfressern wie Löwen und Wölfen. Nun wanderten die Tiere auf der Suche nach Wärme gen Süden. Populationen von Tieren aus verschiedenen Klimazonen wurden vermischt und waren gezwungen, sich in schnell verändernden ökologischen Arenen zu behaupten.

Manche Lebewesen passten sich jedoch an die Kälte an und nutzten das Nahrungsangebot, das am Rand der Eisschilde noch existierte. Viele Tiere wie Nashörner und kleinere Tiere wie Füchse, Hunde und Katzen bildeten ein dichtes Fell und eine Fettschicht aus. Andere machten sich die starken Temperaturschwankungen zwischen den Jahreszeiten zunutze. Sie wanderten – im Frühling nach Norden und im Herbst nach Süden. Die Ebenen wurden zu einem Tummelplatz des Lebens, wo große mobile Gemeinschaften von geduldigen Jägern belauert wurden.

Die Vereinigung der beiden amerikanischen Kontinente war eine Katastrophe. Nord- und Südamerika waren getrennt gewesen, seit Pangäa vor etwa hundertfünfzig Millionen Jahren auseinander gebrochen war. Die Fauna Südamerikas hatte sich in der Isolation entwickelt und wurde von Beutel-Säugetieren und Huftieren dominiert. Es gab Beutel-›Wölfe‹ und Säbelzahn-›Katzen‹, behufte ›Kamele‹, Rüssel-›Elefanten‹ und riesige Boden-Faultiere, die bis zu drei Tonnen wogen und sechs Meter groß waren, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellten und an Palmblättern knabberten. Es gab noch immer Glyptodonten, der riesigen gepanzerten Bestie gar nicht so unähnlich, die Streuner erschreckt hatte, und die Räuber waren große flügellose Vögel wie in den ›alten Zeiten‹. Dieses exotische Ensemble hatte sich isoliert entwickelt, obwohl es hin und wieder mit Fremden angereichert worden war, die auf Flößen oder Landbrücken herkamen – wie Streuner und ihre glücklosen Gefährten, deren Kinder die südamerikanischen Dschungel mit Affen bevölkert hatten.

Als jedoch die Landbrücke von Panama entstand, waren in großer Zahl Insektenfresser, Kaninchen, Eichhörnchen, Mäuse und später Hunde, Bären, Wiesel und Katzen von Norden nach Süden gewandert. Die Ureinwohner Südamerikas waren der Konkurrenz mit diesen Neuankömmlingen nicht gewachsen. Das Sterben zog sich über Jahrmillionen hin, aber das Schicksal der Beuteltiere war besiegelt.

Trotz aller Härten und des Sterbens eröffnete diese Zeit schneller und brutaler Veränderungen paradoxerweise aber auch eine Zeit neuer Möglichkeiten. In den insgesamt vier Milliarden Jahren der Erdgeschichte hatte es nur ein paar Abschnitte gegeben, die für Diversifizierung und evolutionäre Innovation günstigere Voraussetzungen geboten hätten. Parallel zum Artensterben schossen neue Arten wie Pilze aus dem Boden.

Und genau in der Mitte dieses ökologischen Hexenkessels waren die Kinder von Capo.

Der nächste Morgen dämmerte hell an einem ausgewaschenen blauen Himmel. Die Luft war jedoch sehr trocken und hatte einen seltsam stechenden Geruch, und die Hitze wurde bald unerträglich. Die Tiere der Savanne schienen den Atem anzuhalten. Sogar die Vögel waren still; die Aasfresser hockten wie hässliche schwarze Früchte in ihren Nestern.

Mit der kahlen, schwitzenden Haut waren die Leute so gut für diese trockene Hitze gerüstet wie alle hiesigen Spezies. Doch auch sie begannen lustlos den Tag. Sie wanderten auf ihrer Felseninsel umher und wühlten in den Überresten der Mahlzeit vom Vortag.

Dies war keine besonders üppige Gegend. Die Leute besprachen ihre Pläne nicht – das taten sie nie, zumal sie auch gar keinen Plan hatten –, aber es war offensichtlich, dass ihres Bleibens hier nicht länger war. Binnen kurzem brachen ein paar Männer zum Wasserlauf auf, um die Wanderung gen Süden fortzusetzen.

Der Zustand Bengels hatte sich über Nacht jedoch verschlechtert. Die Fußsohlen waren aufgesprungen und sonderten wässrigen Eiter ab, und als er sie mit seinem Gewicht zu belasten versuchte, schrie er vor Schmerzen auf. Er würde heute nirgendwo hingehen.

Ruhig, Weits Großmutter und die meisten anderen Frauen blieben in Bengels Nähe. Was die Männer betraf, so ignorierten die Frauen einfach ihre Faxen, mit denen sie ungeduldig auf der Spur hin- und hergingen, deren Anfang in Richtung Süden sie schon gelegt hatten.

Dieser stumme Konflikt wegen des Tagesablaufs war schmerzlich für sie alle. Es war ein echtes Dilemma. Die Savanne war nämlich nicht wie der üppige, schützende Wald früherer Zeiten; man konnte nicht einfach eine beliebige Richtung einschlagen. In diesem kargen Land wurden die Leute jeden Tag mit der Frage konfrontiert, wo sie Nahrung und Wasser suchen und welche Gefahren sie meiden mussten. Selbst wenn sie sich nur einen einzigen Fehler leisteten, hätte das gravierende Konsequenzen. Die Läufer hatten nur wenige Kinder und investierten viel Zeit und Mühe in jedes einzelne; da setzte man sie nicht leichtfertig der Gefahr aus.

Schließlich gaben die Männer nach. Ein paar kehrten zum Felsen zurück und machten in der heißen Mittagssonne ein Nickerchen. Eine paar andere folgten unter der Führung von Braue der Spur einer Elefantenherde, eins deren Mitglieder zu humpeln schien. Der Rest der Männer, die Frauen und die Kinder schwärmten zu den Stellen aus, an denen sie tags zuvor schon nach Nahrung gesucht hatten.

Um zu überleben, mussten die Leute diese Lebensweise adaptieren. Sie mussten eine Ausgangsbasis errichten, von der aus sie Nahrung suchten und auf der sie Nahrung und Arbeit teilten. In der offenen Ebene mussten die Leute sich die Nahrung hart erarbeiten, und die nur langsam heranwachsenden Kinder erforderten einen großen Aufwand bei Pflege und Versorgung. Sie mussten zusammenarbeiten und teilen, auf die eine oder andere Art. Aber es gab keine Planung im eigentlichen Sinn. In vielerlei Hinsicht glichen sie eher einem Wolfsrudel als einer menschlichen Gemeinschaft.

Weit verbrachte fast den ganzen Morgen im zertrampelten Dickicht, in dem ihre Mutter tags zuvor zugange gewesen war. Der Boden war schon umgegraben worden, und um Wurzeln und Früchte zu finden, musste sie ihn noch einmal gründlich durchwühlen. Bald war sie verschwitzt, schmutzig und verspürte ein Gefühl des Unbehagens. Sie war rastlos und fühlte sich eingesperrt, und die langen Beine, die sie auf dem zertrampelten Boden unter sich verschränkt hatte, begannen zu schmerzen.

Gegen Mittag vertiefte die bleierne Stille dieses unheimlichen, bedrückenden Tags sich noch mehr. Weit hörte den Lockruf der offenen, freien Savanne, wie sie ihn am Vortag schon vernommen hatte. Als die Leere im Bauch ausgefüllt war, wurde der Druck des Überlebens und der familiären Verpflichtungen von der Sehnsucht überlagert, von hier zu verschwinden.

Eine Palme hatte die Heimsuchung durch die Deinotheria überlebt und war in der Baumkrone mit Nüssen gespickt. Ein junger Mann huschte mit einer Eleganz den Baum hinauf, die aus der tief im Körper verwurzelten Erinnerung an grünere Zeiten genährt wurde. Weit beobachtete die geschmeidigen Bewegungen seines Körpers und verspürte ein eigenartiges Ziehen im Unterleib.

Sie traf eine Art Entscheidung. Sie ließ die Nahrung fallen, trat aus dem Dickicht hinaus und rannte gen Westen davon.

Sie verspürte eine ungeheure Erleichterung, als die Glieder wirbelten, die Lunge pumpte und sie den trockenen körnigen Schmutz unter den Füßen spürte. Für eine Weile lief sie ohne zu denken dahin, und sogar die Hitze des Tages schien gelindert zu werden, als der durchs Laufen verursachte Windhauch die Haut kühlte.

Dann rollte ein tiefes, bedrohliches Grollen durch den Himmel. Sie blieb stehen, ging in die Hocke und schaute sich furchtsam um.

Das helle Sonnenlicht trübte sich ein. Dicke schwarze Wolken verdunkelten von Osten her den Himmel. Sie erschrak vor einem purpurnen Lichtblitz, der die Wolken von innen erhellte. Fast sofort ertönten ein peitschender Knall und ein tiefes, anhaltendes Donnern, das durch den Himmel zu rollen schien.

Sie schaute zum Felsen zurück, der plötzlich sehr weit entfernt schien und sah, dass die Leute umherliefen und die kleinen Kinder aufsammelten. Mit hämmerndem Herzen richtete Weit sich auf und machte sich auf den Rückweg.

Und dann öffnete der verdunkelte Himmel die Schleusen. Die schweren Regentropfen prasselten auf die nackte Haut und den ungeschützten Kopf und schlugen kleine Krater in den Schmutz. Der Boden verwandelte sich alsbald in klebrigen Matsch, der ihr an den Füßen haftete und sie bremste.

Wieder zuckte ein Blitz auf, diesmal als großer Licht-Fluss, der kurz den Himmel mit der Erde verband. Betäubt stolperte sie und fiel in den Matsch. Infernalischer Lärm umtoste sie, als ob der Weltuntergang bevorstünde.

Sie sah, dass die hohe Palme in der Mitte der Lichtung der Länge nach gespalten war und brannte. Die Flammen züngelten an den Palmwedeln, die schlaff von der Baumkrone hingen. Das Feuer breitete sich schnell über das restliche Dickicht aus und griff dann aufs trockene Gras der Ebene über.

Eine grauschwarze Rauchwolke stieg vor ihr auf. Sie kam wieder auf die Füße und versuchte weiterzulaufen. Trotz des anhaltenden Regens breitete das Feuer sich jedoch schnell aus. Es war ein sehr trockener Sommer gewesen, und die Savanne war mit vergilbtem Gras, vertrockneten Büschen und umgestürzten Bäumen bedeckt, die wie Zunder brannten. Irgendwo trompetete ein Elefant. Weit erkannte dünne Gestalten, die durch den Rauch flohen – vielleicht Giraffen.

Die Hominiden waren aber in Sicherheit. Die Flammen züngelten harmlos am Rand der Felseninsel. Der Rauch und die Hitze würden ihnen zwar zusetzen, aber niemand würde daran sterben. Und wenn Weit den Felsen erreichte, wäre auch sie in Sicherheit. Aber sie war noch hunderte Meter entfernt und wurde zudem durch den Vorhang aus Rauch und Feuer von ihm abgeschnitten. Die Flammen breiteten sich als Lauffeuer durch das lange trockene Gras aus. Die Halme verbrannten in einem Wimpernschlag. Die verqualmte Luft verursachte einen Hustenreiz. Schwelende, versengte Pflanzenreste flogen durch die Luft. Wenn sie auf sie niedergingen, verursachten sie einen brennenden Schmerz.

Sie tat das Einzige, was sie zu tun vermochte. Sie machte kehrt und rannte: rannte nach Westen, weg vom Feuer und weg von der Familie.

Sie hörte nicht auf zu rennen, bis sie zu einem dichten Wäldchen gelangte. Vor der massiven grünen Wand hielt sie für einen Moment inne. Hier lauerten andere Gefahren, doch zumindest war dieser Ort nicht durch das Feuer bedroht. Sie drang in den Wald ein.

Dann ging sie neben den Wurzeln eines Baumfarns in die Hocke und lugte, von feuchten klebrigen Wedeln umgeben, auf die Savanne hinaus. Das Feuer fraß sich noch immer mit rasender Geschwindigkeit durchs Gras; Rauchwolken wallten auf und waberten in den Wald. Aber dieses Wäldchen war zu dicht und feucht, um bedroht zu sein. Außerdem fand das Feuer kaum noch neue Nahrung, und die Flammen wurden vom Regen gelöscht.

Bald würde sie in der Lage sein, die Deckung zu verlassen. Sie hockte sich hin und wartete, bis es soweit war. An der geriffelten Wurzel des Baumfarns bewegte ein Skorpion sich mit mechanischer Präzision auf ihren Fuß zu. Ohne zu zögern, wobei sie aber darauf achtete, nicht den Stachel zu treffen, machte sie den Skorpion mit der Handkante platt. Vorsichtig ergriff sie ihn mit zwei Fingern und führte ihn zum Mund…

Etwas prallte gegen ihren Rücken. Sie wurde nach vorn auf den Bauch geworfen und spürte eine heiße, schwere und muskulöse Masse auf dem Rücken. Sie war von Gekreisch und Geschrei umgeben, und es hagelte Fausthiebe auf Rücken und Kopf.

Unter Aufbietung aller Kräfte rollte sie sich herum.

Eine schlanke Gestalt stand über ihr. Sie war kaum mehr als halb so groß wie sie. Der dürre Körper war mit einem braunschwarzen Fell bedeckt und wedelte mit langen Armen. Ein affenartiger Kopf saß auf einer schmalen konischen Brust, und ein dünner rosiger Penis stach unterhalb des Bauchs hervor. Das Fell war regennass und stank stark nach Moschus. Und doch stand es – er – aufrecht über ihr wie jemand von ihrer eigenen Art und kein Affe.

Es war ein Pithecine: ein Affenmensch, ein Schimpansen-Mensch, ein Vertreter der ersten Hominiden. Ein entfernter Verwandter von Weit. Und da waren noch mehr von ihnen im Gewirr der Äste über ihr, die nun wie Schemen herunterkletterten.

Sie drehte sich um und wollte aufstehen. Doch da erhielt sie einen Schlag an den Kopf und fiel in Schwärze.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie flach auf dem Rücken. Sie hatte Schmerzen in Brust, Beine und Rücken.

Sie war überall von Pithecinen umgeben.

Ein paar von ihnen waren auf der Suche nach Früchten auf Mahagonibäume geklettert. Andere gruben im Boden und zogen Korkenzieherwurzeln heraus. Sie waren aufrecht gehende, emsige Sammler. Doch im Gegensatz zu ihr waren sie kleinwüchsig, behaart und hatten eine runzlige Haut wie Schimpansen.

Irgendjemand schrie. Weit drehte den Kopf und versuchte den Rufer ausfindig zu machen.

Ein Pithecine kauerte im Schmutz. Es – sie mühte sich mit verzerrtem Gesicht. Die hängenden Brüste waren prall voll Milch. Trübe sah Weit, wie eine kleine kompakte Masse aus ihrem Leib quoll. Sie war schleimig und haarig – es war der Kopf eines Babys. Diese Pithecinen-Frau gebar.

Andere Frauen umgaben sie: Schwestern, Cousinen und ihre Mutter. Schnatternd und leise rufend griffen sie der werdenden Mutter zwischen die Beine und halfen dem Baby vorsichtig, sich aus dem Geburtskanal zu winden.

Die Mutter sah sich einem Problem gegenüber, mit dem die früheren Primaten nicht konfrontiert worden waren; bei der Geburt entfernte das Baby sich nämlich von ihr. Blatt, das Weibchen aus Capos Zeit, hätte das Gesicht des auf die Welt kommenden Babys gesehen und wäre imstande gewesen, sich selbst zwischen die Beine zu greifen und das Baby an Kopf und Körper aus dem Geburtskanal zu ziehen. Hätte diese Pithecine das jedoch versucht, dann hätte sie den Kopf des Babys zurück gebogen und eine Verletzung des Rückgrats, der Nerven und Muskeln riskiert. Sie war nicht in der Lage, allein zu gebären, wie Blatt das vermocht hätte, aber das brauchte sie auch gar nicht.

Als das Baby die Hände frei hatte, packte es das Fell der Mutter und zog sich daran heraus. Es war schon so kräftig, um sich selbst Geburtshilfe zu leisten.

Das alles waren Auswirkungen des aufrechten Gangs. Bei einem Vierbeiner wurden die Unterleibsorgane in einer Art Gewebe-Hängematte gelagert, die am Rückgrat aufgehängt war. Das Becken war nur ein Verbindungsstück, das den Druck aufs Rückgrat nach unten und seitwärts auf Hüfte und Beine verlagerte. Wenn man jedoch die Entscheidung für den aufrechten Gang traf, musste das Becken das Gewicht der Unterleibs-Organe tragen und das Gewicht des Embryos, der in der Mutter heranwuchs. Das Becken der aufrecht gehenden Pithecinen hatte sich schnell angepasst und wie bei einem Menschen eine Schüsselform mit tragender Funktion erlangt. Die Öffnung des Geburtskanals hatte sich auch verlagert – sie war nun breiter als tief und hatte ein ovales Profil, um einen Babykopf formschlüssig durchzuschleusen.

Der Geburtskanal dieser Pithecinen-Mutter war im Vergleich zum Kopf ihres Babys der bisher schmalste aller Primaten. Das Baby war der Mutter zugewandt und mit dem Kopf voran in den Geburtskanal eingetreten. Dann hatte es sich jedoch gedreht, damit die Schultern sich auf ganzer Breite durch den Kanal zu schieben vermochten. Manchmal verharrte das Baby in der leichtesten Stellung und wandte sich der Mutter zu, doch öfter wandte es sich von ihr ab.

Und weil die Hominiden-Schädel in Zukunft immer größer wurden, um größere Gehirne unterzubringen, musste auch der Geburtskanal ständig angepasst und optimiert werden; Joan Usebs Baby würde in einem komplizierten Ablauf sich drehen und wenden müssen, um das Licht der Welt zu erblicken. Doch selbst in diesen Zeiten brauchten die Pithecinen-Mütter schon Hebammen – und damit waren neuartige soziale Bande unter den Pithecinen geschmiedet worden.

Schließlich hatte das Baby es geschafft und plumpste mit geballten Fäustchen auf den laubübersäten Boden. Die Mutter sank mit einem Seufzer der Erleichterung zu Boden. Eine ältere Pithecine hob das Kind auf, entferne Schleim-Pfropfen aus Mund und Nase und blies ihm in die Nase. Als das haarige kleine Bündel den ersten Schrei ausstieß, warf die Hebamme das Kind der Mutter einfach zu und ging davon.

Plötzlich spürte Weit starke Hände um die Knöchel. Sie wurde mit einem Ruck fortgerissen, sodass der Rücken über Laub und Schmutz schmirgelte und verlor die Mutter und das Kind aus den Augen.

Sie wurde über den Boden geschleift. Jedes Mal, wenn sie mit dem Kopf gegen einen Stein oder eine Baumwurzel schlug, explodierte der Schädel vor Schmerz. Sie war von brüllenden und kreischenden Kreaturen umgeben. Wie sie nun sah, waren sie alle Männchen mit halb im Fell verborgenen klumpigen Genitalien und erstaunlich großen Hoden, die sie beiläufig kratzten. Wegen der besonderen Hüftgelenke hatten sie einen unbeholfenen Gang.

Sie war sich trübe bewusst, dass sie tiefer in den Wald geschleppt wurde. Aber sie hatte keine Kraft und keinen Kampfeswillen mehr.

Plötzlich brach eine weitere Pithecinen-Horde mit einem zornigen Geheul aus dem Wald. Die Männchen, die Weit ergriffen hatten, richteten sich auf und stellten sich diesen Neuankömmlingen entgegen.

Sie warfen sich in Positur und machten für eine Weile Rabatz, lärmten und sträubten das Fell, wodurch ein paar von ihnen sich zur doppelten Größe aufzublähen schienen. Die größeren brachen Äste ab, rissen Laub von den Bäumen, sprangen umher und schlugen auf den Boden. Einer aus Weits Gruppe präsentierte einen eindrucksvollen rosigen Ständer, mit dem er vor den Neuen herumwedelte. Ein anderer lehnte sich zurück und urinierte auf die Widersacher. Und so weiter. Es war ein lautes, verwirrendes und stinkendes Scharmützel zwischen zwei Gruppen von Kreaturen, die eine verwirrte Weit identisch anmuteten.

Schließlich vertrieben Weits Häscher die Eindringlinge. Unter dem Einfluss der restlichen Aggression rannten sie um die Bäume, schrien sich gegenseitig an und schnappten nacheinander.

Als sie sich dann wieder beruhigt hatten, untersuchten die Pithecinen den Boden und fuhren mit den Fingern durch das Gewirr aus Blättern und Zweigen. Einer von ihnen fand einen schwarzen Steinbrocken, einen Basalt. Dann fand er noch einen zweiten und drehte den ersten unablässig in den Händen, wobei ihm die rosige Zunge aus dem Mund hing. Er sah aus wie ein Idiot.

Schließlich schien er zufrieden. Ohne den Basaltbrocken aus den Augen zu lassen, legte er ihn auf den Boden und fixierte ihn zwischen Daumen und Mittelfinger. Dann ließ er den Hammer-Stein hinabsausen. Splitter stoben vom Amboss-Stein weg; viele waren so klein, dass man sie kaum sah. Der Pithecine wühlte im Dreck und verlieh seiner Enttäuschung mit einem Grummeln Ausdruck. Dann widmete er sich wieder dem Stein und drehte ihn wieder in den Händen. Als er das nächste Mal zuschlug, splitterte eine schöne dünne, schwarze Scheibe von der Größe seiner Hand ab. Der Pithecine wog die Scheibe in der Hand, drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und begutachtete die Kante.

Dieses Steinmesser war nur ein abgeschlagener Stein-Splitter. Aber seine Herstellung, die ein Verständnis des zu bearbeitenden Materials und des Gebrauchs von Werkzeug zur Herstellung eines anderen Werkzeugs voraussetzte, war eine kognitive Leistung, die Capos Möglichkeiten weit überstiegen hatte.

Der Pithecine beäugte Weit. Er wusste, dass Weit ein intelligentes Wesen war, aber deshalb würde er sie dennoch schlachten.

Er holte aus. Die Steinklinge schnitt tief in Weits Schulter.

Der plötzliche Schmerz und der warme Strom des eigenen Bluts rissen Weit aus dem Schockzustand. Sie kreischte. Der Pithecine antwortete mit einem Brüllen und hob wieder die Klinge. Doch wie sie den Skorpion zerquetscht hatte, hieb Weit ihm nun mit der Handkante ins Gesicht. Zu ihrer Befriedigung hörte sie das Knirschen von Knochen, und die Hand war mit Blut und Rotz verschmiert. Er taumelte stark blutend zurück.

Die Pithecinen wichen erschrocken zurück. Sie stießen Alarmrufe aus und schlugen mit den großen Händen auf den Boden, als ob sie die Kraft und Gefahr dieses großen wilden Tiers neu abschätzen wollten, das sie in ihren Wald gebracht hatten.

Und dann fletschte einer von ihnen die Zähne und kam auf sie zu.

Sie stand mühsam auf und rannte tiefer in den finsteren Wald hinein.

Sie stieß gegen Bäume, verfing sich mit den Beinen in Lianen und Wurzeln und brach durch regelrechte Astverhaue. Ihre langen Beine und die kraftvolle Lunge, ausgelegt für einen stundenlangen Lauf über flaches, offenes Gelände, waren in diesem dichten Wald so gut wie nutzlos, in dem sie bei jedem Schritt über irgendetwas stolperte.

Und die Pithecinen verfolgten sie wie Schemen; sie schnatterten, schrien, erklommen Bäume und liefen auf den Ästen entlang und sprangen von Baum zu Baum. Im Gegensatz zu Weit waren sie hier in ihrem Element. Als Weits Art auf die Savanne hinausgetreten war, hatte sie dem Wald den Rücken gekehrt. Und der hatte sich, als ob er sich für diese Schmach rächen wollte, aus einem Hort der Zuflucht in einen Ort der Gefahren und Beklemmung verwandelt – bevölkert von diesen Pithecinen, die, wie die Waldgeister, denen sie ähnelten, zukünftigen Generationen Albträume bescheren würden.

Bald hatten die Pithecinen sie auf beiden Seiten überholt und umzingelten sie.

Plötzlich stolperte sie auf eine von Dämmerlicht erhellte Lichtung – und ein neues Ungeheuer ragte bellend vor ihr auf. Sie quiekte und warf sich flach auf den Boden.

Für einen Moment stand das Ungeheuer über Weit. Hinter ihm saßen kompakte Gestalten mit breiten Gesichtern, die sie ihr zugewandt hatten und mit denen sie sie teilnahmslos anschauten. Mächtige Kiefer mahlten.

Das Ungeheuer war auch ein Hominide: ein Pithecine mit einem robusten Körperbau. Dieses große Männchen mit einem ballonartig aufgeblähten Bauch war größer und viel stärker als die grazilen Gestalten, die sie verfolgten. Auch wenn er auf zwei Beinen stand, glich seine Statur mit dem schräg abfallenden Rücken, den langen Armen und krummen Beinen eher der eines Menschenaffen. Der Kopf hatte eine geradezu extravagante Form mit hohen Wangenknochen, einem großen Mund mit verschlissenen Zahnstummeln und einem Knochenkamm, der sich über die ganze Länge des Schädels zog.

Weit war erschöpft und die blutende Schulter schmerzte. Sie rollte sich in Erwartung der auf sie hernieder sausenden riesigen Fäuste auf dem Boden zusammen. Aber der Schlag kam nicht.

Die stämmigen Kreaturen, die hinter dem großen Männchen auf dem Boden saßen, rückten etwas enger zusammen. Es waren Weibchen mit schweren Brüsten über dicken Bäuchen, und während sie Weit anstarrten, zogen sie ihre pummeligen Kinder an sich. Aber Weit sah, dass sie sitzen blieben und Nahrung zu sich nahmen. Ein Weibchen nahm eine harte Nuss – so hart, dass Weit sie nur mit einem Stein zu knacken vermocht hätte –, klemmte sie zwischen die Zähne, drückte mit der Hand von unten gegen den Kiefer und knackte sie. Dann verspeiste sie die Nuss mitsamt der Schale.

Und nun kamen die dürren Pithecinen auf die Lichtung gestürmt. Beim Anblick von Dickbauch blieben sie abrupt stehen und fielen übereinander wie Clowns. Dann warfen sie sich in Pose, stolzierten mit gesträubtem Fell auf und ab, schlugen auf den Boden und schleuderten Zweige und Brocken getrockneten Kots gegen den neuen Gegner.

Dickbauch reagierte mit einem Grollen. Dieser Gorilla-Mensch war eigentlich ein Pflanzenfresser, der wegen der schlechten Qualität seiner Nahrung die meiste Zeit des Tages stillsitzen musste, während der große Magen sich mit der Verdauung der Nahrung abmühte. Trotzdem hatte dieser große Primitivling mit den Zahnstümpfen, dem muskulösen Körper und dem kauernden Harem eine mehr einschüchternde Wirkung als die mickrigen Pithecinen. Er ließ sich mit einem lauten Schlag auf alle viere fallen, bei dem der Boden zu erbeben schien und der mächtige Bauch wackelte. Dann ging er seinerseits mit gesträubtem Fell vor seinem kleinen Revier auf und ab und brüllte die unverschämten Zwerge an.

Die Pithecinen wichen frustriert schreiend zurück.

Weit raffte sich auf und lief noch tiefer in den nicht enden wollenden Wald hinein. Diesmal wurde sie aber nicht verfolgt.

Sie sah die Sonne nicht, jedenfalls nicht direkt; sie sah nur ein grünes gesprenkeltes Licht, das ihr den Weg wies. Sie wusste nicht, wie lang sie schon durch den Wald lief und wie weit sie gekommen war. Der tiefe Schnitt in der Schulter war mittlerweile verkrustet, aber sie verlor noch immer Blut. Der Kopf schmerzte noch vom Schlag, den der Pithecine ihr mit dem Stein versetzt hatte, und Brust und Rücken waren eine einzige Quetschung. Und nun drohten auch der Schock und die Verwirrung wegen des Verlusts ihrer Mutter und der kleinen Gruppe von Menschen, die für sie die Welt bedeutet hatten, sie zu überwältigen.

Sie vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten.

Schließlich stolperte sie über eine Wurzel und fiel am Fuß eines Baumfarns in weichen, mit Blättern übersäten Lehm.

Sie versuchte sich aufzustützen, aber sie hatte keine Kraft mehr in den Armen. Sie richtete sich auf Händen und Knien auf, aber die Farben der Welt verblassten, und das dunkle, alles verschluckende Grün wurde grau. Dann schien der Boden sich aufzurichten und schlug ihr hart ins Gesicht.

Die Erde war kühl unter der Wange. Sie schloss die Augen. Die Schmerzen der Prellungen und der Schnittwunde schienen nachzulassen und rumorten in der Ferne wie der Donner des Gewitters. Ihr Kopf wurde von Lärm erfüllt – monoton und laut und doch irgendwie tröstlich. Sie versank im Lärm.

Nach Capo war die große Abspaltung von den Schimpansen erfolgt. Die neuen Menschenaffen, die nun folgten, waren Hominiden – das heißt, den Menschen näher als Schimpansen und Gorillas.

Im großen Drama der Evolution der Hominiden war das Erlernen des aufrechten Gangs die leichtere Übung gewesen. Jahrmillionen des affenartigen Baumkletterns hatten hierzu die Grundlagen gelegt. Während Capos Nachkommen sich ans neue Leben an der Nahtstelle zwischen Wald und Savanne anpassten, musste der Körper für die Verfeinerung des aufrechten Gangs weniger umorganisiert werden als für eine Rückkehr zum vierbeinigen Gang.

Die Füße, die sich nun nicht mehr in bizarren Winkeln an Ästen festhalten mussten, wurden zu kompakten Stampfern vereinfacht, die viel von ihrer Beweglichkeit einbüßten, und der große Zeh verlor die Funktion als Daumen. Dafür dienten die neuen gewölbten Füße als Stoßdämpfer, mit denen man große Distanzen ohne Verletzungen zurückzulegen vermochte. Die Kniegelenke und Schenkelknochen wurden umkonstruiert, um die neue senkrechte Last aufzunehmen. Das Rückgrat der Zweibeiner wurde länger und S-förmig, um die Schwerpunkte über den Füßen und auf der Mittellinie des vertikalen Körpers zu positionieren. Neue Hüftgelenke bildeten sich heraus, deren spezielle Konstruktion es den Hominiden ermöglichte, ein Bein vom Boden zu nehmen, ohne wie ein Schimpanse das Gleichgewicht zu verlieren. Somit wurde ein schwankender Gang vermieden. Die Hände mussten keine kombinierte Greif- und Stützfunktion mehr erfüllen und wurden flexibler: Die Knöchel wurden kleiner, und der Daumen wurde ein selbständiges Greifwerkzeug für komplexe und feinmotorische Aufgaben. Und die Hominiden wurden auch schwächer, weil sie sich nicht mehr ständig von Baum zu Baum schwingen mussten.

Der aufrechte Gang erlaubte es den neuen Savannen-Affen, weite Strecken zwischen verstreuten Nahrungsquellen und Schutzbehausungen zu gehen oder zu laufen und Früchte und Beeren an entfernten Orten zu sammeln. Im Lauf der Zeit wurden sie unter dem Einfluss des gleichen Drucks, der auch die Giraffen geprägt hatte, immer aufrechter und größer. Der aufrechte Gang war ein so großer Vorteil, dass er sich auch schon bei anderen Primaten-Abstammungslinien manifestiert hatte – obwohl diese Geschöpfe lang vor dem Erscheinen der echten Menschen ausstarben.

Die kleinen, dürren Pithecinen, die Weit gejagt hatten, waren wie zweibeinige Schimpansen. Sie waren aufrechter als Capo oder sonst ein Menschenaffe. Aber ihr Kopf mit dem vorspringenden Mund, der kleinen Hirnschale und der platten Nase glich dem eines Affen. Und selbst wenn sie aufrecht standen, war die Körperhaltung gebeugt, stieß der Kopf nach vorn und reichten die langen Arme mit den Greifhänden fast bis auf den Boden. Beim Gehen mussten sie mehr Schritte machen als Weit, um die gleiche Entfernung zurückzulegen, und sie vermochten sich auch nicht so schnell zu bewegen. Doch über die kurzen Distanzen, die sie normalerweise abdeckten, waren sie gute und schnelle Läufer.

Sie lebten an der Peripherie des Waldes. Aber sie hatten auch gelernt, die Ressourcen der Savanne zu erschließen: vor allem die Kadaver der großen Pflanzenfresser, die von Räubern erlegt worden waren. Wenn die Gelegenheit sich bot, rannten sie aus der Deckung des Waldes zu einem Kadaver, schwangen ihre primitiven Steinklingen und kappten Sehnen und Bänder. Einzelne Glieder vermochte man leicht in die Sicherheit des Walds zu schaffen, wo sie zerteilt und verspeist wurden; und mit Hammer-Steinen wurde das Mark aus den Knochen geholt.

All das erzwang eine Selektion unter dem Gesichtspunkt der Intelligenz. Die Hominiden hatten keine spitzen Zähne wie die Hyänen oder Schnäbel wie die aasfressenden Vögel; wenn sie als Ausputzer Erfolg haben wollten, brauchten sie bessere Werkzeuge als Capos rudimentären Werkzeugsatz. Inzwischen war ihr Körper auch in der Lage, besser Fleisch zu verdauen. Viele Pithecinen-Arten hatten Zähne, mit denen sie rohes Fleisch zu zerkleinern vermochten und ein effizientes Verdauungssystem, das eine so kalorienreiche Nahrung zu verwerten imstande war.

Dennoch hatten sie als Ausputzer nur eine Randposition am Boden der Fleischfresser-Hierarchie inne; sie mussten warten, bis die Löwen, Hyänen und Geier sich ihren – den größten – Anteil an der Beute geholt hatten. Zumal das Erbeuten von Aas und die zaghaften eigenen Jagdversuche nicht der einzige (Erfolgs-) Druck waren, der auf den Hominiden der Savanne lastete.

Die Savanne war nämlich ein Tummelplatz für Räuber. Die Leoparden und Bären des Waldes waren schon schlimm genug gewesen. Und draußen in der Savanne gab es große Hyänen, Säbelzahntiger und Hunde mit der Größe von Wölfen. Wenn die kleinen, langsamen und schutzlosen Hominiden sich auch nur für einen Moment aus dem Wald herauswagten, waren sie eine leichte Beute für solche Kreaturen. Bald lernten ein paar Räuber wie der dinofelis sogar, sich auf Hominiden zu spezialisieren.

Es war ein gnadenloser Verschleiß, ein unbarmherziger Druck. Aber die Hominiden hielten stand. Sie lernten das Verhalten der Räuber zu deuten und entwickelten bessere Fluchtstrategien. Sie verbesserten die Zusammenarbeit miteinander, denn Gruppenbildung bot Sicherheit, und sie benutzten Waffen, um die Angreifer abzuwehren. Auch die Sprachentwicklung wurde durch diesen Druck vorangetrieben, und die spezialisierten Alarmrufe, deren Ursprünge noch in den Wäldern der Notharctus lagen, wandelten sich langsam zu richtigen Wörtern.

Die Savanne prägte die Hominiden. Aber sie waren keine Jäger, sondern Gejagte.

Die Pithecinen waren Beschränkungen unterworfen. Sie brauchten den Wald als Schutzraum, weil sie nicht dafür geschaffen waren, längere Zeit im Freien zu verbringen. Sie waren auf Flüsse, Seen und Feuchtgebiete angewiesen, weil ihr Körper nur wenig Fettgewebe hatte und nicht lang ohne Wasser auszukommen vermochte.

Im Laufe der Zeit hatten das Klima und die Vegetation in Afrika sich jedoch ständig verändert, und die Waldrand-Umgebung, die die Pithecinen bevorzugten, hatte sich ausgebreitet: In einer von kleinen Wäldern durchsetzten Landschaft gab es viele Ränder. Die Gestalt der Pithecinen hatte sich als effektiv und ausdauernd erwiesen, und es hatte eine wahre Explosion der Artenbildung stattgefunden, aus der Affen-Menschen in Hülle und Fülle hervorgegangen waren.

Die robusten Affen-Leute hatten sich vom Waldrand in den dichten Wald zurückgezogen. Dort hatten sie sich eine Nahrungsquelle erschlossen, für die es kaum Konkurrenz gab: Blätter, Rinde und unreife Früchte, die kein anderer Hominiden-Typ zu verdauen, und Nüsse und Samen, die kein anderes Tier zu knacken vermochte. Zu diesem Zweck hatten sie wie die Dickbäuche und Gigantopithecinen große, energieaufwändige Mägen ausgeprägt, um diese minderwertige Nahrung zu verarbeiten, und massive Schädel, die in der Lage waren, die mächtigen Kiefer mit den Mahlzähnen anzutreiben.

Ihr Sozialleben hatte sich auch verändert. Im dichten Wald mit einem konstanten Vorrat an Laub und Rinde bildeten sich feste Gruppen aus Weibchen, die in einem bestimmten Abschnitt des Waldes lebten. Die Männchen streiften als Einzelgänger umher und versuchten, die Weibchen in ihrem jeweiligen Territorium unter Kontrolle zu halten. Deshalb wurden die Männchen größer als die Weibchen, denn schiere Körperkraft war ein Plus, mit dem die Männchen Rivalen abwehrten.

Die Art der Gorilla-Menschen gehörte zu den Hominiden mit der geringsten Intelligenz jener Zeit. Dieser große Magen war sehr energieaufwändig; um den Körperhaushalt auszubalancieren, hatten im Lauf der Anpassung anderweitig Abstriche erfolgen müssen. Intelligenz benötigte ein Harem im stetigen Dämmerlicht des tiefen Waldes nicht, und so hatte das große Primatengehirn mit dem großen Blut- und Energiebedarf sich bei den Gorilla-Leuten zurückgebildet.

Obwohl der Gorilla-Mann über allzeit bereite Weibchen verfügte, hatte er nur kleine Hoden. Im Gegensatz zu ihm mussten die dürren Pithecinen-Männer sich möglichst oft mit möglichst vielen Frauen paaren und benötigten die großen pendelförmigen Hoden, die sie gern präsentierten, um ganze Ströme von Sperma zu produzieren.

Innerhalb dieser beiden grundlegenden Pithecinen-Arten, den grazilen Schimpansen-Leuten und dem robusten Gorilla-Typ gab es noch viele Varianten. Manche perfektionierten den aufrechten Gang. Manche verabschiedeten sich wieder von ihm. Manche ›Schimmis‹ waren intelligenter als andere, und manche Gorilla-Leute waren dümmer als der Rest. Es gab Schimmis, die primitiveres Werkzeug benutzten als Capo und Gorilla-Arten, die Werkzeuge verwendeten, die noch besser waren als die feinen Steinklingen der Pithecinen. Es gab Große und Kleine, Sesshafte und Läufer, Zwerge und Riesen, schlanke Allesfresser und reine Pflanzenfresser. Es gab Geschöpfe mit vorspringenden Gesichtern wie Schimpansen und andere mit senkrecht abfallenden Gesichtern und fein ziselierten Gesichtszügen, die fast schon wie richtige Menschen aussahen. Und es fand eine intensive Vermischung zwischen den Arten statt, woraus wiederum viele Unterarten und Hybride hervorgingen – das volle Spektrum menschlicher Möglichkeiten.

Als die verblüfften Paläontologen der Zukunft diese Vielfalt aus fragmentarischen Fossilien und Steinwerkzeug zu rekonstruieren versuchten, ersannen sie weit verzweigte Stammbäume und Nomenklaturen und benannten die imaginierten Spezies als Kenyanthropus platypos, oder Orrorin tugenenis, Australopithecus garhi, africanus, afarensis, bahrelghazali, anamensis oder Ardipithecus ramidus, oder Paranthropus robustus, boisei, aethiopicus, oder Homo habilis… Doch nur wenige dieser Namen entsprachen der Realität. Zumal die Grenzen zwischen den solcherart kategorisierten Geschöpfen fließend waren. Draußen in der wirklichen Welt spielten solche Etiketten natürlich keine Rolle; es gab nur Individuen, die ums Überleben kämpften und ihren Nachwuchs aufzogen, wie sie es seit alters her getan hatten.

Die meisten dieser vielen Arten würden sich in der Zeit verlieren und ihre Gebeine vom gefräßigen Grün des Waldes verschlungen werden. Kein Mensch würde je erfahren, wie es war, in einer solchen Welt zu leben, in der so viele Arten von Vormenschen sich tummelten. Es war ein blubberndes evolutionäres Ferment, in dem viele Varianten aus einem grundlegend neuen, erfolgreichen Bauplan entsprangen.

Jedoch hatte keine dieser Myriaden Arten eine Zukunft, weil all diese Affen-Menschen sich an den Wald klammerten. Ihre Finger und Zehen blieben lang, und die Beine waren ein Kompromiss zwischen dem auf Knöcheln gehenden Baum-Kletterer und dem Zweibeiner. Am Abend bauten sie in den Baumkronen Nester, wie ihre im Wald lebenden Vorfahren es getan hatten. Und ihr Gehirn war auch nicht wesentlich größer geworden als das von Capo und ihren Verwandten, den urzeitlichen Schimpansen, weil sie mit der minderwertigen Nahrung kein größeres Gehirn zu unterstützen vermochten.

Vier Millionen Jahre lang waren die Pithecinen ein weit verzweigter, vielgestaltiger und sehr erfolgreicher Stamm der Hominiden-Familie. Am Anfang waren die Affen-Menschen auch die einzigen Hominiden auf der Welt gewesen. Jedoch war ihre Zeit der bedeutenden Veränderungen schon vorüber. Sie waren der Versuchung durch den Schutz und die Sicherheit des Waldes erlegen, und dadurch hatten sie sich selbst vieler Möglichkeiten beraubt. Die Zukunft gehörte einem anderen Stamm von Hominiden – auch Abkömmlinge des Pithecinen-Stamms –, die im Gegensatz zu den Pithecinen aber den entscheidenden Absprung aus dem Wald geschafft hatten.

Die Zukunft gehörte Weit.

III

Zögernd öffnete sie die Augen. Sie sah einen schmutzigen Boden, der unter dem Gesicht anstieg. Als sie den Kopf hob, sah sie Helligkeit, die durch die dichten Baumwipfel gefiltert wurde.

Sie drückte gegen den Boden und stemmte den Körper in die Höhe. Laub und Schmutz klebten an ihren Brüsten und der verletzten Schulter. An einem Baumstamm zog sie sich hoch und blieb still stehen, bis das hämmernde Herz sich beruhigt hatte. Dann wankte sie durch den Wald, dem Licht entgegen.

Sie stolperte ins Tageslicht hinaus. Sie hob die Hand und beschirmte die Augen vor einer tiefen, sich rötenden Sonne. Das Land war versengt, das Gras geschwärzt, der Erdboden rissig und trocken. Doch hinter einer niedrigen Anhöhe sah sie das Glitzern von Wasser: einen Fluss, der zwischen erodierten, etwas weiter entfernten Hügeln hervortrat.

Sie kannte diesen Ort nicht. Sie hatte das Waldgebiet von Ost nach West durchquert.

Zaghaft ging sie weiter. Der verbrannte Boden war noch immer warm – hier und da schwelten noch Baumstümpfe und Büsche –, und die versengten Grashalme schnitten ihr in die Füße. Bald waren die Waden, die vom Aufenthalt im Wald ohnehin schon schmutzig waren, mit einer kohlrabenschwarzen Ascheschicht überzogen.

Aber sie schaffte es bis zum Wasser. Der Fluss war klar und floss schnell in seinem Bett über abgeschliffenen vulkanischen Kieseln. Versengte Pflanzenreste trieben auf der Wasseroberfläche. Sie tauchte das Gesicht hinein und trank gierig. Der Schmutz und das Blut wurden abgewaschen, und der hartnäckige Rauchgestank und -geschmack in Nase und Mund verschwanden.

Und dann hörte sie einen Ruf. Eine Stimme. Ein Wort. Aber es war kein Wort, das sie kannte.

Sie kroch aus dem Wasser und warf sich flach hinter einen verwitterten Felsen. In ihrer Welt verhießen Fremde nichts Gutes. Wie ihre Pithecinen-Verwandten waren ihre nomadischen Leute fremdenfeindlich.

Ein Mann kniete auf dem verbrannten Boden und suchte ihn mit flinken Bewegungen nach Nahrung ab, die das Feuer übrig gelassen hatte. Er war jung, hatte glatte Haut und dichtes Haar.

Er hob eine verkohlte Eidechse auf. Mit einer Art behauenem Stein – diese Form war ihr unbekannt – kratzte er die verbrannte Haut vom steifen Kadaver und legte einen rosigen Fleischhappen frei, den er sofort verspeiste. Dann fand er eine Schlange, eine Natter, die auch verkohlt und starr war. Er versuchte ihr die versengte Haut abzuziehen, aber sie war zu zäh, und er warf den Kadaver weg.

Und dann fand der Mann einen echten Schatz. Es war eine Schildkröte, die im eigenen Panzer gegrillt worden war. Er hob sie auf und drehte sie um, wobei er etwas vor sich hinmurmelte. Dann nahm er das Werkzeug – es war eine Steinklinge, aber sie war dreieckig und an allen Seiten scharfkantig – und rammte sie in den Halsansatz der Schildkröte. Mit einiger Anstrengung knackte er den Panzer und tranchierte das Fleisch mit dem Messer. Schildkröten waren eine bevorzugte Beute der Pithecinen-Jäger. Sie gehörten zu den wenigen Tieren der Savanne, die noch kleiner und langsamer waren als Hominide. Und die Angewohnheit der Schildkröten, sich im Boden einzugraben, bewahrte sie auch nicht davor, dass sie von klugen Tieren mit Stöcken ausgegraben wurden und dass ihr – für Löwen- und Hyänenzähne undurchdringlicher Panzer – mit speziellen Werkzeugen geöffnet werden konnte.

Weit war von der Steinaxt des jungen Manns fasziniert. Mit den scharfen Schneiden und den glatten Flächen war sie den Hack-Steinen und pithecinenartigen Schneidwerkzeugen ihrer Leute weit überlegen. Auf einer tiefen somatischen Ebene verstand sie das Werkzeug aber sofort; sie verspürte den Drang, den steinernen Keil in die Hand zu nehmen und ihn auszuprobieren.

So lang sie ihn sah, würde sie diesen jungen Mann mit dem Steinwerkzeug verbinden, das er so geschickt benutzte. Sie würde ihn sich als Axt vorstellen.

Plötzlich blickte Axt auf und schaute Weit direkt in die Augen.

Sie duckte sich hinter den Felsen. Aber es war schon zu spät.

Knurrend ließ er die Schildkröte fallen – der Panzer fiel klackend auf den versengten Boden – und hob die Steinaxt.

Sie hatte keine Fluchtmöglichkeit. Sie stand auf und spürte, wie seine Blicke über ihren Körper wanderten, über den noch immer feuchten Rücken und das Hinterteil. Er senkte die Axt und grinste sie an. Dann widmete er sich wieder der Schildkröte und fuhr fort, das Fleisch aus dem Panzer herauszulösen.

Rufe ertönten in der Ferne.

Sie sah noch mehr Leute, Leute wie sie: Erwachsene und Kinder, deren schlanke Gestalten wie Schemen über die versengte Ebene zogen. Sie untersuchten eine Ansammlung verbrannter verdrehter Kadaver. Das war eine Antilopenherde gewesen, die gerade Nachwuchs bekommen hatte; viele der unglücklichen Kreaturen waren in dem Moment verbrannt, als sie gekalbt hatten. Nun zerlegten die Leute mit ihren schönen Steinäxten die Ausbeute, und sie vermochte sogar von hier aus den köstlichen Duft gebratenen Fleischs zu riechen. Axt ließ die Schildkröte fallen und rannte zu seinen Leuten.

Weit folgte ihm, nachdem der Heißhunger über die Vorsicht gesiegt hatte.

Bei Anbruch der Dunkelheit versammelten die Leute sich in einer Felsenhöhle, die ihnen einen gewissen Schutz vor den Räubern der Nacht bot.

Weit folgte ihnen. Wohin hätte sie auch sonst gehen sollen.

Sie wusste, dass sie nicht eine Nacht allein überleben würde. Sie spürte jetzt schon die kalten gelben Augen, die sie verfolgten, Augen, die in dem Wissen glühten, dass sie ein Außenseiter in dieser Gruppe war und dass sie nicht ihren vollen Schutz genoss. Sie war ein Ziel, eine potenzielle Beute, wie die Alten, die Jungen und Kranken.

Die Leute verjagten sie nicht. Aber sie hießen sie auch nicht willkommen. Doch als sie sich mit einem Stück Fleisch, das sie aus einem verbrannten Kadaver gerissen hatte, in eine Ecke der großen Höhle verdrückte, duldeten sie zumindest ihre Gegenwart.

Sie beobachtete, wie ein Mann einen Stein bearbeitete. Der Mann war alt, Ende Vierzig und dürr. Ein Auge wurde von einer hässlichen Narbe fast völlig verschlossen. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, saßen zu seinen Füßen. Sie waren nicht viel jünger als Weit. Sie schauten Narbengesicht bei der Arbeit zu und versuchten mit großen Steinen, die sie in den Händchen hielten, ihn nachzuahmen. Das Mädchen quetschte sich dabei den Daumen und quiekte vor Schmerz. Narbengesicht nahm ihr wortlos den Stein aus der Hand und drehte ihn. Dann zeigte er ihr, indem er ihr die Hand führte, wie man den Stein besser hielt. Als der Junge das sah, wurde er eifersüchtig und kniff das Mädchen, sodass sie den Stein fallen ließ. »Ich! Ich!«

Als die Nacht hereinbrach, widmeten viele Leute sich einer sanften stummen Fellpflege, einer Angewohnheit, die sie aus den Wäldern der Vorfahren mitgenommen hatten. Mütter liebkosten ihre Kinder, und Männer und Frauen betrieben gleichermaßen Politik ohne Worte, wobei sie Bündnisse zementierten und Hierarchien festigten. Manchmal artete das Kämmen in geräuschvollen Geschlechtsverkehr aus.

Weit, die Fremde, war von alledem ausgeschlossen. Als sie jedoch müde und erschöpft in den Schlaf sank, spürte sie den Blick von Axt auf sich.

Als sie aufwachte, war der Himmel außerhalb der Höhle schon strahlend hell.

Die Leute waren alle weg. Nur ein paar Fleischreste, Kothäufchen von Kindern und Urinpfützen kündeten noch von ihrer Anwesenheit.

Sie stand schnell auf. Die Prellungen am Rücken und an der Brust schienen zu einer einzigen schmerzenden Masse verschmolzen zu sein. Aber ihr junger Körper erholte sich schon wieder von den Strapazen, die er tags zuvor erlitten hatte, und sie hatte immerhin einen klaren Kopf. Sie eilte ins Licht.

Die Leute waren Richtung Norden zu einem See gezogen. Sie waren schlanke aufrechte Schemen, deren Konturen in der flimmernden Hitze weich gezeichnet wurden. Sie schritten zielstrebig aus. Weit rannte ihnen hinterher.

Das Seeufer war belebt. Weit erkannte viele Tierarten: Elefanten, Nashörner, Pferde, Giraffen, Büffel, Hirsche, Antilopen, Gazellen und sogar Strauße. Im Wasser tummelten sich Krokodile und Schildkröten, und Vögel flatterten durch die Luft. Die großen Pflanzenfresser, die sich am Wasser drängten, hatten die Landschaft verwüstet. Von dieser morastigen Arena schlängelten ihre breiten Trampelpfade sich in alle Richtungen. Im Terrain um den See wuchs nichts außer ein paar robusten Pflanzen, die von den Elefanten und Rhinozerossen verschmäht wurden und die sich schnell zu erholen vermochten, nachdem man auf ihnen herumgetrampelt hatte.

Die Leute gingen zum Wasser hinunter und wählten eine Stelle in der Nähe einer Elefantenherde aus. Jeder wusste, dass die Räuber sich nicht an Elefanten heranwagten. Die Elefanten ignorierten die Leute und widmeten sich ihren eigenen komplexen Verrichtungen. Ein paar gingen ins Wasser, spritzten sich nass und trompeteten laut. Gruppen von Kühen rumorten geheimnisvoll, und Bullen trompeteten und rammten sich mit langen Stoßzähnen. Diese mächtigen Tiere, die ›Landschaftsgärtner‹, waren muskulöse Kraftpakete und zugleich von einer majestätischen Eleganz.

Die meisten Frauen waren an der Wasserlinie zugange. Weit sah, dass eine das Nest einer Süßwasserschildkröte ausgehoben hatte; die länglichen Eier wurden geknackt und der Inhalt an Ort und Stelle verschlungen. Andere Frauen fischten die Schalentiere ab, die im seichten Gewässer reichlich vorkamen, und Süßwasserkrebse.

Weit sah, dass Axt mit dem Gros der Männer ins Wasser gewatet war. Er hatte einen hölzernen Speer in der Hand und stand reglos da, die Augen auf die schimmernde Wasseroberfläche geheftet. Nach einer Weile stach er mit einem lauten Platschen zu – und als er den Speer aus dem Wasser zog, steckte ein zappelnder Fisch daran. Axt zog den Fisch mit einem Jubelschrei vom Speer und warf ihn ans Ufer. Ein anderer Mann schwamm etwas weiter draußen auf einen Wasservogel zu, der nichts ahnend auf dem See umherpaddelte. Der Mann machte einen Satz, aber der Vogel ergriff unter viel Planschen, Schnattern und Schreien die Flucht.

Weit schloss sich den Frauen an.

Sie fand eine Königskrabbe, die durch einen schlammigen Kanal stakste. Sie war leicht zu fangen. Weit drehte die schwach mit den Beinen wedelnde Krabbe um. Mit einem Stein knackte sie das Oberteil des Panzers auf. Im Innern, am Kopfansatz, war eine Menge Eier wie dicke Reiskörner deponiert. Sie pulte sie heraus und stopfte sie sich in den Mund. Der Geschmack war sehr intensiv, wie traniger Fisch. Das restliche Fleisch der Krabbe erwies sich als zu zäh, als dass es sich gelohnt hätte, es herauszupulen. Sie warf den zertrümmerten Panzer weg und setzte die Nahrungssuche fort.

So verging der Vormittag, während die Leute sich der Nahrungssuche widmeten – eine Tierart von vielen in dieser belebten Savanne.

Gegen Mittag zogen die Leute sich satt und zufrieden vom Wasser zurück.

Doch Axt machte sich selbständig. Weit folgte ihm. Er schaute zu ihr zurück. Sie wusste, dass er wusste, dass sie ihm folgte.

Axt gelangte zu einem ausgetrockneten Flussbett, das mit abgeschliffenen Kieselsteinen übersät war. Er ging im Bett auf und ab und prüfte die Steine, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Es war ein etwa faustgroßer, abgeflachter und abgerundeter Stein. Dann hockte er sich ins Flussbett und suchte es ab, bis er einen geeigneten Hammer-Stein gefunden hatte. Er hatte etwas getrocknetes Strauchwerk dabei, das er zum Schutz über die gekreuzten Beine legte. Dann ging er ans Werk und bearbeitete den Stein, den er ausgewählt hatte. Bald stoben Splitter von den Steinen.

Weit saß zehn Meter entfernt. Sie hatte die Beine an die Brust gezogen, hielt sie mit den Händen umklammert und schaute ihm fasziniert bei der Werkzeugfertigung zu. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Axt und Weit waren nämlich in Werkzeugmacher-Kulturen aufgewachsen, die durch Jahrtausende getrennt worden waren.

Nachdem sie den Wald erst einmal hinter sich gelassen und sich endgültig für die Savanne entschieden hatten, war den Läufern gleich ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten eröffnet worden. Sie waren mehr als nur mobil. Sie wanderten. Aber diese Wanderung war ziellos. Für jedes Individuum ging es nur ums Überleben. Für Leute, die neue Landschaften zu erkunden vermochten, war es oft leichter, zu einem verheißungsvollen Platz weiterzuwandern als zu versuchen, sich an Ort und Stelle an widrige Bedingungen anzupassen.

Im Lauf der Generationen legten die Leute Tausende von Kilometern zurück. Sie verließen sogar Afrika und setzten den Fuß in Gebiete, die kein Hominide bisher betreten hatte. Bevor die Eiszeit die Welt in den Würgegriff nahm, hatten von Afrika bis nach Südeuropa, den Mittleren Osten und Südasien gemäßigte klimatische Bedingungen geherrscht. Beim Betreten dieser vertrauten Umgebung folgten die Leute dem leichtesten Weg der Küstenlinien: Sie zogen am Mittelmeer entlang, schwenkten dann landeinwärts und kolonisierten Griechenland, Italien, Frankreich und Spanien – genauso wie die Tiere, die später auf Afrika beschränkt waren: Elefanten, Giraffen und Antilopen. In östlicher Richtung kamen sie bis nach Indien, sickerten im späteren China ein und stießen in südlicher Richtung sogar bis nach Indonesien vor.

Das war jedoch keine Eroberung. Weits Art hatte sich zwar weiter ausgebreitet als alle anderen Primaten-Spezies – andere Tiere, wie die Elefanten, schwärmten jedoch viel weiter aus. Und sie waren auch nur wenige. Ihre Dichte auf einer gegebenen Fläche war geringer als zum Beispiel die der Löwen. Trotz der Werkzeuge waren die Leute noch immer nur Tiere in einer Landschaft, die sie nicht nennenswert prägten.

Zumal die Wanderung ziellos war. Einer von Weits Ahnen war sogar bis nach Vietnam gekommen; und nun, in Weits Zeit, war ihre Abstammungslinie – durch Zufall und endlose Wanderungen – wieder in Ostafrika, in der alten Heimat angelangt.

Jedoch stießen die Rückkehrer in der alten Heimat auf neue Probleme.

Manche Hominidenpopulationen hatten es trotz der Klima-Kapriolen vorgezogen, nicht auf Wanderschaft zu gehen. Um zu überleben, hatten sie ihre Intelligenz steigern müssen. Bessere Werkzeuge – hauptsächlich die Steinäxte – waren der Schlüssel zum Überleben gewesen. Das Geheimnis der Axt bestand in der Tropfenform. Diese Form ergab eine lange Schneidkante bei gleichzeitig minimalem Gewicht. Obwohl sie im Bedarfsfall noch die einfachen pithecinenartigen Splitter-Werkzeuge verwendeten – die leicht zu fertigenden Splitter waren ›billig‹ und für manche Aufgaben, zum Beispiel für die Jagd auf Kleintiere sogar besser geeignet –, benutzte man die Steinäxte nicht nur zum Zerteilen von Fleisch, sondern auch dafür, um Zweige und Äste von den Bäumen abzuhacken, Holzspeere anzuspitzen, Bienenstöcke zu öffnen, in Baumstämmen nach Larven zu stochern, Rinde abzuschälen, Mark zu zerkleinern, Schildkrötenpanzer zu knacken… Es war eine Gruppe der zu Hause Gebliebenen, von der Axt abstammte.

Weshalb Weit, ein Nachkomme von Wanderern, die das südliche Eurasien bis zum Fernen Osten durchquert hatten, nun mit dieser geradezu futuristisch anmutenden Technik von Axt und seinen Leuten konfrontiert wurde.

Axt arbeitete geduldig. Weit ließ den Blick schweifen und sah, dass das ausgetrocknete Flussbett mit Steinäxten übersät war: Viele Steine, die sie für bloße Kieselsteine gehalten hatte, waren bearbeitet worden. Sie alle hatten die typische Tropfenform und wiesen in unterschiedlicher Ausprägung die scharfe Kante am Umfang des Werkzeugs auf.

Aber diese Äxte muteten seltsam an. Ein paar waren winzig – nur schmetterlingsgroß –, und andere waren groß. Manche waren gesplittert, andere blutverschmiert. Als sie eine der größeren Äxte aufhob, schnitt sie sich in den Finger; sie war kaum benutzt worden, falls überhaupt.

Jemand kam auf sie zu. Sie kauerte sich zusammen.

Es war Narben-Gesicht, der Mann, der die Kinder gelehrt hatte, wie man einen Stein bearbeitet. Er sah Weit gierig an. Er hatte eine große Axt in der Hand. Sie war viel zu groß, als dass sie zum Zerteilen von Fleisch geeignet gewesen wäre. Ohne sie aus den Augen zu lassen, drehte er die Axt in den Händen und schärfte eine Kante mit einem Hammer-Stein nach. Dann schabte er damit übers Bein und rasierte den schwarzen Haarflaum ab, der dort wuchs. Und die ganze Zeit betrachtete er Weits Gesicht und Körper. Das halb verschlossene Auge glänzte.

Sie hatte absolut keine Ahnung, was er wollte – bis sie die Erektion aus seinem Schamhaar hervorstechen sah.

Axt war mit der Schneide, an der er arbeitete, fast fertig: Das handtellergroße, grob behauene Objekt war ersichtlich ein funktionales Werkzeug, in ein paar Minuten angefertigt. Als er jedoch sah, was Narben-Gesicht vorhatte, ließ er die Steinaxt zornig fallen. Er stand auf, verstreute die abgeschlagenen Splitter und schlug den Mann gegen die Schulter. »Weg! Weg!«

Narben-Gesicht knurrte ihn an, und der erigierte Penis erschlaffte. Dann entriss Axt ihm die große Show-Axt und warf sie auf den Boden. Ein Teil der schön gearbeiteten Klinge zersplitterte. Narben-Gesicht schaute auf die Axt, auf Weit und ging nach einem letzten bösen Blick auf Axt davon.

Weit saß mit an die Brust gezogenen Beinen da. Sie war verängstigt und verwirrt.

Axt schaute sie an. Dann ging er wieder im trockenen Flussbett auf und ab und prüfte die Steine. Schließlich stieß er auf einen unregelmäßigen vulkanischen Stein, der so schwer war, dass er ihn nur mit beiden Händen anzuheben vermochte. Er setzte sich wieder hin, suchte sich ein paar Hammer-Steine aus und deckte den Schoß mit Buschwerk ab.

Dann schlug er mit aller Kraft auf den Stein. Splitter und ganze Scheiben scherten ab. Dank seines Geschicks und der Kraft kristallisierte sich bald eine tropfenförmige Steinaxt heraus. Nun formte er mit ein paar kleineren Steinen die beiden linsenförmigen Oberflächen und schärfte die Kante zu einer scharfen Klinge.

Der erste Arbeitsgang war einfach gewesen, weil er da einen Stein bearbeitet hatte, der schon die annähernde Form einer Steinaxt besaß. Dieser Stein war jedoch viel schwerer zu bearbeiten. Er hätte sich kaum einer größeren Herausforderung zu stellen vermocht – und er hatte sich ihr bewusst gestellt. Und er sorgte auch dafür, dass er sich vor Weit in Szene setzte.

Die Nomaden-Leute hatten derartige Werkzeuge schon seit zweihunderttausend Jahren gefertigt. In einer so großen Zeitspanne hatten die Äxte den Status bloßer Werkzeuge und der reinen Funktionalität quasi transzendiert.

Für Axt war diese Leistung der Werkzeugfertigung eine Art Werbung. Er versuchte Weit damit von seinen Qualitäten als Paarungsgefährte zu überzeugen. Durch die Herstellung des Werkzeugs demonstrierte er ihr gleichzeitig seine Körperkraft, die Präzision seiner Arbeit, die Klarheit seines Geistes, die Fähigkeit, etwas zu planen und in die Praxis umzusetzen, die Fertigkeit, Rohmaterialien zu finden, die Koordination von Hand und Auge, die räumlichen Fähigkeiten und das Verständnis der Welt um sich herum. Allesamt Eigenschaften, von denen er erwartete, dass sie sie an ihre Nachkommen weitergeben wollte – aus diesem Grund hatten solche Darbietungen eine eigene Logik entwickelt und sich vom reinen Nützlichkeits-Aspekt der Steinäxte losgelöst.

Getrieben von Lust und Sehnsucht fertigten Männer und Jungen Dutzende Steinäxte. Sie arbeiteten stundenlang an einer einzigen Axt und strebten perfekte Symmetrie an. Sie machten winzige Äxte von der Größe eines Daumennagels und klobige Apparate, die man nur mit beiden Händen halten konnte. Sie folgten Axts Beispiel und wählten besonders schwierige Werkstoffe aus, aus denen sie dann Äxte zauberten. Manchmal warfen sie die fertigen Äxte sogar absichtlich weg, nur um ihre Stärke und Fertigkeit zu demonstrieren.

Es war sogar ein Täuschungsmanöver wert, wie Narben-Gesicht es versucht hatte. Das funktionierte zwar nicht immer – die Frauen kamen bald darauf, dass sie die Entstehung der eindrucksvollsten Axt sehen mussten –, doch gelegentlich lohnte es sich, und der Blender bekam eine Chance, seine Gene weiterzugeben.

Diese Verquickung der Werkzeugfertigung mit sexuellem Werben wirkte sich nachhaltig auf die Zukunft aus. Weil ein Mann es sich nicht leisten konnte, Äxte nicht in der Tradition seiner Vorväter zu fertigen, trat ein Stillstand ein. Diese Leute fertigten das immergleiche Werkzeug nach demselben Plan -Millionen Jahre auf mehreren Kontinenten, und das trotz mehrerer Eiszeiten. Sogar die verschiedenen Spezies, die ihnen nachfolgten, bedienten sich der gleichen Technik. Das war eine Kontinuität und Beständigkeit, an die keine Institution und Religion je heranreichen sollte. Nur der Sex vermochte es, die Menschen so stark in den Bann zu ziehen, um eine so lange Stagnation zu bewirken.

Wenn er seine Werkzeuge fertigte, musste Axt in einem gewissen Maß wie ein Mensch denken. Im Gegensatz zum pithecinenartigen ›Haudrauf‹, der den Splitter, den er vom Stein abscherte, in jeder Form und Größe akzeptierte, musste Axt bereits ein Bild des fertigen Gegenstands vor seinem geistigen Auge haben. Er musste die Werkstoffe und Hammer-Steine mit Blick auf dieses Bild auswählen, und er musste systematisch auf sein Ziel hinarbeiten. Doch anders als bei einem Menschen war sein Bewusstsein segmentiert. Axt fertigte seine Werkzeuge wie ein Mensch, aber er warb um Gefährtinnen wie ein Tier.

Als Axt fertig war, drehte er das von ihm geschaffene Werkzeug ostentativ in den Händen und präsentierte ihr die glatten Flächen und die feine Schneide. Es war schön, aber unpraktisch.

Weit, die in einer etwas anderen Kultur aufgewachsen war, vermochte sich keinen Reim auf seine Handlungen zu machen und wurde dadurch genauso verwirrt wie von Narben-Gesichts Täuschungsversuch. Aber sie spürte, dass Axt sich für sie interessierte, und es wurde ihr warm im Bauch. Und in einem nüchtern kalkulierenden Winkel des Bewusstseins wusste sie auch, dass, wenn sie Axts Gefährtin wurde – wenn sie schwanger wurde –, Teil seiner Gruppe würde und ihre Zukunft gesichert wäre.

Aber sie hatte noch nie Geschlechtsverkehr gehabt, mit niemandem. Sehnsüchtig und furchtsam zugleich saß sie am Rand des Flussbetts, die Beine noch immer an die Brust gezogen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Schließlich warf er die schöne Axt auf den Haufen zu den anderen. Konsterniert schaute er sie von der Seite an und ging weg.

Speziation – die Entstehung einer neuen Spezies – war ein seltenes Ereignis.

Eine Spezies verwandelt sich nicht fließend in eine andere. Speziation fand vielmehr dann statt, wenn eine Gruppe Tiere von der Hauptpopulation isoliert wurde und unter Überlebensdruck geriet. Die Isolation war einerseits physikalisch – wenn zum Beispiel eine Gruppe Elefanten durch eine Überschwemmung abgeschnitten wurde – oder verhaltensspezifisch, wenn beispielsweise eine Gruppe von Hominiden, die sich eine bestimmte Art des Aasfressens angeeignet hatte, von einer anderen Gruppe ausgeschlossen wurde, die dieses Verhalten nicht ausgeprägt hatte.

Variation war im Erbgut aller Spezies angelegt. Es war, als ob jede Spezies in einem bestimmten Moment auf einem Feld sich konzentrierte, dessen Grenzen der Umfang des möglichen Lebensraums waren. Eine isolierte Gruppe wurde nun in einer abgetrennten Ecke des Felds ausgesetzt. Und dann tat sich vielleicht eine Lücke im Außenzaun auf und gewährte Zugang zu einem anderen, leeren Feld, in das sie langsam einsickerte. Und dann wurde wieder eine Variation nötig, um den neuen Lebensraum auszufüllen – und wenn die erforderliche Variation im Erbgut nicht angelegt war, vermochte sie vielleicht durch Mutation zu entstehen.

Letzten Endes entfernten jene, die sich in die fernste Ecke des neuen Territoriums ausbreiteten, sich genetisch weiter von denen, die auf dem alten Feld geblieben waren. Wenn die Entfernung für eine Vermischung der alten mit den neuen Stämmen zu groß wurde, entstand eine neue Spezies. Wenn die trennenden Schranken irgendwann fielen, trat die neue Spezies möglicherweise in Konkurrenz mit der Eltern-Art – und verdrängte sie vielleicht.

Etwa dreihunderttausend Jahre zuvor, in einem anderen Teil von Afrika, war eine namenlose Gruppe Waldrand-Pithecinen durch einen Lavastrom von ihrem Territorium abgeschnitten und für alle Zeiten aus dem Wald verbannt worden.

Die Vertriebenen mussten sich vielen Herausforderungen stellen. Die alte Angewohnheit der Pithecinen, am Waldrand zu jagen, war schon mal ein Anfang gewesen, auf dem sie aufzubauen vermochten. Jedoch unterschied das Nahrungsangebot in der Savanne sich wesentlich vom Wald. Während der Wald ein stetiger Früchtelieferant gewesen war, wartete die Savanne in der Hauptsache mit Fleisch auf. Fleisch war eine hochwertige Nahrung, aber sie bestand aus Paketen, die über eine trockene, unwirtliche Landschaft verstreut waren – Paketen, die man erst einmal finden, fangen und zubereiten musste. Und nachdem es die Leute aus dem Schutz der Bäume in die offene Savanne verschlagen hatte, brauchten sie auch einen neuen Körper, um mit der Trockenheit und Hitze zurechtzukommen. Neue Verhaltensweisen waren erforderlich, um an die Ressourcen der neuen Umgebung zu gelangen – und sie mussten in einer Räuber-Hölle überleben.

Nach nur einem Dutzend Generationen waren Weits Ahnen nicht mehr wieder zu erkennen.

Der alte Primaten-Bauplan war geändert worden, und sie waren nun so groß, dass es alle menschlichen Proportionen sprengte. Weits Körper war viel massiger als die Affen-Vorfahren – sie war doppelt so schwer wie ein erwachsener graziler Pithecine. Die Masse war eine Adaption ans offene Land: Ein großer Körper vermochte nämlich mehr Wasser zu speichern, was ein wesentlicher Vorteil in der Savanne war, wo die Wasserquellen manchmal stundenlange Fußmärsche auseinander lagen.

Außerdem war ihr Stoffwechsel imstande, Körperfett zu bilden und subkutan zu speichern, denn Fett war eine wichtige Energiereserve. Mit zehn Kilogramm Fett vermochte ein Körper vierzig Tage ohne Nahrung auszukommen, was ausreichte, um auch die schlimmsten jahreszeitlichen Schwankungen zu neutralisieren. Das Fett hatte den Körper geformt und sie mit runden Brüsten, einem breiten Hinterteil und kräftigen Schenkeln ausgestattet, was ihr eine weitaus menschlichere Gestalt verlieh als den schimpansenartig schlaffen Pithecinen. Trotzdem war Weit kein Fettklops; sie war groß und schlank, sodass der Körper überschüssige Wärme gut abzuführen vermochte und nur eine verhältnismäßig kleine Fläche der Haut der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt war.

Eine weitere Anpassung an die Hitze bestand darin, dass sie außer am Kopf so gut wie keine Körperbehaarung hatte. Und im Gegensatz zu Capo und zu allen anderen Primaten außerhalb ihrer Artenfamilie schwitzte sie – denn blanke, schwitzende Haut regulierte die Temperatur bei Lebewesen, die zu einem Leben unter der tropischen Sonne verurteilt waren, viel besser als Haare. Schwitzen war jedoch in der Hinsicht paradox, dass Weit dadurch Wasser verlor. Also musste sie intelligent genug sein, um zum Ausgleich dieses Nachteils Wasserquellen zu finden; anders als die meisten ursprünglichen Savannenbewohner wäre ihre Art immer in einem gewissen Ausmaß auf Wasserläufe und die Küsten angewiesen.

Die wesentlichen Menschenaffen-Merkmale der Pithecinen – die Greiffüße, die langen Arme und der gebückte Gang waren bald verschwunden. Weits Füße waren zum Gehen und Rennen gemacht und nicht zum Klettern: Der große Zeh war nun ein richtiger Zeh und kein Daumen. Weits Brustkorb war jedoch etwas hoch, und die Schultern ziemlich schmal; auch jetzt wies ihr Körper noch Spuren der einstigen Anpassung an den Wald auf – wie auch bei den modernen Menschen, wie bei Joan Useb.

Ihr Gehirn war zwischenzeitlich auf die über dreifache Größe der Pithecinen-Gehirne angewachsen, um sich besser in unübersichtlichen Landschaften zu orientieren und in den immer komplexeren sozialen Strukturen großer Gruppen von Savannen-Jägern zurechtzufinden. Dieses große Gehirn benötigte sehr viel Energie, doch Weits Nahrung war viel hochwertiger als das Pithecinen-Futter und bestand aus reichlich proteinhaltigem Fleisch und Nüssen – deren Suche wiederum eine höhere Intelligenz erforderte. Also war sie in gewisser Weise zum Erfolg verdammt.

Indes beruhten diese durchaus drastischen Veränderungen auf einer evolutionären Strategie, die sich durch eine bemerkenswerte Ökonomie auszeichnete. Sie fußte nämlich auf Heterochronie – Ungleichzeitigkeit. Läufer-Babys sahen im Prinzip genauso aus wie die Jungen ihrer affenartigen Vorfahren und die späteren Menschenkinder: Sie hatten vergleichsweise große Köpfe mit einem kleinen Gesicht und einem kleinen Mund. Wollte man nun ein Capo werden, bildete man einen starken Kiefer aus und hielt den Kopf relativ klein. Ganz anders bei Weit: Ihr Kopf war größer geworden, während der Kiefer klein geblieben war. Auch der viel größere Körper war durch Wachstumsschübe zustande gekommen: Ihr Körper hatte in etwa die relativen Dimensionen eines fötalen Capo, der auf Erwachsenengröße aufgepumpt worden war.

Die beachtliche Körpergröße und das große Gehirn hatten jedoch ihren Preis. Sie war unvollständig entwickelt auf die Welt gekommen, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, den Kopf durch den Geburtskanal der Mutter zu pressen. Sie war ›unreif‹ geboren worden. Anders als die Menschenaffen und auch die Pithecinen vermochten die Läufer-Kinder erst lang nach dem Abstillen auf Nahrungssuche zu gehen: Außer der körperlichen Unreife verfügten die Neugeborenen auch nicht über die angeborene Fähigkeit, Nahrungsquellen wie erlegte Tiere, Muscheln und Nüsse zu nutzen – das mussten sie erst erlernen. Zugleich wurden die Kinder der Läufer in die Räuber-Hölle der Savanne hineingeboren. Deshalb brauchten die Kinder viel Aufmerksamkeit.

Diese kostspieligen, unselbständigen Kinder waren für die Läufer ein Wettbewerbsnachteil gegenüber den schnell sich vermehrenden Pithecinen, mit denen sie sich oft den Lebensraum teilten. Und das war auch der Grund, weshalb die Läufer die Tendenz entwickelten, länger zu leben.

Die meisten Pithecinen-Weibchen – wie die Primaten vor ihnen – starben bald, nachdem sie ihre fruchtbare Periode hinter sich hatten. Zumal auch nur wenige überhaupt die letzte Geburt überstanden. Die Läufer-Frauen und Männer lebten aber noch Jahre, gar Jahrzehnte nach dem Ende der Fortpflanzungsfähigkeit. Diesen Großmüttern und Großvätern kam nun eine wichtige Funktion in der Prägung der Läufer-Gesellschaft zu. Sie ermöglichten nämlich Arbeitsteilung: Sie unterstützten ihre Töchter bei der Kinderaufzucht, sie halfen bei der Nahrungssuche und sie gaben die komplexen Informationen weiter, auf die die Läufer zum Überleben angewiesen waren.

All das hatte eine effizientere Neukonstruktion des Körpers erfordert. Läufer-Körper waren viel langlebiger als die der Pithecinen und verfügten zudem über bessere Selbstheilungskräfte – nur nicht was die Fortpflanzungs-Organe betraf. Die Eierstöcke einer vierzigjährigen Läufer-Frau waren so stark degeneriert, wie der restliche Körper es im Alter von achtzig Jahren gewesen wäre, falls sie überhaupt so lang gelebt hätte.

Die Unterstützung der Großmütter bedeutete vor allem, dass ihre Töchter es sich zu leisten vermochten, öfter Kinder zu bekommen. Und in dieser Disziplin schlugen die Läufer die Pithecinen und die Menschenaffen. Fast alle Läufer-Kinder überlebten die Entwöhnung – die wenigsten Pithecinen-Jungen überlebten sie.

Für die Pithecinen war die Entstehung dieser neuen Art ein Desaster. Wegen ihrer engen Verwandtschaft bewohnten Läufer und Pithecinen den gleichen Lebensraum, und es kam auch kaum zu direkten Konflikten zwischen ihnen. Manchmal jagten Pithecinen Läufer, oder Läufer jagten Pithecinen, doch betrachteten sie sich gegenseitig als eine zu schlaue und gefährliche Beute, als dass es den Aufwand gelohnt hätte. Dennoch sollten die flexiblen, mobilen Läufer mit den großen Gehirnen ihre weniger intelligenten Verwandten allmählich verdrängen.

Letztlich waren weder die Werkzeugfertigung noch das Bewusstsein an sich ein Garant fürs Überleben.

Natürlich hätte das alles nicht passieren müssen. Ohne die Klimaschwankungen, die zufällige Isolierung von Weits Vorfahren wäre die Menschheit vielleicht nie entstanden: Es hätte nur die Pithecinen gegeben, aufrechte Schimpansen ohne richtige Sprache, die noch für ein paar Millionen Jahre primitive Werkzeuge fertigten und nichtige Händel austrugen, bis die Wälder schließlich ganz verschwanden und sie dem Untergang geweiht waren.

Das Leben war immer schon ein Glücksspiel gewesen.

Weit verbrachte die Nacht allein. Sie fror und schlief schlecht.

Als sie am nächsten Tag versuchte, sich in die Gruppe zu integrieren, schaute eine hochschwangere Frau sie finster an. Das war eine uralte Primaten-Herausforderung: War Weit hier, um sich Nahrung anzueignen, die sonst ihrem ungeborenen Kind zugute gekommen wäre?

Weit fühlte sich total isoliert. Sie hatte zu niemandem hier irgendwelche Bindungen. Es gab keinen Grund, weshalb diese Leute ihr Territorium und ihre Ressourcen mit ihr teilen sollten. Zumal dieser Ort auch nicht gerade ein Paradies zu sein schien. Obendrein schien sie nun auch noch bei Axt auf Ablehnung zu stoßen.

Im Lauf des Nachmittags ging sie als Erste allein zur Höhle im Sandsteinfelsen zurück. Sie ließ sich in der Ecke nieder, die sie inzwischen als ihren Platz betrachtete.

Und dann bemerkte sie ein paar rote Steinbrocken, die an der Rückwand der Höhle verstreut waren. Sie hob sie auf und betrachtete sie neugierig. Die Brocken waren weich und leuchteten hellrot im Tageslicht. Es handelte sich um Ocker-Klumpen mit der rötlichen Färbung von Eisenoxid. Irgendjemandem waren die Brocken ins Auge gestochen, und er hatte sie mit hierher genommen.

Sie sah rote Spuren auf verstreuten Basaltbrocken an der Rückwand der Höhle: Das Rot hatte die gleiche Farbe wie das Ocker – und wie Blut. Versuchsweise verschmierte sie das Ocker auf dem Gestein und sah zu ihrem Erstaunen, dass es nun noch mehr blutige Streifen aufwies.

Für eine Weile spielte sie mit den Ocker-Klumpen, ohne dass sie wusste, was sie tat. Ihre Finger entwickelten ein Eigenleben und fügten den wirren Mustern auf dem Gestein weitere hinzu.

Dann hörte sie die Rufe der Leute, die zum vorläufigen Stützpunkt zurückkehrten. Sie legte die Ocker-Klumpen dorthin zurück, wo sie sie gefunden hatte und verzog sich in ihre Ecke.

Aber die Handflächen waren hellrot: rot wie Blut. Im ersten Moment glaubte sie, sie hätte sich geschnitten. Als sie sich jedoch die Hände ablecke, schmeckte sie salzigen Sand, und die Schmiere ging ab.

Rot wie Blut. Zögerlich wurde eine Verknüpfung in ihrem Bewusstsein hergestellt, und Licht drang durch eine Ritze zwischen den Gedanken-Schubladen.

Sie ging zu den Ocker-Klumpen zurück und fuhr sich dann damit über den Handrücken, sodass ein Gewirr aus Linien entstand – und dann über die verheilende Pithecinen-Wunde an der Schulter, sodass sie wieder schön rot glänzte.

Und sie färbte sich auch zwischen den Beinen, färbte die Haut rot wie Blut. Sie schien zu bluten, wie sie ihre Mutter hatte bluten sehen.

Sie ging in ihre Ecke zurück und wartete, bis das Licht erlosch. Als die Leute ihre Fellpflege betrieben, rollte sie sich zusammen und versuchte zu schlafen.

Jemand näherte sich ihr. Er war warm und atmete leise. Es war Axt. Sie roch den Staubgeruch der Steinsplitter an seinem Bauch und den Beinen. Seine Augen waren dunkle Kreise im erlöschenden Licht. Der Moment zog sich in die Länge. Dann berührte er sie an der Schulter. Sie zitterte unter der schweren warmen Hand. Er beugte sich über sie und schnüffelte leise. Er nahm ihre Witterung auf, wie Braue es getan hatte, bevor sie von ihrer Familie getrennt worden war.

Sie spreizte die Beine, damit er das ›Blut‹ im letzten Licht zu sehen vermochte. Sie saß angespannt da und erwartete ihn.

Sie wusste, ihr Leben hing davon ab, dass er sie nahm. Vielleicht war es diese kreatürliche Angst und Sehnsucht, die Sehnsucht, dass er sie als Frau wahrnahm, die sie dazu veranlasst hatte, diese List zu ersinnen.

Im Gegensatz zu seinen im Wald lebenden Vorfahren war Axts stärkster Sinn das Sehen und nicht der Geruch, und so überlagerte die Botschaft von den Augen die Warnung der Nase. Er beugte sich vor und berührte sie an der Schulter, am Hals und an der Brust. Dann setzte er sich neben sie und kämmte ihr wirres Haar.

Langsam entspannte sie sich.

Weit blieb für den Rest ihres Lebens bei Axt. Doch so lang und wann immer sie die Möglichkeit hatte – derweil sie an Weisheit und Stärke gewann, derweil ihre Kinder heranwuchsen, bis sie ihr Enkel anvertrauten, damit sie sie wiederum beschützte und formte –, rannte sie, soweit die Beine sie trugen.

KAPITEL 10 Das überfüllte Land Zentral-Kenia, Ostafrika, vor ca. 127.000 Jahren

I

Kieselstein hatte einen Maniok-Strauch gefunden. Er bückte sich und begutachtete ihn.

Er war acht Jahre alt und nackt außer Ocker-Streifen auf der Tonnenbrust und im breiten Gesicht. Er riss etwas Gras im Umfeld des Maniok-Strauchs aus. Diese Stelle war für Maniok reserviert, nicht für Gras, und so sollte es auch bleiben.

Es waren zuvor schon Leute hier gewesen, um Knollen auszugraben. Vielleicht war er selbst schon einmal hier gewesen. Mit seinen acht Jahren kannte er bereits jeden Winkel des Reviers seiner Leute, und er glaubte, sich an diese Stelle zwischen diesen verwitterten Sandsteinfelsen zu erinnern.

Er nahm den Grabstock. Dabei handelte es sich um eine schwere Stange, die durch einen kleinen, grob durchbohrten Felsbrocken geschoben war. Trotz des Gewichts hob er das Werkzeug mit Leichtigkeit an und rammte es unter Einsatz der Schulter in den harten Boden.

Kieselstein hatte einen muskulösen Körper mit einem starken Knochenbau. Während Weit, seine längst tote Ahnin, wie eine Langstreckenläuferin angemutet hatte, hätte Kieselstein als Junior-Kugelstoßer durchzugehen vermocht. Sein Gesicht war breit, mit groben Zügen und wurde von einem dicken knöchernen Brauenwulst geprägt. Er hatte eine mächtige Nase und große Nebenhöhlen, durch die das Gesicht irgendwie aufgeschwemmt wirkte. Sein Schädel, der beträchtlich größer war als Weits, beherbergte ein großes und komplexes Gehirn. In seiner Größe war es bereits mit dem eines modernen Menschen vergleichbar, doch anders als bei diesem saß es direkt hinterm Gesicht.

Bei der Geburt war Kieselsteins feuchter Körper flach und rund gewesen und hatte im Bewusstsein seiner Mutter das Bild eines Kieselsteins hervorgerufen, der vom Wasser eines Flusses glatt geschliffen war. Namensgebung lag für die Leute noch weit in der Zukunft – bei den gerade einmal zwölf Leuten in Kieselsteins Gruppe waren Namen unnötig –, und dennoch erinnerte die Mutter dieses Jungen, wenn sie in einem Fluss einen glänzenden Stein sah, sich daran, wie ihr Kind als Baby in ihren Armen gelegen hatte.

Also Kieselstein.

In diesem Zeitalter gab es viele robuste Arten von Leuten wie Kieselsteins Sippe, die über Europa und West-Asien verstreut waren. Diejenigen, die Europa bewohnten, würden eines Tages Neandertaler genannt werden. Doch genauso wie in Weits Zeit würden die meisten Arten dieser Leute niemals entdeckt und noch viel weniger verstanden, klassifiziert und mit einem Hominiden-Stammbaum verknüpft werden.

Aber seine Leute waren stark. Schon im Alter von acht Jahren verrichtete Kieselstein Arbeiten, die das Überleben seiner Familie sicherten. Er war noch nicht soweit, um mit den Erwachsenen auf die Jagd zu gehen. Aber er vermochte schon Maniokknollen mit den Besten von ihnen auszugraben.

Der Wind frischte etwas auf und trug den würzigen Geruch von Holzrauch von den Hütten heran. Er musste sich dazu zwingen, wieder an die Arbeit zu gehen.

Seine Bemühungen hatten Erfolg. Er stieß die Hände ins trockene Erdreich und legte eine dicke Knolle frei, die so aussah, als ob sie tief in den Boden hineinreichen würde, vielleicht an die zwei Meter. Er machte mit dem Grabstock weiter. Staub und Erde wirbelten auf und blieben an seinen verschwitzten Beinen kleben. Er wusste, wie er mit Maniok-Knollen umzugehen hatte. Nachdem er die Knolle freigelegt hatte, würde er das essbare Fleisch ablösen und den Rest der Knolle mit dem Stiel wieder eingraben, damit sie nachzuwachsen vermochte. Außerdem hegte er durch das Graben den Maniokstrauch: Indem er den Boden lockerte und lüftete, wurde das Nachwachsen beschleunigt.

Seine Mutter würde sich freuen, wenn er ein paar dicke Knollen mit nach Hause brachte, die sie gleich aufs Feuer werfen konnte. Zumal Maniok nicht nur als Nahrungsmittel nützlich war. Man vermochte sie als Giftköder für Vögel und Fische zu benutzen und sich ihren Saft in die Haare einzumassieren, um die Läuse zu vernichten, die sich dort einnisteten…

Plötzlich hörte er ein knirschendes Geräusch.

Erschrocken riss Kieselstein den Grabstock heraus. Er beugte sich nach vorn, beschirmte die Augen vorm grellen Sonnenlicht und versuchte zu erkennen, was dort unten im Loch war. Vielleicht war es ein Insekt, das sich eingegraben hatte. Aber er sah nichts außer einem rostroten Ding, das ein bisschen wie Sandstein aussah. Er griff ins Loch, bekam den Gegenstand mit den kurzen Fingern zu fassen und brachte ihn ans Tageslicht. Es war eine kleine Kuppel mit einem gezackten Rand, deren Grundfläche seiner Handfläche entsprach. Als er sie vor die Augen hob, schauten ihn zwei leere Augenhöhlen an.

Es war ein Schädel. Der Kopf eines Kinds.

Das war kein gruseliger Fund. Kinder starben laufend. Dies war ein harter Ort, an dem Mitleid für die Schwachen und Kranken fehl am Platz war.

Doch alle Kinder, die in Kieselsteins noch jungem Leben gestorben waren, waren wie sämtliche Toten in der Nähe der Hütten vergraben worden, um Aasfresser daran zu hindern, die Lebenden zu belästigen. Vielleicht hatten seine Leute es hier, wo nun der Maniokstrauch wuchs, begraben, ehe Kieselstein geboren wurde.

Aber der Schädel war seltsam filigran und leicht. Kieselstein wog ihn in der Hand. Er hatte einen starken Brauenwulst, von dem die Stirn fast waagrecht abfiel. Kieselstein fuhr sich selbst über den Kopf und verglich die Linienführung des Schädels mit der leichten Wölbung seiner Stirn. Dann erkannte er Bissmale in der kleinen Schädeldecke: präzise Löcher, die von den Zähnen einer Katze stammten – aber erst, als das Kind schon tot und auf der Ebene zurückgelassen worden war.

Kieselstein konnte natürlich nicht wissen, dass er die sterblichen Überreste von Bengel, Weits Bruder, in der Hand hielt, der nicht weit von hier gelebt hatte und gestorben war. Bengel war noch als Kind an Vitaminose gestorben, ohne viel von der Welt gesehen zu haben. Es wäre auch kaum ein Trost für Bengel gewesen, wenn er gewusst hätte, dass – eine Million Jahre nach dem Ende seines kurzen Lebens – sein kleiner Kopf in der Hand eines entfernten Großneffen gewiegt werden würde.

Und Bengel hätte die Landschaft, den Ort, an dem er einst gespielt hatte, auch kaum wieder erkannt.

Die geologische Struktur des Rift Valley – das Plateau, das Gestein, die Vulkanberge, das weite Tal selbst – hatte sich im Lauf der Zeit kaum verändert. Seit Weits Tagen war es jedoch ein karger, trockener Ort geworden. Vereinzelte Haine aus Akazien und wildem Lorbeer hatten das Dickicht und die Wäldchen der Vergangenheit ersetzt. Sogar das Grasland hatte sich verändert und wurde von ein paar feuerresistenten Pflanzenarten beherrscht. Zugleich waren die Tierpopulationen der Vergangenheit implodiert. Es war kein einziger Elefant in dieser Steppe mehr zu sehen, keine Antilope oder Giraffe. Es war, als ob das Leben hier eingebrochen wäre. Der Ort war tot. Weit wäre bei diesem Anblick erschrocken.

Dennoch hatten die sterblichen Überreste Bengels der Welt ihren Stempel aufgedrückt: Die im vergrabenen Schädel enthaltene Feuchtigkeit hatte genügt, um dem Maniokstrauch das Wachstum zu ermöglichen.

Achtlos schloss Kieselstein die Faust um den kleinen Schädel. Er zerbröselte, und die Splitter rieselten ins Loch zurück. Dann griff Kieselstein nach dem Grabwerkzeug; er musste die Wurzel noch ausgraben.

In diesem Moment sah er die Fremden.

Er duckte sich hinter einen Felsen und hielt den Atem an.

Es waren Jäger – das sah er sofort. Sie folgten einem alten Elefantenpfad. Elefanten gingen zum Wasser, und wo es Wasser gab, gab es auch viele Tiere, einschließlich der mittelgroßen Ungeheuer wie Damwild, das viele Leute vorzugsweise jagten.

Sie waren zu viert, alles Erwachsene: drei Männer und eine Frau. Die Jäger schritten weit aus und hatten den Körper dabei leicht vorgebeugt. Es war eine ausdauernde, keine elegante oder schnelle Gangart. Die Jäger hatten nichts von Weits Geschmeidigkeit. Dichte Bärte verbargen die Gesichter der Männer, und die Frau hatte das lange Haar mit einer Lederschnur zusammengebunden. Im Gegensatz zu Kieselstein waren diese Leute bekleidet: Sie hatten sich einfach Tierhäute umgehängt und mit Lederstreifen oder Gürteln geflochtener Rinde verschnürt. Kieselstein sah Bissspuren in der Bekleidung. Leder wurde mit den Zähnen gegerbt, und Kieselsteins dicker Brauenwulst hatte unter anderem die Funktion einer Verankerung für die Kiefer, die eine so harte Arbeit verrichten mussten.

Und sie waren bewaffnet: mit hölzernen Wurfspeeren und kürzeren, kompakten Stoßspeeren. An Hartholzknüppeln waren Steinspitzen mit Harz und Lederschnüren befestigt. Das waren Waffen für Riesen, die ein Mensch kaum hochzuheben, geschweige denn zu werfen vermocht hätte.

Sie waren robuste Leute wie Kieselsteins Art. Er sah jedoch die ockerfarbenen Muster, mit denen sie Gesichter, Hände und Arme versehen hatten. Während Kieselsteins Körperbemalung aus vertikalen Linien bestand – Balken, Streifen und Bänder –, waren diese Leute mit einer Art Schraffur aus dicken Linien verziert.

Sie waren Fremde. Das sah man an der Körperbemalung. Und Fremde bedeuteten Ärger. Dies war ein Gesetz, das die gleiche Gültigkeit besaß wie der Aufgang der Sonne und des Monds.

Kieselstein wartete, bis die Neuankömmlinge hinter einem Akazienhain verschwunden waren. Dann rannte er so leise, wie der kompakte Körper es ihm erlaubte, nach Hause zurück. Die Maniokknollen, die er ausgegraben hatte, ließ er zusammen mit dem Grabstock zurück.

Kieselsteins Zuhause war eine Art Dorf aus vier großen Hütten, die in einem annähernden Rechteck um eine Lichtung angeordnet waren. Und doch war es kein Dorf, weil die Bewohner eine etwas andere Lebensweise als die Menschen hatten.

Kieselstein blieb keuchend auf der Lichtung stehen. Es war niemand draußen. Neben einer Hüttentür schwelte ein Feuer. Der zertrampelte Boden war mit Knochen, Pflanzenresten, Werkzeugen, Matratzen aus Laub und Gras, Rindenstücken, Holzsplittern, Keilen, zerbrochenen Speeren und Lederfetzen übersät. Es war eine regelrechte Müllkippe.

Die Hütten waren primitiv und hässlich, erfüllten aber ihren Zweck. Sie bestanden aus kräftigen jungen Stämmen, die annähernd kreisförmig in den Boden gerammt worden waren. Die Lücken zwischen den Stämmen hatte man dann mit gespaltenem Schilfrohr, überlappenden Blättern, Binsen und Rinde ausgefüllt. Zuletzt waren die Stämme an den Spitzen zusammengezogen und überlappend festgebunden worden. Das war eine Technik, die Capo bekannt vorgekommen wäre, denn vor fünf Millionen Jahren hatte er seine Baumwipfel-Nester schon auf die gleiche Art gebaut: Jede erzwungene Neuerung baute auf alten Techniken auf.

Die Hütten waren alt. Die Leute hatten schon seit Generationen hier gelebt. Im Boden unter Kieselsteins Füßen stapelten sich die Knochen seiner Vorfahren. Die Leute fühlten sich hier sicher. Das war ihr Ort, ihr Land.

Doch Kieselstein wusste, dass das alles sich vielleicht bald ändern würde.

Er hob den Kopf zum ausgewaschenen Himmel. »U-lu-lu-lu-lu! U-lu-lu-lu-lu…!« Das war ein Ruf der Gefahr und des Schmerzes, der erste Ruf, den ein Kind nach dem ›Fütter-mich‹-Schrei lernte.

Die Leute kamen aus den Hütten gerannt und aus der Umgebung, wo sie als Sammler und Jäger unterwegs gewesen waren. Sie scharten sich besorgt um Kieselstein. Es waren ihrer zwölf: drei Männer, vier Frauen, drei ältere Kinder – einschließlich Kieselstein selbst – und zwei Babys, die von ihren Müttern ängstlich festgehalten wurden.

Er versuchte ihnen zu sagen, was er gesehen hatte. Er deutete in die Richtung, wo er die Fremden gesehen hatte und rannte ein paar Schritte auf und ab. »Andere! Andere, andere, Jäger!« Er vollführte ein realistisches Schauspiel, wobei er gestikulierte, posierte und mit geschwellter Brust den Gang starker Jäger imitierte. Er stellte sogar mit der Mimik dar, wie sie den Leuten mit ihren mächtigen Fäusten den Schädel zertrümmerten.

Seine Zuhörer wurden ungeduldig. Sie wandten sich ab und schienen sich wieder ihren Verrichtungen wie Sammeln, Essen oder Schlafen widmen zu wollen. Ein Mann beobachtete Kieselsteins Darbietung jedoch aufmerksamer. Er war ein bulliger Typ, der noch kräftiger gebaut war als die meisten anderen. Seine Nase war in der Kindheit durch einen Unfall verunstaltet worden, wobei der Knorpel der großen fleischigen Nase zertrümmert worden war. Dieser Mann, Plattnase, war Kieselsteins Vater.

Kieselsteins Sprache war jedoch begrenzt. Sie bestand lediglich aus einer Aneinanderreihung konkreter Wörter ohne Grammatik und Syntax. Auch eine Million Jahre nach Weit war Sprache hauptsächlich eine soziale Fähigkeit, die nur für Klatsch und Tratsch verwendet wurde. Um Details und komplexe Informationen zu vermitteln, musste man sich mit Wiederholungen und endlosen Umschreibungen behelfen und dies mit Mimik, Gestik und ›Theater‹ unterlegen. Es fiel den Erwachsenen schwer, den Sinn von Kieselsteins Botschaft zu begreifen. Sie selbst sahen keine Fremden. Er log vielleicht oder übertrieb: Er war schließlich noch ein Kind. Der einzige Gradmesser für den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen waren die Leidenschaft und Energie, die er in seine Vorführung legte.

So lief das immer. Damit überhaupt jemand zuhörte, musste man schreien.

Schließlich gab Kieselstein es auf und setzte sich keuchend in den Schmutz. Er hatte sein Bestes gegeben.

Plattnase kniete neben ihm nieder. Plattnase glaubte seinem Sohn: Die Vorführung hatte ihn zu sehr angestrengt, als dass er gelogen hätte. Er legte seinem Sohn die Hand auf den Kopf.

Beruhigt berührte Kieselstein den Arm seines Vaters. Er spürte eine Reihe langer und gerader Narben, die parallel zum Unterarm verliefen. Diese Kratzer stammten aber nicht von Tieren. Plattnase hatte sie sich mit der scharfen Klinge eines Steinmessers selbst zugefügt. Kieselstein wusste, wenn er älter war, würde er sich dem gleichen Spiel, der gleichen Selbstverstümmelung unterziehen, die man stumm und mit einem Grinsen erduldete: Sie war ein Teil dessen, was seinen Vater ausmachte, war Teil seiner Stärke, und Kieselstein empfand es als tröstlich, diese Narben zu streicheln.

Einer nach dem andern gesellten die Erwachsenen sich zu ihnen.

Als der Moment des stillschweigenden Einverständnisses verstrichen war, stand Plattnase auf. Es bedurfte keiner Worte mehr. Jeder wusste, was zu tun war. Die Erwachsenen und die älteren Kinder durchstreiften die Siedlung auf der Suche nach Waffen. Es herrschte keine Ordnung in der Siedlung, und die Waffen und anderen Werkzeuge lagen dort herum, wo man sie zuletzt benutzt hatte – inmitten von Haufen aus Nahrungsmitteln, Schutt und Asche.

Trotz der Dringlichkeit bewegten die Leute sich jedoch eher gemächlich, als ob sie die Wahrheit immer noch nicht so recht glauben wollten.

Staub, Kieselsteins Mutter, versuchte ihr quengelndes Baby zu beruhigen, während sie die Ausrüstung zusammensuchte. Das offene, vorzeitig ergraute Haar war in einer exzentrischen Anwandlung immer mit einem trockenen duftenden Staub gepudert. Mit fünfundzwanzig alterte sie schnell und hinkte wegen einer alten Wunde, die nie richtig verheilt war. Seither hatte Staub doppelt so hart gearbeitet, und diese Belastung spiegelte sich in ihrer gebückten Haltung und dem verhärmten Gesicht wider. Aber sie hatte einen klaren Verstand und eine außerordentliche Vorstellungskraft. Sie dachte schon an die schweren Zeiten, die bevorstanden. Beim Blick in ihr Gesicht fühlte Kieselstein sich schuldig, weil er sie mit dieser Sache behelligt hatte…

Kieselstein hörte ein leises Zischen, sah einen Blitz. Er drehte sich um.

In einem traumgleichen Moment sah er den Speer im Flug. Er war aus einem schönen Stück Hartholz gearbeitet. Vor der Spitze war er am dicksten und verjüngte sich zum Ende hin, was ihm gute Flugeigenschaften verlieh.

Und dann war es, als ob die Zeit wieder in Fluss geriet.

Der Speer bohrte sich Plattnase in den Rücken. Er wurde auf den Boden geschleudert. Der Speer ragte ihm senkrecht aus dem Rücken. Er zuckte noch einmal und entlud explosiv den Darm. Eine schwarzrote Pfütze breitete sich unter ihm aus und tränkte den Boden.

Im ersten Moment war Kieselstein mit diesen Eindrücken überfordert – mit der Vorstellung, dass Plattnase so plötzlich gestorben war. Es war, als ob ein Berg plötzlich verschwunden oder ein See verdampft wäre. Doch Kieselstein hatte den Tod trotz seines jungen Lebens schon in allen Facetten kennen gelernt. Und er roch auch den Gestank nach Kot und Blut: Fleisch riecht, aber keine Person.

Ein Fremder stand zwischen den Hütten. Er war kompakt und kräftig. Er war in Häute gewickelt und hielt einen Stoßspeer in der Hand. Sein Gesicht war ockerfarbenen schraffiert. Er war derjenige, der Plattnase mit dem Speer niedergestreckt hatte. Und Kieselstein sah auch den zurückgelassenen Grabstock in der Hand des Fremden. Sie hatten ihn beim Maniokstrauch gesehen. Sie waren seiner Spur gefolgt. Kieselstein hatte sie hierher geführt.

Voller Wut, Furcht und Schuldgefühl rannte er los.

Doch er kam nicht weit. Seine Mutter hatte ihn an der Taille festgehalten. Auch wenn sie hinkte, war sie immer noch stärker als er, und sie schaute ihn plappernd an. »Dumm! Dumm!« Für einen Moment wurde Kieselstein wieder klar im Kopf. Nackt und unbewaffnet wie er war, wäre er sofort getötet worden.

Ein Mann kam aus der Siedlung gerannt. Er war nackt und hatte einen Stoßspeer. Er war Kieselsteins Onkel und stürzte sich auf den Mörder seines Bruders. Der Fremde wehrte den ersten Schlag ab, doch der Gegner riss ihn um. Die beiden gingen zu Boden, rangen miteinander und versuchten jeweils den entscheidenden Schlag oder Stoß anzubringen. Bald waren sie in einer Staubwolke verschwunden. Sie waren zwei Muskelpakete, die sich mit aller Kraft bekämpften. Es war wie ein Kampf zwischen zwei Bären.

Und nun quollen immer mehr Jäger über die Felskante und aus dem Wald. Männer und Frauen gleichermaßen, alle mit Speeren und Äxten bewaffnet. Sie waren schmutzverkrustet, mager und hatten einen harten Blick. Sie waren über Kieselstein und seine Gruppe gekommen, als sei sie eine ahnungslose Antilopenherde.

Kieselstein sah die Verzweiflung in den Augen der anderen. Diese Neuankömmlinge waren genauso wenig Nomaden oder instinktgetriebene Eroberer, wie Kieselsteins Leute welche gewesen wären. Nur eine schlimme Katastrophe konnte sie dazu veranlasst haben, auf Wanderschaft zu gehen, sich in ein neues, unbekanntes Land zu wagen und diesen plötzlichen Krieg zu führen. Doch wo sie nun einmal hier waren, würden sie auf Leben und Tod kämpfen, denn sie hatten keine andere Wahl.

Plötzlich ertönte ein Geheul. Der Jäger, der mit seinem Onkel gekämpft hatte, war wieder aufgestanden. Ein Arm baumelte blutig und gebrochen herab. Aber er grinste – der Mund war eine blutige Masse mit ausgeschlagenen Zähnen. Kieselsteins Onkel lag mit aufgeschlitzter Brust auf dem Boden.

Kieselsteins Leute hatten bereits zwei der drei Männer verloren: Plattnase und seinen Bruder. Sie standen auf verlorenem Posten.

Die Überlebenden ergriffen die Flucht. Es blieb ihnen keine Zeit, etwas mitzunehmen; keine Werkzeuge, keine Nahrung und nicht einmal die Kinder. Und die Jäger griffen sie auch noch auf der Flucht an und brachten sie mit dem stumpfen Ende der Speere zu Fall. Der dritte Mann wurde niedergestreckt. Die Jäger erwischten zwei Frauen und ein Mädchen, das jünger war als Kieselstein. Die Frauen wurden zu Boden geworfen, und die jungen Männer zogen ihnen die Beine auseinander und versuchten sich bei der Vergewaltigung zuvorzukommen.

Die Übrigen rannten immer weiter, bis die Verfolger schließlich aufgaben.

Kieselstein schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Jäger durchsuchten die Siedlung und gingen dabei auf einem Boden umher, der seit undenklichen Zeiten Kieselsteins Stamm gehört hatte.

Dann sah Kieselstein, dass nur noch fünf Dorfbewohner übrig waren. Zwei Frauen, einschließlich seiner Mutter, Kieselstein selbst, ein kleineres Mädchen und ein Baby – es war aber nicht Kieselsteins Schwester. Nur fünf.

Mit versteinertem Gesicht wandte Staub sich an Kieselstein und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mann«, sagte sie bedeutungsschwer. »Du.«

Das stimmte, wie er schreckerfüllt feststellte. Er war das älteste überlebende Mitglied des Stamms. Von den Fünf war nur noch das quengelnde Baby im Schmutz zu seinen Füßen männlichen Geschlechts.

Staub hob das mutterlose Baby auf und drückte es an sich. Dann kehrte sie der Heimat den Rücken und stapfte Richtung Norden, wobei sie mit dem hinkenden Gang unregelmäßige Spuren im Schmutz hinterließ.

Der ebenso verwirrte wie entsetzte Kieselstein folgte ihr.

II

Das Pleistozän, diese Eiszeit, war ein Zeitalter brutaler Klimaschwankungen. Dürre, Überschwemmungen und Stürme waren normale Erscheinungen. In dieser Periode ereignete sich eine ›Jahrhundertkatastrophe‹ alle zehn Jahre. Es war eine Zeit wilder Schwankungen, eine Zeit, in der das Klima Kapriolen schlug.

Es schuf eine Umwelt, die an alle Tiere, die in ihr lebten, hohe Anforderungen stellte. Um diese Veränderungen zu bewältigen, wurden viele Tiere intelligenter – nicht nur die Hominiden, sondern auch die Raubtiere und die Pflanzenfresser, ob Huftiere oder andere. Das durchschnittliche Säugetiergehirn sollte sich in den zwei Millionen Jahren des Pleistozän verdoppeln.

Die Familie der Hominiden-Spezies, zu der Kieselstein gehörte, war – wie so viele andere – weit südlich von hier in Afrika geboren worden. Sie waren intelligenter und stärker als Weits Leute und hatten sich in einem großen Bogen von Afrika nach Europa bis zur Eisgrenze und nach Asien ausgebreitet, wo sie bis nach Indien vorgestoßen waren. Sie hatten ihre Werkzeuge, ihre Lebensweise und im Lauf der Zeit auch ihre Körper an die unterschiedlichen Bedingungen angepasst, die sie vorfanden.

Und sie hatten die älteren Hominiden-Formen verdrängt. Elegante, dünne Läufer wie Weit überdauerten noch in Ostasien, doch in Afrika klammerten sie sich nur noch an Nischen. In Europa waren sie ganz ausgestorben. Und was die letzten Pithecinen-Arten betraf, so waren sie schon vor langer Zeit verschwunden, aufgerieben zwischen den Schimpansen und den neuen Savannen-Leuten. Dennoch war das Verbreitungsgebiet der Hominiden noch klein. Es gab noch immer keine Leute in den kalten nördlichen Breiten, nicht in Australien und auch nicht auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Doch in der Alten Welt traten sie sich allmählich auf die Füße.

Und zugleich gab das Land immer weniger her.

Es hatte wieder ein Artensterben stattgefunden. Und diesmal hatten die Leute maßgeblich damit zu tun. Unter dem klimatischen Druck hatten viele der größeren, langsam sich vermehrenden Tier-Arten Zuflucht bei Wasserquellen gesucht. Dadurch wurden sie zu einer leichten Beute für die immer intelligenteren Hominiden-Jäger, die unter der Prämisse der Risikominimierung gezielt alte, schwache, aber auch vor allem junge Tiere auswählten, wodurch die Populationen rasch dezimiert wurden.

Die größten und einheitlichsten Spezies waren zuerst ausgestorben. In Afrika hatten von der weit verzweigten und uralten Elephantiden-Familie nur die echten Elefanten überlebt.

Und dann war da noch das Feuer.

Die Bändigung des Feuers, die erst wenige Generationen vor Kieselsteins Zeit gelungen war, hatte einen Höhepunkt in der Hominiden-Entwicklung dargestellt. Feuer bot viele Vorteile: Wärme, Licht und Schutz vor Raubtieren. Man vermochte mit ihm Holz zu härten und mit seiner Hitze viele pflanzliche und tierische Nahrung zu garen. Es gab aber noch keine großmaßstäblichen, organisierten Brandrodungen; das würde erst später einsetzen. Dennoch wirkte der tägliche Einsatz von Feuer sich schleichend und nachhaltig auf die Vegetation aus, weil die Pflanzen, die dem Feuer zu widerstehen vermochten, gegenüber den weniger robusten Sorten die Oberhand bekamen. Und obwohl Ackerbau in diesem Sinn noch weit in der Zukunft lag, hatten die Hominiden bereits mit der Auswahl von Pflanzen begonnen, die sie für ihre Zwecke bevorzugten – wie Kieselstein auch das Unkraut um den Maniokstrauch gejätet hatte.

Diese an sich geringfügigen Handlungen hatten, indem sie täglich über einen Zeitraum von Jahrhunderttausenden wiederholt wurden, gravierende Auswirkungen. Einst war die Landschaft von wandernden Elefanten geprägt worden: Weit und ihre Art waren bloße Statisten gewesen. Doch das war einmal. Diese Landschaft war von Menschen geprägt worden.

Trotzdem wirkte dieses kahle Land mit den feuerresistenten Bäumen und vereinzelten Pflanzenfressern jungfräulich, als ob es sich seit Urzeiten in diesem Zustand befunden hätte. Es lag schon so lang so da, dass niemand auf der Erde sich vorzustellen vermocht hätte, es hätte hier je anders ausgesehen.

Robbe hatte am Strand eine Spinne gefangen. Er lief durch den Sand und brachte sie grinsend zu Kieselstein. »Spinne Netz Spinne Fisch.« Kieselstein tippte Robbe auf den Kopf, sodass etwas von seiner ansteckenden Energie sich auf ihn übertrug. Er wünschte sich, er hätte mehr davon.

Robbe rannte zum Büschel Dünengras zurück, wo er die Spinne gefunden hatte. Das Netz bestand aus strahlförmigen kräftigen Strängen, über die die Spinne ein spiralförmiges klebriges Geflecht gespannt hatte. Sachte, ganz sachte hob der Junge, der einen kurzen Stock in der Hand hatte, die Spirale von den nicht haftenden Trägersträngen. Dann führte er den Stock von Speiche zu Speiche und rollte sie auf, sodass das klebrige Zeug sich wie Zuckerwatte am Ende des Stocks zusammenballte. Dann lief er zu einem Gezeitentümpel, der von flachen erodierten Felsen umrandet war. Er tunkte den Stock ins Wasser und ließ die klebrige Masse auf der Wasseroberfläche tanzen.

Ein kleiner Fisch kam herbei geschwommen und knabberte am verlockenden Köder. Und mit jedem Biss klebte er mit dem Maul stärker am Netz fest. Schließlich haftete er fest am Stock, und Robbe vermochte ihn leicht aus dem Wasser zu ziehen. Mit einem triumphierenden Grinsen steckte er sich den Fisch in den Mund. Dann rührte er mit dem Stock im Klebstoffbeutel der toten Spinne und tauchte ihn wieder ins Wasser.

Robbe, der in den Armen von Staub aus der überfallenen Siedlung gerettet worden war, war nun zwölf Jahre alt – sieben Jahre jünger als Kieselstein. Seine frühe Kindheit hatte sich wesentlich von der Kieselsteins unterschieden: Er war die ganze Zeit auf Wanderschaft gewesen. Jedoch schien Robbe nicht darunter gelitten zu haben. Vielleicht hatte er sich ans Wandern gewöhnt wie die Pflanzenfresser, die dem Lauf der Jahreszeiten folgten. Und er hatte das Meer erreicht. Er war zu schwer zum Schwimmen – wie sie alle –, doch wann immer Kieselstein ihn im seichten Wasser in Küstennähe sah, wurde er an einen verspielten Meeressäuger erinnert.

Auch elf Jahre nach dem traumatischen Angriff, bei dem sein Vater ums Leben gekommen war, hatte Kieselstein nichts von Robbes phantasievoller Verspieltheit.

Mit neunzehn war Kieselstein voll ausgewachsen und hatte eine so kompakte und kräftige Statur, wie sein Vater sie besessen hatte. Aber er war angeschlagen. Sein Körper trug alte Narben von wilden, verzweifelten Jagdepisoden. Beim Zusammenprall mit einem Wildpferd hatte er sich einen Rippenbruch zugezogen, der nie richtig verheilt war. Zeit seines Lebens würde er bei jedem Atemzug einen diffusen Schmerz verspüren. Und er trug Male von Wunden, die ihm in vielen Kämpfen von Leuten beigebracht worden waren.

Durch den Zwang, schnell erwachsen zu werden, hatte er sich nach innen gekehrt. Er verbarg seine Gedanken hinter einem zotteligen Bart, der von Jahr zu Jahr dichter und verfilzter wurde, und die Augen schienen unter dem dicken Brauenwulst zu verschwinden.

Und wie bei seinem Vater waren beide Arme von langen, zerklüfteten Narben gezeichnet.

Mit einem Seufzer widmete Kieselstein sich wieder der Überprüfung der Netze und Köder, die er im tiefen Wasser ausgelegt hatte. Dieser Kieselstrand wurde durch eine lange Landzunge vorm Meer geschützt, und ein Süßwasser-Bach tröpfelte über den Felsvorsprung auf den Strand. Das Meer war das Mittelmeer, und die Küste war die nördliche Küste Afrikas. Hinter ihm, im Süden, stieg das Land terrassenförmig an. An diesem Ort hatten Kieselsteins Leute eine neue Heimat gefunden, auf den grasigen Dünen oberhalb der Hochwasserlinie in einer Hütte, die sie aus Treibholz und jungen Baumstämmen errichtet hatten.

Soweit er wusste, hatte Robbe, der mit Spinnen und ihren Netzen spielte, eine eigene Technik des Fischens entwickelt. Doch an dieser tristen Küste hatten sie alle schnell lernen müssen, vom Meer zu leben. Anfangs hatten sie, der Gewohnheit als Antilopen-Jäger folgend, versucht, im flachen Wasser Fische und Delphine zu fangen, die ihnen aber leicht entwischten. Sie waren dem Verhungern und der Verzweiflung nahe gewesen.

Bis sie schließlich durch die Beobachtung der Spinnen, Vögel und Kleintiere auf die richtige Idee gekommen waren. Dieses Getier verfing sich nämlich hin und wieder in Büschen oder Röhricht mit klebrigen Blättern oder in den Ranken von Dickicht.

Allmählich hatten sie den Gebrauch von Netzen, Fallen und Schlingen gelernt, die sie aus Rinde und Lederstreifen flochten. Mit den ersten Versuchen hatten sie mehr Pech als Glück gehabt. Doch dann hatten sie die Fertigkeit entwickelt, natürliche Schnüre und Ranken zu verwenden und gelernt, Naturfasern zu flechten, auszubessern und zu verknüpfen. Und es funktionierte. Mit etwas Glück gingen ihnen Fische, Tintenfische und Schildkröten ins Netz. Je weiter sie ins Wasser hinausgingen, desto ertragreicher wurde der Fang.

Und es hatte auch funktionieren müssen, sonst wären sie verhungert.

Ironischerweise war das Land im Süden, jenseits dieser Küstenklippen, ein üppiger Flickenteppich aus Wald- und Grasland, aus Süß- und Salzwassertümpeln. Und es gab viele Tiere jenseits der Marschen und in den höheren Lagen: Rothirsche, Pferde und Nashörner und viele kleinere Körnerfresser. Manchmal kamen die Tiere auf der Suche nach Salz sogar an den Strand herunter.

Wenn das Land menschenleer gewesen wäre, dann hätte Kieselsteins Gruppe sich vielleicht im Paradies gewähnt. Aber das Land war nun einmal nicht leer, und das war das ganze Problem.

Am Horizont war eine Insel, auf die sein Blick sich nun heftete. Obwohl sie durch die große Entfernung von einem blauen Dunstschleier verhüllt wurde, vermochte er sogar von hier aus zu sehen, wie üppig die Insel war: Vegetation quoll aus jeder Felsspalte und zog sich fast bis zum Meer herunter. Und es waren Leute dort: dünne, große Leute, die wie huschende Schemen über den Strand und die Hügel rannten.

Dort wären er und seine Leute in Sicherheit, sagte er sich. Auf einer Insel wie dieser, auf einem eigenen Stück Land, könnten sie von Fremden unbehelligt für immer leben. Wenn er dorthin gelangen könnte, wäre er vielleicht imstande, diesen dürren Leuten ihr Land streitig zu machen.

Falls er dorthin gelangte. Aber die Leute vermochten nicht wie Delphine zu schwimmen, und sie vermochten auch nicht wie Insekten übers Wasser zu laufen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit.

Sie saßen hier fest.

Zumal sie überhaupt nicht vorgehabt hatten, so weit zu gehen. Sie hatten ihre Wanderung nicht geplant. Sie waren einfach gezwungen gewesen, immer weiter zu wandern, während die Jahre vergangen waren.

Kieselsteins Art war von Natur aus sesshaft; in einer überfüllten Welt war diesen robusten Leuten die Wanderlust von Weit längst abhanden gekommen. Es war für sie eine große Belastung gewesen, dass es sie in diese unbekannten Landstriche verschlagen hatte: Für Kieselstein hatte der lange Marsch einen langsamen körperlichen Abbau bedeutet, und er wäre darüber fast verrückt geworden.

Unterwegs waren die Kinder herangewachsen. Kieselstein selbst war zum Mann geworden, und ihre Zahl war langsam angestiegen, als immer mehr Flüchtlinge vor der einen oder anderen Katastrophe sich ihnen anschlossen. Kieselstein war Vater geworden. Er hatte sich mit Grün gepaart, der melancholischen Frau, die mit ihnen aus der alten Siedlung geflohen war. Bei der Durchquerung eines besonders heißen und trockenen Lands war das Kind aber gestorben.

Und sie hatten noch immer keinen Platz gefunden, an dem sie leben konnten. Denn die Welt war voller Leute.

Vorm Angriff hatte Kieselsteins Großfamilie aus zwölf Leuten bestanden. Sie waren autark, sie trieben keinen Handel und sie unternahmen auch kaum Reisen zu Zielen, die weiter als ein Tagesmarsch entfernt waren.

Dennoch waren sie sich immer der Gegenwart ähnlicher Gruppen bewusst gewesen, die sesshaft wie Bäume überall in der Landschaft verstreut waren.

Alles in allem waren es über vierzig Stämme gewesen, die den großen Clan ausmachten, dem Kieselsteins Leute angehörten – ungefähr tausend Leute. Manchmal fand auch ein Austausch statt, wenn Jugendliche aus einem ›Dorf‹ in einem anderen Paarungsgefährten suchten. Und gelegentlich kam es auch zu Konflikten, wenn zwei Parteien sich um Jagdgründe oder eine bestimmte Jagdbeute stritten. Solche Vorfälle wurden jedoch in der Regel durch einen Box- oder Ringkampf entschieden und schlimmstenfalls durch einen Speer ins Bein. Diese Verstümmelung hatte sich zu einer rituellen Bestrafung entwickelt.

Und jeder Einzelne aus diesem tausendköpfigen Verband, vom Neugeborenen bis zum runzligen fünfunddreißigjährigen Greis, war mit den charakteristischen roten oder schwarzen senkrechten Streifen verziert, die Kieselstein noch immer im Gesicht hatte.

Weit hätte gestaunt, wenn sie gesehen hätte, welche Blüten das zufällig von ihr benutzte Ocker nun trieb. Was als halbbewusste sexuelle List begonnen hatte, war über gewaltige Zeiträume eine Zelebrierung der Fruchtbarkeit geworden. Frauen und sogar ein paar Männer bemalten die Beine mit der charakteristischen Farbe der Fruchtbarkeit. Und im Lauf der Zeit hatten trübe Hirne und ungelenke Finger mit neuen Markierungen, neuen Symbolen experimentiert.

Inzwischen erfüllten diese krakeligen Symbole jedoch einen Zweck. Kieselsteins senkrechte Streifen waren eine Art Uniform, mit der sich sein Volk gegenüber anderen abgrenzte. Man musste nicht mehr jedes Mitglied der Gruppe persönlich kennen, was Capo in seiner Eigenschaft als Rottenführer noch hatte leisten müssen. Man musste sich keine Gesichter mehr merken. Alles, was man brauchte, war das Symbol.

Die Symbole einten die Clans. In gewisser Weise waren es die Symbole, für die sie kämpften. Diese unregelmäßigen Streifen und Körpermarkierungen waren der Beginn der Kunst – und sie waren zugleich der Ursprung der Nationen, der Ursprung des Krieges. Sie machten Konflikte möglich, die sogar den Tod derjenigen überdauerten, die sie begonnen hatten. Deshalb wurden die Hominiden durch die Schaffung neuer Symbole mit jeder Generation intelligenter.

Die ganze Landschaft wurde von solchen Clans bewohnt, die mehr oder weniger die gleiche Größe hatten. Sie waren alle sesshaft und blieben am Ort ihrer Geburt, wo schon ihre Eltern und Großeltern gelebt hatten. Sie vermochten sich untereinander nicht zu verständigen – wobei viele dieser Gemeinschaften durch die lange Isolation nicht einmal mehr imstande waren, sich zu vermischen. Und dort blieben sie, bis sie entweder von Naturkatastrophen wie Klimaänderungen oder Überschwemmungen vertrieben wurden – oder von anderen Leuten.

Das war natürlich auch der eigentliche Grund für das Entstehen der Clans: um Flüchtlinge fernzuhalten.

Es war eine harte Zeit für sie gewesen. Nach elf Jahren waren sie schließlich an diesen Ort gelangt, an diesen Strand und hatten halt machen müssen, denn hier war das Land zu Ende.

Plötzlich hörte Kieselstein einen Ruf vom Strand. »Hey, hey! Hilf, hilf!«

Kieselstein stand auf und schaute in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Er sah zwei bullige Gestalten auf die Hütte zuwanken. Das waren Hände und Hyäne, wobei der eine durch seine großen, starken Hände charakterisiert wurde und der andere durch die Angewohnheit, auf der Jagd wie eine Hyäne zu lachen. Diese beiden Männer hatten sich Kieselsteins Gruppe auf der Odyssee angeschlossen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Hyäne lehnte sich schwer an die mächtige Schulter seines Kameraden, und sogar von hier aus hörte Kieselstein Hyänes pfeifenden Atem.

Staub kam aus der Hütte. Kieselsteins Mutter war nun in den späten Dreißigern. Durch die Entbehrungen des langen Marsches war sie hager und gebeugt, und ihr Haar war weiß und strähnig. Aber sie klammerte sich zäh ans Leben. Sie humpelte den Strand entlang zu Hyäne und Hände und rief: »Stechen, stechen!«

Hyäne brach auf dem Strand zusammen, und Kieselstein sah eine Steinaxt in seinem Rücken stecken. Sie halfen ihm wieder auf die Beine.

Kieselstein murmelte etwas vor sich hin und folgte seiner Mutter den Strand entlang.

Als sie Hyäne zur Hütte zurückgebracht hatten, dämmerte es schon.

Die Leute gingen in der Hütte umher und bereiteten sich auf die nächtlichen Aufgaben vor. Die Männer und Frauen gleichermaßen hatten mächtige Schultermuskeln, die unter den ledernen Umhängen sich wie Buckel abzeichneten. Sie hatten bratpfannengroße Hände mit breiten, spateiförmigen Fingerspitzen. Die dickwandigen Knochen hielten große Belastungen aus, und die Gelenke waren schwer und massig. Das waren massive Leute, als ob sie aus der Erde selbst geformt worden wären.

Sie mussten stark sein. In einer rauen Umgebung mussten sie ihr Lebtag hart arbeiten und mit schierer Kraft und emsigem Fleiß ausgleichen, was ihnen an Gehirnschmalz fehlte.

Nur wenige erreichten das Lebensende ohne den Schmerz alter Wunden und Probleme wie Knochenschwund. Es wurde auch kaum jemand älter als vierzig.

Hyänes Wunde war unbeachtlich. Nicht einmal der Umstand, dass er offensichtlich einen Schlag in den Rücken erhalten hatte, und zwar von einer rivalisierenden Gruppe Hominiden jenseits der Klippen, sorgte für Aufsehen. Das Leben war hart. Verletzungen waren an der Tagesordnung.

In der niedrigen, kleinen Hütte gab es kein Licht außer dem Feuer und Tageslicht, das durch Ritzen im Flechtwerk der Wände drang. Es gab auch keine ›Hausordnung‹. An der Rückwand der Hütte häuften sich Knochen, Muschelschalen und Essensreste. Werkzeuge, zum Teil zerbrochen oder erst halbfertig, waren achtlos weggeworfen worden, genauso wie Reste von Essen, Leder, Holz, Stein und Tierhäuten. Der Boden gab auch Aufschluss über die Essgewohnheiten der Gruppe: Bananen, Datteln, Wurzeln und Knollen – vor allem Maniok. Die Erwachsenen verrichteten ihr Geschäft draußen, um die Fliegen fernzuhalten. Aber die Kinder mussten erst noch stubenrein werden, sodass der Boden mit getrocknetem und platt getretenem Kinderkot übersät war.

Es gab nicht einmal feste Feuerstellen. Die Spuren alter Feuer waren als schwarze Kreise aus aufgeschütteten Kieselsteinen und Sand auf dem Hüttenboden und vor der Hütte zu sehen. Wenn der Wind drehte oder ein Teil der Hütte einstürzte, transportierten sie die Glut einfach zu einer anderen Stelle und bauten eine neue Feuerstelle.

Ein Mensch hätte sich in der Hütte den Kopf gestoßen und klaustrophobische Anwandlungen verspürt. Sie war ein infernalischer Saustall und von einem unerträglichen Gestank erfüllt. Für Kieselstein war das aber eine ganz normale Umgebung, wie er sie nie anders kennen gelernt hatte.

An diesem Abend wurden sogar zwei Feuer unterhalten. Hände kümmerte sich ums Feuer, das schon den ganzen Tag lang schwelte. Er streifte auf der Suche nach Brennholz um die Hütte und errichtete einen ordentlichen Scheiterhaufen aus Holz und Laub, um ein helles, heißes Feuer zu erzielen. Er hatte das Fleisch vom Kopf und den Gliedern eines Nashorn-Babys abgezogen und knackte die Knochen überm Feuer, um an das nahrhafte Mark zu gelangen.

Im hinteren Bereich der Hütte arbeiteten Staub und die Frau Grün mit Robbe, Schrei und ein paar Kindern an einer zweiten Feuerstelle. Sie hatten ein paar Steine, aus denen sie Messer und Bohrer herstellten. Damit bereiteten sie die Nahrung zu, die sie im Lauf des Tags im Umkreis von ein paar hundert Metern um die Hütte beschafft hatten. Darunter waren Krustentiere und eine Ratte.

Bald hing dichter Rauch unterm geflochtenen Dach der Hütte. All diese Verrichtungen fanden vor einem Hintergrund aus Grunzen, Gemurmel, Rülpsen und Furzen statt. Es wurde kaum ein Wort gesprochen.

Schrei war eine weitere Überlebende: Sie war das kleine Mädchen, das die Vertreibung aus der alten Siedlung überlebt hatte. Sie war durch diese Erfahrung gezeichnet. Sie hatte immer gekränkelt und ›nah am Wasser gebaut‹. Nun war sie siebzehn und eine erwachsene Frau, und Kieselstein – wie auch Hände und Hyäne – hatten sich schon ein paar Mal mit ihr gepaart. Aber sie war nicht schwanger geworden, und ihr dünner und vergleichsweise zart gebauter Körper hatte Kieselstein kein Vergnügen bereitet.

Es gab ein besonderes ökonomisches Arrangement zwischen diesen Leuten. Männer und Frauen gingen üblicherweise getrennt auf Nahrungssuche und aßen auch getrennt.

Diejenigen, die in der Nähe der Hütte nach Pflanzen, Meeresfrüchten und Kleintieren suchten – meistens Frauen, aber nicht nur –, kochten sie überm Feuer und verspeisten sie mit Werkzeug, das sie aus örtlichen Ressourcen auf die Schnelle herstellten. Diejenigen, die weiter ausschwärmten und auf die Jagd gingen – meistens Männer, aber nicht immer –, verzehrten den Großteil des erbeuteten Fleisches an Ort und Stelle. Nur wenn noch etwas übrig blieb, nahmen sie es mit nach Hause und verteilten es. Die Delikatesse, das Knochenmark, blieb den Jägern vorbehalten, nachdem sie die Knochen in der Hitze des Feuers geknackt hatten.

Daher waren die Frauen in ihrer Eigenschaft als Sammler die Haupt-Ernährer der Gruppe und subventionierten in gewisser Weise die Jagd der Männer. Allerdings bedeutete die Jagd seit jeher mehr als nur Nahrungsbeschaffung. Die Jagdaktivitäten der Männer wiesen immer noch Züge eitler Selbstdarstellung auf. In dieser Hinsicht hatten die Leute seit Weits Zeit keine großen Fortschritte gemacht.

In anderer Hinsicht waren Veränderungen eingetreten. Die Steinwerkzeuge, die die Frauen für die Zubereitung der Nahrung benutzten, waren schwer, doch die Oberflächen und Schneiden wirkten unsauber im Vergleich zu den präzisen Steinäxten, die Axt schon vor über einer Million Jahre zu fertigen vermocht hatte. Doch bei aller Ästhetik war eine Steinaxt für die meisten Aufgaben kaum besser geeignet als ein einfacher scharfkantiger Steinsplitter. In härteren Zeiten hatten Männer und Frauen lernen müssen, bei der Werkzeugfertigung sich möglichst eng an der jeweiligen Aufgabe zu orientieren. Unter diesem Druck hatte man sich vom Diktat der alten Steinaxt-Schablone befreit. Ein mentales ›Tauwetter‹ hatte eingesetzt. Obwohl in manchen Gegenden des Planeten die Steinaxt-Hersteller noch immer mit ihren steinigen Erzeugnissen hausieren gingen, waren dem Erfindungsreichtum und der Vielfalt nun keine Grenzen mehr gesetzt, nachdem der sexuelle Erfolg nicht mehr von der Schönheit steinerner Schneiden abhing.

Allmählich hatte sich eine neue Art der Werkzeugfertigung etabliert. Ein Steinkern wurde so präpariert, dass man mit einem einzigen Hieb einen großen Splitter in der gewünschten Form abzuschlagen vermochte, der dann einer Feinbearbeitung unterzogen wurde. Die Splitter hatten extrem scharfe Kanten, die teilweise am ganzen Umfang nur die Dicke eines Moleküls aufwiesen. Mit den entsprechenden Fertigkeiten vermochte man auf diese Art und Weise eine ganze Werkzeug-Kollektion zu fertigen: Äxte sowieso, aber auch Speerspitzen, Schneiden, Kratzer und Stößel. Es war eine viel effizientere Art der Werkzeugfertigung, auch wenn sie primitiver anmutete.

Zumal diese neue Methode viel mehr kognitive Schritte erforderte als die alte. Man musste in der Lage sein, das richtige Ausgangsmaterial auszuwählen – nicht jeder Stein war gleichermaßen geeignet –, und man musste über eine dynamische Sehfähigkeit verfügen, bei der man nicht nur die Axt im Stein sah, sondern auch die Schneiden, die vom Kern abgeschert wurden.

Nach dem Essen gingen die Leute anderen Verrichtungen nach. Die Frau Grün gerbte ein Stück Antilopenleder, indem sie darauf herumkaute und es zwischen den Zähnen hindurch zog. Sie war eine Expertin im Gerben von Tierhäuten, wovon die verschlissenen und abgebrochenen Zähne kündeten. Die kleineren Kinder wurden nun müde. Sie versammelten sich im Kreis und kämmten sich, wobei sie sich mit den kleinen Händen gegenseitig durchs verfilzte Haar fuhren. Hände versuchte, Hyänes Wunde zu versorgen. Er inspizierte sie unter dem Breiumschlag, roch daran und deckte sie wieder mit dem Umschlag zu.

Staub war erschöpft, wie so oft dieser Tage, und hatte sich schon neben ihrem Feuer hingelegt. Aber sie war wach, und ihre Augen glänzten. Kieselstein verstand. Sie vermisste Plattnase, ihren ›Mann‹.

Die Leute hatten einen Preis für die immer größeren Gehirne ihrer Kinder gezahlt. Kieselstein war bei der Geburt völlig hilflos gewesen. Sein Gehirn musste sich erst noch voll entwickeln, und es lag eine lange Zeit des Wachsens und Lernens vor ihm, bevor er aus eigener Kraft zu überleben vermochte. Die Unterstützung der Großmütter reichte nicht mehr aus. Eine neue Lebensweise musste sich entwickeln.

Eltern mussten ihren Kindern zuliebe zusammenbleiben: Das war zwar noch keine Monogamie, aber schon sehr nah dran. Die Väter hatten gelernt, dass sie zur Sicherheit in der Nähe bleiben mussten, wenn sie ihr genetisches Erbe an künftige Generationen weitergeben wollten. Die Ovulation der Frauen fand nun im Verborgenen statt, und sie waren fast immer empfängnisbereit. Das war eine Verlockung: Wenn ein Mann in die Aufzucht eines Kinds investieren sollte, musste er sich sicher sein, dass es auch wirklich sein Kind war – und wenn er nicht wusste, wann seine Partnerin fruchtbar war, musste er in der Nähe sein, wenn es soweit war.

Aber es beruhte nicht alles auf Zwang. Paare zogen Sex in der Privatsphäre vor, sofern die in einer so engen und kleinen Gemeinschaft überhaupt möglich war. Sex war ein sozialer Kitt geworden, der Paare zusammenhielt. Die gnadenlose Selektion des Pleistozän formte alles, was die Menschheit ausmachen würde. Sogar die Liebe war ein Nebenprodukt der Evolution. Liebe, und der Schmerz des Verlustes.

Aber die Formung war nicht vollständig. Die sprunghafte Unterhaltung in dieser Hütte war nicht viel mehr als Tratsch. Werkzeugfertigung, Nahrungssuche und andere Tätigkeiten waren noch immer vom Bewusstsein abgetrennt und waren in – immerhin großen – Schubladen sortiert. Und sie kämmten sich noch immer wie Menschenaffen.

Sie waren keine Menschen.

Kieselstein war gereizt, unruhig und fühlte sich beengt. Er entriss Robbe eine Scheibe Nashornfleisch, der laut protestierte: »Mir, mir!« Dann setzte er sich allein in den Eingang der Hütte und schaute aufs Meer hinaus.

Sein Blick schweifte über das karge Land, wo die Leute Erbsen-, Bohnen- und Manioksträucher von Unkraut befreit hatten. Und dahinter wurde der Himmel im Norden und Westen von einem Sonnenuntergang angestrahlt, dessen purpurn-rosiges Licht die Flächen seines Gesichts konturierte. Es war ein wundervoller Eiszeit-Sonnenuntergang. Die Gletscher, die die nördlichen Kontinente abschmirgelten, hatten riesige Mengen Staub in die Atmosphäre befördert, sodass das Sonnenlicht von großen Wolken aus gemahlenem Gestein gefiltert wurde.

Kieselstein fühlte sich gefangen wie einer von Robbes Fischen, der am Spinnennetz festklebte.

Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, tastete er den Boden nach einem Gesteinssplitter ab. Als er einen gefunden hatte, der scharf genug war, führte er ihn zum linken Arm – wobei er nach einer Stelle suchen musste, die noch nicht vernarbt war –, presste den Stein gegen das Fleisch und genoss den köstlich prickelnden Schmerz.

Er wünschte sich, sein Vater wäre hier, damit sie sich gemeinsam ritzen konnten. Wenigstens hatte er den Stein, und der Schmerz war beinahe tröstlich, wenn er in die Haut schnitt. Er schnitt sich mit der Steinklinge den Arm auf und spürte die Wärme seines Blutes. Er zitterte vor Schmerz, genoss aber seine kalte Gewissheit. Er wusste, dass er jederzeit aufzuhören vermochte – und gleichzeitig wusste er, dass er nicht aufhören würde.

Isoliert, niedergeschlagen und mit dem Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, hatte Kieselstein sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Ein Verhalten, das junge Männer in die Lage versetzt hatte, ihre Kräfte unblutig zu messen, hatte zu Vereinsamung geführt und war destruktiv geworden. Die Individuen von Kieselsteins Art waren noch keine Menschen. Dennoch kannten sie schon Liebe, Verlust – und Sucht.

Hinter ihm in der Dunkelheit beobachtete seine Mutter ihn mit umwölkten Augen.

Kieselstein wurde im ersten Morgengrauen geweckt – aber nicht vom Licht, auch nicht von der Kälte.

Eine Zunge leckte an seinem nackten Fuß. Das war fast wohltuend und riss ihn aus den schlechten Träumen. Und dann war er wach genug, um sich zu fragen, was da wohl an ihm herumschlabberte. Er riss die Augen auf.

Ein struppiger, muskulöser Wolf stand vor ihm. Die Silhouette zeichnete sich gegen den Morgenhimmel ab.

Mit einem Schrei sprang er auf. Der Wolf winselte erschrocken, wich ein paar Schritte zurück und drehte sich knurrend um.

Aber jemand stand neben dem Wolf.

Die Gestalt war mindestens eine Handbreit größer als er. Sie hatte einen schlanken Körper, schmale Schultern und lange, elegante Beine wie ein Storch. Sie hatte schmale Hüften, kleine hohe Brüste und einen langen Hals. Ihr Körper war sehnig und muskulös; er sah die feste Muskulatur der Arme und Beine. Sie wirkte beinahe wie ein Kind, ein großes, hoch aufgeschossenes Kind mit einem noch unfertigen Körper. Aber sie war kein Kind mehr. Das erkannte er an den Brüsten, den Haarbüscheln unter den Armen und an den feinen Linien um die Augen und den Mund.

Die dürren Leute auf der Insel sahen so aus – zumindest vom Hals abwärts. Doch vom Hals aufwärts hatte Kieselstein so etwas noch nie gesehen.

Ihr Kinn lief in einer Art Spitze aus. Ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig wie die eines Kindes, als ob sie sie noch nie zum Gerben von Tierhäuten benutzt hätte. Ihr Gesicht wirkte abgeflacht, die Nase klein und eingedrückt. Sie hatte pechschwarzes kurzes Haar. Und der Wulst über den Augen – nun, da war gar kein Wulst. Ihre glatte Stirn ragte senkrecht auf, und dann wölbte der Schädel sich hoch auf wie eine Felskuppel; ganz anders als die Schildkröten-Form seiner Hirnschale.

Sie war ein Mensch – anatomisch ein uneingeschränkt moderner Mensch. Sie hätte von Joan Usebs aufgeregter Menge auf dem Flughafen von Darwin durch einen Tunnel in der Zeit hier herauszutreten vermocht. Aber sie hätte den urtümlichen Kieselstein auch nicht mehr zu erschrecken vermocht, wenn sie das getan hätte.

Ihr Blick wanderte von Kieselstein zu den Leuten – zu Hände, Schrei und den anderen –, die herausgekommen waren, um zu sehen, was da los war. Sie sagte etwas Unverständliches und richtete eine Harpune auf Kieselstein.

Kieselstein starrte sie fasziniert an.

Der Schaft der Harpune war am Ende eingekerbt, und in der Kerbe steckte, mit Harz und fester Schnur befestigt, eine Spitze. Es handelte sich um einen schlanken Zylinder, der in der Mitte nur fingerbreit war. An einer Seite ragten feine Widerhaken aus dem Zylinder. Sie wiesen in die der Flugbahn der Harpune entgegen gesetzte Richtung. Die Oberfläche war nicht etwa rau wie seine Werkzeuge – sie war glatt wie Haut.

Und die Harpune war auch nicht ihr einziger Besitz, wie er nun sah. Sie trug einen Fetzen aus gegerbtem Leder um die Hüfte. Und ein Ding wie ein Netz, vielleicht aus Ranken geflochten, hing ihr um den Hals. Darin befand sich eine Kollektion bearbeiteter Steine. Sie sahen aus wie Feuerstein. Feuerstein war ein schöner Stein und leicht zu bearbeiten; er war auf seiner Wanderung durch Afrika ein paar Mal darauf gestoßen. Aber es gab keinen Feuerstein in der Nähe des Strands. Wie war er also hierher gekommen? Seine Verwirrung steigerte sich.

Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Harpunenspitze. Sie bestand aus Knochen.

Kieselsteins Leute nutzten Knochensplitter als Kratzer oder Hämmer, um den scharfen Schneiden der Steinwerkzeuge den letzten Schliff zu geben. Aber sie versuchten nicht, Knochen zu formen. Sie waren ein schwieriger Werkstoff, umständlich zu handhaben und neigten dazu, unberechenbar zu splittern. Er hatte noch nie etwas von einer solchen Regelmäßigkeit und mit diesem Finish gesehen, etwas, das von einem derartigen Einfallsreichtum kündete.

In Zukunft würde er sie immer mit diesem wundervollen Artefakt in Verbindung bringen. Er würde sie sich als Harpune vorstellen. Instinktiv und von Neugier getrieben streckte er die große Hand aus, um die Harpunenspitze zu berühren.

»Ya!« Die Frau wich zurück und packte die Harpune fester. Der Wolf an ihrer Seite fletschte die Zähne und knurrte ihn an.

Spannung baute sich auf. Hände hatte schwere Steine vom Strand mitgebracht.

Kieselstein hob die Arme. »Nein nein nein…« Er musste Hände mühsam, mit Gesten und Geplapper davon abhalten, mit den Steinen zu werfen. Er wusste selbst nicht einmal, wieso er das tat. Er hätte sich mit Hände zusammentun und sie verjagen sollen. Fremde machten nichts als Ärger. Aber der Wolf und die Frau hatten ihm nichts Böses getan.

Und sie starrte auf seine Genitalien.

Er schaute an sich hinab. Eine eindrucksvolle Erektion stach hervor. Plötzlich wurde er sich der pulsierenden Halsschlagader bewusst, des erhitzten Gesichts und der feuchten Handflächen. Sex war etwas Alltägliches, mit Grün oder Schrei, und es war normalerweise angenehm. Aber diese Kind-Frau mit dem platten, hässlichen Gesicht und dem spindeldürren Körper? Wenn er sich auf sie legte, würde er sie womöglich zerquetschen.

Trotzdem hatte er sich nicht mehr so gefühlt, seit Grün sich in jener Nacht auf ihn gesetzt hatte.

Der Wolf knurrte. Die Frau, Harpune, kraulte das Tier am Hals. »Ya, ya«, sagte sie sanft. Sie sah Kieselstein noch immer an und zeigte die Zähne. Sie grinste ihn an.

Plötzlich schämte er sich, als ob er ein Junge wäre, der seinen Körper nicht unter Kontrolle hatte. Er drehte sich um und rannte zum Meer. Als das Wasser tief genug war, um ihn zu bedecken, machte er einen Kopfsprung. Mit geschlossenem Mund massierte er den erigierten Penis. Er ejakulierte schnell, und das sämige weiße Zeug trieb im Wasser.

Er trat Wasser, richtete sich auf und schnappte nach Luft. Das Herz hämmerte noch immer, aber wenigstens hatte die Spannung sich gelöst. Er kam aus dem Wasser. Die Schnittwunden, die er sich am Abend zuvor zugefügt hatte, waren noch nicht verheilt, und Blut, mit Salzwasser verdünnt, rann ihm an den Fingern herab.

Die Frau war verschwunden. Aber er sah eine Spur – von schmalen Füßen mit kleinen Sohlen –, die in die Richtung führte, aus der sie gekommen sein musste: von jenseits der Landzunge. Die Abdrücke der Hundepfoten verliefen neben ihrer Spur.

Hände und Schrei kamen ihm entgegen. Schrei musterte Kieselstein unsicher. »Fremde Fremde Wolf Fremde!«, rief Hände und warf die Steine ärgerlich auf den Boden. Er begriff nicht, weshalb Kieselstein auf diese Art reagiert hatte, wieso er diese Fremde nicht einfach verjagt oder getötet hatte.

Plötzlich kulminierte Kieselsteins Unzufriedenheit mit seinem Leben. »Ya, ya!«, rief er. Und er wandte sich von den anderen ab und folgte der Spur, die die schlanke Frau hinterlassen hatte .

Schrei rannte ihm hinterher. »Nein, nein, Ärger! Hütte, Essen, Hütte.« Sie packte sogar seine Hand, presste sie auf ihren Bauch und versuchte sie zur Vagina hinunterzuziehen. Aber er versetzte ihr einen Handkantenschlag gegen die Brust, und sie ging zu Boden. Sie blieb liegen und schaute ihm sehnsüchtig nach.

III

Er ging in ihrer Spur am Strand entlang und löschte mit seinen großen Füßen Harpunes Abdrücke aus.

Der Strand war mit Muscheln, Krebstieren und dem Treibgut des Meers übersät: Seetang, gestrandete Quallen und unzählige angespülte Tintenfische. Bald schon geriet er ins Schwitzen und außer Atem. Hüfte und Knie schmerzten; ein Vorbote der Arthrose, die ihn mit zunehmendem Alter plagen würde.

Schließlich beruhigte er sich, und der Instinkt setzte sich wieder durch. Er erinnerte sich, dass er nackt und allein war.

Er lief suchend auf dem Strand umher, bis er einen großen scharfkantigen Stein fand, der sich gut in die Hand schmiegte. Dann marschierte er weiter an der Wasserlinie entlang. Obwohl das Fortkommen hier durch den zähen Schlick erschwert wurde, war er zumindest auf einer Seite vor Angriffen geschützt.

Und diese schöne Spur mit den parallel verlaufenden Abdrücken der Wolfspfoten zog sich noch immer durch den Sand. Schließlich machte die Spur einen Knick und verließ den Strand. Und dort, im Schatten eines Palmenhains, sah er eine Hütte.

Er stand für eine Weile reglos da und betrachtete sie. Es war niemand zu sehen. Vorsichtig näherte er sich ihr.

Die oberhalb der Hochwasserlinie errichtete Hütte stand auf einem Gerüst aus schlanken Baumstämmen, die in den Boden gerammt waren. Die Stämme waren an der Spitze verflochten… nein, sie waren zusammengebunden und nicht etwa verflochten, wie er nun sah – zusammengebunden mit dünnen Sehnen. Auf diesem Rahmen waren Äste und Palmwedel ausgebreitet worden. Werkzeuge und Abfälle, die aus der Ferne nicht zu identifizieren waren, lagen vor der runden Öffnung der Hütte herum.

Die Hütte war nichts Besonderes. Sie war etwas größer als seine und bot vielleicht Platz für zwanzig Leute, aber das schien auch der einzige Unterschied zu sein.

Der Schutt auf dem festgestampften Boden um den Eingang der Hütte knirschte unter den Füßen. Mit großen Augen betrat er das Innere der Hütte. Es roch stark nach Asche.

Die Hütte war nicht dunkel, sondern sie wurde von einem warmen braunen Licht erfüllt. Er sah, dass ein Loch in eine Wand gebrochen war. Eine dünn geschabte Tierhaut war vor das Loch gespannt, sodass der Wind draußen gehalten wurde, nicht aber das Licht. Er unterzog die Haut einer kurzen Musterung und suchte nach den Eindrücken und Kratzern von Zähnen, sah aber keine. Wie sollte man Leder ohne Zuhilfenahme der Zähne gerben?

Er schaute sich um. Es lag Kot auf dem Boden: von Kindern und anscheinend auch von Wölfen oder Hyänen. Und es lagen Essensabfälle herum, hauptsächlich Muschelschalen und Fischgräten. Aber er sah auch Tierknochen, an denen zum Teil noch Fleischfetzen hafteten. Sie stammten vor allem von kleinen Tieren, vielleicht vom Schwein oder vom Hirsch, doch selbst das erweckte in ihm einen Anflug von Neid. Soweit er wusste, teilten die wilden Leute im Landesinnern die Erzeugnisse des Waldes und des Graslands mit niemandem.

Er setzte sich im Schneidersitz hin und ließ den Blick schweifen, während die Augen sich langsam ans Dämmerlicht anpassten.

Er sah die Überreste einer Feuerstelle, nur einen schwarzen Kreis auf dem Boden. Die Asche war noch heiß und schwelte stellenweise noch. Vorsichtig fuhr er mit dem Finger am Umfang der Feuerstelle entlang. Der Finger versank in Ascheschichten. Nun sah er, dass eine Grube im Boden ausgehoben worden war, wie die Gruben, in die man eine tote Person senkte. Aber diese Grube war gegraben worden, um das Feuer zu beherbergen. Die Asche war dicht, und er sah, dass das Feuer vieler Tage und Nächte diese dichte Anhäufung bewirkt hatte. Und auf der dem Eingang zugewandten Seite der Grube, wo der Abzug am stärksten war, hatte man einen niedrigen Wall aus Kieselsteinen errichtet.

Das war ein Herd, einer der ersten richtigen Herde, die auf der Welt gebaut wurden. So etwas hatte Kieselstein noch nie gesehen.

Er sah, dass Schichten einer braunen Substanz den Boden bedeckten. Zaghaft berührte er eine dieser Schichten. Sie erwies sich als Rinde. Aber die Rinde war sorgfältig vom Baum abgezogen und irgendwie behandelt, geflochten und geformt worden, sodass diese weiche Decke herausgekommen war. Er lüftete die Rindendecke und sah ein Loch im Boden. Das Loch war mit Nahrung gefüllt, mit einer ganzen Menge Maniokknollen.

Dann stieß er auf Werkzeug. Ein Haufen Splitter sagte ihm, dass an diesem Ort gewohnheitsmäßig Steinwerkzeuge gefertigt wurden. Er durchwühlte die Werkzeuge. Ein paar waren erst halbfertig. Aber es gab Werkzeug in einer verwirrenden Vielfalt: Er sah Äxte, Hacken, Spitzhacken, Hammer-Steine, Messer, Schaber, Bohrer – und andere Ausführungen, deren Zweck er nicht erraten konnte.

Nun fiel sein Blick auf etwas, das wie eine gewöhnliche Axt aussah: eine Steinklinge, die an einem hölzernen Stiel befestigt war. Aber die Schneide war mit einer Liane so fest umwickelt, dass er sie nicht zu lösen vermochte. Er hatte schon gesehen, dass Lianen andere Pflanzen förmlich strangulierten. Es war, als ob jemand diese Axtschneide und den Stiel einer lebenden Liane überantwortet und dann gewartet hätte, bis die Pflanze sich der Artefakte bemächtigt und sie fester zusammengebunden hatte, als eine Hand das je vermocht hätte.

Und hier war ein Geflecht wie dasjenige, das Harpune am Strand getragen hatte. Es war ein Beutel, der Stein- und Knochenwerkzeuge enthielt. Versuchsweise hob er den Beutel auf und legte ihn sich über die Schulter, wie er es bei Harpune gesehen hatte. Kieselsteins Leute fertigten keine Beutel. Sie trugen nur das bei sich, das sie in den Händen zu halten oder sich um die Schultern zu hängen vermochten. Er befingerte das grobe Geflecht. Seiner Einschätzung nach bestand es aus Schlingpflanzen oder Lianen. Aber die Fasern waren zu einer festen Schnur verdrillt worden, die dünner war als jede Liane.

Verwirrt ließ er den Beutel fallen.

Diese Hütte war wie seine Hütte und auch wieder nicht. Zum einen war es seltsam, alles zu trennen. Zu Hause aß man, wo man wollte und fertigte Werkzeug, wo man wollte. Der Raum war nicht aufgeteilt. Hier aber schien es einen Platz zum Essen zu geben, einen zum Schlafen, einen zum Feuermachen und einen für die Werkzeugfertigung. Das war doch blöd. Und…

»Ko ko ko!«

Ein Mann war im Eingang erschienen. Die gegen das Tageslicht sich abzeichnende Silhouette war so groß und schlank wie Harpune und hatte den gleichen kuppeiförmigen Kopf. Der Mann hatte einen ängstlichen Gesichtsausdruck, aber er hob dennoch einen Speer.

Adrenalin wurde in Kieselsteins Kreislauf gepumpt. Er stand schnell auf und taxierte den Widersacher.

Der mit verschnürten Tierhäuten bekleidete Mann war spindeldürr und hatte sehnige Muskeln. Dem Muskelpaket Kieselstein hätte er nichts entgegenzusetzen. Und seine Waffe war nur ein leichter Wurfspeer aus geschnitztem und gehärtetem Holz; es war kein Stoßspeer, wie man ihn für den Nahkampf gebraucht hätte. Kieselstein würde diesem Gerippe einfach den Hals brechen.

Aber der Mann wirkte trotz der Furcht entschlossen. »Ko, ko, ko!«, rief er wieder. Und er machte einen Schritt nach vorn. Kieselstein knurrte und bereitete sich auf den Kampf vor.

»Ya, ya.« Das war Harpune. Sie fiel dem Mann in den Arm. Er versuchte sie abzuschütteln, und sie begannen eine Diskussion. Es war eine Unterhaltung, wie sie genauso gut auch in Kieselsteins Hütte hätte stattfinden können: eine Aneinanderreihung von Worten, von denen er kein einziges verstand, ohne Gliederung und Satzbau. Zur Verdeutlichung mussten sie sich mit Wiederholungen, erhobener Stimme und Gestik behelfen. Das dauerte lange, wie es für solche Auseinandersetzungen üblich war. Doch schließlich lenkte der Mann ein. Er schaute Kieselstein finster an, spuckte auf den Boden der Hütte und ging hinaus.

Vorsichtig betrat Harpune die Hütte. Ohne Kieselstein aus den Augen zu lassen, setzte sie sich auf den festgestampften Boden. Ihre Augen leuchteten im dämmerigen Licht.

Zögerlich setzte Kieselstein sich ihr gegenüber.

Schließlich schob Harpune die schmale Hand unter eine Decke, holte eine Handvoll Affenbrotbaum-Früchte hervor und hielt sie Kieselstein hin. Zögernd nahm er sie. Für eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber, die Vertreter zweier menschlicher Unterarten, die weder ein Wort noch eine Geste gemeinsam hatten.

Wenigstens versuchten sie nicht, sich gegenseitig zu töten.

Nach jenem Tag fühlte Kieselstein sich in seinem Zuhause, bei seinen Leuten immer unbehaglicher.

Die sehnigen Leute schienen ihn zu akzeptieren. Der große Mann, der ihn in der Hütte gefunden hatte – ›Ko-ko‹, denn Kieselstein würden seine »Ko, ko!«-Rufe für immer im Ohr hallen –, traute ihm nicht. Aber Harpune schien sich für ihn zu erwärmen. Sie bearbeiteten zusammen Werkzeug, wobei sie mit ihren geschickten Fingern brillierte und er mit seiner schieren Kraft. Und sie schauten übers Meer zu der paradiesischen Insel, die Kieselstein wie ein Magnet anzog.

Und sie versuchten, die Sprache des jeweils anderen zu erlernen. Das war nicht leicht. Es gab viele Wörter, zum Beispiel Richtungsangaben wie ›Westen‹, die Kieselsteins Vorfahren nie gebraucht hatten.

Er ging sogar mit ihr auf die Jagd.

Diese Neuankömmlinge betätigten sich vorzugsweise als Ausputzer oder jagten aus dem Hinterhalt. Wegen ihrer geschmeidigen, aber schwachen Körper mussten sie die Beute mit List anstatt mit brutaler Kraft zur Strecke bringen, und ihre bevorzugten Waffen waren auch keine Hieb- und Stichwaffen, sondern Wurfgeschosse. Aber sie lernten Kieselsteins Kräfte im Endstadium der Jagd zu schätzen, wenn die Beute auf kurze Distanz erlegt werden musste.

Inzwischen stellten die beiden Arten von Leuten ihr Verhältnis auf eine neue Grundlage. Sie bekämpften sich nicht mehr und gingen sich auch nicht mehr aus dem Weg, was die bisherige Verhaltensmaxime der Leute gewesen war.

Stattdessen trieben sie Handel. Im Austausch für Meeresfrüchte und Gegenstände wie die soliden Stoßspeere erhielten Kieselsteins Leute Knochenwerkzeuge, Fleisch aus dem Landesinnern, Mark, Leder und exotische Delikatessen wie Honig.

Trotz der offensichtlichen Vorteile der neuen Beziehung hatten viele von Kieselsteins Leuten Bedenken. Hände und Robbe hatten die Möglichkeiten der neuen Werkzeuge erforscht. Staub, die schnell alterte, schien in Apathie versunken. Doch Schrei stand den neuen Leuten unverhohlen feindselig gegenüber, insbesondere Harpune. So haben wir das noch nie gemacht. Wo kämen wir denn da hin.

Sie waren schließlich ausgesprochen konservative Leute, Leute, die nur dann umzogen, wenn sie von einer Eiszeit oder einem überlegenen Feind dazu gezwungen wurden. Dennoch handelten sie, denn die Vorteile waren unbestreitbar.

Harpune hatte Ko-Ko deshalb davon abzuhalten vermocht, Kieselstein zu töten, weil für diese Leute ein Fremder nicht notwendigerweise eine Bedrohung bedeutete. So musste man auch denken, wenn man Handel treiben wollte.

Für Hominiden war das eine revolutionäre Denkweise. Allerdings war Harpunes Art auch erst fünftausend Jahre alt.

Es hatte eine Gruppe von Leuten gegeben, Kieselsteins Leuten nicht unähnlich, die an einem Strand, diesem nicht unähnlich, an der Ostküste Südafrikas gelebt hatte. Der Strand war mit gelbbraunen Felsbrocken aus Sedimentgestein übersät. Die Vegetation war nur in jenem Teil der Welt heimisch – eine alte Flora, die an Streuners Zeit erinnerte und vorwiegend aus Büschen und Bäumen bestand, die mit großen stachligen Blüten besetzt waren. Es war ein guter Ort zum Leben. Das Meer bot Nahrung in Hülle und Fülle: Muscheln, Krebse, Fische und Seevögel. Stellenweise erstreckte der Wald sich bis zur Küste hinunter und hallte von den Schreien von Affen und Vögeln wider. Und im Grasland gab es Wild in Hülle und Fülle: Nashörner, Springböcke, Wildschweine, Elefanten sowie langhornige Büffel und Riesenpferde.

Hier hatten Harpunes Vorfahren ein Zuhause in der Nähe des Meers gehabt. Wie Kieselsteins Leute hatten sie dort seit unzähligen Generationen gelebt, deren Knochen sich in der Erde stapelten. Von hier aus durchstreiften sie die Landschaft, wobei sie sich aber höchstens ein paar Kilometer von zu Hause entfernten.

Dann war mit plötzlicher Wucht das Klima umgeschlagen. Der Meeresspiegel war angestiegen, und die uralte Heimat war überflutet worden. Wie Kieselsteins Gruppe hatten sie fliehen müssen. Und wie Kieselsteins Gruppe waren sie in einem überfüllten Land isoliert gewesen und wussten nicht, wo sie hingehen sollten.

Mit jedem Schritt, den sie sich von zu Hause entfernten, waren sie ängstlicher und verwirrter geworden. Viele waren gestorben. Viele Kinder, die in den Armen verhungernder Flüchtlingsmütter lagen, überlebten nicht lang nach der Geburt.

Schließlich waren sie in ihrer Verzweiflung einem Fluss gefolgt. Sie erreichten die Flussmündung, wo es dichte Mangrovenwälder gab. Hier konnten sie bleiben, weil dieser Ort von niemandem sonst beansprucht wurde. Der Erdboden war großenteils mit brackigem braunem Wasser bedeckt, in dem Krokodile schwammen. Im feuchten Fiebersumpf wimmelte es nur so von Echsen, Schlangen und Insekten, von denen viele – sogar die Wanderameisen – sich verschworen zu haben schienen, die Leute zu vertreiben.

Immerhin gab es Nahrung in Form von Wasserlilienwurzeln, -schösslingen und -stielen. Sogar Mangroven-Früchte wurden von den Hungernden verzehrt. Aber es gab fast kein Fleisch. Und es gab auch nirgends Steine für die Werkzeugfertigung. Es war, als ob sie auf einer großen, durchnässten Matte aus Vegetation zu überleben versucht hätten.

Die aus ihrer gewohnten Umgebung vertriebenen Leute wären vielleicht innerhalb einer Generation ausgestorben, wenn sie sich nicht angepasst hätten.

Es hatte eigentlich ganz unspektakulär begonnen. Eine Frau, Harpunes Urahnin, war im Flusstal weit stromaufwärts gegangen und hatte schließlich trockeneres Land erreicht. Hier in den Flutebenen und saisonalen Sümpfen unterstützte der gut bewässerte, mineralreiche Boden das Wachstum vieler einjähriger Pflanzen, Kräuter, Gemüse, Ranken, Blüten und Pfeilwurzeln. Nach den Jahren im Sumpf hatte sie ein Geschick dafür entwickelt, mit primitiven Holzwerkzeugen und den bloßen Händen Nahrung in morastigem, schwierigem Gelände zu suchen. Sie hatte sich schon den Bauch voll geschlagen und sammelte Wurzeln, die sie ihren Kindern mitbringen wollte.

Und dann begegnete sie dem Fremden. Der Mann aus einer anderen Gruppe weiter flussaufwärts benutzte ein Basalt-Messer, um ein Kaninchen zu häuten. Die beiden starrten sich an – der eine mit Fleisch, die andere mit Wurzeln. Sie hätten fliehen oder versuchen können, sich gegenseitig umzubringen. Aber sie taten es nicht.

Stattdessen tauschten sie: Fleisch für Wurzeln. Und dann gingen sie wieder ihrer Wege.

Nach ein paar Tagen kehrte die Frau zu derselben Stelle zurück. Wieder erschien auch der Mann. Mit finsteren Blicken, argwöhnisch und unfähig zur Verständigung trieben sie wieder Handel, diesmal Muscheln und Krebse von der Flussmündung für zwei Basaltmesser.

So begann es. Weil die Sumpf-Leute in dem Land, wo sie gesiedelt hatten, nicht alles Überlebensnotwendige fanden, tauschten sie die Erzeugnisse des Meers, des Sumpfs und der Flutebene gegen Fleisch, Häute, Stein und Früchte aus dem Landesinnern.

Nach zwei Generationen gingen sie auf Wanderschaft und fingen ein neues Leben an. Sie wurden zu richtigen Nomaden und folgten den großen natürlichen Verkehrswegen, den Küsten und den Wasserläufen im Binnenland. Und überall, wohin sie kamen, trieben sie Handel. Unterwegs spalteten sich Gruppen ab und breiteten sich aus, und allmählich entstanden Handels-Netzwerke. Bald fand man bearbeiteten Stein hunderte Kilometer von dem Ort entfernt, an dem der Steinmetz gesessen hatte, und Muschelschalen tauchten in der Mitte des Kontinents auf.

Dennoch war diese Lebensweise eine Herausforderung. Um Handel zu treiben, musste man ein neues Verständnis der Welt entwickeln. Andere Leute waren nicht mehr nur passive Merkmale der Landschaft wie Felsen und Bäume. Nun musste man sich merken, wer wo lebte, wer was anzubieten hatte und wer freundlich – und ehrlich war. Damit standen die Sumpf-Leute unter dem ungeheuren Druck, sehr schnell viel intelligenter zu werden.

Die Form ihrer Köpfe änderte sich grundlegend. Der Schädel vergrößerte sich, um einem größeren Gehirn Platz zu bieten. Und die neuen Essgewohnheiten und Lebensweisen wirkten sich nachhaltig aufs Gesicht aus. Weil die Zähne nicht mehr dazu dienten, zähe, ungekochte Nahrung zu kauen oder Leder zu gerben, wurden sie schwächer verwurzelt. Weil die Kaumuskulatur sich zurückbildete, wich auch die obere Zahnreihe zurück. Der Unterkiefer sprang weiterhin vor, aber das Gesicht fiel nun senkrecht ab, sodass diese Hominiden auch den letzten Rest der affenartigen Anmutung verloren. Durch den schrumpfenden Kiefer und die nach vorn sich wölbende Stirn wurden neue Aufhängungspunkte für die Gesichtsmuskeln geschaffen, und die alten vorspringenden Brauenwülste verschwanden.

In dem Maß, wie sie an Intelligenz gewannen, vermochten sie auch auf Körperkraft zu verzichten. Ihr Körper verlor die Robustheit der unmittelbaren Vorfahren und nahm wieder so etwas wie die grazile Schlankheit von Weits Leuten an.

Kieselsteins erster Eindruck, dass Harpune kindlich anmutete, war durchaus begründet. Mit den Gesichtszügen und den dünnen Gliedmaßen wirkten diese neuen Leute im Vergleich zu den alten Stämmen wie Kinder, die im Wachstum gehemmt worden waren. Erneut hatten die Gene unter starkem Selektionsdruck Varianten ausgeprägt, die schnell umgesetzt werden konnten: Die Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Skelett-Partien zu ändern war eine relativ leichte Übung.

Diese Änderungen waren innerhalb weniger Jahrtausende abgeschlossen. Nach diesem Prozess war Harpune anatomisch mit den Menschen aus Joan Usebs Zeit praktisch identisch, auch was den Schädel und die Strukturierung des Gehirns betraf. Und es war der Handel gewesen, eine neue Art des Umgangs mit anderen Leuten, dem sie diese Fortschritte zu verdanken hatte.

Dennoch war Harpune noch kein Mensch.

Ihr Leben war durch kleinere Erfindungen und eine etwas verbesserte Organisationsstruktur charakterisiert. Ihre Art baute zum Beispiel Herde. Ihr Werkzeugsatz war jedoch kaum fortschrittlicher als der von Kieselstein und seinen Vorfahren. Ihre Sprache war das gleiche unstrukturierte Geplapper. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben lebte, zum Beispiel die Sexualität, hatte sie weitgehend unverändert von den Altvorderen übernommen. Es gab noch immer starre Barrieren in ihrem Bewusstsein und zu wenig Verbindungen in der neuronalen Vernetzung des Gehirns. Ein Mensch aus Joan Usebs Zeit wäre wegen der Monotonie, der immergleichen Routinen und Rituale, des Fehlens von Kunst und Sprache – also bei dem total öden und geistig armen Leben – schnell verrückt geworden.

Und menschliche Gestalt hin oder her, diese Leute waren nicht übermäßig erfolgreich gewesen. Obwohl sie sich vom Ursprung im Sumpf des Südwestens über Afrika ausgebreitet hatten, waren sie keine Avantgarde gewesen. Es war schwer, Handel zu treiben, wenn es keine Gleichartigen gab, mit denen man zu tauschen vermochte. Das Überleben der neuen Nomaden stand nach wie vor auf der Kippe, und die meisten Gruppen auf dem Kontinent starben aus.

Den Kindern von Harpune gelang es jedoch, sich über diese kritische Phase hinwegzuretten, und ihre Gene trugen fortan eine ›Flaschenhals‹-Signatur. Die vielen Milliarden Menschen, die künftig aus dieser nicht viel versprechenden Saat hervorgingen, waren genetisch praktisch identisch. Alle Menschen waren Verwandte.

Kieselstein Beziehung zu Harpune erreichte auf einer Jagd den Höhepunkt.

Eines Tages versteckte Kieselstein sich mit dem Wind im Rücken in einem Unterstand und spähte eine Herde friedlich grasender Riesenpferde aus. Der Unterstand bestand aus ein paar Schösslingen, die locker verwoben und mit Palmwedeln und Gras bedeckt waren. Hier lag Kieselstein also mit dem Stoßspeer neben sich und taxierte das große, lahme Tier, das ihr Ziel war.

Und Harpune lag neben ihm. Er war angespannt, wurde von Adrenalin durchflutet, und die Hitze des Tages und der Schweißgeruch des Pferds benebelten ihm die Sinne.

Plötzlich spürte er ihre Finger im Gesicht.

Er drehte sich um. Ihre Haut schien in dem grünen Dämmerlicht zu glühen. Sie strich über die senkrechten ockerfarbenen Streifen, die er noch immer trug. Und dann wanderten ihre schlanken Finger zu seinem Arm und den lang verheilten Schnittwunden, die er sich selbst zugefügt hatte. Bei jeder Berührung von ihr erschauerte er, als ob ihre Finger aus Eis oder Feuer wären.

Dann fuhr er ihr mit den Fingern über den Arm. Seine Faust schloss sich leicht um ihren Unterarm, wie um das Bein eines Vogels. Er spürte, dass er den Knochen wie ein Streichholz zu brechen vermocht hätte. Plötzlich fühlte er sich wieder in den Tag zurückversetzt, als er ihr am Strand begegnet war. Er bekam einen trockenen Mund und konnte nur mit Mühe schlucken.

Er verstand seine Lust nicht: die Lust, die nie geschwunden war. Er dachte an die tollen Werkzeuge, die sie gefertigt hatte, ihre langen, geschmeidigen Schritte, die Nahrung, die sie seinen Leuten gebracht hatte – und diese Harpune mit der feinen Spitze, die unvorstellbar für ihn gewesen war, bis er sie an jenem Tag zum ersten Mal gesehen hatte. Da war etwas an ihr, das sein Körper begehrte; die Sehnsucht war schier unerträglich.

Er rollte sich auf den Rücken. Im grünen Dämmerlicht des Pflanzen-Unterstands setzte sie sich auf ihn und lächelte.

IV

Jeder Brocken Feuerstein war ein Miniatur-Friedhof. In einem längst verschwundenen Meer hatten die Kadaver von Krustentieren ein Sediment gebildet, und winzige glasige Nadeln, die einst das Skelett von Schwämmen gewesen waren, wurden zu Feuerstein, der in den sich verdickenden Kalk-Flözen eingeschlossen war.

Kieselstein hatte das Gefühl von Feuerstein immer schon geliebt. Er drehte den glattflächigen, spröden Stein in den Händen und ertastete seine Struktur. Feuerstein-Steinmetze mussten jede noch so subtile Eigenschaft des Steins kennen. Je länger ein Feuerstein den Elementen ausgesetzt war, desto wahrscheinlicher war es, dass er Risse hatte, die durch Frost oder die Wirkung von Fluss- und Meeresströmungen entstanden waren. Dieser Feuerstein wies jedoch keine derartigen Spuren auf. Er war makellos. Er war erst vor kurzem aus seiner Kalkmatrix befreit worden, nachdem eine Klippe eingestürzt war. In diesem Gebiet, im alten Revier der Leute, fand man keinen solchen Feuerstein. Kieselstein hatte guten Feuerstein in den langen Jahren am Strand vermisst, ehe Harpune in sein Leben getreten war.

Dieser Tage war er nie zufriedener, als wenn er Stein bearbeitete – das heißt, er war nie weniger unzufrieden.

Sieben Jahre waren seit der ersten Begegnung mit Harpune verstrichen. Mit sechsundzwanzig baute sein Körper bereits ab. Er war durch die vielen Entbehrungen und Härten eines Lebens gezeichnet, das noch immer sehr hart war, obwohl seine Leute nun mit den Neuankömmlingen zusammenarbeiteten.

Er hatte sich auf Harpune eingelassen, und er hatte sich auch auf das Neue und die Veränderungen eingelassen, die sie bedeutete, aber diese Veränderungen waren trotzdem schwer zu bewältigen. Kieselsteins Bewusstsein war höchst unflexibel. Und je älter er wurde, desto mehr genoss er diese Momente allein mit dem Stein, wenn er sich in einen Winkel seines geräumigen Bewusstseins zurückziehen konnte.

Jedoch war dieser friedliche Moment nicht von Dauer.

»Hai, hai, hai! Hai, hai, hai!«

Da kamen sein Sohn und seine Tochter, der stämmige Sonnenuntergang und die dünne Glatt. Sie rannten zusammen den Strand entlang und plapperten das Kauderwelsch, das durch die Verschmelzung von Kieselsteins und Harpunes Zungen entstanden war. »Komm, komm, komm her zu uns!« Die nackten Kinder mit der von Salz und Schweiß verkrusteten Haut wollten, dass er herbeikam und bei den Baumstämmen half, die Ko-Ko und andere ins Meer schoben.

Er tat so, als hörte er sie nicht, bis sie fast bei ihm waren. Dann schnappte er sich beide mit Gebrüll, und die drei wälzten sich balgend im Sand. Schließlich ließ Kieselstein sich erweichen. Er legte den Feuerstein weg, stand auf und lief hinter den Kindern den Strand entlang.

Es war ein strahlend schöner, warmer Morgen, und die Luft war vom Geruch nach Salz und Ozon erfüllt. Während die Kinder vor dem langsameren Vater förmlich dahinflogen, überholte Glatt bald ihren Bruder. Kieselstein verspürte einen Anflug von Freude über ihre jugendliche Energie. An diesem Ort würde er zwar nie heimisch werden, aber er hatte auch seine Vorzüge.

Ko-Ko, Hände und Robbe bauten eine Art Floß. Harpune war auch da. Sie hatte die Hände auf ihren Bauch gelegt, der schon sichtlich geschwollen war. Sie grinste, als sie Kieselstein sah.

Die Männer hatten im Wald landeinwärts zwei kräftige Palmen gefällt, die Wipfel entfernt und die Stämme mit Lianen und geflochtenen Ranken zusammengebunden. Nun schleppten Hände und Robbe diese primitive Konstruktion über den Strand zum Wasser. Sie legten sich mächtig ins Zeug und plapperten dabei: »Schieb, schieb, schieb!«

»Zurück zurück, nein, zurück, zurück…«

»Hai, hai!«

Kieselstein kam Hände und Robbe zu Hilfe. Aber auch zu dritt war es noch ein hartes Stück Arbeit, und Kieselstein geriet bald wie die anderen ins Schwitzen. An den Beinen klebte heißer stechender Sand. Ko-Ko wollte auch helfen, aber hier half nur brutale Kraft, die außer Kieselstein und seinen Leuten niemand sonst aufbrachte. Und sie wurden durch die beiden Kinder behindert, die eigentlich nur helfen wollten und durch Harpunes Wolf, der ihnen bellend zwischen den Füßen herumsprang.

Der Wolf, den sie als Welpen gefangen und aufgezogen hatte, war zahm. Das war der Anfang einer Beziehung, die länger dauerte als alle anderen zwischen Mensch und Tier, eine Beziehung, die letztendlich beide Spezies prägte.

Kieselstein hatte sein Ziel, die Insel zu erreichen, nie aus dem Auge verloren. Als er einmal in Gedanken versunken am Strand saß, hatte er Kinder beobachtet, die im Wasser mit Treibholz spielten – und da hatte es in seinem Kopf ›klick‹ gemacht.

Im Mangrovensumpf hatten die Vorfahren von Harpune, auch keine besseren Schwimmer als Kieselstein, einen Weg finden müssen, das von Krokodilen verseuchte Wasser zu überqueren. Nach vielen Versuchen und Fehlern – wobei jeder Fehler mit Verstümmelung oder Tod bestraft wurde –, waren sie auf die Idee gekommen, Mangroven-Stämme zu benutzen. Man legte sich flach auf einen solchen Stamm und ruderte mit den Händen. Auf all ihren Reisen hatten die Dürren diese grundlegende Technik nicht vergessen. Und genau das war es, wobei Kieselstein die Kinder mit dem Treibholz beobachtet hatte. Nun sah er eine Möglichkeit, die Insel zu erreichen.

Über das stille Wasser eines Mangrovensumpfs zu paddeln war jedoch eine Sache. Die bewegte Oberfläche eines Meers abzureiten war eine ganz andere Herausforderung.

Nach ein paar spektakulären Fehlschlägen hatte der einfallsreiche Ko-Ko die Idee gehabt, zwei Baumstämme zu vertäuen. Auf diese Weise erlangte man wenigstens etwas mehr Stabilität. Jedoch bestand auch bei diesen Flößen noch die Gefahr des Kenterns.

Schließlich ließen sie die zusammengebundenen Stämme zu Wasser. Sie schwammen und boten eine stabile Fläche.

Ko-Ko und Hände warfen sich ins Wasser, dass es nur so spritzte. Dann legten sie sich flach auf die Baumstämme, streckten die Beine aus und ruderten mit den Armen. Langsam entfernten sie sich von der Küste. Aber die Wellen warfen das Floß umher – und schließlich um. Beide Männer fielen ins Wasser. Und dann löste die Vertäuung der Stämme sich.

Hände kam prustend und grummelnd aus dem Wasser. Mit Ko-Ko zog er die Stämme aus dem Wasser an den Strand.

Kieselstein wusste, dass keine Gefahr bestanden hatte, weil das Wasser hier so seicht war, dass man an den Strand zurückzugehen vermochte. Weiter draußen wurde das Meer aber schnell tiefer, und das mussten sie überqueren, wenn sie die Insel erreichen wollten.

Also gingen sie wieder an die Arbeit und probierten alle möglichen Kombinationen aus.

Kieselsteins Leben hatte sich in den letzten sieben Jahren grundlegend verändert.

Diejenigen, die mit ihm aus Plattnases Dorf geflohen waren, hatten die Welt der Reihe nach verlassen. Hyäne hatte sich nicht mehr von seiner Verletzung erholt, und sie hatten ihn in die Erde gelegt. Und nicht viel später hatten sie auch Staub in die Erde legen müssen. Kieselsteins Mutter schien Harpune allmählich ins Herz geschlossen zu haben, diese sonderbare Frau, die bei ihrem Sohn lag. Schließlich hatte ihre Schwäche die Willenskraft jedoch besiegt.

Doch wo Leben verging, entstand auch neues Leben. Seine beiden Kinder waren fast gleichaltrig – sechs und sieben Jahre –, aber sie waren völlig verschieden.

Sonnenuntergang war mit sechs der jüngere. Der Junge war das Ergebnis von Kieselsteins Seitensprung mit Schrei, die ihm noch nachgestellt hatte, nachdem er längst eine Verbindung mit Harpune eingegangen war. Sonnenuntergang war kompakt und rund; ein richtiges Energiebündel und Muskelpaket. Und über einem markanten Brauenwulst hatte er noch immer das feuerrote Haar, mit dem er geboren worden war – Farbton ›Eiszeit-Sonnenuntergangsrot‹.

Sonnenuntergang hatte der armen Schrei jedoch keine Freude bereitet. Sie war bei seiner Geburt gestorben, aber nicht ohne zuvor noch gegen die Anwesenheit der neuen Leute bei ihnen zu protestieren.

Kieselsteins anderes Kind, Glatt, war von Harpune. Obwohl sie auch etwas von der Korpulenz ihres Vaters hatte, schlug sie viel eher nach ihrer Mutter. Sie war jetzt schon größer als Sonnenuntergang. Jedes Mal, wenn er sie sah, staunte Kieselstein von neuem über Glatts flaches Gesicht und die wulstlosen Brauen, die ihre klaren Augen überwölbten.

Kieselstein musste sich nicht darüber wundern, dass aus dem sexuellen Kontakt mit Harpune ein Kind hervorgegangen war. Und nun war sie schon wieder schwanger. Die Unterschiede zwischen den alten Stämmen und Harpunes Stamm waren zwar beachtlich, aber auch nicht so grundlegend, dass die beiden Arten von Leuten sich nicht zu kreuzen vermocht hätten. Und ihre Kinder wären auch keine ›Maultiere‹. Sie waren fruchtbar.

So hatten Harpunes modifizierte Gene und der neue Bauplan ihres Körpers sich in der größeren Population der robusten Leute verbreitet. So wurde der genetische Schicksals-Faden von Glatt, dem Kind mit der menschlichen Gestalt und den robusten Affen-Merkmalen in die Zukunft fort gesponnen.

Während der lange Nachmittag sich hinzog, versuchten sie auf Kieselsteins Betreiben, ein schwimmfähiges Floß zu entwerfen.

Es war frustrierend. Sie waren nicht fähig, ihre Ideen untereinander zu erörtern. Dazu war ihre Sprache einfach zu primitiv. Zumal nicht einmal die neuen Leute begnadete Erfinder waren, weil die Schotts im hoch spezialisierten Bewusstsein es ihnen verwehrten, Handlungen ganzheitlich zu betrachten. Sie vermochten es nicht durchzudenken. Es war in etwa damit zu vergleichen, als ob man eine neue körperliche Fertigkeit wie Fahrradfahren erlernen wollte: Mit einer bewussten Anstrengung allein war es nicht getan. Außerdem war die Arbeit unkoordiniert und ging nur weiter, wenn jemand sich aufraffte und die anderen antrieb.

Doch dann hatte Ko-Ko plötzlich einen Geistesblitz. Er rannte ins Wasser. »Ya, ya!« Mit wilden Schreien und Schlägen zwang er die Schwimmer, sich an einem Baumstamm festzuhalten und sich treiben zu lassen. Dann ging er zum anderen Ende und schob den langen Stamm mit kräftigen Schwimmstößen durch die küstennahe Brandung in ruhigeres Wasser.

Kieselstein schaute erstaunt zu. Es funktionierte. Anstatt auf dem Baumstamm zu sitzen, nutzten sie ihn als Schwimmhilfe für diese Nichtschwimmer. Bald war der Stamm so weit von der Küste entfernt, dass er nur noch eine Reihe auf und nieder hüpfender Köpfe und den schwarzen Balken zwischen ihnen sah.

Indem sie sich an dem Baumstamm festklammerten und mit aller Kraft paddelten, vermochten selbst die Robusten, die zum Schwimmen zu schwer waren, ein Gewässer zu überqueren, das viel tiefer war als sie hoch. Es war für jeden ersichtlich, dass sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatten, die Meerenge zu überqueren, die Kieselstein seit Jahren reizte.

Kieselstein stieß ein Triumphgebrüll aus. Seine Kinder kamen zu ihm gelaufen. Er hob Glatt auf und wirbelte das quiekende Kind in der Luft herum, während Sonnenuntergang ihn um Aufmerksamkeit heischend an den Beinen zog.

Die ›Expedition‹ landete an einem halbmondförmigen, muschelübersäten Sandstrand, der sich an eine Wand aus erodiertem blauschwarzem Gestein schmiegte. Sie stolperten aus dem Wasser und legten sich keuchend auf den Strand. Kieselstein sah mit einem Blick, dass alle, Robuste und Dünne gleichermaßen, es bis zur Küste geschafft hatten.

Die Überfahrt war härter gewesen, als Kieselstein es sich vorgestellt hatte. Er würde nie dieses schreckliche Gefühl vergessen, über der blauschwarzen Tiefe zu hängen, wo unbekannte Kreaturen lauerten. Doch nun war es geschafft.

Und Ko-Ko war schon bei der Arbeit. Er zog einen Stamm ans Ufer und forderte die anderen auf, seinem Beispiel zu folgen. Die Krieger – ein Dutzend Robuste und ein Dutzend Dünne – packten die Ausrüstung aus. Einen Teil der Waffen hatten sie sich auf den Rücken gebunden oder in Netzen verpackt, und andere – zum Beispiel die langen Wurfspeere der Dünnen – hatten sie an die Baumstämme gebunden.

Harpune strich sich über den Bauch und schaute aufs Meer hinaus in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie berührte die senkrechten Ockerstreifen in Kieselsteins Gesicht, wie sie es getan hatte, bevor sie das erste Mal kopuliert hatten. Doch nun trug sie die gleiche Kriegsbemalung wie er – alle Leute trugen sie, Dünne und Robuste gleichermaßen. Er grinste, und sie erwiderte das Grinsen.

Geeint durch ihre Symbole, schickten zwei Arten von Leuten sich an, Krieg gegen eine dritte zu führen.

Eine Frau schrie auf. Kieselstein und Harpune wirbelten herum. Ein schwerer Basaltbrocken war auf den Strand gefallen und hatte eine Dünnen-Frau am Bein getroffen. Als der Felsbrocken weggeräumt worden war, wurde ihr Fuß sichtbar – er war eine zertrümmerte, blutige Masse. Sie wehklagte, und Tränen verschmierten die Ockerstreifen auf den Wangen.

Leute riefen durcheinander und zeigten auf die Klippen. »Hai, hai!«

Kieselstein beschirmte die Augen und schaute nach oben. Etwas bewegte sich dort oben: ein Kopf auf schmalen Schultern. Der Felsbrocken war nicht heruntergefallen, wurde Kieselstein sich bewusst. Er war heruntergestoßen oder -geworfen worden.

So hatte es angefangen. Er packte den Stoßspeer, stieß ein zorniges Gebrüll aus und rannte am Strand entlang. Die Leute folgten ihm.

Nach ein paar hundert Metern öffnete dieser geschützte Strand sich auf ein offeneres Gelände aus Dünen und Grasland. Und auf dem offenen Land sah Kieselstein eine Gruppe gespenstischer Hominiden. Sie waren über zwanzig, Männer, Frauen und Kinder. Sie hatten sich um den Kadaver einer Elenantilope versammelt. Beim Anblick von Kieselstein standen sie auf und schauten in seine Richtung.

Kieselstein stürmte mit Gebrüll los.

Ein paar der Hominiden drehten sich um und ergriffen die Flucht – Mütter mit Kindern und ein paar der Männer. Andere stellten sich dem Kampf. Sie hoben Steine auf und schleuderten sie gegen die Eindringlinge, als ob sie umherstreifende Hyänen abwehren wollten. Diese Leute waren groß, schlank und nackt; ihre Körper wiesen auf den ersten Blick eine Ähnlichkeit mit dem Harpunes auf. Aber die Köpfe waren ganz anders. Sie hatten breite, vorspringende Gesichter, dicke Brauenwülste und flache Hirnschalen.

Sie waren eine späte Variante des Homo erectus. Diese Gruppe war auf die Insel eingewandert, als in einem Extrem der Eiszeit der Meeresspiegel so tief gesunken war, dass eine Brücke zum Festland entstand. Als der Meeresspiegel dann wieder gestiegen war, hatten sie überlebt, während der Rest ihrer Art umgekommen war. Es hatte nämlich niemand gewusst, wie man die unruhige Meerenge überqueren sollte, um ihnen die Insel streitig zu machen.

Bis jetzt.

Ein Mann, der kräftiger war als die anderen, ergriff eine große, schwere Steinaxt und rannte auf Hände zu. Der große Robuste reagierte mit einem Brüllen und packte den massiven Stoßspeer fester. Mit der Geschwindigkeit eines Schemens wich der Mann Händes Attacke aus und schlug ihm mit der Steinaxt in den Nacken. Blut spritzte, und Hände brach zusammen und kippte vornüber. Aber er kämpfte noch weiter. Er drehte sich auf den Rücken und versuchte den Stoßspeer zu heben. Doch der große Mann stand schon mit erhobener Axt über ihm.

Der wütende Kieselstein rammte dem Mann seinen Speer in den Rücken. Mit dieser Waffe vermochte Kieselstein die Haut und den Brustkorb eines Elefantenbabys zu durchstoßen und es war ein Kinderspiel, den schweren Speer durch die Haut, Rippen und das Herz eines Hominiden zu treiben. Er hob den Körper des Manns wie einen aufgespießten Fisch an. Er zappelte, und Blut schoss ihm aus Mund und Rücken. Die klebrige rote Flüssigkeit lief am Schaft des Speers entlang und benetzte Kieselsteins Arme.

Dann kniete Kieselstein neben Hände nieder. Aber der große Mann lag bewegungslos, und die muskulösen Gliedmaßen waren schlaff. Trauer keimte in Kieselstein auf: Er hatte schon wieder einen Kameraden verloren. Er stand auf, wobei ihm das Blut von Händen und Armen herablief und hielt Ausschau nach dem nächsten Gegner.

Aber die gespenstischen Nackten suchten das Weite. Die Dünnen schleuderten die Speere aus feuergehärtetem Holz, und diese regneten auf die fliehenden Hominiden herab.

Kieselstein erschauerte. Er war froh, dass nicht er es war, den diese Dünnen mit einem solchen Vernichtungswillen verfolgten. Dann hob er den Stoßspeer auf und folgte den Verbündeten. Händes Körper überließ er den Hyänen.

Die Auslöschung einer Gruppe durch eine andere war weit verbreitet bei sozialen und Fleischfresser-Spezies – bei Ameisen, Wölfen, Löwen, Affen und Menschenaffen zum Beispiel. In dieser Hinsicht war das Verhalten der Leute nur ein Ausfluss ihrer tiefen animalischen Verwurzelung.

Doch unter Wölfen, Menschenaffen, Pithecinen und sogar den Läufern hatten solche Maßnahmen sich als ineffizient erwiesen. Ohne wirkungsvolle Waffen waren solche Feldzüge nur mit einer überwältigenden zahlenmäßigen Überlegenheit erfolgreich, und es dauerte unter Umständen Jahre, bevor ein Krieg zwischen zwei rivalisierenden Gruppen aus ein paar Dutzend Pithecinen beendet war. Selbst in der langen Geschichte der sesshaften Robusten hatten solche Massaker kaum stattgefunden. Wohl wurden verirrte Fremde getötet, aber es wurden keine Kriege um Lebensraum geführt.

Allerdings änderte sich das nun in dem Maß, wie die genetische Definition von Harpunes neuem nomadischem Stamm sich ausbreitete. Harpunes Art verfügte über präzise, weit tragende Waffen und helle Köpfe, die in zunehmendem Maß zu strukturiertem und analytischem Denken befähigt waren. Sie waren in der Lage, Massentötungen mit nie da gewesener Gründlichkeit durchzuführen. Jedoch wirkte sich das auch kontraproduktiv aus. Die Kriegführung gegen andere Gruppen zwang die Hominiden, sich zu immer größeren Verbänden zusammenzuschließen – mit allen sozialen Komplikationen, die sich daraus ergaben. Außerdem prägte das Morden die Mörder: Parallel zur Liebe entwickelte sich der Hass.

Nachdem sie eine besonders große Siedlung ausgehoben hatten, veranstalteten Ko-Ko und die anderen eine Art Party. Sie schleiften die Leichen der Frauen, Kinder und Männer aus der Siedlung auf eine freie Fläche und stapelten sie auf. Es waren dreißig oder vierzig, und alle hatten aufgeschlitzte Bäuche, gespaltene Brustkörbe und zertrümmerte Schädel. Dann warfen sie brennende Äste auf den Leichenberg und zündeten ihn an. Ko-Ko und die anderen tanzten schreiend und brüllend um die brennenden Leichen.

Die dünnen Jäger schleppten Gefangene an. Es waren eine Mutter mit Kind, ein dürrer Junge, der noch so klein war, dass man ihn zu tragen vermochte. Die Jäger hatten sie an einer Klippe umzingelt, wo sie sich hatte verstecken wollen. Dünne und Robuste scharten sich brüllend und kreischend um die Mutter und richteten Stoßspeere auf ihr Gesicht.

Kieselstein hatte den Eindruck, als ob die Mutter wie gelähmt war. Vielleicht stand ein Ausdruck von Schuld in das schmale, vorspringende Gesicht geschrieben. Sie hatte überlebt, während alle anderen gefallen waren, alle außer ihrem kleinen Kind, und sie hatte keine Gefühle mehr.

Ko-Ko trat vor. Mit einer fließenden Bewegung stieß er der Frau den Speer in die Brust. Eine schwarze Flüssigkeit spritzte aus dem Körper. Sie verkrampfte sich – mit dem nur zu vertrauten Geruch des im Todeskampf abgesonderten Kots – und sackte zusammen.

Und das Kind lebte noch. Es klammerte sich wimmernd an seine Mutter und versuchte sogar, noch an der blutigen Brust zu saugen. Und wie eine Chasma-Mutter einst ihre Jungen auf den unglücklichen Elefant angesetzt hatte, schubste nun Harpune, deren Bauch stolz geschwollen war, Glatt auf das Kind zu. Kieselsteins Tochter hatte ein Hackwerkzeug aus Stein. Sie hatte einen so geschmeidigen Körper wie ihre Mutter und wirkte in diesem Moment fiebrig und begierig. Und sie hob den Hackstein über den flachen Kopf des Kindes.

Obwohl er nie einem Kampf aus dem Weg ging, wünschte Kieselstein sich plötzlich, weit weg von hier zu sein, im Sonnenuntergang am Strand zu sitzen oder Maniokknollen auszugraben und nach Hause zu seiner Mutter zu bringen.

Doch am nächsten Morgen war das Feuer heruntergebrannt. Von den Hominiden waren nur noch hautbespannte Skelette übrig, und die verkohlten Leiber waren geschrumpft und wie Embryos verkrümmt. Ko-Ko und Glatt gingen zwischen den schwelenden Überresten umher und zertrümmerten sie mit den Schäften der schweren Stoßspeere.

KAPITEL 11 Mutters Leute Sahara, Nordafrika, vor ca. 60.000 Jahren

I

Mutter war allein unterwegs, als schlanke aufrechte Gestalt in einer topfebenen Landschaft. Der Boden glühte unter ihren Füßen, und der Staub stach und kitzelte sie. Sie kam zu einer Gruppe Hoodia-Kakteen. Sie ging in die Hocke, schnitt einen etwa gurkengroßen Strunk ab und kaute das feuchte Fleisch.

Sie war nackt, hatte nur einen Gürtel aus Antilopenleder um die Hüfte geschlungen. Das Einzige, was sie bei sich trug, war ein behauener Stein. Ihr Gesicht war durchweg menschlich mit einer glatten, hohen Stirn und einem spitzen Kinn. Doch der Mund war zusammengekniffen, und die tief in den Höhlen liegenden Augen irrlichteten argwöhnisch.

Die sie umgebende Savanne war trocken und trist. Die leere, schattenlose Ebene erstreckte sich in alle Richtungen und löste sich in einem gespenstischen Hitze-Flimmern auf, das den Horizont verschleierte. Die Leere wurde nur von einzelnen zähen Büschen oder den Überresten eines von Elefanten zertrampelten Wäldchens unterbrochen. Es lag nicht einmal mehr Dung herum, weil die großen Pflanzenfresser nur noch selten hier durchkamen und die kleinen, fleißigen Mistkäfer ihr Werk längst getan hatten.

Sie umklammerte den Kaktusstrunk und ging weiter.

Schließlich gelangte sie zum Ufer eines Sees – oder wo das Ufer letztes Jahr gewesen war oder vielleicht das Jahr zuvor. Nun war der Boden ausgetrocknet. Er war eine Schicht aus dunklem, in der Hitze gesprungenem Schlamm, der so hart war, dass er nicht einmal zerbröselte, als sie darauf trat. Hier und da klammerten struppige Grasbüschel sich ans Leben.

Sie beschirmte die Augen mit den Händen. Das Wasser war immer noch da, aber weit von ihrem Standort entfernt. Es war nur ein ferner Schimmer. Doch sogar von hier aus stieg ihr der feuchte Modergeruch eines fast zugewachsenen Gewässers in die Nase. An der gegenüberliegenden Seite des Sees sah sie Elefanten, schwarze Schemen, die sich wie Wolken in der flimmernden Hitze bewegten, und andere Tiere, die sich im Schlamm suhlten – vielleicht Warzenschweine.

Und auf der überwucherten Wasseroberfläche des Sees machte sie Wasservögel aus. Der Schwarm saß friedlich in der Mitte des Sees, wo er vor den hungrigen Räubern des Landes sicher war.

Mutter lächelte. Die Vögel waren genau da, wo sie sie haben wollte. Sie machte kehrt und entfernte sich vom schlammigen Ufer des Sees.

Im Alter von dreißig Jahren war Mutters Körper noch genauso geschmeidig und straff, wie er es in der Jugend gewesen war. Aber der Bauch zeigte Streifen von der Geburt ihres einzigen Kinds, eines Sohnes, und die Brüste hingen herunter. Dafür hatte sie ein pralles Hinterteil; das war eine Anpassung an die langen Dürreperioden, um Wasser im Fett zu speichern. Die Gliedmaßen hatten sehnige Muskeln, und der Bauch war nicht wie bei vielen Leuten durch Unterernährung angeschwollen. Sie war offensichtlich recht lebenstüchtig.

Jedoch vermochte sie sich nicht daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal glücklich gewesen war. Nicht einmal als Kind, als sie unbeholfen gewesen war, wenig geredet und Schwierigkeiten gehabt hatte, sich einzufügen. Nicht einmal als sie einen gesunden, strammen Sohn zur Welt gebracht hatte.

Sie sah zu viel.

Die Dürre zum Beispiel. Die Wolken waren verschwunden, sodass die Sonne den ganzen Tag vom Himmel brannte. Sie trocknete das Land aus und ließ das Wasser verschwinden, sodass die Tiere starben und die Leute wiederum Hunger leiden mussten. Also mussten die Leute wegen der Wolken hungern. Was sie aber nicht wusste, war, weshalb die Wolken überhaupt verschwunden waren. Noch wusste sie es nicht.

Das war ihr Talent: Sie sah Muster und Zusammenhänge, Geflechte von Ursachen und Wirkungen, die sie faszinierten und zugleich verwirrten. Ihre Gabe, Kausalzusammenhänge zu erkennen, verschaffte ihr allerdings keine Lebensfreude. Stattdessen wurde sie von Misstrauen geradezu zerfressen. Aber es half ihr manchmal dabei, durchs Leben zu gehen – so wie heute.

Sie kam zu einem Affenbrotbaum und betrachtete seine knorrigen Äste. Sie wusste, was sie machen wollte: einen Bumerang, eine gekrümmte Wurfwaffe. Also prüfte sie die Äste und Ansätze und suchte eine Stelle, wo die Maserung des Holzes und die Wachstumsrichtung der endgültigen Form der Waffe entsprachen, wie sie sie vorm geistigen Auge sah.

Schließlich fand sie einen schlanken Ast, der geeignet schien. Mit einem Ruck brach sie ihn dicht über dem Punkt ab, wo er aus dem Baum wuchs. Dann setzte sie sich in den Schatten des Affenbrotbaums, schälte mit dem Steinwerkzeug die Rinde ab und bearbeitete das Holz. Dabei drehte sie die steinerne Schneide immer wieder in der Hand, um alle Kanten gleichmäßig zu nutzen. Dieses Werkzeug – das weder eine Axt noch ein Messer oder ein Schaber war – war im Moment ihr Lieblingsutensil. Weil sie jedes Werkzeug, das sie nicht an Ort und Stelle zu fertigen vermochte, hätte transportieren müssen, hatte sie dieses eine Werkzeug für viele Aufgaben gefertigt und es bereits ein paar Mal nachbearbeitet.

Bald hatte sie einen glatten, angewinkelten Stock mit einer Länge von ungefähr dreißig Zentimetern angefertigt, der an einer Seite flach und an der anderen abgerundet war. Sie wog den Bumerang in der Hand, prüfte mit einem in langer Praxis gewonnenen Urteilsvermögen die Balance und das Gewicht und schabte noch etwas überschüssiges Material ab.

Dann trat sie aus dem Schatten des Affenbrotbaums hinaus und ging am schlammigen Seeufer entlang. Sie fand die Stelle wieder, wo sie vor ein paar Tagen ein Netz aus geflochtenen Rindenfasern versteckt hatte. Das Netz war noch unbeschädigt. Sie schüttelte den Staub aus und die Käfer, die die trockenen Fasern annagten.

Nun spannte sie das Netz zwischen zwei dürre, günstig stehende Affenbrotbäume, dass es dem See zugewandt war. Sie hatte diesen Ort gerade wegen der Affenbrotbäume ausgewählt.

Dann ging sie um den See zurück, bis sie sich im rechten Winkel zum Netz befand. Sie ergriff den Wurfstock und übte mit heraushängender Zunge die Bewegung des Wurfs, den sie ausführen würde. Sie hätte nur diese eine Chance und musste es gleich beim ersten Mal richtig machen…

Ein dumpfer Schmerz pulsierte in ihren Schläfen wie Donner in fernen Bergen.

Sie verlor das Gleichgewicht und verzog vor Ärger über diese Beeinträchtigung das Gesicht. Der Schmerz selbst war auszuhalten, aber er war nur ein Vorbote dessen, was noch kommen sollte. Die Migräne war eine unbarmherzige Plage, die sie häufig heimsuchte, und es gab auch nichts, was sie dagegen zu tun vermochte. Es gab kein Heilmittel und nicht einmal einen Namen dafür. Aber sie wusste, dass sie ihre Aufgabe erledigen musste, ehe die Schmerzen es unmöglich machten. Andernfalls würden sie und ihr Sohn heute Hunger leiden müssen.

Sie ignorierte das Hämmern im Kopf, nahm wieder die Wurfstellung ein, hob den Stock und warf ihn kraftvoll und präzise. Der wirbelnde Stock beschrieb einen schönen hohen Bogen über dem See, wobei die hölzernen Flügel mit einem leisen Rauschen wirbelten.

Die dasitzenden Wasservögel wurden unruhig und stießen gereizte Rufe aus, und als der Stock in der Luft wendete und auf sie niederging, gerieten sie in Panik. Mit rauschendem, schwerem Flügelschlag erhoben die Vögel sich in die Lüfte und flohen vom See – und die tief fliegenden Tiere an den Rändern des Schwarms flogen direkt in Mutters Netz. Grinsend rannte sie um den See zurück, um die Beute einzusammeln.

Zusammenhänge. Mutter warf den Bumerang, der die Vögel erschreckte, die ins Netz flogen, weil Mutter es dort aufgespannt hatte. Dies war ein anschauliches Beispiel für Mutters Denken in kausalen Verknüpfungen.

Doch mit jedem Schritt, den sie machte, wurden die Kopfschmerzen schlimmer. Das Gehirn schien im großen Kopf zu rasseln, und die kurze Freude über den Erfolg wurde wie immer zunichte gemacht.

Mutters Leute lebten in einem Lager in der Nähe eines ausgetrockneten, erodierten Kanals, der in eine Schlucht mündete. Sie hatten Unterkünfte an den Klippen errichtet, bloße Sonnensegel aus Tierhaut- oder Rattanplanen, die auf Holzgestelle gespannt waren. Im Gegensatz zu Kieselsteins längst untergegangener Siedlung war dies keine feste Ansiedlung. Dafür gab das Land nicht genug her. Dies war die vorläufige Heimat nomadischer Jäger und Sammler, die es bei der Verfolgung ihrer Nahrungsquelle hierher verschlagen hatte. Die Leute waren seit einem Monat hier.

Der Standort hatte allerdings auch seine Vorteile. Es floss ein Fluss vorbei, das hiesige Gestein eignete sich gut für die Werkzeugfertigung, und es war auch ein Wald in der Nähe, der als eine Quelle für Feuerholz, Rinde, Laub, Lianen und Ranken für Kleidung, Netze und andere Werkzeuge und Gegenstände diente. Und der Ort war auch ein guter Hinterhalt für die Tiere, die nichts ahnend zur Schlucht kamen, um dort zu trinken. Trotzdem war die Ausbeute der Gegend schlecht gewesen. Das Lager war desolat, und die unterernährten Leute vermochten sich kaum noch zu etwas aufzuraffen. Sie würden wahrscheinlich bald weiterziehen müssen.

Mutter stolperte heimwärts. Drei Wasservögel hatte sie sich an einer Lederschnur um die Schultern gehängt. Die Kopfschmerzen waren nun akut, und jede Oberfläche schien gleißend hell zu sein und in seltsamen Farben zu leuchten. Das menschliche Gehirn hatte sich im letzten Jahrtausend vor der Geburt von Mutters Urahnin Harpune spektakulär aufgebläht. Diese hastige Neuverkabelung hatte unerwartete Vorzüge, wie Mutters Fähigkeit zu strukturiertem Denken und Handeln, aber auch Nachteile wie die lästige Migräne.

»… Hey, hey! Speer Gefahr Speer!«

Sie schaute sich trübe um.

Zwei jüngere Männer starrten sie an. Sie trugen um den Körper gewickelte Häute, die sie mit Sehnen festgebunden hatten. Beide hielten sie grob geschnitzte Holzspeere mit feuergehärteten Spitzen in der Hand. Sie hatten die Speere gegen eine Ochsenhaut geschleudert, die sie über die Äste eines Baums gespannt hatten. Mutter wäre ihnen, abgelenkt durch die Schmerzen und die seltsamen Lichter, beinahe in die Wurfbahn gelaufen.

Sie musste warten, bis die Speerwerfer ihren Wettkampf beendet hatten. Keiner der beiden Männer war sonderlich geschickt, und ihre Lederkluft war auch ziemlich schäbig. Nur ein Speer hatte sich bisher durch die Haut in den Baum gebohrt, und die anderen lagen auf dem Boden verstreut.

Aber sie sah, dass einer der Jäger den Speer immerhin mit mehr Kraft warf. Der Junge hielt den Speer sehr weit hinten am Schaft und versuchte mit dem knochigen Arm eine maximale Hebelwirkung zu erzielen. Den für sein Alter großen, gertenschlanken Jungen stellte sie sich als Schössling vor, der dem Sonnenlicht entgegenstrebte. Wenn Schössling den Speer warf, flog er zischend und leicht zitternd durch die Luft. Die Bewegung des Speers war sehr interessant. Beim Versuch, ihn mit den Augen zu verfolgen, schmerzte der Kopf aber nur noch heftiger.

Als die Speerwerfer fertig waren, stolperte sie weiter und verkroch sich im Schatten der Behausung, die sie mit ihrem Sohn teilte.

In Mutters Hütte war eine korpulente Frau im Alter von fünfundvierzig Jahren. Sie hatte zotteliges, graumeliertes Haar und ein gewohnheitsmäßig verkniffenes und missmutiges Gesicht. Diese Frau, Sauer, zerstampfte mit einem Stößel eine Wurzel. Sie schaute Mutter mit dem obligatorischen feindseligen Ausdruck an. »Essen, Essen?«

Mutter machte eine vage Handbewegung, ohne weiter auf Sauer einzugehen. »Vögel«, sagte sie.

Sauer legte den Stampfer und die Wurzel hin und ging nach draußen, um die Vögel zu begutachten, die Mutter mitgebracht hatte.

Sauer war Mutters Tante. Ihre Verbitterung rührte daher, dass sie ihr zweites Kind ein paar Tage nach der Geburt durch eine unbekannte Krankheit verloren hatte. Sie würde die Vögel wahrscheinlich stehlen und Mutter und Still nur einen kleinen Teil dessen geben, was sie mit nach Hause gebracht hatte. Jedoch hatte Mutter derartige Kopfschmerzen, dass es ihr im Moment egal war.

Sie versuchte, sich auf ihren Sohn zu konzentrieren. Er war ein kränklicher Junge von acht Jahren; er saß mit dem Rücken zum schräg abfallenden Dach und hatte die Beine an die Brust gezogen. Mit einem Zweig schob er einen anderen Zweig über den Erdboden. Mutter setzte sich neben ihn und zauste ihm das Haar. Er schaute mit einem schläfrigen Blick zu ihr auf. Er verbrachte viel Zeit auf diese Art – still und zurückgezogen von den anderen wartete er auf sie. Er schlug nach seinem Vater, einem kleinwüchsigen, erfolglosen Jäger, der sich einmal lieblos mit Mutter gepaart hatte, und durch dieses eine Mal war sie schon schwanger geworden.

Ihre sexuellen Erlebnisse waren sporadisch und auch nicht sehr angenehm gewesen. Sie hatte bisher noch keinen Mann getroffen, der stark oder auch geduldig genug gewesen wäre, ihren intensiven Blick, ihre Besessenheit, ihr aufbrausendes Naturell und den häufigen schmerzerfüllten Rückzug in sich selbst zu tolerieren. Es war ihr großes Unglück, dass der Mann, der sie geschwängert hatte, sich schnell eine andere gesucht hatte und bald vom Axthieb eines Rivalen niedergestreckt worden war.

Das Kind hieß Still, denn das war sein hervorstechendes Wesensmerkmal. Zugleich war sie Mutter, weil es manchmal nämlich schien, als ob sie in den Augen der anderen Leute gar keine Identität hätte – wenn überhaupt, wurde sie nur über den Jungen definiert. Also war sie Mutter. Sie hatte ihm wenig zu bieten. Immerhin musste er bei ihr keinen Hunger leiden, der manchen anderen Kindern in dieser Zeit der Dürre schon die Bäuche auftrieb.

Schließlich legte der Junge sich auf die Seite, rollte sich zusammen und steckte sich den Daumen in den Mund. Sie selbst legte sich auf ihre Lagerstatt aus Stroh. Sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, den Schmerz bekämpfen zu wollen.

Sie war immer schon isoliert gewesen, selbst als Kind. Sie hatte sich weder am Kräftemessen und den anderen Vergnügungen beteiligt, denen die anderen Jugendlichen gefrönt hatten, noch ihre Sexualität entdeckt. Die anderen schienen immer zu wissen, wie sie sich zu verhalten hatten, was sie tun mussten und den richtigen Zeitpunkt zum Lachen und Weinen zu kennen. Sie hatten gewusst, wie man sich einfügte – ein Geheimnis, das sie nie entdeckt hatte. Und ihr dynamischer Einfallsreichtum in einer so beharrenden Kultur und die Angewohnheit, sich Gedanken darüber zu machen, wieso Dinge geschahen und wie sie geschahen, trugen auch nicht gerade zu ihrer Beliebtheit bei.

Im Lauf der Zeit war ihr der Verdacht gekommen, dass die anderen Leute über sie redeten, wenn sie nicht da war, dass sie sich gegen sie verschworen hatten und danach trachteten, sie heimtückisch und hinterhältig ins Unglück zu stürzen. Was das Verhältnis zu ihren Artgenossen auch nicht verbesserte.

Aber es gab auch erfreuliche Momente.

Der Kopfschmerz wollte zwar nicht verschwinden. Aber es war während der Kopfschmerzen, wenn sie die Gebilde sah. Die einfachsten waren Sterne – aber sie waren auch wieder keine Sterne, denn sie loderten gleißend hell auf, bevor sie erloschen. Dann versuchte sie, den Kopf zu drehen und sie zu verfolgen und vielleicht auch zu sehen, woher die nächsten kamen. Doch die Sterne bewegten sich mit den Augen und schwankten wie Schilf in einem See. Und dann erschienen immer mehr Gebilde: Zickzack-Linien, Spiralen, Gitter, Kurven und Parallelen. Selbst in der tiefsten Dunkelheit, wenn der Schmerz sie fast blendete, sah sie die Gebilde. Und wenn der Schmerz dann nachließ, dauerte die Erinnerung an die seltsamen Leuchterscheinungen immer noch an.

Und während sie den Körper zwang, sich zu entspannen, dachte sie an den langarmigen Speer werfenden Schössling, an den kleinen Still, wie er die Zweige unablässig hin und her schob…

Verbindungen.

Schössling versuchte es erneut.

Mit einem gereizten Gesichtsausdruck hakte er den Speer in den gekerbten Stock ein, den Mutter ihm gegeben hatte. Dann nahm er den Speer in die rechte Hand und stützte ihn mit der linken Hand auf der Schulter ab, sodass er mit der Spitze nach vorn wies. Zögernd machte er ein paar Schritte und holte mit dem rechten Arm aus – und der Speer richtete sich auf, die geschwärzte Spitze wies gen Himmel, dann fiel er auf den Boden.

Schössling ließ den bearbeiteten Stock fallen und trampelte darauf herum. »Dumm, dumm!«

Mutter versetzte ihm frustriert einen Schlag gegen den Hinterkopf. »Dumm! Du!« Wieso war er nur so schwer von Begriff? Sie hob den Speer und den Stock auf, drückte Schössling die Gegenstände in die Hand und schloss seine Finger darum, damit er es noch mal versuchte.

Sie hatte den ganzen Morgen daran gearbeitet.

Nach dieser brutalen Migräne war Mutter mit einer neuen Vision im Kopf aufgewacht, einer eigentümlichen Mischung aus Stills ›Stöckchen-Hockey‹ und Schösslings langem, hebelkräftigem Wurfarm. Sie hatte ihren Sohn ignoriert und war ins nahe Wäldchen gerannt.

Bald hatte sie das angefertigt, was ihr vorschwebte. Es war ein kurzer moosbesetzter Stock mit einer Kerbe, die sie in ein Ende geschnitten hatte. Als sie den Speer in die Kerbe legte und den Speer zu werfen versuchte, war der Stock wirklich – wie sie es sich vorgestellt hatte – wie eine Verlängerung des Arms, die ihn sogar noch länger als Schösslings Arm machte, und die Kerbe war wie ein Finger, der den Speer festhielt.

Es gab nur sehr wenige Leute auf dem Planeten, die zu dieser gedanklichen Leistung imstande gewesen wären – eine Analogie zwischen einem Stock und einer Hand herzustellen, einem natürlichen Gegenstand und einem Körperteil. Doch Mutter war dazu in der Lage.

Wie immer, wenn sie ein Projekt wie dieses in Angriff genommen hatte, ging sie vollkommen darin auf, und es war in ihren Augen sogar schade für die Zeit, die sie für Nahrungssuche, -aufnahme und Schlaf aufwandte – sogar für das Zusammensein mit ihrem Sohn.

In lichten Momenten war sie sich aber bewusst, dass sie Still vernachlässigte. Doch Sauer, ihre Tante, kümmerte sich um ihn. Dafür waren alternde weibliche Verwandte schließlich da, um die Last der Kinderaufzucht zu teilen. Trotzdem misstraute Mutter Sauer im tiefsten Innern. Irgendetwas war wirklich in ihr sauer geworden, als sie ihr zweites Kind verloren hatte; obwohl sie selbst eine Tochter hatte, zeigte sie ein Interesse an Still, das schon nicht mehr gesund war. Mutter hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, solange sie derartig vom Speerwerfen besessen war.

Sie übte ohne Unterbrechung mit Schössling, während die Sonne durch den Himmel wanderte, und der junge Mann wurde langsam ungehalten. Er war durstig, ihm war heiß, und er hatte sein Tagewerk noch nicht einmal begonnen. Und jedes Mal versagte er.

Schließlich erkannte Mutter, wo das Problem lag. Es war keine Frage der Technik. Schössling begriff das Prinzip nicht, das sie ihm zu zeigen versuchte: dass es nicht die Hand war, die den Wurf ausführte, sondern der Stock. Und bevor er das nicht verstanden hatte, würde er mit dem Katapult nichts anzufangen wissen.

Schössling war einem unflexiblen Schubladendenken verhaftet, das fast noch so starr war wie das seines Ahnen Kieselstein. Er hatte eine hohe soziale Intelligenz; mit den Intrigen, taktischen Allianzen, falschen Versprechen und Verrat wäre er Machiavelli ebenbürtig gewesen. Aber er wandte diese Intelligenz nicht für andere Aktivitäten an, zum Beispiel für die Werkzeugfertigung. Es war, als ob in dieser Hinsicht ein anderes Bewusstsein zugeschaltet würde, ein Bewusstsein, das nicht höher entwickelt war als das von Weit.

Mutter fiel da aber etwas aus dem Rahmen, und das war auch der Grund für ihre Andersartigkeit und das Geheimnis ihres Erfolgs.

Sie nahm ihm das Katapult ab, setzte den Speer in die Kerbe und tat so, als ob sie ihn werfen wolle. »Hand, werfen, nein«, sagte sie und veranschaulichte, wie der Stock den Speer anschob. »Stock, werfen. Ja, ja. Stock. Werfen. Speer. Stock werfen Speer. Stock werfen Speer…«

Stock werfen Speer. Das war vielleicht ein Satz. Aber er hatte eine rudimentäre Struktur – Subjekt, Verb, Objekt –, und ihm gebührte auch die Ehre, einer der ersten Sätze zu sein, der auf der ganzen Welt in menschlicher Sprache gesprochen wurde.

Während sie die Botschaft unablässig wiederholte, zeigte sie allmählich Wirkung.

Grinsend nahm Schössling ihr den Speer und das Katapult wieder ab. »Stock werfen Speer! Stock werfen Speer!« Er steckte den Speer in die Kerbe, schwang den Arm zurück, hielt den Speer über die Schulter und schleuderte ihn mit aller Kraft.

Beim ersten Mal war es ein lausiger Wurf. Der Speer landete im Dreck, weit von der Palme entfernt, die sie eigentlich als Ziel ausgesucht hatte. Aber er hatte das Prinzip verstanden. Aufgeregt plappernd rannte er hinter dem Speer her. Mit einem Anflug von Mutters Besessenheit versuchte er es immer wieder.

Sie hatte diese Idee wegen ihrer besonderen Fähigkeit entwickelt, den Wurfstock auf mehr als nur eine Art zu betrachten. Er war natürlich ein Werkzeug, aber in der Art und Weise, wie er den Speer hielt, war er auch wie ein Finger – und mit Blick darauf, dass er Dinge zu tun vermochte, nämlich den Speer für einen zu werfen, war er sogar wie eine Person. Wer imstande war, einen Gegenstand aus mehr als nur einem Blickwinkel zu betrachten, vermochte sich vorzustellen, alle möglichen Sachen damit zu machen.

Von allein wäre Schössling wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen. Nachdem er das Konzept aber erst einmal verstanden hatte, setzte er es schnell um; so verschieden war sein Bewusstsein schließlich nicht von ihrem. Als Schössling den großen Wurfstock vorwärts zog, übte der eine so große Kraft auf den Speer aus, dass dieser sich durchbog: Der sich krümmende Speer schien förmlich davon zu springen, wie eine Gazelle, die einer Falle enteilte. Mutters Bewusstsein überschlug sich vor Zufriedenheit und Überlegungen.

»Krank.« Das hässliche Wort platzte in ihre Euphorie. Sauer, ihre Tante, stand vor Mutters Hütte. Sie wies ins Innere.

Mutter rannte über den festgestampften Schmutz zur Hütte. Schon beim Betreten roch sie den beißenden Gestank von Erbrochenem. Still war zusammengekrümmt und hielt sich den aufgeblähten Bauch. Er zitterte, das Gesicht war fahl und schweißnass. Seine Lagerstatt war mit Erbrochenem und Kot verschmiert.

Sauer, die im grellen Licht vor der Hütte stand, grinste mit hartem Gesicht.

Der Todeskampf von Still dauerte einen Monat.

Seine Mutter wäre fast daran zerbrochen.

Ihr instinktives Verständnis der Kausalität versagte. Hier, wo es um Leben und Tod ging, funktionierte nichts. Es gab Krankheiten, die man zu behandeln vermochte. Wenn man sich den Arm oder das Bein brach, wurde es gerichtet und verbunden, wobei es oftmals genauso gut zusammenwuchs wie zuvor. Bei Insektenstichen vermochte man das Gift mit Sauerampfer zu neutralisieren. Aber es gab nichts, was sie gegen diesen seltsamen Verfall zu tun vermochte, für den es nicht einmal ein Wort gab.

Sie brachte ihm Dinge, die er liebte, einen knorrigen Ast, glitzernde Pyritbrocken und sogar einen seltsamen spiraligen Stein, bei dem es sich in Wirklichkeit um einen fossilierten, dreihundert Millionen Jahre alten Ammoniten handelte. Aber er berührte die Sachen nur oder beachtete sie gar nicht.

Und dann kam der Tag, da er sich auf seinem Lager nicht mehr rührte. Sie wiegte ihn und summte leise, wie sie es getan hatte, als er ein kleines Kind war. Aber sein Kopf baumelte. Sie versuchte ihm Nahrung in den Mund zu stecken, aber seine Lippen waren blau, und der Mund kalt. Sie presste diese kalten Lippen sogar an ihre Brust, aber sie hatte keine Milch.

Schließlich kamen die anderen.

Sie wehrte sie ab, in der Überzeugung, dass, wenn sie es nur noch etwas länger versuchte und es noch etwas mehr wollte, er wieder lachte, nach den Katzengold-Brocken griff, aufstand und nach draußen lief. Aber sie war durch seine Krankheit selbst geschwächt, und sie nahmen ihn ihr mit Leichtigkeit ab.

Die Männer hoben außerhalb des Lagers eine Grube im Boden aus. Der schon erstarrende Körper des Jungen wurde dort hineingelegt, und das Loch wurde mit dem ausgehobenen Erdreich hastig wieder zugeschüttet, bis nur noch eine verfärbte Stelle im Boden zu sehen war.

Es war funktional, aber auch schon eine Zeremonie. Die Leute legten ihre Toten seit dreihunderttausend Jahren in den Boden. Anfangs war das eine notwendige Maßnahme der Abfallentsorgung gewesen: Wenn damit zu rechnen war, dass man am selben Ort alt wurde und starb, musste man ihn auch sauber halten. Doch nun lebten die Leute als Nomaden. Mutters Stamm würde bald von hier verschwunden sein. Sie hätten die Leiche des Jungen auch einfach liegen lassen und den Aasfressern überlassen können, den Hunden, Vögeln und Insekten; welchen Unterschied hätte das auch gemacht? Und doch begruben sie ihn, wie sie es immer schon getan hatten. Sie schienen es als richtig zu empfinden.

Aber es wurden keine Worte gesprochen, kein Zeichen gesetzt, und die anderen zerstreuten sich schnell. Der Tod war so absolut, wie er es immer gewesen war, bis zu den Anfängen der Abstammungslinien der Hominiden und Primaten: Der Tod war ein Endpunkt, das Ende der Existenz, und jene, die dahingegangen waren, waren so bedeutungslos wie verdunsteter Tau – selbst ihre Namen waren nach einer Generation vergessen.

Aber nicht so für Mutter. Nein, ganz und gar nicht.

In den Tagen nach dem grausamen Ende und dem schnellen Begräbnis kehrte sie immer wieder an die Stelle zurück, wo ihr Sohn begraben lag. Auch als der ausgehobene Boden die alte Farbe wieder annahm und Gras darüber zu wachsen begann, erinnerte sie sich noch immer genau daran, wo die Ränder des Lochs gewesen waren. Sie vermochte sich vorzustellen, wie er dort unten tief in der Erde liegen musste.

Es gab keinen Grund, weshalb er gestorben war. Das war es, was ihr zu schaffen machte. Wenn sie gesehen hätte, wie er abgestürzt, ertrunken oder von einem Elefanten zertrampelt worden wäre, dann hätte sie gesehen, weshalb er gestorben war, und hätte es vielleicht zu akzeptieren vermocht. Natürlich hatte sie schon Mitglieder des Stamms gesehen, die von Krankheiten befallen worden waren. Sie hatte viele Leute an Ursachen sterben sehen, die niemand zu benennen und schon gar nicht zu behandeln vermochte. Aber das machte es umso schlimmer: Wenn schon jemand sterben musste, wieso ausgerechnet Still? Und wenn er durch eine Laune des Zufalls umgekommen war – wenn jemand, der ihr so nahe stand, so willkürlich aus dem Leben gerissen wurde –, dann konnte ihr das auch passieren, jederzeit und überall.

Das war nicht hinzunehmen. Alles hatte eine Ursache. Und deshalb musste es auch eine Ursache für Sülls Tod geben.

Die Besessenheit ergriff wieder Besitz von ihr, und sie zog sich in sich zurück.

II

Bald nach dem Zeitalter von Kieselstein und Harpune war eine Zwischeneiszeit angebrochen, ein Abschnitt mit einem gemäßigten Klima zwischen den viele Jahrtausende währenden Eiszeiten. Die mächtigen Eiskappen waren geschmolzen und der Meeresspiegel angestiegen, worauf Tiefland überflutet und Küstenlinien neu gezeichnet worden waren. Zwölftausend Jahre nach Kieselsteins Tod neigte dieser Sommer sich aber dem Ende entgegen. Wieder setzte eine starke Abkühlung ein, und das Eis rückte erneut vor. Als das Eis die Feuchtigkeit aus der Luft saugte, schien der Planet einen Schwall trockener Luft auszuatmen. Wälder schrumpften, Grasland breitete sich aus, und die Wüstenbildung verstärkte sich.

Die im mächtigen Regenschatten des Himalaja liegende Sahara war noch keine Wüste. Das Innere war mit großen, flachen Seen durchsetzt – Seen in der Sahara. Diese Gewässer dehnten sich aus, schrumpften und trockneten manchmal ganz aus. In der größten Ausdehnung wimmelten sie jedoch von Fischen, Krokodilen und Flusspferden. Um die Gewässer versammelten sich Strauße, Zebras, Nashörner, Elefanten, Giraffen, Büffel, verschiedene Antilopenarten und Tiere, die der moderne Betrachter nicht als typisch afrikanisch angesehen hätte, beispielsweise Mufflons, Ziegen und Esel.

Wo es Wasser gab, da gab es auch Tiere – und Menschen. Dies war die Umwelt, in der Mutters Leute zu Hause waren. Aber es war nur eine Nische, und das ›Sahnehäubchen‹ des Lebens war klein. Die Leute mussten hart arbeiten, um zu überleben.

Und die Leute waren noch erstaunlich dünn gesät.

Bisher waren die Menschen noch nicht aus Afrika ausgeschwärmt. In Europa und im asiatischen Raum gab es nur die brauenwulstigen Robusten und an manchen Stellen noch die älteren Formen, die dürren Läufer. Amerika und Australien waren noch menschenleer.

Und selbst in Afrika lebten nur wenige Menschen. Die mobile, auf Handel gegründete Lebensweise, die mit Harpune und ihrer Art entstanden war, hatte sich nicht nur als ein Segen erwiesen. Seitdem die Menschen die Wälder verlassen hatten, waren sie anfällig für Trypanosomen, Parasiten, die die Schlafkrankheit verursachten und von den Wolken der Tsetsefliegen übertragen wurden, die die Huftierherden der Savanne begleiteten. Nun breiteten solche Krankheiten sich aus. Die Handelsnetzwerke der Leute hatten sich als sehr effektiv beim Austausch von Gütern, kulturellen Innovationen und Genen erwiesen – allerdings auch bei der Verbreitung von Krankheitserregern.

Und in kultureller Hinsicht tat sich ohnehin nichts.

Kieselstein hätte sich in Mutters Lager wie zu Hause gefühlt. Die Leute schlugen noch immer Splitter von Stein-Kernen ab und wickelten sich Tierhäute um den Körper, die mit Sehnenoder Lederschnüren zusammengebunden wurden. Und die Verständigung war nach wie vor nur ein unartikuliertes Gestammel aus konkreten Wörtern für Dinge, Gefühle und Handlungen, aber nutzlos für die Übermittlung komplexer Informationen.

Über siebenundzwanzigtausend Jahre hatten diese Leute -Menschen mit einem ebenso modernen Bauplan und sogar einem ebenso modernen Gehirn wie die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts – kaum eine Innovation in Technologie und Technik zustande gebracht. Es war eine Zeit lethargischer Passivität und der Stagnation gewesen. Nach wie vor hatten die Leute nur den Status Werkzeug benutzender Tiere in der Ökologie – wie Biber und Laubenvögel – und standen kaum über den Schimpansen. Und schleichend verloren sie den Überlebenskampf.

Irgendetwas fehlte.

Sie hätte einfach allein im Staub verschwinden können.

Welchen Sinn hatte das Leben noch in einer Welt ohne Still?

Doch dann schüttelte sie die tiefe Niedergeschlagenheit ab.

Sie fing wieder an, Nahrung zu suchen, damit sie etwas zu essen und zu trinken hatte. Das musste sie auch; wenn sie es nicht getan hätte, wäre sie gestorben. Dies war keine reiche Gesellschaft. Obwohl man sich durchaus um die Schwachen, Kranken und Alten kümmerte, vermochte man denen nicht zu helfen, die sich nicht selbst helfen wollten.

Sie war immer schon eine gute Jägerin und geschickte Sammlerin gewesen. Mit den Werkzeugen, die sie erfand, modifizierte und verbesserte, war sie sogar besser als manche Jüngere und Stärkere. Sie erholte sich schnell. Aber die Verwirrung in ihrem Kopf blieb dennoch bestehen.

Sie wusste nicht genau, aus welchem Impuls heraus sie die Zeichen an den Felsen anbrachte.

Es war nicht einmal eine bewusste Handlung. Sie saß mit einem Basalt-Schaber in der Hand neben einem weichen, spröden Sandsteinfelsen; sie hatte gerade eine Ziegenhaut gegerbt. Und da waren fein säuberlich zwei Zickzack-Linien in den Stein gehauen, die parallel zueinander verliefen. Ohne nachzudenken hatte sie den Schaber benutzt; der Schaber hatte die Zeichen gemacht. Also hatte sie die Zeichen gemacht.

Was ihr Interesse weckte, war, dass sie den Linien in ihrem Kopf glichen.

Sie ließ das Lederstück fallen, an dem sie gearbeitet hatte, und kniete aufgeregt vor dem Felsen nieder. Sie drehte den stumpfen Schaber, um eine scharfe Kante zu bekommen, bohrte ihn ins Gestein und zog eine Linie. Sie brachte eine Spirale zustande, die sich im Zentrum ins Nichts kringelte. Sie war aber nicht so sauber und hell wie die Figuren in ihrem Kopf; sie war unbeholfen gezogen, die Linie war uneinheitlich tief, und die Krümmung eckig und unbeholfen.

Also versuchte sie es erneut. Sie hatte immer schon ein Händchen dafür gehabt, Werkzeug aus Stein, Holz oder Knochen zu zaubern. Diesmal war die Spirale etwas fließender, dem Ideal vorm geistigen Auge etwas näher. Und sie versuchte es wieder. Und immer wieder, bis der dröge Felsbrocken mit Spiralen, Schleifen, Schnörkeln und Linien übersät war.

Nun entsprach es genau dem, was sie mit geschlossenen Augen sah. Es mutete sie wundersam an, dass sie fähig war, die gleichen Figuren außerhalb des Kopfs zu erzeugen, die sie im Innern sah.

Später kam sie auf die Idee, es mit Ocker zu versuchen.

Die Leute benutzten noch immer das rote Eisenerz als Kreide, um sich Stammeszeichen auf die Haut zu malen, wie sie es schon in Kieselsteins Tagen getan hatten. Nun experimentierte Mutter mit dem weichen Zeug und stellte fest, dass es auf dem Stein viel einfacher zu handhaben war als ein Schaber. Und man vermochte es auch auf andere Oberflächen aufzutragen. Bald hatte sie Arme und Beine, die Häute, die sie trug oder über ihre Behausung spannte und all ihre Werkzeuge aus Stein, Knochen und Holz mit Schleifen, Schnörkeln und Zickzack-Linien bemalt.

Die nächste Phase ihrer künstlerischen Entwicklung wurde durch die Blume bestimmt.

Es war eine Art Sonnenblume, nichts Besonderes: Die Samen waren nicht essbar, aber auch nicht giftig – es war ein profanes Gewächs. Aber die Blüten umgaben eine schöne gelbe Spirale, die sich zu einem schwarzen Herzen in der Mitte hinabwand. Mit einem Schrei des Erkennens stürzte sie sich auf die Blume.

Danach nahm sie die Formen überall wahr: Spiralen von Muscheln und Tannenzapfen, Gitter von Honigwaben, sogar die gezackten Blitze, die bei Gewittern durch den Himmel zuckten. Es war, als ob die Inhalte ihres Schädels auf die Außenwelt gespiegelt würden.

Es war ein Mädchen, das ihr als Erste nacheiferte.

Mutter sah sie mit einem Kaninchen über der Schulter vorbeigehen – und mit einer roten Spirale auf der Wange, die unter dem Auge auslief. Der Nächste war Schössling mit Wellenlinien an den langen Armen.

Und dann sah sie die Linien und Schleifen überall auftauchen. Sie breiteten sich wie eine Seuche über die Oberflächen des Lagers und die Körper der Leute aus. Wenn sie ein neues Design schuf, ein Gitter oder ein Gebilde aus Kurven, wurde es alsbald kopiert und sogar noch verfeinert – vor allem von den Jungen.

Das verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung. Die Leute mieden sie nicht mehr. Sie kopierten sie. Sie war eine Art Führer geworden, was sie zuvor nie für möglich gehalten hätte.

Sauer freute sich allerdings weniger über Mutters neuen Status und hielt Abstand zu ihr. Überhaupt hatten die zwei Frauen seit dem Tod des Jungen kaum noch Notiz voneinander genommen.

Dennoch reichten die Entwürfe, ob von ihr oder von anderen, noch lange nicht an die glühende geometrische Perfektion heran, die ihr lautlos durch den Kopf zog. Sie gelangte fast an einen Punkt, wo sie sich fast wieder den Schmerz zurückwünschte, damit sie sie wieder zu sehen vermochte.

Manchmal machten die Veränderungen in ihrem Bewusstsein ihr Angst. Was bedeutete das? Sie suchte instinktiv nach Verbindungen, wie es ihre Natur war. Welche Verbindung sollte es zwischen einem Lichtblitz im Auge und einem am Himmel dräuenden Sturm aber geben? Verursachte der Sturm das Licht im Kopf, oder war es anders herum?

Das Leben ging weiter, der endlose Zyklus des Atmens, der Nahrungssuche, des Aufgangs von Sonne und Mond, das langsame Altern des Körpers. Mit der Zeit versank Mutter immer tiefer in den seltsamen Sinneswahrnehmungen. Sie sah bald überall Verbindungen. Es war, als ob die Welt von einem Geflecht aus Ursachen durchzogen wäre wie von den Strängen eines riesigen, unsichtbaren Spinnennetzes. Sie hatte das Gefühl, als ob sie und ihre Persönlichkeit sich auflösten.

Doch bei allen Innenansichten klammerte sie sich an die Erinnerung an ihren Sohn, eine Erinnerung, die wie ein nicht enden wollender Schmerz war, wie der Stumpf eines amputierten Glieds.

Und allmählich hatte sie das Gefühl, dass Stills Tod im Brennpunkt all dieser Kausalzusammenhänge lag.

Es wurde eine stillschweigende Vereinbarung getroffen, die Zelte abzubrechen. Die Leute bereiteten sich auf die Fortsetzung der Wanderung vor.

Mutter kam mit ihnen. Schössling und andere zeigten sich erleichtert. Ein paar hatten schon geglaubt, dass sie vielleicht darauf bestehen würde, bei dem Loch in der Erde zu bleiben, das die Gebeine ihres Sohns enthielt.

Nach einem langen Marsch errichteten sie in der Nähe eines Sees mit einem morastigen Ufer ein neues Lager. Sie schlugen die Zelte auf und bereiteten sich Schlafstätten. Wegen der anhaltenden Trockenheit war das Leben aber hart, und die Kinder und die Alten litten besonders.

Eines Tages brachte Schössling Mutter den Kopf eines jungen Straußenvogels. Der Hals war eine Handlänge unter dem Kopf durchtrennt und der Kopf selbst von einem Speer durchbohrt worden.

Einen fliehenden Straußenvogel zu erlegen, den kleinen Kopf eines rennenden Vogels aus fünfzig oder gar siebzig Metern Entfernung zu treffen, war wirklich eine Leistung. Nach monatelanger Übung hatten Schössling und die anderen jungen Jäger gelernt, mit dem Speerkatapult ihre Waffen mit größter Genauigkeit über nie dagewesene Entfernungen zu werfen. Mit wachsender Zuversicht waren die Jäger immer weiter in der Savanne ausgeschwärmt, und bald sollten die Beutetiere der Ebenen sie richtig fürchten lernen. Es war, als ob man die Jäger mit Schusswaffen ausgerüstet hätte.

Heute platzte Schössling schier vor Stolz auf seine Beute. Vor der Frau, die ihn im Gebrauch der Speerschleuder unterwiesen hatte, demonstrierte er, wie er den Speer geschleudert hatte, wie er sich durchgebogen hatte und davon geschnellt war und wie er präzise ins Ziel gefunden hatte. »Vogel schnell, schnell«, sagte er und scharrte mit den Füßen. »Rennt schnell.« Er zeigte auf sich. »Ich, ich. Verstecken. Felsen. Vogel schnell, schnell. Speer…« Er sprang hinter dem imaginären Felsen hervor und führte noch einmal vor, wie er den Speer ins Ziel geschleudert hatte.

Mutter hatte dieser Tage wenig Zeit für die Leute. Ihre neuen Wahrnehmungen zogen sie zunehmend in den Bann. Aber sie tolerierte Schössling, den einzigen Menschen, den sie hatte, den man als Freund bezeichnen konnte. Abwesend hörte sie seinem Geplapper zu.

»Wind tragen Geruch. Geruch berührt Strauß. Strauß rennt. Nun, hier. Stehen, stehen, verstecken. Wind trägt Geruch. Strauß hier, Wind da, Wind tragen Geruch weg…«

Seine Sprache war eine Art Pidgin aus einfachen Worten, Substantiven, Verben und Adjektiven ohne Beugeendungen. Um etwas zu betonen, kamen noch immer Wiederholungen und die Mimik zum Einsatz. Und bei der kaum vorhandenen Struktur bediente man sich eines sprachlichen ›Freistils‹: Es war der Verständigung nicht gerade förderlich, dass keine zwei Leute, nicht einmal Geschwister, die gleiche Sprache sprachen.

Dennoch bildete Schössling hin und wieder Sätze. Das hatte er von Mutter gelernt. Jeder Satz war eine strikte Subjekt-Verb-Objekt-Zusammensetzung. Die Proto-Sprache der Leute entwickelte sich schnell aus dieser grundlegenden Struktur. Die plappernden Leute mussten bereits Fürwörter erfinden – dich, mich, ihn, sie – und verschiedene Arten, um Handlungen und ihre Ergebnisse auszudrücken: Ich habe getötet, ich töte, ich habe nicht getötet… Sie waren in der Lage, Vergleiche und Verneinungen auszudrücken und Alternativen darzustellen. Sie vermochten allein mit Worten zu erwägen, heute zum See zu gehen oder nicht zum See zu gehen, wo sie zuvor die Richtung dorthin hatten einschlagen oder sich in Gruppen aufteilen müssen.

Es war aber noch keine richtige Sprache. Sie war nicht einmal so differenziert wie Creolisch. Aber es war ein Anfang, und sie entwickelte sich schnell.

Im Grunde hatte Mutter diese grundlegende Satzstruktur auch nur entdeckt und nicht erfunden. Ihre zentrale Logik spiegelte nämlich das tiefe Verständnis der Welt wider, das die Hominiden hatten – einer Welt voller Gegenstände mit Eigenschaften –, die ihrerseits eine noch tiefere neuronale Architektur reflektierte, wie sie den meisten Tieren eigen war. Wenn ein Löwe oder ein Elefant zu sprechen vermocht hätte, dann hätte er genauso gesprochen. Dieses zentrale Paradigma sollte von fast allen der Myriaden menschlicher Sprachen geteilt werden, die in der Zukunft sich herausbildeten: eine Universalschablone, die die essentielle Kausalität der Welt und ihrer menschlichen Wahrnehmung reflektierte. Aber es hatte Mutters dunklen Genies bedurft, um dieser tiefen Architektur Ausdruck zu verleihen und den linguistischen Überbau zu inspirieren, der alsbald folgte.

Und nun wurde es Zeit für den nächsten Schritt.

Schössling sagte etwas, bei dem sie aufhorchte: »Speer töten Vogel«, sagte er aufgeregt. »Speer töten Vogel, Speer töten Vogel…«

Sie runzelte die Stirn. »Nein, nein.«

Er verstummte mitten im Satz. Er war so in seine Darbietung versunken, dass er ihre Anwesenheit vergessen zu haben schien. »Speer töten Vogel.« Er imitierte den Flug des Speers, hob den abgetrennten Straußenkopf auf und beschrieb mit den Händen die authentische Bahn des auf ihn zufliegenden Speers.

»Nein!«, schrie sie ihn an. Sie stand auf und packte ihn an der Hand. »Du heben Hand.« Sie drückte ihm die Speerschleuder in die Hand. »Hand schieben Stock. Stock schieben Speer. Speer töten Vogel.«

Er wich verwirrt zurück. »Speer töten Vogel.« Habe ich das denn nicht gesagt?

Ungehalten fing sie noch mal von vorne an. »Du heben Hand… Speer töten Vogel. Du töten Vogel.« Es bestand zwar eine Kausalkette, aber die Intention entsprang nur einem Ort: Schösslings Kopf. Sie sah es ganz deutlich. Er hatte den Vogel getötet, nicht der Speer. Sie hieb ihm auf den Kopf. Hier ist der Vogel gestorben, du Dummbatz. In deinem Bewusstsein. Der Rest ist nur noch eine Formsache. Sie zankten sich noch für eine Weile, doch Schössling wurde zunehmend verwirrt. Die schlichte jungenhafte Freude über die Beute legte sich nun, da seine Prahlerei in diese philosophische Erörterung ›ausgeartet‹ war.

Plötzlich schoss Mutter ein stechender Schmerz durch die Schläfen – so plötzlich, wie Schösslings Speer aus gehärtetem Holz sich durch den Kopf dieses Pechvogels von Strauß gebohrt haben musste. Sie brach in die Knie und presste sich die Fäuste gegen die Schläfen.

Doch in diesem Moment des Schmerzes sah sie plötzlich eine neue Wahrheit.

Sie stellte sich vor, wie der Speer in hohem Bogen durch die Luft flog – wie der helle Blitz in ihrem Kopf –, den Schädel des Vogels durchstieß und sein Leben auslöschte. Sie wusste, dass Schössling den Speer geworfen hatte. Er hatte den Willen besessen, den Vogel zu töten, und alles andere, was sich daran angeschlossen hatte, war unerheblich.

Aber was, wenn sie nicht gesehen hätte, wie Schössling den Speer geworfen hatte? Was, wenn er von einem Felsen oder einem Baum verdeckt worden wäre? Hätte sie geglaubt, dass der Speer der eigentliche Grund gewesen sei – dass der Speer selbst beabsichtigt hätte, den Vogel zu töten? Nein, natürlich nicht. Auch wenn sie nicht die ganze Kausalkette sah, musste sie trotzdem existieren. Wenn sie den Speer fliegen sah, würde sie wissen, dass jemand ihn geworfen haben musste.

Ihre besondere Sicht der Welt, des Spinnennetzes aus Ursachen, das sich aus der Vergangenheit in die Zukunft über die Welt spannte, vertiefte sich weiter. Wenn ein Straußenvogel von einem Speer getötet wurde, hatte ein Jäger das gewollt. Und wenn eine Person starb, war eine andere dafür verantwortlich. So einfach war das. Das alles sah sie plötzlich und begriff es auf einer tiefen, intuitiven Ebene unterhalb der Sprache, während neue Verbindungen in ihrem komplexen, schnell sich entwickelnden Bewusstsein geknüpft wurden.

Die Logik war klar und zwingend. Erschreckend – und tröstlich.

Und sie wusste auch, welche Konsequenzen sie aus dieser neuen Erkenntnis zu ziehen hatte.

Sie wurde sich bewusst, dass Schössling vor ihr kniete und sie an den Schultern fasste. »Weh? Kopf? Wasser. Schlafen. Hier…« Er fasste sie am Arm und half ihr beim Aufstehen.

Dieser Schmerz war blitzartig gekommen und ebenso schnell wieder verschwunden, wie ein Meteor, der eine Spur aus zerrissenen und neu verknüpften Verbindungen im Kopf hinterlassen hatte. Sie stand auf, ging an ihm vorbei und zur Siedlung zurück. Es gab im Moment nur eine Person, von der sie etwas wollte, eine Sache, die sie zu erledigen hatte.

Sauer war in der Behausung, einem primitiven Unterstand aus Palmwedeln, und machte Siesta.

Mutter stellte sich über sie. In den Händen hielt sie einen großen Stein, den sie gerade noch zu tragen vermochte. Sie wiegte ihn, wie sie einst Still gewiegt hatte.

Mutter hatte nie den Tag vergessen, an dem Still krank geworden war. An jenem Tag hatte sich für sie alles geändert, als ob das Land sich um sie gedreht hätte, als ob die Wolken und Felsen die Plätze getauscht hätten. Und sie hatte auch Sauers Grinsen nicht vergessen. Wenn ich schon kein Kind bekommen kann, hatte sie gesagt, freue ich mich wenigstens darüber, dass du deins verlierst.

Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Stills Tod war kein Zufall gewesen. In Mutters Universum geschah nichts zufällig: nicht mehr. Alles war verbunden, alles hatte eine Bedeutung. Sie war die erste Verschwörungs-Theoretikerin.

Und die erste Person, die sie anklagte, war ihre nächste überlebende Verwandte.

Mutter wusste nicht, wie Sauer das Verbrechen verübt hatte. Vielleicht durch einen Blick, ein Wort, eine Berührung – heimlich, mit einer unsichtbaren Waffe, die den Jungen so unerbittlich wie ein hölzerner Speer ums Leben gebracht hatte –, aber auf das wie kam es auch nicht an. Es kam nur darauf an, dass Mutter nun wusste, wen sie zur Verantwortung ziehen musste.

Sie hob den Stein.

Im letzten Moment wurde Sauer durch Mutters Bewegung geweckt. Und sie sah den Stein, der ihr auf den Kopf fiel. Ihre Welt ging so gründlich und plötzlich unter, wie die Erde der Kreidezeit vom Teufelsschweif ausgelöscht worden war.

Das Hominiden-Gehirn war, durch die Anforderung steigender Intelligenz befeuert und durch die neue fettreiche Nahrung der Leute genährt, schnell gewachsen. Es war jetzt schon größer als jeder Computer, den die Menschen jemals bauen sollten. In Mutters Kopf befanden sich hundert Milliarden Neuronen, wechselwirkende biochemische Schalter, deren Zahl mit der Anzahl der Sterne in der Galaxis vergleichbar war. Und jeder dieser Schalter vermochte hunderttausend verschiedene Stellungen einzunehmen. Und diese geballte Ladung schwamm in einer mit über tausend Chemikalien angereicherten Flüssigkeit, die in Abhängigkeit von Zeit, Jahreszeiten, Belastung, Ernährung, Alter und hundert anderen Einflüssen variierte, die alle sich auf die Funktion der Schalter auswirkten.

Vor Mutter war das Bewusstsein der Leute segmentiert und das schwach ausgeprägte Unterbewusstsein für soziale Zwecke reserviert, während die spezialisierten Module für solche Funktionen zuständig waren wie Werkzeugherstellung und Umweltverständnis und für grundlegende physiologische Funktionen wie das Atmen. Die verschiedenen Funktionen des Gehirns hatten sich bis zu einem gewissen Grad voneinander isoliert entwickelt, wie Subroutinen ohne integrierendes Master-Programm.

Dennoch war dieser hochkomplexe biochemische Computer sehr störanfällig. Und er neigte zur Mutation.

Der physikalische Unterschied zwischen Mutters Gehirn und denen ihrer Artgenossen war geringfügig: Er war das Resultat einer winzigen Mutation, einer kleinen Änderung in der chemischen Zusammensetzung des Fetts im Schädel und einer leichten Neuverdrahtung der neuronalen Schaltkreise, die ihrem Bewusstsein zugrunde lagen. Doch genügte das bereits, um ihr eine neue Flexibilität des Denkens zu verleihen und das Einreißen der Bewusstseins-Barrieren zu ermöglichen – und eine enorm verstärkte Wahrnehmung.

Indes hatte die Neuverdrahtung eines so komplizierten organischen Computers zwangsläufig Begleiterscheinungen, die nicht alle erfreulich waren.

Es war nicht nur die Migräne. Mutter litt an etwas, das vielleicht als eine Art Schizophrenie zu diagnostizieren gewesen wäre. Die Symptome waren durch den Tod ihres Sohns ausgelöst worden. Schon im ersten Aufflackern menschlicher Kreativität stand Mutter stellvertretend für die vielen defizitären Genies, die die Menschheitsgeschichte in zukünftigen Generationen erhellen und zugleich verdüstern sollten.

Es gab hier keine Polizei. Aber unberechenbare Killer waren in einer so kleinen, eng verwobenen Gemeinschaft nicht tragbar. Also kam man sie abholen.

Aber sie war schon weg.

Allein wanderte sie durch die Savanne, zurück zu dem Ort, wo sie zuletzt gelagert hatten – zur ausgetrockneten Schlucht. Die Grabstelle war inzwischen so verwittert und überwuchert, dass wohl nur sie noch imstande war, sie zu identifizieren.

Sie riss die Pflanzen aus, das Gras und die Sträucher. Dann nahm sie einen Grabstock und grub ein Loch, wie der lang tote Kieselstein nach dem Maniok gegraben hatte.

Schließlich fiel ihr Blick in etwa einem Meter Tiefe auf das Weiß von Knochen. Das erste Fragment, das sie barg, war eine Rippe. Im grellen Sonnenlicht schimmerte es weiß, bar von Fleisch und Blut; sie staunte über den Fleiß der Würmer. Aber sie hatte es nicht auf die Rippen abgesehen. Sie ließ den Knochen fallen und stieß die Hände in den Boden. Sie wusste, wo sie suchen musste – denn sie erinnerte sich an jede Einzelheit des furchtbaren Tages, als sie Still in dieses Loch geworfen hatten, wie er mit wackelndem Kopf und schlaffen Gliedern hineingefallen war, wobei die dünnen Beine noch mit dem Kot verschmiert waren, den er im Todeskampf abgesondert hatte.

Bald schlossen ihre Hände sich um seinen Kopf.

Sie holte den Schädel heraus und schaute in die Augenhöhlen. Der Kiefer wurde noch von einem Knorpelfetzen festgehalten, doch dann riss das verwesende Gewebe, und der Mund öffnete sich, als ob das tote Kind ihr noch etwas sagen wollte. Doch der Mund klaffte grotesk immer weiter auf, und ein fetter Wurm krümmte sich, wo die Zunge gewesen war. Und dann löste der Kiefer sich und fiel in den Schmutz.

Das machte aber nichts. Er brauchte schließlich keinen Mund mehr. Was waren schon ein paar Zähne? Sie spuckte auf den Schädel und wischte mit der Handfläche den Schmutz ab. Dann wiegte sie den Schädel summend.

Als sie zum See zurückkehrte, warteten die Leute schon auf sie. Sie waren alle da, außer den kleinsten Kindern, und die Mütter mit Kindern. Ein paar der Erwachsenen waren mit Steinmessern und Holzspeeren bewaffnet, als ob Mutter ein bösartiger Elefantenbulle sei, mit dessen Angriff sie jederzeit rechneten. Genauso viele Leute aus der Gruppe waren jedoch eher betrübt als feindselig. Da war zum Beispiel Schössling. Er hatte sich die Speerschleuder an einer Schnur aus Sehnen auf den Rücken gehängt und betrachtete mit umflorten hellblauen Augen die Frau, die ihn so viel gelehrt hatte. Viele von ihnen trugen sogar noch die Zeichen auf der Haut oder auf der Kleidung, zu denen sie sie inspiriert hatte.

Sauers einziges überlebendes Kind war ein dreizehn Jahre altes Mädchen. Sie war immer schon pummelig gewesen, und diese Veranlagung hatte sich noch verstärkt, wo sie nun zur Frau heranreifte; sie hatte schon große, hängende Brüste. Und ihre Hautfarbe war ein seltsames Gelbbraun wie Honig – das Erbe einer zufälligen Begegnung mit einer umherstreifenden Gruppe aus dem Norden, die vor ein paar Generationen stattgefunden hatte. Nun starrte dieses Mädchen, Honig – Mutters Cousine – Mutter verständnislos und zornig zugleich an. Ihr schmutziges Gesicht war tränenüberströmt.

Ob feindselig, traurig, mitleidig oder verwirrt, sie waren alle unsicher. Als sie diese Unsicherheit bemerkte, verspürte Mutter eine innere Wärme. Ohne zu schreien, ohne Gewalt anzuwenden, auch nur ohne eine Geste hatte sie die Lage unter Kontrolle.

Sie hielt den Schädel hoch und drehte ihn, sodass sein leerer Blick auf die Leute fiel. Sie schnappten nach Luft und zuckten zusammen, doch die meisten machten eher einen verblüfften als einen ängstlichen Eindruck. Was wollte sie denn mit dem alten Schädel?

Ein Mädchen wandte sich jedoch ab, als ob sie den starrenden Blick des Schädels als anklagend empfände. Sie war eine dünne Vierzehnjährige mit großen Augen und einer intensiven Ausstrahlung. Dieses Mädchen, Augen, hatte sich die Oberarme mit einem besonders kunstvollen Wendeldesign in Ocker verziert. Mutter beschloss, der Kleinen in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Ein Mann trat vor. Er war ein bulliger Typ, reizbar wie ein in die Enge getriebener Stier. Stier deutete also auf Sauers Behausung. »Tot«, sagte er und wies mit seiner Axt auf Mutter. »Du. Kopf, Stein. Wieso?«

Obwohl sie die Lage noch unter Kontrolle hatte, wusste Mutter, dass von dem, was sie nun sagte, ihre ganze Zukunft abhing. Wenn sie aus dem Lager ausgestoßen wurde, würde sie nicht lang überleben.

Aber sie war zuversichtlich.

Sie schaute auf den Schädel und lächelte. Dann deutete sie auf Sauers Verschlag. »Sie töten Jungen. Sie töten ihn.«

Stiers schwarze Augen verengten sich. Wenn es stimmte, dass Sauer den Jungen getötet hatte, dann wäre Mutters Handlungsweise durchaus gerechtfertigt. Von jeder Mutter, selbst von einem Vater, würde man erwarten, ein ermordetes Kind zu rächen.

Doch nun schob Honig sich vor. »Wie, wie, wie?« Sie versuchte sich auszudrücken und ahmte mit wabbelndem Bauch Messerstechen und Strangulieren nach. »Nicht töten. Nicht berühren. Wie, wie, wie? Junge krank. Junge sterben. Wie, wie?« Wie hätte meine Mutter das wohl tun sollen?

Mutter hob das Gesicht zur Sonne empor, die durch einen wolkenlosen, weißblauen Himmel zog. »Heiß«, sagte sie. »Sonne heiß. Sonne nicht berühren. Sie nicht berühren. Sie töten.« Fernwirkung. Die Sonne muss die Haut nicht berühren, um dich zu wärmen. Und Sauer musste meinen Sohn nicht berühren, um ihn zu töten.

Nun lag wirklich Angst auf ihren Gesichtern. Es gab viele unsichtbare, unbegreifliche Todesursachen in ihrem Leben. Die Vorstellung, dass eine Person solche Kräfte zu kontrollieren vermochte, war jedoch neu und Furcht erregend.

Mutter lächelte gezwungen. »Sicher. Sie tot. Sicher nun.« Ich habe sie für euch getötet. Ich habe den Dämon getötet. Vertraut mir. Sie hielt den Schädel hoch und strich über die Hirnschale. »Sag mir.« Und so war es gewesen.

Stier schaute Mutter grimmig an. Er stampfte knurrend auf und richtete die Axt gegen ihre Brust. »Junge tot. Nicht sagen. Junge tot.«

Sie lächelte und legte den Schädel wie den Kopf eines Babys in die Armbeuge. Und als sie sie unschlüssig anschauten, spürte sie, wie ihre Macht größer wurde.

Honig gab sich damit aber nicht zufrieden. Schreiend und unartikuliert plappernd wollte sie sich auf Mutter stürzen. Aber die Frauen hielten sie zurück.

Mutter ging zu ihrer Hütte. Die Leute, an denen sie vorbeikam, wichen mit geweiteten Augen zurück.

III

Die Dürre nahm zu. Ein heißer, wolkenloser Tag folgte dem andern. Das Land dörrte schnell aus, und die Flüsse schrumpften zu bräunlichen Rinnsalen. Die Pflanzen verwelkten, aber wenigstens hatten sie Wurzeln, die man mit Einfallsreichtum und Kraft auszugraben vermochte. Die Jäger mussten auf der Suche nach Fleisch weit ausschwärmen und liefen viele Kilometer über staubigen, sonnendurchglühten Boden.

Es waren Leute, die im Freien lebten, in Einklang mit der Natur und den Elementen. Sie reagierten schon auf die kleinsten Veränderungen in der Welt um sich herum. Und sie alle begriffen schnell, dass die Dürre immer schlimmer wurde.

Paradoxerweise brachte die Dürre ihnen aber einen kurzfristigen Nutzen.

Als die Dürreperiode einen Monat gedauert hatte, brach die Gruppe das Lager ab und marschierte zum größten See in der Gegend, einem großen stehenden Gewässer, das nur in den schlimmsten Trockenzeiten austrocknete. Hier fanden sie die Pflanzenfresser – Elefanten, Rinder, Antilopen, Büffel und Pferde. Vor lauter Durst und Hunger vergaßen die Tiere alles andere um sich herum. Sie scharten sich um den See und drängten zum Wasser. Mit den Füßen und Hufen hatten sie das Seeufer so zertrampelt, dass in dem Morast nichts mehr wuchs. Ein paar Tiere schafften es aber nicht ans Wasser: die Alten, die ganz Kleinen, die Schwachen und alle jene, die die letzten Reserven aufbieten mussten, um diese harte Zeit zu überstehen.

Die Menschen bezogen neben den Aasfressern Position und sondierten die Lage. Es hatten sich noch weitere Gruppen von Menschen eingefunden, sogar andere Arten von Leuten: die brauenwulstigen trägen Gestalten, die man manchmal in der Ferne sah. Aber der See war so groß, dass man sich aus dem Weg gehen konnte und nicht ins Gehege kam.

Für eine Weile hatten sie ein gutes Leben. Sie mussten nicht einmal mehr auf die Jagd gehen; die Pflanzenfresser fielen einfach um, wo sie standen, und man brauchte nur hinzugehen und sich zu bedienen. Die Konkurrenz zu anderen Fleischfresser war nicht allzu groß, denn es gab reichlich für jeden.

Die Leute mussten auch nicht das ganze Tier verwerten: Das Fleisch beispielsweise eines Elefanten wäre verdorben, ehe sie es aufgebraucht hätten. Also nahmen sie sich nur die besten Stücke: den Rüssel, die fettreichen Füße, die Leber, das Herz und das Knochenmark. Den Rest überließen sie den Aasfressern. Manchmal machten sie sich auch über ein Tier her, das noch nicht tot war, aber schon zu schwach, um sich noch zu wehren. Wenn man es am Leben ließ, war das angeschnittene Tier ein Frischfleisch-Depot, aus dem jeder sich bedienen konnte, solang die Beute noch lebte.

Also starben die Tiere und ihr Fleisch wurde verzehrt, die Knochen wurden verstreut und von den überlebenden Artgenossen zertreten, bis der schlammige Rand, der den schrumpfenden See säumte, von weißen Splittern glitzerte.

Aber noch war die Dürre keine Katastrophe für die Leute. Noch nicht.

Mutter war zum See gegangen. Welcher bemerkenswerten inneren Spur sie jetzt auch folgte, sie musste immer noch essen und am Leben bleiben, und das würde ihr nur als Teil der Gruppe gelingen.

Aber das Leben wurde unmerklich leichter für sie.

Kein einziger Grashalm vermochte im Umkreis dieses Schlammlochs zu gedeihen. Mit anhaltender Dürre vernichten die Elefanten und andere Tiere die Bäume in einem immer größeren Radius, sodass die Leute auf der Suche nach Brennholz und Material für Lagerstätten und Hütten immer weiter ausschwärmen mussten.

Mutter bekam Hilfe bei diesen Arbeiten. Augen, das Mädchen mit dem intensiven Blick, auf das Stills Schädel einen solchen Eindruck gemacht hatte, brachte Mutter Holz. Ihre dünnen Arme waren mit dem kratzigen, vertrockneten Zeug beladen. Mutter nahm die Gaben ohne Kommentar an. Später ließ sie es dann zu, dass Augen sich zu ihr setzte und zuschaute, wie sie ihre Zeichen in den Boden kratzte. Nach einer Weile tat Augen es ihr zaghaft nach.

Einer der jüngeren Männer hatte sich in Augens Nähe herumgetrieben. Er war ein langfingriger Junge mit einer seltsamen Vorliebe für Insekten. Dieser Junge, Ameisen-Esser, verhöhnte Mutter und versuchte Augen wegzuziehen. Doch Augen wollte nicht.

Dann rammte Mutter einen langen, geraden Schössling in den Boden und steckte Stills Schädel darauf. Als Ameisen-Esser wieder um Augen herumscharwenzeln wollte, schaute er direkt in Sülls leere Augen und trollte sich wimmernd.

Wo der Schädel fortan Tag und Nacht über sie wachte, schien Mutter noch an Macht und Autorität zu gewinnen.

Bald brachte ihr nicht mehr nur Augen Holz und Wasser, sondern auch ein paar andere Frauen. Und wenn sie zum See hinunterging, machten ihr sogar die Männer widerwillig Platz und ließen ihr den Vortritt, das jüngste Opfer der Dürre anzuschneiden.

Das geschah natürlich alles wegen Still. Ihr Sohn half ihr auf eine subtile, ruhige Art und Weise, die seinem Charakter entsprach. Aus Dankbarkeit legte sie seine Lieblingsspielsachen um die Stange: Katzengold-Brocken und den knorrigen Ast. Sie stellte ihm sogar Nahrung hin – Fleisch von Elefantenkälbern, weich gekocht und von seiner Mutter vorgekaut, wie er es als kleines Kind so gern gehabt hatte. Jeden Morgen war das Fleisch verschwunden.

Sie war aber keine Närrin. Sie wusste, dass Still im streng körperlichen Sinn nicht mehr lebte. Aber er war nicht tot. Er lebte auf eine andere, nicht mit Händen zu greifende Art und Weise weiter. Vielleicht steckte er in den Tieren, die das Essen fraßen, das sie ihm hinlegte. Vielleicht war er in der Lagerstatt, auf die sie sich bettete. Vielleicht lebte er in den Herzen der Leute weiter, die ihr Nahrung brachten. Es spielte keine Rolle, wie er da war. Es genügte, wenn sie wusste, dass der Tod nur eine Phase war: wie die Geburt, das Sprießen der Körperbehaarung, der Verfall des Alters. Man brauchte keine Angst vor ihm zu haben. Der Schmerz, an dem sie gelitten hatte, war verschwunden. Wenn sie im Dunklen allein auf der Lagerstatt lag, fühlte sie sich Still so nah wie damals, als er als Baby an ihrer Brust genuckelt hatte.

Sie war auf jeden Fall schizophren, und vielleicht war sie auch vollkommen verrückt geworden. Aber wer hätte das schon sagen wollen; auf der ganzen Welt gab es nur eine Handvoll Leute wie Mutter, nur ein paar Köpfe, die mit einem solchen Licht erfüllt waren, und wer hätte überhaupt eine Diagnose stellen wollen.

Aber verrückt oder nicht, sie war so glücklich, wie sie es seit langem nicht mehr gewesen war. Und selbst in dieser Zeit der Dürre nahm sie zu. Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens war sie erfolgreicher als ihre Artgenossen.

Ihr Wahnsinn – falls es Wahnsinn war – half ihr bei der Anpassung.

Und eines Tages wartete Augen mit etwas Neuem auf.

Augen malte neue Muster auf ein Stück Elefantenhaut. Zuerst waren sie primitiv, ein bloßes Gekritzel aus Ocker und Ruß auf einer staubigen Tierhaut. Augen ließ sich aber nicht entmutigen und versuchte, das in Ocker auf dem Leder abzubilden, was sie in ihrem Kopf sah. Während Mutter sie beobachtete, wurde sie an sich selbst erinnert, an die schmerzlichen früheren Zeiten, als sie versucht hatte, die seltsamen Inhalte aus dem Kopf zu verdrängen.

Und dann verstand sie, was Augen vorhatte.

Auf dieses Stück Elefantenhaut malte Augen ein Pferd. Es war ein einfaches, fast kindliches Bild mit krakeligen Linien und verzerrter Anatomie. Aber es war nicht etwa eine abstrakte Figur wie Mutters Parallelen und Spiralen. Dies war definitiv ein Pferd: Da war der elegante Kopf, der fließende Hals und die wirbelnden Hufe darunter.

Für Mutter war das wieder ein Schlüsselerlebnis, ein Moment, wo neue Verbindungen hergestellt und ihr Kopf neu konfiguriert wurde. Mit einem Schrei ließ sie sich auf den Boden fallen und suchte nach ihrem Ocker und Holzkohle. Erschrocken zuckte Augen zurück; sie befürchtete, etwas falsch gemacht zu haben. Doch Mutter schnappte sich nur ein Stück Leder und kratzte und kritzelte, wie Augen es ihr vorgemacht hatte.

Sie spürte den ersten kribbelnden Anflug der Migräne im Kopf. Aber sie arbeitete trotz der Schmerzen weiter.

Bald hatten Augen und Mutter die Flächen um sich herum, Felsbrocken, Knochen, Tierhäute und selbst den trockenen Staub mit hastigen Zeichnungen springender Gazellen und langhalsiger Giraffen verziert, mit Elefanten, Pferden und Antilopen.

Als andere Leute sahen, was Mutter und Augen taten, waren sie sofort davon fasziniert und versuchten, es ihnen nachzutun. Allmählich breitete die neue Bildkunst sich aus, und durch die ganze kleine Gemeinschaft sprangen ockerfarbene Tiere und flogen rußige Speere. Es war, als ob die Welt mit einer neuen Schicht aus Leben überzogen worden wäre, mit einer Schale des Bewusstseins, die alles veränderte, was sie berührte.

Für Mutter bedeutete das einen Machtzuwachs. Nachdem sie erkannt hatte, dass die Figuren, die sie in ihrem Kopf sah, Entsprechungen in der Außenwelt hatten, wurde es ihr bewusst, dass sie im Brennpunkt des globalen Geflechts aus Kausalität und Kontrolle stand: Als ob das Universum aus Leuten und Tieren, Felsen und Himmel nur eine Abbildung dessen sei, was in ihrer Vorstellung enthalten war. Und nun eröffnete sich ihr mit dieser neuen Technik von Augen eine neue Möglichkeit, diese Kontrolle, diese Verbindungen auszudrücken. Wenn sie das Bild des Pferdes in ihren Kopf einfror und es dann auf einen Felsen oder eine Tierhaut übertrug, wurde sie gleichsam zu seiner Besitzerin – auch wenn das Tier frei über die trockenen Ebenen lief.

Viele Leute fürchteten sich vor den neuen Bildern und denjenigen, die sie anfertigten. Mutter hatte jedoch eine so starke Stellung erlangt, in der sie nicht mehr angreifbar war; der leere Blick des Schädels auf dem Pfahl war eine wirkungsvolle Abschreckung. Doch Augen, ihre engste Jüngerin, war ein leichteres Ziel.

Eines Tages kam sie weinend zu Mutter. Sie war über und über mit Schlamm besudelt, und die komplizierten Muster, die sie sich auf die Haut gemalt hatte, waren verschmiert und abgewaschen worden. Auges sprachliche Fähigkeiten waren bescheiden geblieben, und Mutter musste sich auf ihr weitschweifiges Kauderwelsch konzentrieren, bis ihr klar wurde, was geschehen war.

Es war Ameisen-Esser gewesen, der Junge, der Interesse an Augen gezeigt hatte. Er hatte ihr wieder nachgestellt, und als sie ihrerseits kein Interesse an ihm gezeigt hatte, hatte er sich ihr aufzudrängen versucht. Aber sie wehrte sich. Also zerrte er sie zum See und warf sie ins Wasser, wo er sie mit Schlamm beschmierte und die Muster von der Haut zu entfernen versuchte.

Augen schaute Mutter an, als ob sie wie ein trauriges Kind getröstet und in den Arm genommen werden wollte. Doch Mutter blieb mit hartem Gesicht vor ihr sitzen.

Dann ging sie zu ihrer Lagerstatt und kehrte mit einem scharfen Steinschaber zurück. Sie bedeutete dem Mädchen, den Kopf in ihren Schoß zu legen, und dann stach Mutter ihr den Stein in die Wange. Augen schrie auf und wich verwirrt zurück; dann fasste sie sich an die Wange und schaute entsetzt auf das Blut an den Fingern. Doch Mutter lockte sie wieder zu sich, bedeutete ihr wieder, sich hinzuknien und ritzte ihr erneut die Wange auf – diesmal etwas unterhalb der ersten Wunde. Augen sträubte sich noch etwas, ließ es aber geschehen. Allmählich nahm der Schmerz Überhand, und sie erschlaffte.

Als Mutter mit ihrem Werk fertig war, wischte sie das Blut ab, nahm ein Stück Ocker und rieb den zerbröselnden Stein tief in die frischen Wunden ein. Augen winselte, als die salzige Substanz im Fleisch brannte.

Dann fasste Mutter sie an der Hand. »Komm«, sagte sie. »Wasser.«

Sie führte das widerstrebende und verwirrte Mädchen durch die apathischen Pflanzenfresser zum See hinunter. Sie wateten ins Wasser, wobei sie mit den Füßen in den zähen Schlick des Seebodens einsanken, bis sie knietief im Wasser standen. Sie blieben still stehen, bis die Wellen sich gelegt hatten und das trübe Wasser ruhig und glatt vor ihnen lag.

Mutter bedeutete Augen, nach unten auf ihr Spiegelbild zu schauen.

Augen sah, dass eine hellrote, überm Auge entspringende Wendel sich über die Wange zog. Es tropfte noch immer Blut aus der primitiven Tätowierung. Als sie sich Wasser ins Gesicht spritzte, wurde das Blut abgewaschen, aber die Spirale blieb. Augen schaute groß und grinste, auch wenn die Wunden durch das Verziehen des Gesichts noch mehr schmerzten. Nun verstand sie, was Mutter getan hatte.

Das Tätowieren war eine Technik, die Mutter bereits bei sich selbst angewandt hatte. Es schmerzte natürlich. Aber es war schließlich der Schmerz – der Schmerz im Kopf, der Schmerz wegen des Verlusts von Still –, der den großen Umwälzungen in ihrem Leben den Weg bereitet hatte. Schmerz war gut und musste klaglos erduldet werden. Was wäre besser geeignet gewesen, dieses Kind an sich zu binden?

Hand in Hand gingen die beiden zum Ufer zurück.

Die Zeit verstrich, ohne dass die unbarmherzige Dürre nachgelassen hätte.

Der See schrumpfte zu einer schlammigen Pfütze inmitten einer Schüssel aus rissigem Schlamm. Das Wasser wurde durch die Exkremente und Kadaver der Tiere verunreinigt – aber die Leute tranken es dennoch, weil sie keine andere Wahl hatten, und viele litten an Durchfall und anderen Beschwerden. Die Tiere wurden weiter dezimiert. Aber es gab kaum noch Frischfleisch, und den Leuten erwuchs eine starke Konkurrenz in den Wölfen, Hyänen und Katzen.

Die Gruppen aus dünnen und brauenwulstigen Leuten starrten sich düster an.

Der Erste, der von Mutters Leuten starb, war ein kleiner Junge. Sein Körper war von der Ruhr ausgezehrt. Seine Mutter weinte über dem kleinen Leichnam, und dann gab sie ihn ihren Schwestern, die ihn in den Boden legten. Aber der Boden war trocken und hart und erschwerte den geschwächten Leuten das Graben. Am nächsten Tag starb wieder jemand, ein alter Mann. Und am übernächsten zwei weitere, diesmal zwei Kinder.

Und nun, im Angesicht des Todes, kamen die Leute zu Mutter.

Sie traten an ihre Lagerstatt mit dem glänzenden Schädel auf dem Pfahl. Sie setzten sich auf den staubigen Boden, schauten auf Mutter, Augen oder auf die Tiere und geometrischen Figuren, die sie überall hineingekratzt hatten. Viele von ihnen folgten Mutters Beispiel und malten sich Spiralen, Wirbel und Wellenlinien auf Gesichter und Arme. Und sie schauten in Stills Augenhöhlen, als ob sie dort die Erleuchtung suchten.

Es war eine Frage des wieso. Mutter hatte ihnen zu erklären vermocht, dass ihr Sohn an einer unsichtbaren Krankheit gestorben war, für die es nicht einmal einen Namen gab; sie war in der Lage gewesen, Sauer als die Frau zu ermitteln und zu bestrafen, die seinen Tod verursacht hatte. Wenn also jemand wusste, wieso diese Dürre sie heimsuchte, dann wäre es Mutter.

Mutter betrachtete diese Versammlung, wobei ihr Kopf zugleich unermüdlich arbeitete, Ideen entwickelte und Zusammenhänge herstellte. Die Dürre hatte eine Ursache; natürlich hatte sie eine. Und hinter jeder Ursache stand eine Absicht, ein Bewusstsein, ob man es sah oder nicht. Und wenn es ein Bewusstsein gab, vermochte man mit ihm zu verhandeln. Schließlich hatte ihr Volk sich bereits seit siebzigtausend Jahren als Händler und Verhandlungspartner bewährt.

Doch wie sollte sie mit dem Regen verhandeln? Was hatte sie ihm anzubieten?

Und überlagert wurden solche Überlegungen vom Argwohn gegen die Leute. Wem vermochte sie überhaupt zu vertrauen? Wer von ihnen redete hinter ihrem Rücken über sie? Selbst jetzt, während sie in einer Art verzweifelter Hoffnung zu ihr aufschauten, verständigten sich nicht ein paar und tauschten mit Gesten, Blicken und Kritzeleien im Staub geheime Botschaften aus?

Schließlich fand sie die Antwort.

Stier, der große jähzornige Mann, der sie wegen des Todes von Sauer in die Mangel nehmen wollte, schloss sich der Runde an. Er war von der Ruhr geschwächt.

Mutter stand plötzlich auf und ging auf ihn zu. Schössling folgte ihr.

Der geschwächte und kranke Stier saß wie ein Häufchen Elend bei den anderen im Schmutz. Mutter legte ihm sachte die Hand auf den Kopf. Er schaute verwirrt auf, und sie lächelte ihn an. Dann bedeutete sie ihm mit einem Winken, ihr zu folgen. Stier stand schwerfällig auf und taumelte benommen. Aber er ließ sich von Schössling zu Mutters Lagerstatt führen. Mutter bedeutete ihm, sich hinzulegen.

Sie nahm einen hölzernen Speer, dessen verkohlte und blutverschmierte Spitze durch häufigen Gebrauch gehärtet war. Sie wandte sich an die Leute und sagte: »Himmel. Regen. Himmel machen Regen. Erde trinken Regen.« Sie schaute zum wolkenlosen Himmelszelt auf. »Himmel nicht machen Regen. Zornig, zornig. Erde trinken viel Regen. Durstig, durstig. Tränken Erde.«

Und mit einer fließenden Bewegung stieß sie Stier den Speer in die Brust. Der bullige Mann verkrampfte sich und umklammerte den Speer. Blut schoss aus dem aufgerissenen Mund, und Urin lief ihm an den Beinen herunter. Dann drehte Mutter den Speer mit aller Kraft und hörte die weichen Organe im Innern reißen. Stier bäumte sich auf und blieb dann reglos auf der Lagerstatt liegen. Mutter zog lächelnd den Speer heraus. Blut strömte auf den Boden.

Es herrschte Stille. Selbst Schössling und Augen starrten mit offenem Mund.

Mutter bückte sich und hob eine Handvoll klebrigen, blutgetränkten Staub auf. »Schaut! Staub trinkt. Erde trinkt.« Und dann stopfte sie die Masse ihrem Kind in den Mund ohne Unterkiefer; die kleinen Zähne färbten sich rot. »Regen kommt«, sagte sie sanft. »Regen kommt.« Dann schaute sie grimmig in die Runde.

Einer nach dem andern schlug unter ihrem Blick die Augen nieder.

Honig, die Tochter von Sauer, brach den Bann. Mit einem Schrei der Verzweiflung hob sie eine Handvoll Steine auf und warf sie auf Mutter. Sie prallten harmlos an ihr ab. Dann rannte Honig zum See hinunter.

Mutter schaute ihr mit hartem Blick nach.

In ihrem Herzen war Mutter von der Richtigkeit ihrer Aussagen und Taten überzeugt. Dass es einem politischen Zweck gedient hatte, den armen Stier zu opfern – er war schließlich einer ihrer größten Widersacher gewesen –, ließ sie freilich nicht am Glauben an sich und ihre Handlungen zweifeln. Stiers Tod war nicht nur opportun gewesen, sondern er würde auch Regen bringen. Ja, genauso war es.

Sie überließ es Schössling, die Leiche wegzuschaffen und ging in ihre Hütte.

Trotz des Opfers blieb der Regen aus. Die Leute warteten einen trockenen Tag nach dem andern, und kein Wölkchen erschien am ausgewaschenen Himmelszelt. Allmählich wurden sie unzufrieden. Insbesondere Honig lästerte immer offener über Mutter, Augen, Schössling und die anderen, die zu ihr hielten.

Doch Mutter saß das einfach aus. Sie wähnte sich nämlich im Besitz der Wahrheit. Es war nur so, dass Stiers Tod den Himmel und die Erde nicht hinreichend besänftigt hatte. Es ging nur darum, das richtige Angebot zu machen, mehr nicht. Sie musste sich nur in Geduld üben, auch wenn sie nur noch Haut und Knochen war.

Eines Tages kam Augen zu ihr. Sie wurde von Ameisen-Esser geführt. Obwohl sie ausgemergelt waren, erkannte Mutter, dass sie sich paaren wollten.

Ameisen-Esser mokierte sich diesmal nicht über sie, sondern flehte sie geradezu an. Und nun war es auch eine Art von Liebe oder Mitleid auf Seiten des jungen Mannes, denn die primitive Tätowierung, die Mutter Augen ins Gesicht geritzt hatte, war durch das stehende Wasser des Sees infiziert worden. Die Wendel war unter der nässenden Fleischmasse, zu der die eine Gesichtshälfte des Mädchens angeschwollen war, kaum noch zu sehen.

Doch Mutter runzelte die Stirn. Diese Paarung wäre nicht richtig. Sie stand auf und entzog dem betrübten Ameisen-Esser Augens Hand. Dann ging sie mit dem Mädchen zwischen den verstreuten Leuten umher, bis sie Schössling fand. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel.

Mutter drückte Augen neben Schössling in den Schmutz. Er schaute konsterniert zu Mutter auf. »Du. Du. Ficken. Jetzt«, sagte Mutter.

Schössling schaute auf Augen und versuchte sichtlich, seinen Ekel zu unterdrücken. Obwohl sie bei Mutter viel Zeit zusammen verbracht hatten, hatte er sich in sexueller Hinsicht nie für Augen interessiert; auch nicht, als ihr Gesicht noch nicht so schlimm entstellt war. Und das galt auch für sie.

Doch nun hielt Mutter den Zeitpunkt für gekommen, dass sie sich paarten. Ameisen-Esser wäre der Falsche gewesen; Schössling war der Richtige. Weil Schössling verstand. Sie stand über ihnen, bis Schösslings Hand zur kleinen Brust des Mädchens gewandert war.

Einen Monat nach Stiers Tod wurden die Leute durch ein lautes, schrilles Heulen geweckt. Es war Mutter. Verwirrt kamen sie angerannt, um zu schauen, welche Anwandlung sie nun schon wieder befallen hatte. Überhaupt fürchteten die meisten sich schon vor dieser beunruhigenden Frau in ihrer Mitte.

Mutter kniete neben dem Pfahl, auf den sie den Schädel ihres Kinds gesteckt hatte. Der Schädel lag zersplittert auf dem Boden. Mutter wühlte in den Splittern und klagte, als ob das Kind ein zweites Mal gestorben wäre.

Augen und Schössling hielten sich zurück und warteten auf Anweisungen von Mutter.

Mutter wiegte die kleinen Splitter des zerbrochenen Schädels in der Hand und ließ zornig den Blick über die Leute schweifen. Dann stieß sie die rechte Hand vor und zeigte auf jemanden. »Du!«

Leute wichen zurück. Köpfe drehten sich und folgten ihrer Blickrichtung. Mutter deutete auf Honig.

»Hierher! Kommen, kommen hierher!«

Honigs Doppelkinn schlotterte vor Angst. Sie wollte sich davonmachen, aber die Umstehenden hielten sie zurück. Schließlich trat Schössling vor, packte das Mädchen am Handgelenk und zerrte sie zu Mutter.

Mutter warf ihr die Splitter des Schädels ins Gesicht. »Du! Du werfen Stein. Du zerschmettern Junge.«

»Nein, nein, ich…«

»Du machen Regen nicht kommen«, sagte Mutter mit harter Stimme.

Honig quiekte entsetzt, als ob das womöglich stimmte, und Urin rann ihr an den Schenkeln herunter.

Diesmal musste Mutter sich nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen.

Es fing auch am nächsten Tag nicht an zu regnen. Auch nicht am übernächsten. Doch am dritten Tag nach Honigs Opfer ertönte ein Donnergrollen am wolkenlosen Himmel. Die Leute kauerten sich in einem uralten Reflex zusammen, der noch aus der Zeit stammte, als Purga sich in ihrem Bau verkrochen hatte. Doch schließlich kam der Regen und fiel so heftig, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hatte.

Die Leute rannten lachend umher. Sie legten sich auf den Rücken und ließen es sich in den Mund regnen, oder sie wälzten sich auf dem Boden und bewarfen sich gegenseitig mit Schlamm. Kinder balgten sich, und Babys wimmerten. Und es setzte ein instinktives lustiges Rudelbumsen ein, um das Ende der Dürre und den Neubeginn des Lebens zu feiern.

Mutter saß neben ihrer blutgetränkten Lagerstatt und betrachtete das alles wohlgefällig.

Wie immer dachte sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig.

Dass sie Honig geopfert hatte, war wieder ein kluger politischer Schachzug gewesen. Honig war in diesem Sinn zwar keine Konkurrentin gewesen, aber ein Unruheherd, ohne den es Mutter leichter fallen würde, ihre Machtposition zu festigen. Zugleich war dieses Opfer eindeutig notwendig gewesen. Der Himmel und die Erde waren zufrieden gestellt; die ersten Götter der Menschheit waren beschwichtigt und hatten ihre Kinder leben lassen.

Auf einer wieder anderen Bewusstseinsebene war Mutter sich aber bewusst, dass der Regen auch ohne ihr Zutun gekommen wäre. Wenn es nach dem Opfer von Honig nicht geregnet hätte, wäre sie bereit gewesen, weiterzumachen und die Leute einen nach dem andern zu opfern – sie hätte ihren Speer sogar in Augens Herz gestoßen, wenn es hätte sein müssen.

All dieser Dinge war sie sich gleichzeitig bewusst; sie glaubte viele widersprüchliche Dinge auf einmal. Das war die Essenz ihres Genies. Sie lächelte, während das Wasser ihr übers Gesicht lief.

IV

Schössling ging langsam am grasbewachsenen Flussufer entlang. Er trug nur eine um den Körper gewickelte Tierhaut und hatte nicht mehr bei sich als einen über die Schulter gehängten Speer und einen Netzbeutel, der ein paar Knochenwerkzeuge und Utensilien enthielt – aber keine Steinwerkzeuge. Im Bedarfsfall war es einfacher, an Ort und Stelle welche anzufertigen als sie zu transportieren.

Fünfzehn Jahre waren seit dem Tod von Stier und Honig vergangen und seit Mutter faktisch die Führung der Sippe übernommen hatte. Schössling war nun in den Dreißigern. Er war fülliger geworden und die Gesichtszüge härter. Das Haar lichtete sich schon und wurde grau. Die Tätowierungen an den Armen und im Gesicht ließen sich zwar nicht mehr entfernen, aber er hatte Schmutz und Lehm auf der Haut verrieben, damit sie wenigstens nicht so hervorstachen. Über die Jahre hatten die Tätowierungen Fremde provoziert, und das Misstrauen war auch so schon groß genug.

Er machte den Eindruck eines Jägers, der sich weit von seiner Gruppe entfernt hatte und vielleicht etwas Handel treiben wollte. Aber er war nicht allein; andere, die im Unterholz am Flussufer versteckt waren, beobachteten ihn auf Schritt und Tritt. Sein Aufzug war ein raffiniertes Täuschungsmanöver. Und sein Streifzug war alles andere als zufällig. Er war ein Späher.

Er wurde von einem Kind entdeckt, einem pummeligen kleinen Mädchen, das am Wasser mit glatt geschliffenen Kieseln spielte. Das vielleicht fünf Jahre alte Kind war nackt außer einer Perlenkette um den Hals. Es schaute erschrocken auf. Er verzog das Gesicht zu einer grinsenden Fratze. Sie schrie auf und rannte am Flussufer entlang, wie er sich das vorgestellt hatte. Er folgte ihr vorsichtig.

Bald sah er die ersten Anzeichen von Besiedlung. Der schlammige Boden war mit Fußabdrücken übersät, und er sah über den Fluss gespannte Fischernetze. Und hinter einer scharfen Flussbiegung sah er die Siedlung selbst. Aus einer Anzahl annähernd kegelförmiger Hütten stiegen Rauchfäden in den Nachmittagshimmel.

Das war kein vorläufiges Lager, wie er sofort erkannte. Die Hütten waren auf kräftigen Holzpfählen erbaut worden, die man tief in den Boden getrieben hatte. Diese Fluss-Leute waren schon seit einer Weile hier und beabsichtigten offensichtlich auch, hier zu bleiben.

Ein Blick auf den Fluss, und er wusste warum. Ein Stück flussaufwärts war die Vegetation auf beiden Seiten des Wassers niedergetrampelt worden, und er sah schimmernde Steine im Flussbett. Dies war eine Furt, wo wandernde Herden den Fluss durchquerten. Die Leute mussten nicht mehr tun, als darauf zu warten, dass die Tiere ihnen in die Arme liefen. Und wirklich sah er hinter den Hütten einen großen Knochenstapel aufgetürmt, der von Antilopen, Rindern und sogar von Elefanten zu stammen schien.

Am meisten wunderte er sich aber über die Hütten. Sie hatten massive Wände mit einer Rauchabzugs-Öffnung in der Kegelspitze, aber sonst keinen Lichteinlass. Wer sollte wohl in einer solchen Dunkelheit leben?

Zwei Erwachsene rannten auf ihn zu – beides Frauen, wie er sah. Sie hatten normale Holzspeere und Steinäxte und trugen wie er einen Lederumhang. Die Gesichter waren mit primitiven, aber wild aussehenden Ocker-Mustern bemalt, und beide hatten sich Knochen durch die Nasen gestoßen. Eine der Frauen richtete den Speer auf seine Brust. »Fu, fu! Ne hai, ne, fu…!«

Er verstand kein einziges Wort. Aber er hörte, dass dieses unartikulierte Geplapper wie das Kauderwelsch war, mit dem er aufgewachsen war; ihm fehlte die Struktur, die sich bei Mutters Leuten zunehmend ausprägte.

Das wäre eine leichte Übung.

Er rang sich ein Lächeln ab. Dann nahm er langsam den Beutel von der Schulter und ließ ihn auf den Boden fallen. Ohne die Frauen aus den Augen zu lassen, holte er eine Muschel heraus und legte sie vor den Frauen auf den Boden. Dann zog er sich mit ausgebreiteten, leeren Händen zurück. Ja, ich bin ein Fremder. Aber ich bin keine Bedrohung. Ich will Handel treiben. Und das habe ich anzubieten. Schaut, wie schön sie ist…

Die Frauen waren professionell. Eine hielt den Speer auf seine Brust gerichtet, während die andere sich bückte und die Muschel in Augenschein nahm.

Die Muschel hatte das Meer seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen und war seitdem über Langstrecken-Handelsrouten Hunderte Kilometer landeinwärts verschlagen worden. Und dann war sie von einem der besten Künstler der Leute, einem jungen Mädchen mit langen, schlanken Fingern mit einem wunderschönen Elefantenkopf-Muster verziert worden. Als die Frau den Elefantenkopf sah, stockte ihr der Atem. Sie schnappte sich die Muschel und drückte sie an die Brust.

Nun bedeuteten die Frauen Schössling mit einem Winken, ihnen in die Siedlung zu folgen. Er schritt lässig einher, ohne sich umzudrehen und hoffte, dass seine Gefährten sich bedeckt hielten.

In der Siedlung der Fluss-Leute erregte er Aufsehen. Die Leute, an denen er vorbeiging, schauten ihn böse an, und gleichzeitig starrten sie begehrlich auf die gravierte Muschel. Ein paar Kinder, einschließlich des Mädchens, das die anderen alarmiert hatte, liefen ihm neugierig hinterher.

Er wurde in eine der Hütten geführt. Es handelte sich um einen typischen Wohnraum mit einer ordentlichen Feuerstelle, Pritschen und aufgestapelten Nahrungsmitteln, Werkzeugen und Häuten. Es sah so aus, als ob zehn oder zwölf Leute hier lebten, einschließlich Kinder. Aber die Familie war ausgeflogen und hatte nur zwei bärtige Männer zurückgelassen, die mindestens in seinem Alter waren und die Frauen, die ihn hergebracht hatten. Der festgestampfte Boden war mit den üblichen Zeichen menschlicher Bewohnung übersät – Knochen, Steinsplitter von Werkzeugfertigung und ein paar halb verzehrte Wurzeln und Früchte.

Die Männer saßen vorm schwelenden Holz der Feuerstelle. Sie alle hatten sich große Knochen durch die Nasenspitzen getrieben. Einer von ihnen machte eine Geste. »Hora!« Das Wort war fremd, die Geste unmissverständlich. Schössling setzte sich an die gegenüberliegende Seite des Feuers. Man bot ihm eine gekochte Wurzel zum Essen und eine dicke Flüssigkeit zum Trinken an. Während er sein Warensortiment ausbreitete, schaute er sich mit gierigen Blicken in der Hütte um. Die Feuerstelle war im Gegensatz zu den simplen Löchern, die Mutters Leute gruben, sauber ausgehoben und befestigt. Und daneben war eine Mulde, die mit Tierhäuten ausgelegt und mit Wasser und großen flachen Flusssteinen gefüllt war. Er sah sofort, dass das Wasser erwärmt wurde, indem man die im Feuer erhitzten Steine hineinwarf. Und da war ein Gebilde aus Lehmziegeln und Stroh, dessen Funktion sich ihm jedoch nicht erschloss: Er hatte noch nie zuvor einen Ofen gesehen. Es gab auch noch ein paar andere ungewöhnliche Artefakte, wie sauber gearbeitete Körbe und eine Schüssel, die aus etwas gemacht war, das er auf den ersten Blick für Holz hielt und das sich dann als eine Art gehärteter Ton entpuppte.

Am meisten staunte er aber über die Lampen.

Sie waren einfache Tonschüsseln mit Tierfett und mit Wacholderzweiglein als Dochte. Aber sie brannten stetig und erfüllten die Hütte mit einem klaren gelben Licht. Nun war ihm auch klar, wieso diese Hütten keine Fenster brauchten. Die Gedanken überschlugen sich, als er sich bewusst wurde, dass diese Lampen einem überall Licht spenden würden, wo man es brauchte, selbst in stockfinsterer Nacht und ohne ein Feuer.

Es war klar, dass diese Leute seiner Sippe hinsichtlich der Werkzeugfertigung weit voraus waren. Aber ihre Kunst war viel bescheidener, obwohl ein paar von ihnen Ketten mit den Perlen trugen, wie er sie schon um den Hals des kleinen Mädchens gesehen hatte – Perlen, von denen sich herausstellte, dass sie aus dem Elfenbein von Elefanten-Stoßzähnen gearbeitet waren.

Deshalb überraschte es ihn auch nicht, dass die Alten von der Produktpalette fasziniert waren, die er ihnen präsentierte. Sie umfasste Elfenbein- und Knochenfiguren von Tieren und Menschen, abstrakte und gegenständliche Bilder, die als Muschel- und Sandsteinreliefs gearbeitet waren und eine von Mutters speziellen Kreationen, ein Wesen mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Wolfs.

Das war eine Reaktion, wie er sie schon viele Male erlebt hatte. Die Kunst von Mutters Leuten war in den zwei Jahrzehnten seit ihren ersten Versuchen zu großer Blüte gelangt. Die Leute waren mit ihren großen Gehirnen und geschickten Fingern dafür bereit gewesen; es hatte nur jemand kommen müssen, der ihnen eine Vorlage lieferte – genauso wie diese intelligenten Fluss-Leute für die Kunst bereit waren. Es war, als ob Mutter ein Staubkorn in eine supergesättigte Lösung geworfen hätte, wo sich sofort ein Kristall gebildet hatte.

Bei der Kommunikation mit diesen Fluss-Leuten musste Schössling sich mit Zeichensprache behelfen und auf den Instinkt verlassen. Aber die ›Geschäftsgrundlage‹ war bald klar. Sie würden Handel treiben, Schösslings Kunst gegen die fortschrittlichen Werkzeuge und Artefakte dieser sesshaften Fremden.

Als er am nächsten Tag gegen Mittag wieder mit seinen versteckten Gefährten zusammentraf, hatte er einen Beutel mit ›Warenproben‹ dabei. Und er hatte sich die Lage jedes Ofens, jeder Feuerstelle gründlich eingeprägt.

Er hatte das alles für Mutter getan, wie er schon so viele ähnliche Aufträge für sie ausgeführt hatte. Nur dass Mutter nicht hier an seiner Seite war und die Arbeit und die Risiken nicht teilte. In seinem Herzen verspürte er zu seinem Erstaunen einen Anflug von Ressentiment.

Mutter saß am Eingang der Hütte. Sie saß im Schneidersitz da und hatte die Hände auf die Knie gelegt. Das Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt, und der Rücken wurde vom niederbrennenden Feuer der letzten Nacht gewärmt. Sie wurde alt und dünn und schien leicht zu frieren. In diesem Moment fühlte sie sich jedoch wohl und verspürte eine gewisse Zufriedenheit.

Jeder Quadratzentimeter der Haut war mit Tätowierungen bedeckt. Selbst die Fußsohlen waren mit Gittermustern verziert. Sie trug einen Lederumhang, was sie meistens tat, sodass ein großer Teil des Körperschmucks verborgen war. Die freiliegenden Körperpartien waren aber farbige, lebendige Kunstwerke mit springenden Tieren, fliegenden Speeren und explodierenden Sternen. Und auf einem Holzpfahl neben ihr steckte der Schädel ihres lange toten Kinds, den sie mit einem aus Baumharz hergestellten Klebstoff wieder zusammengefügt hatte.

Sie beobachtete die durcheinander wuselnden Leute bei ihren täglichen Verrichtungen. Sie warfen ihr Blicke zu und nickten manchmal respektvoll – oder aber sie wandten sich schnell ab, um dem Starren von Mutter und ihrem toten Sohn auszuweichen. Doch in beiden Fällen wurden sie abgelenkt wie Planeten, die am Schwerefeld eines riesigen schwarzen Sterns vorbeizogen.

Schließlich war es Mutter, die zu den Toten sprach, Mutter, die mit der Erde und dem Himmel und der Sonne Zwiesprache hielt. Ohne Mutter würde es keinen Regen mehr geben, würde kein Gras mehr wachsen und würden die Tiere fortbleiben. Auch wenn sie nur stumm hier saß, war sie die wichtigste Person in der Gemeinschaft.

Das jetzige Lager war eine Künstlerkolonie. Es war, als ob Mutter allmählich die ganze Sippe in ihren Kopf, in die von Geistesblitzen durchzuckte Phantasie eingestellt hätte – was sie in gewisser Weise auch getan hatte. Die Formen der Tiere, Leute, Speere und Äxte – und seltsamer Wesen, die Mischungen aus Leuten und Tieren, Pflanzen und Waffen darstellten –, sprangen aus jeder Oberfläche: aus den Felsbrocken, die sich als guter Werkstoff erwiesen hatten und aus den gegerbten Tierhäuten, die über jede Hütte gespannt waren. Und verwoben mit diesen gegenständlichen Formen waren die abstrakten Gebilde, die seit jeher Mutters Markenzeichen gewesen waren: Spiralen und Wirbel, Gitter und Zickzack-Muster. Diesen Symbolen wohnten viele Bedeutungen inne. Die Abbildung zum Beispiel einer Elenantilope vermochte das Tier selbst zu bezeichnen, oder das Wissen der Leute um sein Verhalten, oder es stand für die Jagd-Aktivitäten, die erforderlich waren, um es zur Strecke zu bringen – die Werkzeugfertigung, Planung und Pirsch –, oder für etwas noch Subtileres, nämlich die Schönheit des Tiers und die Freude am Leben an sich.

Schließlich wurden auch im Bewusstsein von Mutter und ihren Gefolgsleuten die Trennwände zwischen den einzelnen Kammern niedergerissen. Nun musste sie nicht mehr die ganze mentale Kapazität für den Umgang mit anderen Leuten reservieren, während für körperliche Tätigkeiten quasi der Autopilot eingeschaltet wurde; das Bewusstsein war nicht mehr nur auf die alte Funktion als Modell fremder Maximen beschränkt. Nun vermochte sie sich ein Tier als eine Person vorzustellen und ein Werkzeug als einen Menschen, mit dem sie eine Verhandlung führte. Es war, als ob die Welt von neuen Arten von Leuten bevölkert wäre – als ob Werkzeuge und Flüsse und Tiere, sogar die Sonne und der Mond Leute wären, mit denen man einen ganz normalen Umgang pflegte.

Nach Jahrtausenden der Stagnation hatte das Bewusstsein sich zu einem mächtigen Kombiwerkzeug gemausert, was sich in der Vielschichtigkeit und der Bedeutungsvielfalt der Kunstgegenstände widerspiegelte – wie Spiegel einer neuen Art von Bewusstsein. Für die Leute mit den hohen Stirnen war dies eine Zeit geistiger Reifungsprozesse.

Und Mutter war auch nicht der einzige Katalysator. Über die ganze Menschheit verstreut gab es noch viele andere wie sie. Jeder dieser Propheten-Genies – falls sie nicht gleich von ihren argwöhnischen Artgenossen getötet wurden – diente als Brennpunkt einer neuen Art des Denkens und einer neuen Lebensweise. Sie waren Fackelträger. Es war der Beginn einer revolutionären Veränderung in der Art und Weise, wie die Menschen mit ihrer Umwelt interagierten.

Es war die Instabilität des Klimas, das diesen neuen Bewusstseins-Typ befördert hatte. Die in einem Maß sich verändernden Umweltbedingungen, wie es in späteren Zeiten nicht mehr vorkam, waren ein Filter: Nur außergewöhnliche Individuen überlebten die außerordentlichen Widrigkeiten und vermochten ihr genetisches Erbe weiterzugeben. Und es stieg nicht nur die Durchschnittsintelligenz, sondern Ausnahmepersönlichkeiten wie Mutter wurden zahlreicher – wie die vorausschauenden ›Technologen‹, die die Fluss-Leute mit dem fortschrittlichen Werkzeugsatz ausgerüstet hatten. Aus der Perspektive der Arten war es nützlich, wenn das Bewusstsein gelegentlich Genies hervorzubringen vermochte. Sie gingen entweder sang- und klanglos unter, oder sie machten vielleicht eine Bahn brechende Erfindung.

Und wenn eine solche Innovation erfolgte, waren die großen Köpfe ihrer Artgenossen auch bereit dafür. Es war, als ob sie sich danach gesehnt hätten. Seit siebzigtausend Jahren hatten die Leute schon die ›Hardware‹ gehabt. Nun lieferten Mutter und andere wie sie die ›Software‹.

Diese neue Vorstellung von der Welt trug bereits reiche Früchte für Mutters Leute. Von der künstlerischen Note einmal abgesehen, war das Lager die übliche Ansammlung aus windschiefen Hütten. Aber das derzeitige Lager war groß; es zählte nun doppelt so viele Leute wie zu der Zeit vor Mutters Erleuchtung. Und es war auch schon lang her, dass jemand vor Hunger hohle Wangen oder einen aufgetriebenen Bauch gehabt hatte. Mutters Weg war erfolgreich.

Mutter sah das Mädchen Finger allein im Schatten eines Affenbrotbaums sitzen. Die erst vierzehnjährige Finger war in die Arbeit an einer neuen Skulptur vertieft, die sie aus einem Stück Elfenbein schnitzte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und sich einen Lederlappen auf den Schoß gelegt. Mutter machte mit den noch immer scharfen Augen die schimmernden Elfenbeinspäne auf dem Boden um sie herum aus. Sie war es nämlich gewesen, die das exquisite Elefantenkopf-Relief auf der Muschel angefertigt hatte, die Schössling den Fluss-Leuten gegeben hatte.

Finger trug die wendeiförmige Wangen-Tätowierung, die zum Ausweis der Privilegierten geworden war, die Mutter am nächsten standen: die Insignien ihres Priesteramtes. Finger gehörte bereits der zweiten Generation an. Sie war die Tochter von Augen, die schon lang tot war – gestorben an der Infektion durch jene erste primitive Tätowierung. Finger war schon im frühen Kindesalter mit der spiraligen Insignie versehen worden, was man daran sah, dass die Tätowierung durchs Wachstum verzerrt und verblasst war. Es war ein besonderes Ehrenzeichen.

Und das Mädchen wuchs schnell. Mutter wusste, dass sie bald einen Partner für sie würde auswählen müssen, wie sie schon Partner für ihre Mutter, Augen, ausgesucht hatte. Mutter hatte schon ein paar Kandidaten vorgesehen, Jungen und Jungmannen ihrer Priesterkaste. Sie würde dem Instinkt vertrauen, die richtige Wahl zu treffen, wenn die Zeit kam…

Ein Schatten fiel auf sie. Eine Frau näherte sich Mutter zögerlich und mit niedergeschlagenen Augen. Sie war jung, ging aber schon gebückt. Sie hatte eine Hirschkeule mitgebracht, die sie nun vor Mutter auf den Boden legte. »Weh«, sagte die Frau schwach und mit gesenktem Kopf. »Rücken weh. Gehen Kopf hoch, Rücken schmerzen. Heben Baby hoch, Rücken schmerzen.«

Mutter wusste, dass sie erst Anfang Zwanzig war. Jedoch wurde dieses Mädchen von Rückenproblemen geplagt, seit sie sich vor ein paar Jahren leichtsinnigerweise auf einen Ringkampf mit ihrem – viel älteren und viel stärkeren – Bruder eingelassen hatte.

Mutter lehnte fast alle derartigen Bitten ab. Es hätte ihrem Renommee geschadet, wenn sie Wunder auf Bestellung gewirkt hätte, ob sie nun funktionierten oder nicht. Wo sie heute aber das kleine Genie Finger bei der Arbeit gesehen hatte und von der Sonne wohlig gewärmt wurde, war sie quasi in Spendierlaune. Sie schnippte mit den Fingern und bedeutete dem Mädchen, den Lederumhang abzulegen und sich mit dem Rücken zu ihr hinzuknien.

Das Mädchen tat wie geheißen und kniete nackt vor Mutter nieder.

Mutter drehte sich um und nahm eine Handvoll kalter Asche aus der Feuerstelle. Sie spuckte darauf, verrieb das Zeug zu einer dünnen körnigen Paste und hob sie vor Stills knochiges Gesicht, auf dass er sie sah. Dann verrieb sie die Asche auf dem Rücken des Mädchens und murmelte dabei etwas vor sich hin. Das Mädchen zuckte zusammen, als die Asche seinen Körper berührte, als ob sie noch immer heiß wäre.

Als sie fertig war, gab Mutter dem Mädchen einen Klaps aufs Hinterteil und hieß es aufstehen. Mutter wedelte mit dem Finger. »Sei stark. Denke nicht schlecht. Sage nicht schlecht.« Falls die Behandlung anschlug, würde Mutter den Ruhm einheimsen. Falls sie fehlschlug, würde das Mädchen die Schuld bei sich suchen, weil sie unwürdig gewesen sei. So oder so wäre Mutter fein raus.

Das Mädchen nickte nervös. Mutter ließ sie zufrieden ziehen. Sie nahm das Fleisch und schaffte es in die Hütte. Es würde sich später jemand finden, der es für sie garte und aufbewahrte.

Alles zu seiner Zeit.

Nach Mutters rustikaler Behandlung hatte die Patientin wirklich das Gefühl, dass die schlimmen Rückenschmerzen gelindert worden seien. Es war nämlich etwas eingetreten, das man eines Tages als Placebo-Effekt bezeichnen würde: Weil sie an die Wirkung der Behandlung glaubte, fühlte das Mädchen sich besser. Der Umstand, dass der Placebo-Effekt sich auf das Bewusstsein und nicht auf den Körper des Mädchens auswirkte, schmälerte jedoch nicht den Erfolg. Nun war sie in der Lage, sich besser um ihre Kinder zu kümmern, die somit eine bessere Überlebenschance hatten als eine vergleichbare Familie mit einer ungläubigen Mutter, deren Symptome nicht durch ein Placebo gelindert werden konnten – und so würden diese Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit selbst Kinder bekommen, die die Neigung ihrer Großmutter zum Glauben erbten.

Das Gleiche galt für die Jäger. Sie malten seit neustem Bilder der Beutetiere an Felsen und die Lederbespannungen der Hütten. Sie machten Jagd auf diese Malereien, stießen ihnen Speere ins Herz und in den Kopf und versuchten den Tieren sogar begreiflich zu machen, weshalb sie ihr Leben zugunsten der Leute opfern sollten. Mit diesen Ritualen bannten die Jäger die Angst. Obwohl sie bei den tollkühnen Jagdausflügen oft verwundet oder gar getötet wurden, hatten sie eine hohe Erfolgsquote – höher als diejenigen, die es nicht für nötig hielten, sich mit ihrer Beute ins Benehmen zu setzen.

Die im Entstehen begriffenen Menschen waren immer noch Tiere und noch immer den Gesetzen der Natur unterworfen. Es hätte sich keine Veränderung in der Lebensweise durchgesetzt, wenn sie ihnen keinen Anpassungsvorteil im endlosen Überlebenskampf geboten hätte. Die Fähigkeit, an Dinge zu glauben, die überhaupt nicht existierten, war auch ein mächtiges Werkzeug.

Und Mutter tat halbbewusst ihr Bestes, um diese Neigung zum Glauben zu festigen und zu verbreiten. Indem sie unter ihren Gefolgsleuten Paare zur Fortpflanzung auswählte, erzeugte Mutter eine neue reproduktive Isolation. Deshalb wurden die Abweichungen zwischen den Personen – ›Gläubige gegen Ungläubige‹ – schnell größer und resultierten schon nach einem Dutzend Generationen in markanten Unterschieden in der Chemie und Organisation des Gehirns. Es war der Beginn einer Seuche, die schnell die gesamte Population erfassen sollte.

Doch in der Welt jenseits des Verbreitungsgebiets der Menschen – im nördlichen Europa und im Fernen Osten – fertigten die älteren Arten, die robusten Brauenwulstigen und die schlaksigen Läufer, noch immer ihre einfachen Werkzeuge, sogar die urtümlichen Steinäxte, und lebten ihr Leben nach alter Väter Sitte.

Später sah Mutter das Mädchen wieder. Sie ging nun schneller und längst nicht mehr so gebückt. Sie lächelte und winkte Mutter zu, und die ließ sich dazu herab, das Lächeln zu erwidern.

Am Ende des Tages kehrte Schössling von der Expedition am Fluss entlang zurück. Er war staubbedeckt, überhitzt und durstig. Von allen Artefakten, die er mitgebracht hatte, zeigte er Mutter ein einziges. Es war eine Lampe, die aus dem wundersamen feuergehärteten Lehm gemacht war. Er zündete den Docht an und stellte die Lampe in ihre Hütte, sodass sie das dunkle Innere im schwindenden Tageslicht erhellte. Mutter nickte. Das müssen wir haben. In abgehackten Sätzen schmiedeten sie Pläne.

Mutter fiel jedoch auf, dass Schössling sich irgendwie merkwürdig verhielt. Ihr engster Vertrauter seit dem Tod von Augen verhielt sich ihr gegenüber zwar so respektvoll wie immer. Trotzdem strahlte er eine gewisse Ungeduld aus. Das flackernde Licht der kleinen Lampe verdrängte diese Gedanken aber aus ihrem Kopf.

Schössling führte mit seinen besten Jägern Aufklärung um die Siedlung der Fluss-Leute durch.

Er hatte ihnen erklärt, wie der Angriff durchgeführt werden sollte. Er zeichnete skizzenartige Landkarten in den Staub und markierte mit Steinen den Standort von Hütten und Leuten. Ein Talent für Symbole war vielfältig nutzbar. Rudel-Jäger hatten ihre Angriffe immer schon koordinieren müssen. Wölfe taten das, die großen Katzen taten das, und die Raptoren vergangener Zeitalter hatten das auch schon getan. Aber noch nie war die Planung so sorgfältig und umfassend gewesen wie bei diesen schlauen Hominiden.

Als die Kampfgruppe sich der Siedlung der Fluss-Leute näherte, begegneten sie nur wenigen Tieren. Die Beutetiere lernten diese neuen Jäger mit ihren weit reichenden Waffen und der überlegenen Intelligenz bereits zu fürchten.

Und manche Tiere, wie ein paar Schweine-Arten und Wald-Antilopen, kamen in dieser Gegend schon gar nicht mehr vor, weil sie nämlich von den Menschen ausgerottet worden waren.

Das war natürlich nur ein schwacher Auftakt für die Zukunft.

Nun machten Schössling und seine Leute aber Jagd auf Leute und nicht auf Tiere.

Als sie angriffen, waren die Fluss-Leute chancenlos. Es waren allerdings nicht die Waffen, die den Angreifern zum Vorteil gereichten, auch nicht ihre Anzahl, sondern ihre Einstellung.

Mutters Leute kämpften mit einer Art befreiendem Wahnsinn. Sie kämpften weiter, wenn die Kameraden um sie herum fielen, wenn sie selbst so schwer verwundet wurden, dass sie eigentlich kampfunfähig hätten sein müssen und selbst wenn sie dem Tod ins Auge blickten. Sie kämpften, als wären sie von ihrer Unsterblichkeit überzeugt – was der Wahrheit auch ziemlich nahe kam. Hatte nicht Mutters Kind den Tod besiegt und war in die Steine und den Boden, das Wasser und den Himmel übergegangen und lebte nun bei den unsichtbaren Leuten, die übers Wetter, die Tiere und das Gras herrschten?

Und vom Glauben, dass Dinge oder Waffen, Tiere oder der Himmel in gewisser Weise Leute waren, war es nur noch ein kleiner Sprung zur Überzeugung, dass manche Leute nicht mehr als Dinge seien. Die alten Kategorien hatten keine Gültigkeit mehr. Beim Angriff auf die Fluss-Leute töteten sie keine Menschen, Leute wie sie. Sie töteten Objekte, Tiere, die geringer waren als sie. Die Fluss-Leute hatten trotz ihrer fortschrittlichen Technik wie der Töpferkunst keinen solchen Glauben. Das war eine Waffe, der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Dieser kurze, aber barbarische Kampf war der Ursprung einer roten Linie, die sich durch die langen blutigen Zeitalter ziehen sollte, die da kommen würden.

Als es zu Ende war, ging Schössling durch die Ruinen der Siedlung. Er hatte die meisten Männer der Fluss-Leute abschlachten lassen, ob jung oder alt, schwach oder stark. Er hatte aber versucht, ein paar Kinder und jüngere Frauen zu verschonen. Die Kinder würden gezeichnet und im Geiste von Mutter und ihren Gefolgsleuten unterwiesen werden. Die Frauen würde man den kämpfenden Männern geben. Wenn sie schwanger wurden, würde man ihnen die Kinder wegnehmen, es sei denn, sie waren inzwischen auch Gefolgsleute geworden. Er hatte ein paar Leute mit einem Verständnis der Öfen, der Lampen und der anderen tollen Dinge hier ausgesondert; sie würden auch verschont werden, falls sie kooperativ waren. Er wollte, dass seine Leute die Technik der Fluss-Leute erlernten.

Es war wieder einmal eine erfolgreiche Operation, die zum strategischen Wachstum von Mutters Gemeinschaft beitrug.

Als man ihr das Dorf der Fluss-Leute zeigte, war Mutter erfreut und nahm Schösslings Ehrenbezeugung entgegen. Doch wieder sah sie ein Stirnrunzeln bei ihm. Vielleicht tat er sich zunehmend schwer damit, ihre Befehle zu befolgen. Vielleicht sollte dabei mehr für ihn herausspringen. Sie würde sich darüber Gedanken machen und etwas unternehmen müssen.

Aber für solche Maßnahmen war es schon zu spät. Während sie noch den Blick über seine letzte Eroberung schweifen ließ, griff bereits der Tod nach ihr.

Mutter erfuhr nie vom Krebs, der sie innerlich auffraß. Aber sie spürte ihn als einen Klumpen im Bauch. Manchmal stellte sie sich vor, es sei Still, der von den Toten zurückkehrte und sich auf eine neue Geburt vorbereitete. Der Schmerz im Kopf kehrte mit der alten Wucht zurück. Die Lichtblitze zuckten hinter den Augen auf, Zickzack-Linien und Gitter und Sterne, die wie Eiterbeulen aufplatzten. Es wurde schließlich so schlimm, dass sie nur noch im Schein der blakenden Tranfunzel in der Hütte lag und den Stimmen lauschte, die in ihrer großen Hirnschale widerhallten.

Und dann kam Schössling zu ihr. Sie vermochte ihn durch die wabernden Muster kaum zu erkennen. Aber sie musste ihm etwas Wichtiges sagen. Mit der klauenartigen Hand packte sie ihn am Arm. »Hör«, sagte sie.

»Du schlafen«, sagte er in einem Singsang, als ob er zu einem Kind spräche.

»Nein, nein«, widersprach sie mit einer Stimme wie ein Reibeisen. »Nein du. Nein ich.« Sie hob den Finger und tippte sich an den Kopf und auf die Brust. »Ich, ich. Mutter.« In ihrer Sprache war das entsprechende Wort ein gehauchtes ›Ja-ahn.‹

Eine neue Verbindung war hergestellt worden. Nun hatte sie sogar ein Symbol für sich selbst: Mutter. Sie war die erste Person in der Menschheitsgeschichte, die einen Namen hatte. Und obwohl sie ohne ein überlebendes Kind starb, glaubte sie, dass sie die Mutter von ihnen allen sei.

»Ja-ahn«, flüsterte Schössling. »Ja-ahn.« Er lächelte sie verstehend an. Er beugte sich über sie und legte die Lippen auf ihren Mund. Und er hielt ihr die Nase zu.

Als ihre geschwächten Lungen unter dem Todeskuss um Luft rangen, senkte die Dunkelheit sich schnell über sie.

Sie hatte jedem in der Gruppe zugetraut, dass er ihr irgendwann etwas Böses wollte. Jedem außer Schössling, ihrem ersten Jünger. Seltsam, sagte sie sich.

Eine wachsende Überzeugung, dass hinter jedem Ereignis Absicht steckte – sei es ein böser Gedanke im Bewusstsein eines anderen oder die gütige Laune eines Gottes im Himmel – war bei Geschöpfen mit einem angeborenen Verständnis von Kausalität vielleicht zwangsläufig. Wenn man intelligent genug war, um Kombi-Werkzeuge anzufertigen, gelangte man schließlich auch zu der Überzeugung, dass Götter am Ende aller Kausalketten stünden. Das war natürlich mit Kosten verbunden. Um den neuen Göttern und Schamanen zu dienen, würden die Leute in Zukunft große Opfer bringen müssen: an Zeit, materiellen Gütern und sogar das Recht, Kinder zu haben. Manchmal würden sie sogar ihr Leben opfern müssen. Doch der Lohn dafür war, dass sie keine Angst mehr vorm Tod haben mussten.

Und so fürchtete Mutter sich nicht. Schließlich gingen die Lichter in ihrem Kopf aus, die Bilder verblassten und der Schmerz verschwand.

KAPITEL 12 Der Floss-Kontinent

I Indonesische Halbinsel, Südostasien, vor ca. 52.000 Jahren

Die beiden Brüder schoben das Kanu vom Flussufer ins Wasser. »Vorsicht, Vorsicht… Weiter nach links. Alles klar, wir haben’s geschafft. Wenn wir uns nun nach rechts halten, glaube ich, dass wir durch diesen Kanal kommen…« Ejan saß vorn im Rindenkanu, sein Bruder Torr hinten. Die beiden Männer waren zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt; sie waren klein, drahtig und hatten haselnussbraune Haut und schwarzes Haar.

Sie manövrierten das Boot durch einen Wasserlauf, der mit Schilf, Treibgut und angeschwemmten Bäumen verstopft war. Bei den Bäumen, die das Ufer säumten, handelte es sich um Teak, Mahagoni, Karaya und Mangroven. Ein riesiger durchscheinender Vorhang aus Spinnennetzen hing über dem Geäst. Er filterte das Licht und ließ das intensive Grün des Waldes verblassen. Doch überm Fluss lastete die Hitze wie ein riesiger Deckel, und die Luft war von Licht durchflutet. Ejan schwitzte schon stark, und die dichte, feuchte Luft war kaum zu atmen.

Man hätte es kaum für möglich gehalten, dass dies eine Szenerie mitten in der letzten Eiszeit war – zeitgleich wanderten in der nördlichen Hemisphäre Riesenhirsche im Windschatten kilometerdicker Eiskappen.

Schließlich erreichten sie das offene Wasser, sahen aber bekümmert, wie überfüllt es war.

Es herrschte ein dichter Verkehr von Rindenkanus und Einbäumen. Manche Familien fuhren in zwei oder drei Kanus, die sie der Stabilität wegen vertäut hatten. Zwischen diesen Flotten schwammen primitivere Fahrzeuge, Flöße aus Mangroven, Bambus und Schilf. Und es gab auch Fischer, die weder Boote noch Flöße hatten. Eine Frau watete ins Wasser hinaus und erschlug mit einem Paar Stöcken die Fische, die leichtsinnigerweise in ihre Nähe schwammen. Ein paar Mädchen standen bis zur Hüfte im Wasser und hielten quer über den Fluss gespannte Netze, während Gefährten ihnen planschend und spritzend die Fische zu trieben.

Das war ein großer Technologiesprung seit den einfachen Baumstamm-Flößen, die Harpunes Leute einst benutzt hatten. Angelockt vom Reichtum der Küsten, Flüsse und Flussdeltas hatte das erfinderische und rastlose menschliche Gehirn gleich eine ganze Palette an Möglichkeiten ersonnen, das Wasser abzuschöpfen.

Die Brüder manövrierten durch dieses Getümmel.

»Viel los heute«, grummelte Ejan. »Wir können froh sein, wenn’s heute Abend was zu essen gibt. Wenn ich ein Fisch wäre, würde ich sofort Reißaus nehmen.«

»Dann hoffen wir, dass die Fische noch dümmer sind als du.«

Ejan zog das hölzerne Paddel durch und spritzte seinen Bruder nass.

Plötzlich ertönte weiter flussabwärts ein Schrei. Die Brüder drehten sich um, beschirmten die Augen und versuchten etwas zu erkennen.

Durch die dichte Wolke in der Sonne glänzender Insekten machten sie ein Floß aus Mangrovenpfählen aus. Drei Männer standen auf dieser Plattform; sie zeichneten sich als schlanke dunkle Schemen in der feuchten Luft ab. Ejan sah die Ausrüstung in Form von Waffen und Häuten, die sie am Floß verlascht hatten.

»Unsere Brüder«, sagte Ejan aufgeregt. Er riskierte es, im Kanu aufzustehen, im Vertrauen darauf, dass Torr das kleine Boot stabil hielt. Dann winkte er heftig. Als sie ihn sahen, winkten die Brüder zurück und hüpften auf dem Floß herum, sodass es schaukelte. Heute würden die drei auf dem Floß aufs offene Meer hinausfahren und versuchen, die Überfahrt zum großen südlichen Land zu bewältigen.

Ejan setzte sich wieder hin. Die Angst, ins Wasser zu fallen, war wieder stärker als die Freude über den Anblick seiner Brüder. »Ich sage dir, das Floß ist noch immer zu schwach«, murmelte er.

Torr paddelte stoisch vor sich hin. »Osa und die andern wissen schon, was sie tun.«

»Aber die Meeresströmungen und die Gezeiten…«

»Wir haben gestern Abend einen Affen für Ja’an getötet«, erinnerte Torr ihn. »Ihre Seele ist bei ihnen.«

Ich bin es aber, der den Namen der Weisen Frau trägt, sagte Ejan sich unbehaglich, und nicht sie. »Vielleicht hätte ich sie begleiten sollen.«

»Zu spät«, sagte Torr nüchtern. Und er hatte Recht; Ejan sah, dass die drei Brüder sich abgewandt hatten und gleichmäßig flussabwärts auf die Flussmündung zuruderten. »Komm, Ejan«, sagte Torr. »Lass uns fischen.«

Als sie tieferes Gewässer erreicht hatten, nahmen die Brüder das aus Flachs gewobene Netz und ließen es zu Wasser. Die Brüder schwammen so weit auseinander, bis das Netz ausgespannt war, und dann hakte Ejan den großen Zeh in den unteren Rand des Netzes, um es senkrecht zu öffnen. Schließlich zog das Netz sich wie ein ungefähr fünfzehn Meter langer Zaun durch die Strömung. Nun betätigten die Brüder sich als Schleppnetz-Schwimmer.

Das träge fließende, sämig grüne Wasser umschmeichelte warm Ejans Körper.

Nach etwa fünfzig Metern schwammen sie aufeinander zu und schlossen das Netz. Die Ausbeute war nicht groß – die Fische waren heute wirklich verscheucht worden –, aber es waren immerhin noch ein paar dicke Brocken darunter, die sie ins Kanu warfen. Die kleinen Fische warfen sie ins Meer zurück; wieso sollten sie sich mit Kleinkram abgeben, wenn sie es sich leisten konnten, noch ein paar Monate zu warten, um dann einen dicken, ausgewachsenen Fisch an Land zu ziehen. Sie spannten das Netz und schickten sich an, noch einmal flussaufwärts zu schwimmen.

Doch plötzlich ertönte vom Ufer ein Schrei. Es war ein unheimlicher Klagelaut.

»Mutter«, sagte Ejan zu Torr.

»Wir müssen zurück.«

Sie legten das Netz über einen Baumstumpf; es würde schon nicht wegkommen. Dann stiegen sie wieder ins Kanu, wendeten es und stießen es ins Gewirr aus Treibgut, das das Flussufer säumte.

Als sie zum Lager zurückkamen, sahen sie, wie ihre Schwestern ihre traurige Mutter zu trösten versuchten. Die drei Brüder waren noch nicht einmal außer Sichtweite von der Küste gewesen, als eine Flutwelle das zerbrechliche Floß zertrümmert hatte. Keinen von ihnen hatte man seitdem wieder gesehen; sie waren alle drei ertrunken.

Nie wieder würden Osa, Born und Iner ihre Kanus an Ejans vertäuen.

Ejan drängte sich zwischen den Geschwistern zu seiner Mutter durch und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde diese Reise machen«, sagte er. »Für Osa und die anderen. Und ich werde nicht dabei sterben.«

Doch seine Mutter, mit zerzaustem ergrauendem Haar und verweinten Augen, klagte nur noch lauter.

Ejan war ein entfernter Nachfahre von Augen und Finger, den Gefolgsleuten der ursprünglichen Mutter von Afrika.

Nach Mutter war der Fortschritt der Menschheit nicht mehr nur auf die Tausendjahres-Schritte der biologischen Evolution beschränkt. Nun entwickelten Sprache und Kultur sich mit der Schnelligkeit der Gedanken und wurden durch Rückkopplung immer komplexer.

Nicht lang nach Mutters Tod hatte ein neuer Exodus aus Afrika eingesetzt, wobei eine große Anzahl von Leuten in alle Richtungen ausgeschwärmt war. Ejans Leute waren nach Osten gegangen. In den Fußstapfen von Weits Läufer-Spezies waren sie am südlichen Rand Eurasiens entlang gewandert und hatten sich dabei an den Küstenlinien und Inselgruppen orientiert. Nun waren sie ein Volk, dessen Siedlungsraum sich in einem langen Streifen von Indonesien und Indochina über Indien und den Nahen Osten bis nach Afrika erstreckte. Und weil die Populationen langsam wuchsen, waren Kolonisten von diesen Brückenköpfen entlang der Flüsse ins Innere des Kontinents vorgestoßen.

Ejan und Torr waren Sprösslinge der reinsten Linie der Küstenwanderer, die die Wanderung an den Gestaden des Meeres über viele Generationen hinweg fortgesetzt hatten. Um den Reichtum der Flüsse, Flussmündungen, Küstenstreifen und dem Festland vorgelagerten Inseln auszubeuten, hatten diese Leute ihre Fertigkeiten des Bootsbaus und Fischens allmählich perfektioniert.

Doch nun steckten sie in einer Sackgasse. Auf diesem Archipel vorm südwestlichen Zipfel des asiatischen Festlands waren sie am Ende ihrer Reise angelangt: Sie hatten kein unbesiedeltes Land mehr vor sich. Und langsam wurde es hier voll.

Es bestand aber die Möglichkeit, weiterzugehen; jeder wusste das.

Obwohl die derzeitige Eiszeit den tiefsten Kältepunkt erst noch erreichen musste, war der Meeresspiegel schon um ein paar hundert Meter gefallen. Die Küstenlinien wurden neu gezogen, und infolgedessen hatten die Inseln Java und Sumatra sich mit dem südwestlichen Zipfel Asiens zu einem Schelf verbunden. Indonesien war eine lange Halbinsel geworden. Gleichermaßen waren Australien, Tasmanien und Neu-Guinea zu einer einzigen großen Landmasse verschmolzen.

In dieser einmaligen und temporären Geographie war die asiatische Landmasse an manchen Stellen nur etwa hundert Kilometer von Groß-Australien entfernt.

Alle wussten um die Existenz des südlichen Lands. Kühne oder auch verunglückte Seeleute, die von der Küste und den vorgelagerten Inseln abgetrieben worden waren, hatten es gesichtet. Niemand kannte seine wahre Ausdehnung, doch wusste jeder aus den über die Generationen gesammelten Reiseberichten, dass das nicht nur eine Insel war: Das war ein neues Land, weit, grün und üppig mit einer langen und fischreichen Küste.

Dorthin zu gelangen wäre eine beachtliche Leistung. Bis hierher waren die Leute durch ›Inselhüpfen‹ gelangt, indem sie über ein halbwegs ruhiges Meer von einem Stück Land zum andern gefahren waren, das auch noch deutlich sichtbar war. Die Überfahrt von dieser letzten Insel zum südlichen Land – wobei man das Land ganz aus dem Blick verlieren würde – wäre indes eine Herausforderung von einem ganz anderen Kaliber.

Dennoch würde sich für die Erschließung einer neuen Welt nur jemand finden müssen, der kühn genug war, um die Überfahrt zu wagen. Er müsste kühn genug sein, intelligent genug – und Glück haben.

Ejan nahm sich viele Tage Zeit, um einen geeigneten Baum auszusuchen.

Mit Torr an seiner Seite wanderte er durch die Randzonen der Wälder und musterte Sterkulia-Pflanzen und Palmen. Er stellte sich unter die Bäume, prüfte den Wuchs der Stämme und schlug mit der Faust gegen die Rinde, um verborgene Fehler aufzuspüren.

Schließlich wählte er eine schöne dicke Palme aus, die einen makellosen Stamm wie eine Säule hatte. Er war aber weit von der Siedlung entfernt. Und nicht nur das; die Palme war auch weit von jedem Fluss entfernt; sie würden nicht imstande sein, sie nach Hause zu flößen.

Torr wollte seine diesbezüglichen Bedenken schon äußern, verkniff es sich aber, als er den Ausdruck in Ejans Gesicht sah.

Zuerst fällten die Brüder die Palme mit den Steinäxten. Dann schälten sie die Rinde vom Stamm. Das nackte Holz war so vollkommen, wie Ejat gehofft hatte, und sehr hart.

Dann wanderten sie zur Siedlung zurück, um Hilfskräfte für den Transport des Stamms anzuheuern. Obwohl man ihnen viele Beileidsbekundungen wegen des Verlusts der drei Brüder entgegenbrachte, war niemand von der Aussicht auf eine so lange und schwierige Bergungsaktion im Wald angetan. Letztendlich waren es nur Familienmitglieder – Ejan, Torr und ihre drei Schwestern –, die zur gefällten Palme zurückkehrten.

Nachdem sie die Palme ins Lager geschafft hatten, ging Ejan sofort an die Arbeit. Schicht für Schicht höhlte er den Baumstamm aus, wobei er darauf achtete, das Herz an Bug und Heck nicht zu beschädigen. Er benutzte Steinäxte und Dechsel, die schnell stumpf wurden, aber genauso schnell nachgefertigt wurden.

Torr half ihm die ersten paar Tage. Doch dann zog er sich zurück. Als das älteste Kind lastete die Verantwortung nun auf ihm, und er widmete sich der Versorgung der Familie, damit sie überleben konnte.

Nach ein paar Tagen brachte Ejans jüngste Schwester, Rocha, ihm ein kleines Netz voller Datteln. Er legte die Datteln auf das flache Heck, das er aus dem Holz schnitzte und steckte sie sich während der Arbeit abwesend in den Mund.

Die fünfzehn Jahre alte Rocha war klein, dunkel und schlank – ein stilles Mädchen mit einer intensiven Ausstrahlung. Sie ging um den Baumstamm herum und schaute, was er schon geleistet hatte.

Der Stamm war fast auf ganzer Länge ausgehöhlt. Die breite Basis des Stamms war der Bug, und Ejan ließ dort eine Plattform stehen, auf der ein Harpunier Platz nehmen konnte. Ein kleiner flacher Sitz im Heck war für den Steuermann gedacht. Es war ein erstaunliches Bild, wie ein Boot im Holz Gestalt annahm. Aber die Kerbe, die Ejan in den Baumstamm grub, war noch arg flach, und die Oberfläche rau und unbehandelt.

Rocha seufzte. »Du arbeitest so hart, Bruder. Osa hat ein Floß an einem, höchstens zwei Tagen gebaut.«

Er richtete sich auf und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Dann ließ er die nächste stumpfe Axtklinge fallen. »Aber Osas Floß hat ihn umgebracht. Das Meer zwischen uns und dem südlichen Land ist nicht wie das ruhige Wasser des Flusses. Kein Floß ist stark genug dafür.« Er strich über die Innenseite des Einbaums. »In diesem Kanu werde ich geborgen sein. Und meine Sachen. Selbst wenn ich kentere, wird mir nichts geschehen, weil das Boot sich von selbst wieder aufrichtet. Schau hier.« Er klopfte von außen gegen den Baumstamm. »Dieser Stamm ist außen sehr hart, aber das Herz drinnen ist leicht. Das Holz ist so leicht, dass es nicht einmal sinkt. So werde ich die Überfahrt bestimmt schaffen, glaub mir.«

Rocha strich mit ihrer kleinen Hand übers bearbeitete Holz. »Wenn du schon ein Kanu bauen musst, solltest du Rinde verwenden, sagt Torr. Ein Rindenkanu ist leicht zu bauen. Er hat es mir gezeigt. Es reicht, wenn du eine einzige Schicht Rinde nimmst und sie vorne und hinten mit Lehmklumpen spreizt, oder du nähst es aus Rindenstreifen zusammen und…«

»Und du musst auf der ganzen Reise Wasser schöpfen, und bevor du die halbe Strecke geschafft hast, gehst du unter. Schwester, ich muss mein Boot nicht zusammennähen, und es kann auch nicht reißen; mein Kanu hält dicht.«

»Aber Torr sagt…«

»Er redet zuviel und tut zuwenig«, sagte er schroff. »Ich habe die Datteln aufgegessen. Lass mich nun allein.« Und er widmete sich wieder seiner Arbeit und höhlte emsig den Stamm aus.

Aber sie blieb bei ihm. Stattdessen kletterte sie ins unfertige Innere des Bootes. »Wenn ich dir nicht mit Worten helfen kann, Bruder, dann vielleicht mit den Händen. Gib mir einen Schaber.«

Er lächelte sie erstaunt an und gab ihr einen Dechsel.

Danach machte die Arbeit gute Fortschritte. Als das Kanu seine annähernde Form angenommen hatte, hobelte Ejan die Wände von innen dünner, um Platz für zwei Leute samt Ausrüstung zu schaffen. Um das Holz zu trocknen und zu härten, wurden planmäßig kleine Feuer im und unterm Kanu angezündet.

Es war ein großer Tag, als Bruder und Schwester das Kanu im Fluss zu Wasser ließen – Ejan am Bug, Rocha am Heck.

Rocha war noch eine unerfahrene Kanufahrerin, und das zylindrische Boot kenterte bei jeder Gelegenheit. Aber es richtete sich genauso schnell wieder auf, und Rocha lernte, ihren Gleichgewichtssinn über die Mittellinie des Kanus zu verlängern, sodass sie und Ejan das Kanu mit leichten Ausgleichsbewegungen zu stabilisieren vermochten. Bald waren sie – zumindest auf dem ruhigen Wasser des Flusses – in der Lage, das Kanu ohne bewusste Anstrengung zu kontrollieren, und mit den Paddeln erzielten sie eine gute Geschwindigkeit.

Nach den Versuchen auf dem Fluss verbrachte Ejan noch mehr Zeit mit der Arbeit am Kanu. Stellenweise war das Holz beim Trocknen geplatzt und gesplittert. Er kalfaterte die schadhaften Stellen mit Wachs und Lehm und behandelte die inneren und äußeren Flächen mit Harz, um ein neuerliches Splittern zu verhindern.

Als das vollbracht war, befand er, dass das Boot für die Meereserprobung bereit sei.

Rocha bestand darauf, ihn zu begleiten. Aber er war skeptisch. Sie hatte zwar schnell gelernt, war aber noch ein ungeübtes und relativ schwaches Kind. Trotzdem respektierte er schließlich ihren Wunsch. Jung oder nicht, sie durfte nach Belieben über ihr Leben verfügen. Das war die ›Geschäftsgrundlage‹ dieser Jäger und Sammler: Aus einer Kultur gegenseitiger Abhängigkeit erwuchs zugleich gegenseitiger Respekt.

Auf der Fahrt flussabwärts standen Fischer auf Flößen und in Kanus auf und schwenkten jubelnd ihre Harpunen und Fischernetze, und kreischende Kinder rannten am Flussufer neben ihnen her. Ejan wurde vor Stolz ganz rot.

Anfangs ging alles glatt. Auch nach dem Passieren der Flussmündung blieb das Wasser ruhig. Rocha plapperte aufgeregt, wie leicht das Meer es ihnen doch machte und wie schnell sie die Überfahrt bewältigen würden.

Ejan sagte aber nichts. Er sah, dass das Wasser vorm Bug des Kanus bräunlich gefärbt und von Pflanzenresten und Schlamm durchsetzt war. Sie waren noch immer im vorgeschobenen Mündungsgebiet, wo das Flusswasser mit dem Meerwasser sich vermischte. Wenn er das Wasser probierte, wäre es wahrscheinlich süß. Es war, als ob sie den Fluss noch gar nicht verlassen hätten.

Und als sie dann doch von der Meeresströmung erfasst wurden, wurde das Wasser – wie Ejan schon befürchtet hatte – plötzlich viel turbulenter, und das simple zylindrische Kanu geriet in kabbelige Kreuzseen. Kaltes Salzwasser schwappte gegen Ejan. Routiniert und koordiniert warfen sie sich auf die Seite, um das Boot aufzurichten, und sie tauchten nach Luft schnappend und durchnässt wieder auf. Doch im nächsten Moment kenterte das Kanu schon wieder. Durch die ständigen Rollen riss die Dummy-Ausrüstung sich los, und Ejan sah die Steine, die er ins Boot gepackt hatte, in der Tiefe versinken.

Als das Boot sich schließlich stabilisierte, sah er, dass Rocha über Bord gegangen war, aber sie tauchte schon wieder prustend und schnaufend auf.

Er wusste, dass das Experiment vorbei war. Er warf den Rest der Steine ins Meer, paddelte mit schnellen Schlägen zu seiner Schwester und barg sie. Dann ruderten sie zur Flussmündung zurück.

Als sie zum Lager zurückkehrten, fiel die Begrüßung verhalten aus. Torr half ihnen dabei, das Kanu ans Ufer zu ziehen, gab sich aber wortkarg. Ihre Mutter war nirgends zu sehen. Sie waren noch nah genug an der Küste gewesen, dass jeder ihre Manöver zu sehen vermochte und schmerzlich daran erinnert wurde, was ihren Brüdern Osa, Born und Iner widerfahren war.

Dennoch dachte Ejan nicht daran, aufzugeben. Er wusste, dass die Überfahrt im Kanu möglich war. Es war nur eine Frage der Fertigkeit und Ausdauer – und er wusste auch, dass die arme Rocha trotz ihrer Entschlossenheit diese Qualitäten noch nicht hatte. Wenn er das südliche Land erreichen wollte, brauchte er einen stärkeren Begleiter.

Also wandte er sich an Torr.

Torr arbeitete selbst an einem Kanu, einer aufwändigen Konstruktion aus vernähter Rinde. Im Moment verbrachte er aber die meiste Zeit mit Nahrungssuche und Jagen. Er hatte vom ständigen Bücken über Büsche und Wurzeln einen Buckel, und die große Wunde an der Brust, die ein Eber ihm zugefügt hatte, heilte nur langsam.

Ejan kam sein Bruder plötzlich viel älter vor. In Torr sah er das bodenständige Verantwortungsbewusstsein, das er von seinem Urgroßvater hatte, der ihm auch seinen Namen gegeben hatte. »Komm mit mir«, sagte Ejan. »Das wird ein großes Abenteuer.«

»Die Überfahrt zu versuchen ist nicht… nötig«, sagte Torr verlegen. »Es gibt hier viel zu tun. Das Leben ist schwerer für uns geworden, Ejan. Wir sind so wenige. Es ist nicht mehr so wie früher.« Er rang sich ein Lächeln ab, aber der Blick war ernst. »Stell dir uns beide in deinem prächtigen Kanu auf dem Fluss vor. Die Mädchen werden auf uns fliegen! Und mir tun die Krokodile jetzt schon leid, die sich die Zähne an unsrem Boot ausbeißen…«

»Ich habe das Kanu nicht für den Fluss gebaut«, sagte Ejan ungerührt. »Ich habe es für das Meer gebaut. Du weißt das. Und es war die Reise zum südlichen Land, wofür unsre Brüder das Leben gelassen haben.«

Torrs Gesicht verhärtete sich. »Du denkst zuviel über unsere Brüder nach. Sie sind fort. Ihre Seelen sind bei Ja’an, bis sie in den Herzen neuer Kinder zurückkehren. Ich habe dir zu helfen versucht, Ejan. Ich habe dir dabei geholfen, den Baumstamm herzubringen. Ich hoffte, durch diese Arbeit würden die schlimmen Träume aus deinem Kopf verschwinden. Aber du bist nun an dem Punkt angelangt, wo du wie deine Brüder bereit bist, dich vom Meer umbringen zu lassen.«

»Ich habe nicht die Absicht, zu sterben«, sagte Ejan. Zorn loderte in ihm auf.

»Und Rocha?«, fragte Torr schroff. »Willst du sie um deines Traums willen in den Tod schicken?«

Ejan schüttelte verblüfft den Kopf. »Wenn Osa noch am Leben wäre, würde er mit mir kommen.« Er schlug auf die Rindenhülle von Torrs neuem Kanu. »Zwei Kanus sind besser als eins. Wenn das Osas Kanu wäre, würde er es an meinem vertäuen, und wir würden Seite an Seite übers Meer fahren, bis…«

»Bis ihr beide ertrunken seid!«, rief Torr. »Ich bin nicht Osa. Und das ist auch nicht sein Kanu.« Erschrocken sah Ejan den Ausdruck von Zorn, Frustration und Angst in seinem Gesicht. »Ejan, wenn wir dich auch noch verlieren…«

»Komm mit mir«, sagte Ejan gleichmütig. »Mach dein Kanu an meinem fest. Gemeinsam werden wir das Meer bezwingen.«

Torr schüttelte heftig den Kopf und vermied es, Ejan in die Augen zu schauen.

Traurig wandte Ejan sich zum Gehen.

»Warte«, sagte Torr leise. »Ich werde nicht mit dir gehen. Aber du kannst mein Kanu haben. Es wird neben deinem fahren. Mein Körper wird hier bleiben und Wurzeln ausgraben.« Nun lächelte er sehnsüchtig. »Aber meine Seele wird dich im Kanu begleiten.«

»Bruder…«

»Komm einfach zurück.«

Dass er auch über Torrs Kanu verfügen durfte, brachte Ejan auf eine Idee.

Das zweite Kanu wäre unbemannt und stattdessen mit Proviant und Ausrüstung beladen. Das bedeutete, dass es leichter wäre als Ejans, und deshalb wäre es unter dem Kriterium der Stabilität auch keine gute Lösung gewesen, die beiden Kanus aneinanderzukoppeln.

Nach ein paar Überlegungen und Versuchen verband Ejan Torrs robustes Rindenkanu über zwei lange Querbalken mit seinem. Durch diese Anordnung wurden die beiden Kanus durch einen offenen Holzrahmen miteinander verbunden, sodass daraus praktisch ein Floß mit den Kanus als Schwimmer resultierte.

Je mehr das Konzept Gestalt annahm, desto begeisterter war er von der Idee. Vielleicht vermochte er mit dieser Neuerung die besten Merkmale der beiden Konstruktionen zu vereinigen. Die Ruderer und ihre Ausrüstung wären sicher im Einbaum untergebracht, anstatt ungeschützt auf einem Floß zu sitzen, und das zweite Kanu würde ihnen zugleich die Stabilität einer großen Floßplattform verleihen.

Mit Rocha erprobte er die neue Konstruktion im Fluss und in den küstennahen Gewässern auf ihre Seetüchtigkeit. Das Doppelrumpf-Design erwies sich zwar als schwerfälliger als ein einzelnes Kanu, war aber weitaus stabiler. Obwohl sie weiter aufs Meer hinausfuhren als beim ersten Versuch mit dem Einbaum, kenterten sie kein einziges Mal. Und weil sie im Gegensatz zum Einbaum nicht ständig Kraft darauf verwenden mussten, den Katamaran aufrecht zu halten, war die Fahrt auch nicht annähernd so anstrengend.

Schließlich hatte Ejan das Gefühl, bereit zu sein.

Er versuchte ein letztes Mal, Rocha davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Aber er sah in Rochas Augen eine Art von Rastlosigkeit, eine felsenfeste Entschlossenheit, sich dieser großen Herausforderung zu stellen. Wie Ejan hatte auch ihr Name eine lange Tradition; vielleicht hatte es in der Linie der Rochas schon einmal einen kühnen Entdecker gegeben.

Sie beluden die Kanus mit Vorräten – Pökelfleisch und Wurzeln, Wasser, Muscheln und Lederbeutel zum Lenzen, Waffen und Werkzeuge, auch ein Bündel Feuerholz. Sie versuchten, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, denn sie hatten nicht die geringste Ahnung, was sie an jenen grünen Gestaden im Süden antreffen würden.

Als sie diesmal aufbrachen, wurden sie nicht feierlich verabschiedet. Die Leute drehten sich vielmehr weg und gingen ihren Verrichtungen nach. Nicht einmal Torr schaute dem Doppelkanu nach, als es die Flussmündung verließ. Ejan ging diese demonstrative Missbilligung an die Nieren, und nicht einmal die Art und Weise, wie das Boot mit sanftem, beruhigendem Schaukeln zuverlässig durchs Wasser pflügte, vermochte ihn darüber hinwegzutrösten.

Diese kleine Expedition war jedoch der Anfang eines großen Abenteuers.

Auf der ganzen Halbinsel wurde Ejans Ausleger-Design unabhängig voneinander in die Praxis umgesetzt. An manchen Orten ging die Konstruktion wie bei Ejan aus Doppel-Kanus hervor, wobei der Schwimmer des Auslegers ein stilisiertes zweites Kanu war. Andernorts glich die Konstruktion einem gewölbten Floß. An wieder anderen Orten experimentierten die Leute mit simplen Stangen, die sie an den Dollborden der Kanus verlaschten, um die Schwimmeigenschaften zu verbessern. Aus verschiedenen Ansätzen ging die Ausleger-Konstruktion als einheitliche Lösung für die Instabilität hervor, derentwegen die Kanus bisher auf die Flüsse beschränkt gewesen waren.

Und in späteren Generationen sollten die Nachkommen dieser Leute in ihren Ausleger-Booten sich über Austral-Asien, den indischen Ozean und Ozeanien ausbreiten. Im Westen kamen sie bis nach Madagaskar an der afrikanischen Küste, im Osten über den Pazifik bis zu den Osterinseln, im Norden bis nach Taiwan an der chinesischen Küste und im Süden bis nach Neuseeland. Und überallhin nahmen sie ihre Sprache und Kultur mit.

Zu guter Letzt würden die Kinder dieser Fluss-Leute mehr als zweihundertsechzig Grad des Erdumfangs abfahren.

Die Überquerung der Meerenge zum neuen Land verlief ohne Probleme und war im Vergleich zu den bisherigen Unternehmungen geradezu ein Kinderspiel.

Ejan und Rocha folgten einer unbekannten Küste. Dann kamen sie zu einer Stelle, wo sie einen Wasserlauf sahen, der aus der üppigen Vegetation des Binnenlands brach. Das musste Süßwasser sein. Sie nahmen mit dem Katamaran Kurs auf die Küste und legten sich in die Riemen, bis der Bug der Kanus sich in den ansteigenden Meeresboden grub. Sie waren an einem Strand gelandet, der von einem dichten, undurchdringlichen Wald gesäumt wurde.

»Ich zuerst, ich zuerst!«, rief Rocha und sprang aus dem Einbaum – oder versuchte es zumindest. Nach der langen Zeit auf See knickten die Beine ein, und sie rutschte aus und fiel lachend rückwärts ins Wasser.

Das war keine sehr feierliche Landung. Niemand hielt eine Rede oder hisste eine Flagge. Und es wurde auch kein Denkmal errichtet; vielmehr sollte dieser Landeplatz nach dreißigtausend Jahren im ansteigenden Meer versinken. Trotzdem war es ein historischer Moment. Rocha war nämlich der erste Hominide, der australischen Boden betrat; der erste, der einen Fuß auf diesen Kontinent setzte.

Ejan ließ beim Aussteigen mehr Vorsicht walten. Dann standen sie knietief im warmen Küstengewässer und zogen die Kanus an den Strand.

Rocha rannte zum Süßwasserlauf. Sie stürzte sich hinein und aalte sich darin, trank ein paar Schlucke und säuberte sich. »Bäh, ich bin ganz mit Salz verkrustet…« Dann lief sie in jugendlichem Überschwang aus dem Fluss in den Wald und suchte Frischobst.

Ejan löschte erst einmal mit dem kühlen, frischen Wasser den Durst und tauchte den Kopf unter. Dann ging er mit zitternden Knien den Strand hinauf und unterzog den Dschungel einer Musterung. Er erkannte Mangroven und Palmen – es war fast so wie zu Hause. Er fragte sich, wie weit diese neue Insel sich wohl erstreckte. Und er fragte sich, ob es hier auch Leute gab…

Rocha quiekte leise. Er lief zu ihr.

Im Dickicht rührte sich etwas. Es war groß, bewegte sich aber fast lautlos. Es hatte die schreckliche, stille Aura eines Reptils, die bei ihnen eine kreatürliche Angst hervorrief. Und nun glitt das Ding aus dem Unterholz. Es war eine Schlange, wie Ejan auf den ersten Blick sah, aber eine Schlange von einer Größe, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie durchmaß mindestens einen Schritt und war sieben oder acht Schritte lang. Bruder und Schwester packten sich gegenseitig und rannten aus dem Wald auf den Strand zurück.

»Bestien«, wisperte Rocha. »Wir sind in ein Land mit riesigen Bestien gekommen.«

Schnaufend und schwitzend schauten sie sich in die Augen. Und dann schlug die Angst in Überschwang um, und sie brachen in Gelächter aus.

Sie humpelten zum Kanu zurück, holten das Holz und machten ein Feuer: das erste Feuer, das dieses weite Land je gesehen hatte.

Aber nicht das letzte.

II Nordwest-Australien, vor ca. 51.000 Jahren

Auf der Landzunge eines steinigen Strands hatte Jana Muscheln gesucht. Er war nackt außer einem Gürtel, an dem die Netzbeutel baumelten, die seinen Fang enthielten. Er hatte eine tiefbraune Haut und einen Lockenkopf. Mit seinen einundzwanzig Jahren war er schlank, stark, groß und kerngesund – außer dem lahmen Bein, das er nach einer leichten Kinderlähmung zurückbehalten hatte.

Schwitzend schaute er von der Arbeit auf. Im Westen setzte die Sonne den täglichen Abstieg ins Meer fort. Wenn er die Augen beschirmte, erkannte er Auslegerkanus und Silhouetten, die durch das vom Meer reflektierte Licht scharf gezeichnet wurden. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, und die Beutel um Janas Hüfte wogen schwer.

Genug für heute. Er drehte sich um und ging langsam auf der Landzunge zurück. Er humpelte leicht.

An der ganzen Küste gingen die Leute nun nach Hause, wie Motten angelockt von den in den Himmel steigenden Rauchfäden. Hier wimmelte es von Leuten, die auf engem Raum sich drängten und von dem lebten, was das Meer und die Flüsse hergaben.

Es war schon ungefähr fünfzig Generationen her, seit die ersten Menschen Australien erreicht hatten. Ejan und Rocha waren heimgekehrt und hatten die Kunde vom neuen Land verbreitet. Andere waren ihnen gefolgt. Und ihre Nachkommen, die noch immer vom Fischfang lebten, hatten sich entlang der ganzen australischen Küste ausgebreitet und waren schließlich entlang der Flüsse in die roten Ebenen vorgestoßen. Ejan und Rocha waren aber die Pioniere gewesen. Noch immer wurden ihre Geister von einer Generation an die nächste weitergegeben – Jana trug nämlich den Namen von Ejan, und ihm wohnte auch Ejans Seele inne. Die Geschichte der Überfahrt, wie sie in einem mit Möwenfedern verkleideten Boot übers Wasser geflogen waren und nach der Landung gegen riesige Schlangen und andere Ungeheuer gekämpft hatten, wurde in der von Feuern erhellten Dunkelheit von Schamanen erzählt.

Jana kam nach Hause. Seine Leute lebten in einer Ansammlung aus Hütten im Schutz eines stark verwitterten Sandsteinkliffs. Überall lagen die Relikte seefahrender Leute herum: Kanus, Katamarane und Flöße waren für die Nacht an den Strand gezogen worden, ein Dutzend Harpunen waren wie ein Zelt gegeneinander gelehnt worden, und überall lagen Haufen halbfertiger oder zerrissener Netze herum.

Auf der freien Fläche in der Mitte der Siedlung hatte man ein großes Gemeinschaftsfeuer aus Eukalyptusstämmen entzündet. Kleinere Feuer brannten in den mit Steinen eingefassten Feuerstellen der Hütten. Man hatte Kochsteine in die großen Feuer geworfen, und Männer, Frauen und ältere Kinder schuppten fleißig Fische ab. Kleine Kinder wuselten überall umher. Sie waren frech und machten viel Lärm, wie Kinder das eben so machen, und waren zugleich ein Band der Sympathie, das alle zusammenhielt.

Jana vermisste aber Agema.

Er nahm die Netzbeutel und ging zur größten Hütte. Agema teilte die Hütte mit ihren Eltern, Groß-Cousins von Janas Eltern und mit ihrer großen Geschwisterschar. Vorm dunklen Eingang der Hütte atmete Jana durch, fasste sich ein Herz und trat ein. Drinnen ging es ziemlich lebhaft zu, und es roch nach Holzrauch, gepökeltem Fleisch, Babys, Milch und Schweiß.

Dann sah er sie. Sie säuberte gerade ein Kind, ein kleines Mädchen mit wuscheligem Haar und rotzverschmiertem Gesicht.

Jana hielt den Netzbeutel hoch. Die darin befindlichen Muscheln glänzten. »Die habe ich dir mitgebracht«, sagte er. Agema schaute auf und verzog den Mund zu einem Lächeln, aber sie wich seinem Blick aus. Das Kind schaute ihn mit großen Augen an. »Das sind die besten, glaube ich. Vielleicht könnten wir…«

Plötzlich schoss ein Fuß aus der Dunkelheit und traf sein verkrüppeltes Bein. Es knickte sofort ein, und er fiel auf den festgestampften Boden. Gelächter erschallte. Dann griff ihm eine starke Hand unter die Achselhöhle und stellte ihn wieder auf die Füße.

»Wenn du sie beeindrucken willst, solltest du nicht zu gehen versuchen – nicht mit so einem Bein. Du solltest wie ein Känguru hüpfen…«

Jana schaute mit knallrotem Gesicht in die tiefen Augen von Osu, Agemas Bruder. Immer mehr Geschwister umringten ihn. Jana versuchte den aufwallenden Zorn zu unterdrücken. »Du hast mir ein Bein gestellt.«

Als Osu den glühenden Zorn in Janas Augen sah, umwölkte sein Gesicht sich. »Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte er sanft.

Aber dieses unterschwellige Mitleid machte es nur noch schlimmer. Jana bückte sich, um die Muscheln aufzuheben.

»Warte, ich helfe dir«, sagte Osu.

»Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte Jana schroff. »Sie sind für…«

»Aha. Für meine Schwester?« Osu schaute zu dem Mädchen auf, und Jana sah, dass er blinzelte.

Ein anderer der Brüder, Salo, sehr groß und sehr gut aussehend, trat vor. »Schau, Bursche, wenn du Eindruck bei ihr schinden willst, dann musst du ihr so etwas bringen.« Und er zeigte Jana eine Muschel – ein großer Brocken, den er nur mit zwei Händen zu halten vermochte.

Jana hatte in seinem ganzen Leben als Muschelsammler noch nie eine so große Muschel gesehen. Überhaupt hatte kein lebender Mensch ein so großes Exemplar zu Gesicht bekommen. »Wo hast du die denn gefunden?«

Salo nickte leicht. »Am Strand in einem Abfallhaufen. Ich werde sie wohl als Schüssel benutzen.«

Osu grinste. »Riesenmuscheln, eh? Ejan und Rocha müssen damals gut gegessen haben. Ist natürlich jetzt alles weg… Bring ihr so eine, kleiner Hüpfer, und Agema wird die Beine schneller breit machen, als eine Muschel im Feuer die Schale aufklappt.«

Damit erzielte er wieder einen Lacherfolg. Jana sah, dass Agema das Gesicht verbarg, aber die Schultern bebten. Wieder wallte dieser unbändige Zorn in ihm auf, und Jana wusste, dass er von hier verschwinden musste, ehe er wie ein Kind einen Tobsuchtsanfall bekam – oder noch schlimmer, bevor er einem von diesen unverschämten Brüdern eine knallte.

Er las die Muscheln auf und trat mit aller Würde, die er zu zeigen vermochte, den Rückzug an. Doch selbst im Gehen hörte er noch, wie Osu mit leiser Stimme spottete: »Ich habe gehört, dass sein Schniedel genauso krumm ist wie sein Bein…«

Jana bekam in jener Nacht sehr wenig Schlaf. Doch während er wach lag, schmiedete er einen Plan.

Er stand schon vor der Morgendämmerung auf. Er suchte seine Stricke, die feuergehärteten Speere, den Bogen samt Pfeilen und das Feuerzeug zusammen und schlich sich aus dem Lager.

Dem Flussufer folgend ging er landeinwärts.

Als Jana lautlos über den Kompost auf dem Waldboden schritt, scheuchte er eine Rotte flinker Nager auf. Sie waren eine Art Känguru und schauten ihn mit großen Augen vorwurfsvoll an, ehe sie flohen. Er nahm keine Notiz von ihnen, während er weiterging.

Die meisten Bäume in diesem lichten Flussufer-Wald waren Eukalyptusbäume, die von Streifen halb abgestoßener Rinde umhüllt waren. Diese Bäume, wie auch der größte Teil der Flora, waren entfernte Abkömmlinge der Gondwanaland-Vege-tation, die hier gestrandet war, nachdem dieser Floß-Kontinent vom restlichen Südland abgebrochen war. Und im Wasser des Flusses, von den Bäumen beschattet, kreuzten noch mehr Relikte aus uralten Zeiten. Es handelte sich um Krokodile, die es wie den Eukalyptus hierher verschlagen hatte und die im Gegensatz zu den Bäumen und ihren andernorts lebenden Verwandten sich nicht verändert hatten.

Er kam zu einer Lichtung.

Eine Familie vierbeiniger Kreaturen in der Größe von Rhinozerossen schlurfte umher. Sie hatten kleine Ohren, Stummelschwänze und gingen wie Bären auf flachen Füßen. Sie verwüsteten den Waldboden: Mit den hauerartigen unteren Zähnen gruben sie ihn auf der Suche nach den von ihnen bevorzugten Salzbüschen um. Diese Pflanzen fressenden Beuteltiere waren Diprotodons, eine Art riesiger Wombat.

Es gab hier viele Känguruarten. Die kleineren ernährten sich von Gras und niedrigem Bodenbewuchs. Die größeren waren jedoch viel größer als Jana; diese Riesen waren so groß gewachsen, dass sie das Laub von den Bäumen abzufressen vermochten. Bei der Nahrungssuche schnellten die Kängurus sich mit den Vorderarmen, dem Schwanz und den kräftigen Hinterbeinen vorwärts. Das war eine einzigartige Art der Fortbewegung, bei der die Tiere trotz ihrer Größe irgendwie grazil anmuteten.

Plötzlich drang von der anderen Seite des Waldes ein Brüllen auf die Lichtung. Die Kängurus, groß und klein, wandten sich zur Flucht und hüpften mit ihren elastischen Sprüngen davon. Und dann hoppelte der Urheber des Gebrülls auf die Lichtung. Er sah aus wie ein Löwe, war aber nicht im Entferntesten mit irgendeiner Katze verwandt. Es war ein Thylacoleo, ein Beuteltier wie die Diptrodons und die Kängurus – nur dass diese Beutelkatze ein Fleischfresser war, der wegen identischer Vorlieben und Verhaltensweisen die Gestalt eines Löwen ausgeprägt hatte. Das katzenartige Tier pirschte geschmeidig über die Lichtung und musterte mit kalten Augen die Beute.

Jana bewegte sich langsam am Rand der Lichtung entlang, ohne den Thylacoleo aus den Augen zu lassen.

Während im Rest der Welt die Plazenta-Säugetiere sich durchgesetzt hatten, war Australien zu einem kontinentalen Labor der Beuteltier-Adaption geworden. Es gab Fleisch fressende Säugetiere, die in aggressiven, hocheffizienten Rudeln jagten. Und es gab exotische Kreaturen, wie sie nirgends sonst existierten: große Verwandte des Piatypus, Riesenschildkröten so groß wie Mittelklassewagen und Land bewohnende Krokodile. Und in den Wäldern streiften gewaltige Monitor-Echsen umher. Sie waren mit dem Komodo-Waran verwandt, aber viel größer – ein unheimliches Souvenir aus der Kreidezeit, diese Eintonner-Echsen, die ein Känguru oder einen Menschen am Stück zu verschlingen vermochten.

Jan ging weiter, war aber mit den Gedanken ganz woanders.

Jana und Agema kannten sich schon ihr ganzes Leben lang, wie überhaupt in dieser kleinen Gemeinschaft jeder jeden kannte. Doch erst seit einem Jahr, als er siebzehn geworden war, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Dabei wusste er nicht einmal, was er eigentlich an ihr fand. Sie war klein und hatte eine höchstens mittelprächtige Figur mit kleinen Brüsten, die auch nicht mehr größer werden würden, zu breite Hüften und einen entsprechend breiten Hintern, und sie hatte ein Mondgesicht mit einer kleinen Nase und heruntergezogenen Mundwinkeln. Aber sie strahlte eine Ruhe aus wie die Stille des Meeres, wenn man mit dem Kanu weit draußen auf See war – eine Stille, hinter der sich ein wertvoller Mensch verbarg.

Er hatte mit ihr kaum darüber gesprochen. Er hatte mit ihr überhaupt nicht viel gesprochen, seit er vor einem Jahr diese Gefühle für sie entdeckt hatte.

Was ihn aber am meisten schmerzte war, dass Osu und die anderen bräsigen Deppen ihn zu Recht hänselten. Wegen seines Handicaps hielten sie ihn als Ehemann für Agema für ungeeignet. Sie wollten ihre Schwester nur davor bewahren, einen Fehler zu machen. Er wusste, dass das angegriffene Bein ihn im Alltagsleben nicht behinderte und dass es ihn auch nicht daran gehindert hätte, Agema bei der Aufzucht der Kinder zu helfen, die er sich so sehr von ihr wünschte. Nun musste er nur noch sie und ihre Familie davon überzeugen.

Und das würde ihm nie gelingen, wenn er wie ein Kind Muscheln von Steinen kratzte. Er würde ihnen schon eine Jagdbeute präsentieren müssen. Er würde auf Pirsch gehen und eine große Trophäe mitbringen müssen – und er würde das ganz allein tun müssen, um Agema und den anderen zu beweisen, dass er so stark, lebenstüchtig und intelligent war wie jeder andere Mann.

Die Leute ernährten sich hauptsächlich von Kleintieren, die sie im Meer, im Fluss und im Küstenwaldstreifen jagten und sammelten. Davon wurden sie satt, ohne sich großartig anstrengen oder Risiken eingehen zu müssen. Die Jagd auf größere Tiere war im Wesentlichen den Männern vorbehalten – sie war ein Nervenkitzel, bei dem Männer und Jungen die Gelegenheit hatten, Kraft und Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen, wie es eben Tradition war. Und genau dieses alte Spiel würde Jana nun spielen müssen.

Natürlich war er nicht so dumm, es allein mit Großwild aufzunehmen. Die größten Tiere konnte man nur in einer gemeinsamen Anstrengung zur Strecke bringen. Eine Beute gab es jedoch, die auch ein einzelner Jäger zu erlegen vermochte…

Er drang immer tiefer in den Wald ein.

Schließlich gelangte er zu einer anderen Lichtung. Und hier fand er, wonach er gesucht hatte.

Er war auf ein aus Blättern aufgeschüttetes Nest gestoßen, in dem ein Dutzend Eier vorsichtig abgelegt worden waren. Was das Nest zu etwas Besonderem machte, war die Größe – Jana hätte wahrscheinlich Platz darin gefunden –, und die Eier, die zum Teil so groß wie Janas Kopf waren. Wenn Purga dieses große Gelege gesehen hätte, wäre sie vielleicht von der Rückkehr der Dinosaurier überzeugt gewesen.

Jana ging daran, eine Falle zu bauen. Er streifte auf der Lichtung umher, bis er die großen Fußabdrücke der Vogel-Mutter fand. Er folgte den Spuren ein Stück in den Wald hinein. Dann spannte er über den Spuren Seile zwischen den Bäumen, nahm die an beiden Enden angespitzten Speere und stieß sie in den Boden.

Dann suchte er trockenes Feuerholz zusammen. Um Feuer zu machen, drehte er mit einem kleinen Bogen einen Stock in der Vertiefung eines Astes und fachte die Flamme mit Zunder an. Als das Feuer kräftig brannte, zündete er Fackeln an und schleuderte sie in den Wald.

Überall, wo die Fackeln landeten, loderten Flammen wie Todesblumen auf.

Vögel flogen kreischend auf und flohen vorm Rauch, und rattenartige kleine Kängurus stoben mit schreckgeweiteten Augen an ihm vorbei. Als er wieder auf der Lichtung angekommen war, hatten die einzelnen Brandherde sich schon zu einer einzigen Feuerwand vereinigt.

Schließlich kam kreischend ein großes zweibeiniges Wesen aus dem Wald gerannt. Es hatte das dunkle Gefieder gespreizt, den langen Hals gereckt, und der Boden schien unter dem Wirbel der muskulösen Beine zu erbeben. Das war ein Genyornis, ein riesiger Entenvogel von der doppelten Größe eines Emus – einer der größten Vögel aller Zeiten. Und Jana sah, dass der Vogel unter Schock stand; die Augen waren geweitet, und der unverhältnismäßig kleine Schnabel klaffte auf.

Und dann verfing der Vogel sich mit den großen Füßen im Seil und stürzte sich durch sein Trägheitsmoment voll in Janas Speer. Er war aber nicht sofort tot. Mit gefesselten Füßen und aus dem Rücken ragenden Speer flatterte der Genyornis mit den nutzlosen Flügelchen. Auf einer tiefen Ebene des Bewusstseins verspürte er eine Art von Bedauern, dass seine entfernten Vorfahren die Kunst des Fliegens an den Nagel gehängt hatten. Und dann kam ein schreiender Hominide angerannt, und eine Axt sauste herab.

Die Flammen breiteten sich aus. Jana musste zusehen, dass er von hier verschwand.

In Australien hatte es natürlich auch vor der Ankunft der Menschen schon Waldbrände gegeben. Vor allem brachen sie in der Monsunzeit aus, wenn es heftige Gewitter gab. In der Folge hatten sich ein paar feuerresistente Pflanzenarten entwickelt. Aber sie waren nicht weit verbreitet und schon gar nicht vorherrschend.

Doch das änderte sich nun. Überall, wohin die Menschen kamen, betrieben sie Brandrodung, um das Wachstum von Nutzpflanzen zu fördern und Jagdwild aufzuscheuchen. Die Vegetation hatte sich bereits angepasst. Die von Natur aus robusten und weit verbreiteten Gräser brannten lichterloh, überlebten das aber. Es hatte sich sogar der Kerzenrinden-Eukalyptus entwickelt, der wie ein ›Brandstifter‹ wirkte: Brennende Rindenstücke wurden abgestoßen und vom Wind über Dutzende Kilometer fort getragen, wo sie dann neue Brände entfachten. Aber auf einen Gewinner kamen hier unzählige Verlierer. Die feuerempfindlichen Hölzer vermochten unter den neuen Bedingungen nicht zu bestehen. Zypressenkiefern, die früher die vorherrschende Baumart gewesen waren, wurden selten. Sogar manche Pflanzen, die den Menschen als Nahrungsquelle dienten, wie ein paar Früchte tragende Sträucher, wurden vernichtet. Und weil der Lebensraum der Tiere abgebrannt wurde, implodierten die Populationen.

Von Ejans ursprünglichem Brückenkopf schwärmten die Leute im Lauf der Generationen immer weiter entlang der Küsten und Flussläufe aus. Es war, als ob eine große Feuer- und Rauchwalze sich von der nordwestlichen Ecke Australiens ins Innere dieses weiten roten Lands fräße. Und vor dieser Front der Vernichtung kapitulierten die alten Lebensformen. Das Verschwinden der Riesenmuscheln war erst der Auftakt der Auslöschung gewesen.

Als Jana den Wald verließ, breitete das lodernde Feuer sich immer noch aus, und Rauchsäulen stießen in den Himmel. Es interessierte ihn aber nicht, welchen Schaden er verursacht hatte.

Er vermochte natürlich nicht den ganzen Vogel mit nach Hause zu nehmen. Aber es ging im Grunde auch gar nicht darum, dass er Nahrung mitbrachte. Und als Jana mit dem aufgespießten Kopf des Genyornis ins Lager zurückkehrte, erhielt er auch seinen Lohn. Osu und die anderen klopften ihm belobigend auf die Schulter – und Agema nahm sein Geschenk scheu entgegen.

III New South Wales, Australien, vor ca. 47.000 Jahren

Das Rindenkanu verharrte bewegungslos auf dem trüben Wasser des Sees.

Jo’on und seine Frau Leda fischten. Jo’on stand im Boot und hielt den Speer zum Zustoßen bereit. Der Speer hatte eine Spitze aus Wallaby-Knochen, die scharf geschliffen und mit Harz festgeklebt war. Leda hatte eine Leine aus gepresster Rindenfaser gemacht und einen Haken aus einem Muschelstück daran befestigt. Die Haken waren aber spröde und die Leine schwach, sodass Ledas Part darin bestand, am Haken hängende Fische möglichst vorsichtig zum Boot zu ziehen, wo Jo’on sie dann aufspießte.

Jo’on war vierzig Jahre alt. Er war hager, aber sein runzliges Gesicht drückte trotz eines entbehrungsreichen Lebens Humor aus. Und er war stolz auf sein Boot.

Um das Kanu zu bauen, hatte er ein langes Rindenoval von einem Eukalyptusbaum abgeschält und es an den Enden zu einem Bug und Heck zusammengebunden. Das Dollbord war mit einem mit Pflanzenfasern ummantelten Stock verstärkt, und kurze Stöcke dienten als Beschlag. Die Ritzen und Nähte waren mit Lehm und Harz kalfatert. Dennoch war das Kanu instabil; es lag tief im Wasser, bog sich mit jeder Welle durch und leckte wie ein Sieb. Trotz der bauartbedingten Mängel vermochte man das Boot mit etwas Können aber sogar in unruhigem Wasser zu beherrschen. Auch wenn es primitiv anmutete, lag seine wahre Schönheit in der Einfachheit; Jo’on hatte es an einem Tag zusammengeschustert.

Jo’ons Vorfahren hatten nach Ejans Pionierleistung ganz Australien durchquert und waren vom Nordwesten durch die trockene Mitte des Kontinents bis zu diesem südöstlichen Zipfel gewandert. Aber sie hatten nie das Talent verloren, ein gutes Boot zu bauen. In Jo’ons Kanu gab es sogar Feuer, das auf einer Schicht feuchten Lehms auf dem Boden brannte, sodass sie die gefangenen Fische auch gleich zu braten vermochten.

Das heißt, sie hätten die Möglichkeit dazu gehabt, wenn sie welche gefangen hätten.

Jo’on war das aber auch egal. Er hätte den ganzen Tag hier in der einlullenden Stille stehen können, ob ihm nun ein Fisch vor den Speer schwamm oder nicht. Nicht einmal die Krokodile, die mit funkelnden Augen an ihm vorbei glitten, vermochten ihn aus der Ruhe zu bringen. Hier war es auf jeden Fall besser als im Lager am Ufer, wo einem die Kinder zwischen den Füßen herumliefen, die Männer ihre Mätzchen machten und die Frauen Wurzeln schabten. Ganz zu schweigen von den kläffenden Dingos. In seinen Augen waren diese halbwilden Hunde lästiger, als sie wert waren, auch wenn sie manchmal als Jagdhunde von Nutzen waren…

Nun riss Leda der Geduldsfaden. Mit einem verärgerten Schnauben warf sie die Leine ins Wasser. »Blöde Fische.«

Jo’on setzte sich ihr gegenüber. »Komm schon, Leda. Die Fische beißen heute eben nicht. Du hättest die Leine nicht wegwerfen sollen. Wir werden…«

»Und blödes, nutzloses und leckendes Boot!« Sie trat in die Pfütze, die sich auf dem biegsamen Boden des Boots ausbreitete und spritzte ihn nass.

Seufzend griff er sich eine Kalebasse und schöpfte das Wasser aus dem Kanu. Er sagte nichts mehr und hoffte, dass sie sich wieder einkriegte.

Leda hatte Fischinnereien auf dem Kopf liegen, die in der Sonne langsam trockneten. Traniges Öl rann ihr über den Kopf und den Körper. Das Öl hielt die Moskitos fern, die den See zu dieser Jahreszeit heimsuchten. Sie hatte das Näschen gerümpft und zog einen Schmollmund. Sie war nur ein Jahr jünger als Jo’on und mit zunehmendem Alter eine reizbare Matrone geworden.

Sie hat nie hässlicher ausgeschaut, sagte er sich. Und doch wusste er, dass er sie niemals verlassen würde. Er erinnerte sich noch, als sei es erst gestern gewesen, an den Tag, als er ihr das jüngste Kind hatte wegnehmen müssen – er hatte ihm den Kopf mit einem Stein zertrümmert und die Leiche dann ins Feuer geworfen – und an den Tag, als er nur ein paar Monate später eine Abtreibung hatte vornehmen müssen, indem er ihr solang in den Bauch geschlagen hatte, bis das Kind vorzeitig das Licht der Welt erblickte.

Sie hatte aber verstanden, weshalb er ihr die Kinder hatte wegnehmen müssen. Die Leute waren auf der Wanderung gewesen, und sie hatte schon ein gerade erst entwöhntes Kleinkind am Hals gehabt. Sie hätte es sich gar nicht leisten können, noch ein Kind zu bekommen. Das war ihr völlig klar gewesen. Sie hatte nicht einmal eine Bindung zu den Kindern entwickelt; dazu hatte sie sie zu früh verloren. Doch hatten diese Ereignisse ihre Persönlichkeit geformt und ihr ein Muster aufgeprägt, das so zerrissen war wie der Schlamm eines ausgetrockneten Seebodens. Und an dem Schmerz, den sie litt, gab sie Jo’on die Schuld.

»Wir müssen das besser machen«, nörgelte sie.

»Hmm.« Er strich sich übers Kinn. »Eine dickere Leine? Oder vielleicht…«

»Ich spreche nicht von dickeren Leinen, du Haufen Krokodilscheiße. Schau dir das an.« Sie hielt den Speer mit der angeklebten Knochenspitze hoch. »Du bist ein Narr. Du fischst mit Knochen, während Alli eine mit Feuerstein besetzte Harpune verwendet. Kein Wunder, dass seine Kinder dick und fett werden.«

Er schloss die Augen und unterdrückte einen Seufzer. Alli, Alli, immer nur Alli: An manchen Tagen schien ihm nur der Name ihres älteren Bruders im Ohr zu hallen, der so viel schlauer war als Jo’on, obendrein noch viel besser aussah und der sein Leben so gut im Griff hatte. »Eine Schande, dass du keine Kinder von ihm kriegen konntest«, murmelte er.

»Was hast du gesagt?«, kläffte sie wie ein Dingo.

»Schon gut. Leda, sei doch vernünftig. Wir haben keinen Feuerstein mehr übrig.«

»Dann beschaff halt welchen. Geh zur Küste und mach ein Tauschgeschäft.«

Er unterdrückte den Drang, ihr zu widersprechen. Die Beleidigungen außer Acht gelassen, war der Vorschlag nämlich gar nicht mal schlecht. Außerdem war der hundert Kilometer lange Pfad zum Meer gut begehbar. »In Ordnung. Ich werde Alli fragen, ob er mich begleitet…«

»Nein«, sagte sie und wandte den Blick ab.

Er runzelte die Stirn. »Wieso nicht?… Du hast gestern vorm Tanz doch mit deinem Bruder gesprochen. Was hast du ihm denn gesagt?«

»Wir hatten Streit«, sagte sie verkniffen.

»Streit? Worüber?« Nun wurde er doch ungehalten. »Etwa wegen mir? Hast du mich wieder vor deinem Bruder schlecht gemacht?«

»Ja«, zischte sie. »Ja, wenn du es genau wissen willst. Wenn du also nicht wie ein dummer Junge vor allen dastehen willst, solltest du ihn in Ruhe lassen. Geh allein.«

»Aber so eine Reise…«

»Geh allein.« Sie nahm ein Paddel vom Kanuboden. »Und nun fahren wir zurück.«

Es blieb ihm letztlich nichts anderes übrig, als sich für den einsamen Marsch zur Küste zu rüsten. Doch bevor er ging, erfuhr er noch die Wahrheit. Beim Gespräch mit Alli hatte Leda Jo’on nicht etwa angegriffen, sondern ihn gegen den Spott ihres Bruders verteidigt. Er sprach Leda nicht mehr darauf an, bevor er ging, aber es wärmte ihm doch das Herz.

Als er losmarschierte, folgten ihm zwei Dingos aus dem Lager. Er warf Steine nach ihnen, bis sie knurrend stehen blieben.

Nachdem er den See hinter sich gelassen hatte, wurde er in Stille eingehüllt. Aus dem flachen roten Erdboden sprossen vereinzelte silbrige Spinifex-Grasbüschel. Nichts regte sich außer dem eigenen Schatten zu seinen Füßen. Er ließ den Blick bis zum Horizont schweifen, ohne dass er einen Menschen gesehen hätte.

Australien würde niemals komfortable Lebensbedingungen bieten. Nach fünftausendjähriger menschlicher Besiedlung lebten noch immer weniger als dreihunderttausend Leute auf dem ganzen Kontinent – ein Einwohner auf fünfundzwanzig Quadratkilometern –, von denen die meisten an den Küsten, den Flussufern und Seen konzentriert waren. Und im großen roten Herzen des Kontinents, in der weiten Kalksteinebene und Salzbusch-Wüste, lebten weniger als zwanzigtausend Leute.

Jedoch hatten die Menschen trotz der geringen Zahl bereits ihr kulturelles Netz über Australien geworfen, in Form von Abfallhaufen, Feuerstellen, Muscheln und Bildern, die sie ins rote Gestein geritzt hatten. Und Jo’on war so zuversichtlich, dass er als vierzigjähriger ›Tattergreis‹ allein und nackt in den roten Staub hinausging, nur mit einem Speer und Woomera bewaffnet. Er war zuversichtlich, weil die Landschaft einem offenen Buch glich, in dem das Wissen seiner Familie enthalten war.

Er folgte der gewundenen Spur der alten Schlange: der Mutter aller Schlangen, die der Legende nach Ejan begrüßt hatte, nachdem er von Westen kommend mit dem Boot gelandet war. Und jeder Meter dieser Spur hatte eine Geschichte zu erzählen, die er auf dem Marsch rekapitulierte. Die Geschichte war eine Kodifizierung des Wissens der Leute um das Land: Sie war eine detaillierte und vollständige ›Anekdoten-Landkarte‹.

Die wichtigsten Details betrafen die Wasserquellen. Um jede Art von Wasserloch, um die verschiedenen Felsspalten, Zisternen, hohlen Bäume und Taufallen rankte sich eine Legende. Bei der ersten Wasserquelle, an der er Halt machte, handelte es sich um einen Ablauf im Boden. Die entsprechende Geschichte besagte, dass in früheren Zeiten sich oft Riesenkängurus hier am Wasser versammelt und eine leichte Beute abgegeben hatten. Nun waren die Kängurus verschwunden, und nur ein morscher Eukalyptusbaum wachte noch über das Wasser.

Und so weiter. Für Jo’on war das Land ein Kaleidoskop aus lebendigen Details, als ob es mit Hinweisschildern und Pfeilen markiert worden wäre – und dabei hatte er diesen Weg erst einmal im Leben zurückgelegt.

Solche Legenden markierten den Beginn der Traumzeit. Die Legenden sollten überdauern, solang Jo’ons Nachfahren ihre Kultur bewahrten, weiterentwickelten und verfeinerten – und so lange sie einen wahren Kern hatten. Wenn man die Geschichte der alten Schlange beherzigte, würde man immer Wasser und Nahrung finden.

Und wie weit die Leute auch immer wanderten und wie tief in der Zeit sie versanken, wäre es immer möglich, die Spuren der Traumzeit durch die Landschaft nach Nordwesten zu dem Ort zurück zu verfolgen, wo Ejan und seine Schwester an Land gegangen waren.

Trotz der überlieferten Weisheit konnte Jo’on aber nicht wissen, dass dieses Land leerer, viel leerer war als zu der Zeit, als die entfernten Vorfahren hier angekommen waren.

Nach einem Tagesmarsch erreichte er ein Wäldchen – was er aber schon gewusst hatte. Hier wollte er ein wenig jagen und seine Handelsware mit Fleisch ergänzen, bevor er weiter zur Küste ging. Er drang lautlos in den Wald ein.

Und er fand auch schnell etwas Lohnendes: Wildhonig in einem Bienenstock, der an einem Gummibaum hing. Er wollte den Stock gerade abnehmen, als eine Schwarzschlange sich ihm näherte. Aber er packte sie am Schwanz, ließ sie wie eine Peitsche knallen und zerschmetterte ihr den Kopf an einem Ast.

Den größten Triumph des Tages feierte er jedoch, als er einen Goanna erspähte, eine waranartige Echse mit einer Länge von ein paar Schritten. Bei seinem Anblick schlüpfte der Goanna furchtsam in einen hohlen Baum. Jo’on war aber geduldig. In dem Moment, als der Goanna ihn entdeckt hatte, war er mitten in der Bewegung erstarrt. Dann blieb er reglos stehen, während die Sonne im Westen unterging und der Erdboden in einem immer kräftigeren Rot glühte. Er sah, wie der Goanna züngelnd prüfte, ob die Luft außerhalb des Baumstamms rein sei. Jeder wusste, dass Goannas die Luft schmeckten, um sich zu vergewissern, ob ein Räuber oder Beute in der Nähe war. Noch immer stand Jo’on wie eine Statue da; es ging auch kein Wind, durch den der Goanna seine Witterung aufzunehmen vermocht hätte.

Schließlich geschah das, was geschehen musste: Der Goanna mit dem trägen kleinen Gehirn vergaß, dass Jo’on hier war und schlüpfte aus der Deckung des Baumstamms. Jo’on schleuderte den Speer und nagelte ihn am Boden fest.

Am Fuß des Eukalyptus machte Jo’on mit einem Reibholz ein Feuer. Dann häutete er den Goanna, nahm ihn aus und röstete ihn überm Feuer, bis das Fleisch schön weich war. Dann ließ er es sich schmecken. Über ihm stoben die Funken des Feuers in der einsetzenden Dunkelheit.

Als er im Morgengrauen aufwachte, war das Feuer ganz heruntergebrannt, aber noch nicht erloschen. Er gähnte, streckte sich und verrichtete ein Geschäft. Zum Frühstück gab es kalten Goanna.

Dann fertigte er aus totem Holz eine Fackel, entzündete sie in der Feuerstelle und ging durch den Wald, wobei er immer wieder Feuer legte. Er hielt vor allem Ausschau nach hohlen Bäumen, die besonders gut brannten und setzte den Kompost an den Wurzeln in Brand.

Die grundlegende Strategie der Waldjäger war auch nach dieser langen Zeit noch die gleiche: das Wild durch Feuer aufzuscheuchen.

Bald wurden Eidechsen und Beutelratten durch den Rauch zum Verlassen der Baumstämme gezwungen. Es waren zwar alles flinke Tiere, aber er vermochte trotzdem ein paar zu erschlagen und warf die kleinen Kadaver auf den Haufen, den er in der Nähe der ursprünglichen Feuerstelle auftürmte. Um bei den Fischerleuten an der Küste Eindruck zu schinden, genügte das kleine Viehzeug aber nicht. Also drang er noch tiefer in den Wald vor und setzte Bäume und Unterholz in Brand.

Langsam breiteten die Brände sich aus und vereinigten sich. Das Feuer war selbst organisiert, nährte sich gegenseitig und erzeugte einen Sog und Turbulenzen, die den Brand noch weiter anfachten. Bald vereinigten die einzelnen Brände sich zu einer wabernden Feuerwand, die sich schneller ausbreitete als ein Mensch zu rennen vermochte.

Doch Jo’on hatte den Wald zu diesem Zeitpunkt schon verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Und während die Baumkronen wie Magnesiumfackeln in Flammen aufgingen, stand er mit der Speerschleuder bereit.

Schließlich flohen die Tiere aus dem brennenden Wald. Kängurus, Echsen und Scharen von Beutelratten flohen in panischer Angst. Sie rannten in alle Richtungen davon – manche stürzten sogar blindlings auf Jo’on zu. Er ignorierte die kleinen, flinken Kreaturen. Doch dann kamen zwei große Tiere angerannt: Ein Paar Rotkängurus hüpfte mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Er nahm den Speer, hängte ihn in seines Großvaters Speerschleuder ein und wartete ab; er würde nur eine Chance bekommen.

Im letzten Moment sahen die Kängurus ihn und machten einen Schlenker. Der Speer segelte durch die Luft, ohne etwas zu treffen.

Frustriert schreiend lief er los, um den Speer zu bergen. Er verfluchte Ledas Sturheit und seine Dummheit, hängte den Speer wieder in die Schleuder ein und wartete auf eine zweite Chance. Aber er wusste, dass er kaum noch eine bekommen würde. Er würde sich mit diesem kläglichen Haufen Beutelratten und Eidechsen begnügen müssen, denn die großen Tiere waren alle weg.

Das Goanna, das Jo’on erlegt hatte, war ein Verwandter der riesigen Fleisch fressenden Echsen, die einst das rote Zentrum des Kontinents durchstreift hatten. Dieses Tier war nicht annähernd so groß gewesen wie seine mächtigen Vorfahren; die Riesen waren alle verschwunden, durch Jagd und Buschfeuer ausgerottet. Die Rotkängurus, auf die er es abgesehen hatte, waren ebenfalls ein schwacher Abklatsch großer Verwandter. Die waren auch alle ausgerottet worden. Die Überlebenden waren die kleinen, flinken und schnell sich vermehrenden Tiere, die imstande waren, Waldbränden und den Speeren der Jäger zu entkommen.

Seit Ejans Ankunft waren fünfundfünfzig Arten großer Wirbeltiere ausgelöscht worden. Überhaupt waren auf dem ganzen Kontinent inzwischen alle Lebewesen verschwunden, die größer waren als ein Mensch.

Schließlich sah Jo’on das Meer. Er hatte die Ostküste Australiens erreicht, unweit der Stelle, wo später der Hafen von Sydney angelegt werden sollte. Das Licht war hier viel heller als im Landesinneren und stach ihm in die Augen. Der Gestank von Salz, Seetang und Fisch raubte ihm fast die Sinne, und das unablässige Tosen der Brandung hallte ihm in den Ohren. Nach dem Marsch durchs staubige rote Binnenland musste er sich an diese Reizüberflutung erst einmal gewöhnen.

Auf dem Weg zum Strand machte er Leute aus, die in Kanus und Flößen auf See waren. Im gleißenden Licht, das vom Wasser reflektiert wurde, zeichneten sie sich als schlanke aufrechte Gestalten ab, die mit Leinen, Netzen und Speeren hantierten. Diese Leute waren Küstenbewohner, und ihr Hauptnahrungsmittel war Fisch, den sie für Fleisch aus dem Hinterland tauschen würden.

Jo’on ging mit ausgebreiteten Händen auf die Leute zu und rief Grüße in den paar Worten, die er von der hiesigen Sprache kannte.

Die ersten Einheimischen, mit denen er zusammentraf, waren Mütter mit Babys. Sie aßen sich methodisch durch einen Haufen Austern und schauten ihn gleichgültig an. Als er auf sie zuging, trat er auf geöffnete Austernschalen; die Schicht wurde immer dicker, je näher er den Frauen kam. Schließlich bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass er auf einer Halde von Muschelschalen ging, die höher war als er – eine Deponie, die im Lauf der Jahrhunderte von den Sammlern angelegt worden war. Die Halde lag vor einer der vielen Sandsteinhöhlen, die diesen Küstenstrich säumten. Ein paar Höhleneingänge waren mit primitiven Vorhängen aus geflochtener Rinde verhängt.

Im Schatten der nächsten Höhle spielten Kinder mit alten Muscheln.

Die Frauen zeigten wenig Interesse an ihm. Er ging weiter.

Schließlich kam eine ältere Frau aus einer der Höhlen gehumpelt. Sie hatte graues Haar, und die Haut schlackerte ihr wie ein leerer Sack um den Körper. Sie sagte etwas Unverständliches, taxierte seine Handelsware abschätzig und lud ihn mit einem Winken in die Höhle ein.

Der Boden war mit Feuersteinsplittern, Muschelschalen, Knochenspitzen und Holzkohle übersät. Wo er auf den Schutt trat, sah er darunter liegende Abfallschichten – auch eingetrockneten menschlichen Kot, der wenigstens nicht mehr stank. Wie seine eigenen Leute hatten diese Fischer-Leute keinen Sinn für Sauberkeit und machten sich einfach davon, wenn sie ein Lager in eine Müllhalde verwandelt hatten. Sie verließen sich darauf, dass die unsichtbaren Kräfte der Natur den Müll für sie wegräumten.

Aber er sah einen Haufen Feuersteine an der Rückwand der Höhle. Das war ein beneidenswerter Schatz. Es hieß, an einer anderen Küste im Süden gebe es Höhlen, wo man den Feuerstein aus den Wänden brechen konnte. Die Leute des Inneren wie Jo’on kannten die Vorkommen des wertvollen Steins aber nicht und mussten sie bei jenen eintauschen, die darüber Bescheid wussten.

Die Fischer-Leute zeigten sich gastfreundlich, allein schon im Interesse zukünftiger Beziehungen. Sie gaben ihm Essen und Wasser. Obwohl keiner die Sprache des andern sprach, versuchten sie sich darüber zu unterhalten, was er auf seiner Reise gesehen hatte und welche neuen Landmarken ihm aufgefallen waren. Aber sie waren nicht sonderlich an Tauschhandel interessiert. Sie nahmen zwar sein Ocker und die magere Fleischausbeute, die er anzubieten hatte. Aber sie waren nur bereit, das mit einer Handvoll Feuersteine aufzuwiegen. Besser als nichts, sagte er sich verdrossen.

Die Fischer-Leute ließen ihn über Nacht bleiben.

Er legte sich auf eine Lagerstatt aus getrocknetem Seetang. Sie stank nach Salz und Fäulnis. Im Licht des herunterbrennenden Feuers schaute er auf Zeichnungen an der Decke – die mit Holzkohle, Ocker und einem purpurnen Färbemittel gemalten Bilder sollten ein Meereslebewesen darstellen. Er sah Abbildungen von Wombats, Kängurus und Emus, wobei die gemalten Jäger über den fliehenden Tieren dräuten.

Bei näherem Hinsehen erkannte er jedoch, dass diese Bilder noch seltsamere Darstellungen überlagerten: Bilder von riesigen Vögeln, Echsen und Kängurus, die ihrerseits die sie jagenden Menschen überragten. Diese Bilder mussten älter sein als diejenigen, die er zuerst gesehen hatte, sagte er sich, denn sie lagen tiefer. Aber die Abbildungen verwirrten ihn. Er glaubte nicht, dass sie eine Bedeutung hatten. Vielleicht waren sie von einem Kind gemalt worden.

Aber da irrte er sich natürlich. Es war eine besondere Tragödie, dass Jo’ons Generation schon vergessen hatte, was alles verloren war.

Jo’on legte sich hin und schloss die Augen. Er versuchte, das geräuschvolle Kopulieren eines Paars in der Ecke zu überhören und wartete auf den Schlaf. Was Leda wohl sagen würde, fragte er sich, wenn er nur mit einer Handvoll Feuersteine nach Hause kam. Derweil tanzten die uralten, verschwundenen Vögel, die Riesenkängurus und Schlangen, Diprotodons und Goannas traurig über seinem Kopf im Feuerschein.

KAPITEL 13 Der letzte Kontakt Westfrankreich, vor ca. 31.000 Jahren

I

Jahna verbarg das geschnitzte Mammut in der Hand und näherte sich dem Knochenkopf-Mädchen.

Das schmutzige und zerlumpte Geschöpf saß untätig auf dem gefrorenen Erdboden und schaute verdrießlich und mit einem Anflug von Furcht zu Jahna auf.

Jahna ging in die Hocke und schaute dem Wesen direkt in die Augen. Sie waren dunkle Kugeln und unter dem großen knochigen Brauenwulst verborgen, nachdem ihre Art benannt war. Doch hier hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Im Gegensatz zur großen, blonden und schlanken Jahna war der Knochenkopf kleinwüchsig und korpulent – er war ein Ungetüm voller Kraft. Wo Jahna eine figurbetonte Kleidung aus zusammengenähten Lederstücken und Naturfasern, mit Stroh ausgestopfte Mokassins, eine pelzbesetzte Kapuze und eine geflochtene Mütze trug, hatte die Knochenkopf-Kuh sich in schmutzige, speckige Tierhäute gehüllt, die mit Sehnenschnüren zusammengehalten wurden.

»Schau, Knochenkopf«, sagte Jahna und hob die Faust. »Schau. Mammut!« Dann öffnete sie die Finger und zeigte ihr die kleine Statue.

Der Knochenkopf quiekte und wich stolpernd zurück, was Jahna zum Lachen reizte. Man sah fast, wie das träge Hirn der Kuh arbeitete. Es wollte den Knochenköpfen einfach nicht eingehen, dass ein Stück Elfenbein auch die Gestalt eines Mammuts anzunehmen vermochte; für sie hatte ein Gegenstand jeweils nur eine einzige Bedeutung. Sie waren dumm.

Nun kam Millo angerannt. Jahnas achtjähriger Bruder, ein kleines quirliges Energiebündel, war mit einem weiten Overall aus Robbenfell bekleidet. Als Schuhwerk trug er umgestülpte Möwenbälge, sodass die Füße von den Federn gewärmt wurden. Als er sah, was sie da tat, entriss er Jahna das Mammut. »Mir, mir! Schau, Knochenkopf. Schau! Mammut!« Er stieß die kleine Skulptur nach dem Gesicht der Knochenkopf-Kuh.

Urin rann an den Beinen der Kuh herab, worauf Millo vor Vergnügen quietschte.

»Jahna, Millo!« Sie drehten sich um. Da kam ihr Vater, Rood, ein großer, starker Mann, dessen Arme trotz des kühlen Frühlingsmorgens unbekleidet waren. Er trug seine geliebten Stiefel aus Mammutleder und schritt kräftig aus. Er machte einen fröhlichen und aufgeregten Eindruck.

Bei seinem Anblick vergaßen die Kinder ihr Spiel und rannten zu ihm hin. Während Millo gewohnheitsmäßig seine Beine umklammerte, bückte Rood sich und umarmte die Kinder. Jahna bemerkte, dass sein Atem nach Stockfisch roch. Er begrüßte sie förmlich mit Namen. »Meine Tochter, meine Mutter. Mein Sohn, mein Großvater.« Dann fasste er Millo um die Taille und kitzelte seinen Sohn; der Junge krümmte sich und entzog sich seinem Griff. »Heute Nacht träumte ich von Robben und vom Narwal«, sagte Rood. »Ich sprach zum Schamanen, und der Schamane warf die Knochen.« Er nickte. »Mein Traum ist gut; mein Traum ist die Wahrheit. Wir werden aufs Meer hinausfahren und Fische fangen und Robben jagen.«

Millo hüpfte aufgeregt herum. »Ich will aber auf dem Schlitten fahren.«

Rood schaute Jahna fragend an. »Und du, Jahna? Willst du auch mitkommen?«

Jahna löste sich aus der Umarmung ihres Vaters und ließ sich das durch den Kopf gehen.

Ihr Vater hatte ihr nicht schmeicheln wollen, als er ihr diese Frage stellte. In dieser Gemeinschaft von Jägern wurden die Kinder von Geburt an mit Respekt behandelt. Jahna trug den Namen und somit auch die Seele von Roods Mutter, und so lebte ihre Weisheit in Jahna fort. Und in Millo wohnte die Seele von Roods Großvater. Leute waren nicht unsterblich – aber ihre Seelen und ihr Wissen. Mit Jahnas Namen hatte es aber eine besondere Bewandtnis. Das war nämlich nicht nur der Name von Jahnas Großmutter, sondern auch von deren Großmutter: Es war ein Name, dessen Wurzeln dreißigtausend Jahre tief reichten. Und von den Namen einmal abgesehen, wie sollten aus Kindern Erwachsene werden, wenn sie nicht wie Erwachsene behandelt wurden? Also wartete Rood geduldig. Natürlich würde Jahna sich mit ihrer Meinung kaum durchsetzen, aber sie würde immerhin zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden.

Sie schaute in den Himmel, prüfte die Windrichtung und schätzte die Zugrichtung der Wolken ein; dann stocherte sie mit dem Zeh auf dem gefrorenen Boden und schätzte ab, ob er heute wesentlich auftauen würde. Und sie verspürte wirklich ein gewisses Unbehagen. Aber die Begeisterung ihres Vaters war ansteckend, und sie verdrängte den Hauch des Zweifels.

»Das ist weise«, sagte sie ernsthaft. »Wir werden aufs Meer hinausfahren.«

Millo sprang seinem Vater mit einem Jubelruf auf den Rücken. »Der Schlitten! Der Schlitten!« Gemeinsam gingen die drei zum Dorf zurück.

Während der Unterhaltung hatten sie die Knochenkopf-Kuh völlig ignoriert, die zusammengekrümmt und zitternd im Dreck lag. Urin lief ihr an den Beinen herunter.

Im Dorf wurden bereits Vorbereitungen für die Jagd getroffen.

Im Gegensatz zur Elendssiedlung der Knochenköpfe war das Dorf eine ordentliche Anordnung kuppeiförmiger Hütten. Die Hütten waren auf einem Rahmen aus Fichtenschösslingen errichtet, die aus den Wäldern im Süden herbeigeschafft worden waren. Dann hatte man den Rahmen mit Tierhäuten und Tundra-Grassoden bedeckt und einen Eingang, Fenster und Rauchabzug in die Wände geschnitten. Die Böden der Hütten waren mit Flusskieselsteinen ›gepflastert‹. Und man hatte sogar befestigte Wege zwischen den Hütten angelegt, damit die Leute nicht im weichen Tundra-Lehm einsanken.

Gedeckt waren die Hütten mit mächtigen Mammutknochen oder Megaloceros-Hauern. Mit diesen Panzerdächern wollte man einmal die Hütten wetter- und winterfest machen, und zum andern wollte man sich des Schutzes durch die Tiere vergewissern: Die Tiere wussten nämlich, dass die Menschen ihnen das Leben nur dann nahmen, wenn sie es tun mussten und verliehen dafür den Behausungen der Leute ihre enorme Kraft.

Es lag eine Aura der Geschäftigkeit und Vorfreude in der Luft.

Ein großer Jäger – Olith, Jahnas Onkel – besserte mit einer feinen Knochennadel ihre Hirschlederhose aus. Andere fertigten auf einer kleinen Freifläche, die als Werkstatt diente, Netze, Körbe und mit Widerhaken besetzte Harpunen aus Knochen und Elfenbein an. Weber stellten an Webstühlen Kleidung aus Pflanzenfasern her. Die Bekleidung der Leute bestand wegen der guten Wärmeisolierung und Haltbarkeit meistens aus Leder, aber es gab auch modische Accessoires aus Webstoff – Röcke, Bandeaus, Haarnetze, Schärpen und Gürtel. Dieses Geschick in der Herstellung von Schnürungen reichte viele zehntausend Jahre zurück und war aus der Notwendigkeit entstanden, eine Alternative zu Tiersehnen zu finden, um Flöße und Kanus zusammenzubinden.

Alle trugen Schmuck in Form von Anhängern, Halsbändern und Perlen, die als Applikationen die Kleidung zierten. Und jede Oberfläche, jedes Werkzeug aus Knochen und Holz, Stein und Elfenbein war mit Abbildungen von Menschen, Tieren und Pflanzen verziert: Da waren Löwen, Wollnashörner, Mammuts, Rentiere, Pferde, Wildrinder, Bären, Steinböcke, ein Leopard und sogar eine Eule. Die Darstellungen waren indes nicht naturalistisch – die Tiere sprangen, tänzelten und waren manchmal nur als huschende Schemen stilisiert. Aber sie enthielten trotzdem viele Details – von Leuten festgehalten, die über die Generationen die Tiere, von denen sie abhingen, so gut kennen gelernt hatten, wie sie sich gegenseitig kannten.

All diese Formen waren mit Bedeutung beladen, denn jedes Element war Teil der endlosen Geschichte, durch die die Leute sich selbst und die Welt begriffen, in der sie lebten. Von wegen nur eine Bedeutung und ein Zweck; die allgegenwärtige Kunst war ein Ausweis dessen, dass das Bewusstsein der Leute auf einer höheren Ebene integriert worden war.

Aber die Geister des alten ›Schubladendenkens‹ trieben nach wie vor ihr Unwesen, wie sie es auch in Zukunft tun würden. Ein alter Mann versuchte einem Mädchen zu zeigen, eine Feuersteinklinge auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu bearbeiten. Am Ende war es einfacher für ihn, ihr das Werkzeug abzunehmen und es ihr vorzumachen, wobei bei der in Fleisch und Blut übergegangenen Fertigkeit wieder das Unterbewusstsein Regie führte.

Diese Leute machten, während sie ihren Verrichtungen nachgingen, einen kerngesunden Eindruck: Sie waren groß, hatten geschmeidige Gliedmaßen, strahlten Zuversicht aus, hatten markante Gesichter und einen makellosen Teint. Aber es gab nur sehr wenige Kinder.

Jahna kam an der Hütte des Schamanen vorbei. Der große, Furcht einflößende Mann war nirgends zu sehen. Er schlief wahrscheinlich noch nach den anstrengenden Übungen der vergangenen Nacht, als er sich durch Tanzen und Gesang wieder in Trance versetzt hatte. Vor der Hütte waren zerbrochene Schulterblätter von Hirschen und Pferden verstreut. Ein paar von ihnen waren auf eingekerbte Stöcke gesteckt und ins Feuer gehalten worden. Auf den ersten Blick vermochte Jahna die Prophezeiung zu lesen, die das Muster der Brandspuren anzeigte; heute wäre wirklich ein guter Tag für eine Jagd zu Wasser.

Obwohl ihre sprachlichen Fähigkeiten schon sehr weit entwickelt waren, hielten die Leute an fernen und anonymen Göttern fest. Also stützten sie sich auf ältere Instinkte. Wie Kieselstein schon gewusst hatte, musste man sich in einer Situation, in der man sich nicht oder unzureichend zu artikulieren vermochte, mit einer Kommunikation in Form von Übertreibung, Wiederholung und Eindeutigkeit behelfen – das heißt mit einer ritualistischen Kommunikation. Und genauso, wie Kieselstein einst seinen Vater zu überzeugen versucht hatte, dass er wegen der nahenden Fremden die Wahrheit sprach, wollte der Schamane die gleichgültigen Götter nun veranlassen, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen und ihm zu antworten. Das war ein hartes Stück Arbeit, und alle gönnten ihm den Schlaf.

Millo und Jahna erreichten die Hütte, die sie mit ihren Eltern, der kleinen Schwester und ein paar Tanten teilten. Mesni, ihre Mutter, saß im Zwielicht. Sie räucherte das Fleisch eines Megaloceros, das sie vor ein paar Tagen von der Beute eines Löwen abgestaubt hatten.

»Mesni, Mesni!« Millo lief zu seiner Mutter und klammerte sich an ihren Beinen fest. »Wir fahren aufs Meer! Kommst du mit?«

Mesni umarmte ihren Sohn. »Heute nicht«, sagte sie lächelnd. »Heute muss ich das Fleisch zubereiten. Deine arme, arme Mutter. Tut sie dir denn nicht leid?«

»Nö«, sagte Millo kurz angebunden, drehte sich um und rannte aus der Hütte.

Mesni schnaufte, verzog in gespielter Empörung das Gesicht und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.

Der größte Teil des Megaloceros-Kadavers war in einer Grube deponiert, die man in den Permafrostboden gegraben hatte. Mesni schnitt das Fleisch mit einem Steinmesser in hauchdünne Scheiben und hängte es über einen Holzrahmen neben der Feuerstelle. Nach ein paar Tagen würden die Scheiben hervorragend konserviert sein; sie waren eine Eiweiß-Quelle, die sich über Monate hielt. Doch Jahna rümpfte die Nase beim Geruch des Fleisches. Erst vor einem Monat hatte der Frühling sie in die Lage versetzt, zu jagen und zu sammeln und Frischfleisch nach Hause zu bringen. Zuvor hatten sie einen langen Winter überstehen und von den trockenen Resten der letzten Jagdsaison leben müssen, und Jahna war des lederartigen, geschmacklosen Zeugs gründlich überdrüssig geworden.

Sie strich ihrer Mutter über den Rücken. »Keine Sorge. Ich bleibe bei dir und räuchere den ganzen Tag Fleisch, während Millo Schlitten fährt.«

»Ich bin sicher, dir würde das auch gefallen. Du hast deine Pflicht aber schon getan, indem du mir deine Hilfe angeboten hast. Hier.« Mesni gab Jahna ein in Leder eingepacktes Bündel Fleisch. »Nicht dass dein Vater die armen Knochenkopf-Jäger noch verhungern lässt. Du weißt, wie er ist. Und das würde ich ihm auch nicht anvertrauen.« Sie gab Jahna eine Handvoll Olachen.

Diese sardinenartigen Fische waren so fett, dass man sie senkrecht zu stellen und wie eine Kerze abbrennen konnte. Das ausgelassene Fett fand aber auch Verwendung als Sauce, Medizin und als Mückenschutz – oder aber man aß den Fisch am Stück, und er hielt für eine lange Zeit vor. Diese wertvollen Fische dienten als Notration.

Jahna nahm die Fische feierlich entgegen und steckte sie in eine Falte ihres Mantels. Das war eine große Verantwortung, die ihr aufgebürdet worden war, aber die Seele der Großmutter, die in ihrem Herzen wohnte, gab ihr die Zuversicht, diese Verantwortung zu tragen. Sie küsste ihre Mutter. »Ich werde mich darum kümmern, dass alle versorgt sind«, versprach sie.

»Ich weiß. Nun hilf ihnen bei den Vorbereitungen. Geh schon.«

Jahna ergriff ihre Lieblings-Harpune und folgte Millo aus der Hütte.

Die Jagdgesellschaft belud den Schlitten routiniert mit Netzen, Harpunen, Leinen, aus Rentierhäuten hergestellten Schlafsäcken und anderen Ausrüstungsgegenständen. Der schon zehn Jahre alte Schlitten war ein unförmiges Ding und bestand aus einem Holzrahmen, der auf langen Kufen aus Mammutstoßzähnen befestigt war. Die Verlaschungen und Leinen bestanden aus zäher Robbenhaut, und die Zügel, mit denen das Knochenkopf-›Gespann‹ gelenkt wurde, waren aus Mammutleder. Der Schlitten war nur bis zum Frühjahr und ab dem Spätherbst zu verwenden, wenn der Boden gefroren oder schneebedeckt war; in der Zwischenzeit war der Boden so weich, dass die Schlittenkufen darin einsanken. Aber in einer Welt, in der das Rad erst noch erfunden werden und das Pferd erst noch gezähmt werden musste, markierte dieser Schlitten aus Holz und Elfenbein den Höhepunkt der Transporttechnik.

Inzwischen war Rood ins Lager der Knochenköpfe gegangen und suchte nach Schleppern.

Das Lager war ein Slum am Rand des Menschendorfs. Die Hütten und Verschläge waren genauso gedrungen und unförmig wie die Knochenköpfe selbst, die wie große Kothaufen in der Tundra hockten. Die Erwachsenen und die grotesken Kinder lungerten überall herum. An Orten wie diesen, wo sie in der Alten Welt überlebt hatten, machten die Knochenköpfe ihre einfachen Werkzeuge und bauten ihre hässlichen Hütten, wie sie es schon seit einer halben Million Jahren getan hatten – seit der Zeit von Kieselstein und noch davor. Im Gegensatz zur kulturellen Explosion der Menschen hatten die Knochenköpfe über große Abschnitte von Raum und Zeit keine wesentliche Variation bewerkstelligt.

Rood wählte zwei kräftig wirkende Jungen aus, indem er sie mit dem Peitschenstiel antippte. Widerspruchslos folgten sie ihm und ließen sich vor den Schlitten spannen.

Und dann war der Schlitten beladen. Rood musste die Knochenköpfe nur leicht mit der Peitsche streicheln, damit sie sich ins Zeug legten. Sie mussten sich anfangs mächtig ins Zeug legen, um die Schlittenkufen aus der harten Erde zu reißen. Knochenköpfe waren kurzbeinig und untersetzt; ihre Statur war auf Kraftentfaltung ausgelegt, nicht auf Schnelligkeit. Doch bald zogen die beiden Jungen den Schlitten mit einer Geschwindigkeit, die etwas über Schritttempo lag. Die Jäger feuerten sie mit Rufen und Gebrüll an.

Zum unheimlichen Klang der Knochenflöten legte die Gruppe Kilometer um Kilometer in der Tundra zurück. Rood saß auf den Bündeln, mit denen der Schlitten beladen war und hielt die Lederpeitsche griffbereit, um den Knochenköpfen einen Hieb auf den Rücken zu versetzen. Millo saß mit wehendem Haar neben seinem Vater.

Der Schauplatz der Handlung war Nordfrankreich. Die Jagdgesellschaft, die in südwestlicher Richtung zur Atlantikküste reiste, würde in der Nähe des späteren Paris vorbeikommen. Aber die Baumgrenze – die Breite, bis zu der Bäume noch zu wachsen vermochten – verlief viele Kilometer südlich davon. Und nicht allzu weit im Norden lag die Grenze der Eiskappe. Manchmal hörte man den Wind vom Eis her heulen; ein Schwall Kaltluft, die vom Pol kam. Es war ein starker, unablässiger und erbarmungsloser Wind, der eine große Kältewüste am Fuß der Gletscher blankgescheuert hatte.

Das Land war ein blau-weißer Flickenteppich mit ersten grünen Farbtupfern. Die Schlittenkufen glitten zischend über Bäume: Zwergweiden und -birken, die sich vorm Wind duckten und an den Boden klammerten. Es war ein flaches Land mit einer dünnen lebenstragenden Humusschicht über einem tiefen Permafrostboden. Es war mit Seen gesprenkelt, von denen die meisten noch zugefroren waren und auf denen das blaue Eis schimmerte, das auch im Sommer nicht schmolz. Die Teiche, Seen und Marschen des Sommers waren eigentlich nicht mehr als vorübergehende Schmelzwasserbecken, die sich überm Permafrost sammelten.

Aber der Frühling nahte. Mancherorts spross schon das Gras, und Eichhörnchen huschten auf dem Erdboden umher und sammelten fleißig.

Die Tundra war ein erstaunlich produktiver Ort. Die Pflanzen umfassten viele Grassorten, Seggen, kleine Sträucher und Kräuterpflanzen wie Erbsen, Gänseblümchen und Butterblume. Die Pflanzen wuchsen schnell und reichlich, wo immer es ihnen möglich war. Und weil die kurzen Blütezeiten der Pflanzen sich nicht überschnitten, fanden die hier lebenden Tiere das ganze Jahr über ein üppiges Nahrungsangebot vor.

Diese komplexe, vielgestaltige Vegetation verhalf einer großen Population von Pflanzenfressern zu einem Auskommen. In Osteuropa und Asien gab es Flusspferde, Wildschafe und Ziegen, Rot-, Dam- und Schalenwild, Wildschweine, Esel, Wölfe, Hyänen und Schakale. Hier in Westeuropa lebten Nashörner, Bisons, Wildschweine, Schafe, Rinder, Pferde, Rentiere, Steinböcke, Rot- und Damwild, Antilopen, Moschusochsen und viele Fleischfresser, einschließlich Höhlenbären und Löwen, Hyänen, Polarfüchsen und Wölfen…

Und – wie Jahna im Süden in der schneebedeckten Ebene sah – Mammuts.

Es war eine große Herde, die gemächlich und ohne Eile marschierte: ein Wall aus Leibern, der sich von einem Horizont zum andern erstreckte. Sie aber waren keine echten Wanderer und hatten den Winter in geschützten Tälern im Süden verbracht, dem Sammelpunkt eines gewaltigen Auftriebs von Herden aus allen Himmelsrichtungen. Sie hatten ein dunkelbraunes Fell, und die Haarvorhänge an Rüsseln und Flanken bauschten sich und wehten auf dem Marsch und leuchteten golden im Licht der tiefstehenden Frühlingssonne. Sie sahen aus wie große fellüberzogene Felsen. Ab und zu hob ein Tier den Kopf, und dann blitzte ein Rüssel oder ein Stoßzahn auf und ein schmetternder Trompetenstoß ertönte. Die wollig-behaarten Mammuts hatten sich zu den erfolgreichsten aller alten Elefanten-Linien gemausert. Sie waren über den ganzen Tundragürtel verteilt, der den Pol des Planeten umspannte und bildeten eine riesige Herde, die zahlenmäßig alle anderen Rüsseltier-Spezies, die je existiert hatten, in den Schatten stellte.

In diesem weiten Land, wo so große Beute über freies Feld marschierte, fiel den Menschen das Jagen so leicht wie nie mehr in ihrer Geschichte. Doch es stand bereits eine Zeitenwende bevor; bald würde das Eis sich wieder zurückziehen. Und ob sie sich dessen bewusst wurden oder nicht, die Menschen hatten schon das Leben und das Land verändert, wie damals in Australien. Sie waren noch dünn gesät und schienen ein hartes Leben zu führen. Aber in gewisser Weise hatten sie ihren Zenit bereits erreicht.

Während sie unterwegs waren, machten die Jäger sich gegenseitig auf Landmarken aufmerksam – auf jede Klippe und jeden Höhenzug, auf jeden Fluss und jeden See. Alles wurde benannt, sogar Merkmale in großer Ferne, und man hörte jedem respektvoll zu, der sein Wissen mitteilte und bestätigte. In diesem lebensfeindlichen Land waren genaue Informationen Gold wert; wer das Land kannte, überlebte und wer es nicht kannte, kam um. Deshalb waren Experten viel wertvoller als Führer.

Sie erzählten sich auch Geschichten über Tiere, deren sie ansichtig geworden waren – wie sie lebten, was sie dachten, woran sie glaubten. Anthropomorphismus, die Übertragung von Personen und Charakteren auf Tiere, war ein mächtiges Werkzeug für einen Jäger. Ein Mammut oder ein Vogel dachten über die Nahrungssuche und Bewegung natürlich anders als ein Mensch, aber schon durch die bloße Vorstellung, dass sie doch so dachten wie Menschen, vermochte man das Verhalten der Tiere mit großer Präzision vorherzusagen.

Also redeten sie unterwegs ohne Unterlass.

In diesem Land war Jahna zu Hause, genauso wie Rood und seine Mutter Jahna vor ihm. Ihre Leute besaßen es – aber nicht als Eigentum, über das man verfügte; sie besaßen es, wie sie ihren Körper besaßen. Jahnas Vorfahren hatten immer schon hier gelebt, über die Generationen hinweg, seit sie aus dem Nebel der Zeit aufgetaucht waren, als sie, so sagte man, aus Feuer und Zauberei ins Leben gesprungen waren. Jahna vermochte sich nicht vorzustellen, woanders zu leben.

Exakt auf halber Strecke der Reiseroute machte die Gruppe halt.

Eine Schneeverwehung hatte sich im Schutz einer Sandsteinklippe aufgetürmt. Rood räumte den Schnee mit schnellen Bewegungen weg und grub eine große Scheibe Narwal-Haut aus, an der noch Fett haftete. Das Fleisch lag schon seit dem letzten Herbst hier, und ein großer Teil war von Füchsen, Möwen und Raben aufgefressen worden. Aber Rood schnitt mit einem scharfen Steinmesser Stücke ab, und bald hatte jeder etwas zu kauen. Das zähe, halbverfaulte Fleisch war eine Delikatesse. Es hatte sogar einen eigenen Namen und bedeutete in etwa so viel wie Fleisch-von-Toten. Es war als Notration hier deponiert worden, für den Fall, dass eine Reisegesellschaft in Not geriet.

Die beiden Knochenkopf-Jungen keuchten und hatten offensichtlich Schmerzen in den Hüften und Beinen. Sie durften sich für eine Weile ausruhen und wurden mit ein paar Fleischbrocken abgespeist.

Die Jäger kamen auf die Prophezeiungen des Schamanen zu sprechen. »Ich hatte einen Traum«, quäkte Klein Millo. »Ich träumte, ich wäre eine große Möwe. Ich träumte, ich fiele ins Meer. Es war kalt. Ein großer Fisch kam und fraß mich. Es war dunkel. Und dann… und dann…«

Die Jäger lauschten andächtig und nickten.

Träume waren wichtig. Jeden Tag standen die Leute vor der Entscheidung, welche Nahrung sie sammeln und welche Tiere sie jagen sollten und ob das Wetter mitspielte. Es war lebenswichtig, die richtige Entscheidung zu treffen; ein paar falsche Entscheidungen und die Familie wäre verhungert. Aber sie hatten spezifisches Wissen über das Land im Kopf, über die Jahreszeiten, die Pflanzen und das Verhalten der Tiere, das sie im Lauf eines Lebens erworben und aus der Erfahrung von Generationen gewonnen hatten. Zudem mussten sie täglich eine Unmenge von Daten erfassen, wie zum Beispiel über das Wetter und Tiermarken. All diese umfangreichen, ungesicherten und kurzlebigen Daten mussten verarbeitet werden und eine schnelle und unumstößliche Entscheidungsfindung unterstützen.

Das Denken der Jäger war infolgedessen eher intuitiv als systematisch und deduktiv. Träume, in denen das Unterbewusstsein die Möglichkeit hatte, alle verfügbaren Daten zu sortieren und auszuwerten, trugen wesentlich zu deren Verarbeitung bei. Und mit ihren Gesängen und Tänzen, Trancen und Ritualen waren die Schamanen die intensivsten Träumer von allen.

Die Übereinstimmung der Visionen und Weissagungen des Schamanen und der Träume von Rood und Millo motivierte die Jäger und stellte ihnen verlässliche Informationen bereit. Es zeigte, dass sie sich in tiefem Einklang und Harmonie mit dem Wesen der Welt befanden.

Trotzdem wirkte Rood besorgt, sagte Jahna sich. »Vater. Wieso machst du so ein Gesicht?«, fragte sie ihn, als er die Knochenköpfe kräftig trat.

Er schaute mit gerunzelter Stirn zu ihr herab. »Es ist dieser Traum von Millo. Das Wasser, die Kälte, die Dunkelheit.

Ja, es kann sein, dass er davon geträumt hat, auf dem Meer zu jagen und Fische zu fangen. Aber…« Er hob den Kopf und sog die Luft ein. »Millo hat eine bessere Nase als du und ich, Tochter. Vielleicht riecht er etwas, das uns entgeht. Aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen – lass uns gehen und zur See fahren.«

Er gab einem Knochenkopf-Jungen einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil, worauf der Schlitten sich wieder auf dem gefrorenen Boden in Bewegung setzte. Millo, der auf einem Haufen Schlafsäcke saß, quiekte vor Vergnügen.

Als sie die Küste erreichten, schirrte Rood die beiden Knochenköpfe aus und ließ sie auf dem gefrorenen Boden nach Nahrung suchen. Sie würden nicht die Kraft haben davonzulaufen und schon gar nicht die Cleverness, einen Fluchtversuch auch nur in Erwägung zu ziehen.

Das Meer war zugefroren.

Zu dieser Jahreszeit waren nur die Küstengewässer eisfrei. Aber das Eis war von Spalten durchzogen, von breiten Kanälen aus schwarzem Wasser, die von der Spitze einer Landzunge ausstrahlten. Die Jäger wussten, dass die Risse wegen der Form der Küste jedes Jahr an dieser Stelle entstanden – und genau deshalb waren sie hierher gekommen.

Freudig liefen die Jäger aufs zugefrorene Meer hinaus. Mit den Knochenharpunen in den behandschuhten Händen eilten Jahna und Millo den anderen voraus und hofften, als Erste bei den Robben zu sein.

Jahna wurde von kleinen Gebirgszügen umschlossen, von Hügeln aus Eis, die vier bis fünf Meter hoch aufragten. Schwaden aus Eiskristallen hingen in der Luft, und Möwen kreisten auf der Suche nach Fisch. Die Eisdecke stöhnte und knackte über der mächtigen Dünung, und die Luft wurde von lautem Kreischen durchdrungen. Aber das Eis war zerklüftet: Die Herbststürme und die Gezeiten um die Landzunge hatten Stapel aus großen, zerklüfteten Eisschollen aufgetürmt.

Rood und ein paar andere hatten sich am offenen Wasser versammelt und stießen aufgeregte Rufe aus. Ein Narwal war zum Luftholen aufgetaucht, und vielleicht würden die Jäger einen spektakulären Fang machen.

Millo lief wie eine Möwe kreischend durch das Labyrinth aus Eis. Jahna stolperte hinter ihm her. Sie gelangten an eine Stelle, wo das Wasser mit gräulichem frischem Eis überzogen war. Aber das Eis war von kreisrunden Löchern durchbrochen, die einen bis zwei Schritt durchmaßen.

Millo und Jahna gingen zu einem Loch und spähten hinein. Im kalten Wasser wimmelte es von Leben. Jahna vermochte das winzige Plankton zwar nicht zu sehen, mit dem das Wasser geschwängert war, aber sie sah die kleinen Fische und garnelenartigen Lebewesen, die sich von ihm ernährten. In diesen kalten, trockenen und windigen Zeiten wurde der Staub vom Land weit aufs Meer hinausgetragen und lagerte sich als Eisensalz ab; und durchs Eisen, das im Meer recht selten vorkam, erblühte das Leben.

Und dann packte Millo sie am Arm und deutete geradeaus. Etwas weiter draußen auf dem Meer, in der Nähe eines größeren, mit Matsch überzogenen Lochs, lagen Robben auf dem Eis. Sie waren schlaffe braune, total entspannte Fleischbrocken, in deren Pelz Frost glitzerte. Robben wurden immer von solchen Löchern angezogen, um Luft zu holen oder ein Sonnenbad zu nehmen.

Das war die Gelegenheit für Jahna.

Mit größter Vorsicht schlichen Jahna und Millo sich fast lautlos übers Eis an. Wenn eine Robbe den Kopf hob, erstarrten sie mitten in der Bewegung und duckten sich aufs Eis, bis die Robbe sich wieder entspannt hatte. Inzwischen war ein stöhnender Wind aufgekommen. Jahna kam das zupass. Sie interessierte sich im Moment nicht fürs Wetter; sie hatte nur Augen und Ohren für die Robben. Aber der Wind übertönte die knirschenden Schritte.

Sie waren fast dort, fast so nah, um die nächste Robbe zu berühren. Sie hoben die Harpunen.

Und dann heulte der Wind plötzlich wie ein verwundetes Tier.

Die Robben wurden aus der Dösigkeit gerissen. Sie richteten sich auf, bellten, ließen den Blick schweifen und glitten mit geschmeidiger Eleganz und Schnelligkeit ins Wasser. Millo heulte frustriert und warf trotzdem die Harpune; sie tauchte nutzlos ins Wasser und verschwand.

Doch Jahna hatte den Blick gen Himmel gerichtet. Eine vom Wind getriebene Schneewand senkte sich auf sie herab und färbte die Welt weiß.

Jahna nahm Millo an der Hand und zerrte ihn hinter einen schützenden Eisblock. Sie pressten sich gegen das Eis und zogen die Knie an die Brust. Der Wind kreischte durch Risse und Kanäle im Eis – so laut, dass sie ihre eigene Stimme nicht mehr hörte, so laut, dass sie keinen Gedanken mehr zu fassen vermochte.

Und dann kam der Schnee über sie.

Sie sah nur noch Weiß – kein Meer, keinen Horizont, keinen Himmel. Es war, als ob sie in einem Ei steckten, sagte sie sich, in einem geschlossenen Ei und von der Welt abgeschnitten.

Bald klebte der Schnee an ihren Pelzen und türmte sich an der Eiswand auf. Sie wusste um die Gefahr, wenn es hier an der Windseite zu einer Schneeverwehung kam, und sie versuchte die sich verdickenden Schichten spitzer weißer Kristalle abzuwischen.

Aber der Sturm wollte nicht nachlassen. Und mit jedem Herzschlag stieg die Gefahr, dass Rood und die anderen sich immer weiter entfernten.

Schließlich verlor Millo die Geduld. Er stieß sie weg und stand auf, aber der tosende Wind riss ihn fast von den Beinen. Sie zog ihn wieder herunter.

»Nein!«, schrie er durch den Wind und versuchte sich wieder loszureißen. »Wir werden sterben, wenn wir hier bleiben.«

»Wir werden sterben, wenn wir von hier weggehen«, schrie sie. »Schau den Schnee! Höre den Wind! Was meinst du – in welcher Richtung ist das Land?«

Er drehte sich etwas um und setzte das kleine runde Gesicht dem Schnee aus.

»Wir haben schon einen großen Fehler gemacht«, sagte sie. »Wir haben den Sturm nicht kommen sehen. Was sagt deine Seele dir, was wir tun sollen? Was sagt Millo, dein Urgroßvater…?« Sie wäre wahrscheinlich imstande gewesen, ihn zu überwältigen und zum Bleiben zu zwingen, aber das wäre falsch gewesen. Sie musste ihn überzeugen zu bleiben. Und wenn er dann immer noch gehen wollte – nun, dann hatte er es so gewollt.

Und dann blieb er doch. Mit auf den Wangen gefrorenen Tränen ließ er sich wieder aufs Eis fallen und schmiegte sich an seine Schwester. Sie hielt ihn, bis er sich ausgeweint hatte.

Sie achtete darauf, den lockeren Schnee abzuwischen. Als jedoch die Dunkelheit hereinbrach – als die weiße Blase sich grau färbte und dann schwarz, ohne dass der Sturm nachgelassen hätte –, wurde sie zunehmend müde, hungrig und durstig.

Schließlich wurde sie von der Müdigkeit übermannt. Nur für eine Weile, sagte sie sich; ich werde nur für eine Weile ausruhen und wieder aufwachen, bevor der Schnee zu dick wird… Sie träumte davon, geschaukelt zu werden, als ob sie ein Baby in den Armen ihres Vaters wäre.

Als sie aufwachte, spürte sie das Gewicht vom Kopf ihres Bruders im Schoß. Das Tosen des Sturms war verklungen. Sie waren im Dunkeln; es war hier warm – dunkel, warm und sicher. Sie schloss die Augen und legte sich zurück. Es würde sicher nichts schaden, noch ein wenig zu ruhen.

Plötzlich keuchte Millo, als ob er nach Luft schnappen würde. Sie erinnerte sich an seinen Traum, der davon gehandelt hatte, dass er im Dunkeln ins Meer gestürzt und ertrunken wäre. Vielleicht erlebte sie nun den gleichen Traum…

Dunkelheit.

In einem Anfall von Panik schob Jahna Millo weg. Sie streckte die Hand aus und spürte eine dicke Schicht aus lockerem Schnee über sich. Mühsam stand sie auf und schob den Kopf durch den Schnee…

Und schaute in gleißendes Licht. Ihr stockte der Atem angesichts der sauberen kalten Luft. Der Himmel war eine vollkommene tiefblaue Kuppel, unter der die Sonne ihre Bahn zog. Ihr Blick schweifte über eine völlig veränderte Landschaft aus kreuz und quer durcheinander liegenden, von blaugrauem Packeis eingeschlossenen Eisblöcken, die noch dazu mit Eis- und Schneeverwehungen übersät war. Sie stand bis zur Taille im Schnee und wusste, dass sie gerade noch rechtzeitig aufgewacht war; die Schneeverwehung hatte sie warm gehalten, aber auch beinahe erstickt.

Sie trug den Schnee ab, bis sie Millos Schultern spürte und zerrte ihn an die Luft. Bald blinzelte er ins Licht und rieb sich die Augen. Wo er gelegen hatte, war der Schnee von Urin gelb verfärbt. »Bist du in Ordnung?« Sie wischte ihm den Schnee aus dem Haar und dem Gesicht, zog ihm die Handschuhe aus und bewegte seine Finger. »Spürst du die Zehen?«

»Ich habe Durst«, sagte er kläglich.

»Ich weiß.«

»Ich will zu Rood. Ich will zu Mesni.«

»Ich weiß…« Jahna ärgerte sich über sich selbst. So was von unvorsichtig, einfach einzuschlafen. Und diese Nachlässigkeit hätte Jahna und Millo fast das Leben gekostet. »Gehen wir zur Landzunge zurück.«

»Gut.«

Sie zog ihre Handschuhe an und nahm ihn an der Hand. Dann gingen sie um den Eisblock herum, der ihnen Schutz geboten hatte und schlugen die Richtung ein, aus der sie tags zuvor gekommen waren. Da war aber keine Landzunge mehr. Sie vermochte das Land zwar auszumachen, aber es war eine flache, blank geschliffen wirkende Küste, die von einer jungfräulichen Neuschneedecke überzogen war.

»Wo ist Rood?«, fragte Millo stöhnend.

Im ersten Moment wollte Jahna nicht wahrhaben, was sie da sah. Der Frühlingssturm hatte die Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und sie kannte das Land auch nicht so gut wie ihr Vater. Dennoch erkannte sie, dass das nicht die Küste war, die sie vor dem Sturm verlassen hatte. Gib mir Kraft, Jahna, Mutter meines Vaters. »Ich glaube, das Packeis ist während des Sturms aufgebrochen. Wir sind übers Meer getrieben« – nun erinnerte sie sich auch wieder an diesen Traum vom sanften Schaukeln – »und hierher verschlagen worden.«

»Ich kenne diesen Ort nicht«, sagte Millo und deutete aufs Land.

»Wir müssen eine weite Strecke abgetrieben sein.«

»Na gut«, sagte Millo nüchtern, »dort müssen wir hin. Zurück zum Land. Stimmt’s, Jahna?«

»Ja. Dort müssen wir hin.«

»Dann komm.« Er nahm ihre Hand. »In diese Richtung. Pass auf, wo du hintrittst.«

Sie ließ sich von ihm führen.

Sie wanderten an der Küste entlang. Das schneebedeckte Land war still. Es regte sich kaum etwas außer hin und wieder ein Polarfuchs, eine Möwe oder eine Eule. Die Stille war unheimlich und zerrte an den Nerven.

Der Marsch durch den Schnee war beschwerlich, vor allem für Millo mit seinen kurzen Beinen. Selbst die Küste war tief verschneit. Sie hatten keine Ahnung, wo sie waren und wussten auch nicht, wie weit das driftende Eis sie entführt hatte. Sie wussten nicht einmal, ob sie überhaupt in die Richtung gingen, aus der sie gekommen waren – der Landzunge entgegen. Aber sie konnten noch von Glück sagen, wurde Jahna sich schaudernd bewusst, dass die Eisscholle sie nicht aufs offene Meer hinausgetragen hatte, wo sie unweigerlich erfroren wären.

Sie stießen auf einen Bach, der so schnell strömte, dass er trotz dieses für die Jahreszeit untypischen Sturms nicht zugefroren war. Sie bückten sich bis zum Ellbogen in den Schnee und tranken. Jahna war erleichtert. Wenn sie kein Frischwasser gefunden hätten, wären sie vielleicht gezwungen gewesen, Schnee zu essen. Das hätte wohl den Durst gelöscht, aber auch das Feuer, das in ihren Körpern brannte – und wenn das geschah, musste man sterben.

Wasser hatten sie also. Aber sie fanden keine Nahrung, rein gar nichts. Sie gingen weiter.

Sie hielten sich an die Küste, weil es ihnen zu riskant erschien, sich landeinwärts zu wenden. Dort lauerten viele Gefahren – nicht zuletzt Menschen.

Als Primaten mit einem für tropisches Klima ausgelegtem Körper, die die schnell aufeinander folgenden Extreme des Pleistozän zu überstehen versuchten, hatten die Menschen sich die uralten Merkmale zunutze gemacht, die sie von den sprachlosen Kreaturen der Wälder geerbt hatten: die Bande der Verwandtschaft und Zusammenarbeit.

Die über Eurasien und Afrika verstreuten Clans lebten fast vollständig isoliert voneinander. Und die Isolation ging auch sehr tief. Fünfzig Kilometer von Jahnas Geburtsort entfernt lebten Leute mit einer Sprache, die von der ihren sich stärker unterschied, als das Finnische sich vom Chinesischen unterscheiden würde. In der Zeit von Weit und auch noch in den Tagen von Kieselstein hatte eine transkontinentale Einheitlichkeit bestanden, doch nun gab es unter Umständen schon deutliche Unterschiede zwischen zwei benachbarten Flusstälern. Die Menschen waren zu Uneigennützigkeit imstande, dass sie Verwundung, Verstümmelung und sogar den Tod auf sich nahmen, um anderen zu helfen – und zugleich waren sie einer extremen Fremdenfeindlichkeit verhaftet, die schlimmstenfalls in einem vorsätzlichen und ›generalstabsmäßig‹ geplanten Genozid kulminierte. In einem rauen Land, wo Nahrung knapp war, hatte es aber schon einen Sinn, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft sich selbstlos unterstützten und andere abwehrten, die vielleicht knappe Ressourcen stehlen wollten. Sogar dem Genozid wohnte eine gewisse furchtbare Logik inne.

Falls die Kinder von Fremden entdeckt wurden, würden sie Jahna möglicherweise am Leben lassen – aber nur, um sie als Sexualobjekt zu gebrauchen. Dann konnte sie nur noch hoffen, schwanger zu werden und von einem der Männer als Partnerin auserwählt zu werden. Trotzdem würde sie immer nur eine niedere Stellung innehaben und niemals als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert werden. Millo hingegen würde man ohne Umstände töten, nachdem man vorher vielleicht noch ein wenig mit ihm gespielt hatte, so wie die Katze mit der Maus spielt. Sie wusste, dass das so war. Weil sie nämlich gesehen hatte, wie ihre eigenen Leute das praktizierten. Also ließen sie sich am besten nicht erwischen.

Während die Kinder weitermarschierten, nagte der Hunger an ihnen. Sie hatten keinen Proviant dabei, nicht einmal Olachen.

Sie überquerten einen niedrigen felsigen Höhenzug. Im Windschatten gedieh ein Fichtenhain. Die zwergwüchsigen Bäume waren nicht größer als Jahna – immerhin vermochten sie im Schutz der Felsen überhaupt zu wachsen.

Plötzlich packte Jahna Millo und warf ihn einfach auf den Boden. Dann steckten sie die Köpfe aus der Deckung.

Auf einem zugefrorenen Teich hinter der Erhebung lief eine Schar Schneehühner umher. Die Vögel pickten auf dem Eis und steckten die Schnäbel in Ritzen und Spalten. Sie hoben sich blütenweiß gegen das stählerne Blaugrau des Eises ab. Diese früh zurückkehrenden Zugvögel waren im Schnee unsichtbar, würden aber einen deutlichen Kontrast zu den Grün- und Brauntönen des Frühjahrs bieten.

»Komm«, sagte sie. Sie machten kehrt und rutschten den Abhang zum Fichtenwäldchen zurück.

Jahna wählte einen schönen, biegsamen jungen Baum aus. Dann holte sie eine Steinaxt aus der Tasche und fällte den Baum eine Handbreit überm Schnee. Dann hackte sie die Krone ab, sodass ein Stamm übrig blieb, der in etwa ihre Länge hatte. Mit Millos Hilfe machte sie eine Kerbe in den Stamm und trieb einen Keil hinein. Der Stamm ließ sich leicht spalten, und sie erhielt einen dünnen, federnden Streifen, den sie mit schnellen Bewegungen abschabte. Millo schälte inzwischen die restliche Rinde vom Stamm. Er zerriss sie in Fasern und flocht sie zu einer Schnur. Der Bogen, der zum Schluss dabei herauskam, war arg improvisiert. Nicht perfekt, sagte sie sich, aber er würde seinen Zweck erfüllen.

Dann spaltete sie eilig Pfeile von den Überresten des Stamms ab. Sie hatten natürlich kein Feuer, um die Pfeile zu härten und auch keine Federn, die als Stabilisatoren dienten. Also improvisierte sie und behalf sich mit Stücken der abgeschälten Rinde, die sie in Schlitze in den Pfeilen steckte.

Sie arbeiteten, so schnell sie konnten. Aber die Sonne stand schon ein beträchtliches Stück tiefer am Himmel, als sie fertig waren.

Sie steckte wieder Kopf und Schultern über die Erhebung und griff zum Bogen. Die Vögel waren noch immer da. Sie zielte und spannte den Bogen.

Der erste Pfeil ging so weit daneben, dass die Vögel es nicht einmal bemerkten. Der zweite erschreckte sie nur – die Vögel stoben empört kreischend und mit flatternden, leuchtenden Schwingen auf. Dann verschoss sie den letzten Pfeil – ein bewegliches Ziel war viel schwerer zu erfassen –, und ein Vogel geriet ins Trudeln und fiel vom Himmel.

Jubelnd kletterten Bruder und Schwester über die Anhöhe und rannten auf den zugefrorenen Teich zu. Der Vogel lag mit gespreizten Flügeln und blutverschmiertem Gefieder auf dem Eis. Jedoch waren die Kinder nicht so leichtsinnig, um blindlings aufs Eis zu laufen. Millo fand einen langen Ast. Dann legten sie sich bäuchlings auf den festen Boden am Ufer des Teichs und zogen den Vogel mit dem Ast an Land.

Im Tod schaute der Vogel hässlich und plump aus. Doch Jahna umfasste den kleinen Kopf mit den Händen. Dann nahm sie etwas Schnee, ließ ihn auf der Hand schmelzen und träufelte dem Vogel das Wasser in den offenen Schnabel: eine letzte Tränkung. »Danke«, sagte sie. Es war wichtig, diesen Respekt Tieren und Pflanzen gleichermaßen zu erweisen. Die Welt gab einem reichlich, aber nur solang man sie nicht rücksichtslos ausbeutete.

Als die kleine Zeremonie beendet war, rupfte Jahna den Vogel schnell, schlitzte ihm den Bauch auf und nahm ihn aus. Die Haut faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. Mit den Federn, die das Schneehuhn ihr gegeben hatte, würde sie morgen bessere Pfeile anfertigen.

Sie aßen das rohe Fleisch, wobei das Blut an den Wangen hinab lief und den Schnee rot sprenkelte. Es war ein Moment des Triumphs. Jedoch währte Jahnas Befriedigung wegen der Beute nicht lang. Die Abenddämmerung setzte ein, und es wurde kälter.

Ohne eine Schutzbehausung würden sie sterben.

Jahna hängte sich den Bogen über den Rücken, steckte sich das restliche Geflügelfleisch in den Mund und führte Millo ein Stück landeinwärts. Bald kamen sie zu einer offenen, schneebedeckten Wiese. In der Mitte reichte der Schnee ihr fast bis zu den Knien.

Das sollte genügen.

Sie formte Blöcke aus dem Schnee. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn sie hatte keine Hilfsmittel außer den Händen und Steinklingen, und die weichen oberen Schichten des Schnees brachen immer wieder ein. Weiter unten war der Schnee aber verdichtet und hart genug.

Dann stapelte sie die Blöcke in einem engen Kreis um sich herum auf. Millo schloss sich ihr widerwillig an. Bald zogen sie eine kreisrunde Wand um eine immer tiefere Grube hoch. Sorgfältig zogen sie die Kreise immer enger, bis sie schließlich eine Kuppel errichtet hatten. Dann schlug Jahna einen Zugangstunnel in die Wand, und Millo glättete die Innen- und Außenwand der Kuppel.

Das Schneehaus war eine behelfsmäßige Notunterkunft, aber es würde seinen Zweck erfüllen.

Die Dunkelheit brach nun schnell herein, und es ertönte bereits das erste Wolfsgeheul. Eilig verschanzten sie sich in ihrem Schneehaus.

Wir sind hier sicherer als vorige Nacht, sagte Jahna sich, als sie sich aneinanderkuschelten, um sich gegenseitig zu wärmen. Morgen müssen wir aber auf Nahrungssuche gehen.

Und wir müssen ein Feuer bauen.

II

Die Jäger kehrten vom Meer zurück. Sie verteilten sich auf ihre Familien und lieferten die Nahrung ab, die sie mitgebracht hatten. Es fanden jedoch keine Danksagungen statt. Diese Leute hatten nämlich keine Worte für bitte und danke, weil es bei diesen Jägern und Sammlern nämlich keine sozialen Ungleichheiten gab, die solche Nettigkeiten erfordert hätten. Die Nahrung wurde einfach je nach Bedürftigkeit verteilt.

Jahna und Millo waren das vorherrschende Thema.

Mesni, die Mutter von Millo und Jahna, rang sichtlich um Beherrschung. Sie ging den täglichen Verrichtungen nach, versorgte ihr Kind, nahm Fisch aus und bereitete die anderen Meeresfrüchte zu, die Rood mit nach Hause gebracht hatte. Manchmal legte sie jedoch das Messer oder die Schüssel weg, gab sich der Verzweiflung hin und weinte.

Der Kummer brachte sie noch um den Verstand – diesen Eindruck hatte Rood jedenfalls. Die Leute hielten sich ihren Gleichmut und Selbstbeherrschung zugute. Zorn oder Verzweiflung offen zu zeigen war die Verhaltensweise eines kleinen Kindes, das es nicht besser wusste.

Und was Rood selbst betraf, so zog er sich in sein Schneckenhaus zurück. Er streifte im Dorf und im Umland umher und versuchte, seine Scham und Trauer mit unbewegter Miene zu kaschieren. Es gab nichts, was er für Mesni zu tun vermochte. Er wusste, dass sie sich mit dem Verlust abfinden und wieder zu innerer Ruhe und Selbstbeherrschung zurückfinden musste.

Aber es war tatsächlich ein schwerer Verlust für die Gemeinschaft. Sie waren nicht sehr viele. Dieses kleine Dorf bestand im Wesentlichen aus ungefähr zwanzig Leuten, die sich auf drei große Familien verteilten. Sie waren Teil eines größeren Clans, der sich in jedem Frühling an einem Flussufer im Süden versammelte und ein großes Fest mit Tauschhandel, Partnertausch und Geschichtenerzählen veranstaltete. Obwohl sie von weit her kamen, fanden sich doch nie mehr als etwa tausend Leute zu den Versammlungen ein: Die Tundra erlaubte keine höhere Bevölkerungsdichte.

In späteren Zeiten würden Archäologen Artefakte finden, die Leute wie Rood hinterlassen hatten und sich fragen, ob es sich dabei unter anderem auch um Fruchtbarkeitssymbole handelte. Das traf allerdings nicht zu. Fruchtbarkeit war nie ein Problem für Roods Leute. Ganz im Gegenteil: Sie mussten sogar Geburtenkontrolle betreiben. Die Leute wussten nämlich, dass sie die Tragfähigkeit des Landes, von dem sie lebten, nicht überstrapazieren durften und dass sie für den Fall einer Naturkatastrophe beweglich bleiben mussten.

Also achteten sie darauf, nicht zu viele Kinder in die Welt zu setzen. Geburten fanden im Abstand von drei bis vier Jahren statt, und um diese Abstände einzuhalten, gab es eine Reihe von Maßnahmen. Mesni hatte Jahna und Millo bis ins fortgeschrittene Kindesalter gestillt, um ihre Fruchtbarkeit zu unterdrücken. Schlichte Abstinenz oder Petting erfüllten denselben Zweck. Und wie immer ereilte der Tod die ganz Kleinen. Krankheiten, Unfälle und Raubtiere rafften zuverlässig einen großen Teil der Schwachen dahin.

Und falls erforderlich – obwohl Rood dankbar war, dass ihm das bisher erspart geblieben war –, falls ein gesundes Kind auf die Welt kam, für das wirklich kein Platz war, vermochte man dem Tod zur Hand zu gehen.

Solang sie eine bestimmte Anzahl nicht überschritten, waren Roods Leute selbst hier am Rand der bewohnbaren Welt gut versorgt, hatten viel Spaß und erfreuten sich dank der nicht hierarchischen, auf gegenseitigem Respekt beruhenden Gesellschaft eines kerngesunden Körpers und Geists. Rood lebte in einem schlammigen, halb gefrorenen Paradies – auch wenn dafür ein Preis zu zahlen war in Form unzähliger junger Leben, die unterm Deckmantel der kalten Dunkelheit ausgelöscht wurden.

Millo und Jahna waren von dieser grausamen Selektion aber verschont geblieben.

Sie waren zu einem Zeitpunkt auf die Welt gekommen, als ihre Eltern sie sich hatten ›leisten‹ können. Sie hatten die Risiken der frühen Kindheit überstanden und hatten sich zu gesunden und intelligenten Kindern entwickelt. Jahna hatte sich der Menarche genähert, sodass Rood schon mit seinem ersten Enkelkind gerechnet hatte. Und nun hatte er diese ganze Investition in Kraft und Liebe wegen eines abartigen Frühlingssturms und seiner unverzeihlichen Nachlässigkeit verloren.

In Gedanken versunken hatte Rood die Siedlung verlassen und näherte sich dem Slum der Knochenköpfe.

Die Knochenköpfe schauten beim Vorbeigehen trübe zu ihm auf. Ein paar kauten auf Stücken von Narwal-Haut herum. Eine Kuh hatte sich ein dürres Kind an die schlaffe Brust gelegt; sie wandte sich furchtsam von ihm ab. Die Knochenköpfe hatten keinen Platz in diesem Land, das den Menschen gehörte. Und die Knochenköpfe wären verhungert, wenn die Leute nicht so großzügig – und verschwenderisch gewesen wären. Die Knochenköpfe waren weder Tier noch Mensch und verdienten nicht den geringsten Respekt. Die Knochenköpfe hatten ja nicht einmal Namen.

Aber sie waren nützlich.

Er stieß auf eine Kuh, die jünger war als die anderen. Das war nämlich die Kuh, die Jahna nicht lang vor der katastrophalen Expedition zum Meer gequält hatte.

Sie blickte trübe zu ihm auf; ihr absurd platter Schädel war mit Dreck verschmiert. Er wusste, dass die da im gleichen Alter war wie Jahna, aber sie war schon reifer als seine Tochter. Sie saß in eine lose Tierhaut gehüllt im Schmutz und spielte mit einem abgenutzten, zerbrochenen Anhänger. Die Knochenköpfe schienen immerhin so viel im Kopf zu haben, um von den Artefakten der Leute fasziniert zu sein, aber wiederum zu wenig, um selbst welche zu fertigen: Für eine Perle aus Mammut-Elfenbein oder eine aus Knochen geschnitzte Harpune vermochte man von einem Knochenkopf alles zu bekommen.

Aus einem Impuls heraus, den er sich selbst nicht recht zu erklären vermochte, bückte Rood sich und riss der Kuh die Tierhaut vom Leib. Von diesem schrägen Gesicht und dem abgeplatteten Kopf einmal abgesehen war ihr Körper gar nicht so übel, sagte er sich; die grobschlächtige Statur der Erwachsenen musste sie erst noch ausbilden.

Er spürte, dass er eine Erektion bekam.

Er kniete sich hin, packte die Kuh an den Knöcheln und warf sie auf den Rücken. Sie machte bereitwillig die Beine breit; es war offensichtlich nicht das erste Mal, dass sie auf diese Art und Weise benutzt wurde. Er befingerte ihren warmen Körper und stellte fest, dass ihre Vagina und der After schmutzverkrustet waren. Er säuberte sie mit den Fingern.

Und dann drang er mit einem heftigen Stoß in sie ein. Für einen kurzen berauschenden Moment vermochte er den schrecklichen Moment zu vergessen, als der Sturm losbrach und er sich bewusst wurde, dass er Jahna und Millo auf dem Eis verloren hatte.

Aber es war schnell vorbei. Als er sich von dem Mädchen löste, überkam ihn Ekel, bei dem sich ihm fast der Magen umdrehte. Mit einem Zipfel seines Umhangs säuberte er sich.

Das nackte Mädchen hob in stummem Flehen die Hände.

Um den Hals trug er einen Anhänger, den Zahn eines Höhlenbären. Er zerriss die Schnur aus Hirschleder, an der er hing und warf ihn in den Schmutz. Das Knochenkopf-Mädchen ergriff den Anhänger und hielt ihn sich vors Gesicht, wo sie ihn unablässig drehte und seine endlosen Mysterien zu durchdringen versuchte. Blut rann ihr über die Schenkel.

Jahna und Millo folgten weiter der Küste und hofften noch immer, auf die Landzunge zu treffen, wo sie ihren Vater und seine Gefährten zuletzt gesehen hatten. Für die Nacht bauten sie Schneehäuser, falls es denn Schnee gab, oder schliefen unter hastig errichteten Schutzdächern. Jahnas Bogen und Millos schnelle Reflexe verhalfen ihnen zu Nahrung in Form kleiner Tiere und Vögel.

Sie vermochten sich mit Nahrung zu versorgen und sogar Unterkünfte zu errichten. Jedoch hatte Millo schon eine qualvolle Nacht verbracht, nachdem er leichtsinnigerweise einen Fisch gegessen hatte, der nicht richtig ausgenommen worden war. Das Schlimmste war aber, dass es ihnen bisher noch in keiner Nacht gelungen war, ein Feuer zu entzünden, so sehr sie auch Stöcke aneinander rieben und Steine gegeneinander schlugen. Und das bekamen sie zu spüren. Vom rohen Fleisch bekam Jahna Zahn- und Bauchschmerzen, und in stockdunkler Nacht glaubte sie, dass sie es nie mehr warm haben würde.

Die Kinder gingen weiter, denn sie hatten keine andere Wahl. Aber sie verloren Gewicht, wurden jeden Tag müder und die Kleidung verschliss mit jedem Tag. Jahna wusste, dass sie langsam starben. Obwohl sie von den Geistern der Ahnen in sich geleitet wurden, wussten sie noch nicht genug, um auf sich gestellt zu überleben.

Sie gelangten an einen Ort, wo die Baumgrenze einen Schlenker nach Norden machte, sodass sie ein Waldstück durchqueren mussten. Die Bäume, Kiefern und Fichten, standen weit auseinander und waren zudem recht kümmerlich: Die Stämme wirkten dünn und zerbrechlich. Der Pfad, dem die Kinder folgten, war ein von Hirschen oder Ziegen geschaffener, mit weichem Moos überzogener Wildwechsel. Er schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und verlief gelegentlich durch offenes Gelände.

Als am Ende eines neuen tristen Tages wieder einmal die Sonne unterging, warfen die Bäume lange Schatten, und das Unterholz färbte sich schwarz. Jahna und Millo waren fünf Millionen Jahre von Capo, ihrem letzten im Wald lebenden Vorfahren entfernt, und für sie war der Wald ein Hort voller Ungeheuer und Dämonen. Sie eilten ängstlich weiter.

Schließlich kamen sie aus dem Wald heraus und betraten ein verschneites Grasland, wo die gelbe Grasnarbe an der zerklüfteten Abbruchkante einer Klippe endete. Dahinter rauschte das Meer, und in der Ferne stöhnte und knackte das Packeis – insofern nichts Neues.

Nur dass die Kinder auf eine Wand aus Fleisch und Geweihen schauten. Es war eine Herde Megaloceros, die man später als ›Irische Elche‹ bezeichnen würde. Die massigen Tiere streiften umher und knabberten an den Grastrieben, die vorwitzig aus den verstreuten Schneefeldern lugten.

Im Pulk war ein großes Männchen. Über seine lange Nase visierte es die Kinder an. Es hatte einen fleischigen Buckel, einen Fetthöcker, der ihm über harte Zeiten hinweghelfen sollte; zum Frühlingsanfang war der Buckel jedoch schlaff. Und das Geweih, dessen Schaufeln doppelt so lang waren wie ein Mensch groß, war eine große, schwere Skulptur, die irgendwie wie die offenen Hände eines Riesen anmutete und in fingerartigen Zinken auslief.

Allein diese Herde, die die Kinder nicht zu überschauen vermochten, bestand aus ein paar tausend Tieren. Wie so viele große Pflanzenfresser in dieser paradoxerweise reichen Zeit lebte der Megaloceros in riesigen Herden und wanderte durch die Alte Welt, vom heutigen Großbritannien bis nach Sibirien und China. Und diese gewaltige Herde wälzte sich nun auf Jahna und Millo zu, als eine langsam vorrückende Barriere aus klappernden Schaufeln und rumorenden Mägen. Die Luft war vom bestialischen Gestank nach Moschus und Kot förmlich geschwängert.

Die Kinder mussten unbedingt von hier verschwinden. Jahna erkannte auf den ersten Blick, dass sie die Herde nicht landeinwärts zu umgehen vermochten; dazu war sie von der Anzahl und Ausdehnung zu groß. Die Tiere würden sicher nicht weit in den Wald eindringen, aber dadurch würden die Kinder trotzdem wieder in diese unheimliche Finsternis zurückweichen müssen, der sie sich nun wirklich nicht mehr aussetzen wollte.

Aus einem Impuls heraus fasste sie ihren Bruder an der Hand. »Komm zur Klippe!«

Sie rannten über das gefrorene Gras. Die Klippe fiel hinter einer Kante aus Erdreich steil ab. Eilig stiegen die Kinder ab. Der Bogen auf Jahnas Rücken verhakte sich in Felsvorsprüngen und verlangsamte den Abstieg. Aber sie schafften es dennoch. Sie kauerten sich auf einem schmalen Sims zusammen und schauten zur schwarzbraunen Flut hoch, die träge an der Kante der Klippe entlang wogte.

Das riesige Männchen schaute dumm. Dann wandte es sich mit gesenktem Kopf ab.

Die Schaufeln waren eine schwere Bürde und mit einer Hantel zu vergleichen, die man auf Armlänge hält. Der Hals des Männchen war deshalb mit mächtigen Wirbeln und Muskeln wie Kabelsträngen verstärkt worden, um diese Last zu tragen. Die Schaufeln waren ein sexuelles Signal und eine Waffe; es war ein eindrucksvolles Bild, wenn zwei dieser riesigen Männchen mit gesenkten Köpfen zusammenstießen. Dennoch gruben die Tiere sich mit diesen Schaufeln quasi ihr eigenes Grab. Wenn das Eis sich zurückzog und ihr Lebensraum schrumpfte, würde ein Selektionsdruck hin zu kleineren Körpern erfolgen. Während andere Spezies durch Schrumpfung sich anpassten, sollten die Megaloceros sich als unfähig erweisen, dem sexuellen Imponiergehabe zu entsagen. Sie hatten sich überspezialisiert, trugen zu schwer am mächtigen Geweih und waren letztlich nicht mehr imstande, auf Veränderungen zu reagieren.

Die Kinder hörten ein gedämpftes Knurren. Jahna glaubte eine fahle kleine, gedrungene Gestalt zu sehen, die sich wie ein muskulöser Geist durch den Schnee bewegte und dem Wild folgte. Es war vielleicht ein Höhlenlöwe gewesen. Sie schauderte.

»Was nun?«, flüsterte Millo. »Hier können wir nicht bleiben.«

»Nein.« Jahna schaute sich um und sah, dass ihr Sims an der Klippe zu einer Höhle hinunterführte, die ein paar Mannhöhen tiefer lag. »Diese Richtung«, sagte sie. »Ich glaube, das ist eine Höhle.«

Er nickte knapp. Dann ging er vor ihr den schmalen Sims entlang, wobei er sich an der Kalksteinwand festhielt. Aber sie wurde sich bewusst, dass er größere Angst hatte, als er sich eingestehen wollte.

Schließlich hatten sie den riskanten Abstieg bewältigt, betraten die Höhle und warfen sich keuchend auf den Boden. Die in den Kalkstein führende Höhle verlor sich in der Dunkelheit. Der Boden war mit Guano und Eierschalen übersät. Er musste als Nistplatz dienen, vielleicht für Möwen. Und der Boden war mit schwarzen Stellen übersät – keine richtigen Feuerstellen, aber offensichtlich Brandherde.

»Schau«, sagte Millo staunend. »Muscheln.«

Er hatte Recht. Die kleinen Schalentiere waren zu einem niedrigen Haufen gestapelt und von Feuersteinsplittern umgeben. In einem Anflug von Neugier fragte sie sich, wie sie wohl hierher gekommen waren. Aber der Hunger verdrängte diese Frage, und die beiden machten sich über die Muscheln her. Sie versuchten die Schalen mit Fingern und Steinklingen aufzubrechen, aber die harten Dinger sperrten sich und ließen sich nicht knacken.

»Graah.«

Die beiden wirbelten herum.

Die heisere Stimme war aus der Dunkelheit im hinteren Bereich der Höhle gedrungen. Eine Gestalt kam ans Licht. Es war ein kräftiger Mann, in einen Umhang aus Hirschleder gehüllt… nein, sagte Jahna sich, kein Mann. Er hatte eine große, vorspringende Nase, stämmige Beine und große Hände. Das war ein Knochenkopf, ein ausgewachsenes Männchen. Er schaute sie finster an.

Die Kinder wichen zurück und klammerten sich aneinander.

Er hatte keinen Namen. Sein Volk gab sich keine Namen. Aber er betrachtete sich selbst als den Alten Mann. Und er war mit vierzig Jahren wirklich alt, alt jedenfalls für seine Art.

Er hatte seit dreißig Jahren allein gelebt.

Er hatte gerade im rückwärtigen Bereich seiner Höhle im anheimelnden Schein der blakenden Fackeln, die er dort abbrannte, ein Nickerchen gemacht. Den Vormittag hatte er damit zugebracht, den Strand unterhalb der Höhle bei Ebbe nach Schalentieren abzusuchen. Am frühen Abend wäre er sowieso aufgewacht, denn der Abend war seine bevorzugte Tageszeit.

Aber er war vom Lärm und der Unruhe am Eingang zur Höhle gestört worden. In der Annahme, dass Möwen – oder etwas noch Schlimmeres wie beispielsweise ein Polarfuchs – sich über seine Muschelvorräte hermachen wollten, war er aufgestanden, um nachzuschauen.

Aber es waren weder Möwen noch Füchse, sondern zwei Kinder. Ihre Körper waren groß und spindeldürr, die Gliedmaßen schwindsüchtig und die Schultern schmal. Die Gesichter waren platt, als ob sie durch einen wuchtigen Schlag eingedrückt worden wären, das Kinn war spitz und die Köpfe wölbten sich zu komischen Schwellungen auf wie große Pilze.

Dürre Leute. Immer die Dürren. Er verspürte eine große Müdigkeit und einen Anflug der Einsamkeit, die ihn einst in jedem wachen Moment geplagt und seine Träume vergiftet hatte.

Fast ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, ging er auf die Kinder zu. Die Hände hatte er ausgestreckt. Er hätte ihnen die Schädel mit einer schnellen Bewegung zerquetschen oder sie wie zwei Vogeleier aneinander schlagen können, und das wäre es dann gewesen. Auf dem steinigen Strand unterhalb der Höhle lagen die Knochen von mehr als einem dürren Räuber, und es würden auch noch ein paar dazukommen, ehe er zu alt wurde, diese seine letzte Bastion zu verteidigen.

Die Kinder fassten sich quiekend an der Hand und liefen zur Wand der Höhle. Aber das größere Kind, ein Mädchen, schob das andere hinter sich. Es hatte eine Heidenangst, das sah er, aber es versuchte den Bruder trotzdem zu beschützen. Und es behielt die Nerven. Der Junge machte sich vor Angst nass, aber das Mädchen hatte sich unter Kontrolle. Es griff in den Mantel und zog etwas hervor, das an einer Schnur um den Hals baumelte. »Knochenkopf Knochenkopf-Mann! Lass uns in Ruhe und ich gebe dir das. Schöner, schöner Zauber, Knochenkopf-Mann.«

Die tief in den Höhlen liegenden Augen des Alten Mannes funkelten.

Der Anhänger war ein Stück Quarz in Form eines kleinen glitzernden, transparenten Obelisken; die Seiten waren so glatt geschliffen, dass sie funkelten, und eine Seite war mit einem filigranen Relief verziert, das den Betrachter bannte und ihm die Sinne verwirrte. Das Mädchen schwenkte das Amulett hin und her, als ob es ihn hypnotisieren wollte, und kam auf ihn zu. »Knochenkopf-Mann, schön, schön…« Der Alte Mann schaute in blaue Augen, die seinen Blick in der Manier der Dürren unbehaglich direkt erwiderten: Es war der Blick eines Raubtiers.

Er streckte die Hand aus und schlug gegen das Amulett. Es wickelte sich um den Hals des Mädchens und flog gegen die Wand hinter ihr. Es stieß einen Schrei aus, weil die lederne Schnur in den Hals eingeschnitten hatte. Der Alte Mann holte wieder aus. Im nächsten Moment konnte es schon vorbei sein.

Aber die Kinder plapperten schon wieder in dieser schnellen, komplizierten Sprache. »Mach, dass er weggeht! Bitte, mach, dass er weggeht!« – »Schon gut, Millo. Hab keine Angst. Dein Urgroßvater ist in dir. Er wird dir helfen…«

Der Alte Mann nahm die Hände herunter und ließ sie an der Seite herabbaumeln.

Er schaute auf die Muscheln, die sie zu öffnen versucht hatten. Die Schalen waren verschrammt und angesplittert – eine hatte auch Zahnspuren –, aber keine einzige war aufgebrochen. Diese Kinder waren hilflos, sogar hilfloser als die meisten ihrer Art. Sie vermochten ihm nicht einmal die Muscheln zu stehlen.

Es war lang her, seit zuletzt irgendwelche Stimmen in dieser Höhle erklungen waren, außer seiner eigenen und dem hässlichen Kreischen von Möwen und dem Bellen von Füchsen.

Ohne genau zu wissen, wieso er das tat, ging er in den hinteren Abschnitt der Höhle zurück. Hier lagerte er das Fleisch, die Werkzeuge und einen Holzvorrat. Er kam mit einem Arm voll Kiefernscheite zurück, die er aus dem Wald oberhalb der Klippe geholt hatte und ließ sie am Eingang der Höhle fallen. Dann holte er eine Fackel, einen Kiefernast, der dick mit Harz verschmiert und mit eingefetteter Robbenhaut umwickelt war. Die Fackel brannte stetig, wenn sie auch stark qualmte und spendete Licht. Er rammte die Fackel in den Boden und türmte Holz darüber auf.

Die Kinder hatten sich noch immer an die Wand gekauert und starrten ihn mit großen Augen an. Der Junge zeigte auf den Boden. »Schau. Wo ist denn seine Feuerstelle? Er macht vielleicht eine Unordnung…« Das Mädchen presste ihm die Hand auf den Mund.

Als das Feuer richtig brannte, trat er es auseinander, sodass die darunter liegenden rot glühenden Scheite zum Vorschein kamen. Dann nahm er eine Handvoll Muscheln und warf sie ins Feuer. Die Muschelschalen platzten schnell auf. Er fischte sie mit einem Stock heraus und pulte den leckeren salzigen Inhalt der Reihe nach mit dem Finger heraus.

Der Junge zappelte herum und bekam den Mund frei. »Ich rieche sie. Ich habe Hunger.«

»Sei still, sei einfach nur still.«

Als der Alte Mann sich satt gegessen hatte, hob er eine Hinterbacke, ließ kräftig einen fahren und stand mühsam auf. Dann schlich er zum Höhleneingang und setzte sich wieder hin; ein Bein winkelte er unter sich an, das andere streckte er aus, sodass die Beine und der Unterleib vom ledernen Umhang abgedeckt wurden. Er hob einen Feuerstein auf, den er vor Tagen hier liegengelassen hatte. Mit einem Granit-Brocken als Hammer-Stein schlug er zügig einen Kern aus dem Feuerstein. Bald waren die Beine von Splittern gesäumt. Er hatte heute Delphine gesehen, und die Chancen standen gut, dass in den nächsten Tagen eins dieser dicken geschmeidigen Wesen an den Strand gespült würde. Darauf musste er vorbereitet sein und die richtigen Werkzeuge bereithalten. Jedoch plante er nicht im eigentlichen Sinn – er dachte nämlich nicht so, wie ein Dürrer vielleicht gedacht hätte –, doch dafür wurden seine Handlungen und Entscheidungen von einem tiefen Verständnis der Umwelt bestimmt.

Während er die Hände arbeiten und diesen Klumpen aus komprimierten Kreidezeit-Fossilien formen ließ, wie die Hände seiner Vorfahren seit zweihundertfünfzigtausend Jahren gearbeitet hatten, schaute er nach Westen, wo die Sonne über dem Atlantik unterging und das Wasser in Brand setzte.

Hinter ihm krochen Jahna und Millo unbemerkt zum Feuer, warfen Muscheln hinein und verschlangen das salzige Fleisch.

Die Tage vergingen, und der Frühling brachte Tauwetter. Das Eis auf den Seen wurde gebrochen. Wasserfälle, die im Winter im freien Fall erstarrt waren, wurden entfesselt. Selbst das zugefrorene Meer taute wieder auf.

Es wurde Zeit für die Zusammenkunft. Das war ein Höhepunkt des Jahres, auf den alle sich freuten, auch wenn sie dafür einen mehrtägigen Marsch über die Tundra auf sich nehmen mussten.

Aber nicht alle konnten daran teilnehmen: Die kleinen Kinder, die Alten und Kranken vermochten die Reise nicht zu unternehmen, und es musste auch jemand dableiben, der sich um sie kümmerte. Dieses Jahr waren Rood und Mesni zum ersten Mal seit vielen Jahren von der Bürde der Kinder befreit – außer der Jüngsten, die aber noch so klein war, dass sie sie zu tragen vermochten – und waren somit in der Lage, die Reise anzutreten.

Rood wäre es natürlich lieber gewesen, wenn er seine Kinder noch gehabt hätte, auch wenn er dann hätte zu Hause bleiben müssen. Aber er glaubte, dass sie das Beste aus ihrem Leben machen mussten und drängte Mesni, mit ihm zur Zusammenkunft zu gehen. Mesni wollte aber daheim bleiben. Sie wandte sich von ihm ab und zog sich wieder in ihre tiefe Trauer zurück. Also beschloss Rood, mit Olith zu gehen – Mesnis Schwester, der Tante seiner Kinder. Olith hatte selbst schon einen erwachsenen Sohn, aber ihr Mann war vor zwei Wintern an einer Hustenkrankheit gestorben, sodass Olith zur Witwe geworden war.

Die Reisegesellschaft trat den Marsch über die Tundra an.

In diesem Zwischenspiel aus Wärme und Licht wimmelte der Boden unter den Füßen nur so von Leben: Da wuchsen Steinbrech, Tundrablumen, Gräser und Flechten. Wolken von Insekten hingen in der feuchten Luft über den Teichen und paarten sich eifrig. Große Schwärme von Gänsen, Enten und Watvögeln suchten in den seichten Tundra-Seen nach Nahrung und lagerten dort. Olith fasste Rood am Arm und deutete auf Stockenten, Schwäne, Schneegänse, Haubentaucher, Basstölpel und Kraniche, die majestätisch einher schritten und die Luft mit einer Kakophonie erfüllten. An diesem Ort, wo die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, bauten die meisten Vögel ihre Nester auf dem Boden. Als sie dem Nest einer Raubmöwe zu nahe kamen, stürzten zwei Vögel mit schrillen Schreien sich auf sie. Und obwohl die meisten Pflanzenfresser erst noch aus dem Süden zurückkehren mussten, erblickten die Leute schon Herden von Hirschen und Mammuts, die wie die Schatten von Wolken durch die Landschaft zogen.

Aber es war schon seltsam, sagte Rood sich, dass er an jeder beliebigen Stelle nur ein paar Armlängen tief unter diesem Flickenteppich aus Farbe und Bewegung hätte graben müssen, um wieder auf Eis zu stoßen, den gefrorenen Boden, in dem es kein Leben gab.

»Es ist schon so lange her, dass ich diesen Weg gegangen bin«, sagte Rood, »dass ich gar nicht mehr weiß, was es hier alles zu sehen gibt.«

Olith drückte seinen Arm und ging auf Tuchfühlung. »Ich weiß, wie du dich fühlen musst.«

»Dass jeder Grashalm, jeder sich wiegende Steinbrech eine Qual ist, eine Schönheit, die ich nicht verdient habe.« Entfernt nahm er den Geruch des Pflanzenöls wahr, das sie sich ins kurze Haar rieb. Sie war nicht wie ihre Schwester Mesni; Olith war größer und sehniger, hatte aber volle Brüste.

»Die Kinder sind noch da«, erinnerte Olith ihn. »Ihre Seelen werden in den nächsten Kindern weiterleben, die ihr bekommt. Sie waren noch zu jung, um selbst Weisheit zu sammeln. Aber sie trugen die Seelen ihrer Großeltern in sich, und sie werden…«

»Ich habe nicht mehr bei Mesni gelegen«, sagte er, »seit wir Jahna und Millo zuletzt gesehen haben. Mesni hat sich – verändert.«

»Das ist eine lange Zeit«, murmelte Olith sichtlich erstaunt.

Rood zuckte die Achseln. »Nicht lang genug für Mesni. Vielleicht wird es nie mehr passieren.« Er schaute Olith in die Augen. »Ich werde keine Kinder mehr mit Mesni haben. Ich glaube nicht, dass sie noch welche will.«

Olith schaute weg und senkte den Kopf. Das war eine Geste des Mitgefühls und zugleich der Verführung, wie er sich verblüfft bewusst wurde.

In dieser Nacht, in der Kälte der offenen Tundra, unter einem aus Kiefernästen errichteten Wetterschutz, vereinigten sie sich. Wie damals, als er die Knochenkopf-Kuh genommen hatte, wurde Rood von den Schuldgefühlen und den ständigen nagenden Zweifeln entlastet. Olith bedeutete ihm natürlich viel mehr als jedes Knochenkopf-Weib. Als Olith danach in seinen Armen lag, spürte er jedoch, wie das Eis sein Herz wieder einschloss, als ob er mitten im Frühjahr noch im tiefsten Winter gestrandet wäre.

Nach einer viertägigen Wanderung erreichten Rood und Olith das Flussufer.

Es hatten sich bereits Hunderte von Leuten versammelt. Man hatte Hütten am Ufer errichtet, Pyramiden aus Speeren und Bögen gebaut und sogar schon ein großes Megaloceros-Männchen erlegt. Die Leute hatten sich mit farbenfrohen Mustern aus Ocker und Pflanzenfarben bemalt. Die Muster hatten gemeinsame Elemente, die die Einheit des Clans unterstrichen und durch Variantenreichtum und Phantasie zugleich von der Identität und Kraft der verschiedenen Gruppen kündeten.

Ungefähr fünfhundert Leute würden sich wahrscheinlich zu dieser Zusammenkunft einfinden – nicht dass jemand sie gezählt hätte. Das würde etwa die Hälfte aller Leute auf dem Planeten ausmachen, die eine Sprache sprachen, die der von Rood auch nur entfernt ähnelte.

Die Gruppe aus der Heimat, die Rood und Olith begleitet hatte, schwärmte aus. Viele suchten nach einem Partner: vielleicht nur für eine Frühlings-Romanze, vielleicht aber auch mit der Perspektive für eine langfristige Beziehung. Diese ein paar Tage dauernde Zusammenkunft war die einzige Gelegenheit, jemand anderen kennen zu lernen oder sich zu vergewissern, ob das dürre Kind, an das man sich noch vom letzten Jahr erinnerte, schon in der Art und Weise erblüht war, wie man sich das vorstellte.

Rood erspähte eine Frau namens Dela. Sie war rund und drall, lachte laut und war eine vorzügliche Großwildjägerin. In jüngeren Jahren war sie eine Schönheit gewesen, mit der Rood ein paar Mal beieinander gelegen hatte. Wie er sah, hatte sie – typisch – ein großes Zelt aus Tierhaut aufgeschlagen, die mit bunten, lebendigen Darstellungen laufender Tiere bemalt war.

Rood und Olith gingen am Ufer entlang. Dela begrüßte ihn mit einer Umarmung und einem herzhaften Klaps auf den Rücken, und dann servierte sie ihnen Rindentee und Obst. Dela musterte Olith, wobei sie sich offensichtlich fragte, was mit Mesni war; aber sie sagte nichts.

Ein großes Feuer loderte schon auf der offenen Fläche vorm Zelt, und jemand warf Fischtran hinein, sodass es laut knisterte und knackte. Es waren Delas Leute, die den Megaloceros mitgebracht hatten. Kräftige junge Frauen weideten den Kadaver aus, und die Luft war vom Geruch nach Blut und Kot erfüllt.

Rood und Olith setzen sich mit Dela an ein kleines Feuer. Dela fragte Rood, wie erfolgreich die diesjährige Jagd bisher gewesen sei, und er antwortete höflich. Sie sprachen darüber, wie die Jagdsaison sich dieses Jahr angelassen hatte, wie die Tiere sich verhielten, welche Schäden die Winterstürme angerichtet hatten, wie hoch die Fische sprangen und darüber, dass jemand eine Möglichkeit gefunden hatte, eine Bogensehne so zu behandeln, dass sie haltbarer wurde und dass jemand anders auf die Idee gekommen sei, Mammut-Elfenbein in Urin zu tränken, sodass man es gerade zu klopfen vermochte.

Die Versammlung diente dem Austausch von Informationen, Nahrungsmitteln, Bedarfsgütern und als Partnersuche. Die Redner schmückten Erfolge nicht aus und beschönigten auch keine Fehlschläge. Wenn sie etwas zu sagen hatten, taten sie das nach bestem Wissen und in allen Details und ließen auch Fragen anderer Gesprächsteilnehmer zu. Was zählte, war Genauigkeit, nicht Prahlerei. Für Leute, deren Überleben von Kultur und Wissen abhing, waren Informationen nicht mit Gold aufzuwiegen.

Schließlich kam Dela aber auf das Thema zu sprechen, das ihr sichtlich am Herzen lag.

»Und Mesni?«, fragte sie vorsichtig. »Ist sie zu Hause bei den Kindern geblieben? Jahna muss doch schon groß geworden sein.«

»Nein«, sagte Rood sanft und spürte, wie Olith seine Hand ergriff. Dela lauschte schweigend, als er in allen schmerzlichen Einzelheiten erzählte, wie er seine Kinder im Schneesturm verloren hatte.

Als er geendet hatte, nahm Dela mit abgewandtem Blick einen Schluck Tee. Rood hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie etwas wusste, aber nicht damit rausrückte.

Um das Schweigen zu brechen, erzählte Dela schließlich die Geschichte ihres Lands.

»Und dann fielen die beiden im Schnee verlorenen Brüder. Einer starb. Doch der andre stand wieder auf und trauerte um seinen Bruder. Und dann sah er einen Fuchs, wie er etwas unter einem Baumstamm vergrub. Das weiße Fell verschmolz fast mit dem Schnee. Der Fuchs ging fort. Aber der Bruder wusste, dass ein Fuchs zur Stelle zurückkehrt, wo er etwas vergraben hat. Also legte er eine Schlinge aus und wartete. Als der Fuchs zurückkam, fing der Bruder ihn. Doch bevor er ihn noch zu töten vermochte, sang der Fuchs ihm ein Lied. Es war ein Klagelied für den verlorenen Bruder und es ging so…«

Wie Jo’ons Traumzeit-Legenden waren diese Geschichten und Lieder eine Art ›phantastischer Realismus‹ mit einer spezifischen Handlung und einem wahren Kern. Es handelte sich um eine mündliche Überlieferung. Ohne eine Schrift zum Aufzeichnen realer Ereignisse musste man sich eben auf das Gedächtnis verlassen. Wenn Träume und die Tänze der Schamanen ein Mittel waren, um zahlreiche Informationen zur Unterstützung intuitiver Entscheidungsfindung zu integrieren, waren die Lieder und Geschichten eine Hilfe, um diese Informationen überhaupt erst zu speichern.

Erstaunlicherweise entwickelte die Geschichte, die Dela erzählte, eine Eigendynamik. Während die Geschichte von einem Zuhörer zum andern weitergegeben wurde, wurden die Elemente durch Verständnisfehler und Ausschmückungen ständig verändert. Die meisten Änderungen waren indes nur Details, vergleichbar mit dem so genannten DNA-Junk, scheinbar unnützen genetischen Codierungssequenzen. Der Gehalt der Geschichte – der Tenor, die Eckpunkte und die Pointe – blieb in der Regel stabil. Aber nicht immer: Manchmal wurde eine wesentliche Adaption vorgenommen, ob sie nun vom Sprecher beabsichtigt war oder nicht, und wenn das neue Element die Geschichte verbesserte, wurde es eben beibehalten. Die Geschichten, wie auch andere Aspekte der Kultur der Leute, nahmen eine eigene Entwicklung, die in den Arenen des weitläufigen Bewusstseins der neuen Leute sich vollzog.

Jedoch war Delas Geschichte weder ein reines Märchen noch eine Gedächtnisstütze. Mit ihrer Geschichte – indem sie die Entstehungsgeschichte ihres Lands darstellte und indem ihr Publikum sie durch Zuhören zur Kenntnis nahm – begründete sie eine Art Titel. Nur wenn man das Land gut genug kannte, um seine wahre Geschichte zu erzählen, vermochte man seine Rechte am Land geltend zu machen. Es gab hier keine schriftlichen Verträge, keine Urkunden und keine Gerichte; Delas Anspruch auf das Land wurde einzig und allein durch das Verhältnis von Erzähler und Zuhörer begründet und auf Zusammenkünften wie diesen bestätigt.

Plötzlich ertönten ein lautes Zischen und ein freudiges Gebrüll vorm Zelt. Die ersten Brocken des Megaloceros waren aufs Feuer geworfen worden. Bald war die Luft vom Mund wässrig machenden Aroma des Fleischs erfüllt. Das nächtliche Fest begann.

Die Leute aßen, tanzten und vergnügten sich. Und beim Ausklang des Fests kam zu Roods Überraschung Dela auf ihn zu.

»Hör mir zu, Rood. Ich bin deine Freundin. Wir haben auch schon einmal beieinander gelegen.«

»Eigentlich zweimal«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.

»Also zweimal. Was ich dir nun sage, sage ich aus Freundschaft und nicht, um dir Leid zuzufügen.«

Er runzelte die Stirn. »Was willst du mir denn sagen?«

Sie seufzte. »Es gibt da so eine Geschichte. Ich habe sie vor nicht einmal zwei Tagen hier gehört; eine Gruppe aus dem Süden hat sie erzählt. Sie sagen, dass in einem wertlosen Landstrich an der Küste ein Knochenkopf in einer Höhle bei den Klippen haust. Du verstehst? Und in dieser Höhle – so sagt man, so will ein Jäger gesehen haben – leben zwei Kinder.«

Er verstand nicht. »Knochenkopf-Junge?«

»Nein. Keine Knochenköpfe. Leute. Der Jäger war mit der Beute beschäftigt und hat es nur aus der Ferne beobachtet. Eins der Kinder, sagte der Jäger, sei ein Mädchen, etwa so groß.« Sie stellte es mit der Hand dar. »Und das andere…«

»Ein Junge«, sagte Rood atemlos. »Ein kleiner Junge.«

»Ich bitte dich um Entschuldigung, dass ich dir das erzählt habe«, sagte Dela.

Rood verstand. Dela glaubte, dass er über den Verlust hinweggekommen sei und dass sie nun wieder einen Funken Hoffnung im kalten Herzen entzündet hätte. »Morgen«, sagte er mit schwerer Stimme. »Morgen wirst du mich zu diesem Jäger bringen. Und dann…«

»Ja. Aber nicht jetzt.«

Später, mitten in der Nacht, legte Olith sich zu Rood, aber er war rastlos.

»Der Morgen ist bald da«, flüsterte sie. »Und dann wirst du aufbrechen.«

»Ja«, sagte er. »Olith, komm mit mir.«

Sie nickte nach kurzer Überlegung. Es wäre nicht ratsam für ihn gewesen, allein zu reisen. Sie hörte, dass er mit den Zähnen knirschte, berührte seinen Mund und spürte die verspannten Muskeln. »Was ist denn?«

»Wenn da wirklich ein Knochenkopf-Mann ist – wenn er ihnen etwas angetan hat…«

»Du machst dir unnötige Gedanken«, sagte sie sanft. »Du musst dich ausruhen. Schlaf jetzt.«

Doch Rood fand keinen Schlaf.

III

Der Knochenkopf kehrte zur Höhle zurück. Jahna sah, dass er eine Robbe dabeihatte, das ganze Tier – es war ein dickes, schweres Männchen, das er sich über die Schulter geworfen hatte. Obwohl sie schon ein paar Wochen in dieser Höhle unter dem Rand der Klippe war, erstaunte seine Kraft sie immer wieder.

Millo kam mit flatterndem Umhang im Knochenkopf-Stil angerannt. »Eine Robbe! Eine Robbe! Heute Abend werden wir gut essen!« Er umklammerte die baumstammartigen Beine des Knochenkopfs.

Genauso wie er die Beine seines Vaters umklammert hatte. Jahna verdrängte diesen unwillkommenen Gedanken; damit durfte sie sich nicht mehr belasten, denn sie musste stark sein.

Der Knochenkopf, der von der Anstrengung schwitzte, ein solches Gewicht vom Strand über den Sims der Klippe hier heraufzuschleppen, schaute auf den Jungen hinab. Dann stieß er ein paar gutturale Grunzlaute aus, ein Gestammel ohne irgendeine Bedeutung… oder zumindest glaubte Jahna, dass es nichts bedeutete. Manchmal fragte sie sich, ob er doch Worte sprach – Knochenkopf-Worte, welch seltsame Vorstellung –, die sie nur nicht verstand.

Sie trat vor und zeigte auf den hinteren Bereich der Höhle. »Leg die Robbe dorthin«, befahl sie. »Wir werden sie gleich zerlegen. Schau, ich habe schon ein Feuer gebaut.«

Das hatte sie wirklich. Schon vor Tagen hatte sie eine Grube für eine ordentliche Feuerstelle ausgehoben und die hässlichen Ascheflecken beseitigt, mit denen der Boden übersät war. Und dann hatte sie die Höhle erst einmal entrümpelt. Sie war in Ekel erregender Unordnung gewesen, in dem Nahrungsreste, Fetzen von Tierhäuten und Werkzeug mit allem möglichen Unrat vermengt waren. Nun schien die Höhle immerhin fast bewohnbar.

Das heißt für Leute. Sie fragte sich aber lieber nicht, was ›bewohnbar‹ für die mächtige Kreatur bedeutete, die sie sich als Knochenkopf vorstellte.

Im Moment machte der Knochenkopf einen unzufriedenen Eindruck. In diesem Zustand war er unberechenbar. Knurrend warf er die Robbe auf den Boden und stapfte verschwitzt, verschmutzt und mit meersalzverkrusteter Haut in den hinteren Abschnitt der Höhle, um ein Nickerchen zu machen.

Jahna und Millo nahmen derweil die Robbe aus. Sie war durch einen Speerstoß ins Herz getötet worden, der eine große hässliche Einstichstelle hinterlassen hatte. Jahna schauderte bei der Vorstellung, welcher Kampf diesem Todesstoß vorausgegangen sein musste. Mit den scharfen Steinklingen ging den Kindern das Ausnehmen und Zerlegen des großen Meeressäugers aber schnell von der Hand.

Der Knochenkopf wachte gewohnheitsmäßig rechtzeitig zum Essen auf. Die Kinder aßen das Fleisch gut durchgebraten. Der Knochenkopf aß es fast roh. Er holte sich ein großes Steak aus dem Feuer, ging damit zu seinem Lieblingsplatz am Eingang und zerriss das Fleisch mit den Zähnen. Dabei betrachtete er den Sonnenuntergang. Er aß viel Fleisch, ungefähr doppelt so viel wie beispielsweise Rood. Dafür arbeitete er aber auch sehr hart.

Es war eine eigentümlich häusliche Szene. Aber das ging schon so, seit Jahna und Millo vor ein paar Wochen hier reingeschneit waren. Irgendwie funktionierte es.

Es war den Alten Mann immer schwer angekommen, allein zu leben; seine Art war sehr gesellig. Und er litt auch nicht nur unter der Einsamkeit. Er hatte nämlich noch das alte ›Schubladen-Bewusstsein‹. Die meisten Vorgänge in seinem großen Schädel liefen unbewusst ab; es war, als ob seine Hände die Feuerstein-Werkzeuge fertigten und nicht er. Erst beim Zusammentreffen mit Leuten lebte er wirklich auf und erlangte das volle Bewusstsein; allein schien er sich in einem halb bewussten Traumzustand zu befinden. Für die Art des Alten Manns waren andere Leute wie Leuchtfeuer in der Landschaft. Ohne die Gesellschaft anderer Leute war die Welt öde, leblos und statisch.

Deshalb hatte er die dürren Kinder mit ihrem Geplapper und ihrer Wuseligkeit auch geduldet, deshalb hatte er sie auch ernährt und sogar gekleidet. Und deshalb würde er auch bald dem Tod ins Auge sehen.

»Millo. Schau«, flüsterte Jahna. Sie schaute sich um und vergewisserte sich, dass der Knochenkopf sie nicht sah. Dann scharrte sie im Schmutz und brachte eine Anzahl verkohlter Gebeine zum Vorschein.

Millo stockte der Atem. Er hob einen Schädel auf. Er hatte ein vorspringendes Gesicht und einen dicken Wulst über den leeren Augenhöhlen. Aber der Schädel war klein, kleiner noch als Millos Kopf; er musste einem Kind gehört haben. »Wo hast du das gefunden?«

»Im Boden«, flüsterte sie. »Vorn in der Höhle, als ich saubergemacht habe.«

Millo ließ den Schädel fallen, und er schlug klappernd auf die anderen Knochen. Der Knochenkopf schaute trübe herüber. »Das ist furchtbar«, flüsterte Millo. »Vielleicht hat er sie getötet. Der Knochenkopf. Vielleicht frisst er kleine Kinder.«

»Nein, du Dummerchen«, sagte Jahna. Als sie aber die Angst im Gesicht ihres Bruders sah, legte sie den Arm um ihn. »Er hat es wahrscheinlich erst in den Boden gelegt, als es schon tot war.«

Daraufhin bibberte Millo nur noch mehr. Aber sie hatte ihm doch keine Angst machen wollen. Sie schob den Schädel weg, sodass er ihn nicht mehr sah und erzählte ihm eine Geschichte, um ihn zu beruhigen.

»Hör mir mal zu. Vor langer, langer Zeit waren die Leute wie die Toten. Die Welt war dunkel, und sie hatten trübe Augen. Sie lebten in einem Lager, wie sie es heute noch tun, und sie taten die Dinge, die sie heute noch tun. Doch alles war dunkel und unwirklich, wie Schatten. Eines Tages kam ein junger Mann ins Lager. Er war zwar wie die Toten, aber er war neugierig – er war anders. Er ging gern Fischen und Jagen. Und er fuhr immer weiter aufs Meer hinaus als alle anderen. Die Leute fragten sich, wieso…«

Während sie die Geschichte mit sanfter Stimme erzählte, entspannte Millo sich, lehnte sich an sie und schlief just in dem Moment ein, als die Sonne im Meer versank. Sogar der große Knochenkopf döste, wie sie sah; er war an der Wand zusammengesunken und rülpste leise. Vielleicht hörte er ihr auch zu.

Ihre Geschichte war ein Schöpfungsmythos, eine Legende, die schon über zwanzigtausend Jahre alt war. Solche Legenden, wonach Jahnas Gruppe die Krone der Schöpfung sei, das ihre Lebensart die einzig wahre sei und dass alle anderen Untermenschen seien, lehrten die Leute, sich mit Leidenschaft um sich selbst, ihre Verwandten und ein paar hochgehaltene Ideale zu kümmern.

Und keine Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen, und schon gar nicht auf solche Nicht-Leute wie die Art des Alten Manns.

»… Eines Tages sahen sie, dass der junge Mann mit einem Seelöwen zusammen war. Er schwamm mit ihm im Meer. Und er vereinigte sich mit ihm. Empört zogen die Leute den jungen Mann aus dem Wasser und fingen den Seelöwen ein. Und als sie ihn schlachteten, fanden sie einen Fisch in seinem Bauch. Es war ein fetter Fisch.« Sie meinte eine Olache. »Der Fisch war vom jungen Mann gezeugt worden. Er war weder Mensch noch Fisch, sondern etwas anderes. Also warfen die Leute ihn aufs Feuer. Sein Kopf ging in Flammen auf und erstrahlte in einem Licht, das sie blendete. So stieg der Fisch-Junge in den Himmel auf. Der Himmel war natürlich dunkel. Dort suchte der Fisch-Junge nach dem Ort, wo das Licht sich versteckte. Er hoffte, das Licht zu überlisten, damit es auf die dunkle Welt herunterkam. Und dann…«

Und dann kam ihr Vater herein.

Der Alte Mann war ein Neandertaler.

Seine Art hatte in Europa, über die extremen Umschwünge der Eiszeiten hinweg, für eine Viertelmillion Jahre überlebt. Auf ihre Weise waren die robusten Leute überaus erfolgreich gewesen. Sie hatten sich hier am Rand der Welt unter sehr ungünstigen Umweltbedingungen einen Lebensraum geschaffen, wo das Klima nicht nur rau, sondern auch trügerisch war und jäh umzuschlagen vermochte und wo die Ressourcen von Fauna und Flora knapp waren und ständigen Schwankungen unterlagen.

Für eine lange Zeit hatten sie sich sogar gegen die Kinder der Mutter zu behaupten vermocht. In den Warmphasen drängten die neuen Menschen von Süden nach Europa herein. Mit den kräftigen Körpern, den großen, als ›Wärmetauscher‹ dienenden Nebenhöhlen und dem robusten Verdauungsapparat vermochten die Robusten der Kälte besser zu widerstehen als die Neuankömmlinge. Und mit ihrer bärenartigen Statur waren sie formidable Nahkämpfer und harte Gegner für die Menschen, bessere Technologie hin oder her. Und wenn dann die nächste Abkühlung einsetzte, zogen die Einwanderer sich wieder in den Süden zurück, und die robusten Leute nahmen ihr altes Land wieder in Besitz.

Dies war immer wieder geschehen. Im südlichen Europa und im Nahen Osten gab es Höhlen und andere Stätten, wo Schichten menschlichen Abfalls von Neandertaler-Müll überlagert wurden, auf die dann wieder eine menschliche Deponie folgte.

Und während der letzten Warmzeit waren die modernen Menschen wieder nach Europa und Asien eingesickert. Sie hatten sich kulturell und technologisch weiterentwickelt. Und diesmal hatten die Robusten auf verlorenem Posten gestanden. Schließlich waren sie in Asien ausgerottet und in ihre kalte Festung Europa zurückgedrängt worden.

Der Alte Mann war zehn Jahre alt gewesen, als die ersten dürren Jäger ins Lager seiner Leute gewankt waren.

Das Lager war am südlichen Ufer eines Flusses errichtet worden, der ein paar Kilometer landeinwärts vom Kliff verlief und günstig an Wanderrouten der Pflanzenfresser-Herden gelegen, die über die Landschaft wogten. Sie lebten hier nach alter Väter Sitte und warteten nur darauf, dass die Jahreszeiten ihnen die Herden auf dem Präsentierteller darboten. Das Flussufer war ein guter Platz gewesen.

Bis die Dürren kamen.

Es hatte keinen Krieg gegeben. Es hatte ein komplexer, blutiger und lang anhaltender Verdrängungswettbewerb stattgefunden.

Anfangs hatte es sogar noch eine Art Handel gegeben, wobei die Dürren Meeresfrüchte für Fleisch von den großen Tieren tauschten, die die Robusten mit ihren Stoßspeeren und der großen Körperkraft zu erlegen vermochten. Aber die Dürren schienen unersättlich. Und mit den eigentümlichen schlanken Speeren und den Holzstücken, die so weit flogen, erwiesen die Dürren sich als zu gute Jäger. Bald lernten die Tiere daraus und änderten ihre Gewohnheiten. Sie folgten nicht länger den alten Pfaden und versammelten sich auch nicht mehr an den Seen, Teichen und Flüssen, sodass die Robusten weit ausschwärmen mussten auf der Suche nach der Beute, die ihnen früher sozusagen an der Haustür vorbeigelaufen war.

In der Zwischenzeit hatte der Kontakt der Leute des Alten Mannes mit den Dürren sich zwangsläufig intensiviert.

Dürre und Robuste hatten gelegentlich Geschlechtsverkehr miteinander, freiwillig und unfreiwillig. Es hatte auch Kämpfe gegeben. Wenn man einen Dürren im Nahkampf stellte, vermochte man ihm oder ihr mühelos das Rückgrat zu brechen oder diesen großen Blasen-Schädel mit einem einzigen Schlag zu zerschmettern. Nur dass die Dürren sich auf keinen Nahkampf einließen. Sie kämpften aus der Distanz, mit hart geworfenen Speeren und fliegenden Pfeilen. Und die Robusten hatten dem nichts entgegenzusetzen: Obwohl sie nun schon viele zehntausend Jahre neben den Dürren lebten, hatten die Nachkommen von Kieselstein es nicht vermocht, auch nur ihre einfachsten Erfindungen zu kopieren. Zumal man die Dürren auch kaum sah, wenn sie um einen herumliefen und sich mit ihren vogelartigen Stimmen etwas zuzwitscherten. Sie waren wie huschende Schemen, als ob die Welt zu langsam, zu statisch für sie wäre. Und was man nicht sah, vermochte man auch nicht zu bekämpfen.

Schließlich war der Tag gekommen, als die Dürren den Entschluss gefasst hatten, sich den Ort anzueignen, wo die Leute des Alten Manns lebten – ihr Zuhause am Flussufer.

Es war eine leichte Übung für sie gewesen. Sie hatten die meisten Männer und ein paar Frauen getötet. Die Überlebenden jagten sie davon und überließen sie ihrem Schicksal. Als der Alte Mann von einer Einzelexpedition am Fluss entlang zurückkehrte, brannten die Dürren gerade die Hütten ab und räumten die Höhlen leer, die Stätten, wo die Gebeine der Vorfahren des Alten Mannes hundert Generationen tief begraben lagen.

Danach wanderten die Leute ziellos umher; sesshafte Geschöpfe, denen man ein Nomadendasein aufgezwungen hatte. Wenn sie sich woanders niederlassen wollten, machten die Dürren ihnen bald wieder einen Strich durch die Rechnung. Viele von ihnen verhungerten.

Schließlich hatten sie sich in die Lager der Dürren begeben müssen. Trotz allem lebten immer noch viele seiner Artgenossen, aber sie waren wie die Knochenköpfe, die Jahnas Lager folgten und wie Ratten vom Müll lebten – und auch nur, solang die Dürren sie duldeten. Ihr Schicksal war bereits besiegelt.

Alle außer dem Alten Mann. Der Alte Mann hatte sich von den Plätzen der Dürren ferngehalten. Er war nicht der Letzte seiner Art. Aber er war der Letzte, der wie seine Vorfahren vor der Ankunft der modernen Menschen lebte. Er war der Letzte, der frei lebte.

Als Mutter nur sechzigtausend Jahre vor Christi Geburt gestorben war, hatte es noch viele verschiedene Arten von Leuten auf der Welt gegeben. Einmal waren da Mutters menschenartige Leute in manchen Teilen von Afrika gewesen. In Europa und im westlichen Asien lebten robuste Leute wie Kieselstein und Neandertaler. Im östlichen Asien gab es noch immer Gruppen der dünnen, kleinköpfigen Läufer, den Homo erectus. Die alte Komplexität der Hominiden mit den vielen Varianten, Unterarten und sogar Mischformen der verschiedenen Arten hatte noch Bestand.

Mit der Revolution, die in Mutters Generation ausbrach und mit der darauf folgenden Expansion veränderte sich das alles. Es war kein Genozid und in keiner Weise geplant. Es war eine Sache der Ökologie. Die verschiedenen Formen von Menschen konkurrierten um dieselben Ressourcen. Über die ganze Welt lief eine Welle der Auslöschung hinweg – ein menschliches Artensterben –, eine Welle letzter Kontakte und Abschiede ohne Bedauern, als eine menschliche Spezies nach der andern im Orkus der Geschichte verschwand. Für eine Weile überlebten die Läufer noch in der Isolation der indonesischen Inselwelt und führten fast unverändert ein Leben, wie Weit es vor so langer Zeit getan hatte. Doch als der Meeresspiegel dann erneut sank, wurden die Brücken zum Festland wiederhergestellt, und die modernen Menschen kamen herüber – und für die Läufer war nach einer langen und statischen, ungefähr zwei Millionen Jahre umspannenden Geschichte das Spiel aus.

Diese Entwicklung war unvermeidlich. Und bald würde es gar keine Leute mehr auf der Welt geben – außer einer einzigen Art.

Nach dem Verlust seiner Familie war der Alte Mann von den Dürren nach Westen geflohen. Und hier, in dieser Höhle hatte der Alte Mann die Westküste Europas erreicht, die Gestade des Atlantiks. Der Ozean war eine unüberwindliche Barriere. Er konnte nicht weiter.

Jahnas Zusammentreffen mit dem Alten Mann war der allerletzte Kontakt.

Rood, dessen Silhouette sich gegen den Sonnenuntergang abzeichnete, war staubig und überhitzt. An seiner Seite war Olith, Jahnas Tante. Rood ließ den Blick durch die Höhle schweifen und machte große Augen.

Für Jahna war es, als ob sie schlagartig aus einem Albtraum erwachte. Sie ließ das Stück Tierhaut fallen, an dem sie gearbeitet hatte, rannte über einen Boden, der sie plötzlich verdreckt und ungepflegt anmutete und warf sich ihrem Vater in die Arme. Dann weinte sie wie ein Baby, während ihr Vater ihr linkisch den primitiven Knochenkopf-Umhang tätschelte, in dem sie steckte.

Der Knochenkopf regte sich. Die Schatten der beiden Erwachsenen, die von der sinkenden Sonne geworfen wurden, fielen als Streifen auf ihn. Er beschirmte die Augen mit der Hand. Dann knurrte er und versuchte verschlafen und mit vollem Bauch auf die Füße zu kommen.

Rood schob die Kinder zu Olith, die sie festhielt. Dann hob er einen Stein über den Schädel des schlaftrunkenen Knochenkopfs.

»Nein!«, rief Jahna. Sie riss sich von Olith los und fiel ihrem Vater in den Arm.

Rood schaute zu ihr herab. Und sie wusste, dass sie eine Wahl treffen musste.

Jahna dachte für einen Moment nach. Sie erinnerte sich an die Muscheln, die Robben und die Feuer, die sie gebaut hatte. Und sie schaute auf den hässlichen, unförmigen Brauenwulst des Knochenkopfs. Sie ließ den Arm ihres Vaters los.

Roods Arm sauste hinab. Es war ein fürchterlicher Schlag. Der Knochenkopf fiel nach vorn. Aber Knochenkopf-Schädel waren dick. Jahna hatte den Eindruck, dass der Alte Mann selbst jetzt noch in der Lage gewesen wäre, wieder aufzustehen und zu kämpfen. Aber das tat er nicht. Er verharrte auf Händen und Knien im Schmutz seiner Höhle.

Rood musste vier-, fünfmal zuschlagen, bis er ihm den Schädel zertrümmert hatte. Lang vor dem letzten Schlag hatte Jahna sich schon abgewandt.

Sie verbrachten die Nacht in der Höhle. Der ermordete Knochenkopf lag auf dem Boden. Unter dem zerschmetterten Schädel hatte sich eine Blutlache gebildet. Am Morgen packten sie das restliche Robbenfleisch ein und rüsteten sich für die Heimreise. Doch bevor sie gingen, bestand Jahna darauf, dass sie ein großes, flaches Loch im Boden aushoben. Dort legte sie die Knochen des Kinds hinein, die sie gefunden hatte und die Leiche des Knochenkopfs. Dann schaufelte sie das Loch mit den Händen zu und stampfte die Erde fest.

Als sie weg waren, kamen die Möwen. Sie pickten an Robbenfleischfetzen und der Lache aus getrocknetem Blut im Eingang der Höhle, von der aus man einen Blick aufs Meer hatte.

KAPITEL 14 Die ausschwärmenden Menschen Anatolien, Türkei, vor ca. 9600 Jahren

I

Sions silberhelles Lachen hallte über den leeren Platz. Ein Hund, der im Schatten der Männer-Hütte schlummerte, zog schläfrig ein Augenlid hoch, um nach der Ursache der Störung zu spähen, und ließ es wieder sinken.

Die Mädchen lagen auf dem staubigen, festgestampften Erdboden des Dorfes. Es wurde von der großen windschiefen Männer-Hütte beherrscht, einer wenig Vertrauen erweckenden Konstruktion aus Bohlen und Schilf. Die Hütten der Frauen umstanden diesen ›groben Klotz‹ als kleinere Satelliten. Ein lautes Schnarchen aus der Männer-Hütte sagte den Mädchen, dass der Schamane sich nach einer anstrengenden Nacht mit Bier und Visionen ausschlief. Nichts regte sich: weder die Hunde noch die Menschen. Die meisten Männer waren auf der Jagd, und die Frauen dösten mit den kleinen Kindern in ihren Hütten. Es liefen nicht einmal größere Kinder umher.

Sion verrieb noch etwas Fenchel auf dem Mais. Das aromatische Öl des Fenchels war eigentlich ein Schutz, den die Pflanze schon vor dem Tod der Dinosaurier entwickelt hatte; das Öl sollte die Blätter schmieren, damit lästige Insekten keinen Halt darauf fanden. Und nun würzte das Resultat dieses evolutionären Wettrüstens Sions Imbiss. »Du machst Witze«, sagte Sion. »Juna, ich liebe dich von ganzem Herzen. Aber du bist der oberflächlichste Mensch, den ich kenne. Seit wann interessiert du dich auch nur eine getrocknete Feige für Charakter…?«

Juna schoss brennende Röte ins Gesicht.

»Aha. Es gibt noch etwas, das du mir nicht sagen willst.« Sion musterte Junas Gesicht, wie ein erfahrener Jäger seine Beute taxierte. »Habt ihr beide etwa schon beieinander gelegen?«

»Nein«, blaffte Juna.

Sion war immer noch argwöhnisch. »Ich glaube nicht, dass Tori schon bei irgendjemandem lag. Außer bei Acta natürlich.« Acta war einer der ältesten Männer – zugleich auch der dickste –, aber er stellte nach wie vor seine Stärke als Jagdführer unter Beweis und sicherte sich somit seine Rechte an den Jungen und jungen Männern. »Ich weiß, dass Tori genug davon hat, dass Acta mit seinem stinkenden Schwanz in ihm herumstochert. Das hat Jaypee mir nämlich gesagt! Bald wird er mit einer Frau zusammen sein wollen. Aber jetzt noch nicht…«

Juna vermochte ihrer Schwester nicht in die Augen zu schauen, denn sie hatte bei Tori gelegen, wie Sion schon vermutet hatte. Es war in einem Gebüsch passiert, als Tori sich mit Bier betrunken hatte. Sie wusste nicht, weshalb sie ihn ranließ. Sie hatte nicht einmal gewusst, ob er es überhaupt richtig gemacht hatte. Am liebsten hätte sie ihrer Schwester alles erzählt, dass die Blutung aufgehört hatte und dass sie schon spürte, wie das neue Leben in ihr sich regte, aber das konnte sie nicht. Die Zeiten waren hart – die Zeiten waren eigentlich immer hart –, und es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von einem grünen Jungen ein Kind machen zu lassen. Sie hatte Tori auch noch nichts davon gesagt und nicht einmal ihrer Mutter, Pepule, die selbst ein Kind erwartete. »Sion, ich…«

Plötzlich spürte sie eine heiße und schwere Hand auf dem Arm und roch einen würzig riechenden Atem. »Hallo, Mädels. Habt ihr schon was vor?« Juna zuckte zurück und zog den Arm weg.

Das war Cahl, der Bier-Mann. Er war ein großer Mann und noch fetter als Acta, und er trug eine seltsam einengende Kleidung: eine knapp geschnittene Jacke und Hose, grobe Lederschuhe und einen Strohhut. Auf dem Rücken hatte er einen mit Bier gefüllten Lederbeutel, in dem es gluckerte, als er sich neben ihnen hinhockte. Er hatte ein pockennarbiges Gesicht, das wie der Erdboden nach einem starken Regen anmutete, und die Zähne waren hässliche braune Stümpfe. Und der Blick, mit dem er Juna angrinste, war von einer raubtierartigen Intensität.

Sion schaute ihn finster an. »Wieso gehst du nicht dorthin zurück, wo du hergekommen bist? Niemand will dich hier haben.«

Er runzelte flüchtig die Stirn und versuchte zu deuten, was sie gesagt hatte. Seine Sprache unterschied sich von ihrer. Es wurde gemutmaßt, dass Cahls Leute irgendwo aus dem fernen Osten gekommen waren und ihre eigentümliche Sprache mitgebracht hatten. »Ach«, sagte er schließlich, »viele Leute wollen mich hier haben. Manche sogar ganz besonders. Du würdest dich wundern, was die Leute mir als Gegenleistung dafür geben, was ich ihnen gebe.« Er setzte wieder diesen lüsternen Blick auf und bleckte braune, verfaulte Zähne. »Vielleicht sollten wir einmal darüber reden, du und ich«, sagte er zu Juna. »Vielleicht sollten wir herausfinden, was wir füreinander tun können.«

»Bleib mir vom Hals«, sagte Juna mit zitternder Stimme.

Doch Cahl starrte sie unverwandt an, wie die Schlange das Kaninchen.

Erleichtert hörte sie die Schritte der zurückkehrenden Männer, deren bloße Füße im Dreck knirschten. Die nackten Körper waren staubverkrustet, und sie waren sichtlich erschöpft. Juna sah, dass das Dutzend Männer außer ein paar Kaninchen und Ratten schon wieder mit leeren Händen nach Hause gekommen war; größere Tiere waren sehr selten.

Acta hatte Tori den feisten Arm um die Schultern gelegt. Juna wich dem Blick des schlanken Jungen aus und hätte doch zu gern gewusst, was er gerade dachte. Wie würde er wohl reagieren, wenn sie ihm erzählte, was bei ihren unbeholfenen Spielchen herausgekommen war?

Cahl wandte sich von den Mädchen ab, stand auf und hob den Lederbeutel mit Bier über den Kopf. »Willkommen, ihr Jäger!«

Acta ging zu ihm hin. Die Zunge hing dem Alten aus dem Mund, als ob der schwere Sack göttlichen Nektar enthielte. »Cahl, mein Freund. Ich hoffte, dass du hier wärst. Du bist ein besserer Schamane als der alte Narr in der Hütte.«

Sion stockte bei dieser schnoddrigen Blasphemie der Atem.

Cahl reichte ihm den Bierbeutel rüber. »Du siehst so aus, als ob du einen Schluck vertragen könntest.«

Acta schnappte sich den Beutel und drückte ihn an sich. Zugleich erschien ein Anflug der alten Verschlagenheit in den tief liegenden Schweinsäuglein. »Und die Bezahlung? Du siehst selbst, wie arm wir dran sind. Wir haben kaum genug Fleisch für uns. Aber…«

»Aber«, sagte Cahl gleichmütig, »ihr werdet mein Bier trotzdem nehmen. Stimmt’s?« Und er starrte Acta an, bis der den Blick senkte. Ein paar Männer raunten bei diesem Zeichen von Schwäche missbilligend. Doch was Cahl sagte, entsprach offensichtlich der Wahrheit. Er klopfte Acta leutselig auf die Schulter. »Wir können uns später darüber unterhalten. Ruh dich erstmal im Schatten aus. Und was mich betrifft…«

»Nimm sie«, nuschelte Acta, ohne den Blick vom Bier zu wenden. »Mach, was du willst.« Dann schlurfte er zur Hütte der Männer. Die anderen erfolglosen Jäger warfen das Fleisch vor die Hütten der Frauen und folgten Acta, um sich auch einen hinter den Knorpel zu gießen. Bald hörte Juna das Knurren des Schamanen, dessen Lebensgeister vom Biergeruch flugs wieder geweckt wurden.

Cahl kam zu den Mädchen zurück. Er schüttelte den Kopf. »Bei mir zu Hause würde man einen solchen Volltrottel rausschmeißen.«

Sion bekam eine Gänsehaut bei dieser neuerlichen Beleidigung. »Die Jungen leben bei den Männern in der Männer-Hütte. Sie ist ein Ort der Weisheit, wo die Jungen zu Männern werden. Und jeder Mann hat noch ein kleines Haus für seine Frau, Töchter und die kleinen Söhne. Das ist unsre Art zu leben. So haben wir immer schon gelebt.«

»Das ist vielleicht eure Art zu leben, aber nicht meine«, sagte Cahl unverblümt.

Diese Worte weckten irgendwie Junas Neugier.

Das Einzige, was sie über die neuen Leute wussten – außer dass sie begnadete Bierbrauer waren – war, dass ihrer sehr viele waren. Unter den Frauen ging das Gerücht, dass bei den Fremden kein Baby ausgesetzt wurde – kein einziges. Und deshalb gab es auch so viele, obwohl niemand wusste, wovon sie überhaupt lebten. Vielleicht streiften heute noch große Herden durch ihre Täler und Ebenen, wie sie es in längst vergangenen Zeiten getan hatten: in den Zeiten, von denen die Legenden kündeten.

»Wen?«, fragte Sion leise.

»Wen?«

»›Nimm sie‹, hat Acta gesagt. Wen?«

»Ach so, seine Frau«, sagte Cahl. »Pepule… Aha. Nun wird mir klar, wieso du dich so dafür interessierst. Acta ist nicht dein Vater, aber Pepule ist deine Mutter, nicht wahr?« Er grinste und schaute Juna mit diesem steinharten Blick an. »Das macht es noch reizvoller. Während ich es ihr besorge, werde ich an dich denken, Kleines.«

»Pepule trägt ein Kind in sich«, sagte Sion kalt.

»Ich weiß.« Er grinste. »So mag ich sie gerade. Geil, diese dicken Bäuche.« Wieder richtete er den harten, berechnenden Blick auf Juna. Dann nahm er eine Prise gemahlenen Korns aus ihrem Mörser und ging zur Hütte ihrer Mutter.

Unzufrieden und irgendwie verängstigt überließ Juna die Männer ihrem Trinkgelage und unternahm mit Sheb, ihrer Großmutter, einen Streifzug durch die Landschaft. Die fast sechzigjährige Sheb bewegte sich vorsichtig. In ihrem langen Leben war sie noch nie verletzt oder ernstlich krank gewesen und war noch sehr rüstig.

Die Leute lebten auf einem Hochplateau. Das Land war trocken, flach und eintönig. Die Vegetation war spärlich und bohrte die Wurzeln auf der Suche nach Wasser tief in den Boden. Es gab wohl Bäche und Flüsse, aber das waren bloße Rinnsale, die zwischen weit auseinander liegenden Ufern dahinplätscherten – ein schwacher Abglanz der Ströme, die hier einst durchgeflossen waren.

Die nackten Frauen, die nur mit einem Seil und kurzen Speeren mit Steinspitzen ausgerüstet waren, durchstreiften das Gelände und stellten und kontrollierten Fallen für die kleinen Tiere, von denen die Leute hauptsächlich lebten. Sie hätten gestaunt, wenn sie die mächtigen Herden der Pflanzenfresser gesehen hätten, denen Jahna und ihre Leute einst gefolgt waren, obwohl ihre Legenden von besseren Zeiten in der Vergangenheit kündeten.

»Wieso trinken die Männer eigentlich Bier?«, fragte Juna. »Das macht sie hässlich und dumm. Und sie müssen zu diesem schleimigen Cahl gehen. Wenn sie schon Bier trinken müssen, sollten sie wenigstens ihr eigenes brauen. Zwar wären sie dann noch genauso blöd. Aber wenigstens würde Cahl wegbleiben.«

Sheb seufzte. »So einfach ist das nicht. Wir können kein Bier brauen. Niemand weiß, wie das geht; nicht einmal der Schamane. Das ist ein Geheimnis, das Cahls Leute nicht preisgeben.«

»Wenn die Männer dumm sind, können sie nicht jagen. Sie denken immer nur an das Bier. Sie kennen nichts anderes mehr.«

Sheb schüttelte den Kopf. »Ich will mich nicht mit dir streiten, Kind. Mein Vater hat nie Bier getrunken – wir hatten damals nicht einmal von Bier gehört –, und er war ein guter Jäger… aber schau. Da ist ein Kaninchen in der Nähe.«

Juna untersuchte die Kaninchenlosung und drückte sie zwischen den Fingern, um zu prüfen, wie alt sie war. Die Sache mit Tori brannte ihr im Herzen und auf der Zunge.

Aber Sheb gab ein anderes Thema vor. »Ich weiß noch, als ich in deinem Alter war«, sagte sie. »Einmal regnete es, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hätte – tagelang. Der Boden verwandelte sich in Schlamm, in den wir alle bis zu den Knien einsanken. Und dieses Tal hier wurde mit Wasser gefüllt – nicht etwa das lehmige Rinnsal, das du nun siehst –, sondern bis hinauf zum Ufer. Siehst du die blank geschliffene Kante?« Und wirklich, als Juna genau hinschaute, erkannte sie, dass das Ufer weit über der heutigen Wasserlinie erodiert war.

Und wenn schon! Abwesend rieb Juna sich den Bauch. Die Geschichten ihrer Großmutter von heftigen Regenstürmen, einem in Schlamm verwandelten Land und dem Leben, das daraufhin erblüht war, waren die phantastischen Visionen des Schamanen. Ihr bedeuteten sie nichts. Was waren Regen und Flüsse schon im Vergleich zum wachsenden Klumpen in ihrem Innern?

Ihre Großmutter gab ihr eine Kopfnuss. Juna zuckte erschrocken zusammen. Sheb schaute grimmig, sodass ihr Gesicht tief zerfurcht wurde. »Es könnte nicht schaden, wenn du mir zuhörst, du dummes Kind. Ich erinnere mich daran, wie es war, als der letzte Regen fiel. Ich erinnere mich, wie wir uns umgestellt haben. Wie wir ins Hochland umgezogen sind. Wie wir den Fluss überquert haben. An alles. Vielleicht werde ich es nicht mehr erleben, wenn der nächste Regen fällt – aber vielleicht wirst du es erleben. Und dann wird dein Überleben davon abhängen, was ich dir heute erzähle…«

Juna wusste, dass sie Recht hatte. Alten Leuten wurde eine große Wertschätzung entgegengebracht: Juna hatte gesehen, dass, bevor Shebs Mutter gestorben war, Sheb ihr das Essen vorgekaut und in eine Schüssel gespien hatte. In dieser Gesellschaft ohne Schrifttum waren alte Leute ein Archiv der Weisheit und Erfahrung. Und nun bestand sie darauf, dass ihre Enkeltochter ihr zuhörte.

Nur dass Juna heute nicht gewillt war, ein braves Mädchen zu sein. Sie versuchte den Trotzkopf zu spielen, fügte sich aber schließlich doch unter Shebs bösem Blick. »Ach. Sheb…« Plötzlich brach sie in Tränen aus; sie legte den Kopf auf Shebs Schulter, und die Tränen benetzten den trockenen Boden.

»Na sag schon. Was gibt’s denn so Schlimmes?«

Sheb hörte sich ruhig an, was Juna zu sagen hatte. Dann stellte sie gezielte Fragen: Wer der Vater sei, ob er ihr sich genähert hätte oder umgekehrt und wieso sie gerade jetzt hatte schwanger werden wollen. Die Auskunft, dass es sich um jugendlichen Leichtsinn gehandelt habe, schien ihr gar nicht zu gefallen. Auf Junas verzweifelte Frage – »Sheb, was soll ich denn nur tun?« – antwortete sie nicht; zumindest nicht sofort.

Doch Juna glaubte, die Umrisse ihrer Zukunft in Shebs harten und traurigen Gesichtszügen zu erkennen.

Plötzlich drang ein schriller Schrei aus dem Dorf zu ihnen. Juna fasste ihre Großmutter am Arm und eilte mit ihr nach Hause.

Wie sich herausstellte, hatten bei Pepule, Junas Mutter und Shebs Tochter, vorzeitig die Wehen eingesetzt.

Als sie mit Sheb ins Lager kam, sah Juna, wie der Bier-Mann, Cahl, ostwärts zu seiner geheimnisvollen Heimat aufbrach. Er hatte einen Sack mit Gütern überm Arm und scherte sich nicht um die Schmerzensschreie der Frau, die er noch am Morgen bestiegen hatte. Juna schaute ihm in kalter Wut hinterher.

In Pepules Hütte hatten Sion und andere Hebammen sich versammelt. Juna eilte zu Pepule. Sie schaute ihre Tochter mit verquollenen, schmerzerfüllten Augen an und ergriff Junas Hand. Juna sah eine Quetschung in Form eines Handabdrucks auf der prallen Brust ihrer Mutter.

Wie in solchen Fällen üblich hatten die Frauen einen Holzrahmen aufgestellt, vor dem Pepule hockte und an dem sie sich festhielt. Andere befeuchteten den Boden unter Pepule, um ihn aufzuweichen und hoben daneben ein flaches Loch aus. Es roch nach Erbrochenem und Blut.

Juna hatte schon bei vielen Geburten zugeschaut und geholfen, doch wo sie nun selbst eine kleine Last in sich trug, teilte sie den Schmerz wie nie zuvor.

Wenigstens war es eine schnelle Geburt. Das Baby fiel einer von Pepules Schwestern förmlich in die Arme. Mit einem schnellen, routinierten Handgriff durchtrennte sie die Nabelschnur, band sie mit einem Sehnenstreifen ab und wischte das Fruchtwasser mit einem Stück Leder ab. Dann versammelten die älteren Frauen, einschließlich Sheb, sich ums Baby und unterzogen es einer gründlichen Musterung.

Juna verspürte eine plötzliche, unerwartete Aufwallung von Freude. »Es ist ein Junge«, sagte sie zu Pepule. »Er sieht kerngesund aus…«

Ihre Mutter schaute sie mit leerem Blick an und wandte sich dann ab. Juna vernahm ein Gemurmel von den Frauen, die das Baby begutachteten; eine von ihnen schaute Juna missbilligend an.

Nun sah Juna auch, was sie da machten. Sie hatten das Baby auf den Boden gelegt, wo es die ersten Atemzüge tat. Juna sah die blonden Haarsträhnen des Jungen, die durchs Fruchtwasser am Kopf klebten. Pepules Schwester nahm einen Stock und schob das Baby ins Loch, das die Frauen gegraben hatten – als ob sie ein Stück vergammeltes Fleisch von sich schöbe. Dann schickten die Frauen sich an, das Loch zuzuschütten. Die erste Erde fiel auf das verständnislose Gesicht des Babys.

»Nein!« Juna ging dazwischen.

Sheb packte sie mit erstaunlicher Kraft an den Schultern und schob sie zurück. »Es muss sein.«

Juna wand sich in ihrem Griff. »Aber er ist doch gesund.«

»Es«, sagte Sheb. »Nicht er. Nur Leute sind er, und dieses Baby ist noch keine Person und wird auch nie eine werden.«

»Aber Pepule…«

»Schau sie dir an. Schau, Juna. Sie macht sich nichts draus und ist auch nicht traurig. So ist das eben. Sie fühlt überhaupt nichts für das Baby, nicht in diesen ersten paar Herzschlägen, wenn die Entscheidung getroffen werden muss. Wenn es leben sollte, um ein er zu werden, dann würde das Band natürlich stark werden. Aber das Band besteht noch nicht, und nun wird es auch nicht mehr…«

Und so weiter.

Pepule hustete. Sie schien erschöpft – Juna sagte sich, dass Cahl noch vor ein paar Stunden bei ihrer Mutter gelegen hatte und fragte sich, welchen Dreck er ihr wohl vermacht hatte.

Und Sheb redete noch immer auf sie ein.

Schließlich senkte Juna den Kopf. »Aber das Baby ist doch gesund«, flüsterte sie. »Er ist doch gesund.«

Sheb seufzte. »Ach, Kind, begreifst du es denn nicht? Wir können es nicht ernähren, und wenn es noch so gesund ist. Dies ist nicht die Zeit für ein Kind, jedenfalls nicht für Pepule.«

»Und ich?«, flüsterte Juna und hob den Kopf. »Was wird aus mir und meinem Baby?«

Shebs Augen umwölkten sich.

Juna entzog sich ihrem Griff und rannte aus der Hütte mit ihrem Gestank nach Kot, Blut und vergeudeter Milch.

Die beiden Schwestern saßen tuschelnd in einer Ecke der kleinen Hütte, die sie schon als Kinder für sich gebaut hatten.

Juna hatte Sion alles erzählt.

»Ich muss gehen«, sagte sie. »Das ist alles. Ich wusste es in dem Moment, als sie das Baby in dieses Loch schoben. Pepule ist stark und erfahren, aber ich bin noch ein Kind. Und Acta steht ihr noch immer zur Seite, auch wenn er gern einen über den Durst trinkt. Und Tori weiß nicht einmal, dass mein Kind von ihm ist. Wenn ihr Baby schon in ein Loch geschoben wird, was werden sie dann erst mit meinem machen?«

Sion schüttelte in der staubigen Dunkelheit den Kopf. »So darfst du nicht reden. Sheb hatte Recht. Es war keine Person; nicht, solang es keinen Namen hatte.«

»Sie haben ihn getötet.«

»Nein. Sie konnten es nicht leben lassen. Wenn nämlich alle Babys leben dürften, gäbe es nicht mehr genug zu essen, und dann müssten wir alle sterben. Du weist, dass das wahr ist. Da kann man nichts machen.«

Das war eine uralte Weisheit, die ihnen seit der Geburt eingehämmert wurde: ein Nachhall der Jahrzehntausende menschlicher Subsistenzwirtschaft. Jo’on und Leda waren auch schon damit konfrontiert worden. Genauso wie Roods Leute. Das war der Preis, den man zahlte. Aber in jeder Generation gab es welche, für die dieser Preis zu hoch war.

»Das ist mir egal«, sagte Juna.

Sion ergriff die Hand ihrer Schwester. »Du kannst nicht gehen. Du musst hier gebären. Lass dir von den Frauen helfen. Und wenn sie beschließen, dass es nicht der rechte Zeitpunkt sei…«

»Aber ich bin nicht wie Pepule«, sagte Juna betrübt. »Es wird mir nicht gelingen, darauf zu verzichten. Das weiß ich jetzt schon.« Sie schaute ihrer Schwester ins Gesicht. »Stimmt vielleicht etwas nicht mit mir? Wieso bin ich nicht so stark wie unsere Mutter? Ich habe das Gefühl, dass ich mein Baby jetzt schon so sehr liebe, wie Pepule dich und mich je geliebt hat. Ich weiß, wenn sie es mir wegnehmen, dann könnte ich mich gleich auch ins Loch legen, weil ich ohne…«

»Sag doch nicht so was«, sagte Sion.

»Ich werde morgen früh gehen«, sagte Juna mit bemüht fester Stimme. »Ich werde einen Speer mitnehmen. Das ist alles, was ich brauche.«

»Wohin willst du überhaupt gehen? Du kannst doch nicht allein leben – und schon gar nicht mit einem Baby an der Brust. Und wo auch immer du hinkommst, werden die Leute dich mit Steinen vertreiben. Das weißt du. Wir würden das Gleiche tun.«

Einen Ort gibt es aber, sagte Juna sich, wo die Leute zumindest anders sind, wo sie ihre Babys – vielleicht – nicht ermorden und von wo die Leute mich vielleicht nicht vertreiben werden.

»Komm mit mir, Sion. Bitte.«

Sion, deren Tränen schon wieder trockneten, zog sich zurück. »Nein. Wenn du dich umbringen willst, dann… dann respektiere ich deine Entscheidung. Aber ich will nicht mit dir sterben.«

»Dann wäre also alles gesagt.«

Sie hatte nichts bei sich außer einem Speer und einer Speerschleuder und war mit einem einfachen Leibchen aus gegerbtem Ziegenleder bekleidet, sodass sie kaum Ballast hatte und trotz der ungewohnten Bürde im Bauch schnell vorankam.

Das Land war so trocken, dass Cahls Fußspuren noch gut erhalten waren. Hier und da stieß sie auch auf andere Spuren von ihm – halb eingetrocknete Urinpfützen, Kothaufen. Die Verfolgung von Bier-Männern schien eine leichte Übung zu sein.

Sogar weit außerhalb des Dorfes, außerhalb des Bereichs, in dem die Jäger normalerweise ausschwärmten, war das Land leer.

Nach Jahnas Zeit hatte das Eis sich wieder in arktische Breiten zurückgezogen. Die Wälder hatten sich nordwärts ausgebreitet und die alte Tundra begrünt. Und in der ganzen Alten Welt schwärmten die Leute aus den Refugien aus, in denen sie den großen Winter verbracht hatten, von Inseln relativer Wärme wie dem Balkan, der Ukraine und der Iberischen Halbinsel. Schnell füllten ihre Kinder die riesigen entvölkerten Ebenen Europas und Asiens.

Aber es war nicht mehr so wie beim letzten Mal, als die Eismassen sich zurückgezogen hatte.

In Australien hatte es nach Ejans Ankunft gerade einmal fünftausend Jahre gedauert, um die Megafauna zu vernichten – die Riesenkängurus, Reptilien und Vögel. Überall, wohin die Menschen nun gingen, hinterließen sie eine ähnliche Spur der Verwüstung.

In Nordamerika hatte es Bodenfaultiere mit der Größe von Rhinozerossen gegeben, Riesenkamele und Bisons mit spitzen Hörnern, deren Abstand von Spitze zu Spitze mehr als die Armspanne eines ausgewachsenen Manns betrug. Diese großen Tiere waren die Beute von muskulösen Jaguaren, Säbelzahntigern, Wölfen mit Zähnen, die Knochen zu knacken vermochten und den schrecklichen kleingesichtigen Bären. Die amerikanischen Prärien mochten wie die afrikanische Serengeti in späteren Zeiten angemutet haben.

Doch als die ersten Menschen von Asien nach Alaska einwanderten, implodierte dieses phantastische Ensemble. Sieben von zehn der Großtier-Spezies wurden innerhalb von ein paar Jahrhunderten ausgerottet. Selbst die Urpferde wurden ausgelöscht. Viele der überlebenden Kreaturen – wie die Moschusochsen, Riesenelche und Amerikanische Elche – waren wie die Menschen aus Asien eingewandert und hatten inzwischen gelernt, in einer von Menschen dominierten Welt zu überleben.

Ähnlich verhielt es sich in Südamerika, wo sogar acht von zehn Großtier-Spezies ausgelöscht wurden, nachdem die Menschen über die Landbrücke von Panama eingewandert waren. Und das geschah auch in den Ebenen Eurasiens. Sogar die Mammuts wurden ausgerottet. All die großen Tiere verschwanden im Nebel der Geschichte.

Und der Schaden verhielt sich nicht immer proportional zur Größe des besiedelten Gebiets. In Neuseeland, wo es keine Säugetiere, sondern Beuteltiere gegeben hatte, waren von der Evolution ›spielerisch‹ andere Geschöpfe in die Rolle von Säugetieren eingesetzt worden, insbesondere Vögel. Es gab flügellose Gänse anstatt Kaninchen, kleine Singvögel anstatt Mäusen, Raubvögel anstatt Raubkatzen und siebzehn verschiedene Arten von Moas, großen flügellosen Vögeln, die wie geflügelte Hirsche anmuteten. Diese einzigartige Fauna, die einer fremden Welt zu entstammen schien, wurde nach ein paar hundert Jahren menschlicher Besiedlung vernichtet – und nicht immer durch die Menschen selbst, sondern durch die Kreaturen in ihrem Gefolge; vor allem durch die Ratten, die die Nester der Bodenvögel plünderten.

All diese Tiere hatten unter dem Druck des schnell sich verändernden Klimas am Ende der Eiszeit gestanden. Jedoch hatten die meisten dieser uralten Linien schon viele ähnliche Veränderungen in der Vergangenheit überlebt. Was diesmal den Ausschlag gab, war die Präsenz von Menschen. Es war aber keine schnelle Auslöschung. Die Menschen waren oftmals ungeschickte Jäger, und Großwild machte nur einen kleinen Teil ihrer Nahrung aus. Viele Gemeinschaften, wie Jahnas Leute, glaubten gar, sie würden die Tiere schonen. Indem sie den Tieren aber zu einer Zeit nachstellten, zu der sie am verwundbarsten waren, indem sie selektiv nur die Jungtiere töteten, indem sie in Lebensräume einbrachen und Schlüsselglieder aus der Nahrungskette rissen, von der ganze Tiergemeinschaften existierten, richteten sie doch großen Schaden an. Nur in Afrika, wo die Tiere sich neben den Menschen entwickelt und Zeit gehabt hatten, sich mit ihnen zu arrangieren, wurde so etwas wie die alte Vielfalt des Pleistozäns bewahrt.

Roods kühler Garten Eden war längst vergangen. Die Vegetation war geschrumpft und einer leeren, hallenden Welt gewichen, die von verlorenen Menschen durchstreift wurde. Sie vergaßen schnell, dass die großen exotischen Tiere und die verschiedenen Arten von Menschen überhaupt existiert hatten.

Die Leute lebten natürlich noch immer als Jäger und Sammler. Aber es erwies sich als viel schwieriger, Hirsche und Wildschweine in den Wäldern zu jagen als Rentieren aufzulauern, die in der offenen Steppe Flüsse überquerten. Nach dem Massensterben verschlechterte die Lebensqualität sich im Vergleich zu früher: Die Nahrungsqualität wurde schlechter, und man musste mehr Zeit in die Nahrungssuche investieren. Weltweit entwickelte die Kultur der Menschen sich zurück und wurde primitiver.

Im tiefsten Innern wussten die Menschen, dass etwas nicht stimmte. Und nun gerieten sie erneut unter Druck.

Juna holte Cahl schon nach einem halben Tag ein. Er hatte es sich im Schatten einer erodierten Sandsteinklippe gemütlich gemacht und mümmelte eine Wurzel. Das Fleisch und die Artefakte aus Muscheln und Knochen, die er von den Leuten bekommen hatte, lagen neben ihm im Schmutz.

Er beobachtete ihre Annäherung; seine Augen leuchteten im Schatten. »Na«, sagte er ölig. »Du Goldköpfchen.«

Sie kannte das Wort ›Gold‹ nicht und verlangsamte unter seinem stechenden Blick den Schritt.

Er stand schwerfällig auf, wobei das Lederwams sich über dem Bauch spannte. »Wie ein verängstigtes Kaninchen!«, sagte er. »Du hast doch den weiten Weg gemacht, um mich zu finden und nicht umgekehrt. Und ich sehe auch, obwohl du mich so eklig findest, rennst du nicht weg. Wieso bist du also gekommen?«

Sie stand reglos da und starrte ihn an. Sie vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen, als ob ein Felsbrocken auf sie gefallen wäre und auf den Boden drücken würde. Obwohl sie sich innerlich für diese Begegnung gewappnet hatte und in ihrer Vorstellung Herrin der Lage war, kam es nun doch ganz anders als gedacht.

»Keine Antwort?«, sagte er. »Dann sag ich’s dir. Du willst etwas von mir.« Er kam auf sie zu und ließ den Blick über ihren Körper schweifen. »So verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Jeder will irgendetwas. Und wenn ich erst einmal herausgefunden habe, was das ist, bringe ich jeden dazu, das zu tun, was ich will.«

»Wie Acta Bier will«, brachte sie mühsam hervor.

Er grinste. »Du hast es kapiert. Gut. Wie Acta willst du also etwas von mir. Aber du wirst es nicht kriegen, kleines Mädchen, solange du nicht weißt, was ich von dir will.« Er ging um sie herum und fuhr ihr mit den Fingern übers Hinterteil. »Du bist zu dürr für meinen Geschmack. Mager. Kommt wohl daher, dass du immer den wilden Ziegen hinterher jagst.« Er gähnte, streckte sich und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Ehrlich gesagt, Kind, ich bin noch ganz fertig davon, es deiner fetten Mutter zu besorgen…«

Impulsiv zog sie ihr Hemd hoch und zeigte ihm den Bauch.

Verblüfft strich er ihr mit der Hand über den Leib und spürte die Wölbung. Er hatte eine eigentümlich weiche Hand ohne Schwielen. »Wusste ich’s doch«, sagte er schwer atmend, »dass irgendetwas mit dir los war. Ich muss gute Instinkte haben. Nun weißt du Bescheid. Meine seltsame Vorliebe für schwangere Säue, das ist meine einzige Schwäche…« Er strich sich übers Kinn. »Aber ich weiß immer noch nicht, was du willst. Ich glaube nicht, dass es der verlockende Gedanke meines dicken Bauchs auf deinem Rücken ist…«

»Das Baby«, platzte sie heraus. »Sie haben es getötet.«

»Welches Baby?… Ach so. Das deiner Mutter. Sie durfte ihr Kalb nicht behalten, eh? Ich weiß, dass ihr Tiere das macht, eure Jungen zu töten. Man sagt sogar, ihr würdet die zarten kleinen Körper auffressen.« Er musterte sie berechnend. »Ich glaube, ich verstehe. Wenn du dein Kind bekommst, werden sie es dir auch wegnehmen. Deshalb bist du also einem gierigen Sack wie mir nachgelaufen – um dein ungeborenes Kind zu retten.« Es erschien ein flüchtiger Ausdruck in seinem Gesicht, den sie als Sympathie deutete.

»Man sagt…«, murmelte sie.

»Ja?«

»Man sagt, bei euch würden keine Babys getötet.«

Er zuckte die Achseln. »Wir haben reichlich Nahrung. Wir müssen nicht den ganzen Tag damit zubringen, Kaninchen hinterher zu jagen, wie ihr Leute das tut. Deshalb müssen wir unsre Kinder nicht ermorden.«

Sie fragte sich, wie dieses Wunder wohl zustande kam: Cahls Leute mussten wirklich einen mächtigen Schamanen haben.

Doch diese kurze Aufhellung in Cahls Gesicht war schon wieder verschwunden und einer Art verzweifelter Gier gewichen. Er ging zu ihr hin, fasste ihr an die Brust und kniff sie so fest, dass sie aufschrie. »Wenn du mit mir kommst, wird es hart für dich werden. Unsre Art zu leben« – er wies mit ausladender Geste auf die offene Ebene – »ist anders als das hier. Mehr, als du dir vorzustellen vermagst. Und du wirst tun müssen, was ich sage. So läuft das bei uns.«

Sie roch seinen Atem, schloss die Augen und blendete sein pockennarbiges Mondgesicht aus. Sie wusste, dass das der entscheidende Punkt war. Sie vermochte sich noch immer umzudrehen und nach Hause zurückzulaufen. Aber das wäre dann das Todesurteil für ihr Baby. Wenn Acta und Pepule es herausfanden, würden sie vielleicht sogar versuchen, es aus ihr herauszuprügeln.

»Ich will tun, was du sagst«, beeilte sie sich zu sagen. Was konnte es Schlimmeres geben?

»Gut«, sagte er. Sein Atem ging in kurzen heißen Stößen. »Und nun lass uns zur Sache kommen. Knie dich hin!«

So begann es, hier im Dreck. Sie war nur froh, dass niemand, der ihr etwas bedeutete, sie so sah.

II

Er lud ihr das Fleisch auf, den Beutel mit den Wurzeln und den leeren Biersack. Er sagte, so sei das üblich, bei ihm zu Hause. Die Last war nicht schwer – das Fleisch war nicht mehr als die mickrige Beute, die die Männer gestern mitgebracht hatten –, aber es mutete Juna doch seltsam an, dass sie mit dem Fleisch über der Schulter hinter Cahl hertrotten sollte, während er voranging und linkisch ihren Speer schwenkte.

Bald hatten sie ihr vertrautes Territorium hinter sich gelassen. Es wurde ihr mulmig bei der Vorstellung, dass sie nun ein Land betrat, in das wahrscheinlich keiner ihrer Vorfahren je den Fuß gesetzt hatte. Tiefverwurzelte Tabus, durch die wohlbegründete Furcht inspiriert, durch die Hände von Fremden umzukommen, lagen im Widerstreit mit dem Bestreben, voranzukommen. Und sie ging auch weiter, denn sie hatte keine andere Wahl.

Sie mussten eine Nacht im Freien verbringen. Er führte sie in den Schutz einer Felswand, in eine Nische, die er offensichtlich schon einmal benutzt hatte, denn sie sah ringsum Kothaufen. Er ließ es aber nicht zu, dass sie vom Fleisch aß oder auf die Jagd ging. Offensichtlich traute er ihr nicht genug. Immerhin gab er ihr ein paar von den dünnen stinkenden Wurzeln, die sie getragen hatte.

Als es dunkel wurde, nahm er sie erneut. Verglichen mit dem brutalen Akt erschien ihre kindliche Fummelei mit Tori geradezu zärtlich. Zu ihrer Erleichterung war Cahl aber schnell fertig – er hatte sich an diesem Tag nämlich schon verausgabt – und schlief schnell ein, nachdem er sich von ihr heruntergerollt hatte.

Sie massierte sich die gequetschten Schenkel und hing den Gedanken nach.

Am Morgen stiegen sie dann vom trockenen Hochplateau in ein weites Tal ab. Hier war das Land grüner; es war dicht mit Gras bewachsen, und sie erkannte das blaue Band eines trägen Flusses mit einem aus Bäumen bestehenden grünen Ufersaum. Das wäre ein guter Platz zum Leben, sagte sie sich, besser als das trockene Hochland; und hier musste es auch reichlich Wild geben. Während sie abstiegen, erhaschte sie aber auch nur Blicke auf Kaninchen, Mäuse und Vögel. Es gab keine Anzeichen von Fährten größerer Tiere, keine ihrer charakteristischen Spuren.

Schließlich machte sie eine große braune Narbe nahe dem Flussufer aus. Rauch stieg an einem Dutzend Stellen auf, und sie erkannte Bewegung, ein fahles Wimmeln wie Maden in einer Wunde. Aber die Maden waren durcheinander wuselnde Leute, die durch die große Entfernung so winzig wirkten.

Allmählich verstand sie. Das war eine große, ausgedehnte Siedlung, eine Stadt. Sie war erstaunt. Sie hatte noch nie eine menschliche Siedlung in diesem Maßstab gesehen. Das flaue Gefühl im Bauch wurde immer stärker, je näher sie der Ansiedlung kamen.

Noch bevor sie die Siedlung erreichten, trafen sie auf die Leute.

Sie waren alle kleinwüchsig, dunkelhäutig und gebeugt. Und Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen bearbeiteten den Boden. Juna hatte etwas Derartiges noch nie gesehen. An einer Stelle hatten sie sich gebückt und kratzten mit in Holz gefassten Steinwerkzeugen auf dem kahlen Boden. Ein Stück weiter war eine üppige Wiese, wo die Leute Grashalme auszupften und in Körben und Schalen legten. Ein paar schauten auf, als sie vorbeikam und zeigten eine trübe Neugier.

Cahl sah ihren staunenden Blick. »Das sind Felder«, sagte er. »Von ihnen ernähren wie unsre Kinder. Siehst du? Man säubert den Boden. Man pflanzt Samen. Man vernichtet das Unkraut und lässt das Getreide wachsen. Dann fährt man die Ernte ein.«

Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, aber da waren zu viele unbekannte Wörter. »Wo ist euer Schamane?«

Er lachte. »Wir sind vielleicht alle Schamanen.«

Sie kamen an einer anderen freien Fläche vorbei – einem anderen ›Feld‹, wie Cahl es nannte –, wo Ziegen von einem Zaun aus hölzernen Pfählen und Dornensträuchern umgeben waren. Als sie Cahl und Juna kommen sahen, rannten die Ziegen meckernd und mit vorgestoßenen Köpfen zum Zaun. Sie hatten Hunger, das sah Juna sofort. Sie hatten das ganze Gras im Pferch abgefressen und wollten nun frei sein und im Tal und auf den Hügeln nach Nahrung suchen. Sie hatte keine Ahnung, weshalb die Leute sie hier einsperrten.

Dann erreichten sie den Talboden. Das Gras wurde immer schütterer und wich schließlich aufgewühltem Schlamm, der allenthalben mit Kot und Urin bedeckt war – menschliche Fäkalien, die man einfach hier abgeladen hatte. Als ob sie auf einem großen Abfallhaufen lebten, sagte sie sich.

Schließlich gelangten sie zur eigentlichen Siedlung. Die Hütten waren sehr solide und dauerhaft – auf Gerüsten aus Baumstämmen errichtet, die man in den schlammigen Boden gerammt hatte und mit Lehm und Stroh gedeckt. Sie hatten Löcher in den Dächern, und aus vielen quoll Rauch, obwohl es erst mitten am Tag war. Eine Hütte war eine Hütte. Aber es waren so viele, dass sie sie nicht einmal zu zählen vermochte.

Und es wimmelte nur so von Leuten.

Sie trugen die seltsame, eng anliegende und alles verhüllende Kleidung, die Cahl bevorzugte. Sie waren alle kleiner als sie, Männer und Frauen gleichermaßen, und ihre dunkle Haut war pockennarbig und zerfurcht. Viele Frauen trugen schwere Lasten. Da wurde eine kleine Frau von einem großen Sack niedergedrückt; den Sack hatte sie sich um die Stirn gebunden, und es hatte den Anschein, dass er noch mehr wog als sie. Die Männer hingegen schienen kaum mehr zu tragen, als sie in den Händen zu halten vermochten.

Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht so viele Leute gesehen, geschweige denn auf einem solchen Haufen zusammengedrängt. Obwohl sie sich schon eine Vorstellung von der Größe der Felder gemacht hatte, wusste sie immer noch nicht, wie so viele Leute davon leben sollten; sie mussten doch sicher alles Wild verscheuchen und alle essbaren Pflanzen im Umkreis verschlingen. Und doch sah sie geschlachtete Tiere, die vor einer Hütte aufgestapelt waren und Getreidekörbe vor einer anderen.

Und es gab hier viele Kinder. Ein paar liefen Juna sogar nach, zupften an ihrem Kleid und bestaunten ihr glänzendes Haar. Dann stimmte zumindest dies: Es gab hier wirklich mehr Kinder, als ihre Gemeinschaft je zu ernähren vermocht hätte. Jedoch hatten viele Kinder verkrümmte Knochen, pockennarbige Haut und braune Zähne. Ein paar waren mager und hatten die komischen Dickbäuche, die von mangelhafter Ernährung zeugten.

Die Männer scharten sich um Cahl und Juna und redeten in einer unverständlichen Sprache auf sie ein. Sie schienen Cahl zu gratulieren, als sei er ein erfolgreicher Jäger. Als die Männer sie lüstern angeiferten, sah sie, dass sie genauso schlechte Zähne hatten wie Cahl.

Plötzlich verlor sie die Nerven. Zu viele Leute. Sie wollte fliehen, aber die Leute setzten ihr nach und umringten sie noch enger. Kinder zogen sie kreischend an ihrem flachsblonden Haar. Sie spürte aufwallende Panik und geriet in Atemnot. Sie hielt verzweifelt Ausschau nach einem Stück Grün, aber da war kein Grün, nur diese braune Sickergrube. Die Welt drehte sich um sie. Sie kippte um und ließ Cahls Fleisch in den Dreck fallen. Sie hörte Cahls zornigen Schrei. Und die Kinder und Erwachsenen tobten noch immer um sie herum.

Langsam kam sie wieder zu sich.

Man hatte sie in eine der Hütten gebracht. Sie lag rücklings auf dem Boden und sah Tageslicht durch Risse und Fugen im Dach über sich dringen.

Und Cahl war schon wieder auf ihr und stieß sie heftig. Sein Atem roch nach Bier.

Es waren noch andere Leute in der Hütte. Sie schlichen im Zwielicht umher und redeten in einer Sprache, die sie nicht verstand. Es waren auch viele Kinder in jedem Alter da, die zusahen. Sie fragte sich, ob sie alle von Cahl waren. Eine Frau kam in ihre Nähe. Sie war von kleinem Wuchs wie die anderen und hager. Das Gesicht war schlaff und zerfurcht, und das schwarze Haar hatte sie zur Seite gekämmt. Sie brachte eine Schüssel mit einer Flüssigkeit. Sie sah älter aus als Juna…

Cahls fleischige Hand schloss sich wie ein Schraubstock um ihren Kiefer. »Sieh mich an, du Sau. Sieh mich an, nicht sie.« Und dann stieß er sie härter als zuvor.

In der Dämmerung kam die schwarzhaarige Frau, die, wie sich herausstellte, auf den Namen Gwerei hörte, wieder und weckte Juna mit einem Fußtritt in den Rücken. Juna erhob sich von der primitiven schmutzigen Pritsche, die man ihr zugewiesen hatte und versuchte die dicke Luft zu atmen, die mit dem Gestank von Schweiß und Fürzen geschwängert war.

Die Frau redete auf Juna ein, wies auf die Feuerstelle und stapfte dann verärgert über Junas Begriffsstutzigkeit aus der Hütte. Sie kehrte mit einem dicken Holzscheit zurück, das sie aufs Feuer warf. Dann schob sie die Kinder zur Seite und legte ein Loch im Boden frei, das eine Masse aus klumpigen weißen Gebilden enthielt. Zuerst glaubte Juna, das seien Pilze, vielleicht sogar essbare. Doch dann biss die Frau in eine solche Masse, brach andere und warf die Stücke den bettelnden Kindern zu.

Dann warf sie auch Juna ein Stück von dem weißen Zeug zu. Juna biss vorsichtig hinein. Es war fade und schmeckte nach nichts; es war, als ob sie in ein Stück Holz gebissen hätte. Und es war körnig und mit harten Stücken gespickt, die sie mit den Zähnen zermahlen musste. Aber sie hatte seit der letzten Rast mit Cahl auf der Hochebene nichts mehr gegessen, und der Hunger nagte an ihr. Also schlang sie die Nahrung so gierig hinunter wie die Kinder.

Das war ihr erstes Stück Brot, obwohl es noch viele Tage dauern sollte, bis sie seinen Namen erfuhr.

Während sie aßen, schnarchte Cahl auf seiner Pritsche. Es mutete Juna seltsam an, dass er bei den Frauen wohnte, aber es schien hier keine Männer-Hütte zu geben.

Nachdem sie gegessen hatten, führte Gwerei sie aus der Stadt hinaus durchs Tal und die Anhöhe auf der anderen Seite hinauf. Sie gingen schweigend, denn sie sprachen keine gemeinsame Sprache: Juna war quasi stumm und taub. Aber sie war schon froh, nur aus dem großen Ameisenhügel aus Leuten herauszukommen, der die Stadt war.

Bald schlossen sich ihnen weitere Frauen, ältere Kinder und ein paar Männer an. Sie gingen in Rinnen, die von unzähligen Füßen in den Boden gefräst worden waren. Ein paar Frauen schauten Juna neugierig an, und die Männer taxierten sie, aber sie wirkten schon erschöpft, bevor ihr Tagwerk überhaupt begonnen hatte. Sie fragte sich, wo die alle hingingen. Niemand trug irgendwelche Waffen, Speere, Schlingen oder Fallen. Sie hielten nicht einmal Ausschau nach Fährten, Spuren oder Dung, die auf die Anwesenheit von Tieren hingedeutet hätten. Sie hatten keine Augen für das Land, in dem sie lebten.

Schließlich erreichten sie das offene Gelände, das sie gestern schon erblickt hatte, die Felder. Gwerei führte sie auf eins dieser Felder, wo bereits Leute an der Arbeit waren. Gwerei gab ihr ein Werkzeug und redete wieder auf sie ein. Dazu schnitt sie Grimassen, legte die Fäuste aneinander und zog imaginäre Furchen durch die Luft.

Juna betrachtete das Werkzeug. Es glich einer Axt und hatte eine Steinklinge, die mit Sehnenschnüren und Harz an einem Holzgriff befestigt war. Aber das Ding war groß und gewiss zu schwer, um als Axt verwendet zu werden, und durch die gekrümmte Steinklinge war es nicht einmal als Stoßspeer zu gebrauchen. Während Gwerei sie frustriert anschrie, erwiderte sie den Blick nur.

Schließlich musste Gwerei ihr zeigen, wie man es machte. Sie bückte sich, packte das Werkzeug und rammte die Klinge in den Boden. Dann ging sie mit staksigem Gang und noch immer gebückt rückwärts und zog das Blatt dabei durch die Erde. Sie hatte eine Furche in den Boden gezogen.

Juna sah, dass die anderen Leute genau das gleiche taten wie Gwerei und ihre krummen Äxte durch den Boden zogen. Sie erinnerte sich, gestern schon Leute bei dieser Verrichtung gesehen zu haben. Es war eine leichte Aufgabe, die auch ein entsprechend kräftiges Kind zu verrichten vermocht hätte. Aber es war ein hartes Stück Arbeit. Sie hatten erst ein paar Schritt lange Furchen gezogen, als sie alle schon grunzten und verschwitzte und verschmutzte Gesichter hatten.

Und Juna hatte noch immer keine Ahnung, wieso sie das überhaupt taten. Aber sie nahm das Werkzeug von Gwerei entgegen und stieß das Blatt in den Boden. Dann folgte sie Gwereis Beispiel, bückte sich und zog den Stiel rückwärts, bis sie wie Gwerei eine Furche gezogen hatte. Eine Frau klatschte ironisch.

Juna gab Gwerei das Werkzeug zurück. »Ich bin fertig«, sagte sie in ihrer Sprache. »Was nun?«

Die Antwort war einfach. Sie sollte das Gleiche noch mal machen, und zwar dort, wo sie aufgehört hatte. Und immer weiter. Sie und die anderen Leute hier hatten nichts anderes zu tun, als diese Rillen in den Boden zu kratzen.

Den ganzen Tag.

Aber es war keine Kunst, im Dreck zu wühlen; da stellte sogar die einfachste Jagd, zum Beispiel das Auslegen einer Kaninchenschlinge, höhere Anforderungen. Hatten diese Leute denn gar keinen Verstand und Geist? Aber vielleicht war das auch Teil der Magie, derer die hiesigen Schamanen sich bedienten, um die reichliche Nahrung zu erzeugen, den Überfluss, der es ihnen ermöglichte, sich wie die Maden im Speck zu tummeln und scharenweise Kinder in die Welt zu setzen. Außerdem war sie hier eine Fremde, rief sie sich in Erinnerung, und musste sich an Gwereis Lebensweise anpassen – und nicht etwa umgekehrt.

Also machte sie sich wieder an die monotone, ständig sich wiederholende Arbeit. Aber die Sonne war noch nicht viel höher gestiegen, als sie sich schon danach sehnte, aus dieser Fron entlassen zu werden und wieder frei über die Hochebene zu streifen. Und nachdem sie ihren Körper – eine hoch spezialisierte, für ständige Bewegung ausgelegte Maschine – einen Tag lang dieser Schinderei unterworfen hatte, wurden die Schmerzen so stark, dass Juna nur noch vom Wunsch beseelt war, dass sie endlich aufhörten.

Am nächsten Tag führte man sie zu einem anderen Feld und wies ihr die gleiche stumpfsinnige Arbeit zu. Und am übernächsten wieder.

Und auch am darauf folgenden Tag.

Das war Ackerbau: primitiv, aber eindeutig Ackerbau. Diese neue Lebensweise war allerdings nicht geplant worden. Sie hatte sich Schritt für Schritt ergeben.

Schon zu Kieselsteins Zeiten, noch vorm Erscheinen des modernen Menschen, hatten Leute die von ihnen bevorzugten wilden Pflanzen gesammelt und andere beseitigt, die den Nutzpflanzen Konkurrenz machten. Die Domestizierung von Tieren hatte ähnlich zufällig stattgefunden. Hunde hatten gelernt, mit Menschen zu jagen und waren dafür belohnt worden. Ziegen hatten gelernt, Menschen wegen der Abfälle zu folgen, die diese hinterließen, und die Menschen hatten wiederum gelernt, nicht nur das Fleisch, sondern auch die Milch der Ziegen zu nutzen. Für Jahrhunderttausende hatten die Menschen unbewusst die Pflanzen- und Tierarten ausgewählt, die für sie am nützlichsten waren. Und nun war dieser Prozess bewusst geworden.

Es hatte in einem Tal nicht weit von hier angefangen. Für Jahrhunderte hatten die Menschen dort sich eines stetig erwärmenden Klimas und eines reichhaltigen Nahrungsangebots aus Nüssen, wildem Getreide und Wildbret erfreut. Doch dann hatten plötzlich Trockenheit und Abkühlung eingesetzt. Die Wälder waren geschrumpft. Die natürlichen Nahrungsquellen drohten zu versiegen.

Also hatten die Leute ihre Anstrengungen auf die von ihnen bevorzugten Getreidesorten gerichtet, die Sorten mit großen Körnern, die man leicht von den Spelzen zu trennen vermochte und mit nicht streuenden Ähren, die die Körner zusammenhielten. Diese Pflanzen hegten sie und jäteten die unerwünschten Pflanzen in ihrer Umgebung aus.

Erbsen waren ebenfalls eine frühe ›Erfolgsgeschichte‹. Die Schoten von Wilderbsen platzten und verteilten die Erbsen auf dem Erdboden, wo sie keimten. Leute bevorzugten indes Mutationen, deren Schoten nicht platzten und die somit leichter zu sammeln waren. In der Wildnis keimten solche Erbsen nicht, gediehen aber in menschlicher Pflege. Gleichermaßen wurden nicht platzende Varianten von Linsen, Flachs und Mohn bevorzugt.

Indem sie die Samen der von ihnen bevorzugten Pflanzen verbreiteten und die der unerwünschten ausrotteten, hatten die Leute eine Selektion in Gang gesetzt. Und die Pflanzen passten sich sehr schnell an. Nach nur einem Jahrhundert hatten sich bereits großkörnige Getreidesorten wie Roggen entwickelt. Manche Pflanzen wurden wegen der Größe ihrer Samen bevorzugt, wie zum Beispiel Sonnenblumen und andere gerade wegen der Kleinheit der Samen – wie zum Beispiel Bananen. Hier wurden die Früchte der Pflanzen genutzt und nicht die Samen. Manche Gene, die früher sogar tödlich gewesen wären, wurden nun bevorzugt, wie die für die nicht platzenden Erbsenschoten.

Die ersten Roggenpflanzer waren aber nicht sofort sesshaft geworden. Für eine Weile hatten sie sich noch als Jäger und Sammler betätigt, während sie Ackerbau trieben. Die neuen Felder hatten als ›Speisekammer‹ gedient, als Vorsorge gegen das Hungern in schlechten Zeiten: Wie bei allen Neuerungen hatte die Landwirtschaft sich aus den Praktiken entwickelt, die ihr vorausgegangen waren.

Aber die Kultivierung des Landes hatte sich als so effektiv erwiesen, dass man sich ihr bald ausschließlich widmete. Die meisten wilden Pflanzen waren ungenießbar – doch neun Zehntel der Ernte, die ein Landmann einbrachte, waren essbar. Aus diesem Grund vermochten diese Leute sich auch so viele Kinder zu leisten: Davon lebte dieser große Ameisenhügel von Stadt.

Das war die revolutionärste Umwälzung in der Lebensart der Hominiden, seit Homo erectus den Wald verlassen und sich in die Savanne hinausgewagt hatte. Im Vergleich zu dieser Phasenverschiebung waren die Fortschritte in der Zukunft, sogar die Gentechnik, bloße Randnotizen. Es würde nie mehr eine so signifikante Veränderung eintreten, nicht bis die Menschen vom Antlitz der Erde verschwunden sein würden.

Indes wurde die Erde durch die Revolution des Ackerbaus nicht zum Paradies.

Ackerbau bedeutete Arbeit: eine endlose, knochenharte Plackerei – und das jeden Tag. Nachdem die Menschen den Erdboden von allem befreit hatten außer von dem, was sie anbauen wollten, mussten sie nun die Arbeit verrichten, die zuvor die Natur für sie übernommen hatte: den Boden lüften, Krankheiten bekämpfen, düngen, Unkraut jäten. Ackerbau bedeutete, das ganze Leben, alle Fertigkeiten, die Freude am Laufen, die Freiheit, zu tun und lassen, was man wollte, der Fron auf den Feldern zu opfern.

Und dabei war die Nahrung, die man dem Boden so mühsam entrang, gar nicht mal so nahrhaft. Während die alten Jäger und Sammler eine ausgewogene Nahrung mit genügend Mineralstoffen, Protein und Vitaminen zu sich genommen hatten, lebten die Bauern hauptsächlich von stärkehaltigen Pflanzen: Es war, als ob sie teure, qualitativ hochwertige Nahrung gegen eine Kost eingetauscht hätten, die zwar reichlich, aber minderwertig war. Infolgedessen und wegen der harten Arbeit waren sie nicht mehr so gesund wie ihre Vorfahren. Sie hatten schlechte Zähne und wurden von Blutarmut geplagt. Die Ellbogen der Frauen waren durch das ständige Mahlen verschlissen. Die Männer litten unter starkem sozialem Stress, der sich in häufigen Schlägereien und Morden entlud.

Im Vergleich zu ihren großen und gesunden Vorfahren bauten die Leute wirklich ab.

Und dann waren da noch die Todesfälle.

Es stimmte, dass die Mütter ihre Babys nicht opfern mussten. Vielmehr wurden die Frauen ermutigt, möglichst schnell möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen, denn Kinder erfüllten den endlosen Bedarf an Arbeitskräften für die Felder: Mit dreißig Jahren waren viele Frauen wegen der endlosen Belastung durch Schwangerschaften und der Aufzucht von Kindern schon ausgezehrt.

Aber so viele geboren wurden, so viele starben auch. Es dauerte nicht lang, bis Juna das erkannt hatte. Krankheit war bei Junas Leuten die Ausnahme gewesen – doch hier, an diesem überfüllten, schmutzigen Ort war sie der Normalfall. Man vermochte fast zu sehen, wie sie sich ausbreitete: Die Leute schnieften und husteten, kratzten sich an nässenden Wunden und verseuchten mit ihrem Durchfall das Wasser der Nachbarn. Am stärksten betroffen waren die Schwachen, die Alten und Kranken. Viele Kinder starben, viel mehr als bei Junas Leuten.

Und es gab kaum eine Handvoll Leute, die so alt waren wie ihre Großmutter. Juna fragte sich, was mit der ganzen Weisheit geschah, die verloren ging, wenn die Alten in so großer Zahl und so früh starben.

Die Tage gingen ins Land, einer so monoton wie der andere. Die Arbeit war Routine. Freilich war alles hier Routine, tagein, tagaus der gleiche Trott.

Cahl bestieg sie fast jede Nacht. Aber er schien sich schwer zu tun. Manchmal stürzte er sich auf sie, warf sie auf den Boden und riss ihr das Kleid vom Leib, oder er drehte sie auf den Bauch und nahm sie von hinten. Es war, als ob er sich an ihr abreagierte, nur um sich selbst zu befriedigen. Doch wenn er zu viel Bier getrunken hatte, regte sich bei ihm gar nichts mehr.

Er war im Grunde genommen ein schwacher Mann, wurde sie sich bewusst. Er hatte zwar Macht über sie, aber sie fürchtete ihn nicht. Zuletzt war es für sie zur Routine geworden, dass er sie nahm; es war nur noch ein Teil ihres Lebenshintergrunds. Trotzdem war sie froh, dass sie nicht von ihm schwanger werden konnte – nicht solang Toris Kind in ihr heranwuchs.

Als sie eines Tages mühsam den steinernen Pflug durch trockenen, steinigen Boden zog, kamen laut blökende Schafe über eine Anhöhe gerannt. Die Feldarbeiter, denen eine Pause immer gelegen kam, richteten sich auf und schauten hin. Sie lachten, als die Schafe auf der Suche nach Gras über den unebenen Boden stolperten und sich gegenseitig anrempelten.

Plötzlich ertönte wildes Gebell. Ein Hund hetzte über die Anhöhe, gefolgt von einem Jungen mit einem Hirtenstab. Unter dem Gelächter, Beifall und den Pfiffen der Arbeiter jagten der Junge und der Hund den Schafen hinterher.

Gwerei kam zu Juna und sah ihr verwirrtes Gesicht. Dann deutete sie gar nicht mal unfreundlich auf die Schafe: »Owis Kludhi.« Sie zählte die einzelnen Schafe mit den Fingern ab. »Oynos. Dwo. Treyes. Owis.« Dann stupste sie Juna an und versuchte ihr eine Reaktion zu entlocken.

Juna mit dem schmerzenden Rücken und dem verfilzten Haar verstand die Welt nicht mehr. »Was ist los?«

Doch diesmal verlor Gwerei erstaunlicherweise nicht die Geduld. »Owis. Kludhi. Owis.«

Und dann sprach sie in ihrer Zunge zu Juna, aber viel langsamer und deutlicher als sonst – und sie streute zu Junas Überraschung sogar ein paar Worte aus deren Sprache ein, die sie vermutlich von Cahl aufgeschnappt hatte. Sie versuchte, Juna etwas mitzuteilen – etwas sehr Wichtiges.

Juna fügte sich und hörte ihr zu. Es dauerte eine lange Zeit. Allmählich reimte sie sich jedoch zusammen, was Gwerei ihr zu vermitteln versuchte. »Lerne die Sprache. Lerne durch Zuhören. Weil das nämlich der einzige Weg ist, von Cahl loszukommen. Hör zu…«

Zögerlich nickte sie. »Owis«, wiederholte sie. »Schafe. Owis. Eins, zwei, drei…«

Und so lernte Juna ihre ersten Worte in der Sprache von Gwerei und Cahl, diesen ersten Bauern: die ersten Worte in einer Sprache, die eines Tages als Proto-Indoeuropäisch bezeichnet werden sollte.

Die Zeit verstrich, und ihr Bauch wurde immer dicker. Er behinderte sie bei der Feldarbeit, und sie wurde immer schwächer. Die anderen Frauen sahen das, und ein paar murrten auch, obwohl die meisten Frauen Verständnis dafür zu haben schienen, dass Junas Leistung nachließ.

Aber sie machte sich trotzdem Sorgen. Was würde Cahl nach der Geburt des Kinds wohl tun? Würde er sie auch ohne einen dicken Bauch noch so reizvoll finden? Falls er sie verstieß, wäre sie in einer genauso schlechten Situation, als wenn sie einfach in der Hochebene geblieben wäre – und vielleicht in einer schlechteren, nach der monatelangen Mangelernährung, zermürbenden Arbeit und an einem Ort, den sie weder kannte noch verstand. Diese Sorge beherrschte bald ihr ganzes Denken, genauso wie das wachsende Kind ihr die Kraft aus dem Leib zu saugen schien.

Und dann kam der Fremde mit der glänzenden Halskette in die Stadt.

Es war am Abend. Sie schlurfte wie immer schmutzig und erschöpft von den Feldern zurück.

Cahl steuerte auf die Hütte des Bierbrauers zu. Juna hatte einen Blick auf die großen hölzernen Bottiche in der Hütte erhascht, wo der Bierbrauer und andere unidentifizierbare Substanzen zu seinem Weizenbier vergor. Im Gegensatz zu Acta und den anderen schien das Bier kaum Wirkung bei Cahls Leuten zu haben – jedenfalls nicht, bevor sie ordentlich abgefüllt waren. Kein Wunder, dass es eine so nützliche Handelsware für Cahl war: billig in der Herstellung und heiß begehrt von Acta.

Doch an diesem Abend war Cahl in Begleitung eines Manns – er war so groß wie sie, wenn auch etwas kleiner als die meisten Männer von Junas Leuten. Sein Gesicht war glatt rasiert, und das lange schwarze Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Er sah jung aus, bestimmt nicht viel älter als sie. Er hatte einen klaren, wachsamen Blick. Und er trug eine außergewöhnliche Bekleidung aus weich gegerbten Tierhäuten, die sorgfältig vernäht und mit stilisierten tanzenden Tieren in Rot, Blau und Schwarz verziert waren. Sie mochte gar nicht daran denken, wie viele Stunden Arbeit in diese Bekleidung gesteckt worden waren.

Was sie aber am meisten beeindruckte, war die Halskette, die er trug. Es war eine schlichte Kette aus durchlöcherten Muscheln. Doch in der mittleren Muschel, direkt unterm Kinn, war ein Klumpen aus einem Stoff befestigt, der hellgelb glänzte und das Licht der tief stehenden Sonne widerspiegelte.

Cahl beobachtete sie. Er ließ den jungen Mann schon mal zur Hütte des Bierbrauers vorausgehen. »Er gefällt dir, was?«, quatschte er sie in ihrer Sprache ölig an. »Und das Gold an seinem Hals gefällt dir wohl auch? Ich kann mir auch vorstellen, dass du seinen schlanken Schwanz meinem vorziehen würdest? Sein Name ist Keram. Aber das hilft dir auch nichts. Er ist aus Cata Huuk. Du weißt aber nicht, wo das ist, nicht wahr? Und du wirst es auch nie erfahren.« Er griff ihr grob zwischen die Beine. »Halt du dich nur für mich warm.« Dann stieß er sie zurück und ging davon.

Sie hatte seinen letzten Übergriff kaum gespürt. Keram. Cata Huuk. Im Geiste wiederholte sie die seltsamen Namen immer wieder.

Denn sie hatte den Eindruck, dass – just in dem Moment, als er sich umdrehte und zur Brauerei ging – der junge Mann zu ihr herübergeschaut hatte und seine Augen in einer Art Erkennen sich geweitet hatten.

Nach einem Vierteljahr reiste Keram wieder von Cata Huuk zur Stadt.

Er hatte den Auftrag eigentlich ablehnen wollen. Als jüngster Sohn des Potus bekam er immer die schlechtesten Aufträge, und das Eintreiben der Tributzahlungen von diesen entlegenen Orten im Hinterland der Stadt war so ziemlich der mieseste Job überhaupt.

»Und dieses Kaff«, sagte er zu seinem Freund Muti, »ist das allerletzte. Schau es dir doch nur an.« Der Ort am Ufer des Flusses war nur eine Ansammlung schmutzigbrauner Hütten, deren Konturen vom Regen verwischt worden waren. Stinkender Rauch quoll aus den Dächern. »Weißt du, wie dieser Ort heißt? Keer.« Dieses Wort bedeutete ›Herz‹ in der Sprache, die die beiden jungen Männer sprachen – eine Sprache, die in einem breiten Gürtel der Kolonisierung gesprochen wurde, der sich von diesem Ort aus weit nach Osten erstreckte.

Muti grinste. »Keer. Das gefällt mir. Ist das gar das Herz der Welt? Aber es sieht doch eher wie der Arsch der Welt aus.« Die beiden lachten, und ihre Halsketten aus Muscheln und Goldklumpen klirrten leise.

Cahl kam zu ihnen. Der Händler stimmte in ihr Gelächter ein; seine Lustigkeit war aber aufgesetzt, und die trüben Schweinsäuglein huschten von einem zum andren. Die Wachen hinter Keram regten sich unmerklich und senkten wachsam die Speere.

»Master Keram«, sagte Cahl. »Es ist mir eine Freude, Euch zu sehen. Wie gut Ihr ausschaut und wie Eure Kleidung im Sonnenlicht glänzt!« Er wandte sich an Muti. »Und ich glaube nicht…«

»Ein zweiter Cousin von Keram«, stellte Muti sich selbst vor. »Cousin und Bundesgenosse.«

Keram erkannte belustigt die allzu deutliche Berechnung in Cahls Blick, als er Mutis Name und Position der Karte hinzufügte, die er offensichtlich von den Machtstrukturen in Cata Huuk anfertigte. Cahl dienerte beflissen, während er sie in die Stadt führte. »Kommt, kommt. Euer Tribut liegt selbstverständlich in meiner Hütte bereit. Ich habe Speisen und Bier für Euch. Werdet Ihr über Nacht bleiben?«

Keram sagte: »Wir müssen noch viele Orte besuchen, ehe…«

»Aber Ihr müsst unsere Gastfreundschaft genießen. Eure Männer auch. Wir haben Mädchen, Jungfrauen, die Euch zu Diensten sein werden.« Er schaute Muti augenzwinkernd an. »Oder auch Knaben. Was immer Ihr wünscht. Ihr seid unsere Gäste, solange Ihr bei uns zu bleiben wünscht…«

Während sie vorsichtig über den schlammigen, mit Fäkalien bedeckten Boden gingen, beugte Muti sich zu Keram hinüber. »Was für ein fetter Widerling.«

»Er ist nur auf seinen Vorteil aus. Er ist nicht einmal der Häuptling dieser kleinen Schar von Dreckschweinen. Und er hat ein paar interessante Schwächen, insbesondere für dicke Frauen. Vielleicht erinnern sie ihn an die Schweine, auf die er in Wirklichkeit steht. Aber er ist nützlich. Leicht zu manipulieren.«

»Ob er jemals nach Cata Huuk kommen wird?«

Keram schnaubte. »Was glaubst du denn, Cousin?«

Sie näherten sich Cahls Hütte. Zwar zählte sie zu den ›repräsentativsten‹ der Stadt, war in den Augen der jungen Männer aber doch nur ein Dreckshaufen.

»Willst du ein Weilchen bleiben?«, fragte Keram Muti und deutete mit einem Nicken auf die vier Wachen. »Ich lasse die Hunde normalerweise für eine Weile aus dem Zwinger. Und Cahl ist auch in dieser Hinsicht nützlich, dass er die attraktiveren Säue aus diesem Stall aussucht. Manchmal macht die Verzweiflung, die sie in diesem Dreckloch verspüren, sie… interessant. Es macht Spaß, ist aber auch irgendwie anstrengend. Sehr reinlich sind sie jedenfalls nicht.«

»Was ist das?«, fragte Muti abwesend.

Eine junge Frau war aus Cahls Hütte gekommen. Sie war ganz anders als die dunklen, korpulenten Frauen der Stadt. Sie war schlank und offensichtlich von Sorgen geplagt, aber sie war auch groß – so groß wie Keram –, schlank und hatte blondes Haar, das trotz des darin hängenden Schmutzes golden glänzte. Sie war vielleicht sechzehn oder siebzehn.

Cahl schien über ihr Erscheinen empört zu sein. Er schlug ihr mit seiner fleischigen Faust gegen die Schläfe, dass sie zu Boden stürzte. »Was machst du da? Geh wieder in die Hütte.

Wir sprechen uns noch.« Und dann trat er die hilflos am Boden Liegende.

Mit einer fließenden Bewegung packte Muti Cahls fetten Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken. Cahl heulte auf.

Keram reichte der jungen Frau die Hand und half ihr auf die Füße. An der Schläfe bildete sich bereits ein Bluterguss. Nun sah er, dass auch ihre Beine und Arme von Blutergüssen übersät waren. Sie zitterte, hielt sich aber aufrecht und schaute ihm ins Gesicht. »Wie ist dein Name?«, fragte er.

Cahl blaffte: »Herr, sprecht nicht mit ihr…« Muti bog den Arm noch etwas weiter um. »Au!«

»Juna.« Sie hatte einen starken, fremdartigen Akzent, aber die Worte waren deutlich. »Mein Name ist Juna. Ich bin aus Cata Huuk«, sagte sie verwegen. »Ich bin wie du.«

Keram lachte ungläubig ob dieser Worte, doch das Lachen verging ihm, als er sie näher betrachtete. Auf jeden Fall waren ihre Größe, Eleganz und ihre relativ gute Verfassung ein Indiz dafür, dass sie nicht zu den Schweinen von Keer gehörte. »Wenn du aus der Stadt bist, was hat dich dann hierher verschlagen?«

»Sie hatten mich als Kind entführt. Diese Leute, diese Leute von Keer. Sie haben mich unter den Hunden und den Wölfen aufgezogen. Deshalb spreche ich nicht so wie ihr. Aber…«

»Sie lügt«, stieß Cahl hervor. »Sie weiß nicht einmal, was Cata Huuk überhaupt ist. Sie ist eine Wilde von den Stämmen im Westen und gehört zu den Tiermenschen, mit denen ich mich abgeben muss. Ihre Mutter ist eine fette Schlampe, die ihren Körper für Bier verkauft. Und…«

»Ich sollte nicht hier sein«, sagte Juna ungerührt und schaute Keram an. »Nehmt mich mit euch.«

Keram und Muti wechselten unsicher Blicke.

Wütend riss Cahl sich von Muti los. »Ihr wollt bei ihr liegen. Ist es das?« Er zerrte an Junas schlichtem Kleid und riss es ihr vom Leib. »Schaut! Die Sau ist voller Ferkel. Wollt Ihr so etwas stechen?«

Keram runzelte die Stirn. »Ist das Kind von Cahl?«

Sie zitterte heftiger. »Nein. Obwohl mein Bauch ihn reizt und er mich benutzt. Das Kind ist von einem Mann aus Cata Huuk. Er kam hierher. Er hat mich benutzt. Er hat mir seinen Namen nicht gesagt. Er hat mir versprochen…«

»Sie lügt!«, zeterte Cahl. »Sie war schon schwanger, als ich sie fand.«

»Ich bin nicht für diesen Ort bestimmt«, sagte Juna und schaute mit einem Ausdruck des Ekels auf die Stadt. »Mein Kind ist auch nicht für diesen Ort bestimmt. Mein Kind soll in Cata Huuk leben.«

Keram schaute wieder auf Muti. Der zuckte die Achseln. Keram grinste. »Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sagst, Juna. Aber du bist etwas Besonderes, und deine Geschichte wird meinem Vater sicher gefallen.«

»Nein!« Cahl riss sich wieder los. Die Soldaten rückten vor. »Ihr könnt sie nicht mitnehmen!«

Keram beachtete ihn gar nicht und nickte Muti zu. »Veranlasse die Zahlung des Tributs. Hast du – Juna – hier irgendwelche Besitztümer? Irgendwelche Freunde, von denen du dich verabschieden willst?«

Sie schien über seine Worte zu rätseln, als ob sie nicht wüsste, was ›Besitztümer‹ überhaupt waren. »Nein. Und Freunde – nur Gwerei.«

Keram zuckte die Achseln; der Name sagte ihm nichts. »Triff deine Vorbereitungen. Wir werden bald aufbrechen.« Er klatschte in die Hände, und Muti und die Soldaten schickten sich an, seine Befehle auszuführen.

Cahl, der von einer Wache festgehalten wurde, bettelte und flehte ohne Unterlass. »Nehmt mich mit! Nehmt mich doch mit…!«

III

Sie brauchten drei Tage für die Reise zu Kerams geheimnisvoller Heimat, nach Cata Huuk.

Das Korn und Fleisch, das Keram ›Tribut‹ nannte, wurde schnell eingetrieben. Juna hatte keine Ahnung, wieso die Städter, denen es selbst nicht allzu gut ging, einen so großen Teil ihrer Vorräte diesen Fremden überließen. Zumal sie nicht einmal Bier dafür bekamen.

Aber es war nicht die Zeit, diesbezügliche Fragen zu stellen. Die Sprachkenntnisse, die sie sich im Lauf der Zeit angeeignet hatte, nachdem sie Keram zum ersten Mal gesehen hatte, hatten sich ausgezahlt. Nun musste sie schweigen und dorthin gehen, wohin man sie führte.

Die Gruppe formierte sich zu einer lockeren Linie. Keram und Muti übernahmen die Führung. Sie wurden von den vier stämmigen Soldaten gefolgt, von denen zwei die Hände frei hatten, um die Waffen zu führen und die anderen den Tribut trugen. Juna, die nichts anderes bei sich hatte als den Speer, mit dem sie gekommen war, näherte sich einem der Soldaten und erwartete, dass ein Teil der Last auf sie übertragen wurde.

Keram pfiff sie zurück. »Das ist ihre Arbeit.«

Juna zuckte die Achseln. »In Cahls Stadt wäre es meine Arbeit.«

»Ich bin aber nicht Cahl. Du musst dich unsren Sitten und Gebräuchen anpassen, Mädchen.«

»Ich wurde als Kind aus…«

»Ich erinnere mich daran, was du mir gesagt hast«, sagte Keram und wölbte belustigt die Augenbrauen. »Ich weiß nicht, ob ich auch nur ein Wort davon glauben soll. Aber hör mir nun zu. In Cata Huuk ist das Wort des Potus Gesetz. Und ich bin der Sohn des Potus. Du wirst mir gehorchen. Du wirst meine Entscheidungen nicht in Frage stellen. Hast du verstanden?«

Junas Leute waren gleichberechtigt wie die meisten Jäger und Sammler, und deshalb verstand sie nicht. Aber sie nickte brav.

Sie brachen auf. Die jungen Männer, die keine Last zu tragen hatten, schritten zügig aus. Juna ebenfalls, trotz der Schwangerschaft und der vier Monate, die sie mit schlechter Nahrung und harter Arbeit verbracht hatte. Doch die Wachen schnauften und beklagten sich über schmerzende Füße.

Es war eine große Erleichterung für Juna, der dreckigen Stadt entronnen zu sein und sich wieder in der freien Natur zu befinden. Es war eine große Erleichterung, zu gehen, anstatt auf einem staubigen Feld den Rücken krumm zu machen – auch wenn die Landschaft auf dem Marsch nach Osten eine immer geringere Ähnlichkeit mit dem Ort hatte, an dem sie und ihre Vorfahren immer gelebt hatten.

Sie übernachteten jedes Mal in kleinen Städten, die genau so aussahen wie Cahls Stadt. Die Soldaten vergnügten sich mit Bier und Mädchen. Keram und Muti hielten sich zurück und verbrachten die Nächte jedes Mal in einer Hütte, wobei sie Juna einen Schlafplatz in einer Ecke zuwiesen.

Keiner von beiden rührte sie an. Vielleicht lag es an der Schwangerschaft. Vielleicht trauten sie sich auch nur nicht. Sie war froh, von Cahls brutaler ›Zuwendung‹ erlöst zu sein und legte im Moment keinen Wert auf körperliche Nähe. Andererseits bedauerte sie es unter dem praktischen Gesichtspunkt auch. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie dieser Ort, dieses Cata Huuk aussah. Aber sie sagte sich, dass ihre Überlebenschancen am besten wären, wenn sie sich an Keram oder Muti hielt.

Also sorgte sie dafür, dass sie ihnen jeden Morgen und Abend, wenn sie das Kleid auszog, ihren Körper zeigte. Und sie wusste auch, dass Kerams Blick auf sie fiel, auch wenn er glaubte, dass sie es nicht bemerkte.

Je weiter sie kamen, desto dichter war die Landschaft mit Feldern und Dörfern durchsetzt. Es wuchsen hier keine Bäume, aber es gab Baumstümpfe und Flächen brandgerodeten Waldes. Offenes Land gab es hier überhaupt keins, außer wertlosen Steinwüsten und Marschen. Es gab nur Felder und Landstücke, die offensichtlich einmal bestellt worden waren, aber nun ausgelaugt waren und brach lagen. Bald vermochte sie kaum noch einen Schritt zu tun, ohne in die Fußstapfen eines ›Vorgängers‹ zu treten. Das Ausmaß, in dem diese schwärmenden Leute die Welt verändert hatten, erschreckte sie.

Und schließlich erreichten sie Cata Huuk selbst.

Das Erste, was Juna sah, war eine Mauer. Sie bestand aus Lehmziegeln und Stroh und war ein großer kreisförmiger Wall, der so hoch war wie drei Leute, die auf den Schultern des jeweils anderen standen. Und sie war mit angespitzten Pfählen gespickt. Der Wall war von einem Ring aus schäbigen Hütten und Verschlägen aus Lehm und Ästen umgeben. Die Mauer war so lang, dass sie das Land zu teilen schien.

Ein breiter, ausgetretener Pfad führte zum Wall hinauf. Diesem Pfad folgte Kerams Gruppe nun. Bei ihrer Annäherung quollen Leute wie aufgescheuchte Ameisen aus den Hütten. Sie stießen Schreie aus, zupften an Kerams Kleidung und boten ihnen Fleisch, Früchte und Süßigkeiten dar sowie Figuren aus Holz und Stein. Juna zuckte zurück. Doch Keram versicherte ihr, dass sie keine Angst haben müsse. Diese Leute wollten nur etwas verkaufen; dies sei nämlich ein Markt.

Ein großes Holztor war in die Mauer eingelassen. Keram stieß einen lauten Ruf aus. Ein Mann auf der Mauerkrone winkte, und das Tor wurde geöffnet. Die Gruppe marschierte hindurch.

Juna tauchte in eine fremde Welt ein. Sie zitterte.

Die Hütten – die stachen ihr sofort ins Auge. Es waren viele, viele Dutzend, die über die weite Fläche innerhalb der Mauern verstreut waren. Die meisten waren nicht besser als Cahls Behausung, unförmige Bauten aus Lehm und Holz. In Richtung Stadtmitte gab es aber ein paar, die geradezu repräsentativ wirkten: windschiefe Bauten mit zwei oder drei Stockwerken, deren Fassaden mit geflochtenen gelben Gräsern verziert waren, die in der Sonne leuchteten. Die Ansammlungen der Hütten wurden von Straßen durchschnitten, die wie ein Spinnennetz anmuteten. Eine graue Rauchwolke hing über der Stadt. Abwässer liefen durch Kanäle in der Straßenmitte, und Fliegen summten in Wolken über dem träge rinnenden Unrat.

Und überall schwärmten Leute: Die Männer traten in Gruppen auf, die Kinder lärmten und rannten umher, und die Frauen trugen schwere Lasten auf Kopf und Rücken. Es gab auch Tiere; sie waren genauso zahlreich waren wie die Menschen. Der Lärm war enorm, eine richtige Kakophonie. Die Gerüche – nach Kot, Urin, Tieren, Rauch und dem fettigen Gestank gebratenen Fleischs – waren überwältigend.

Dies war Cata Huuk. Mit zehntausend Menschen, die in den Mauern sich drängten, war es eine der ersten Städte der Erde. Nicht einmal Keer hatte sie darauf vorzubereiten vermocht.

Keram lächelte sie an. »Geht es dir gut?«

»Was für ein trickreicher Gott hat nur diesen wuselnden Haufen erschaffen?«

»Kein Gott. Menschen, Juna. Viele, viele Menschen. Das musst du dir merken. Egal, wie fremdartig das alles dir auch erscheint, es ist das Werk von Menschen wie du und ich. Außerdem«, sagte er mit gespielter Naivität, »bist du doch hier geboren. Hier gehörst du hin.«

»Hier bin ich geboren«, sagte sie, jedoch ohne allzu große Überzeugungskraft. »Aber ich fürchte mich trotzdem. Ich kann mir nicht helfen.«

»Ich bin bei dir«, murmelte er.

Mit kühler Überlegung schob sie die Hand in die seine. Dabei trafen sich ihr und Mutis Blick; er lächelte wissend.

Sie gingen eine radiale Straße auf die Gebäude in der Stadtmitte zu. Nun war Juna wirklich baff. Diese Bauwerke mit ihren drei Stockwerken dräuten wie Riesen über dem Rest der Stadt. Die Bauten waren in einem lockeren Geviert um einen zentralen Hof angelegt, der dicht mit Gras und Blumen bewachsen war. Mit Speeren bewaffnete Männer standen an jedem Eingang und schauten argwöhnisch. Frauen gingen mit Wasserkrügen durchs Gras und benetzten es.

Muti grinste Juna an. »Sie guckt schon wieder. Was gibt es denn diesmal?«

»Das Gras. Wieso bewerfen sie es mit Wasser?« Sie rang nach Worten. »Regen fällt. Gras wächst.«

Muti schüttelte den Kopf. »Nicht regelmäßig genug für den Potus. Ich glaube, er würde am liebsten selbst das Wetter machen.«

Sie betraten das größte Gebäude. Juna war noch nie in einem so großen umbauten Raum gewesen. Treppen und Leitern verbanden die halbgeschossartigen Flure miteinander. Trotz des Tageslichts brannten qualmende Fackeln an den Wänden. Sie warfen Schatten und tauchten den Palast in ein gelbes Licht. Mit glänzenden Gewändern bekleidete Leute bewegten sich auf allen Stockwerken; ein paar winkten Keram und Muti beim Vorbeigehen zu. Es war wie der Blick ins Geäst eines großen Baums. Selbst der Boden war außergewöhnlich: Er bestand aus glänzendem Holz, das so glatt gehobelt und mit Öl oder Fett imprägniert war, dass sie fast darauf ausglitt.

Sie betraten das Innerste des Gebäudes. Hier war eine Plattform, die sich schulterhoch über den Fußboden erhob. Und auf der Plattform saß auf einem kunstvoll verzierten Holzblock der dickste Mann, den Juna je gesehen hatte. Er hatte größere Titten als eine Amme. Der von Öl glänzende Bauch war kugelrund. Und der kahle Kopf sah aus wie eine übergroße Billardkugel. Er hatte keinen Bart und nicht einmal Augenbrauen. Er hatte einen freien Oberkörper, trug aber eine sorgfältig vernähte Hose.

Diese feiste Kreatur war der Potus, der Mächtige. Er war einer der ersten Könige der Menschheit. Er sprach gerade zu einem dürren Männchen neben sich, das mit großer Konzentration Knotenschnüre abtastete.

Keram und Muti warteten geduldig, bis Potus ihnen seine Aufmerksamkeit widmete.

»Was machen sie denn mit der Schnur?«, wisperte Juna.

»Das sind Bücher«, flüstert Muti. »Sie enthalten… hm… die Arbeitsleistung der Stadt und der Farmen. Die Anzahl der Schafe und Ziegen. Der erwartete Ertrag der nächsten Ernte. Die Anzahl der neugeborenen Kinder und der Toten…« Er lächelte angesichts der großen Augen, die sie machte. »Unsere Geschichten sind in diesen Schnüren enthalten, Juna. So läuft das in Cata Huuk.«

Keram knuffte ihn. Der Mann mit der Knotenschnur hatte sich zurückgezogen, und der massige Schädel des Potus war zu ihnen herübergeschwenkt. Keram und Muti verneigten sich unverzüglich. Juna blieb stehen, bis Keram sie zu sich herunterzog.

»Sie soll ruhig stehen bleiben«, sagte der Potus. Seine Stimme war wie das Knirschen von Flusskieseln. Er schaute Juna an und winkte sie zu sich.

Zögernd trat Juna vor.

Er beugte sich über sie. Sie roch Tieröl auf seiner Haut. Dann zog er sie so fest an den Haaren, dass sie aufschrie. »Wo habt ihr die her?«

Keram gab ihm eine kurze Schilderung der Ereignisse in Keer. »Potus, sie sagt, dass sie hier geboren sei – hier in Cata Huuk. Sie sagt, dass sie als Baby entführt worden sei. Und…«

»Zieh dich aus«, herrschte der Potus Juna an.

Sie funkelte ihn an, angewidert von seinem Geruch und verweigerte den Befehl. Doch Muti riss ihr hastig das lederne Kleid vom Leib, sodass sie nackt vor ihm stand.

Der Potus nickte, als begutachtete er eine Jagdbeute. »Gute Brüste. Guter Wuchs, gute Figur – und ein Junges im Bauch, wie ich sehe. Glaubst du ihr, Keram? Mir ist noch nie zu Ohren gekommen, dass ein solches Kind entführt worden sein soll… wann, vor fünfzehn, sechzehn Jahren?«

»Mir auch nicht«, sagte Keram.

»Man sagt, die Wilden jenseits der Felder hätten diese Gestalt. Sie seien groß und wirkten sehr gesund, trotz ihrer abscheulichen Lebensweise.«

»Falls sie eine Wilde ist, ist sie aber eine schlaue Wilde«, sagte Keram bedächtig. »Ich sagte mir, ihre Geschichte würde Euch erheitern.«

»Es ist die Wahrheit!«, sagte Juna.

Der Potus stieß ein bellendes Lachen aus. »Sie spricht sogar.«

»Sie spricht gut. Sie ist klug, Herr, und…«

»Tanz für mich, Mädchen.« Als Juna ihn nur wortlos und finster anschaute, sagte der Potus mit metallischer Härte: »Tanz für mich, oder ich werde dich sofort von hier wegbringen lassen.«

Juna begriff kaum, was hier überhaupt vor sich ging. Sie wusste jedoch, dass ihr Leben davon abhing, wie sie sich nun verhielt.

Also tanzte sie. Sie erinnerte sich an die Tänze, die sie und ihre Schwester Sion als Kinder aufgeführt hatten und an Tänze, die vom Schamanen initiiert worden waren und an denen sie als junge Erwachsene teilgenommen hatte.

Nach einer Weile grinste der Potus. Und dann klatschten er, Keram und Muti im Rhythmus ihrer nackten Füße, die auf den polierten Holzboden patschten.

Nackt und in einer anderen Welt gestrandet tanzte sie bis zur Erschöpfung.

Von Anfang an war es Juna ganz klar, dass, wenn sie gesund bleiben, gut ernährt werden und von der Geißel endloser, monotoner Knochenarbeit verschont werden wollte, sie sich nach Möglichkeit der Gunst von Potus erfreuen musste.

Also machte sie sich so interessant wie irgend möglich. Sie kramte in ihren Erinnerungen nach Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bei ihren Leuten der Brauch gewesen waren, mit denen sie bei diesen Bienenstock-Bewohnern aber Eindruck zu schinden vermochte. Sie organisierte Langstreckenläufe, die sie – obwohl sie hochschwanger war – mit verblüffender Leichtigkeit gewann. Sie fertigte Speerschleudern an und stellte ihr Geschick mit dem Wurf auf Ziele unter Beweis, die so klein und entfernt waren, dass die meisten Höflinge des Potus sie nicht einmal zu sehen vermochten. Dann fertigte sie aus Steinen, Holz und Muscheln ohne Werkzeug Klingen, Skulpturen und Reliefs. Damit verzauberte und erstaunte sie diese Leute, die sich schon so weit von den natürlichen Lebensgrundlagen entfernt hatten.

Und dann wurde ihr Kind geboren. Es war ein gesunder Junge, der irgendwann vielleicht Tori, seinem Vater ähneln würde. Schon im frühen Kindesalter unterwies sie ihn im Laufen, Tanzen und Speerwerfen.

Und als sie schließlich Keram in ihr Bett lockte, als er ihr die Lügen verzieh, mit denen sie ihn veranlasst hatte, sie hierher zu bringen und als sie ihm nach einem Jahr ein Kind gebar, hatte sie das Gefühl, dass ihr Platz in der Mitte dieses Menschen-Nests sicher sei.

Und was die Stadt betraf, so brauchte Juna nicht lang, um hinter die Kulissen dieses überfüllten Bienenstocks zu schauen.

Dies war eine Klassengesellschaft mit einer starren Hierarchie und absolutistischen Merkmalen. Die Masse der hier lebenden Menschen musste Frondienste leisten, um den Potus, seine Frauen, Söhne, Töchter, Verwandte und seinen ganzen Hofstaat zu ernähren – und dazu die Priesterkaste, das geheimnisvolle Netzwerk schamanenartiger Mystiker, die ein noch feudaleres Leben zu führen schienen als der Potus selbst.

Das hatte aber so kommen müssen. Mit der Kultivierung der Pflanzen war das Land viel produktiver geworden. Die natürlichen Regulative, die das Wachstum der Populationen begrenzt hatten, waren mit einem Mal außer Kraft gesetzt worden. Die Zahl der Menschen explodierte förmlich.

Plötzlich vermehrten die Menschen sich nicht mehr wie Primaten. Sie vermehrten sich wie Bakterien.

Die verdichteten Populationen bildeten eine neue Art von Gemeinschaften: Es entstanden Bevölkerungszentren wie Dörfer und Städte, die durch einen steten Fluss von Lebensmitteln und Rohstoffen vom Land versorgt wurden.

Nie zuvor waren die Menschen in solchen Größenordnungen aufgetreten und hatten ein derart komplexes Beziehungs-Geflecht ausgebildet. Und in den Städten etablierte sich zwangsläufig eine neue Form der sozialen Organisation. In Gemeinschaften wie der, welcher Juna entstammte, war die Entscheidungsfindung gemeinschaftlich und die Führung informell gewesen, weil jeder jeden kannte. Verwandtschaftliche Beziehungen hatten in den meisten Fällen genügt, um Konflikte beizulegen. In größeren Gruppen übernahmen Kaziken die Kontrolle, um das ›öffentliche Leben‹ zu regeln.

Doch nun war es nicht mehr möglich, dass alle sich an allen Entscheidungen beteiligten. Es hatte keinen Sinn mehr, dass jede Familie ihre eigene Nahrung anbaute und sammelte, dass sie ihre eigenen Werkzeuge und Bekleidung anfertigte und auf eigene Rechnung mit den Nachbarn Handel trieb. Und jeden Tag mussten die Menschen damit rechnen, Fremden zu begegnen und sich mit ihnen arrangieren zu müssen, anstatt sie wie in den alten Zeiten zu verjagen oder gleich umzubringen. Die alten verwandtschaftlichen Loyalitäten genügten nicht mehr: Es bedurfte einer Art Polizeigewalt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Schnell entstanden zentrale Kontrollinstanzen. Macht und Ressourcen konzentrierten sich zunehmend in den Händen einer Elite. Fürsten und Könige etablierten sich und beanspruchten ein Monopol auf Entscheidungen, Information und Macht. Eine neue Art der Verteilungswirtschaft bildete sich heraus. Es entstanden politische Organisationen, ein schneller technischer Fortschritt kam in Gang, und der Grundstein für Schrift, Bürokratie und Steuerwesen wurde gelegt: Die Mittel, derer die Menschen sich bedienten, erlebten eine Explosion der funktionalen Differenzierung.

Und zum ersten Mal in der Geschichte der Hominiden gab es Leute, die für ihre Nahrung nicht arbeiten mussten.

Seit dreißigtausend Jahren hatte es nun schon Religion, Kunst, Musik, mündliche Überlieferung und Kriege gegeben. Doch nun vermochten die neuen Gesellschaften sich Spezialisten zu leisten: Leute, die nichts anderes taten als zu malen oder Melodien für Flöten aus Knochen und Holz zu komponieren oder über das Wesen eines Gottes Spekulationen anzustellen, der einer unwürdigen Menschheit das Geschenk des Feuers und des Ackerbaus vermacht hatte. Aus dieser Tradition sollte sich schließlich ein Großteil der Schönheit und Größe des menschlichen Potenzials manifestieren. Zugleich würde sie aber auch Armeen berufsmäßiger Mörder aus Leidenschaft hervorbringen, von denen Kerams Soldaten nur die Vorhut waren.

Und fast überall und von Anfang an wurden die neuen Gemeinschaften von Männern dominiert: Männer konkurrierten untereinander um die Macht, in Gesellschaften, in denen Frauen mehr oder weniger als eine Ressource betrachtet wurden. In den Zeiten der Jäger und Sammler hatten die Menschen sich für kurze Zeit aus dem Gefängnis der männlichen Primaten-Hierarchien befreit. Gleichheit und gegenseitiger Respekt waren kein Luxus gewesen: In den Gemeinschaften der Jäger und Sammler existierte eine strukturelle Gleichberechtigung, weil es nämlich im offensichtlichen Interesse aller lag, Nahrung und Wissen zu teilen. Doch diese Zeiten neigten sich nun dem Ende zu. Auf der Suche nach neuen Organisationsformen für ihre anschwellende Zahl fielen die Menschen in die ebenso bequemen wie geistlosen Muster der Vergangenheit zurück.

Die städtischen Verdichtungen waren eine völlig neue Lebensweise. Die Hominiden im Besonderen und die Primaten im Allgemeinen hatten noch nie auf so dichten Haufen zusammengelebt. Zugleich war das aber auch ein Rückfall in die graue Vorzeit. Die neuen Städte hatten nämlich weniger Ähnlichkeit mit den Gemeinschaften der Jäger und Sammler als vielmehr mit den Schimpansen-Kolonien im Urwald.

Junas vermeintliche Sicherheit währte ganze vier Jahre.

In dunkler Nacht rüttelte Keram sie wach. »Komm. Hol die Kinder. Wir müssen von hier verschwinden.«

Juna setzte sich verschlafen auf. Am Abend zuvor hatten sie eine Party gegeben, und Juna hatte mehr getrunken, als ihr zuträglich war. Nur Gesellschaften, die Ackerbau betrieben, vermochten alkoholische Getränke herzustellen, denn sie benötigten hierzu Getreide – einer der größten Vorteile der Bauern gegenüber den Jägern, die vom Bier abhängig geworden waren, ohne indes in der Lage zu sein, selbst welches zu brauen. Was Juna betraf, so war das ein Luxus, an den sie sich erst noch gewöhnen musste.

Sie schaute sich um, versuchte richtig wach zu werden und einen klaren Kopf zu bekommen. Im Raum war es dunkel, doch es fiel Licht durchs Fenster. Aber kein Tageslicht, sondern Feuerschein.

Und nun hörte sie auch das Geschrei.

Sie stieg aus dem Bett und streifte sich ein Hemd über. Dann ging sie ins Nebenzimmer und weckte die Kinder. Die beiden Jungen quengelten wegen dieser Ruhestörung und schliefen dann wieder in ihren Armen ein. Sie ging zu Keram zurück, der gerade Waffen und Wertsachen in einen Sack stopfte. »Ich bin fertig«, sagte sie.

Er schaute sie an, wie sie mit den Kindern im Arm vor ihm stand. Er lief zu ihr und küsste sie fest auf den Mund. »Ich liebe dich, bei den Eiern des Potus. Falls er überhaupt noch welche hat.«

Sie wunderte sich über diesen Gedankensprunn. »Was soll er noch haben?«

»Das ist eine schlechte Nacht für Cata Huuk«, sagte er grimmig. »Und für uns, wenn wir Pech haben.« Er drehte sich um, schulterte den Sack und ging zur Tür. »Komm. Wir werden durch den Hinterausgang verschwinden!«

Sie schlichen sich aus dem Haus, und nun sah sie auch die Brandstelle. Der große gelbe Palast des Potus brannte lichterloh; die Flammen schlugen hoch, und Funken stoben. Juna hörte Schreie aus dem Innern des Palasts und sah umherirrende Leute.

Die Straßen waren voller Menschen. Die ausgemergelten und schmutzigen Gestalten waren mit zerrissenen Tierhäuten und Lumpen aus Pflanzenfasern bekleidet und schwärmten nun aus wie hungrige Ratten. Für Juna hatte das kakophonische Stimmengewirr des Mobs nichts Menschliches mehr: Es glich eher dem Krachen eines Donners oder dem Grollen eines Gewitters, das jedweder menschlicher Kontrolle entzogen war. Sie packte die Kinder und versuchte die Angst zu unterdrücken. »Es ist der Hunger«, sagte sie.

»Ja.«

Hungersnot: Das war auch so ein Wort, das Juna hatte lernen müssen. Der größte Teil der Weizenernte der Farmen in der Gegend war durch eine Krankheit vernichtet worden, die niemand kannte und zu heilen vermochte. Wegen der ausgefallenen Ernte war eine Hungersnot ausgebrochen. Der Aufstand hatte sich mit der Ermordung der Tribut-Sammler angebahnt, die das eintreiben wollten, was des Potus war. Und nun war es zum offenen Aufstand gekommen. Junas Leute lebten von vielerlei Wildpflanzen, die, anders als eine monokulturelle Getreidesorte, nicht allesamt vernichtet wurden, wenn eine Seuche ausbrach. Hungersnot: auch eine Kehrseite der neuen Lebensweise.

Die Familie schlich sich gesenkten Hauptes durch enge Gassen zum hinteren Tor.

»Es gibt eine neue Siedlung westlich von hier, an der Küste«, sagte Keram. »Das Ackerland ist gut, und das Meer enthält Nahrung in Hülle und Fülle. Es ist eine Reise von vielen Tagen, aber…«

»Wir werden es schaffen«, sagte sie entschlossen.

Er nickte knapp. »Wir müssen es schaffen.«

Schließlich erreichten sie das offene Tor, wo Muti auf sie wartete. Die drei verschwanden mit den Kindern im Arm in der Nacht.

Auf ihrer Wanderung nach Westen kamen sie überall durch ein Land, das von Bauern und Städtebauern umgewandelt worden war. Selbst das Land, das Juna nach der Flucht aus der Heimat einst mit Cahl durchquert hatte, hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert – so schnell war die Expansion vorangeschritten.

Diese Expansion war dadurch bedingt, dass das Ackerland alsbald knapp wurde. Die Kinder der Bauern wollten jeder ein eigenes Stück Land haben, um es zu bewirtschaften, wie ihre Eltern es getan hatten. Das war aber kein Problem. Das Wissen der Bauern war nämlich nicht auf ein bestimmtes Stück Land beschränkt, wie es bei den Jägern und Sammlern der Fall gewesen war. Sie befleißigten sich vielmehr einer systematischen Denkweise: Sie wussten, wie sie das Land verändern mussten, damit es ihren Bedürfnissen entsprach – und das galt für jedes Land. Sie mussten die jeweils herrschenden Bedingungen nicht als gegeben hinnehmen. Für Bauern war Kolonisierung einfach.

Und so nahm von den ersten primitiven Farmen im Osten Anatoliens die große Expansion ihren Lauf. Es war eine Art Krieg, der gegen Mutter Erde selbst geführt wurde, während sie den Bedürfnissen der zunehmenden Anzahl menschlicher hungriger Mäuler angepasst wurde. Diese Expansion ging mit erstaunlicher Geschwindigkeit vonstatten und sollte bald über das Verbreitungsgebiet des Homo erectus und früherer Arten des Menschen hinausschwappen.

Jedoch griff diese Expansion nicht etwa in ein Vakuum aus, sondern in ein Land, das von den alten Gemeinschaften der Jäger und Sammler besetzt war.

Eine ›friedliche Koexistenz‹ war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es war dies ein Konflikt zwischen zwei diametral entgegen gesetzten Einstellungen gegenüber dem Land. Die Jäger betrachteten das Land als einen Ort, in dem sie verwurzelt waren – wie die Bäume, die dort wuchsen. Für die Bauern hingegen war es eine Ressource, die man besaß, kaufte, verkaufte und in Parzellen unterteilte: Land hatte in erster Linie einen wirtschaftlichen und keinen ideellen Wert. Der Ausgang stand von vornherein fest. Die Jäger und Sammler waren zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen: Zehn mangelernährte, schwächliche Bauern vermochten immer einen gesunden Jäger zu überwältigen.

Nach drei Tagen erreichten sie eine Elendssiedlung, eine Ansammlung von Hütten und Verschlägen. Juna ließ ebenso angespannt wie gleichgültig den Blick schweifen. »Was wollen wir überhaupt hier? Wir sollten noch ein Stück gehen, ehe es dunkel wird.«

Keram legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ich sagte mir, dass du vielleicht hier vorbeischauen wolltest. Juna, erkennst du diesen Ort denn nicht mehr?«

»Das solltest du aber«, sagte eine seltsam vertraute Frauenstimme.

Juna drehte sich um. Eine Frau humpelte auf sie zu; sie hatte sich ein altes Stück Leder um den Kopf gewickelt. Junas Gedanken überschlugen sich. Die Worte hatten seltsam geklungen – natürlich, weil sie in Junas Muttersprache ertönt waren, einer Sprache, die sie an dem Tag zum letzen Mal gehört hatte, als sie Cahl aus dem Dorf gefolgt war.

Nun erkannte Juna auch das Gesicht der Frau. Es war Sion, ihre ältere Schwester. Eine namenlose Sehnsucht überkam sie. »Ach, Sion…« Sie ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu.

Doch Sion wich zurück. »Nein! Bleib weg.« Sie verzog das Gesicht. »Die Krankheit hat mich nicht umgebracht, wie sie so viele andere umgebracht hat, aber ich trage sie vielleicht noch immer in mir.«

»Sion… Wer…?«

»Wer gestorben ist?« Sion stieß ein bellendes, bitteres Lachen aus. »Du solltest lieber fragen, wer überlebt hat.«

Juna schaute sich um. »Und hier haben wir wirklich einmal gelebt? Es ist nichts mehr so wie früher.«

Sion schnaubte. »Die Männer trinken Bier und Met. Die Frauen arbeiten auf den Farmen von Keer. Niemand geht heute mehr auf die Jagd, Juna. Die Tiere sind vertrieben worden, um Platz für die Felder zu machen. Wir schlagen uns so durch. Manchmal singen wir die alten Lieder für die Farmer. Dafür geben sie uns dann eine Extraration Bier.«

»Wo ist der Schamane?«

»Schamanen sind nicht mehr erlaubt. Der letzte hat sich zu Tode gesoffen, der fette Trottel.« Sie zuckte die Achseln. »Das macht aber keinen Unterschied. Der Schamane könnte uns sowieso nicht mehr helfen. Die Schamanen wissen nämlich nicht, wie die Weizenernte ausfällt, sondern die Farmer und ihre Herren aus der Stadt mit ihren Schnüren und den schmalen Augen, mit denen sie in den Himmel schauen…«

Bei der Krankheit hatte es sich um Masern gehandelt.

Die Menschheit war natürlich auch in der Vergangenheit immer wieder von Krankheiten heimgesucht worden, von denen Lepra, Pocken und Gelbfieber zu den ältesten Seuchen zählten.

Viele Krankheiten wurden durch Bakterien hervorgerufen, die sich im Erdboden oder in Tierpopulationen tummelten – so wurde Gelbfieber beispielsweise von afrikanischen Affen übertragen. Jedoch hatten die Menschen Zeit gehabt – im evolutionären Maßstab –, sich gegen die meisten Krankheiten und Parasiten zu immunisieren.

Die Entstehung der neuen dichten Gemeinschaften hatte aber den Ausbruch neuer Krankheiten – Volkskrankheiten – wie Masern, Röteln, Windpocken und Grippe begünstigt. Im Gegensatz zu den älteren Krankheiten vermochten die für die neuen Seuchen verantwortlichen Mikroben nur im Körper lebendiger Menschen zu überleben. Von solchen Krankheiten wurden die Menschen betroffen, nachdem sie sich zu hinreichend dichten und mobilen Gruppen vereinigt hatten, die eine Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten.

Wenn die Mikroben Gruppen infizierten, dann mussten sie aber auch von Gruppen stammen. Und das stimmte auch: Es waren Gruppen von Tieren, die geselligen Herdentiere, in deren unmittelbarer Nähe die Menschen nun lebten – Tiere, in denen die Krankheiten schon lange virulent waren. Tuberkulose, Masern und Windpocken sprangen von Rindern auf Menschen über, Grippe von Schweinen, Malaria von Vögeln. Und mit der Errichtung von Kornspeichern erreichten die Überträger von Krankheiten – Ratten und Mäuse, Flöhe und Wanzen – eine ungeahnte Populationsdichte. Immerhin entwickelten die Überlebenden eine gewisse Widerstandsfähigkeit, obwohl diese Mechanismen unvollkommen waren und Nebenwirkungen hatten. Die Mechanismen der Anpassung arbeiteten im Vergleich zu den rasanten Veränderungen der menschlichen Kultur zu langsam, um diese Mängel zu beseitigen.

Die Jäger und Sammler an den Grenzen der expandierenden Farmen hatten indes gar keine Widerstandskräfte. Nicht nur dass sie das Land an die anstürmenden Ackerbauern verloren, sie verloren auch das Leben.

Dieser Übergang von der alten zur neuen Lebensweise war ein entscheidender Moment in der Menschheitsgeschichte. Es wurde eine kollektive, unbewusste Entscheidung getroffen zwischen der Begrenzung des Bevölkerungswachstums, um sich mit den vorhandenen Ressourcen zu begnügen und dem Versuch einer Erhöhung der Nahrungsproduktion, um eine wachsende Population zu ernähren. Und nachdem diese Entscheidung erst einmal gefallen war, musste die Expansion der Bauern sich zwangsläufig beschleunigen. Deshalb vermochten die Menschen, die an der alten Lebensweise festhielten, nur noch in Nischen zu überleben, in den Wüsten, im Gebirge und im tiefsten Urwald. An Orten, die die Bauern nicht zu kultivieren imstande waren.

Das sollte auch in Afrika geschehen, wo mit Waffen aus Eisen ausgerüstete Bantu-Bauern aus der westlichen Sahara ausschwärmten und Stämme wie die Pygmäen und die Khoisan verdrängten: Vorfahren von Joan Useb, die schließlich den ganzen Weg bis zur afrikanischen Ostküste zurücklegten. Es geschah auch in China, wo Bauern aus dem Norden, durch die offene Geographie Chinas unterstützt, gen Süden zogen und einen Großteil des tropischen Südostasiens neu besiedelten und kultivierten. Dabei trieben sie die alteingesessenen Populationen in sekundären Invasionen vor sich her, die nach Thailand und Burma hinüberschwappten.

Und der weite, von Osten nach Westen sich erstreckende Raum Eurasiens lud auch zur Expansion ein. Bauern rückten mit Leichtigkeit entlang der Breitengrade vor und nahmen Gebiete in Besitz, deren Klima und Tageslänge der alten Heimat glichen und die somit für ihre Getreidesorten und Tiere geeignet waren. Mit den Rindern und Ziegen, den Schweinen und Schafen, dem überaus ergiebigen Weizen und der Gerste sowie der anschwellenden Bevölkerung sollten die Nachfahren der Bauern von Cata Huuk ein mächtiges Reich auf der Grundlage von Weizen und Reis errichten. Die ägyptischen Pyramiden wurden von Arbeitern errichtet, die mit Getreideerzeugnissen ernährt wurden, die ursprünglich aus Südostasien stammten. Die Bauern brachten auch ihre indoeuropäische Sprache mit, die im weiteren Verlauf sich verzweigte, veränderte und ausbreitete und aus der später Latein, Deutsch, Sanskrit, Hindi, Russisch, Walisisch, Englisch, Spanisch, Französisch und Gälisch hervorgingen. Schließlich hatten sie ein breites kreuzförmiges Gebiet kolonisiert, das sich von der Atlantikküste nach Zentralasien und von Skandinavien bis nach Nordafrika erstreckte. Eines Tages sollten sie sogar in Booten aus Holz und Eisen die Meere überqueren.

Auf dieser riesigen Fläche kultivierten Lands erblühten Städte, und Reiche entstanden und verfielen. Und überall, wohin die Bauern kamen, schleppten sie Krankheiten ein wie eine Schaumkrone auf einer Flutwelle aus Sprache, Kultur und Krieg.

»Schwester, komm mit uns«, sagte Juna impulsiv.

Sion warf einen Blick auf Keram und Muti und lachte. »Das wird nicht möglich sein.« Mit einem Ausdruck der Seelenqual schaute sie auf Junas Kinder, die in den Armen von Muti und Keram schliefen. »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie dann und eilte zu den Hütten zurück.

Juna wollte ihr auch ein ›Auf Wiedersehen‹ nachrufen. Aber das wären dann die letzten Worte, die ich in meiner Sprache spreche, sagte sie sich. Denn ich werde nie mehr hierher zurückkehren. Nie wieder.

Also wandte sie sich wortlos ab und setzte mit ihren Kindern die Wanderung Richtung Westen fort, zur neuen Stadt an der Küste.

KAPITEL 15 Das licht erlischt Rom, 482 nach Christus

I

In Rom schien die Sonne, und in der italienischen Luft schienen Menschen, die das mildere Klima Galliens gewohnt waren, förmlich zu ertrinken. Die Stadt war mit intensiven Gerüchen geschwängert – nach Rauch, nach Speisen und vor allem nach Abwässern.

Als Honorius ihn ins Forum führte, versuchte Athalarich sich nicht anmerken zu lassen, wie überwältigt er war.

Der hagere alte, in eine fadenscheinige Toga gehüllte Honorius ging stolpernd weiter. »Ich hätte nicht erwartet, dass die Sonne so stark ist. Das Licht muss meine Vorfahren geformt und mit Kraft erfüllt haben… Oh! Wie ich mich danach gesehnt habe, diesen Ort zu sehen. Wir sind hier auf der Via Sacra, dem Heiligen Weg. Da ist der Tempel von Castor und Pollux, und dort der Tempel des Göttlichen Cäsar mit dem Augustusbogen daneben…« Er trat in den Schatten einer Statue, eines Reiterstandbilds aus Bronze, dessen Sockel Athalarich allein schon um das Dutzendfache überragte. Er lehnte sich gegen den Marmor. »Augustus sagte, er hätte Rom als eine Stadt aus Ziegelsteinen vorgefunden und als eine Stadt aus Marmor hinterlassen. Der weiße Marmor kommt aus Luna im Norden, und der bunte Marmor aus Nordafrika, Griechenland und Kleinasien – früher waren das nicht so exotische Orte wie heute…«

Athalarich lauschte mit ausdruckslosem Gesicht seinem Mentor.

Hier schlug das Herz Roms. Hier waren schon in der römischen Republik die Geschicke der Stadt gelenkt worden. Seitdem hatten Konsuln und Imperatoren wie Julius Cäsar und Pompeius diese alte Stätte zu ihrem Ruhm verschönert, und der Bereich hatte sich in ein Gewirr aus Tempeln, Prozessionswegen, Triumphbögen, Basilikas, Ratshallen, Rostra und Freiflächen verwandelt. Die kaiserlichen Residenzen auf dem Palatin thronten noch immer über der Stadt als Symbol unumschränkter Macht.

Doch nun waren Kaiser und Republikaner gleichermaßen von der Bühne abgetreten.

Athalarich hatte für diesen Tag seine beste Rüstung angelegt, die Gürtelschnalle aus gravierter Bronze mit feinen Punzierungen aus Silber und Gold und der goldenen Fibel mit Silberfiligran, die den Umhang geschlossen hielt. Sein Barbaren-Schmuck, über den die Römer sich lustig zu machen pflegten, glänzte selbst hier, im antiken Herzen ihrer Hauptstadt, im grellen Licht der italienischen Sonne. Und damit er nicht vergaß, woher er kam, trug Athalarich die Marke aus gehämmertem Zinn um den Hals, die seinen Vater einst als Sklaven ausgewiesen hatte.

Er war stolz auf sich und auf den, der er vielleicht werden würde. Und doch…

Und doch war die schiere Größe der Stadt für jemanden, der bisher nur die Dörfer Galliens kannte, erstaunlich.

Rom war vorwiegend eine Stadt aus Lehmziegeln, Holz und Bruchsteinen; die vorherrschende Farbe war das kräftige Rot der Dachziegel, mit denen die Mietskasernen gedeckt waren. Die Bevölkerung war schon vor langer Zeit über die Befestigungen der Altstadt hinausgeschwappt und sogar über die weit gezogenen Mauern, die vor zwei Jahrhunderten zum Schutz vor der drohenden Barbaren-Invasion errichtet worden waren. Es hieß, dass bis zu einer Million Menschen in dieser Stadt gelebt hätten, die über ein Imperium von hundert Millionen geherrscht hatte. Diese Zeiten waren vergangen – die niedergebrannten und verlassenen Vorstädte kündeten davon –, doch selbst in dieser Phase des Verfalls war die Stadt noch immer ein Ausbund an Gigantomanie. Es gab zwei Zirkusse, zwei Amphitheater, elf Badehäuser, sechsunddreißig Triumphbögen, fast zweitausend Paläste und tausend Brunnen und Springbrunnen, die über nicht weniger als neunzehn Aquädukte mit Tiber-Wasser gespeist wurden.

Und im Herzen dieses Meers aus roten Ziegeln und schwärmender Menschen befand sich eine große Insel aus Marmor: Marmor, der nicht nur für Säulen und Statuen verwendet wurde, sondern auch für Wandverkleidungen und sogar als Straßenpflaster.

Obwohl die weite Fläche des Forums mit Marktständen übersät war, glaubte Athalarich eine große Traurigkeit zu spüren. Heute befand die Stadt sich nicht einmal mehr unter römischer Herrschaft. Italien wurde nun von einem Skiren namens Odoaker regiert, der von aufständischen germanischen Söldnern eingesetzt worden war – und Odoaker hatte Ravenna, eine Stadt im nördlichen Marschland, als Residenz auserkoren. Rom selbst war bereits zweimal eingenommen worden.

Motiviert durch einen sublimen Sadismus, der ihn selbst verwunderte, nahm Athalarich eine Bestandsaufnahme der Schäden vor. »Schau die leeren Sockel. Die Statuen sind gestohlen worden. Die Säulen sind umgestürzt und werden auch nicht mehr aufgerichtet werden. Nun wird sogar schon der Marmor von den Tempelwänden gerissen! Rom verfällt, Honorius.«

»Natürlich verfällt Rom«, sagte Honorius schroff und trat in den Schatten des Sockels. »Natürlich verfällt die Stadt. Ich selbst verfalle auch.« Er hob die leberfleckige Hand. »Und du auch, junger Athalarich, trotz deiner Überheblichkeit. Und doch bin ich noch stark. Es gibt mich noch, nicht wahr?«

»Ja, es gibt dich noch«, sagte Athalarich gemäßigter. »Und Rom gibt es auch noch.«

»Glaubst du, dass die Natur vergeht, Athalarich? Dass alle Lebensformen mit jeder Generation schwächer werden?« Honorius schüttelte den Kopf. »Gewiss waren nur Männer mit Kühnheit und Wagemut imstande, diese mächtige Stadt zu errichten, Männer, die man in der zerstrittenen und zerrissenen Welt von heute nicht mehr findet – Männer, die offensichtlich und tragischerweise ausgestorben sind. Und deshalb steht es uns wohl an, uns so zu verhalten wie jene, die vor uns da waren und diesen Ort erbaut haben – und nicht wie jene, die sich anschicken, ihn zu zerstören.«

Athalarich war von diesen Worten bewegt, obwohl sie ihn subtil ausschlossen. Athalarich wusste, dass er ein guter Schüler war und dass Honorius ihn wegen seines Verstands respektierte. Athalarich hatte allen Grund, sich als Beschützer und sogar als Freund des alten Mannes zu fühlen – natürlich, denn sonst hätte er ihn nicht bei der Suche nach uralten Knochen auf seiner gefahrvollen Reise durch Europa begleitet. Zugleich war Athalarich sich aber auch bewusst, dass es Mauern in Honorius’ Herz gab, die genauso massiv und unverrückbar waren wie diese mächtigen Wände aus weißem Marmor um ihn herum.

Es waren Honorius’ Vorfahren gewesen, die diese Stadt gebaut hatten, nicht Athalarichs. Athalarich konnte sich noch so sehr anstrengen, für Honorius würde er immer der Sohn eines Sklaven – und damit ein Barbar – bleiben.

Ein Mann näherte sich ihnen. Er war in eine Toga gehüllt, die genauso gediegen war, wie Honorius’ Gewand verschlissen, doch er hatte eine dunkle, olivfarbene Haut.

Honorius stieß sich vom Sockel ab und straffte sich. Athalarich verschob den Umhang, sodass das Schwert an der Hüfte zum Vorschein kam.

Der Mann taxierte sie kühl, wobei er die Hände in einer Falte der Toga verborgen hatte. »Ich habe schon auf Euch gewartet«, sagte er in einem stark akzentuierten, aber einwandfreien Latein.

»Aber Ihr kennt uns nicht«, sagte Honorius.

Der Fremde hob die Augenbrauen und warf einen Blick auf Honorius’ staubige Toga und Athalarichs üppigen Schmuck. »Dies ist noch immer Rom, mein Herr. Reisende aus den Provinzen sind gewöhnlich leicht zu erkennen. Honorius, ich bin derjenige, den Ihr sucht. Ihr könnt mich Papak nennen.«

»Ein Sassaniden-Name. Ein berühmter Name.«

Papak lächelte. »Ihr seid gebildet.«

Athalarich musterte Papak, während dieser Honorius über die Widrigkeiten ihrer Reise befragte. Der Name an sich sagte ihm schon viel: Papak war offensichtlich ein Perser aus dem großen und mächtigen Land jenseits der Ostgrenzen des schon geschrumpften Römischen Reiches. Dennoch kleidete er sich wie ein Römer, sodass nichts auf seine Herkunft schließen ließ außer seiner Hautfarbe und dem Namen, den er trug.

Er war mit größter Wahrscheinlichkeit ein Verbrecher, sagte Athalarich sich. Von diesen Zeiten der zerfallenden Ordnung profitierten zwielichtige Figuren und kochten ihr Süppchen mit Habgier, Elend und Furcht.

Er unterbrach Papaks gefälligen Redefluss. »Verzeiht meine schlechten Manieren«, sagte er listig. »Wenn meine Kenntnisse der persischen Geschichte mich nicht trügen, war Papak ein Bandit, der dem Herrscher, dem er die Treue geschworen hatte, die Krone stahl.«

Papak wandte sich ihm zu. »Kein Bandit«, sagte er ungerührt. »Sondern ein aufständischer Priester. Und ein Mann mit Prinzipien. Papak hatte kein einfaches Leben; er musste schwierige Entscheidungen treffen und führte einen ehrenwerten Lebenswandel. Dies ist ein ehrenvoller Name, den zu tragen ich stolz bin. Möchtet Ihr den Adel unsrer Geschlechter wägen? Eure germanischen Vorväter jagten noch Schweine in den nördlichen Wäldern.«

»Meine Herren«, sagte Honorius, »vielleicht sollten wir zur Sache kommen.«

»Ja«, blaffte Athalarich. »Die Knochen, mein Herr. Wir wollten uns hier mit Eurem Skythen treffen und uns seine Gebeine von Helden anschauen.«

Honorius legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm. Athalarich spürte jedoch die Ungeduld, mit der er Papaks Antwort erwartete.

Wie Athalarich fast schon erwartet hatte, seufzte der Perser und breitete die Hände aus. »Ich habe versprochen, dass mein Skythe sich hier in Rom mit Euch treffen würde. Aber der Skythe ist ein Mann der östlichen Wüste. Weshalb die Zusammenarbeit mit ihm sich etwas schwierig gestaltet… Andererseits hat der Skythe keine Wurzeln und ist daher so nützlich.« Papak rieb sich bedauernd die fleischige Nase. »In diesen schlimmen Zeiten ist die Reise aus dem Osten nicht mehr so sicher, wie sie einmal war. Und der Skythe ist vorsichtig…«

Zu Athalarichs Ärger funktionierte der Trick.

»So ist das immer schon gewesen«, sagte Honorius verständnisvoll. »Es war immer schon leichter, mit Bauern Geschäfte zu machen. Krieg vermag man nämlich nur gegen Landbesitzer zu führen; wenn ein Geschäft abgeschlossen wird, verstehen alle die Bedeutung des Vorgangs. Nomaden stellen jedoch eine viel größere Herausforderung dar. Wie soll man auch einen Mann besiegen, der nicht einmal die Bedeutung dieses Worts kennt?«

»Wir hatten eine Abmachung«, sagte Athalarich schroff. »Wir haben einen ausführlichen Schriftwechsel mit Euch geführt, nachdem wir Euren Kuriositäten-Katalog erhalten hatten. Wir sind durch ganz Europa gereist, um diesen Mann zu treffen und haben dabei hohe Ausgaben gehabt und uns nicht unbeträchtlichen Gefahren ausgesetzt. Und ich darf Euch daran erinnern, dass wir Euch bereits die Hälfte der vereinbarten Löhnung gezahlt haben. Und nun lasst Ihr uns hängen.«

Wider Willen war Athalarich durch den verletzten Stolz beeindruckt, den Papak zur Schau stellte – die bebenden Nasenflügel, die leichte Rötung der Wangen. »Mein Ruf eilt mir auf dem ganzen Kontinent voraus. Selbst in diesen schwierigen Zeiten gibt es viele Liebhaber der Gebeine der Bestien und Helden der Vergangenheit – so wie Ihr, werter Honorius. Dies hat im alten Reich eine tausendjährige Tradition. Wenn man mich nun des Betrugs überführte…«

Honorius stieß ein beschwichtigendes Schnaufen aus. »Athalarich, bitte. Ich bin sicher, unser neuer Freund wollte uns nicht betrügen.«

»Es nimmt mich nur wunder«, sagte Athalarich schwer, »dass Eure Zusagen sich wie Frühtau verflüchtigen, kaum dass wir uns begegnet sind.«

»Diesen Eindruck müsst Ihr wohl bekommen«, sagte Papak großmütig. »Der Skythe ist… ein schwieriger Mensch. Ich vermag ihn nicht einfach wie eine Amphore Wein zu liefern, so sehr ich das auch bedaure.«

»Aber?«, knurrte Athalarich.

»Ich möchte einen Kompromiss vorschlagen.«

»Siehst du, Athalarich«, sagte Honorius hoffnungsfroh. »Ich wusste doch, dass wir mit Geduld und gutem Willen zu einer Einigung kommen würden.«

»Ich befürchte, hierfür werdet Ihr noch eine Reise auf Euch nehmen müssen«, seufzte Papak.

»Und die Spesen?«, fragte Athalarich argwöhnisch.

»Der Skythe wird Euch in einer ziemlich weit entfernten Stadt treffen: Im alten Petra.«

»Aha«, sagte Honorius, und sein Lebenslicht wurde wieder etwas schwächer.

Athalarich wusste, dass Petra in Jordanien lag, einem Land, das noch immer unter dem Schutz von Kaiser Zeno in Konstantinopel stand. In Zeiten wie diesen war Petra Welten entfernt. Athalarich fasste Honorius am Arm. »Das genügt, Herr. Er arbeitet mit Händler-Tricks. Er versucht nur, uns noch tiefer in…«

»Als ich ein Kind war«, murmelte Honorius, »betrieb mein Vater ein Geschäft vor unserer Villa. Wir verkauften Käse, Eier und andere Erzeugnisse von den Bauernhöfen, und wir kauften und verkauften Kuriositäten aus dem ganzen Imperium und darüber hinaus. Damals entwickelte ich meine Vorliebe für Antiquitäten – und meine Nase fürs Geschäft. Ich bin wohl alt, aber noch kein Narr, Athalarich! Ich bin mir sicher, dass Papak sich selbst einen Gewinn bei dieser Sache verspricht, aber ich glaube trotzdem, dass er im Kern die Wahrheit sagt.«

Athalarich verlor die Geduld. »Zuhause wartet viel Arbeit auf uns. Und nur wegen einer Hand voll vermoderter alter Knochen übers Meer zu fahren…«

Doch Honorius hatte sich schon an Papak gewandt. »Petra«, sagte er. »Ein Name, der fast so berühmt ist wie der von Rom selbst! Ich werde meinen Enkeln viele spannende Geschichten zu erzählen haben, nachdem ich nach Burdigala zurückgekehrt bin. Mein Herr, ich glaube, dass wir nun die Einzelheiten der Reise besprechen müssen.«

Ein breites Lächeln erschien in Papaks Gesicht. Athalarich schaute ihm in die Augen und versuchte seine Wahrhaftigkeit einzuschätzen.

Honorius und Athalarich brauchten viele Wochen, um nach Jordanien zu gelangen, wobei sie viel Zeit durch die Formalitäten verloren, die im östlichen Imperium erledigt werden mussten. Jeder Offizielle, dem sie über den Weg liefen, brachte ›Ausländern‹ aus den Resten des westlichen Imperiums ein großes Misstrauen entgegen – sogar Honorius, einem Mann, dessen Vater immerhin ein römischer Senator gewesen war.

Es war Athalarichs selbst auferlegte Pflicht, Honorius zu beschützen.

Der alte Mann hatte einen Sohn gehabt, der in Kindertagen ein Freund Athalarichs gewesen war. Irgendwann war Honorius mit seiner Familie und Athalarich zu einer religiösen Feier nach Tolosa im Süden Galliens gereist. Die Gruppe war von Räubern überfallen worden. Athalarich hatte nie das Gefühl der Hilflosigkeit vergessen, als er – selbst noch ein Junge – mit angesehen hatte, wie die Räuber Honorius geschlagen, seine Töchter vergewaltigt und den tapferen kleinen Jungen kaltblütig getötet hatten, als er seinen Schwestern zu Hilfe eilen wollte. Ein schöner römischer Bürger! Wo sind eure Legionen nun? Wo sind eure Adler, ihr Imperatoren?

Irgendetwas war an jenem Tag in Honorius zerbrochen. Es war, als ob er beschlossen hätte, sich von einer Welt zu verabschieden, in der die Söhne von Senatoren des Schutzes durch gotische Edle bedurften und in der Räuber das Innere eines Gebiets unsicher machten, das einmal eine römische Provinz gewesen war. Obwohl er seine staatsbürgerlichen und familiären Pflichten nie vernachlässigt hatte, hatte Honorius sich zunehmend in sein Studium der Relikte der Vergangenheit vertieft: die geheimnisvollen Knochen und Artefakte, die von einer verschwundenen Welt kündeten, bevölkert von Riesen und Ungeheuern.

Im Laufe der Zeit hatte Athalarich eine tiefe Loyalität gegenüber dem alten Honorius entwickelt. Es war, als ob er den Platz seines verlorenen Sohns eingenommen hätte, und er war erfreut, aber nicht überrascht gewesen, als sein Vater ihn als Student der Rechte in Honorius’ Obhut gegeben hatte.

Honorius’ Geschichte war aber nur eine von unzähligen ähnlichen Tragödien, die von den unerbittlich waltenden geschichtlichen Kräften verursacht wurden, die Europa umformten. Die von den Römern geschaffenen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Strukturen waren schon tausend Jahre alt. Einst hatte das römische Reich sich über Europa, Nordafrika und Asien erstreckt: Römische Soldaten hatten sich Scharmützel mit den Bewohnern Schottlands im Westen ebenso geliefert wie mit Chinesen im Osten. Das Imperium war auf Expansion angelegt, die ehrgeizigen Heerführern Triumphe und Händlern Profite beschert und als schier unerschöpfliche Quelle für Sklaven gedient hatte.

Als die Expansion jedoch an ihre Grenzen gestoßen war, vermochte man das System nicht länger aufrechtzuerhalten.

Und dann kam der Punkt des abnehmenden Grenzertrags, wo jeder denarius, der an Steuern eingenommen wurde, in die Verwaltung und das Militär gesteckt werden musste. Das Imperium wurde immer komplexer und bürokratischer – und damit immer teurer zu unterhalten –, und die Ungleichverteilung des Volksvermögens steigerte sich ins Groteske. Zur Zeit Neros im ersten Jahrhundert befand das ganze Land vom Rhein bis zum Euphrat sich im Besitz von gerade einmal zweitausend obszön reichen Einzelpersonen. Steuervermeidung wurde zum beliebten Sport der Reichen, und die steigenden Kosten für die Stützung des Imperiums wurden zunehmend den Armen aufgebürdet. Die alte Mittelklasse, einst das Rückgrat des römischen Reiches, zerbrach, ausgeblutet durch Steuern und von oben und unten ausgepresst. Das Imperium hatte sich von innen aufgezehrt.

Es war aber nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Die große indoeuropäische Expansion hatte schon viele Zivilisationen hervorgebracht, große und kleine. Große Städte waren bereits im Staub der Geschichte begraben und längst vergessen.

Obwohl der Ursprung des expandierenden Imperiums im Westen gelegen hatte, war der Osten schließlich zu seinem Mittelpunkt geworden. Ägypten erzeugte inzwischen dreimal so viel Getreide wie die reichste westliche Provinz in Afrika, und während die westlichen Grenzen landhungrigen Germanen, Hunnen und anderen eine offene Flanke boten, glich der Osten einer riesigen Festung. Der ständige Fluss von Ressourcen von Ost nach West hatte zu einer wachsenden politischen und wirtschaftlichen Spannung geführt. Schließlich – achtzig Jahre vor Honorius’ Besuch in Rom – war die Trennung zwischen den beiden Hälften des alten Imperiums endgültig vollzogen worden. Danach hatte der Niedergang des Westens sich beschleunigt.

In Konstantinopel galt weiterhin das römische Recht, und Latein blieb die Amtssprache. Wie Athalarich jedoch feststellte, war die Bürokratie kompliziert und verwirrend – insgesamt orientalischer. Offensichtlich wurde Konstantinopel durch die Beziehungen, die es mit den geheimnisvollen Ländern hinter Persien im unbekannten Teil Asiens pflegte, beeinflusst. Sie schlossen sich einer Bootsladung Pilger, hauptsächlich römischer Landadel aus dem Westen, an, die zum Heiligen Land unterwegs war. Endlich war der ganze Papierkram erledigt; allerdings war Honorius’ ohnehin schon geschrumpfter Goldvorrat dadurch noch mehr verringert worden. Anschließend reisten sie zu Pferd und auf Kamelen ins Landesinnere.

Auf der langen Reise verfiel Honorius jedoch sichtlich, und Athalarich bereute es immer mehr, dass er nicht einmal versucht hatte, seinen Mentor zur Rückkehr nach Rom zu bewegen.

Petra war eine Felsenstadt.

»Das ist außergewöhnlich«, sagte Honorius. Er stieg hastig vom Reittier und ging auf die riesigen Bauwerke zu. »Wirklich außergewöhnlich.«

Athalarich stieg auch vom Pferd. Er warf einen Blick auf Papak und seine Träger, wie sie die Pferde zum Wasser führten und folgte dann seinem Mentor. Es war sehr heiß, und in dieser trockenen, staubigen Luft fühlte Athalarich sich auch nicht durch das lockere, blütenweiße Gewand geschützt, das Papak ihm gegeben hatte.

Mächtige Grabmale und Tempel wuchsen aus einer Steppe, die jedoch so öde war, dass es sich eher um eine Wüste handelte. Aber es war immer noch eine quirlige Stadt, wie Athalarich sah. Ein komplexes System aus Kanälen, Röhren und Zisternen kanalisierte und speicherte Wasser für Blumenbeete, Felder und die Stadt selbst. Und doch muteten die Menschen irgendwie wie Zwerge an vor dem Hintergrund der großen Monumente, als ob sie von der Zeit geschrumpft worden wären.

»Einst war dieser Ort der Mittelpunkt der Welt, weißt du«, sinnierte Honorius. »Zwischen Assyrien, Babylon, Persien und Ägypten fand ein Kampf um die Vorherrschaft statt – und zwar hier in diesem Gebiet, denn unter den Nabatäern kontrollierte Petra den Handel zwischen Europa, Afrika und dem Osten. Es war eine außerordentliche Machtposition. Und unter römischer Herrschaft wurde Petra noch reicher.«

Athalarich nickte. »Und wieso hat Rom dann die Welt beherrscht. Und nicht Petra?«

»Ich glaube, die Antwort liegt genau vor dir«, sagte Honorius. »Schau.«

Athalarich sah aber nichts außer ein paar Bäumen, die inmitten der Sträucher, Kräuter und Gräser ums Überleben kämpften. Ziegen, die von einem zerlumpten Jungen mit großen Augen gehütet wurden, knabberten an tief hängenden Ästen.

»Einst war dies Waldland«, sagte Honorius, »geprägt von Eichen und Pistazienbäumen. So sagen die Historiker. Aber die Bäume wurden für den Bau von Häusern und die Täfelung von Wänden gefällt. Nun fressen die Ziegen die Reste des Pflanzenwuchses, und der ausgelaugte Boden trocknet aus und wird vom Wind verweht. Als das Land nichts mehr hergab und die Brunnen versiegten, floh die Bevölkerung oder verhungerte. Wenn Petra nicht schon hier existiert hätte, wäre es unmöglich gewesen, sie aus einem so armen Hinterland zu versorgen. In ein paar Jahrhunderten wird die Stadt ganz verlassen sein.«

Athalarich verspürte ein bedrückendes Gefühl der Verschwendung. »Welchen Sinn haben diese prachtvollen Aufhäufungen von Stein und die vielen Toten, die der Preis für ihre Errichtung gewesen sein müssen, wenn die Menschen ihre eigenen Lebensgrundlagen verfressen und alles zu Schutt zerfällt?«

»Es ist gut möglich«, sagte Honorius düster, »dass Rom eines Tages auch eine Ruinenstätte mit umgestürzten Monumenten ist und von armseligen Leuten bewohnt wird, die ihre Ziegen über die Via Sacra treiben, ohne die Bedeutung der mächtigen Ruinen zu kennen, die sie überall sehen.«

»Auch wenn Städte erblühen und verfallen, vermag ein Mensch doch Herr seines Schicksals zu sein«, murmelte Papak. Er hatte sich zu ihnen gesellt und lauschte aufmerksam. »Und hier kommt ein solcher, glaube ich.«

Ein Mann kam aus der Stadt auf sie zu. Er war sehr groß und trug eine Kleidung aus schwarzem Stoff, der sich um den Oberkörper und die Beine schmiegte. Ein rotes Tuch bedeckte seinen Kopf und verhüllte fast das ganze Gesicht. Der Staub schien um seine Füße zu tanzen. Athalarich mutete er wie eine mythische Gestalt aus einer anderen Zeit an.

»Euer Skythe, vermute ich«, murmelte Honorius.

»Fürwahr«, sagte Papak.

Honorius straffte sich und strich die Toga glatt. Athalarich verspürte einen Anflug von Stolz, der jedoch durch einen Hauch Neid oder vielleicht auch Minderwertigkeitsgefühl getrübt wurde. So imposant dieser Fremde auch war, Honorius war ein Bürger Roms und musste sich vor keinem Menschen der Welt fürchten.

Der Skythe wickelte das Tuch vom Kopf ab und wirbelte noch mehr Staub auf. Er hatte ein verwittertes Gesicht mit einer Hakennase. Athalarich stellte konsterniert fest, dass er blondes Haar hatte, flachsblond wie das eines Sachsen.

Honorius wandte sich an Papak und murmelte: »Entbietet ihm Euren Gruß und versichert ihn unsrer besten Absichten…«

»Diese Wüstenfüchse haben wenig Zeit für Nettigkeiten, mein Herr«, fiel Papak ihm ins Wort. »Er will Euer Gold sehen.«

»Wir haben diese lange Reise gemacht, um uns von einem Sandfloh beleidigen zu lassen«, grummelte Athalarich.

Honorius schaute gequält. »Athalarich, bitte. Das Gold.«

Mit einem finsteren Blick auf den Skythen öffnete Athalarich seinen Umhang und brachte einen Beutel mit Gold zum Vorschein. Dann warf er dem Skythen ein Goldstück zu, auf das dieser prüfend biss.

»Und nun die Knochen«, flüsterte Honorius. »Gibt es sie wirklich? Zeigt sie mir, mein Herr. Zeigt sie mir…«

Hierzu bedurfte es keines Dolmetschers. Der Skythe zog ein Bündel aus einer tiefen Tasche. Vorsichtig wickelte er das Bündel auf und sagte etwas in seiner fließenden Sprache.

»Er sagt, das sei wirklich ein Schatz«, murmelte Papak. »Er sagt, er käme von jenseits der Wüste mit dem Sand aus Gold, wo die Knochen der Greife…«

»Ich kenne Greife«, sagte Honorius gepresst. »Aber ich bin nicht an ihnen interessiert.«

»Von jenseits des Lands der Perser, und von jenseits des Lands der Guptas. Es ist schwer zu übersetzen«, sagte Papak. »Er hat eine andere Vorstellung von Landbesitz als wir, und seine Beschreibungen sind weitschweifig und blumig…«

Endlich – nachdem er ihnen wie ein gewiefter Händler den Mund wässrig gemacht hatte, sagte Athalarich sich zynisch – schlug der Skythe die Tücher auf und enthüllte einen Schädel.

Honorius stockte der Atem, und fast wäre er noch aufs Fragment gefallen. »Er ist von einem Menschen. Aber nicht von einem Menschen wie wir…«

Im Verlauf seiner Ausbildung hatte Athalarich schon viele menschliche Schädel gesehen. Das platte Gesicht und der Kiefer dieses Schädels waren durchaus menschlich. Aber es war nichts Menschliches am dicken Knochenwulst über den Augen und der kleinen Hirnschale – sie war so klein, dass er sie mit einer Hand zu überwölben vermocht hätte.

»Ein solches Relikt habe ich immer schon studieren wollen«, sagte Honorius atemlos. »Es ist wahr, was Titus Lucretius Carus schrieb, dass nämlich die frühen Menschen in jeder Umgebung zu überleben vermochten, obwohl es ihnen an Kleidung und Feuer ermangelte – dass sie wie Tiere in Rotten reisten und auf dem Erdboden oder im Unterholz schliefen – dass sie alles zu essen vermochten und kaum jemals krank wurden? Oh, Ihr müsst nach Rom kommen, mein Herr. Ihr müsst nach Gallien kommen! Denn dort gibt es eine Höhle, eine Höhle an der Meeresküste, wo ich, wo ich…«

Doch der Skythe, der sich vielleicht fragte, wie er auch ans restliche Gold zu kommen vermochte, hörte gar nicht zu. Er hielt das Fragment wie eine Trophäe hoch.

Der Schädel des Homo erectus, in einer Million Jahren blank poliert, glänzte im Sonnenlicht.

II

Unter Honorius’ Druck erklärte der Skythe sich schließlich bereit, ihm nach Rom zu folgen. Papak kam auch mit, als ein mehr oder minder notwendiger Dolmetscher, aber auch – sehr zu Athalarichs Missfallen – zwei der Träger, die sie durch die Wüste begleitet hatten.

Athalarich stellte Papak auf der Seefahrt zurück nach Italien zur Rede. »Du nimmst den alten Mann schamlos aus. Ich kenne Leute deines Schlags, Perser.«

»Aber wir tun doch das Gleiche«, sagte Papak ungerührt. »Ich nehme sein Geld, du zehrst von seinem Wissen. Wo ist der Unterschied? Die Jungen haben auf die eine oder andere Weise immer schon vom Reichtum der Alten profitiert. Stimmt das etwa nicht?«

»Ich habe mir vorgenommen, ihn sicher wieder nach Hause zu bringen. Und das werde ich auch tun, was auch immer du im Schilde führst.«

Papak lachte. »Ich will Honorius nichts tun.« Er zeigte auf den teilnahmslos wirkenden Skythen. »Ich habe ihm doch gegeben, was er wollte, oder?« Aber die Miene des Skythen, der diese Unterredung mit kaltem Blick verfolgte, sagte Athalarich, dass er sich mitnichten als irgendjemandes Eigentum betrachtete, auch nicht vorübergehend.

Trotzdem war sogar Athalarichs Neugier geweckt, als dieser Wüsten-Nomade in die größte Stadt der Welt gebracht wurde.

An der Stadtgrenze von Rom verbrachten sie die Nacht in einer von Honorius gemieteten Villa.

Das auf einer niedrigen Anhöhe vor den Toren der Stadt errichtete Gebäude war eine typische Villa im Stil der imperialen Periode, deren Architektur von griechischen und etruskischen Einflüssen kündete. Das Haus hatte viele Zimmer und zog sich wie ein Hufeisen um ein Atrium. Im hinteren Bereich befand sich ein Esszimmer, Studierzimmer und Wirtschaftsräume. Zwei auf die Straße hinausgehende Räume waren in Ladengeschäfte umgewandelt worden. Honorius sagte ihm, dass das in den Tagen des Imperiums keine Seltenheit gewesen sei und erinnerte Athalarich an den Laden, den seine Familie früher geführt hatte.

Doch wie die Stadt, die sie überschaute, hatte auch die Villa schon bessere Tage gesehen. Das impluvium, das Becken in der Mitte des Atriums, war hastig ausgeschachtet worden – anscheinend, um an die Rohrleitung aus Blei zu gelangen, die früher Regenwasser kanalisiert hatte.

Honorius tat den heruntergekommenen Zustand mit einem Achselzucken ab. »Das Anwesen hat stark an Wert verloren, als die Eroberer kamen. So weit vor der Stadt ist es schwer zu verteidigen, wisst ihr. Deshalb habe ich das Haus aber auch so günstig zu mieten vermocht.«

An jenem Abend nahmen sie inmitten der verblichenen Pracht eine Mahlzeit ein. Selbst der Mosaikfußboden des Esszimmers war stark beschädigt; es hatte den Anschein, dass Diebe alle Mosaiksteine heraus gebrochen hatten, die mit Blattgold verziert gewesen waren.

Das Essen war kennzeichnend für die pan-eurasische Vermischung, die auf die Expansion der bäuerlichen Gemeinschaften gefolgt war. Die Hauptnahrungsmittel waren Weizen und Reis aus dem ursprünglichen anatolischen Anbaugebiet, die indes durch Quitten aus dem Kaukasus, Hirse aus Zentralasien, Gurken, Sesam und Zitrusfrüchten aus Indien sowie Aprikosen und Pfirsichen aus China angereichert wurden. Diese transkontinentale Speise war ein alltägliches Wunder, das von den Essern aber nicht als solches wahrgenommen wurde.

Am nächsten Tag brachten sie den Skythen in die Stadt.

Sie gingen auf den Palatin, das Kapitol und aufs Forum. Der Skythe schaute sich mit seinen Falkenaugen prüfend um, als ob er irgendwie Maß nähme. Er trug noch immer die Wüstenkluft aus schwarzem Tuch und hatte sich das rote Tuch um den Kopf gewickelt; das musste in Roms feuchter Luft unangenehm gewesen sein, aber er zeigte keinerlei Anzeichen von Unwohlsein.

»Er scheint nicht sonderlich beeindruckt«, murmelte Athalarich an Papak gewandt.

Plötzlich blaffte der Skythe etwas in seiner rauen, alten Sprache, und Papak dolmetschte. »Er sagt, nun wüsste er auch, weshalb die Römer Sklaven, Gold und Lebensmittel aus seiner Heimat brauchten.«

Honorius schien sich darüber zu freuen. »Er mag ein Wilder sein, aber er ist kein Narr. Und er lässt sich auch nicht einschüchtern, nicht einmal vom mächtigen Rom. Gut für ihn.«

Außerhalb der Bereiche mit den Prunkbauten war Rom ein Labyrinth aus Straßen und engen, düsteren Gassen, das Ergebnis einer über tausendjährigen Stadtentwicklung. Viele der hiesigen Mietskasernen hatten fünf oder sechs Etagen. Allerdings drohten die Häuser jederzeit einzustürzen, denn sie waren von skrupellosen Vermietern errichtet worden, die aus jedem Zipfel des wertvollen Lands möglichst viel Profit schlagen wollten. Auf der Wanderung durch abfallübersäte, ungepflasterte Straßen mit Gebäuden, die so dicht beieinander standen, dass sie sich an den Giebeln fast berührten, hatte Athalarich das Gefühl, durch eine große labyrinthartige Kanalisation zu gehen – wie eine der berühmt-berüchtigten cloacae, die unter Rom zum Tiber verliefen.

Die Menschen auf den Straßen trugen Gesichtsmasken aus Gaze, die mit Öl getränkt oder mit Gewürzen behandelt waren. Kürzlich waren nämlich wieder die Windpocken ausgebrochen. Krankheiten waren überhaupt eine ständige Bedrohung:

Die Menschen sprachen noch immer über die verheerende Seuche des Antoninus vor dreihundert Jahren. In den Jahrtausenden seit dem Tod von Juna hatte der medizinische Fortschritt die großen Seuchen kaum einzudämmen vermocht. Die großen Handelsrouten hatten die Bewohner Europas, Nordafrikas und Asiens zu einem einzigen riesigen Nährboden für Mikroben vereinigt, und dass die Menschen sich zunehmend in Städten mit unzulänglicher oder gar keiner Kanalisation drängten, hatte die Probleme noch verschärft. In Roms Kaiserzeit war es erforderlich gewesen, einen stetigen Zustrom gesunder Bauern in die Städte zu gewährleisten, um die Sterbefälle auszugleichen – und wirklich gelang es Stadtbevölkerungen erst im zwanzigsten Jahrhundert, ihre Anzahl aus eigener Kraft konstant zu halten.

Diese schier aus allen Nähten platzende Stadt war eine Verirrung der landwirtschaftlichen Revolution, ein Ort, an dem die Menschen wie Ameisen zusammenlebten und nicht etwa wie Primaten.

Es war fast eine Erleichterung, als sie zu einer Stelle kamen, die bei einer der Eroberungen durch die Barbaren niedergebrannt worden war. Obwohl die Zerstörung schon vor Jahrzehnten stattgefunden hatte, war dieser versengte und verwüstete Bereich nie mehr wiederaufgebaut worden. Doch wenigstens wurde Athalarich der Blick in den Himmel hier nicht durch schmutzige Fassaden verstellt.

»Fragt ihn, woran er gerade denkt«, sagte Honorius zum Perser.

Der Skythe drehte sich um und ließ den Blick über die wuchtigen Mietskasernen streifen. Er murmelte etwas, und Papak dolmetschte: »Seltsam, dass ihr Leute es vorzieht, wie Möwen in Klippen zu leben.« Athalarich hatte die Verachtung in der Stimme des Skythen gehört.

Als sie zur Villa zurückkehrten, stellte Athalarich fest, dass die Börse, die er am Körper trug, säuberlich aufgeschlitzt und geleert worden war. Er ärgerte sich, über sich selbst wie über den Dieb – wie sollte er auf Honorius aufpassen, wenn er nicht einmal auf seine eigene Börse zu achten vermochte –, aber er wusste auch, dass er dankbar sein sollte, dass der unsichtbare Räuber ihm nicht auch gleich den Bauch aufgeschlitzt hatte.

Am nächsten Tag kündigte Honorius an, mit seinen Gästen eine Landpartie zu einem Ort zu machen, den er das Museum des Augustus nannte. Also stiegen sie in Wagen und rumpelten über gepflasterte, aber überwucherte Straßen an den Bauernhöfen vorbei, die sich um die Stadt zogen.

Sie erreichten etwas, das einmal eine exklusive, teure Kleinstadt gewesen sein musste. Eine Lehmziegelmauer umschloss ein paar Villen und eine Ansammlung bescheidener Gebäude, die Sklaven beherbergt hatten. Der Ort war offensichtlich verlassen. Die Mauer war niedergerissen und die Gebäude geplündert worden und ausgebrannt.

Honorius führte sie mit einer krakeligen Landkarte in der Hand in den Gebäudekomplex, wobei er etwas vor sich hinmurmelte und die Karte in diese und jene Richtung drehte.

Eine dicke Pflanzenschicht war durch die Mosaiken und Fliesen gebrochen, und Efeu klammerte sich an vom Feuer gesprungene Mauern. Hier musste ein richtiger Todeskampf stattgefunden haben, sagte Athalarich sich, als das tausendjährige Imperium schließlich die Kraft verließ und sein Schutz verloren war. Aber die Anwesenheit der neuen Vegetation inmitten des Verfalls hatte irgendwie etwas Beruhigendes. Es war sogar eine tröstliche Vorstellung, dass in ein paar Jahrhunderten dieser Ort von der Natur zurückerobert sein würde und nichts mehr vom ihm übrig außer ein paar Erhebungen in der Landschaft und seltsam geformte Steine, an denen ein unvorsichtiger Bauer sich den Pflug beschädigen konnte.

Honorius brachte sie zu einem kleinen Gebäude in der Mitte des Komplexes. Es hatte sich vielleicht einst um einen Tempel gehandelt, war aber auch ausgebrannt und zerstört wie der Rest. Die Träger mussten erst einmal ein Gewirr aus Ranken und Efeu wegreißen. Honorius suchte den Boden ab. Schließlich hob er mit einem triumphierenden Ruf einen Knochen auf, eine Capula von der Größe eines Esstellers. »Wusste ich es doch! Die Barbaren haben das eitle Gold und das glänzende Silber mitgenommen, aber von den wahren Schätzen hier wussten sie nichts…«

Beim Anblick von Honorius’ spektakulärem Fund wühlten auch die anderen mit der Begeisterung von Goldsuchern im Erdboden und in der Vegetation. Selbst die tölpelhaften Träger schienen von intellektueller Neugierde ergriffen, vielleicht zum ersten Mal im Leben. Bald förderten sie alle große Knochen, Stoßzähne und sogar missgestaltete Schädel zutage. Es war ein höchst aufregender Moment.

»Dies war einmal ein Knochen-Museum, das von Kaiser Augustus daselbst errichtet wurde!«, sagte Honorius. »Der Biograph Sueton sagt uns, dass es ursprünglich auf der Insel Capri eingerichtet wurde. In späteren Zeiten überführten Augustus’ Nachfolger die besten Stücke hierher. Ein paar Knochen sind schon zersplittert – wie dieser hier –, denn sie sind offenbar schon sehr alt, und es wurde Schindluder mit ihnen getrieben…«

Nun fand Honorius einen schweren Brocken aus rotem Sandstein, in den seltsame weiße Gegenstände eingebettet waren. Er hatte die Größe eines Sargdeckels und war viel zu schwer für ihn, sodass die Träger ihm helfen mussten, ihn anzuheben. »Nun, mein Herr Skythe. Zweifellos werdet Ihr diesen stattlichen Burschen erkennen.«

Der Skythe lächelte. Athalarich und die anderen kamen herbei, um einen Blick darauf zu werfen.

Die in den roten Stein eingebetteten weißen Gegenstände waren Knochen: das Skelett einer im Stein eingeschlossenen Kreatur. Die Kreatur musste so lang gewesen sein wie Athalarich hoch. Sie hatte kräftige Hinterbeine, deutlich sichtbare, mit dem Rückgrat verbundene Rippen und kurze, vor der Brust verschränkte Vorderarme. Und sie hatte einen langen Schwanz wie ein Krokodil, sagte Athalarich sich. Das erstaunlichste Merkmal war aber der Kopf. Der massive Schädel hatte einen großen hohlen Knochengrat und einen kräftigen Kiefer, der unter etwas aufgehängt war, das wie ein Vogelschnabel anmutete. Zwei Augenhöhlen starrten sie aus der Zeit an.

Honorius beobachtete ihn mit rheumatisch wässrigen Augen. »Na, Athalarich?«

»Ich habe so ein Ding nie zuvor gesehen«, stieß dieser hervor. »Aber…«

»Aber du weißt, was das ist.«

Es musste ein Greif gewesen sein: die sagenhaften Ungeheuer der östlichen Wüsten mit vier Füßen und einem großen Vogelkopf. Die Motive der Greife hatten Malerei und Bildhauerei seit tausend Jahren durchdrungen.

Nun setzte der Skythe zu einem so schnellen Redefluss an, dass Papak kaum noch mit dem Dolmetschen nachkam. »Er sagt, dass sein Vater, und sein Vater vor ihm, in den Wüsten des Ostens nach dem Gold gesucht hätten, das von den Bergen hinuntergespült wird. Und die Greife bewachen das Gold. Er hat ihre Knochen überall gesehen; sie lugen aus dem Gestein wie hier…«

»Genauso, wie Herodot es beschrieben hat«, sagte Honorius.

»Frag ihn, ob er auch einen lebend gesehen hat«, sagte Athalarich.

»Nein«, sagte der Skythe durch Papak, »aber er hat ihre Eier in großer Zahl gesehen. Wie Vögel legten sie ihre Eier in Nestern ab, allerdings auf dem Erdboden.«

»Wie ist die Bestie überhaupt in den Stein gelangt?«, murmelte Athalarich.

»Erinnere dich an Prometheus«, sagte Honorius lächelnd.

»Prometheus?«

»Um ihn dafür zu bestrafen, weil er den Menschen das Feuer gebracht hatte, ketteten die alten Götter Prometheus an einen Berg in der östlichen Wüste an, der von Greifen bewacht wurde. Aischylos erzählt uns, wie sein Leib von Erdrutschen und Regenfällen begraben wurde und dass er für eine lange Zeit im Gestein eingeschlossen war, ehe er durch die Verwitterung des Felsens wieder ans Licht kam… Dies hier ist auch so eine prometheische Bestie, Athalarich!«

Sie setzten die Unterhaltung fort, während sie in den Knochen wühlten. Sie waren allesamt fremdartig, riesig, verkrümmt und unidentifizierbar. Die meisten dieser Überreste stammten von Rhinozerossen, Giraffen, Elefanten, Löwen und Chalicotheria, den mächtigen Säugetieren des Pleistozän. Sie waren durch die tektonischen Umwälzungen ans Tageslicht gelangt worden, als Afrika sich langsam nach Eurasien hineinschob. Wie in Australien und wie auf der ganzen Welt, so war es auch hier: Die Menschen hatten vergessen, was sie verloren hatten, und es blieben ihnen nur noch verzerrte, streiflichtartige Erinnerungen an diese Riesen.

Und während die Männer diskutierten und sich am Fossil zu schaffen machten, schaute der Schädel des Protoceratops – ein Dinosaurier, der nur ein paar Jahrhunderte vor Purgas Geburt in einem Sandsturm umgekommen war – sie mit der blicklosen Ruhe der Ewigkeit an.

»Dies sind Berichte, die von Hesiod, Homer und vielen anderen niedergeschrieben wurden, aber von Generationen von Geschichtenerzählern vor ihnen überliefert wurden.

Die längste Zeit vor dem Erscheinen moderner Menschen war die Erde leer. Doch der urzeitliche Grund gebar eine Anzahl von Titanen. Die Titanen waren wie Menschen, nur viel größer. Prometheus war einer von ihnen. Kronos führte seine Titanen-Geschwister an, um ihren Vater zu meucheln. Doch aus seinem Blut ging die nächste Generation hervor, die Riesen. In jenen Tagen, nicht lang nach dem Ursprung des Lebens selbst, tobte ein verwandtschaftliches Chaos, und Generationen von Riesen und Ungeheuern breiteten sich aus…«

Sie saßen im verwüsteten Atrium der gemieteten Villa. Es war noch immer warm und schwül, obwohl es schon Abend war, doch die Weinranken, das Summen der Insekten und das üppig wuchernde Grün ums Atrium verliehen dem Ort ein fast lauschiges Ambiente.

Und an diesem Ort des Verfalls versuchte Honorius über vielen Gläsern Wein den Mann aus der Wüste zu überzeugen, dass er noch viel weiter mit ihm reisen müsse: durch die Trümmer des Imperiums gen Westen bis zu den Gestaden des Weltenmeeres selbst. Also erzählte er ihm Geschichten von der Geburt und dem Tod der Götter.

Eine weitere Generation des Lebens war vergangen, und weitere Lebensformen entwickelten sich. Die Titanen Kronos und Rhea zeugten die künftigen Götter des Olymp – darunter Jupiter. Dann führte Jupiter die neuen Götter in Menschengestalt gegen ein Bündnis der alten Titanen, Riesen und Ungeheuer. Es war ein Krieg um die Vorherrschaft im Kosmos selbst.

»Das Land wurde zerschmettert«, flüsterte Honorius. »Inseln stiegen aus der Tiefe empor. Berge stürzten ins Meer. Flüsse versiegten oder änderten ihren Lauf und überschwemmten das Land. Und die Ungeheuer starben, wo sie fielen.

Aber die Naturphilosophen«, fuhr Honorius fort, »haben seit jeher die Mythen zu widerlegen versucht – sie forschen nach natürlichen Ursachen –, und vielleicht haben sie auch recht. Manchmal gehen sie aber zu weit. Aristoteles sagt, dass Lebewesen sich immer nach dem Ebenbild ihrer Vorfahren fortpflanzen und dass die Arten des Lebens für alle Zeiten festgeschrieben seien. Wie will er damit aber die Gebeine der Riesen erklären, die wir aus der Erde holen? Aristoteles hat sein Lebtag lang wahrscheinlich keinen einzigen solchen Knochen gesehen. Bei dem Ding, das im Stein des Museums eingebettet ist, handelt es sich vielleicht um einen Greif oder auch nicht. Aber ist es nicht klar, dass die Knochen alt sind? Wie lang mag es wohl dauern, bis Sand in Gestein sich verwandelt? Was ist dieser Stein anderes als ein Beweis für verschiedene Zeiten in der Vergangenheit?

Schaut hinter die Geschichten. Lauscht der Essenz dessen, was die Mythen uns sagen: dass die Erde in der Vergangenheit von anderen Kreaturen bevölkert wurde – von Arten, die sich manchmal nach dem Ebenbild ihrer Vorfahren fortpflanzten und die manchmal Mischformen und Ungeheuer hervorbrachten, die sich von ihren Eltern grundlegend unterschieden. Wie man es an den Knochen sieht! Wie auch immer die Tatsachen sein mögen, ist es nicht klar, dass die Mythen einen wahren Kern haben? Denn sie sind das Ergebnis eines tausendjährigen Studiums der Erde und der Interpretation ihrer Bedeutung. Und doch…«

Athalarich legte seinem Freund die Hand auf den Arm. »Beruhigt Euch, Honorius. Wir verstehen Euch gut. Es ist nicht nötig, zu schreien.«

Der vor Erregung zitternde Honorius sagte: »Ich sage, wir dürfen die Mythen nicht ignorieren. Vielleicht sind sie Erinnerungen, die besten Erinnerungen, die wir an die großen Kataklysmen und außergewöhnlichen Ereignisse der Vergangenheit haben und die von Menschen geschaut wurden, die vielleicht kaum verstanden, was sie sahen – Menschen, die selbst vielleicht nur halbe Menschen waren.« Er sah, dass Athalarich die Stirn runzelte. »Ja, halbe Menschen!« Honorius präsentierte den Schädel mit dem menschlichen Gesicht und der affenartigen Hirnschale, den der Skythe ihm gegeben hatte. »Ein Mensch und doch kein Mensch«, murmelte er. »Das ist das größte Geheimnis überhaupt. Was kam vor uns? Was vermag eine solche Frage zu beantworten – was außer den Knochen? Mein Herr Skythe, Ihr sagtet mir, dass dieser Schädel aus dem Osten käme.«

»Der Skythe vermag nicht zu sagen, woher er stammt«, dolmetschte Papak. »Er ist durch viele Hände gegangen und nach Westen gereist, bis er Euch erreichte.«

»Und bei jedem Geschäft«, murmelte Athalarich beinahe hellsichtig, »ist zweifellos der Preis gestiegen.«

Papak wölbte die Augenbrauen, als er das hörte. »Man sagt, dass im Land der Leute mit der fahlen Haut und den schmalen Augen weit im Osten solche Knochen überall zu finden seien. Die Knochen werden zu Medizin und Liebespulver zermahlen und um den Ertrag der Felder zu steigern.«

Honorius beugte sich vor. »Dann wissen wir also, dass im Osten eine Rasse von Leuten mit menschlicher Gestalt, aber mit einem kleinen Kopf lebte. Tiermenschen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Und was, wenn ich euch sage, dass es im äußersten Westen, am Rand der Welt einst noch eine Rasse von Vor-Menschen gab – Menschen mit Körpern wie Bären und Köpfen wie Helme von Zenturios?«

Athalarich war perplex; davon hatte Honorius ihm noch nichts erzählt.

Der Skythe hob an zu sprechen. Seine fließenden Vokale und verschliffenen Konsonanten klangen wie ein Lied, das von Papaks hölzerner Übersetzung kaum beeinträchtigt wurde – ein Lied der Wüste, das in die schwüle italienische Nacht emporstieg.

»Er sagt, einst gab es viele Arten von Menschen. Sie sind nun alle verschwunden, diese Menschen, doch in den Wüsten und den Bergen überdauern sie in Geschichten und Liedern. Wir haben alles vergessen, sagt er. Einst war die Welt voller verschiedener Menschen und verschiedenster Tiere. Wir haben es nur vergessen.«

»Ja!«, rief Honorius und stand plötzlich mit gerötetem Gesicht auf. »Ja, ja! Wir haben fast alles vergessen, außer unscharfen Spuren, die in Mythen erhalten sind. Es ist eine Tragödie, eine Agonie der Einsamkeit. Ihr und ich, mein Herr Skythe, wissen nicht einmal mehr, wie wir miteinander sprechen sollen. Und dennoch versteht Ihr genauso gut wie ich, dass wir wie Flößer auf einem Floß auf einem weiten Meer unentdeckter Vergangenheit treiben. Kommt mit mir! Ich muss Euch die Gebeine zeigen, die ich gefunden habe – bitte, kommt doch mit mir!«

III

Athalarich und Honorius kamen aus Burdigala, einer Stadt des seit dreißig Jahren bestehenden gotischen Königreichs, das nun einen Großteil der ehemaligen römischen Provinzen Gallien und Spanien umspannte. Auf dem Rückweg mussten sie über den Flickenteppich aus Provinzen reisen, der sich nach der Aufhebung der römischen Herrschaft über Westeuropa gelegt hatte.

Die Beziehung zwischen Rom und den germanischen Stämmen des Nordens war seit jeher problematisch gewesen, weil die Germanen ständig gegen die lange, verwundbare Nordgrenze des alten Imperiums angestürmt waren. Seit Jahrhunderten hatten Germanen als Söldner für das Imperium gedient, und zuletzt hatten ganze Stämme sich dort ansiedeln dürfen – unter der Prämisse, dass sie als Bundesgenossen gegen gemeinsame Feinde jenseits der Grenze kämpfen würden. So war das Imperium zu einer Art Dachverband geworden, der nicht mehr nur von Römern bewohnt und beherrscht wurde, sondern auch von den vitaleren Germanen, Goten und Vandalen.

Als der Druck auf die Grenze immer stärker wurde – eine indirekte Auswirkung des gewaltigen Ansturms der Hunnen aus Asien –, war den Römern die Kontrolle schließlich ganz entglitten. Die Gouverneure und ihr Stab hatten sich aus dem Staub gemacht, und die letzten römischen Soldaten, die – schlecht bezahlt, schlecht ausgerüstet und demoralisiert – noch die Stellung hielten, hatten den Zusammenbruch der Ordnung nicht zu verhindern vermocht.

Auf diese Art war das weströmische Reich sang- und klanglos untergegangen. Neue Nationen entstanden aus dem politischen Chaos, und Sklaven wurden zu Königen.

Und so marschierten Athalarich und Honorius vom Königreich Odoakers, das Italien und die Reste der alten Provinzen von Rätien und Noricum im Norden umfasste, durch das Königreich der Burgunder, das sich vom Hinterland der Rhône in den Osten Galliens erstreckte, und die fränkische Grafschaft Soissons, bevor sie schließlich ihr Westgoten-Reich wieder erreichten.

Athalarich hatte schon befürchtet, dass der Ausflug ins versagende Herz des alten Imperiums ihm vielleicht in schonungsloser Offenheit den niedrigen Entwicklungsstand seines Volks vor Augen geführt hätte. Zuhause angekommen stellte er jedoch fest, dass eher das Gegenteil der Fall zu sein schien. Verglichen mit der morbiden Pracht Roms wirkte Burdigala durchaus klein, provinziell und primitiv, ja sogar hässlich. Burdigala expandierte jedoch. Große Bauvorhaben prägten das Hafenviertel, und im Hafen selbst lagen viele Schiffe vor Anker.

Rom war prächtig, aber es war tot. Dies war die Zukunft – seine Zukunft, die er mitgestalten würde.

Athalarichs Onkel Theoderich war ein entfernter Cousin von Eurich, dem gotischen König von Gallien und Spanien. Theoderich, der sich mit ehrgeizigen Plänen für seine Familie trug, hatte eine Art Zweitresidenz in einer alten, noblen Villa außerhalb von Burdigala bezogen. Als er die Kunde von den exotischen Besuchern vernahm, die Honorius und Athalarich mitgebracht hatten, bestand er darauf, dass sie in seiner Villa Quartier nahmen und plante sofort eine Art Tournee, um die Fremden zu präsentieren und mit den Taten und Reiseabenteuern seines Neffen hausieren zu gehen.

Auf dieser ›Tournee‹ wollte Theoderich Angehörige des neuen gotischen Adels und römische Aristokraten unterhalten.

Wenn das alte Imperium auch die politische Kontrolle verloren hatte, die kulturelle Dominanz des tausend Jahre alten Reichs bestand nach wie vor. Die neuen germanischen Führer waren bereit, von den Römern zu lernen. So hatte der Gotenkönig Eurich die Gesetze seines Königreichs von römischen Rechtsgelehrten formulieren und in Latein veröffentlichen lassen; es war dieses Gesetzeswerk, das Athalarich bei Honorius studieren sollte. Inzwischen hatte die alte Aristokratie des Imperiums sich auch mit den Neuankömmlingen arrangiert. Viele von ihnen, die eine Jahrhunderte lange ›Erwerbsbiographie‹ hatten, blieben so reich und mächtig wie bisher.

Auch nach dem Besuch Roms entbehrte es für Athalarich nicht einer gewissen Ironie, dass diese in Togen gehüllten Sprösslinge alter Familien, von denen viele immer noch kaiserliche Titel trugen, sich unter in Leder gekleideten Barbaren-Adligen unbefangen in Räumen bewegten, deren kunstvolle Fresken und Mosaiken mit rustikaleren Bildern eines Kriegervolks übermalt worden waren: Sie zeigten Reiter mit Helmen, Schilden und Lanzen. Man vermochte einzuwenden – und Honorius machte diese Einwendungen auch geltend –, dass durch die Gier, der sie über Jahrhunderte verhaftet gewesen waren, diese Leute das Reich zerstört hatten, das sie hervorgebracht hatte. Jedoch bedeutete für diese Aristokraten der Austausch des gewaltigen imperialen Überbaus durch das neue System gotischer und burgundischer Häuptlinge keine wesentliche Beeinträchtigung.

Vielmehr schien der Zusammenbruch des römischen Reiches ein paar von ihnen ganz neue geschäftliche Möglichkeiten eröffnet zu haben.

Wenn Theoderich aber geglaubt hatte, den Skythen wie eine Trophäe vorzeigen zu können, hatte er sich getäuscht. Der Mann aus der Wüste schien das stilvolle Atrium, die Gärten und Zimmer der Villa nicht zu goutieren. Er zog es stattdessen vor, die Zeit in dem Raum zu verbringen, den Theoderich ihm angewiesen hatte. Aber er verschmähte das Bett und das übrige Mobiliar des Zimmers; er rollte die Decke aus, die er immer bei sich hatte und spannte sie wie eine Zeltplane auf. Es war, als ob er ein Stück Wüste nach Gallien gebracht hätte.

Wenn der Skythe eine gesellschaftliche Enttäuschung war, so war Papak ein umso größerer Erfolg, wie Athalarich bereits gemutmaßt hatte. Der Perser mit dem exotischen Touch mischte sich ungezwungen unter Theoderichs Gäste, ob Barbaren oder Römer. Er flirtete hemmungslos mit den Frauen und fesselte die Männer mit seinen Geschichten von den besonderen Gefahren, die im Osten lauerten. Alle waren begeistert.

Eine von Papaks beliebtesten Neuerungen war Schach. Das war ein Spiel, sagte er, welches kürzlich zur Erbauung des persischen Hofes erfunden worden war. Niemand in Gallien hatte bisher davon gehört, und Papak bat einen von Theoderichs Tischlern, ein Schachbrett und Spielfiguren für ihn anzufertigen. Das Spiel wurde auf einem Brett mit vierundsechzig Feldern gespielt, über das Figuren in Gestalt von Kriegern und Pferden zogen und sich bekämpften. Die Regeln waren einfach, aber es kam auch in erster Linie auf die Strategie an. Die Goten – die noch immer mit ihren Heldentaten prahlten, obwohl viele von ihnen seit zwanzig Jahren kein Pferd mehr aus der Nähe gesehen hatten –, fanden Gefallen am sublimierten Kampf des Spiels. Die ersten Turniere waren ebenso kurz wie blamabel. Doch unter Papaks taktvoller Anleitung erfassten die besseren Spieler bald die Feinheiten des Spiels, und die Partien wurden länger und interessanter.

Und was Honorius betraf, so ärgerte er sich darüber, dass die Salonspiele eines Persers um so viel spannender empfunden wurden als seine Geschichten von alten Knochen. Allerdings war der alte Mann noch nie ein Salonlöwe gewesen, sagte Athalarich sich voller Mitgefühl, und noch viel weniger ein Intrigant bei Hofe. Honorius blieb lieber bei seinem Backgammon, das er mit seinen alten Aristokratenfreunden spielte -›das Spiel Platos‹, wie er es nannte.

Nach ein paar Tagen rief Theoderich seinen Neffen in einen privaten Raum.

Zu seiner Überraschung fand Athalarich dort Galla vor. Die große, dunkelhaarige Galla mit der klassischen Nase ihrer römischen Vorfahren war die Frau eines prominenten Bürgers der Stadt. Mit vierzig war sie etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, und es war allgemein bekannt, dass sie zuhause ›das Sagen hatte‹.

Mit einem bedrückten Ausdruck im bärtigen Gesicht legte Theoderich seinem Neffen die Hand auf den Arm. »Athalarich, wir brauchen deine Hilfe.«

»Ihr habt einen Auftrag für mich?«

»Nicht ganz. Wir haben einen Auftrag für Honorius, und wir möchten, dass du ihn dazu überredest, ihn anzunehmen. Wir wollen versuchen, es dir zu erklären…«

Während Theoderich sprach, spürte Athalarich, wie Galla ihn mit kühlen Augen musterte und dabei die vollen Lippen leicht geöffnet hatte. Es kursierte der Mythos unter den letzten Römern, dass die Barbaren eine junge und vitale Rasse seien. Wenn Galla mit Männern intim wurde, die in ihren Augen kaum besser als Wilde waren, suchte sie vielleicht die animalische Kraft, die sie in der Ehe mit einem verweichlichten römischen Bürger vermisste.

Athalarich, der gerade einmal fünf Jahre älter war als Gallas Zwillinge, wollte sich aber nicht als Spielzeug für eine dekadente Aristokratin hergeben. Er erwiderte ihren Blick kühl und desinteressiert.

Dieses subtile Spiel fand statt, ohne dass Theoderich auch nur das Geringste davon mitbekommen hätte.

»Athalarich«, sagte Galla nun, »wenn ich mich recht erinnere, war Eurichs Königreich vor drei Jahrzehnten noch eine föderale Siedlung innerhalb des Imperiums. Die Dinge haben sich schnell verändert. Aber es gibt strikte Grenzen zwischen unseren Völkern. Sie betreffen Eheschließungen, das Gesetz und sogar die Kirche.«

»Sie hat recht, Athalarich«, sagte Theoderich seufzend. »Es gibt viele Spannungen in unsrer jungen Gesellschaft.«

Athalarich wusste, dass dem so war. Die neuen Barbaren-Herrscher lebten nach ihren traditionellen Gesetzen, die sie als Teil ihrer Identität betrachteten, wogegen ihre Untertanen am römischen Recht festhielten, das sie als universales Regelwerk betrachteten. Auseinandersetzungen über unterschiedliche Bestimmungen in beiden Systemen waren an der Tagesordnung. Ehen zwischen den Völkern waren zwischenzeitlich auch verboten worden. Obwohl alle Ethnien christlich waren, folgten die Goten den Lehren des Arius, was ihnen die Feindschaft ihrer überwiegend katholischen Untertanen eintrug. Und so weiter.

All das behinderte die Assimilierung, die die alten Römer für so viele Jahrhunderte so erfolgreich betrieben hatten – eine Assimilation, die Stabilität und sozialen Frieden garantiert hatte. Wäre dieses Land noch immer unter römischer Herrschaft gewesen, dann hätte Theoderich die besten Aussichten gehabt, ein gleichberechtigter römischer Bürger zu werden. Doch die Söhne von Galla würden von den Goten niemals als gleichberechtigt anerkannt und von der Macht ausgeschlossen werden.

Athalarich hörte höflich zu. »Es ist schwierig, aber wenn Honorius mich etwas gelehrt hat, dann das, dass die Zeit lang ist und dass sich mit der Zeit alles ändert. Vielleicht werden diese Schranken eines Tages fallen.«

Theoderich nickte. »Ich glaube das auch. Deshalb habe ich dich auch auf eine römische Schule geschickt und dann zu Honorius.« Er stieß ein glucksendes Lachen aus. »Mein Vater hätte das niemals erlaubt. Er hatte für Schulen nichts übrig! Wenn du nun lernst, den Riemen eines Lehrers zu fürchten, wirst du niemals lernen, einem Schwert oder Speer furchtlos entgegenzutreten. Für ihn waren wir in erster Linie Krieger. Aber wir, die heutige Generation, ist anders.«

»Umso besser«, sagte Galla. »Das Imperium wird nie mehr auferstehen. Aber ich glaube fest daran, dass eines Tages, aus der Verbindung unserer Völker hier und auf dem ganzen Kontinent, eine neue Macht mit einer neuen Vision entstehen wird.«

Athalarich hob die Augenbrauen. Irgendwie erinnerte ihr Ton ihn unangenehm an Papak, und er fragte sich, was sie seinem Onkel wohl unterjubeln wollte. »Aber in der Zwischenzeit«, sagte er trocken, »bevor dieser wunderbare Tag kommt…«

»In der Zwischenzeit mache ich mir Sorgen um meine Kinder.«

»Wieso? Sind sie in Gefahr?«

»Eigentlich schon«, sagte Galla und machte kein Hehl aus ihrer Verärgerung. »Ihr seid zu lang fort gewesen, junger Mann, oder Ihr habt Euch zu sehr in Honorius’ Lehren vertieft.«

»Es haben Übergriffe stattgefunden«, sagte Theoderich. »Beschädigung von Eigentum, Brandstiftung, Diebstahl.«

»Gegen die Römer gerichtet?«

»Leider ja«, sagte Theoderich seufzend. »Ich, der ich mich noch daran erinnere, wie es einmal war, möchte das erhalten, was am Imperium am besten war – Stabilität, Frieden, Bildung, ein gerechtes Rechtssystem. Aber die Jungen wissen nichts mehr von alledem. Wie ihre Vorfahren, die ein einfaches Leben in den nördlichen Ebenen führten, hassen sie das, was sie vom Imperium wissen: Macht über das Land, die Menschen und den Reichtum, von dem sie ausgeschlossen waren.«

»Und deshalb wollen sie die bestrafen, die noch übrig sind«, sagte Athalarich.

»Wieso sie sich so verhalten, spielt kaum eine Rolle«, sagte Galla. »Die Frage ist nur, was getan werden muss, um ihnen Einhalt zu gebieten.«

»Ich habe Milizen aufgestellt. Doch wenn die Unruhen an einem Ort niedergeschlagen werden, brechen sie an einem andern wieder aus. Was wir brauchen, ist eine langfristige Lösung. Wir müssen das Gleichgewicht wiederherstellen.« Theoderich lächelte. »Es ist eine Paradoxie, dass ich es als notwendig erachte, unsere Römer wieder zu stärken.«

Athalarich schnaubte. »Und wie? Indem man ihnen eine Legion gibt? Oder indem man Augustus von den Toten wiederauferstehen lässt?«

»Viel einfacher«, sagte Galla unbeeindruckt von seinem Sarkasmus. »Wir brauchen einen Bischof.«

Nun begriff Athalarich.

»Bedenkt, es war Papst Leo, der Attila dazu bewog, vor den Toren Roms umzukehren«, sagte Galla.

»Deshalb bin ich also hier. Ihr wollt Honorius zum Bischof machen. Und ich soll ihn dazu überreden, dieses Amt zu übernehmen.«

Theoderich nickte erfreut. »Galla, ich sagte Euch doch, dass der Junge ein kluger Kopf ist.«

Athalarich schüttelte den Kopf. »Er wird nicht wollen. Honorius ist nicht… weltlich. Er ist nur an seinen alten Knochen interessiert, nicht an Macht.«

»Aber wir haben zu wenige Kandidaten, Athalarich«, sagte Theoderich. »Verzeiht mir, meine Dame, aber zu viele der römischen Adligen haben sich als Narren erwiesen – als arrogant, habgierig, anmaßend…«

»Das gilt auch für meinen Mann«, sagte Galla ungerührt. »Die Wahrheit auszusprechen ist keine Beleidigung, mein Herr.«

»Honorius ist der einzige, dem man wirklich Respekt entgegenbringt«, sagte Theoderich. »Vielleicht gerade wegen der fehlenden Weltlichkeit.« Er musterte Athalarich. »Wenn das nicht so wäre, hätte ich dich nie in seine Obhut zu geben vermocht.«

Galla beugte sich vor. »Ich verstehe Eure Bedenken, Athalarich. Aber werdet Ihr es dennoch versuchen?«

Athalarich zuckte die Achseln. »Ich will es versuchen, aber…«

Galla stieß die Hand vor und packte ihn am Arm. »Solange er lebt, ist Honorius der einzige Anwärter für das Amt; kein anderer vermag es auszufüllen. Solange er lebt. Ich vertraue darauf, dass Ihr alles versucht, um ihn zu überzeugen, Athalarich.«

Plötzlich sah Athalarich Kraft in ihr: die Macht eines alten Imperiums, die Stärke einer zornigen, bedrängten Mutter. Er riss sich von ihr los, verwirrt durch ihr plötzliches energisches Auftreten.

Honorius bereitete sich auf die letzte Etappe der epischen Reise vor, die mit der Begegnung mit dem Skythen am Rand der östlichen Wüste ihren Anfang genommen hatte.

Eine Reisegesellschaft formierte sich. Der Kern bestand aus Honorius, Athalarich, Papak und dem Skythen – die alte Besetzung. Doch wurden sie nun von Theoderichs Milizen eskortiert, denn außerhalb der Städte war das Land alles andere als sicher, einer Handvoll neugieriger junger Goten und sogar von ein paar Mitgliedern der alten römischen Familien.

Sie traten die Reise westwärts an.

Es fügte sich, dass sie auf den Spuren von Roods Jagdgesellschaft gingen, die vor dreißigtausend Jahren hier durchgekommen war. Das Eis indes hatte sich längst in den hohen Norden zurückgezogen – schon vor so langer Zeit, dass die Menschen vergessen hatten, dass es überhaupt bis hierher gekommen war. Rood hätte dieses reiche Land mit dem gemäßigten Klima nicht mehr wieder erkannt. Und er hätte auch über die Anzahl der Menschen gestaunt, die nun hier lebten – wie auch Athalarich gestaunt hätte, wenn er Roods Mammutherden ansichtig geworden wäre, die durch ein menschenleeres Land zogen.

Schließlich war das Land zu Ende. Sie gelangten zu einer Kalksteinklippe. Das vom Zahn der Zeit angenagte Kliff schaute auf den wogenden Atlantik hinaus. Über das karge Plateau oberhalb der Klippe fegte der Wind; dort wuchs nichts außer ein paar Gräsern, die von Kaninchendung durchsetzt waren.

Während die Träger die Ausrüstung der Reisegesellschaft aus den Wagen luden, ging der Skythe allein zum Rand der Klippe. Der Wind zerzauste sein flachsblondes Haar und wehte es ihm ins Gesicht. Für Athalarich war das ein bemerkenswerter Anblick. Dort stand ein Mann, der das Sandmeer im Osten geschaut hatte und den es nun an den westlichen Rand der Welt verschlagen hatte. Stumm zollte er Honorius’ Vision Beifall; wie auch immer der Skythe Honorius rätselhafte Knochen deutete, der alte Mann hatte jetzt schon für einen großen Moment gesorgt.

Obwohl die Mitglieder der Reisegesellschaft müde waren von der langen Reise von Burdigala, drängte Honorius auf den Abschluss der ›Mission‹. Er gestattete ihnen nur eine kurze Rast zum Essen und Trinken und zur Verrichtung ihrer Notdurft. Dann führte Honorius sie frohgemut zur Steilwand. Athalarich sah, dass der Rest der Gruppe ihm folgte – außer zwei von Papaks Trägern, die lieber Fallen für die Kaninchen auslegten, die hier eine wahre Landplage waren.

Unterwegs versuchte Athalarich Honorius erneut davon zu überzeugen, das Amt des Bischofs anzunehmen.

Das hätte auch einen Sinn ergeben. Nachdem die alte Zivilverwaltung des Imperiums zusammengebrochen war, hatte die unbeschadet daraus hervorgegangene Kirche sich als starke Bastion erwiesen, und ihre Bischöfe hatten einen Zuwachs an Ansehen und Macht erfahren. Die meisten dieser Kirchenmänner hatten sich aus der alten Aristokratie des Imperiums rekrutiert, die über Bildung verfügte, über administrative Erfahrung, die sie durch die Leitung ihrer Latifundien erworben hatten und über eine Tradition als örtliche Führungskräfte. Ihre theologische Kompetenz war indes weniger ausgeprägt, aber die zählte auch weniger als Schläue und praktische Erfahrung. In so unruhigen Zeiten wie diesen hatten weltliche Kleriker sich als fähig erwiesen, die römische Bevölkerung zu schützen, indem sie zum Schutz der Städte aufriefen, die Verteidigung organisierten und sogar Männer in die Schlacht führten.

Wie Athalarich schon erwartet hatte, lehnte Honorius das Angebot rundweg ab. »Will die Kirche uns denn alle usurpieren?«, echauffierte er sich. »Muss ihr Schatten auf die ganze Welt fallen und alles verdunkeln, was wir in über tausend Jahren geschaffen haben?«

Athalarich seufzte. Er hatte kaum eine Ahnung, wovon der alte Mann überhaupt sprach, aber wenn er mit Honorius sprechen wollte, musste er sich auf ihn einlassen. »Honorius, bitte – das hat nichts mit Geschichte zu tun, nicht einmal mit Theologie. Es geht hier nur um befristete Macht. Und um Bürgerpflicht.«

»Bürgerpflicht? Was soll das denn heißen?« Aus einem Beutel holte er den uralten menschlichen Schädel, den der Skythe ihm gegeben hatte und fuchtelte ärgerlich damit herum. »Dies war eine Kreatur, halb Mensch und halb Tier. Und doch war sie eindeutig wie wir. Aber was sind dann wir? Ein viertel Tier, ein Zehntel? Der Grieche Galen hat vor zwei Jahrhunderten gesagt, der Mensch sei nicht mehr als eine Spielart des Affen. Werden wir jemals aus dem Schatten des Tiers heraustreten? Was würde ›Bürgerpflicht‹ für einen Affen bedeuten außer irgendwelche Mätzchen?«

Zögerlich berührte Athalarich den alten Mann am Arm. »Aber selbst wenn das wahr wäre, selbst wenn wir vom Vermächtnis einer tierischen Vergangenheit regiert würden, müssen wir uns so verhalten, als ob es nicht wahr wäre.«

Honorius lächelte gezwungen. »Wirklich? Aber alles, was wir erschaffen, ist vergänglich, Athalarich. Wir sehen es doch selbst. In meiner Lebenszeit ist ein tausendjähriges Reich schneller zerfallen, als der Mörtel in den Mauern Roms zerbröselte. Wenn alles vergänglich ist außer unserer grausamen Natur, worauf sollen wir dann überhaupt noch hoffen? Selbst ein Glauben verschrumpelt wie die letzten Weintrauben eines Rebstocks.«

Athalarich verstand; dies war eine Sorge, die Honorius immer wieder geäußert hatte. In den letzten Jahrhunderten des Imperiums war das Erziehungs- und Bildungswesen verfallen. In den Köpfen der verdummten Massen, die durch billige Nahrungsmittel und die barbarischen Spiele in den Arenen ruhig gestellt wurden, waren die Werte, auf denen Rom gegründet war, und der Rationalismus der alten Griechen von Mystizismus und Aberglaube verdrängt worden. Es war, so hatte Honorius seinem Schüler vermittelt, als ob eine ganze Kultur den Verstand verlöre. Die Leute verlernten die Fähigkeit zu denken, und bald würden sie auch vergessen haben, dass sie überhaupt etwas vergessen hatten. Und in Honorius’ Augen verschärfte das Christentum dieses Problem nur noch.

»Der Heilige Augustin hatte uns bereits davor gewarnt, dass der Glaube an die alten Mythen schwindet – schon vor anderthalb Jahrhunderten, als die Lehre der Christen gerade erst Wurzeln schlug. Und mit dem Verlust der Mythen verschwindet auch das Wissen von tausend Jahren, das in diesen Mythen kodifiziert ist, und die starren Dogmen der Kirche werden einen echten Erkenntnisgewinn für die nächsten tausend Jahre verhindern. Das Licht erlischt, Athalarich.«

»Dann übernehmt Ihr das Bischofsamt«, sagte Athalarich eindringlich. »Schützt die Klöster. Gründet ein eigenes, wenn Ihr müsst! Und in der Bibliothek und im scriptorium mögen die Mönche die großen Schriften bewahren und abschreiben, bevor sie verloren sind.«

»Ich kenne diese Klöster«, spie Honorius förmlich aus. »Die großen Werke der Vergangenheit abschreiben zu lassen, als seien sie Zaubersprüche, und noch dazu von Tölpeln, in deren Köpfen Gott herumspukt – pah! Dann würde ich sie eher selbst verbrennen.«

Athalarich unterdrückte ein Seufzen. »Augustinus fand Trost in seinem Glauben, musst du wissen. Er glaubte, das Imperium sei von Gott erschaffen worden, um die Botschaft Christi zu verbreiten – wie konnte Er es also zulassen, dass es zusammenbrach? Augustinus gelangte jedoch zu der Überzeugung, dass die Geschichte einen göttlichen und keinen weltlichen Zweck habe. Und dass der Fall von Rom deshalb auch keine Rolle spiele.«

Honorius betrachtete ihn listig. »Wenn du nun ein Diplomat wärst, würdest du mich darauf hinweisen, dass der arme Augustinus gerade zu der Zeit gestorben sei, als die Vandalen Nordafrika heimsuchten. Und du würdest sagen, dass, wenn er seine Aufmerksamkeit mehr den weltlichen als den geistigen Dingen gewidmet hätte, er vielleicht noch etwas länger gelebt und mehr Zeit für seine Studien gehabt hätte. Das solltest du sagen, wenn du mich dazu überreden willst, das verdammte Bischofsamt anzunehmen.«

»Es freut mich, dass Eure Stimmung sich wieder hebt«, sagte Athalarich trocken.

Honorius berührte seine Hand. »Du bist ein guter Freund, Athalarich. Ein besserer, als ich ihn verdiene. Aber ich werde das Geschenk deines Onkels, das Amt eines Bischofs, trotzdem nicht annehmen. Gott und Politik sind nicht meine Passion; ich will mich weiter den Knochen widmen und ansonsten dem Müßiggang frönen… Wir sind gleich da!«

Sie hatten die Abbruchkante der Klippe erreicht.

Zu Honorius’ Leidwesen war der Pfad, an den er sich erinnerte, überwuchert. Zumal es sich ohnehin um kaum mehr als einen Sims im mürben Gestein der Klippe handelte, der vielleicht von Ziegen oder Schafen ausgetreten worden war. Die Milizionäre beseitigten mit ihren Speeren Unkraut und Gräser. »Es ist schon viele Jahre her, seit ich zuletzt hier war«, sagte Honorius atemlos.

»Mein Herr, damals wart Ihr jünger, viel jünger«, sagte Athalarich ernst. »Ihr müsst gut aufpassen beim Abstieg.«

»Was kümmert mich die Beschwernis? Athalarich, wenn der Pfad zugewachsen ist, ist er nicht mehr benutzt worden, seit ich zum letzten Mal hier war, und wenn die Knochen, die ich gefunden habe, noch unberührt sind – verglichen damit wäre alles andere eine Nichtigkeit. Sieh, der Skythe hat sich schon an den Abstieg begeben, und ich will seine Reaktion sehen… Komm, komm!«

Die Gruppe formierte sich zu einer Linie und ging im Gänsemarsch vorsichtig den gefährlichen Pfad hinab. Honorius bestand darauf, allein zu gehen – der Pfad war ohnehin so schmal, dass zwei Leute kaum nebeneinander zu gehen vermochten –, doch Athalarich ging voran, sodass er den alten Mann wenigstens aufzufangen vermocht hätte, falls er fiel.

Sie erreichten eine Höhle im weichen Kalksandstein und schwärmten aus. Die Milizionäre stocherten mit den Speeren an den Wänden und auf dem Boden herum.

Athalarich betrat vorsichtig die Höhle. Der Boden im Bereich des Eingangs war von Guano fast weiß gefärbt und mit Eierschalen übersät. Die Wände und der Boden waren fast glatt geschliffen, als ob Tiere oder Menschen hier ein- und ausgegangen wären. Athalarich stieg ein starker tierischer Geruch in die Nase, vielleicht von Füchsen, aber er war schal. Offenbar hatte sich außer den Seevögeln seit langer Zeit niemand hier aufgehalten.

Doch genau an dieser Stelle hatte ein jüngerer Honorius die kostbaren Gebeine gefunden.

Honorius streifte in der Höhle umher, inspizierte den Boden und räumte mit den Füßen trockenes Laub und Seetang beiseite. Bald hatte er gefunden, wonach er suchte. Er kniete sich hin und beseitigte mit den Fingern vorsichtig den Schutt. »Es ist noch wie damals, als ich sie gefunden hatte. Ich habe sie auch genauso zurückgelassen, weil ich die Gebeine nicht stören wollte.«

Die anderen scharten sich um ihn. Athalarich bemerkte abwesend, dass ein junger Römer, ein Mann aus Gallas Gefolge, sich auffällig dicht hinter Honorius stellte. Aber der Junge wirkte nicht gefährlich, bloß neugierig.

Und alle waren beeindruckt, als Honorius sachte seinen knöchernen Schatz ans Licht brachte. Athalarich sah auf den ersten Blick, dass es sich um ein menschliches Skelett handelte. Das musste aber ein besonders kräftiger Mensch gewesen sein, sagte er sich, mit schweren Knochen und langen Fingern. Und dass der Schädel deformiert war, das heißt mit einem Loch im Hinterkopf, das vielleicht von einem Schlag herrührte. Der Boden unter den Knochen war mit Muschelschalen und Feuersteinen übersät.

Honorius erläuterte die Besonderheiten der Fundstelle. »Schaut hier. Er hat Muscheln gegessen. Die Schalen sind versengt; wahrscheinlich hat er sie ins Feuer geworfen, um sie zu öffnen. Und ich glaube, diese Feuersteinsplitter sind Abfälle von einem Werkzeug, das er sich angefertigt hatte. Er war eindeutig menschlich, aber nicht so wie wir. Seht diesen Schädel, mein Herr Skythe! Diese kräftigen Brauen, die simsartigen Wangenknochen – habt Ihr so etwas jemals gesehen?« Er warf Athalarich mit leuchtenden Augen einen Blick zu. »Es ist, als ob wir in eine andere Zeit zurückversetzt worden wären, als ob es uns Jahrtausende in die Vergangenheit verschlagen hätte.«

Der Skythe bückte sich, um den Schädel in Augenschein zu nehmen.

Und dann geschah es.

Der junge Römer hinter Honorius machte einen Schritt nach vorn. Athalarich sah seinen vorstoßenden Arm, hörte ein leises Knirschen. Blut spritzte. Honorius brach über den Knochen zusammen.

Die Leute wichen entsetzt zurück. Papak quiekte wie ein ängstliches Schwein. Doch der Skythe fing Honorius auf und legte ihn auf den Boden.

Athalarich sah, dass Honorius’ Hinterkopf zertrümmert war. Er stürzte sich auf den jungen Mann, der hinter Honorius gestanden hatte und packte ihn an der Tunika. »Du warst es – ich habe es gesehen – da warst es. Warum? Er war doch ein Römer wie du, einer von euren eigenen…«

»Es war ein Unfall«, sagte der junge Mann ungerührt.

»Lügner!« Athalarich schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er aus Mund und Nase blutete. »Wer hat dich gedungen? Galla?« Athalarich holte zu einem weiteren Schlag gegen den Mann aus, doch starke Arme schlangen sich um seine Taille und zogen ihn weg. Athalarich zappelte in ihrem Griff und wandte sich an die anderen. »Helft mir. Ihr habt gesehen, was geschehen ist. Der Mann ist ein Mörder!«

Aber sie schauten ihn nur ausdruckslos an.

Und dann verstand Athalarich.

Das war alles geplant gewesen. Nur der entsetzte Papak und vermutlich auch der Skythe hatten nichts von diesem Mordplan gewusst – und Athalarich selbst, der Barbar, der mit den Gepflogenheiten einer mächtigen Zivilisation noch viel zu wenig vertraut war, als dass er sich ein solches Komplott überhaupt vorzustellen vermocht hätte. Durch die Ablehnung, das Bischofsamt zu übernehmen, war Honorius ein Störfaktor für Goten und Römer gleichermaßen geworden. Die Urheber dieser ebenso sinnlosen wie üblen Verschwörung hatten sich keinen Deut um Honorius’ Knochen geschert; den Ausflug ans Meer hatten sie nur als günstige Gelegenheit betrachtet. Vielleicht würden sie die Leiche des armen Honorius sogar ins Meer werfen und nicht einmal nach Burdigala überführen, um eine unangenehme Untersuchung zu vermeiden.

Dann riss Athalarich sich los und eilte zu Honorius. Der alte Mann, dessen zerschmetterter Kopf in den Armen des Skythen ruhte, atmete noch, hatte die Augen jedoch geschlossen.

»Lehrer. Hört Ihr mich?«

Zu seinem Erstaunen schlug Honorius noch einmal die Augen auf. »Athalarich?« Die Augen drehten sich langsam in den Höhlen. »Ich hörte ein lautes Knirschen, als wäre mein Kopf ein Apfel, in den jemand kraftvoll hineingebissen hätte…«

»Nicht sprechen.«

»Hast du die Knochen gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen.«

»Es war auch ein Mensch der Dämmerung, nicht wahr?«

»Mensch der Dämmerung«, sagte da der Skythe in stark akzentuiertem, aber verständlichem Latein. Athalarich war geschockt.

»Ah«, seufzte Honorius. Dann packte er Athalarichs Hand so fest, dass es schmerzte.

Athalarich war sich des stummen Kreises um sich herum bewusst, der Männer aus dem Osten, der Goten und der Römer, die alle außer dem Skythen und dem Römer Komplizen in diesem Mord waren. Der Händedruck erschlaffte. Ein letzter Schauder, und Honorius war tot.

Der Skythe legte Honorius’ Leiche vorsichtig auf die Knochen, die er entdeckt hatte – Neandertaler-Gebeine, die Knochen eines Geschöpfs, das sich selbst als den Alten Mann betrachtet hatte –, und die Blutlache tränkte langsam den steinigen Boden.

Der Wind drehte. Eine salzige Brise von der See wehte in die Höhle.

KAPITEL 16 Ein tropisches Flussufer Darwin, Nördliches Territorium, Australien, 2031 n. Chr.

I

In Rabaul entfalteten die Ereignisse sich nach einer unerbittlichen Logik, als ob der große Vulkan und die in ihm verborgene Tasche aus Magma eine riesige geologische Maschine seien.

Der erste Spalt tat sich im Boden auf. Eine große Wolke aus Asche stieg in den rauchigen Himmel empor, und rot glühende Gesteinsschmelze schoss wie eine Fontäne heraus. Obwohl das aufsteigende Magma sich noch immer etwa fünf Kilometer unter der Erdoberfläche konzentrierte, hatte Rabauls dünne Kruste dem Druck nicht mehr standgehalten.

Darwin wurde von heftigen Beben erschüttert.

Es war das Ende des ersten Konferenztags. Die Teilnehmer kehrten von den verschiedenen Lokalitäten, in denen sie zu Abend gegessen hatten, zurück und strömten in die Hotelbar. Joan saß auf einem Sofa, hatte die Füße auf den Tisch gelegt und beobachtete die Leute, die sich mit Drinks, Joints und Pillen in kleinen Gruppen versammelten und aufgeregt durcheinander redeten.

Die Delegierten waren typische Akademiker, sagte Joan sich amüsiert. Eine Kleiderordnung kannten sie nicht, sondern sie waren ganz nach Gusto gekleidet. Man trug die signalorangefarbenen Sakkos und grünen Hosen, die von Europäern wie Holländern und Deutschen bevorzugt zu werden schienen, Sandalen, T-Shirts und Shorts der kleinen kalifornischen Abordnung und sogar ein paar ostentativ getragene Volkstrachten. Akademiker kokettierten immer damit, dass sie einfach anzogen, was sie gerade aus dem Kleiderschrank zogen, doch mit ihrer ›unbewussten‹ Wahl gaben sie mehr über ihre Persönlichkeit preis als Leute, die jeder Mode hinterher hechelten – wie zum Beispiel die Alison Scotts dieser Welt.

Die Bar selbst war ein typisches Beispiel für die moderne Konsum-/Unternehmenskultur, sagte Joan sich. An jeder ›intelligenten‹ Wand prangten Logos, Werbesprüche, Nachrichten und Ausschnitte von Sportereignissen, und alle versuchten sich gegenseitig zu übertönen. Selbst die Untersetzer auf dem Tisch vor ihr spulten eine animierte Bier-Werbung nach der anderen ab. Es war wie in einem Pandämonium. Jedoch war sie in einer solchen Umgebung aufgewachsen, wenn man die friedliche Stille bei den Ausgrabungen ihrer Mutter außer Acht ließ. Nach diesem unheimlichen Zwischenspiel auf dem Flugfeld – dem Heulen der Triebwerke, den entfernten Schüssen und der düsteren mechanischen Realität – fühlte sie sich wie in Trance. Dieses permanente dumpfe Brüllen war auf seine Art zwar tröstlich, aber es hatte auch die tödliche Eigenart, einen einzulullen.

Doch nun erfüllten die Bilder der sich verstärkenden Eruption von Rabaul die smarten Wände und blendeten die Sport- und Nachrichtenkanäle aus – sogar eine Live-Schaltung von Ian Maughans Marssonde.

Alyce Sigurdardottir reichte Joan eine Soda. »Dieser junge Aussie-Barman ist ein lecker Kerlchen«, sagte sie. »Göttliche Haare und Zähne. Wäre ich vierzig Jahre jünger, würde ich mich an ihn ranmachen.«

Joan nahm einen Schluck Soda und fragte Alyce: »Meinen Sie, dass die Leute Angst haben?«

»Wovor – vorm Vulkanausbruch oder vor den Terroristen? Im Moment halten Aufregung und Angst sich die Waage. Das könnte sich aber bald schon ändern.«

»Ja. Alyce, hören Sie zu.« Joan beugte sich zu ihr hinüber. »Die Ausgangssperre, die die Polizei wegen Rabaul über uns verhängt hat…« Die offizielle Version lautete, dass die Asche von Rabaul durch die Vermischung mit der Asche der weiter entfernten Waldbrände eine schwach giftige Substanz ergab. »Das ist aber nicht die ganze Wahrheit.«

Alyce nickte, und ihr runzliges Gesicht verhärtete sich. »Lassen Sie mich raten. Die Viert-Weltler.«

»Sie haben Windpocken-Bomben rund ums Hotel deponiert. Behaupten sie jedenfalls.«

Alyces Gesicht zeigte dezidierten Abscheu. »Mein Gott. Wie damals im Jahr 2001.« Sie spürte Joans Zögerlichkeit. »Hören Sie zu. Wir dürfen wegen dieser Arschlöcher nicht aufgeben. Wir müssen mit der Konferenz weitermachen.«

Joan ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Wir sind schon unter Druck. Es hat für die meisten Teilnehmer eine Mutprobe bedeutet, überhaupt hierher zu kommen. Und nun werden wir auch noch auf dem Flughafen angegriffen. Wenn die Teilnehmer Wind von diesem Windpocken-Gerücht bekommen… Vielleicht droht die Stimmung zu kippen, wenn heute Abend die Bull Session losgeht.«

Alyce legte die Hand auf Joans. »Einfacher wird es bestimmt nicht. Und bedenken Sie, dass Ihre ›Bull Session‹ das eigentliche Thema der Veranstaltung ist.« Sie streckte den Arm aus und nahm Joan das Sodaglas ab. »Geben Sie sich einen Ruck.«

Joan lachte. »Ach, Alyce…«

»Hoch mit Ihnen!«

Joan kam sich vor wie ein ängstlicher Assistent von Alyce, den sie zur Beobachtung von Menschenaffen in den gefährlichen Busch scheuchte. Doch sie fügte sich. Sie streifte die Schuhe ab und stieg mit Alyces Hilfe auf einen Kaffeetisch.

Sie wurde von Gefühlen der Peinlichkeit und Absurdität überwältigt. Wie kam sie überhaupt auf die Idee, sich auf die Hinterbeine zu stellen und einem akademischen Publikum einen Vortrag über die Rettung der Welt halten zu wollen, wo die Konferenz buchstäblich angegriffen wurde? Doch wer A sagt, muss auch B sagen, und die Leute schauten schon zu ihr herüber. Also klatschte sie in die Hände, bis sie die Aufmerksamkeit des größten Teils der Anwesenden auf sich gezogen hatte.

»Liebe Freunde, ich bitte um Entschuldigung«, hob Joan zögerlich an. »Aber ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Wir haben den ganzen Tag hart gearbeitet, aber ich kann Sie leider noch nicht in den Feierabend entlassen.

Wir sind hier, um den Einfluss der Menschheit auf die Welt vor dem Hintergrund unsrer evolutionären Entstehung zu diskutieren. Wir haben uns hier zu einer einzigartigen Gruppe zusammengefunden – sie ist interdisziplinär, international und einflussreich. Wahrscheinlich weiß kein Mensch besser als wir, weshalb und wie wir in dieses Schlamassel geraten sind. Das bietet uns die Gelegenheit – eine vielleicht einmalige und nicht wiederholbare Chance –, mehr zu tun, als nur darüber zu reden.

Dass ich Sie zusammengerufen habe, hatte einen weiteren Grund, den ich Ihnen bisher noch nicht genannt habe. Ich möchte diesen Abend als Sondersitzung nutzen, als außerordentliche Sitzung. Und wenn sie so verläuft, wie ich es mir erhoffe, dann wird diese Sitzung vielleicht der Anfang eines völlig neuen Diskurses sein und eine neue Hoffnung gebären.« Sie schämte sich fast wegen dieser unwissenschaftlichen Diktion, und wirklich schürzten viele Leute die Lippen und runzelten die Stirn. »Also füllen Sie Ihre Gläser, Ampullen und Reagenzgläser, nehmen Sie irgendwo Platz und hören mir zu.«

Und so hielt sie in dieser namenlosen Bar, während die Konferenzteilnehmer sich auf Stühlen, Barhockern und Tischen niederließen, einen Vortrag über Artensterben.

Joan lächelte. »Selbst Paläontologen wie ich verstehen etwas von Kooperation und Komplexität. Papa Darwin selbst bringt gegen Ende des Ursprungs der Arten eine Metapher, die es auf den Punkt bringt.« Verlegen las sie es von einem Zettel ab: »›Man stelle sich ein tropisches Flussufer vor, das mit vielen Pflanzen vieler Arten bewachsen ist, wo Vögel im Gebüsch singen, wo Insekten umherschwirren und wo Würmer durch die feuchte Erde kriechen. Und dann bedenke man, dass diese präzise konstruierten Lebensformen, die sich so sehr voneinander unterscheiden und die doch in mannigfaltiger Hinsicht voneinander abhängig sind, alle von den Gesetzen hervorgebracht wurden, die um uns herum walten‹…«

Sie legte den Zettel hin. »Und nun ist dieses tropische Flussufer bedroht. Einzelheiten muss ich Ihnen nicht erst schildern.

Wir stecken zweifelsfrei inmitten eines Massensterbens. Die Details sind erschütternd. In meiner Lebenszeit sind die letzten wilden Elefanten von den Savannen und aus den Wäldern verschwunden. Es gibt keine Elefanten mehr! Wie sollen wir das jemals gegenüber unsren Enkelkindern rechtfertigen? In meiner Lebenszeit haben wir bereits ein Viertel aller Spezies verloren, die im Jahr 2000 existiert hatten. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, werden wir bis zum Ende des Jahrhunderts zwei Drittel aller Spezies vernichten, die 1900 existiert hatten. Der Vorgang ist so schwerwiegend, dass er schon in die Kategorie der fünf größten Katastrophen der an Katastrophen gewiss nicht armen Erdgeschichte fällt.

Derweil hat die von Menschen verursachte Klimaänderung sich als noch viel schwerwiegender erwiesen, als die meisten Wissenschaftler vorhergesagt hatten. Die großen afrikanischen Küstenstädte, von Alexandria bis Lagos, sind ganz oder teilweise überflutet, sodass Dutzende Millionen Menschen obdachlos geworden sind. Bangladesh steht fast vollständig unter Wasser. Und wenn man nicht für ein paar Milliarden Dollar einen Küstenschutz errichtet hätte, dann wäre Florida auch schon ein Archipel. Und so weiter.

Das ist alles unsre Schuld. Wir haben uns der Natur einfach übergestülpt. Etwa einer von zwanzig Menschen, die jemals existiert haben, lebt heute – bei anderen Spezies beträgt dieses Verhältnis eins zu tausend. Wir zerstören die Erde zwangsläufig.

Doch selbst jetzt stellt man sich noch die Frage: Kommt es wirklich darauf an? Dann verlieren wir halt ein paar putzige Säugetiere und eine Menge Käfer, von denen eh noch kein Schwein gehört hat. Aber was soll’s? Hauptsache, uns gibt es noch.

Ja, uns gibt es noch, aber das Ökosystem gleicht einer riesigen Lebenserhaltungsmaschine. Es beruht nämlich auf den Interaktionen von Spezies auf allen Stufen des Lebens, von den primitivsten Pilzfäden, die Wurzeln von Pflanzen ernähren, bis hin zu den gewaltigen globalen Zyklen von Wasser, Sauerstoff und Kohlendioxid. Darwins Bild vom tropischen Ufer passt wirklich. Wie bleibt die Maschine aber stabil? Wir wissen es nicht. Was sind die wichtigsten Bauteile? Wir wissen es nicht. Wie viele vermögen wir herauszunehmen, ohne dass die Maschine versagt? Das wissen wir genau so wenig. Selbst wenn wir in der Lage wären, die Spezies zu identifizieren und zu retten, die wir für unser Überleben brauchen, wüssten wir nicht, von welchen Spezies die wiederum abhängen. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, dann werden wir die Grenzen unsrer Belastung bald herausfinden.

Vielleicht sehe ich das zu schwarz. Aber ich glaube schon, dass es einen großen Unterschied machen wird, ob wir durch unsere eigene Dummheit aussterben. Weil wir der Welt nämlich etwas geben, das sie in ihrer ganzen langen Geschichte noch von keinem anderen Lebewesen bekommen hat. Und das ist Intelligenz und zielgerichtetes Handeln. Wir sind in der Lage, einen Ausweg zu finden.

Also lautet meine Frage – im Vollbesitz der geistigen Kräfte –, was wir nun zu tun haben?«

Sie verstummte unsicher und blieb auf dem Kaffeetisch stehen.

Ein paar Leute nickten. Andere schauten gelangweilt.

Alison Scott war die erste, die sich erhob. Sie klappte die langen Beine grazil aus. Joan hielt den Atem an.

»Sie erzählen uns nichts Neues, Joan. Der langsame Tod der Biosphäre ist… äh… eine Banalität. Ein Klischee. Und ich muss auch darauf hinweisen, dass das, was wir getan haben, unvermeidbar war. Wir waren Tiere, wir sind Tiere und werden uns auch weiterhin wie Tiere verhalten.« Das wurde mit einem missmutigen Raunen quittiert. »Man weiß von anderen Tieren, dass sie sich selbst ausgerottet haben«, sattelte Scott noch einen drauf. »Im zwanzigsten Jahrhundert wurden Rentiere auf einer kleinen Insel im Beringmeer ausgesetzt. Eine ursprüngliche Population von neunundzwanzig schwoll in zwanzig Jahren auf sechstausend an. Ihre Nahrung bestand jedoch aus langsam wachsenden Flechten, die schneller abgegrast wurden, als sie nachzuwachsen vermochten.«

»Rentiere verstehen freilich nichts von Ökologie«, rief jemand.

»Wir haben das im Lauf der Geschichte aber auch getan«, sagte Scott ungerührt. »Das Beispiel der polynesischen Inseln ist allgemein bekannt. Und die orientalische Stadt Petra…«

Wie Joan gehofft hatte, zerfiel die Gruppe in kontrovers diskutierende Grüppchen.

»… die Schuld dieser Menschen der Vergangenheit, die unfähig waren, ihre Ressourcen zu verwalten, bestand nur in der Unfähigkeit, ein schwieriges ökologisches Problem zu lösen…«

»… Wir bewältigen bereits Energie- und Masseströme in einem Maßstab, der natürlichen Prozessen gleichkommt. Nun müssen wir diese Prozesse eben steuern…«

»… Es ist aber riskant, an die Grundlagen eines ohnehin schon überfüllten Planeten zu rühren…«

»… All diese technischen Maßnahmen würden selbst Energie kosten und würden die Erwärmung des Planeten noch verstärken…«

»… Unsre Zivilisation hat keine gemeinsame Agenda. Welche Lösung würden Sie für die politischen, rechtlichen, kulturellen und finanziellen Aspekte denn anbieten, die sich aus Ihren Vorschlägen ergeben…?«

»… Diesen technokratischen Mist höre ich schon seit Jahrzehnten! Was ist das hier, eine NASA-Kollekte?«

»… Ich sage, scheiß aufs Ökosystem. Wer braucht denn noch Frösche und Kröten? Ich plädiere für eine drastische Vereinfachung. Man müsste nur CO2 absorbieren, Sauerstoff produzieren und die Wärme regulieren. Das kann doch nicht so schwer sein.«

»… Meine Dame, wollen Sie wirklich in einer Blade Runner-Welt leben?«

Joan musste erneut um die Aufmerksamkeit der Gruppe bitten. »Wir brauchen eine gemeinsame Willensanstrengung und müssen in einem nie gekannten Maß alle Kräfte mobilisieren.

Aber vielleicht müssen wir die richtige Lösung erst noch finden.«

»Genau«, sagte Alison Scott und erhob sich wieder. Sie legte ihren beiden Töchtern die Hände auf das glänzende türkisfarbene Haar. »Engineering ist ein ausgeträumter Traum des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Lösung liegt nicht da draußen, sondern wir müssen sie in uns finden.«

Diese Äußerungen stießen auf offene Ablehnung. »… Sie meint damit, Babys zu klonen, wie ihre beiden kleinen Freaks…«

»Ich spreche von Evolution«, sagte Scott barsch. »Das geschieht nämlich mit einer Spezies, wenn ihre Umwelt sich verändert. Im Lauf unsrer Geschichte haben wir uns als eine erstaunlich anpassungsfähige Spezies erwiesen.«

Eine schwarze Frau in den Sechzigern stand auf. Joan kannte sie: Sie hieß Evelyn Smith und war eine der prominentesten Evolutionsbiologinnen ihrer Zeit. »Bei menschlichen Populationen ist schon seit ein paar Dutzend Jahrtausenden keine natürliche Auslese mehr erfolgt«, sagte sie kalt. »Anderslautende Behauptungen sind ein Beleg dafür, dass der zugrunde liegende Mechanismus nicht verstanden wurde. Wir unterdrücken nämlich die Prozesse, die die Selektion vorantreiben: Unsre Waffen haben Räuber eliminiert, der landwirtschaftliche Fortschritt hat den Hunger eingedämmt und so weiter. Aber das wird sich ändern, wenn der bevorstehende Kollaps eintritt. Und dann wird auch die Selektion wieder in Gang gesetzt. Davon handelt zufällig auch mein Vortrag im Seminar Drei.«

Das rief Protest hervor.

»… was soll das heißen, ›bevorstehender Kollaps‹?«

»… Trotz des oberflächlichen Glanzes weist unsre Gesellschaft Symptome des Niedergangs auf: zunehmende soziale Ungleichheit, abnehmender Grenzertrag des Wirtschaftswachstums, Niedergang des Bildungswesens und der geistigen Leistungen…«

»… Ja, und der Tod des Spirituellen. Selbst wir Amerikaner legen nur Lippenbekenntnisse gegenüber Werten ab – der Flagge, der Verfassung und der Demokratie. Stattdessen lassen wir es zu, dass die Konzerne Macht über unser Leben erlangen und trösten uns mit Mystizismus und esoterischem Firlefanz. Das ist aber kein einmaliger Vorgang. Die Parallelen zum alten Rom sind unübersehbar…«

»… Nur dass wir nun durch die Globalisierung weltweit in einem Boot sitzen. Falls der Zusammenbruch kommt, wird vielleicht nicht mehr viel Asche da sein, aus der wir wie Phönix wieder aufsteigen könnten…«

»… Eine absurd pessimistische Annahme – wir haben früher schon ähnliche Situationen bewältigt…«

»… Wir haben alle leicht zugänglichen Bodenschätze ausgebeutet und verheizt; falls wir abstürzen, hätten wir nichts mehr, auf dem wir wieder aufbauen könnten…«

»Worauf ich hinaus will«, sagte Smith, »ist, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«

Diese leise gesprochenen Worte brachten zunächst alle zum Schweigen, und Joan sah ihre Gelegenheit gekommen.

»Wenn wir also nicht in die alten Zeiten zurückfallen wollen, als wir nur ein Tier unter vielen in der Ökologie waren, müssen wir einen Ausweg aus diesem Schlamassel finden. Und ich glaube auch, dass es einen solchen Ausweg gibt.«

Sie strich sich abwesend über den Bauch und lächelte. »Einen neuen Weg. Und zugleich ein Weg, den wir längst kennen. Der Weg der Primaten.«

Und sie skizzierte ihre Vision.

Die menschliche Kultur, sagte Joan, sei eine Adaption gewesen, um den Menschen während der Klimakapriolen des Pleistozäns das Überleben zu ermöglichen. Doch nun führte diese Kultur durch Rückkopplung in einer epochalen Ironie zu einer noch größeren Umweltkatastrophe. Die Kultur, die einst so überaus adaptiv gewesen war, war nun maladaptiv geworden und würde sich ändern müssen.

»Das Leben ist nicht nur Konkurrenz«, sagte sie. »Es ist auch Kooperation. Gegenseitige Abhängigkeit. Das ist es immer schon gewesen. Die ersten Zellen waren auf die Kooperation mit den einfacheren Bakterien angewiesen. Das galt auch für die ersten Ökologien, den Stromatolithen. Und heute ist unser Leben so von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt, dass wir in Zukunft alle an einem Strang ziehen müssen.«

»… Sie sprachen gerade von Globalisierung. Von welcher Firma werden Sie gesponsert?«

»… Wir kehren zu Gäa und anderen Erdgöttinnen zurück, nicht wahr?«

»Unsre globale Gesellschaft ist mittlerweile so sehr vernetzt, dass sie zu etwas in der Art eines Holon wird«, sagte Joan. »Eine einzige, zusammengesetzte Wesenheit. Wir müssen lernen, uns als solche zu betrachten. Wir müssen uns auf die andere Hälfte unsrer Primatennatur stützen, die eben nicht von Konkurrenzdenken und Fremdenfeindlichkeit geprägt ist. Primaten neigen viel eher zur Kooperation als zur Konkurrenz. Schimpansen tun es, Lemuren tun es, Pithecinen und Neandertaler müssen es getan haben, und wir tun es. Die menschliche Interdependenz ist sozusagen ein konstituierendes Merkmal unsrer Geschichte. Und ohne dass wir es geplant hätten, haben wir die Biosphäre ursurpiert – und wir müssen lernen, sie gemeinsam zu verwalten.«

Alison Scott erhob sich wieder. »Was genau wollen Sie eigentlich, Joan?«

»Ein Manifest. Einen Aufruf. Ein Schreiben an die UN, von uns allen unterzeichnet. Wir müssen den Anfang machen und etwas Neues beginnen. Wir müssen den Weg in eine nachhaltige Zukunft bereiten. Wer, wenn nicht wir?«

»… Hurra, wir retten die Welt…«

»… Sie hat Recht. Gäa wird nicht unsere Mutter, sondern unsre Tochter sein…«

»… Was veranlasst Sie überhaupt zu der Annahme, einer der Mächtigen würde auf einen Haufen Wissenschaftler hören? Das haben sie noch nie getan. Sie leben in einem Wolkenkuckucksheim…«

»Sie werden schon auf uns hören, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht«, sagte Evelyn Smith.

Alyce Sigurdardottir erhob sich. »Konfuzius sagte: ›Wer behauptet, es könne nicht getan werden, möge denjenigen Platz machen, die es doch tun.‹« Sie reckte die kleine Faust zum Black Power-Gruß. »Wir sind nach wie vor nur Primaten. Stimmt’s?«

Trotz der paar Zwischenrufe sah Joan, dass der Ausdruck in den Gesichtern der Leute wohlwollender geworden war. Es wird funktionieren, sagte sie sich. Wir stehen zwar erst am Anfang, aber es wird funktionieren. Wir können es schaffen. Sie strich sich über den Bauch.

Im Prinzip hatte sie Recht; es hätte funktionieren können.

Der politische und wirtschaftliche Druck hätte durchaus ein Umdenken bei den globalen Machtspielern zu bewirken vermocht, von dem bisher nichts zu merken war. Joan Usebs Ideen wären durchaus als Vorlage geeignet gewesen, durch die Integration des alten Primaten-Instinkts ›Kooperation‹ Synergieeffekte zu erzielen. Und die hätten auch über das bloße ökologische Management hinauszugehen vermocht. Schließlich hatte keine der bisherigen Arten – nicht in den vier Milliarden Jahren des Lebens auf der Erde – das Potential gehabt, sich global zu vernetzen. Im Lauf der Zeit hätte Joans Ansatz vielleicht einen kognitiven Durchbruch geschafft, der so signifikant gewesen wäre wie die Integration von Mutters Generation.

Die Menschen waren intelligent genug geworden, um ihren Planeten zu beschädigen. Es wäre vielleicht nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie intelligent genug wurden, um ihn zu retten.

Nur eine Frage der Zeit.

Doch plötzlich gingen die Lichter aus. Es ertönten Explosionen wie hallende Schritte. Die Leute liefen schreiend durcheinander.

Inzwischen waren die Erdbeben um Rabaul immer stärker geworden. Schließlich rissen sie den Meeresboden über Rabauls Magmakammer auf. Das Magma stieg durch bis zu dreihundert Meter breite Tunnel an die Oberfläche. Und dann strömte Meerwasser in die Tunnel und verdampfte schlagartig. Gleichzeitig waren durch den hohen Druck in der Tiefe Gase wie Kohlendioxid und Schwefelverbindungen im Magma gebunden gewesen, wie die Kohlensäure in einer Mineralwasserflasche. Und nun zersprang die Flasche, und die Gase sprudelten heraus.

In den Gesteinskammern stieg der Druck exponentiell an.

II

Die Notbeleuchtung wurde eingeschaltet und erfüllte den Raum mit einem kalten Glühen.

Die abgehängte Decke war in Kunststoffsplitter zerbrochen, die auf die fliehenden Kongressteilnehmer herabregneten. Joan sah, dass Alison Scott ihre beiden Mädchen packte und sich mit ihnen in eine Ecke verkroch. Der freigelegte Dachstuhl mit den isolierten Rohren und Kabeln glich einer dunklen, schmutzigen Höhle.

Dünne Nylonseile schlängelten sich durch die mit Kunststoffpartikeln geschwängerte Luft. Ihr Blick fiel auf schwarz gekleidete Gestalten, die sich wie Spinnen durch den Dachraum bewegten und sich auf den mit Splittern übersäten Boden der Bar abseilten. Sie trugen hautenge schwarze Overalls und Kapuzen mit silbrigen Augenbinden. Sie zählte fünf, sechs, sieben von ihnen. Sie vermochte aber nicht zu sagen, ob es sich bei ihnen um Männer oder Frauen handelte. Sie alle trugen kompakte automatische Waffen.

Alyce Sigurdardottir wollte sie am Arm vom Tisch herunterziehen. Aber sie sträubte sich, denn sie wusste, dass sie noch immer im Mittelpunkt stand; sie hatte das – vielleicht irrationale – Gefühl, dass die Lage sich noch verschlechtern würde, wenn sie sich ins Chaos hineinziehen ließe.

Einer der Eindringlinge führte das Kommando. Unten angekommen, versammelten die anderen sich um ihn, während er die Lage sondierte. Ein Er oder eine Sie? Nein, ein Er, sagte Joan sich; bei einer solchen Gruppe wird es sich um einen Mann handeln. Zwei der Eindringlinge blieben beim Anführer. Die anderen vier liefen zu den Türen. Sie hielten sich mit dem Rücken zur Wand und richteten ihre Waffen auf die Delegierten, die sich wie Schafe in der Mitte des Raums zusammendrängten.

Es gab hier nur einen Angehörigen des Hotelpersonals: den Barkeeper, den jungen Australier, an dem Alyce Gefallen gefunden hatte. Er war schlank und hatte lockiges schwarzes Haar – er stammte sicher von einem Eingeborenen ab, sagte Joan sich – und trug eine Fliege und eine Satinweste. Nun bewies er großen Mut und trat mit ausgebreiteten Händen vor. »Hören Sie«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie hier wollen. Aber wenn ich Ihnen ein…«

Das Geräusch der Waffe war gedämpft und klang irgendwie so, als ob ein Leopard hustete. Der Junge krümmte sich und ging zu Boden. Plötzlich stank es nach im Todeskampf abgesondertem Kot, ein Geruch, den sie seit Afrika nicht mehr wahrgenommen hatte. Die Delegierten schrien, wichen zurück oder erstarrten; jeder versuchte auf seine Weise, die Aufmerksamkeit der Mörder von sich abzulenken.

Derweil durchliefen die intelligenten Wände ungerührt ihre Zyklen und zeigten bedeutungslose Bilder des Vulkans auf Neu Guinea, die Robot-Fabriken auf dem Mars, Werbespots für Bier und Medikamente und technische Gimmicks.

Wie Joan erwartet hatte, kam der Anführer, nachdem er den exemplarischen Mord begangen hatte, auf sie zu. Die Waffe hatte er wieder eingesteckt; wahrscheinlich war sie immer noch heiß. Sein Visier war in die Kapuze eingenäht. Die Montur war farblich aufeinander abgestimmt, beinahe schick.

»Haben Sie etwa Angst, Ihr Gesicht zu zeigen?«, fragte sie schroff, bevor er etwas zu sagen vermochte.

Er lachte und streifte die Kapuze ab. Ja, sie hatte Recht gehabt – es war ein Er. Sein Kopf war kahl geschoren. Er hatte weiße Haut und braune Augen. Er war vielleicht fünfundzwanzig, sicher nicht viel älter als der Barkeeper, den er eben getötet hatte. Er musterte sie und nahm nach ihrer unausgesprochenen Hausforderung bei ihr Maß.

Seine Leute zogen nun auch die Kapuzen herunter. Sie alle hatten sich ostentativ den Kopf kahl geschoren. Es waren vier Männer, einschließlich des Anführers, und drei Frauen.

»Sind Sie Pickersgill?«, fragte Joan.

Der Anführer lachte. »Pickersgill existiert gar nicht. Der globale Polizeistaat jagt eine Schimäre. Pickersgill ist ein ebenso witziges wie nützliches Phantom.« Er hatte den Akzent des amerikanischen mittleren Westens, jedoch mit einem leicht exotischen Einschlag; das amerikanische Englisch hatte inzwischen eine weltweite Dominanz erlangt, sodass dieser Mann von überall hätte stammen können.

»Wer sind Sie dann?«

»Ich bin Elisha.«

»Elisha, sagen Sie mir, was Sie wollen«, sagte Joan vorsichtig.

»Sie bestimmen die Agenda jetzt nicht mehr«, sagte er. »Ich will Ihnen aber sagen, was wir getan haben. Doktor Joan Useb, wir haben die Krankheit freigesetzt.«

Joan bekam eine Gänsehaut.

»Sie sind alle infiziert. Wir sind infiziert. Ohne Behandlung werden die meisten von uns in ein paar Tagen sterben. Falls diese Lage jedoch zu unserer Zufriedenheit gelöst wird, werden wir vielleicht alle überleben. Aber wir sind auch bereit, dafür zu sterben, woran wir glauben. Sind Sie das auch?«

»Wollen Sie auf den Tisch?«, fragte Joan nach kurzer Überlegung.

Er ging vorm Kaffeetisch auf und ab und ließ sich das Angebot durch den Kopf gehen. Der absurde kleine Tisch war das Zentrum der Macht in diesem Raum: Natürlich wollte er auf den Tisch. »Ja. Kommen Sie runter!«

Alyce half ihr vom Tisch herunter. Elisha sprang mit einem geschmeidigen Satz auf Joans improvisiertes Podium und erteilte seinen Kameraden mit bellender Stimme Befehle in einer Sprache, die wie Schwedisch klang.

»Klassisches Primaten-Verhalten«, murmelte Alyce. »Männliche Dominanzhierarchien. Paranoia. Xenophobie an der Grenze zur Schizophrenie. Das verbirgt sich unter dem Deckmantel des Freiheitskampfes.«

»Aber wir müssen uns mit diesen Freiheitskämpfern arrangieren, wenn wir hier unbeschadet raus wollen…«

Der Rest des Satzes ging in einem lauten Flappen unter, als ob ein Flugsaurier zum Landeanflug auf dem Dach des Hotels ansetzte. Es war ein Hubschrauber, der über dem Hotel schwebte. Und dann dröhnte eine megaphonverstärkte Stimme durch die Wände und gab sich als Polizei zu erkennen.

Die Terroristen feuerten mit ihren Waffen durchs Dach, worauf noch mehr Stücke von der Decke herunterkamen. Die Konferenzteilnehmer duckten sich schreiend und verstärken somit noch das Tohuwabohu, das die Angreifer erzeugen wollten, sagte Joan sich und presste sich die Hände auf die Ohren. Als die Polizei die Durchsage abbrach, wurde das Feuer eingestellt.

Joan stand vorsichtig auf und klopfte sich den Staub ab. Sie hatte seltsamerweise keine Angst. Sie schaute zu Elisha auf, der mit rotem Kopf und schwer atmend auf dem Kaffeetisch-Podium stand; die Waffe hatte er sich über die Schulter gelegt. »Sie haben keine Chance, das zu bekommen, was Sie wollen – was auch immer es ist –, wenn Sie nicht mit ihnen sprechen.«

»Aber ich muss doch gar nicht mit der Polizei sprechen oder mit ihren Psychologen, die einem immer nur das Wort im Mund umdrehen. Nicht, wenn ich Sie hier habe – Sie, die selbsternannte Führerin der neuen Globalisierung, dieses holon.«

Alyce seufzte. »Wieso habe ich nur das Gefühl, dass ein so harmloses Wort plötzlich zum Namen eines neuen Dämons wird?«

»Wir haben Ihrer grandiosen Rede unterm Dach gelauscht, im Schutz der Dunkelheit – wie überaus passend!«

»Sie verstehen wirklich…«, sagte Joan. Sie verstehen wirklich gar nichts. Die falschen Worte, Joan. »Bitte. Sagen Sie mir Ihr Anliegen.«

Er musterte sie. Dann stieg er vom Tisch herunter. »Hören Sie mir zu«, sagte er leise. »Ich habe gehört, was Sie über den Globalorganismus gesagt haben, zu dem wir uns bald vereinigen müssen. Klingt gut. Aber jeder Organismus braucht auch eine Grenze. Was ist mit denjenigen jenseits der Grenze? Dr. Joan Useb, wissen Sie eigentlich, dass die dreihundert reichsten Leute des Planeten mehr besitzen wie die ärmsten drei Milliarden ihrer Mitmenschen? Hinter der Bastion der Elite sind ein paar Regionen praktisch versklavt, und die Arbeitskraft und die Körper dieser Menschen werden ausgebeutet – beziehungsweise Teile ihres Körpers. Wie soll Ihr globales Nervensystem auf ihr Elend reagieren?«

Ihre Gedanken jagten sich. Alles, was er sagte, klang auswendig gelernt. Natürlich war es das: Dies war sein Moment, die Wegscheide seines Lebens; bei allem, was sie nun tat, musste sie das berücksichtigen. War er vielleicht ein Student? Wenn er eine Art kultureller Kolonial-Typ der letzten Tage auf einem Schuld-Trip war, dann vermochte sie vielleicht irgendwelche Schwachstellen bei ihm zu finden und dort anzusetzen.

Aber er war auch ein Mörder, wie sie sich erinnerte. Er hatte eiskalt getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie fragte sich, welche Drogen er wohl nahm.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte jemand. Dieser Jemand erwies sich als Alison Scott. Sie stand vor Elisha und hatte ihre beiden verängstigten Töchter an ihrer Seite; ihr blaugrünes Haar leuchtete im flackernden Schein der Wände.

Joan verspürte plötzlich einen Schmerz im Unterleib, der so heftig war, dass ihr die Luft wegblieb. Sie hatte das Gefühl, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten.

Bex starrte sie anklagend an.

»Bex, bist du in Ordnung?«

»Sie hatten doch gesagt, dass vom Rabaul keine Gefahr ausginge. Sie sagten, es sei ganz unwahrscheinlich, dass er gerade dann ausbrechen würde, wenn wir hier sind. Sie sagten, hier seien wir sicher.«

»Es tut mir Leid. Wirklich… Alison, bitte setzen Sie sich. Es gibt nichts, was Sie tun können.«

Scott beachtete sie überhaupt nicht. »Schauen Sie, wer auch immer Sie sind, was auch immer Sie wollen, uns ist heiß, wir sind müde, durstig und haben gesundheitliche Beschwerden.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Elisha ungerührt. »Das ist nur psychosomatisch. Sie sind neurotisch.«

»Sie sind nicht mein Psychoanalytiker«, knurrte Scott. »Ich verlange…«

»Sie verlangen immer nur, jammern und kriegen den Hals nicht voll.« Er ging auf Scott zu. Sie blieb unbeirrt stehen und schlang die Arme fest um ihre Mädchen. Elisha hob Bex’ aquamarinfarbenes Haar an, zupfte es sanft und zwirbelte es zwischen den Fingern. »Genmodelliert«, sagte er.

»Lassen Sie sie in Ruhe«, zischte Scott.

»Wie schön sie sind – wie Spielzeug.« Er strich mit der Hand über Bex’ Haar, streichelte ihr die Schulter und drückte dann ihre kleine Brust.

Bex schrie auf, und Scott zog sie von ihm weg. »Sie ist vierzehn Jahre alt…«

»Dr. Joan Useb, wissen Sie eigentlich, was sie tun, diese Gen-Ingenieure? Sie pfropfen ihren Kindern ein zusätzliches Chromosom auf, ein Extra-Chromosom mit Genen, mit denen sie nach ihrem Wunsch geformt werden. Und wissen Sie auch, was dieses Extra-Chromosom außer schönem Haar und Zähnen noch bewirkt? Es hält diese vollkommenen Kinder davon ab, sich mit uns altmodischen Homo sapiens zu paaren. Nun etablieren die Reichen sich schon als eine separate Spezies!« Scheinbar abwesend, als ob er eine Frucht vom Baum pflückte, entzog er Bex ihrer Mutter. Ein weiblicher Terrorist hielt Scott fest. Elisha riss dem Mädchen die Bluse auf, sodass ihr Spitzenbüstenhalter zu sehen war. Bex schloss die Augen – sie summte etwas wie ein Lied oder einen Reim.

»Elisha, bitte…« Joan verspürt erneut einen stechenden Schmerz im Bauch, eine jähe Aufwallung. Sie krümmte sich vor Schmerz. O Gott, nicht jetzt, sagte sie sich. Nicht jetzt.

Plötzlich war Alyce bei ihr. »Ganz ruhig. Setzen Sie sich.«

Joan sah, dass die Bilder an der Wand sich änderten. Ihr Blick war getrübt, doch schienen Orange, Schwarz und Grau nun die vorherrschenden Farben zu sein.

Alyce grinste; es war ein freudloses Grinsen wie von einem Totenschädel. Ein tolles Timing.

Elisha hatte das Mädchen an den Handgelenken gepackt und zog ihm die Arme über den Kopf.

»Kommen Sie schon, Elisha«, sagte Joan schnell. »Deshalb sind Sie doch nicht hier.«

»Wirklich nicht?«

»Wenn Sie bloß etwas zu ficken wollen«, sagte Scott grimmig, »nehmen Sie mich.«

»Danke, aber das würde nichts bringen«, sagte Elisha. »Es geht nicht um den Akt, sondern um die Symbolik, müssen Sie wissen. Dies ist nämlich das erste Mal seit der Ausrottung der Neandertaler, dass zwei unterschiedliche menschliche Spezies auf der Welt existieren.« Er starrte auf das Mädchen hinab. »Ist es überhaupt Vergewaltigung, wenn der Akt zwischen verschiedenen Spezies stattfindet?«

Plötzlich flogen die Türen aus den Angeln.

Es ertönten Schreie, Schritte und Schüsse. Schwarze Kügelchen wurden durch die offenen Türen geschleudert und zerplatzten. Weißer Rauch waberte durch die Luft.

Joan schaute auf die Terroristen und versuchte sie zu zählen. Zwei von ihnen waren gefallen, als die Türen aufgebrochen wurden. Zwei andere, die im Laufen schossen, fielen vor ihren Augen und verwandelten sich plötzlich in schlackernde Marionetten. Die meisten Kongressteilnehmer lagen auf dem Boden oder waren unter den Tischen in Deckung gegangen. Ein paar schienen verletzt zu sein: Sie sah reglose Schemen im Rauch und rote Blutlachen im grauen Zwielicht.

Eine neue Schmerzwelle lief durch Joans Unterleib.

Elisha stand auf einmal vor ihr. Er lächelte. Er hielt eine schwarze Schnur in der Hand, die von seinem Gürtel herabbaumelte.

Er hatte Bex schließlich doch losgelassen; das Mädchen hatte sich in die Arme seiner Mutter geflüchtet und lief weg.

»Elisha. Sie müssen nicht sterben.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Auf dem ganzen Planeten werden fünfhundert von uns die gleiche Aktion durchführen.«

Alyce streckte halb die Hand nach ihm aus. »Tun Sie das nicht, um Gottes willen…«

»Ihnen wird nichts geschehen«, sagte er. Er zog sich wieder die Kapuze über den Kopf. »Ich werde sterben, wie ich gelebt habe. Gesichtslos.«

»Elisha!«, schrie Joan.

Er zog an der Schnur, als ob er einen Rasenmäher startete. Ein Blitz zuckte an seiner Hüfte auf, und ein Gürtel aus Licht legte sich streiflichtartig um ihn. Dann löste die obere Hälfte seines Körpers sich von der unteren. Als er in der Mitte getrennt wurde, stieg ein stechender Gestank nach verbranntem Fleisch und Kot auf.

Alyce klammerte sich an Joan. »O Gott, o Gott.«

Der Rauch verdichtete sich und nahm ihnen die Sicht. John hustete wie ein Kettenraucher. Der Schmerz überkam sie erneut und schoss durch Unterleib und Rücken. Sie hielt sich an Alyce fest. »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, wie maladaptiv kollektiver Selbstmord ist?«

»Um Gottes willen, Joan…«

»Ich meine, für den Selbstmord einer Einzelperson kann es aus biologischer Sicht manchmal eine Rechtfertigung geben. Vielleicht werden ihre Angehörigen durch Selbstmord von einer Last befreit. Aber welchen biologischen Sinn hätte ein Gruppenselbstmord? Die Fähigkeit, an kulturelle Diktate zu glauben, ist adaptiv. Das muss so sein, oder wir würden sie gar nicht erst haben. Doch manchmal läuft der Mechanismus aus dem Ruder…«

»Wir sind verrückt. Ist es das, was Sie sagen wollen? Dass wir alle verrückt sind. Da stimme ich Ihnen zu.«

»Ma’am, bitte kommen Sie mit mir.« Ein Schemen erschien vor ihr. Er sah aus wie ein Soldat in einem Raumanzug, der nach ihr griff.

Erneut schoss Schmerz durch sie und löschte das klare Denkvermögen aus. Sie fiel gegen Alyce Sigurdardottir. Sie hörte eine weitere Explosion. Sie glaubte, sie käme von der Militäroder Polizeiaktion.

Aber sie irrte sich. Das war Rabaul gewesen.

Als das Meer in die Magmakammer eingedrungen war, wurde die Explosion unvermeidlich.

Magmabrocken wurden schneller als der Schall in die Luft geschleudert und erreichten eine Höhe von bis zu fünfzig Kilometern. Dort zerbrachen sie beim Erstarren in Fragmente, die von winzigen Aschepartikeln bis zu Brocken mit einem Durchmesser von einem Meter reichten. Durchsetzt wurde dieses Gemisch von Trümmerstücken des zerstörten Bergs. Diese Felsbrocken waren weit über die Troposphäre hinaus geschleudert worden, weit über die Gipfelhöhe von Flugzeugen und Ballons und sogar über die Ozonschicht hinaus. Die Bruchstücke von Rabaul vermengten sich mit Meteoriten und verglühten. Es war ein Himmel voller Steine.

Und auf der Erde breitete die Schockwelle sich mit doppelter Schallgeschwindigkeit von der zerstörten Caldera aus. Man hörte sie erst, als sie schon da war, und sie machte alles auf ihrem Weg dem Erdboden gleich: Häuser, Tempel, Bäume und Brücken. Auf ihrem Durchgang gab sie Energie an die Luft ab, verdichtete sie und heizte sie auf zu enormen Temperaturen. Alles Brennbare ging in Flammen auf.

Die Menschen sahen die Schockwelle kommen, aber sie vermochten sie nicht zu hören und schon gar nicht vor ihr zu fliehen. Sie verbrannten einfach wie ein vom Blitz getroffener Baum. Und das war erst der Anfang.

Soldaten in Monturen wie Raumanzügen trugen Joan aus der raucherfüllten Bar und aus dem Hotel ins Freie. Man legte sie auf eine Trage und beförderte sie im Laufschritt zum Parkplatz. Um sie herum herrschte hektische Betriebsamkeit: Menschen rannten umher, Fahrzeuge rasten übers Flugfeld und Helikopter ratterten in einem orangefarbenen Himmel.

Dann verfrachtete man sie in einen Kleinbus. Ein Krankenwagen? Eins, zwei, drei, hoch. Die Trage rutschte in den Innenraum des Fahrzeugs neben eine Art schmaler Koje. Die Wände waren mit einer unbekannten Ausrüstung gesäumt, die aber nicht piepte und summte, wie sie es aus den Krankenhaus-Seifenopern kannte, die sie früher so gern gesehen hatte.

Sie wedelte mit der Hand. »Alyce.«

Alyce nahm ihre Hand. »Ich bin hier, Joan.«

»Ich fühle mich wie eine Amphibie, Alyce. Ich schwimme in Blut und Urin, aber ich atme die Luft der menschlichen Kultur. Weder Fleisch noch Fisch…«

Alyces eingefallenes Gesicht erschien über ihr. Sie wirkte abwesend und ängstlich zugleich. »Was? Was haben Sie gesagt?«

»Wie spät ist es?«

»Joan, sparen Sie Ihren Atem. Sie werden ihn noch brauchen; ich spreche aus Erfahrung.«

»Ist es Tag oder Nacht? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Anhand des Himmels vermag ich es auch nicht zu sagen.«

»Meine Uhr ist kaputt. Nacht, glaube ich.«

Jemand machte sich an ihren Beinen zu schaffen – schnitt die Kleidung auf? Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung, und sie hörte das entfernte Wimmern einer Sirene wie das Heulen eines im Nebel verlorenen Tiers. Alles, was sie sah, war das dunkel lackierte, nackte Blechdach des Fahrzeugs, diese bedeutungslosen Ausrüstungsgegenstände und Alyces schmales Gesicht.

»Hören Sie, Alyce.«

»Ich bin hier.«

»Ich habe Ihnen noch gar nicht die wahre Geschichte meiner Familie erzählt.«

»Joan…«

»Falls ich das hier nicht überlebe«, sagte sie scharf, »erzählen Sie meiner Tochter, woher sie kam.«

Alyce nickte verstehend. »Sie sind als Sklaven nach Amerika gekommen.«

»Mein Urgroßvater hat die Geschichte rekonstruiert. Wir stammten aus dem heutigen Namibia, aus der Gegend von Windhuk. Wir waren San, die so genannten ›Buschmänner‹. Wir wären fast von den Bantu ausgerottet worden, und in der Kolonialzeit wurden wir wie Ungeziefer getötet. Aber wir bewahrten uns dennoch einen Teil unserer kulturellen Identität.«

»Joan…«

»Alyce, aus Genfrequenz-Untersuchungen geht hervor, dass der weibliche DNA-Strang der San-Frauen viel stärker differenziert ist als überall sonst bei Frauen auf der Erde. Daraus folgt, dass die San-Gene schon viel länger im südlichen Afrika vorkommen als alle anderen Gene sonst wo auf der Erde. Die Leute der San-Ahnenreihe sind diejenigen, die der direkten Abstammungslinie von unserer gemeinsamen Urmutter, der mitochondrischen Eva, am nächsten stehen.«

Alyce nickte. »Ich verstehe. Dann ist Ihr Kind also einer der jüngsten Menschen auf dem Planeten und zugleich der älteste.« Alyce nahm ihre Hand. »Ich verspreche, dass ich es ihr sagen werde.«

Der Schmerz kam nun in Wellen. Sie hatte das Gefühl, als ob das Bewusstsein sich auflöste, und sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Wissen Sie, statistisch gesehen finden menschliche Geburten in der Regel nachts statt. Ein uraltes Primaten-Merkmal, als Kinder noch in der Sicherheit eines Baumkronen-Nests geboren wurden oder wenigstens im Schutz der Dunkelheit.«

»Joan…«

»Lassen Sie mich reden, verdammt. Reden lindert den Schmerz.«

»Medikamente lindern den Schmerz.«

»Au! Jetzt geht’s aber los. Ist eine Hebamme in dieser verdammten Karre?«

»Das sind alles ausgebildete Rettungssanitäter. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

»Ich glaube, meine Tochter will unbedingt einen Blick in diesen Krankenwagen werfen.«

»Sie wissen, wie es gemacht wird. Atmen. Pressen.«

Sie atmete und schnaufte stoßweise.

Alyce behielt den Schauplatz des Geschehens im Auge. »Sie machen das gut.«

»Selbst wenn ich das Becken einer Pithecinen habe.«

»Sie sind wirklich eine Ulknudel, Joan Useb.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Sie kommt. Sie kommt.«

Die Schädelknochen des Babys waren weich, und so vermochte sich der große Homo Sapiens-Schädel unter dem Druck, mit dem er durch den Geburtskanal gepresst wurde, zu verformen. Und es vermochte bis zum Moment der Geburt ohne Sauerstoff auszukommen. Diese letzten Momente waren die extremste körperliche Umwandlung, die es bis zum Augenblick des Todes selbst erfahren würde. Jedoch wurde der Körper des Babys mit Opiaten und Analgetika geflutet. Es verspürte keinen Schmerz, nur die Fortsetzung des langen Gebärmutter-Traums, aus dem sich sein Selbst, seine Identität allmählich herauskristallisiert hatte.

Ein mit einem Raumanzug bekleideter Sanitäter nahm Joans Kind, blies ihm in die Nase und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Ein kräftiges Schreien erfüllte den Krankenwagen. Das feuchte kleine Würmchen wurde schnell in eine Decke gewickelt und Joan übergeben.

Die erschöpfte Joan berührte staunend die Wange ihrer Tochter. Das Kind drehte den Kopf und machte saugende Mundbewegungen.

Alyce lächelte. Sie war selbst verschwitzt und erschöpft wie eine stolze Tante. »Bei Gott, sehen Sie nur – auf ihre Art und Weise kommuniziert sie schon mit uns. Sie ist schon ein richtiger Mensch.«

»Ich glaube, sie will nuckeln. Aber ich habe noch keine Milch, oder?«

»Legen Sie sie trotzdem an die Brust«, riet Alyce ihr. »Dadurch wird die Bildung von Oxytocin angeregt.«

Nun erinnerte Joan sich wieder an die Kurse für werdende Mütter. »Wodurch der Uterus sich zusammenzieht, die Blutung verringert und das Ausstoßen der Plazenta unterstützt wird.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte ein Raumanzug. »Wir haben Ihnen schon eine Spritze gegeben.«

Joan legte das Kind an die Brust. »Schauen Sie nur. Sie macht schon Greifbewegungen. Und es ist, als ob sie Schritte macht. Ich spüre ihre Füße.«

»Wenn Sie eine behaarte Brust hätten, würde sie sich wahrscheinlich daran festhalten und auf Ihnen umher kriechen. Und wenn Sie eine ruckartige Bewegung machten, würde sie umso fester zupacken.«

»Für den Fall, dass ich durch den Wald rennte… Schauen Sie, sie beruhigt sich.«

»Warten Sie noch zwanzig Minuten, und sie wird Ihnen die Zunge rausstrecken.«

Joan hatte das Gefühl zu schweben, als ob nichts mehr real wäre außer dem verletzlichen warmen Bündel in ihren Armen. »Ich weiß, dass das alles angeboren ist. Ich weiß, dass ich umprogrammiert wurde, damit ich diesen feuchten kleinen Parasiten nicht abschüttle. Und doch…«

Alyce legte Joan die Hand auf die Schulter. »Und doch hat Ihr ganzes Leben sich darum gedreht, nur dass Sie es nicht gewusst haben.«

»Ja.«

Ein Piepen ertönte. Alyce zog ein Mobiltelefon aus der Tasche. Auf dem Display erschienen helle Bilder und schemenhafte Bewegung.

»Wir haben das Krankenhaus gleich erreicht«, sagte ein Raumanzug zu Joan. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es gibt dort einen sicheren, geschützten Eingang.«

Joan wiegte das Baby. »Dann ist Lucy gerade durch einen langen dunklen Tunnel gegangen, nur um gleich wieder den nächsten zu betreten.«

Der Raumanzug hielt inne. »Lucy?«

»Welcher Name wäre passender für ein Primaten-Mädchen?«

Alyce rang sich ein Lächeln ab. »Joan, Sie sind nicht die einzige neue Mutter.«

»Wie?«

»Ian Maughans Robot-Arbeiter auf dem Mars ist es gelungen, eine voll funktionsfähige Kopie von sich selbst zu bauen… Er hat es geschafft, sich zu reproduzieren. Dem Tenor des Texts nach zu urteilen ist er sehr glücklich.«

»Er hat Ihnen das getextet?«

»Sie wissen doch, wie diese Leute sind. Der Rest der Welt kann zum Teufel gehen, solang ihre neusten Gimmicks nur planmäßig funktionieren… Oh. Die Viert-Weltler haben Alison Scotts Schimäre getötet. Ich kann mir vorstellen, dass sie sie für eine Entartung gehalten haben. Aber ich frage mich, wofür sie sich gehalten hat.«

»Ich glaube, sie wollte nur Sicherheit, wie wir alle.«

Joan schaute auf ihr Baby. Vor ein paar Herzschlägen war eine neue Welt entstanden – während eine andere unterging.

»Wir waren dicht dran, oder, Alyce? Die Konferenz und das Manifest. Es hätte funktionieren können, nicht wahr?«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Wir hatten nur zuwenig Zeit, das war alles.«

»Ja. Und wir hatten obendrein Pech. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Joan.«

»Nein. Die dürfen wir nie aufgeben.«

Der Krankenwagen hielt an. Die Türen wurden aufgerissen und kühle Luft strömte herein. Noch mehr Raumanzüge erschienen, schoben Alyce beiseite und legten Joan auf eine Trage. Sie wollten ihr das Baby abnehmen, aber sie gab es nicht her.

Die Geologen hatten schon lange gewusst, dass die Erde für einen großen Vulkanausbruch überfällig war.

Der Ausbruch von Rabaul im Jahr 2031 war nicht die stärkste bekannte Eruption und nicht einmal die schlimmste seit dem Beginn der Aufzeichnungen. Dennoch war Rabaul viel stärker gewesen als der Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen im Jahr 1991, wodurch die Erde sich um ein halbes Grad abgekühlt hatte. Er war auch schlimmer als die Explosion des Tambora in Indonesien im Jahr 1815, das in Amerika und Europa als das ›Jahr ohne Sommer‹ gegolten hatte. Rabaul war das größte vulkanische Ereignis seit dem sechsten Jahrhundert nach Christi und eins der größten der letzten fünfzigtausend Jahre. Rabaul war respektabel.

Klimaänderungen verliefen nicht immer gleitend und verhielten sich auch nicht immer proportional zur Ursache. Die Erde neigte zu plötzlichen und drastischen Änderungen des Klimas und der Ökologie und zum abrupten Wechsel von einem stabilen Zustand in den anderen, sodass selbst kleine Störungen unter Umständen gravierende Auswirkungen hatten.

Rabaul war eine solche Störung. Und es sollte keine kleine Störung werden.

Es war allerdings nicht Rabauls Schuld. Der Vulkan brachte das Fass nur zum Überlaufen. Durch das enorme Bevölkerungswachstum waren alle Ökosysteme ohnehin schon bis zur Bruchgrenze beansprucht. Es war nicht einmal Pech. Wenn es nicht Rabaul gewesen wäre, dann eben ein anderer Vulkan, ein Erdbeben, ein Asteroid oder sonst etwas.

Und als die natürlichen Grundlagen des Planeten zusammenbrachen, mussten die Menschen feststellen, dass sie noch immer nur in ein Ökosystem eingebettete Tiere waren; und als es starb, starben auch sie.

Derweil arbeiteten auf dem Mars die Roboter weiter. Geduldig verwandelten sie das trübe Sonnenlicht und den roten Staub und die Kohlendioxid-Luft in Fabriken, die ihrerseits Kopien der Roboter selbst produzierten, mit gelenkigen Beinen, Solarzellen-Panzern und Silizium-Gehirnen.

Die Roboter übermittelten den Arbeitsfortschritt an ihre Schöpfer auf der Erde. Es kam keine Antwort. Aber sie arbeiteten trotzdem weiter.

Unter dem blutorangefarbenen Himmel des Mars kamen und vergingen die Generationen in schneller Folge. Natürlich war keine Replikation, ob biologisch oder mechanisch, jemals perfekt. Manche Varianten arbeiteten besser als andere. Und die Roboter waren aufs Lernen programmiert – sie sollten übernehmen, was funktionierte und eliminieren, was nicht funktionierte. Die Schwachen starben aus. Die Starken überlebten und gaben die konstruktiven Neuerungen an die nächste mechanische Generation weiter.

So hatten Variation und Selektion sich etabliert.

Und die Roboter arbeiteten weiter und weiter, bis die alten Meeresböden und Schluchten mit glänzenden insektenartigen Metallpanzern bedeckt waren.

Загрузка...