»Die Klauenwelt! Ich sehe sie, Pham!«
Das Hauptfenster zeigte eine Direktansicht des Systems: eine Sonne in weniger als zweihundert Millionen Kilometern Entfernung, Tageslicht, das auf das Steuerdeck strömte. Die Positionen identifizierter Planeten waren mit blinkenden roten Pfeilen markiert. Doch einer von ihnen — gerade mal zwanzig Millionen Kilometer weit entfernt — trug das Etikett ›erdähnlich‹ . Wenn man aus einem interstellaren Sprung hervortrat, konnte man nicht viel besser positioniert sein.
Pham antwortete nicht, er starrte nur aus dem Fenster, als ob mit dem, was er sah, etwas nicht stimme. Etwas in ihm war nach der Schlacht mit der PEST zerbrochen. Er war sich seiner Gottsplitter so sicher gewesen — und so von den Folgen überrascht. Danach hatte er sich mehr als je zuvor zurückgezogen. Nun schien er zu glauben, wenn sie sich nur schnell genug bewegten, könnte ihnen der überlebende Feind kein Leid tun. Mehr denn je misstraute er Blaustiel und Grünmuschel, als ginge von ihnen irgendwie eine größere Gefahr aus als von den Schiffen, die sie noch verfolgten.
»Verdammt«, sagte Pham schließlich. »Seht euch die Relativgeschwindigkeit an.« Siebzig Kilometer pro Sekunde.
Die Positionsabstimmung war kein Problem, aber: »Die Geschwindigkeiten anzugleichen, wird uns Zeit kosten, Herr Pham.«
Phams starrer Blick wandte sich Blaustiel zu. »Das haben wir vor drei Wochen mit den Einheimischen durchgesprochen, weißt du noch? Du hast den Raketenbrand gesteuert.«
»Und Sie haben meine Arbeit kontrolliert, Herr Pham. Da muss noch ein Fehler im Navigationssystem sein…, obwohl ich nicht erwartet habe, dass mit der gewöhnlichen Ballistik etwas nicht stimmen könnte.« Ein umgekehrtes Vorzeichen, siebzig Kilometer pro Sekunde Endgeschwindigkeit anstelle von null. Blaustiel schwebte zum zweiten Steuerpult.
»Vielleicht«, sagte Pham. »Ich möchte dich jetzt nicht auf dem Deck haben, Blaustiel.«
»Aber ich kann helfen! Wir sollten jetzt mit Jefri Verbindung aufnehmen, die Geschwindigkeiten angleichen und…«
»Verschwinde vom Deck, Blaustiel! Ich habe keine Zeit mehr, dich im Auge zu behalten.« Pham setzte mit einem Sprung über den Zwischenraum und traf auf Ravna, kurz vor dem Fahrer.
Sie schwebte zwischen den beiden und sprach schnell: »In Ordnung, Pham. Er wird gehen.« Sie strich mit der Hand über einen von Blaustiels heftig vibrierenden Wedeln. Eine Sekunde später erschlaffte Blaustiel. »Ich gehe. Ich gehe.« Sie ließ ermutigend die Hand auf ihm — und hielt sich zwischen ihm und Pham, während Blaustiel niedergeschlagen das Deck verließ.
Als der Skrodfahrer draußen war, wandte sie sich Pham zu. »Kann es denn kein Fehler im Navigator gewesen sein, Pham?«
Der andere schien die Frage nicht zu hören. Sobald sich die Luke geschlossen hatte, war er ans Steuerpult zurückgekehrt. Nach der letzten Schätzung der ADR blieben ihnen noch dreiundfünfzig Stunden bis zur Ankunft der PEST. Und nun mussten sie Zeit auf eine Korrektur der Geschwindigkeitsanpassung verschwenden, von der sie geglaubt hatten, sie hätten sie vor drei Wochen erledigt. »Irgendjemand, irgendetwas hat uns reingelegt…« Pham murmelte auch noch, als er mit der Steuersequenz fertig war. »Vielleicht ist es ein Fehler. Dieser nächste verdammte Brand wird so manuell gesteuert, wie es nur geht.« Beschleunigungssignale hallten durchs Innere der ADR. Pham klickte durch Monitorfenster und suchte nach losen Gegenständen, die groß genug waren, um Schaden anrichten zu können. »Schnall dich jetzt auch fest.« Er langte nach dem Pult, um die fünf Minuten Wartefrist zu umgehen.
Ravna sprang quer übers Deck, entfaltete dabei den Schwerelosigkeits-Sattel zum Sitz und schnallte sich an. Sie hörte, wie Pham über den allgemeinen Meldungskanal vor der Ausschaltung der Wartefrist warnte. Dann schaltete sich das Impulstriebwerk ein, ein träger Druck zurück in das Gespinst. Vier Zehntel Ge — alles, was die arme ADR noch zustande brachte.
Wenn Pham ›Handsteuerung‹ sagte, dann meinte er es auch so. Wie sich zeigte, war das Hauptfenster jetzt achsenzentriert. Der Ausschnitt verschob sich nicht nach der Laune des Piloten, und es gab keine hilfreichen Beschriftungen und Schemata. Soweit möglich, sahen sie eine Direktansicht entlang der Hauptachse der ADR. Die Randfenster wurden in fester Anordnung gegenüber dem Hauptfenster gehalten. Phams Augen huschten von einem zum anderen, während seine Hände über das Steuerpult glitten. Soweit es möglich war, flog er nach seinen Sinneseindrücken und traute niemandem sonst.
Doch Pham hatte noch Verwendung für den Ultraantrieb. Sie waren zwanzig Millionen Kilometer vom Ziel entfernt, einen submikroskopischen Sprung weit. Pham manipulierte die Antriebsparameter und versuchte, einen exakten Sprung kleiner als das Standardintervall zu machen. Alle paar Sekunden verschob sich das Sonnenlicht um ein Stück; erst kam es über Ravnas linke Schulter und dann über die rechte. Damit wurde es nahezu unmöglich, die Verbindung zu Jefri wiederherzustellen.
Plötzlich war das Fenster unter ihren Füßen von einer Welt ausgefüllt, groß und mit einer fast vollen Tagseite in Blau und wirbelndem Weiß. Wie Jefri Olsndot gesagt hatte, war die Klauenwelt ein normaler erdähnlicher Planet. Nach den Monaten im Raum und dem Verlust von Sjandra Kei überwältigte der Anblick Ravna. Ozean, die Welt bestand größtenteils aus Ozean, doch nahe an der Tag-Nacht-Grenze lagen dunklere Schattierungen von Land. Ein einzelner winziger Mond war über dem Globus zu sehen.
Pham holte tief Luft. »Er ist ungefähr zehntausend Kilometer entfernt. Perfekt. Außer dass wir uns mit siebzig Kilometer pro Sekunde nähern.« Selbst während sie hinsah, schien die Welt anzuwachsen, ihnen entgegenzufallen. Pham beobachtete den Planeten noch ein paar Sekunden lang. »Keine Sorge, wir treffen nicht auf, wir werden knapp an der, äh, Nordhalbkugel vorbeifliegen.«
Der Globus schwoll unter ihnen an und verdeckte den Mond. Sie hatte es immer geliebt, wenn bei Sjandra Kei Herte erschien. Doch jene Welt hatte kleinere Ozeane und war kreuz und quer mit Dirokim-Pfaden überzogen. Dieser Ort hier war so schön wie Relais und schien wirklich unberührt zu sein. Die kleine Polarkappe lag im Sonnenlicht, und sie konnte die Küstenlinie verfolgen, die südlich davon zum Terminator hin verlief. Ich sehe die Nordwestküste. Da unten ist Jefri! Ravna langte nach ihrer Tastatur und forderte das Schiff auf, sowohl Ultrawellenkontakt als auch Funkverbindung zu versuchen.
»Ultrawellenkontakt«, sagte sie eine Sekunde später.
»Was ist zu hören?«
»Es ist gestört. Wahrscheinlich nur ein Rufzeichen«, eine Empfangsbestätigung auf das Signal der ADR hin, das Äußerste, was seit der Flutwelle möglich gewesen war. Jefri war jetzt sehr nahe beim Schiff untergebracht; manchmal hatte sie fast auf der Stelle Antwort erhalten, selbst wenn bei ihm Nacht war. Es wäre gut, wieder mit ihm zu sprechen, auch wenn…!
Die Klauenwelt füllte jetzt den halben Bildschirm aus, mit einem kaum gekrümmten Horizont anstelle des Planetenrunds. Himmelsfarben standen vor ihnen und verschwammen ins Schwarz des Weltraums. Die Eiskappe und Eisberge ließen vor dem Hintergrund des Meeres Einzelheiten über Einzelheiten erkennen. Sie sah Wolkenschatten. Sie verfolgte die Küste südwärts, Inseln und Halbinseln so dicht aneinander, dass man eine von der anderen nicht sicher unterscheiden konnte. Schwärzliche Berge und schwarzgestreifte Gletscher. Grüne und braune Täler. Sie versuchte sich an die Geographie zu erinnern, die sie von Jefri erfahren hatte. Die Verborgene Insel? Doch da waren so viele Inseln.
»Ich habe Funkkontakt zur Planetenoberfläche«, erklang die Stimme des Schiffs. Gleichzeitig zeigte ein blinkender Pfeil auf eine Stelle ein kleines Stück landeinwärts von der Küste. »Wollen Sie den Ton in Echtzeit?«
»Ja. Ja!«, sagte Ravna und schlug dann auf ihre Tastatur, als das Schiff nicht sofort antwortete.
»Hei, Ravna. O Ravna!« Die Stimme des kleinen Jungen sprang aufgeregt übers Deck. Er klang genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Ravna verlangte mit ein paar Tastenanschlägen zweiseitige Verbindung. Sie waren jetzt weniger als zweitausend Kilometer von Jefri entfernt, auch wenn sie mit siebzig Kilometern pro Sekunde vorüberflogen. Nahe genug für ein Gespräch über Funk. »He, Jefri!«, sagte sie. »Wir sind endlich da, aber wir brauchen…« Wir brauchen alles an Mitarbeit, was deine vierbeinigen Freunde uns geben können. Wie sagte man das schnell und wirksam?
Doch der Junge da unten hatte schon etwas mitzuteilen: »… brauchen die Hilfe jetzt, Ravna! Die Holzschnitzer greifen uns jetzt an.«
Es gab ein dumpfes Geräusch, als ob das Sprechgerät herumgeworfen würde. Dann eine andere Stimme, hoch und sonderbar undeutlich. »Hier Stahl, Ravna. Jefri Recht. Holzschnitzerin…« Die fast menschliche Stimme löste sich in zischendes Gekoller auf. Einen Augenblick später hörte sie Jefris Stimme: »›Überfall‹ , das Wort heißt ›Überfall‹ .«
»Ja… Holzschnitzerin hat großen, großen Überfall gemacht. Sie überall um uns. Wir sterben in Stunden, wenn ihr nicht helfen.«
Holzschnitzerin hatte niemals ein Krieger sein wollen. Aber ein halbes Jahrtausend lang zu regieren, erfordert eine Reihe von Fertigkeiten, und sie hatte gelernt, wie man Krieg führt. Manches davon — wie den eigenen Leuten zu vertrauen — hatte sie in den letzten paar Tagen zeitweise wieder verlernt. Es hatte wirklich einen Hinterhalt am Margrum-Steig gegeben, aber nicht den, den Fürst Stahl geplant hatte.
Sie blickte über die zeltbestandenen Felder zu Feilonius hinüber. Das Rudel war von gedämpften Geräuschen halb verdeckt, doch sie sah, dass es nicht so munter wie früher war. Wenn er peinlich befragt wird, verliert jeder ein wenig die Selbstbeherrschung. Feilonius wusste: Sein Überleben hing davon ab, dass die Königin ein Versprechen hielt. Dennoch — es war ein schrecklicher Gedanke, dass Feilonius leben würde, nachdem er so viele ermordet und verraten hatte. Sie wurde sich bewusst, dass zwei von ihr vor Wut leise winselten, die zusammengebissenen Zähne gebleckt. Ihre Welpen drängten sich im Gefühl unsichtbarer Bedrohungen an sie. Das zeltbestandene Gebiet stank nach Schweiß und den Denkgeräuschen von zu vielen Leuten auf zu engem Raum. Sie musste wirklich ihren Willen anspannen, um sich zu beruhigen. Sie leckte die Welpen und gab sich eine Weile friedvollen Gedanken hin.
Ja, sie würde das Versprechen halten, das sie ihm gegeben hatte. Und vielleicht würde es den Preis wert sein. Feilonius konnte nur Vermutungen über Stahls innere Geheimnisse anstellen, doch er hatte viel mehr über Stahls taktische Lage herausgefunden, als die andere Seite ahnen konnte. Feilonius hatte gewusst, wo sich die Flenseristen verborgen hielten und in welcher Stärke. Stahls Leute hatten zu sehr auf ihre Superkanonen und ihren geheimen Verräter vertraut. Als Holzschnitzerins Truppen sie überrumpelten, war der Sieg leicht gewesen — und nun besaß die Königin ein paar von den wunderbaren Kanonen.
Von jenseits der Hügel dröhnten diese Kanonen noch immer und fraßen sich durch die Munitionsvorräte, die die gefangen genommenen Kanoniere offenbart hatten. Feilonius als Verräter hatte sie viel gekostet, aber Feilonius als Gefangener brachte ihr vielleicht dennoch den Sieg.
»Holzschnitzerin?« Es war Scrupilo. Sie winkte ihn näher. Ihr Oberster Kanonier ging aus der Sonne und setzte sich in der intimen Entfernung von fünfundzwanzig Fuß hin. Unter den Bedingungen der Schlacht waren alle Erwägungen der Ehrerbietung weggeweht worden.
Scrupilos Denkgeräusche waren ein eifrig besorgtes Durcheinander. Er sah zu verschiedenen Teilen erschöpft und freudig erregt und entmutigt aus. »Es ist ungefährlich, den Burgberg hinauf vorzurücken, Euer Majestät«, sagte er. »Das gegnerische Feuer ist fast erstickt. In Teile der Burgmauern sind Breschen geschlagen worden. Hier ist Schluss mit Burgen, meine Königin. Sogar unsere eigenen armseligen Geschütze würden dafür sorgen.«
Sie ließ die Köpfe zustimmend wippen. Scrupilo verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit dem Datio, um zu lernen, wie man Dinge machte — insbesondere Kanonen. Holzschnitzerin wendete ihre Zeit auf, um zu erfahren, was diese Erfindungen letzten Endes mit sich brachten. Inzwischen wusste sie viel mehr als sogar Johanna über die soziale Wirkung von Waffen, von den primitivsten bis hin zu derart sonderbaren, dass sie überhaupt keine Waffen zu sein schienen. Tausend Millionen Male waren Burgbau-Techniken solchen Dingen wie Geschützen unterlegen; warum sollte es auf ihrer Welt anders sein?
»Wir werden dann hinauf marschieren…«
Von jenseits des Zeltschattens drang ein schwaches Pfeifen her, ein einzelner, näherkommender Laut. Sie legte ihre Welpen in ihrer Mitte nieder und hielt für einen Moment inne. Zwanzig Ellen weiter sank Feilonius in tief geduckte Haltung. Doch als sie schließlich kam, war die Explosion ein gedämpftes Krachen am Berg über ihnen. Es kann sogar eine von unseren eigenen gewesen sein. »Unsere Truppen müssen jetzt die Zerstörungen ausnutzen. Stahl soll wissen, dass die alten Spiele von Erpressung und Folter ihm nur zum Schaden gereichen.« Höchstwahrscheinlich werden wir das Sternenschiff und das Kind zurückgewinnen. Die Frage war nur: Würden sie beide heil sein, wenn sie sie bekamen? Sie hoffte, dass Johanna niemals von den Bedrohungen und Risiken erführe, die sie für die nächsten paar Stunden einplante.
»Ja, Majestät.« Doch Scrupilo machte keine Anstalten zu gehen und wirkte plötzlich verwahrloster und sorgenvoller als je. »Holzschnitzerin, ich fürchte…«
»Was? Das Blatt hat sich zu unseren Gunsten gewendet. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen.«
»Ja, Majestät… Aber während wir vorrücken, ziehen ernsthafte Gefahren an unseren Flanken und im Rücken herauf. Die Fernspäher des Feindes und die Brände.«
Scrupilo hatte Recht. Die Flenseristen, die hinter den Fronten operierten, waren tödlich. Es waren ihrer nicht viele; die feindlichen Truppen beim Margrum-Steig waren größtenteils getötet oder versprengt worden. Die wenigen, die an Holzschnitzerins Flanken fraßen, waren mit gewöhnlichen Armbrüsten und Äxten bewaffnet — aber sie waren außergewöhnlich gut koordiniert. Und ihre Taktik war brillant; sie erblickte die Schnauzen und Klauen des Flensers selbst hinter dieser Brillanz. Irgendwie lebte ihr böses Kind. Wie eine Seuche aus vergangenen Jahren erschien er allmählich wieder auf der Welt. Wenn sie genug Zeit hatten, würden diese Partisanen-Rudel Holzschnitzerins Fähigkeit, ihre Truppen zu versorgen, ernsthaft schädigen. Wenn sie genug Zeit hatten. Zwei von ihr standen auf und sahen Scrupilo in die Augen, um den Worten mehr Nachdruck zu verleihen: »Um so mehr müssen wir jetzt vorrücken, mein Freund. Wir sind es, die sich fern von Daheim befinden. Wir sind es, deren Zahl und Vorräte begrenzt sind. Wenn wir nicht bald siegen, werden wir nach und nach zerschnitten.« Geflenst.
Scrupilo stand auf und nickte ergeben. »Das sagt Wanderer auch. Und Johanna möchte glatt durch die Burgmauern stürmen… Aber da ist noch etwas, Euer Majestät. Selbst wenn wir mit ganzer Kraft voranstürmen müssen: Ich habe zehn Zehntage gearbeitet und jeden Hinweis, den ich im Datio verstehen konnte, ausgenutzt, um unsere Geschütze herzustellen. Majestät, ich weiß, wie schwer es ist, so etwas zu tun. Trotzdem haben die Kanonen, die wir am Margrum erbeutet haben, die dreifache Reichweite und ein Viertel des Gewichts. Wie konnten sie das schaffen?« Zorn und Scham klangen in seiner Stimme. »Der Verräter« — Scrupilo wies mit einer Schnauze in Feilonius’ Richtung — »glaubt, dass sie vielleicht Johannas Bruder haben, aber Johanna sagt, dass sie kein Datio oder dergleichen besitzen. Majestät, Stahl hat einen Vorteil, den wir noch nicht kennen.«
Selbst die Hinrichtungen nützten nichts. Tag für Tag fühlte Stahl seine Wut anwachsen. Allein auf dem Wehrgang hieb er hin und her auf sich selbst ein, kaum zu einer anderen Empfindung als seiner Wut fähig. Niemals, seit ihn der Flenser unterm Messer gehabt hatte, war die Wut derart durchdringend gewesen. Komm zu dir, ehe er dich wieder schneidet, schien die Stimme eines früheren Stahl zu sagen.
Er klammerte sich an den Gedanken, riss sich zusammen. Er starrte hinab auf blutigen Geifer und schmeckte Asche. Drei von seinen Schultern waren mit Rissen von Zähnen gezeichnet — er hatte sich selbst verletzt, noch eine Gewohnheit, von der ihn Flenser vor langer Zeit geheilt hatte. Füge nach außen hin Verletzungen zu, niemals dir selbst. Stahl leckte mechanisch an den klaffenden Wunden und trat näher an den Rand des Wehrgangs.
Am Horizont verdüsterte schwarzgrauer Dunst Meer und Inseln. Die letzten Tage über waren die Sommerwinde ein heißer Atem gewesen, der nach Rauch schmeckte. Jetzt glichen die Winde selbst Bränden, die an der Burg vorbeischlugen und Asche und Rauch mit sich führten. Den ganzen letzten Tag über war die andere Seite der Bitterschlucht ein Feuermeer gewesen; heute konnte er die Bergflanken sehen: sie waren schwarz und braun, gekrönt von Rauch, der zum Meereshorizont hinüberwehte. Im Hochsommer gibt es oft Busch- und Waldbrände. Doch dieses Jahr, als sei die Natur ein göttliches Kriegsrudel, waren die Feuer überall gewesen. Die verdammten Kanonen waren schuld daran. Und dieses Jahr konnte er nicht in die Kühle der Verborgenen Insel zurückweichen und das Küstenvolk sich selbst überlassen.
Stahl ignorierte seine schmerzenden Schultern und lief tief in Gedanken über die Steine, fast analytisch zur Abwechslung. Die Kreatur Feilonius war nicht käuflich geblieben, er hatte sich zum Verräter an seinem Verrat gewendet. Stahl hatte damit gerechnet, dass Feilonius entdeckt werden könnte; er verfügte über andere Spione, die derlei hätten melden müssen. Doch es hatte kein Anzeichen gegeben — bis zur Katastrophe vom Margrum-Steig. Nun hatte die Wendung von Feilonius’ Messer all ihre Pläne auf den Kopf gestellt. Holzschnitzerin würde sehr bald hier sein, und nicht als Opfer.
Wer hätte ahnen können, dass er wirklich die Raumleute brauchen würde, damit sie ihn vor Holzschnitzerin retteten? Er hatte so viel daran gesetzt, den Südländern gegenüberzutreten, ehe Ravna eintraf. Doch jetzt brauchte er jene Hilfe vom Himmel — und sie war mehr als fünf Stunden entfernt. Bei dem Gedanken wäre Stahl beinahe wieder in den Zustand der Raserei verfallen. Sollte letzten Endes all das Herumgeschmuse mit Amdijefri vergebens gewesen sein? Oh, wenn das vorbei ist, wie ich es genießen werde, die beiden umzubringen. Mehr als jeder andere verdienten sie den Tod. Sie hatten so viel Scherereien gemacht. Sie hatten ständig sein freundliches Verhalten notwendig gemacht, als ob sie über ihn herrschten. Sie hatten ihn mit mehr Unverschämtheiten überschüttet als zehntausend normale Untertanen.
Aus dem Burghof drang das Geräusch von arbeitenden Rudeln herauf, das Knarren von Winden, das Schurren und Knirschen von versetzten Steinen. Der professionelle Kern von Flensers Imperium hielt stand. In ein paar Stunden würden die Breschen in den Mauern repariert und neue Kanonen aus dem Norden herbeigeschafft sein. Und der große Plan kann immer noch gelingen. Solange ich beisammen bin, egal, was sonst verloren geht, kann er gelingen.
Fast vom Lärm verschluckt, hörte er das Klicken von Krallen auf der Innentreppe. Stahl wich zurück, wandte alle Köpfe dem Geräusch zu. Sreck? Aber Sreck hätte sich erst gemeldet. Dann entspannte er sich; es war eine Gruppe von Krallengeräuschen. Es war ein Solo, das die Stufen heraufkam.
Flensers Glied erschien oben und verbeugte sich vor Stahl, eine unvollständige Geste, da sie nicht von anderen Gliedern mitvollzogen wurde. Der Radioumhang des Gliedes schimmerte rein und dunkel. Die Armee war voller Ehrfurcht vor diesen Umhängen und vor den Solos und Duos, die klüger zu sein schienen als das intelligenteste Rudel. Sogar Stahls Leutnants, die begriffen, worum es sich bei den Umhängen wirklich handelte — sogar Sreck —, waren in ihrer Gegenwart vorsichtig und zurückhaltend. Und nun brauchte Stahl das Flenser-Fragment mehr als je zuvor, mehr als alles andere, ausgenommen die Leichtgläubigkeit des Sternenvolks. »Was gibt’s?«
»Darf ich mich setzen?« Stand das sardonische Lächeln Flensers hinter der Bitte?
»Genehmigt«, warf Stahl hin.
Das Solo machte es sich auf den Steinen bequem. Doch Stahl sah, als der andere zusammenzuckte; das Fragment war nun seit fast zwanzig Tagen über das Reich zerstreut. Ausgenommen kurze Zeitabschnitte, war es die ganze Zeit in die Umhänge gehüllt. Dunkle und goldene Folter. Stahl hatte dieses Glied ohne seinen Umhang gesehen, wenn es gebadet wurde. Sein Fell war an Schultern und Hüften völlig abgeschabt, wo die Last des Radios am größten war. Blutige Wunden hatten sich in der Mitte der kahlen Stellen gebildet. Allein ohne Umhang, hatte das geistlose Solo seinen Schmerz herausgeplappert. Stahl genoss solche Gelegenheiten, obwohl dieses Glied sich nicht besonders gut ausdrücken konnte. Fast war es, als sei er, Stahl, nun Der, Der Mit Einem Messer Lehrt, und Flenser sein Schüler.
Das Solo schwieg einen Moment lang. Stahl konnte sein schlecht verhohlenes Keuchen hören. »Der letzte Tag ist gut gegangen, mein Fürst.«
»Hier nicht! Wir haben fast alle Geschütze verloren. Wir sind in diesen Mauern gefangen.« Und das Sternenvolk kommt vielleicht zu spät.
»Ich meine das draußen.« Das Solo streckte die Nase in Richtung der freien Räume jenseits des Wehrgangs. »Deine Kundschafter sind gut ausgebildet, mein Fürst, und haben ein paar kluge Kommandeure. Eben jetzt bin ich über Holzschnitzerins Rücken und Flanken ausgebreitet.« Das Solo machte seine rudimentäre Geste eines Lachens. ›»Rücken und Flanken‹ . Komisch. Für mich ist Holzschnitzerins ganze Armee wie ein einziges feindliches Rudel. Die Einheiten unserer Angriffsinfanterie sind wie Klauen an meinen eigenen Pfoten. Wir reißen tiefe Wunden in die Königin, mein Fürst. Ich habe das Feuer in der Bitterschlucht gelegt. Nur ich sah genau, wo es sich ausbreitete, wie man damit töten konnte. In vier Tagen wird von den Reserven der Königin nichts mehr übrig sein. Sie wird uns gehören.«
»Zu lange hin, wenn wir diesen Abend tot sind.«
»Ja.« Das Solo reckte Stahl den Kopf entgegen. Er lacht mich aus. Ganz wie all die Male unter Flensers Messer, wenn eine Aufgabe gestellt und ein Versagen mit dem Tode bestraft wurde. »Aber Ravna und ihre Leute müssten in fünf Stunden hier sein, nicht wahr?« Stahl nickte. »Gut, ich garantiere dir, dass das Stunden vor Holzschnitzerins Hauptangriff sein wird. Du hast Amdijefris Vertrauen. Anscheinend brauchst du deinen früheren Zeitplan nur vorzuverlegen und zusammenzudrängen. Wenn Ravna verzweifelt genug ist…«
»Die Sternenleute sind verzweifelt. Ich weiß das.« Ravna mochte vielleicht ihre wahren Motive verschleiern, doch ihre Verzweiflung war offensichtlich. »Und wenn du Holzschnitzerin bremsen kannst…« Stahl setze sich mit allen seinen hin, um sich auf die allernächsten Pläne zu konzentrieren. Halb wurde ihm bewusst, wie seine Ängste wichen. Pläne zu schmieden war immer angenehm. »Das Problem ist, dass wir jetzt zwei Dinge tun müssen, und zwar perfekt aufeinander abgestimmt. Früher ging es einfach darum, eine Belagerung vorzutäuschen und das Sternenschiff zwischen die Kiefer unserer Burg zu locken.« Er wandte einen Kopf zum Burghof hin. Die Steinkuppel über dem gelandeten Sternenschiff war seit Mitte des Frühlings an Ort und Stelle. Sie wies jetzt etliche Schäden vom Beschuss auf, die Marmorverkleidung war weggesprengt worden, doch sie hatte keine direkten Treffer abbekommen. Daneben lag das Feld der Kiefer: groß genug, um das Rettungsschiff aufzunehmen, doch von Steinsäulen umringt, den Zähnen der Kiefer. Beim richtigen Gebrauch von Schießpulver würden die Zähne auf die Retter fallen. Das würde das letzte Mittel sein, falls man die Menschen nicht töten und gefangen nehmen konnte, wenn sie herauskamen, um ihren lieben Jefri zu treffen. Dieser Plan war viele Zehntage lang liebevoll gehegt worden, unterstützt von Amdijefris Mitteilungen über menschliche Psychologie und sein Wissen darüber, wie Raumschiffe normalerweise landeten. Jetzt aber: »… Jetzt brauchen wir wirklich ihre Hilfe. Worum ich sie bitte, muss zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: sie zu übertölpeln und Holzschnitzerin zu vernichten.«
»Schwer, das alles auf einmal zu tun«, stimmte das Vermummte zu. »Warum nicht in zwei Schritten spielen, wobei der erste mehr oder weniger ohne Täuschung auskommt: sie Holzschnitzerin vernichten lassen und sich dann darum kümmern, wie wir uns ihrer bemächtigen?«
Stahl ließ geistesabwesend eine Klaue gegen den Stein klicken. »Ja. Das Problem ist, wenn sie zu viel sehen… Sie können unmöglich so naiv wie Jefri sein. Er sagt, dass die Menschheit in ihrer Geschichte Zeiten mit Burgen und Kriegen hatte. Wenn sie zu viel herumfliegen, werden sie Dinge sehen, die Jefri niemals erblickt oder nie verstanden hat… Vielleicht könnte ich sie dazu bringen, innerhalb der Burg zu landen und Waffen auf den Mauern in Stellung zu bringen. Sie werden meine Geiseln sein, sobald sie zwischen unsern Kiefern stehen. Verdammt. Das würde ein bisschen geschickte Arbeit mit Amdijefri erfordern.« Die Wonnen der abstrakten Planung verblassten für einen Moment voller Wut. »Es fällt mir immer schwerer, mich mit diesen beiden abzugeben.«
»Um des Großen Rudels willen, sie sind doch beide noch ganz und gar Welpen.« Das Fragment schwieg kurz. »Natürlich mag Amdiranifani ein größeres Intelligenz-Potential als jedes andere Rudel besitzen, das ich jemals gesehen habe. Du meinst, er könnte sogar schlau genug sein, um durch seine Kindlichkeit« — er benutzte Samnorsk-Wort — »hindurch die Täuschung zu sehen?«
»Nein, das nicht. Ich habe ihre Hälse zwischen den Kiefern, und sie merken es noch immer nicht. Du hast Recht, Tyrathect, sie lieben mich wirklich.« Und wie ich sie dafür hasse. »Wenn ich bei ihnen bin, hängt das Pfahlwesen ständig an mir, nahe genug, um mir die Kehle durchzuschneiden oder die Augen auszustechen, dabei umarmt und streichelt er mich nur. Und erwartet, dass ich seine Liebe erwidere. Ja, sie glauben mir jedes Wort, aber der Preis ist eine endlose Unverschämtheit.«
»Ruhe bewahren, lieber Schüler. Das A und O der Manipulation ist, sich einzufühlen, ohne innerlich berührt zu werden.« Das Fragment hielt wie üblich kurz vor dem Abgrund inne. Doch diesmal fühlte Stahl sich eine Antwort zischen, ehe ihm seine Reaktion überhaupt zu Bewusstsein kam.
»Halt… mir… keine Vorträge! Du bist nicht Flenser. Du bist ein Fragment. Scheiße! Du bist jetzt das Fragment eines Fragments. Ein Wort, und du wirst in Stücke geschnitten, in tausend kleine Stücke.« Er versuchte das Zittern zu unterdrücken, das sich über seine Glieder ausbreitete. Warum habe ich ihn denn nicht früher getötet? Ich hasse Flenser mehr als alles in der Welt, und es wäre so einfach. Aber das Fragment war immer so unersetzlich, irgendwie das Einzige, was zwischen Stahl und dem Misserfolg stand. Und Stahl hatte ihn wirklich unter Kontrolle.
Und das Solo duckte sich in sehr zufrieden stellender Angst. »Setz dich auf! Gib mir deinen Rat anstatt deiner Vorträge, und du wirst leben… Warum auch immer, ich kann unmöglich das Rätselraten mit diesen Welpen fortführen. Ein paar Minuten lang kann ich es vielleicht tun, oder wenn andere Rudel zugegen sind, die sie von mir fern halten, aber nicht dieses endlose Geliebe. Noch eine Stunde davon, und ich… ich weiß, dass ich sie umbringen werde. So. Ich will, dass du mit Amdijefri sprichst. Erkläre die ›Situation‹ . Erkläre…«
»Aber…« Das Solo blickte ihn erstaunt an.
»Ich werde zuschauen; ich denke nicht daran, dir diese beiden zu überlassen. Du sollst nur die Unterredungen aus der Nähe führen.«
Das Fragment ließ die Schultern hängen und verbarg nicht den Schmerz darin. »Wenn das dein Wunsch ist, mein Fürst.«
Stahl bleckte alle seine Zähne. »Das ist es. Aber denke daran, ich werde bei allem Wichtigen zugegen sein, insbesondere bei direkten Funkverbindungen.« Er winkte dem Solo zu, den Wehrgang zu verlassen. »Geh jetzt und lass dich von den Kindern umarmen, lerne selber etwas Selbstkontrolle.«
Nachdem das Vermummte gegangen war, rief er Sreck auf den Wehrgang hinauf. Die nächsten paar Stunden verbrachte er mit der Inspektion der Verteidigungsanlagen und in Planbesprechungen mit seinem Stab. Stahl war sehr überrascht, wie sehr die Regelung des Welpen-Problems seine geistige Verfassung verbessert hatte. Seine Berater schienen das zu empfinden, sie entspannten sich so weit, dass sie gehaltvolle Vorschläge unterbreiteten. Wo die Breschen in den Mauern nicht repariert werden konnten, würden sie Todesfallen bauen. Die Geschütze aus den Werkstätten im Norden würden vor Tagesende eintreffen, und einer von Srecks Leuten hatte einen Ersatzplan für die Nahrungs- und Wasserversorgung ausgearbeitet. Berichte von den Fernspähern zeigten stetige Fortschritte, ein Ausdünnen der feindlichen Nachhut; sie würden den größten Teil ihrer Munition einbüßen, ehe sie den Schiffsberg erreichten. Selbst jetzt fiel kaum ein Schuss auf dem Berg.
Als die Sonne sich im Süden erhob, war Stahl wieder auf den Wehrgängen und legte sich zurecht, was er den Sternenleuten sagen würde.
Es war fast wie früher, als die Pläne sich gut entwickelten und der Erfolg wunderbar, aber erreichbar schien. Und dennoch — all die Stunden seit seinem Gespräch mit dem Solo hatten im Hintergrund seines Denkens die kleinen Krallen der Furcht gesteckt. Stahl schien zu herrschen. Das Flenser-Fragment schien zu gehorchen. Doch obwohl es über Meilen ausgebreitet war, schien das Rudel besser beisammen zu sein als jemals zuvor. Oh, früher hatte das Fragment oft Ausgeglichenheit vorgetäuscht, doch seine innere Spannung hatte immer durchgeschimmert. Neuerdings schien es mit sich selbst zufrieden zu sein, fast… selbstgefällig. Das Flenser-Fragment war verantwortlich für die Streitkräfte des Reichs südlich des Schiffsbergs, und ab heute — nachdem Stahl ihm die Zuständigkeit aufgezwungen hatte — würden die Vermummten jeden Tag bei Jefri sein. Egal, dass die Motive dafür aus Stahls Innerem gekommen waren. Egal, dass sich das Fragment offensichtlich in einem Zustand qualvoller Erschöpfung befand. Im Vollbesitz seines Genies hätte der Große einen Waldwolf glauben machen können, Flenser sei seine Königin. Und weiß ich wirklich, was er den Rudeln jenseits meiner Hörweite sagt? Kann es sein, dass mir meine Spione Lügen über ihn auftischen?
Nun, da er für einen Augenblick frei von den unmittelbaren Sorgen war, gruben sich diese kleinen Krallen tiefer. Ich brauche ihn, ja. Aber mein Spielraum für Irrtümer ist jetzt kleiner. Nach einer Weile rührte er eine frohe Saite an und akzeptierte das Risiko. Notfalls würde er anwenden, was er an dem zweiten Satz Umhänge gelernt und kunstreich vor Flenser Tyrathect verborgen hatte. Notfalls würde das Fragment erfahren, dass der Tod so schnell wie das Radio sein kann.
Selbst als er den Geschwindigkeitsausgleich flog, benutzte Pham den Ultraantrieb. Das würde ihnen Stunden für den Rückflug ersparen, aber es war ein riskantes Spiel, für das die ADR niemals konstruiert worden war. Die ADR sprang im ganzen Sonnensystem herum. Ein wirklich glücklicher Sprung war alles, was sie brauchten, und ein wirklich unglücklicher, in den Planeten hinein, würde sie das Leben kosten — ein guter Grund, warum dieses Spiel normalerweise nicht gespielt wurde.
Nachdem er stundenlang an der Flugautomatik herumgefummelt oder mit dem Ultraantrieb Roulette gespielt hatte, zitterten dem armen Pham sachte die Hände. Jedesmal, wenn die Klauenwelt wieder in Sicht kam — oft nur ein ferner blauer Lichtpunkt —, starrte er sie eine Sekunde lang an. Ravna sah, wie in ihm der Zweifel wuchs: Seine Erinnerung sagte ihm, dass er sich gut mit Technik auf niedrigem Niveau auskennen sollte, doch manche der einfachsten Anlagen auf der ADR waren fast nicht zu durchschauen. Oder vielleicht waren seine Erinnerungen an seine Sachkenntnis, an die Dschöng Ho, ein billiger Schwindel.
»Die Pestflotte. Wie lange noch?«, fragte Pham.
Grünmuschel beobachtete das Navigationsfenster aus der Kabine der Skrodfahrer. Es war in der letzten Stunde das fünfte Mal, dass die Frage gestellt wurde, dennoch klang ihre Antwort ruhig und geduldig. Vielleicht erschienen ihr die wiederholten Fragen sogar natürlich. »Abstand neunundvierzig Lichtjahre. Geschätzte Ankunftszeit achtundvierzig Stunden. Sieben weitere Schiffe sind ausgefallen.« Ravna konnte substrahieren: Einhundertundzweiundfünfzig waren noch unterwegs zu ihnen.
Blaustiels Voder übertönte den seiner Partnerin. »In den letzten zweihundert Sekunden sind sie etwas schneller als zuvor geworden, aber ich glaube, das ist eine örtliche Abweichung in den Bedingungen des Grundes. Herr Pham, Sie machen es gut, aber ich kenne mein Schiff. Wir könnten ein bisschen mehr Zeit herausholen, wenn Sie mir die Steuerung erlauben würden. Bitte…«
»Ruhe!« Phams Stimme war scharf, die Worte aber kamen fast automatisch. Es war ein Wortwechsel — oder der Abbruch davon —, der fast ebenso oft vorkam, wie Phams Frage nach dem Stand der Pestflotte.
In den ersten Wochen ihrer Reise hatte sie angenommen, die Gottsplitter seien irgendwie übermenschlich. Statt dessen waren sie Stückwerk, eine Automatik, die in großer Panik geladen worden war. Vielleicht funktionierten sie richtig, vielleicht aber liefen sie auch Amok und zerrissen Pham mit ihren Irrtümern.
Der alte Zyklus von Furcht und Zweifel wurde plötzlich von weichem blauem Licht durchbrochen. Die Klauenwelt! Endlich ein wunderbar exakter Sprung, fast ebenso gut wie der Hammer vor fünf Stunden: In zwanzigtausend Kilometern Entfernung hing eine große schmale Sichel, der Rand der Tagseite. Der Rest war ein dunkler Fleck vor dem Sternenhimmel, außer am Südpol, wo ein Ring von Nordlicht schwach grün glühte. Jefri Olsndot war auf der von ihnen abgewandten Seite der Welt, im arktischen Tag. Sie würden keine Funkverbindung haben, bis sie am Ziel eintrafen — und sie hatte nicht herausgefunden, wie man die Ultrawelle auf Kurzstreckenübertragungen einstellen könnte.
Sie wandte sich von dem Anblick ab. Pham starrte noch immer hinauf in den Himmel hinter ihr. »… Pham, was nützen uns achtundvierzig Stunden? Werden wir das GEGENMITTEL einfach vernichten?« Was wurde aus Jefri und Herrn Stahls Leuten?
»Vielleicht. Aber es gibt andere Möglichkeiten. Es muss welche geben.« Die letzten Worte leise. »Ich bin schon früher gejagt worden. Ich habe tiefer in der Klemme gesteckt.« Seine Augen wichen ihrem Blick aus.
Die letzten beiden Tage über hatte Jefri den Himmel nicht länger als eine Stunde gesehen. Er und Amdi waren in der großen Steinkuppel, die das Schiff der Flüchtlinge beschirmte, ziemlich sicher, doch es gab keine Möglichkeit, nach draußen zu sehen. Ohne Amdi hätte ich das keine Minute lang ausgehalten. In mancher Beziehung war es sogar schlimmer als seine ersten Tage auf der Verborgenen Insel. Diejenigen, die Mutti und Vati und Johanna umgebracht hatten, waren nur noch ein paar Kilometer entfernt. Sie hatten manche von Herrn Stahls Kanonen erbeutet, und die letzten Tage hindurch hatten die Explosionen stundenlang angedauert, ein Donnern, das den Boden unter ihnen erzittern ließ und manchmal sogar gegen die Mauern der Kuppel schlug.
Ihr Essen bekamen sie hereingebracht, und wenn sie nicht in der Steuerkabine des Schiffes saßen, gingen die beiden aus dem Schiff heraus zu den Räumen mit den schlafenden Kindern. Jefri hatte die einfachen Wartungsarbeiten weiter durchgeführt, an die er sich erinnerte, doch wenn er durch die Sichtscheiben der kalten Schlafsärge blickte, hatte er schreckliche Angst. Manche von den Kindern atmeten kaum. Die Innentemperatur kam ihm zu hoch vor. Und er und Amdi wussten nicht, was sie dagegen tun sollten.
Nichts hatte sich hier verändert, doch nun gab es Freude. Ravnas langes Schweigen war zu Ende. Amdijefri und Herr Stahl hatten mit ihr richtig mit der Stimme gesprochen! Noch drei Stunden, und ihr Schiff würde hier sein! Selbst der Beschuss hatte aufgehört, als ob Holzschnitzerin begriffen hätte, dass ihre Zeit bald abgelaufen sein würde.
Noch drei Stunden. Sich selbst überlassen, hätte Jefri diese Zeit in aufgeregter Geschäftigkeit verbracht. Schließlich war er jetzt neun Jahre alt, ein Erwachsener mit Erwachsenenproblemen. Doch da war noch Amdi. Das Rudel war in mancher Beziehung viel klüger als Jefri, aber er war so ein kleines Kind — ungefähr fünf Jahre alt, soweit Amdijefri es abschätzen konnte. Wenn er nicht gerade angestrengt nachdachte, konnte er nicht still sein. Nach dem Funkspruch von Ravna wollte sich Jefri hinsetzen, um sich ernstlich Sorgen zu machen, doch Amdi begann mit sich selbst rund um die Säulen Haschen zu spielen. Er rief in Jefris und Ravnas Stimme hin und zurück und prallte absichtlich gegen den Jungen. Jefri sprang auf und starrte die herumtollenden Welpen an. Wie ein kleines Kind. Und plötzlich, froh und so traurig auf einmal: Ist das der Eindruck, den Johanna von mir hatte? Und so hatte er nun auch Pflichten. Zum Beispiel, geduldig zu sein. Als einer von Amdi an seinen Knien vorbeischoss, griff Jefri rasch nach unten nach der zappelnden Gestalt. Er hob sie in Schulterhöhe, während der Rest des Rudels sich freudig um ihn drängte und von allen Seiten gegen ihn sprang.
Sie fielen auf das trockene Moos und rangen ein paar Sekunden lang. »Lass uns forschen, lass uns forschen!«
»Mach dir keine Sorgen. Wir vergessen es nicht.«
»Gut.« Wo konnten sie denn schon hingehen?
Die beiden gingen durch das von Fackeln erhellte Dämmer zu der Galerie, die am Innenrand der Kuppel entlanglief. Soweit Jefri sehen konnte, waren sie allein. Das war nicht ungewöhnlich. Herr Stahl machte sich große Sorgen, dass Holzschnitzerins Spione ins Schiff gelangen könnten. Selbst seine eigenen Soldaten kamen selten hierher.
Amdijefri hatte die Innenmauer schon früher untersucht. Hinter der Polsterung fühlte sich der Stein kühl und feucht an. Es gab ein paar Löcher ins Freie hinaus — für die Luftzufuhr —, doch sie lagen fast zehn Meter hoch, wo sich die Wand schon nach innen zum Scheitelpunkt der Kuppel krümmte. Der Stein war grob behauen, noch nicht poliert. Herrn Stahls Arbeiter waren in fieberhafter Eile gewesen, um den Schutz fertigzustellen, ehe Holzschnitzerins Armee eintraf. Nichts war poliert, und die Polstermatten trugen keine Verzierungen.
Vor und hinter ihm schnüffelte Amdi an den Fugen und dem frischen Mörtel. Das eine in Jefris Armen zappelte zielstrebig. »Ha! Da vorn. Ich wusste, dass sich dieser Mörtel lockern lassen würde«, sagte das Rudel. Jefri ließ alle von seinem Freund nach vorn zu einer Ecke in der Wand stürmen. Sie sah nicht anders aus als zuvor, aber Amdi kratzte mit fünf Paar Pfoten.
»Und wenn du es locker kriegst, was hast du davon?« Jefri hatte gesehen, wie diese Blöcke mit Winden an Ort und Stelle gesetzt worden waren. Sie waren fast fünfzig Zentimeter tief und lagen abwechselnd in Reihen. Wenn sie an einem vorbeikämen, würden sie nur auf weitere Steine stoßen.
»He, he, ich weiß nicht. Ich habe das aufgehoben, bis wir ein bisschen Zeit totzuschlagen hätten… Huch. Dieser Mörtel brennt mir auf den Lippen.« Weiteres Kratzen, und das Rudel reichte einen Brocken so groß wie Jefris Kopf nach hinten durch. Es war wirklich ein Loch zwischen den Blöcken, und es war groß genug für Amdi. Eins von ihm schnellte in die winzige Höhle.
»Zufrieden?« Jefri warf sich an dem Loch zu Boden und versuchte hineinzuschauen.
»Rat mal!« Amdis schriller Ausruf kam von einem Glied direkt neben seinem Ohr. »Hier hinten ist ein Tunnel, nicht bloß die nächste Schicht Steine!« Ein Glied schlängelte sich an Jefri vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Geheime Tunnel? Das ähnelte zu sehr einem nyjoranischen Märchen. »Er ist groß genug für ein ausgewachsenes Glied, Jefri. Du könntest auf Händen und Knien durchkommen.« Noch zwei von Amdi verschwanden in dem Loch.
Der Tunnel, den er entdeckt hatte, mochte groß genug für ein Menschenkind sein, doch das Eingangsloch war sogar für die Welpen eng. Jefri konnte nichts tun, als in die Dunkelheit zu starren. Die Teile von Amdi, die am Eingang blieben, erzählten, was er entdeckt hatte. »… Geht eine lange, lange Strecke weiter. Ich habe ein paarmal die Richtung gewechselt. Die Spitze von mir ist ungefähr fünf Meter weiter oben, gerade über deinem Kopf. Das ist irre. Ich werde ganz langgezogen.« Amdi klang noch närrischer als in seiner normalen Verspieltheit. Noch zwei von ihm schlüpften in das Loch. Das entwickelte sich zu einem ernsthaften Abenteuer — und Jefri konnte sich nicht daran beteiligen.
»Geh nicht zu weit, es könnte gefährlich sein.«
Eins von dem Paar, das zurückgeblieben war, blickte zu ihm auf. »Keine Sorge. Keine Sorge. Der Tunnel ist kein Zufall. Sieht aus, als ob er als Höhlungen in die Steine geschnitten worden ist, als man sie gesetzt hat. Das ist ein besonderer Fluchtweg, den Herr Stahl angelegt hat. Ich bin in Ordnung. Ich bin in Ordnung. Haha, huhuuh.« Noch eines verschwand in dem Loch. Nach einem Augenblick lief das letzte verbliebene Glied hinein, blieb aber nahe genug am Eingang, sodass Amdi noch mit Jefri sprechen konnte. Das Rudel hatte einen Heidenspaß, es sang und quietschte sich selbst etwas vor. Jefri wusste genau, was der andere trieb, es war wieder so eins von den Spielen, die er niemals spielen konnte. In dieser Haltung mussten Amdis Gedanken die merkwürdigsten plätschernden Sachen sein. Verdammt. Jetzt, wo er im Innern von Stein spielte, musste es sogar noch hübscher als sonst sein, weil er von allen Gedanken abgeschnitten war, außer von einem Glied zum benachbarten.
Das dumme Singen ging noch ein bisschen weiter, und dann sprach Amdi in fast vernünftigem Ton. »He, dieser Tunnel teilt sich an manchen Stellen richtig. Mein vorderstes ist an eine Gabelung gekommen. Eine Seite geht nach unten… Ich hätte so gern genug Glieder, um in beide Richtungen zu gehen!«
»Hast du aber nicht!«
»Hei ho, heute nehme ich den oberen Tunnel.« Ein paar Sekunden Stille. »Hier gibt es eine kleine Tür! Wie eine gliedgroße Zimmertür. Nicht verschlossen.« Amdi gab die Schürfgeräusche von Stein auf Stein wieder. »Ha! Ich sehe Licht! Ein paar Meter weiter oben geht ein Fenster hinaus. Hör den Wind.« Er gab den Klang des Windes und die Rufe von Seevögeln durch, die von der Verborgenen Insel aufstiegen. Es klang wunderbar. »Oh, oh, das zerrt ganz schön an einem, aber ich möchte hinausschauen… Jefri, ich kann die Sonne sehen! Ich bin draußen, sitze hoch oben an der Seite der Kuppel. Ich kann den ganzen Süden überblicken. Junge, ist das ein Qualm da unten.«
»Was ist mit dem Berghang?«, fragte Jefri das nächste Glied, dessen weißgeflecktes Fell durch das Eingangsloch kaum zu sehen war. Wenigstens blieb Amdi in Kontakt.
»Ein bisschen brauner als letzten Zehntag. Ich sehe keine Soldaten da draußen.« Jefri hörte den weitergegebenen Klang eines Kanonenschusses. »Huch! Es wird doch geschossen… Gerade hat es auf dieser Seite des Kamms eingeschlagen. Jemand ist da draußen, knapp unter meiner Sichtgrenze.« Holzschnitzerin, die nun also doch gekommen war. Jefri zitterte vor Wut, dass er nichts sehen konnte, und vor Angst vor dem, was vielleicht zu sehen wäre. Er hatte oft Alpträume davon, was Holzschnitzerin wirklich sein musste, was sie mit Mutti und Vati und Johanna gemacht hatte. Bilder, die niemals ganz Gestalt annahmen — und doch fast Erinnerungen. Herr Stahl wird Holzschnitzerin erwischen.
»Oha. Der alte Tyrathect kommt über den Burghof zu uns herüber.« Dumpfe Töne erklangen aus dem Loch, während Amdi herabtapste. Es hatte keinen Sinn, Tyrathect wissen zu lassen, dass in der Mauer ein Tunnel verborgen war. Er würde ihnen vermutlich nur befehlen, davon wegzubleiben. Eins, zwei, drei, vier — die Hälfte von Amdi sprang aus der Wand. Die vier liefen ein wenig benommen umher. Jefri wusste nicht, ob es an ihrer Erfahrung des Langgezogenseins lag, oder ob sie sich vorübergehend von der anderen Hälfte des Rudels abgespalten hatten. »Natürlich verhalten. Natürlich verhalten.«
Dann trafen die anderen vier ein, und Amdi kam allmählich wieder zu sich. Er führte Jefri in schnellem Trab von der Wand weg. »Lass uns das Kom-Gerät nehmen. Wir werden so tun, als hätten wir versucht, Ravna damit zu erreichen.« Amdi wusste genau, dass das Sternenschiff sich frühestens in etwa dreißig Minuten wieder melden würde. Er war es gewesen, der die Berechnungen der Flugverzögerung für Herrn Stahl überprüft hatte. Dennoch jagte er die Stufen zum Schiff hinauf und nahm sich das Radio herunter. Die beiden steckten schon die Antenne in einen Signalverstärker, als das Breittor an der Westseite der Kuppel aufgeriegelt wurde. Gegen das Tageslicht hoben sich die Umrisse eines Wachrudels und eines einzelnen Gliedes von Tyrathect ab. Der Wachposten zog sich zurück und schob das Tor zu, und das Vermummte kam langsam über das Moos auf sie zu.
Amdi rannte auf ihn zu und plapperte etwas über ihre Versuche, das Radio zu benutzen. Er übertrieb ein wenig, dachte Jefri. Die Welpen waren noch verwirrt von ihrem Ausflug in die Mauern.
Das Solo schaute auf den Mörtelstaub, der Amdis Fell bedeckte. »Du bist in den Mauern herumgeklettert, nicht wahr?«
»Was?« Amdi betrachtete sich selbst und bemerkte den Staub. Für gewöhnlich war er klüger. »Ja«, sagte er beschämt. Er wischte den Staub weg. »Ihr werdet es nicht weitersagen, ja?«
Der wird uns gerade helfen, dachte Jefri. Herr Tyrathect hatte besser Samnorsk gelernt als Herr Stahl und war außer Stahl der Einzige, der viel Zeit hatte, sich mit ihnen zu unterhalten. Doch sogar schon vor den Radioumhängen war er kurz angebunden und herrisch gewesen. Jefri hatte Babysitter von der Sorte gehabt. Tyrathect war bis zu einem bestimmten Punkt nett, und dann wurde er sarkastisch oder sagte eine Gemeinheit. In letzter Zeit war das besser geworden, doch Jefri konnte ihn immer noch nicht besonders gut leiden.
Aber Herr Tyrathect sagte erst einmal gar nichts. Er setzte sich langsam, als ob ihm der Rumpf weh täte. »… Nein, ich werde nichts sagen.«
Jefri tauschte einen überraschten Blick mit einem von Amdi. »Wozu dient der Tunnel?«, fragte er schüchtern.
»Alle Burgen haben verborgene Tunnel, vor allem in meinem… in Herrn Stahls Reich. Man möchte gern Fluchtwege haben, Wege, um seine Feinde auszuspionieren.« Das Solo schüttelte den Kopf. »Macht nichts. Empfängt euer Radio ordentlich, Amdijefri?«
Amdi reckte einen Kopf zur Anzeige des Kom hin. »Ich glaube ja, aber es gibt noch nichts zu empfangen. Seht Ihr, Ravnas Schiff musste verzögern und, ähm, ich könnte Euch die Arithmetik zeigen…?« Doch Herr Tyrathect hatte offensichtlich kein Interesse, mit Kreidetafeln zu spielen. »… Nun ja, je nachdem, wie sie mit dem Ultraantrieb Glück haben, müssten wir wirklich bald schon mit ihnen Funkkontakt bekommen.«
Doch das kleine Fenster des Kom zeigte kein eintreffendes Signal. Sie betrachteten es etliche Minuten lang. Herr Tyrathect senkte die Schnauze und schien zu schlafen. Alle paar Sekunden zuckte sein Körper. Jefri fragte sich, was die übrigen von ihm gerade taten.
Dann leuchtete das Kom-Fenster grün. Es gab ein Wirrwarr von Tönen, als das Gerät versuchte, das Signal vom Hintergrundrauschen zu trennen. »… in fünf Minuten über euch«, erklang Ravnas Stimme. »Jefri? Hörst du?«
»Ja! Wir sind hier.«
»Lass mich bitte mit Herrn Stahl sprechen.«
Herr Tyrathect trat näher ans Kom. »Er ist jetzt nicht hier, Ravna.«
»Wer ist das?«
Tyrathects Lachen war ein Kichern; er hatte es nie anders gehört. »Ich?« Er machte in der Klauensprache den Akkord, der für Jefri wie ›Tyrathect‹ klang. »Oder meinst du einen angenommenen Namen, wie Stahl? Ich kenne das genaue Wort nicht. Du kannst mich… Herr Schneider nennen.« Tyrathect lachte abermals. »Gegenwärtig kann ich für Stahl sprechen.«
»Jefri, bist du in Ordnung?«
»Ja, ja. Hör Herrn Schneider zu.« Was für ein seltsamer Name.
Die Töne aus dem Kom klangen jetzt gedämpft. Eine Männerstimme erhob Einwände. Dann war Ravna wieder da, mit einer Art angespannter Stimme wie bei Mutti, wenn sie wütend war. »Jefri… Was für ein Volumen hat eine Kugel von zehn Zentimeter Durchmesser?«
Amdi hatte während des ganzen Gesprächs ungeduldig herumgezappelt. Das ganze letzte Jahr über hatte er von Jefri Geschichten über Menschen gehört und davon geträumt, wie Ravna wohl wirklich sein mochte. Nun hatte er eine Gelegenheit, sich darzustellen. Er sprang auf das Kom zu und grinste Jefri an. »Das ist leicht, Ravna.« Er sprach perfekt mit Jefris Stimme — und völlig fließend. »Sie hat 523,598 Kubikzentimeter…, oder möchtest du mehr Stellen hinter dem Komma?«
Gedämpfter Wortwechsel. »… Nein, das ist sehr gut. In Ordnung, Herr Schneider. Wir haben Bilder von unserem früheren Vorbeiflug und eine allgemeine Radiopeilung. Wo genau sind Sie?«
»Unter der Burgkuppel auf dem Gipfel des Schiffsberges. Er liegt direkt an der Küste bei einem…«
Eine Männerstimme schaltete sich ein. Pham? Er hatte einen komischen Akzent. »Ich habe es auf der Karte gefunden. Wir können euch immer noch nicht direkt sehen. Zuviel Dunst.«
»Das ist Rauch«, sagte das Vermummte. »Der Feind hat uns von Süden her fast erreicht. Wir brauchen eure Hilfe unverzüglich…« Das Solo senkte den Kopf vom Kom-Gerät herab. Seine Augen öffneten und schlossen sich ein paarmal. Überlegte es? »Hmm, ja. Ohne eure Hilfe sind wir und Jefri und das Schiff verloren. Bitte landet innerhalb des Burghofes. Ihr wisst, dass wir ihn für eure Ankunft extra verstärkt haben. Wenn ihr erst einmal gelandet seid, können wir eure Waffen verwenden, um…«
»Kommt nicht in Frage.« Der Bursche antwortete sofort. »Trennt einfach nur Freund und Feind voneinander, und lasst uns die Sache machen.«
Tyrathects Stimme nahm einen weinerlichen Tonfall an, wie ein Kind, das sich beklagt. Er hat uns wirklich studiert. »Nein, nein, ich wollte nicht unhöflich sein. Gewiss, macht es, wir ihr wollt. Was die feindlichen Streitkräfte betrifft: Jeder in der Nähe der Burg auf der Südseite des Berges ist ein Feind. Ein einziges Mal mit dem… äh, Feuerstrahl… eures Schiffes darüberstreichen…, würde sie in die Flucht schlagen.«
»Ich kann innerhalb einer Atmosphäre nicht mit diesem Feuerstrahl fliegen. Ist dein Papa wirklich mit dem Haupttriebwerk gelandet, Jefri? Ohne Agrav?«
»Jawohl. Wir hatten weiter nichts als das Raketentriebwerk.«
»Er war ein genialer Glückspilz.«
Ravna: »Vielleicht könnten wir einfach über sie hinwegschweben, ein paar tausend Meter hoch. Das könnte sie verscheuchen.«
Tyrathect begann: »Ja, das könnte…«
Die Breittore an der Nordseite der Kuppel gingen auf. Herrn Stahls Umrisse hoben sich gegen das Tageslicht dahinter ab. »Lass mich mit ihnen reden«, sagte er.
Das Ziel ihrer langen Reise lag nur eben zwanzig Kilometer unter der ADR. Sie waren so nahe, doch diese zwanzigtausend Meter konnten so schwer zu überwinden sein, wie die bisher zurückgelegten zwanzigtausend Lichtjahre.
Sie schwebten auf dem Agrav direkt über dem ›Schiffsberg‹ . Die Multispektralapparatur der ADR funktionierte nicht besonders gut, aber wo der Rauch nicht die Sicht verdeckte, konnte die Schiffsoptik die Nadeln an den Bäumen unter ihnen zählen. Ravna sah die Truppen von ›Holzschnitzerin‹ über die Hänge südlich der Burg verteilt. Andere Truppen und anscheinend auch Geschütze waren in den Wäldern verborgen, die den Fjord weiter südlich säumten. Wenn sie ein bisschen mehr Zeit hätten, könnten sie auch diese ausmachen. Zeit war genau das, was ihnen fehlte.
Zeit und Vertrauen.
»Achtundvierzig Stunden, Pham. Dann wird die Flotte hier sein, rings um uns.« Vielleicht, vielleicht konnten die Gottsplitter ein Wunder vollbringen; sie würden das nie erfahren, wenn sie hier oben versauerten. Ein Versuch: »Du musst jemandem vertrauen, Pham.«
Pham starrte sie an, und einen Moment lang fürchtete sie, er könnte völlig zerfallen. »Du würdest dich diesem Stahl ausliefern? Mittelalterliche Schurken sind genauso schlau wie nur irgendwer, den du im Jenseits gesehen hast, Rav. Sie könnten den Schmetterlingen noch was beibringen. Ein Pfeil in den Kopf bringt dich genauso sicher um wie eine Antimateriebombe.«
Noch mehr gefälschte Erinnerungen? Aber in einem hatte Pham Recht: Sie dachte an das soeben beendete Gespräch. Das zweite Rudel — Stahl — war ein bisschen zu hartnäckig gewesen. Er war gut zu Jefri gewesen, doch er war sichtlich zu allem entschlossen. Und sie glaubte ihm, wenn er sagte, ein Überflug in großer Höhe würde die Holzschnitzer nicht verscheuchen. Sie mussten mit Waffen in Bodennähe gehen. Und im Moment war Phams Strahlenkanone so ziemlich alles, was sie an Waffen besaßen. »Also gut! Tu, worüber du mit Stahl gesprochen hast. Flieg mit dem Landeboot hinter Holzschnitzerins Linien und bestreich sie mit dem Laser.«
»Verdammt, du weißt, dass ich das Ding nicht fliegen kann. Das Landeboot ähnelt nichts von allem, was wir beide kennen, und ohne Automatik…«
Leise: »Ohne Automatik brauchst du Blaustiel, Pham.« In Phams Gesicht stand Entsetzen. Sie berührte ihn. Für einen langen Augenblick schwieg er, anscheinend ohne es zu bemerken.
»Tja.« Seine Stimme klang flach und erstickt. Dann: »Blaustiel! Komm rauf.«
Das Landeboot der ADR bot dem Skrodfahrer und Pham Nuwen mehr als genug Platz. Das Gefährt war speziell für die Benutzung durch Skrodfahrer gebaut worden. Hätte die höhere Automatik funktioniert, wäre es für Pham — sogar für ein Kind — ein leichtes gewesen, damit zu fliegen. Nun konnte es keinen stabilen Flug gewährleisten, und die ›Handsteuerung‹ gab sogar Blaustiel eine Menge zu tun. Verdammte Automatik. Verdammte Optimierung. Den größten Teil seines Lebens hatte Pham im Langsam verbracht. In all diesen Jahrzehnten hatte er Raumfahrzeuge und Waffen bedient, die das Feudalreich unter ihnen in eine Schicht Schlacke verwandeln konnten. Jetzt jedoch, im Besitz einer Ausrüstung, die ungleich mächtiger hätte sein sollen, konnte er nicht einmal ein verdammtes Landeboot fliegen.
An der anderen Seite der Kabine befand sich Blaustiel am Platz des Piloten. Seine Wedel streckten sich über ein Gewebe von Halterungen und Steuerelementen. Er hatte die gesamte Bildschirmautomatik abgeschaltet; nur das Hauptfenster zeigte eine Direktansicht von der Kamera des Bootes. Die ADR schwebte ein paar hundert Meter vor ihnen, nach oben und außer Sicht, während ihr Boot zur Seite und nach unten glitt.
Blaustiels zapplige Nervosität — sein verdächtiger Eifer, wie es Pham vorgekommen war — war verschwunden, sobald er mit der Bootsführung beschäftigt war. Seine Voderstimme wurde lakonisch und geistesabwesend, und die Ränder seiner Wedel huschten über die Steuerelemente, eine Übung, zu der Pham niemals imstande gewesen wäre, und hätte er auch sein Leben lang mit der Apparatur zu tun gehabt. »Danke, Herr Pham… Ich werde beweisen, dass Sie mir trauen können…« Die Bootsnase senkte sich abrupt, und sie starrten beinahe geradezu auf die Küstenlinie zwanzig Kilometer unter ihnen. Eine halbe Minute lang waren sie im freien Fall, während die Wedel des Skrodfahrer über ihre Halterungen tanzten. Ein Bravourstück? Nein: »Verzeihung, Verzeihung.« Beschleunigung, und Pham wurde von einer Schwere, die zwischen einem Zehntel Ge und unerträglichem Andruck schwankte, in die Gurte gepresst. Die Landschaft rotierte, und einen Moment lang sahen sie die ADR, jetzt wie ein winziger Falter über ihnen.
»Müssen wir wirklich töten, Herr Pham? Vielleicht würde schon unser Erscheinen über dem Schlachtfeld…«
Nuwen bleckte die Zähne. »Bring uns einfach runter.« Dieser Stahl hatte eisenhart darauf bestanden, dass sie den ganzen Berghang rösteten. Ungeachtet Phams Verdacht konnte das Rudel damit Recht haben. Sie hatten es mit einer Mörderbande zu tun, die nicht davor zurückgeschreckt war, ein Sternenschiff zu überfallen; an den Holzschnitzern musste ein Exempel statuiert werden.
Ihr Boot flatterte die Kilometer hinab. Stahls Befestigungsanlagen waren selbst bei direkter Bildwiedergabe deutlich zu sehen: das grob gefügte Vieleck, welches das Sternenschiff beschützte, die viel größere Anlage, die sich über eine Insel etliche Kilometer westlich hinzog. Ob wohl so den Landegruppen der Dschöng Ho das Schloss meines Vaters erschienen ist? Diese Mauern waren hoch und ohne Bastionen. Offensichtlich hatten die Klauenwesen keine Ahnung von Schießpulver gehabt, bis Ravna sie darin einweihte.
Das Tal südlich der Burg war ein Klumpen dunklen Rauchs, der langsam zum Meer hin floss. Selbst ohne Datenverstärkung sah er heiße Stellen, orangerote Streifen am Rande des Schwarz.
»Ihr seid auf zweitausend Meter«, erklang Ravnas Stimme. »Jefri sagt, dass er euch sehen kann.«
»Schalte mich zu ihnen durch.«
»Ich werde es versuchen, Herr Pham.« Blaustiel fummelte herum, und sein Mangel an Aufmerksamkeit ließ das Boot einen kompletten Looping vollführen. Pham hatte Blätter gesehen, die geordneter gefallen waren.
Eine schrille Kinderstimme: »Alles in Ordnung? Stürzt nicht ab!«
Und dann die von dem Rudel Stahl hervorgebrachte Mischung aus Ravnas und der Kinderstimme: »Gehen nach Süden! Gehen nach Süden! Feuerkanone benutzen. Schnell sie verbrennen.«
Blaustiel hatte sie schon in den Rauch hinabgebracht. Sekundenlang flogen sie blind. Eine Lücke im Rauch ließ den Berghang in weniger als zweihundert Meter Entfernung erkennen, und er kam rasch näher. Noch ehe Phan fluchen konnte, hatte Blaustiel gewendet und das Boot in klarere Luft geflogen. Dann neigte er das Boot, sodass sie direkt nach unten schauen konnten.
Nach dreißig Wochen Reden und Planen sah Pham zum ersten Mal die Klauenwesen. Selbst von hier aus war offensichtlich, dass sie sich von allen anderen vernunftbegabten Wesen unterschieden, denen Pham begegnet war: Haufen von vier oder fünf oder sechs Gliedern hingen so eng zusammen, dass sie wie ein einziges spinnenähnliches Wesen wirkten. Und jedes Rudel stand von den anderen zehn, fünfzehn Meter entfernt.
Ein Geschütz blitzte im Rauch auf. Das Rudel, das es bediente, bewegte sich wie eine einzige, koordinierte Person, um die Lafette zurückzuschieben und eine neue Ladung in die Mündung zu stopfen.
»Aber wenn das der Feind ist, Herr Pham, woher haben sie dann die Kanonen?«
»Gestohlen.« Aber Vorderlader? Er hatte keine Zeit, den Gedanken zu verfolgen.
»Du bist genau über ihnen, Pham! Ich sehe dich zwischen dem Rauch. Ihr treibt mit fünfzehn Metern pro Sekunde nach Süden und verliert an Höhe.« Es war der Junge, der wie üblich mit unglaublicher Präzision sprach.
»Töte sie! Töte sie!«
Pham wand sich aus seinen Gurten und kroch nach hinten zur Luke, wo sie seine Strahlenkanone montiert hatten. Das war so ziemlich das Einzige, was sie aus dem Feuer in der Werkstatt gerettet hatten, aber bei Gott, das war etwas, womit er umgehen konnte.
»Halt uns ruhig, Blaustiel. Wenn du ruckst, kriegst du garantiert selber was ab!« Er stieß die Luke auf und erstickte fast an scharfem Qualm. Dann trugen Blaustiels Agravs sie in freien Raum, und Pham richtete den Strahler hinab auf die Reihen der Rudel.
Ursprünglich hatte Holzschnitzerin verlangt, dass Johanna im Basislager zurückblieb. Johanna hatte mit einem Ausbruch geantwortet. Selbst jetzt war das Mädchen ein wenig von sich selbst überrascht. Seit den ersten Tagen auf der Klauenwelt war sie nicht mehr so nahe daran gewesen, ein Rudel anzugreifen. Es kam nicht in Frage, dass jemand sie daran hinderte herauszufinden, wie es um Jefri stand. Schließlich hatten sie einen Kompromiss geschlossen: Johanna würde Pilger als ihren Wächter akzeptieren. Sie konnte mit der Armee ins Feld gehen, solange sie seine Anweisungen befolgte.
Johanna schaute durch den dahintreibenden Rauch bergauf. Verdammt. Pilger war immer so ein sorgloser Spaßvogel. Nach seinen eigenen Worten hatte er sich in all den Jahren immer wieder umbringen lassen. Und nun wollte er sie nicht einmal hinaus zu Scrupilos Kanonen lassen. Sie schritten beide über eine Terrasse am Berghang. Das Feuer hatte das Unterholz hier vor Stunden durchlaufen, und der würzige Geruch von Moosasche lag schwer in der Luft. Und mit diesem Geruch kam die grelle Erinnerung an den Schrecken vor einem Jahr, am selben Ort…
Vertrauenswürdige Wachrudel schritten zu beiden Seiten in zwanzig Meter Entfernung neben ihnen. Dieses Gebiet war vermutlich frei von Partisanen, und von den Flenseristen war seit Stunden kein Artilleriefeuer ausgegangen. Doch Wanderer weigerte sich entschieden, sie noch näher heranzulassen.
Es ist ganz anders als voriges Jahr. Damals war alles sonniger blauer Himmel und saubere Luft gewesen — und der Mord an ihren Eltern. Jetzt waren sie und Pilger zurückgekehrt, und der blaue Himmel war graugelb und der moosbedeckte Hang schwarz. Und jetzt kämpften die Rudel rings um sie zusammen mit ihr. Und jetzt gab es eine Chance…
»Lass mich näher, verdammt! Holzschnitzerin wird den Rosa Olifanten haben, egal, was mit mir geschieht.«
Wanderer schüttelte sich, eine Verneinung der Klauenwesen. Einer von seinen Welpen langte aus einer Jackentasche nach ihrem Ärmel. »Noch eine kleine Weile«, sagte Pilger zum zehnten Mal. »Warte auf Holzschnitzerins Boten. Dann können wir…«
»Ich will da oben sein! Ich bin die Einzige, die das Schiff kennt!« Jefri, Jefri. Wenn Feilonius nur Recht gehabt hat…
Sie fuhr gerade herum, um Narbenhintern einen Klaps zu geben, als es geschah. Eine Hitzewelle brannte auf ihrem Rücken, und der Rauch leuchtete hell auf. Wieder. Wieder. Und dann der Aufprall schnellen Donners, der über den Himmel schritt.
Pilger bebte an ihrer Seite. »Das ist kein Geschützfeuer!«, rief er. »Zwei von mir sind fast geblendet. Weiter!« Er umringte sie und warf sie fast um, als er sie hangabwärts zog und schob.
Einen Moment lang ging Johanna mit, eher betäubt als willig. Irgendwie hatten sie ihre Eskorte verloren.
Von oben am Berg her klangen keine Schlachtrufe mehr. Der scharfe Donner hatte alles verstummen lassen. Wo der Rauch dünner wurde, konnte sie eine von Scrupilos Kanonen sehen, deren Lauf aus einem Tümpel geschmolzenen Stahls ragte. Der Kanonier war in Stücke gerissen worden. Kein Geschützfeuer. Johanna riss sich aus Pilgers Griff los. Kein Geschützfeuer.
»Raumler! Pilger, das muss ein Raketentriebwerk sein.«
Wanderer ergriff sie wieder und lief weiter hinab. »Kein Raketentriebwerk! Das habe ich gehört. Das hier ist leiser — und jemand zielt damit.«
Es war ein langes Stottern einzelner Feuerstöße gewesen. Wie viele von Holzschnitzerins Leuten waren soeben umgekommen? »Sie müssen glauben, dass wir das Schiff angreifen. Wenn wir nichts unternehmen, werden sie uns restlos auslöschen.«
Seine Kiefer lockerten ihren Griff an ihren Ärmeln und Hosenbeinen. »Was können wir tun? Wenn wir hierbleiben, werden wir bloß getötet.«
Johanna starrte zum Himmel. Keine Spur von Fliegern, doch da war so viel Rauch. Die Sonne war eine blasse blutige Kugel. Wenn die Retter nur wüssten, dass sie ihre Freunde umbrachten. Wenn sie nur sehen könnten… Sie stemmte die Füße in den Boden. »Wenn ich an eine Stelle kommen kann, wo sie mich sehen… Lass mich los, Pilger! Ich gehe den Berg hinauf, aus dem Rauch heraus.«
Er war stehen geblieben, hielt sie aber fest im Griff. Vier erwachsene Gesichter und zwei von Welpen schauten zu ihr auf, und Ratlosigkeit stand in jedem Blick. »Bitte, Pilger. Es geht nicht anders.« Rudel kamen den Hang herab gewankt, manche blutend, andere als Fragmente.
Seine furchterfüllten Augen starrten sie noch einen Moment lang an. Dann ließ er sie los und berührte ihre Hand mit einer Nase. »Ich glaube, dieser Berg wird immer mein Tod sein. Zuerst Schreiber, jetzt du — ihr seid alle verrückt.« Pilgers altes Lächeln huschte über seine Glieder. »Gut. Versuchen wir’s!« Die beiden ohne Welpen gingen den Hang hinan und suchten nach dem sichersten Weg.
Johanna und seine übrigen folgten. Sie gingen über eine gewundene Terrasse. Die Dürre des Sommers hatte das kalte Bodenwasser austrocknen lassen, an das sie sich von der Landung her erinnerte, und das geschwärzte Moos lag fest unter ihr. Es hätte leicht sein müssen, hier zu gehen, doch Wanderer schlängelte sich durch die tiefsten Bodensenken und hockte sich alle paar Sekunden hin, um in sämtliche Richtungen zu spähen. Sie erreichten das Ende der Terrasse und begannen zu klettern. Manche Stellen waren so steil, dass sie nach den Schulterbügeln an zweien von Wanderer greifen und sich von ihm hinaufziehen lassen musste. Sie kamen an der nächsten Kanone vorüber — was davon übrig war. Johanna hatte dergleichen nie gesehen, außer in Geschichten, doch die Metallspritzer und das verkohlte Fleisch daneben konnten nur eine Art Strahlenwaffe bedeuten. Über die Bergflanke liefen ebensolche Krater, in das bereits verbrannte Land eingestanzte Zerstörung.
Johanna lehnte an einer glatten Feldrundung. »Nur noch hier hinauf, und wir sind auf der nächsten Terrasse«, drang Pilgers Stimme an ihr Ohr. »Beeil dich, ich höre Rufe.« Er lehnte zwei von sich nach unten, sodass die Schulterbügel herabhingen. Sie griff danach und stieß sich mit den Füßen ab. Einen Augenblick lang hingen sie und das Rudel über einem vier Meter tiefen Abgrund, und dann lag sie auf bräunlichem, nicht verbranntem Moos. Pilger sammelte sich um sie und deckte sie. Sie spähte zwischen seinen Beinen hindurch. Die Außenmauern von Stahls Burg waren von hier aus zu sehen. Armbrustschützen standen dreist auf den Wehrgängen und nutzten das Chaos unter Holzschnitzerins Truppen aus. Eigentlich hatte die Streitmacht der Königin nicht viele Rudel verloren, doch selbst die Unverwundeten wimmelten durcheinander. Die Soldaten der Königin waren keine Feiglinge — das wusste Johanna mittlerweile —, doch sie waren soeben mit einer Macht konfrontiert worden, gegen die es keine Verteidigung gab.
Über ihnen verzog sich der Rauch, und das Blau kam durch. Das Schlachtfeld vor ihr lag unter klarem Himmel. In den Jahren vor dem Hochlabor war Johanna mit ihrer Mutter oft auf Wanderungen über die Bigby-Marsch auf Straum gegangen. Mit den Sensoren ihrer Wanderausrüstungen war es nicht schwer gewesen, die Skyggflügler dort zu beobachten; selbst wenn die Automatik dieses Fliegers nicht eigens nach einem Menschen am Boden Ausschau hielt, müsste sie sie bemerken. »Siehst du etwas?«
Die vier erwachsenen Köpfe schwankten in abgestimmten Paaren vor und zurück. »Nein. Der Flieger muss sehr weit weg oder hinter dem Rauch sein.«
Mist. Johanna stand auf, trottete auf die Burgmauern zu. Dort mussten sie beobachten!
»Das wird Holzschnitzerin nicht gefallen.«
Zwei von den Soldaten rannten bereits auf sie zu, von ihrer zielgerichteten Bewegung oder vom Anblick Johannas angezogen. Pilger winkte sie zurück.
Allein auf freiem Feld, weniger als zweihundert Meter von den Burgmauern entfernt. Selbst mit bloßem Auge — wie konnte man sie übersehen? In der Tat wurden sie bemerkt: Es gab ein leises Sirren, und ein meterlanger Pfeil stieß links von ihnen in den Boden. Narbenhintern packte ihre Schulter und zog sie in Hockstellung herab. Die Welpen schoben seine Schilde in Stellung: Pilger bildete eine Deckung gegen die Burgseite und begann, außer Schussweite zu gehen. Zurück in den Rauch.
»Nein! Lauf parallel! Ich will gesehen werden.«
»Gut, gut.« Leise Todesklänge schossen herab. Johanna hielt eine Hand auf seiner Schulter, als sie über das Feld liefen. Sie fühlte, wie Narbenhintern stockte. Der Pfeil hatte ihn ins Fleisch der Schulter getroffen, Zentimeter von einem Trommelfell entfernt. »Ich bin in Ordnung! Bleib unten, bleib unten.«
Die vordere Front von Holzschnitzerins Streitkräften strömte jetzt auf sie zu, ein Dutzend Rudel, die über die Terrasse rannten. Pilger sprang auf und ab und schrie mit einer Stimme, die wie körperliche Gewalt auf sie einschlug. Etwas in der Art, sie sollten sich zurückhalten, und über Gefahr vom Himmel. Es hielt ihr Vordringen nicht auf. »Sie wollen, dass du von den Pfeilen weg bist.«
Und plötzlich bemerkten sie, dass die Schüsse von der Burg aufgehört hatten. Pilger spähte gen Himmel. »Es ist wieder da! Es kommt von Osten, vielleicht einen Kilometer weit weg.«
Sie blickte in die Richtung, in die er zeigte. Es war ein ungefüges Ding, vermutlich für den Raum bestimmt, obwohl es keine Ultraantriebs-Dorne hatte. Es taumelte und wankte. Von Raketendüsen war nichts zu sehen. Eine Art Agrav? Nichtmenschen? Die Gedanken rutschten durch ihren Geist, begleitet von Freude.
Fahles Licht flackerte aus einem Vorsprung am Bauche des Fliegers, und Erde spritzte rings um die Rudel auf, die zu ihrem Schutze herbeirannten. Wieder das stotternde Donnern, nur dass nun das Licht geradewegs über die Reihen ihrer Freunde auf sie zu kam.
Amdijefri stand auf den Burgmauern. Stahl hielt seine stechenden Blicke vor ihm verborgen. Er konnte einfach nichts dagegen machen; Ravna hatte verlangt, dass Jefri am Radio sein sollte, um den Schlag zu lenken. Die Menschenfrau war nicht völlig blöde. Es würde egal sein. Eine Armee sieht wie eine Armee aus, ob sie Freund oder Feind ist. Sehr bald würde die Armee jenseits dieser Mauern aufhören zu existieren.
»Wie ist der erste Durchlauf gegangen?« Ravnas Stimme kam sehr deutlich aus dem Kom-Gerät. Aber es war nicht Jefri, der antwortete; alle acht von Amdiranifani strichen auf dem Wehrgang herum, manche von ihm saßen auf den Zinnen und übten Stereoblick, während andere Stahl und das Radio im Auge behielten. Ihm zu sagen, er sollte zurückbleiben, nutzte nichts. Nun beantwortete Amdi die Frage mit Jefris Stimme: »Gut. Ich habe fünfzehn Lichtblitze gezählt. Nur zehn haben überhaupt etwas getroffen. Ich wette, dass ich besser schießen könnte.«
»Verdammt, das ist das Beste, was ich mit diesem (unbekannte Wörter) fertigbringe.« Es war nicht Ravnas Stimme. Stahl hörte die Irritation darin. Jeder kann an diesen Welpen etwas Widerwärtiges finden. Ein erbaulicher Gedanke.
»Bitte«, sagte Stahl. »Schieß wieder. Wieder.« Er schaute über die Mauerkante. Der Luftangriff hatte eine Gruppe der Feinde am Rande der nächsten Terrasse beseitigt. Es war eine beeindruckende Zerstörung, wie riesige Kanonentreffer oder die getrennte Landung von zwanzig Sternenschiffen. Und alles von einem kleinen Gefährt, das in der Luft taumelte wie ein fallendes Blatt. Die feindliche Frontlinie löste sich in Panik auf. Überall auf den Wehrgängen tanzten seine eigenen Truppen bei ihren Gefechtsstationen. Die Lage hatte flau ausgesehen, seit ihre Geschütze ausgeschaltet worden waren; sie brauchten eine Aufmunterung. »Die Armbrustschützen, Sreck! Schießt auf die Überlebenden.« Und dann, wieder in Samnorsk: »Die vorderen Linien kommen immer noch auf uns zu. Sie sind… sie sind…« Verdammt, was heißt ›siegesgewiss‹ ? »Sie werden uns umbringen, wenn ihr nicht helft.«
Das Menschenkind blickte Stahl verwundert an. Wenn er das jetzt eine Lüge nannte, dann… Einen Moment später sagte Ravna: »Ich weiß nicht. Sie sind durchaus weg von euren Mauern, jedenfalls soweit ich sehen kann. Ich will sie nicht abschlachten…« Schnellfeuer-Gespräch mit dem Menschen im Flieger, womöglich nicht einmal in Samnorsk. Der Kanonier klang unzufrieden. »Pham wird sich ein paar Kilometer zurückziehen«, sagte sie. »Wir kommen sofort wieder, wenn euer Feind vorrückt.«
»Sssst!« Srecks Hochsprech-Zischen kam wie ein trockener Schlag. Wie kann er es wagen… Doch sein Leutnant zeigte mit aufgerissenen Augen zur Mitte des Schlachtfelds. Natürlich hatte Stahl mit einem Augenpaar in diese Richtung geschaut, aber unaufmerksam: Der andere Zweibeiner!
Die Gestalt des Pfahlwesens sank hinter einem sie begleitenden Rudel zu Boden, glücklicherweise ehe Amdijefri sie bemerkte. Dem Rudel aller Rudel sei Dank, dass Welpen kurzsichtig sind. Stahl stürzte vor, umringte einige von Amdi und rief den anderen zu, sie sollten den Wehrgang verlassen. Beide von Tyrathect rannten nahe heran und packten die ungehorsamen Bälger. »Nach unten!«, schrie Stahl in der Klauensprache. Eine Sekunde lang war alles wirr, während seine eigenen Denklaute sich mit denen der Welpen mischten. Amdi taumelte von ihm weg, durch den Lärm und die harten Stöße gründlich abgelenkt. Und dann sagte Stahl in Samnorsk: »Da draußen sind noch mehr Kanonen. Geht nach unten, bevor ihr verletzt werdet!«
Jefri wandte sich dem Schlachtfeld zu. »Aber ich sehe keine…« Und zum Glück gab es wirklich nichts Besonderes zu sehen. Jetzt. Der andere Zweibeiner kauerte noch hinter einem von Holzschnitzerins Rudeln. Sreck packte das Menschenkind mit Pfoten und Kiefern. Er und eins von Tyrathect drängten die widerstrebenden Kinder die Treppe hinab. Unterdessen schmückte Tyrathect schon Stahls Geschichte aus und erzählte von Soldaten, die er unterhalb der Bergkuppe sehen konnte.
»Jag das kleinere Pulverlager in die Luft«, zischte Stahl dem hinabgehenden Sreck zu. Das Lager war fast leer, doch seine Zerstörung überzeugte vielleicht die Raumleute, wo Worte es nicht vermochten.
Nachdem sie weg waren, blieb Stahl eine Weile still und zitternd stehen. Noch nie war er so knapp einer Katastrophe entgangen. Von allen Wehrgängen überschütteten seine Armbrustschützen nun das feindliche Rudel und den Zweibeiner mit Pfeilen. Verdammt. Sie waren fast außer Schussweite.
Im Burghof sprengte Sreck das kleinere Pulverlager. Die Explosion war zufriedenstellend, viel lauter als ein Artillerietreffer; einer von den inneren Türmen wurde in Stücke gerissen. Steinbrocken regneten auf den ganzen Hof herab, die kleinsten Stücke flogen bis zu Stahl auf die Wehrgänge herauf.
Ravnas Stimme rief etwas in Samnorsk, zu schnell, als dass Stahl etwas verstanden hätte. Nun standen alle Pläne, alle Hoffnungen auf des Messers Schneide. Er musste alles aufs Spiel setzen: Stahl beugte eine Schulter nahe ans Korn und sagte: »Leider. Es geht schnell hier. Viel mehr Holzschnitzer kommen unter dem Rauch herauf. Könnt ihr alle auf Berghang töten?« Konnten die Pfahlwesen durch Rauch hindurchsehen? Das war ein Teil des Risikos.
Die Stimme des Kanoniers erklang wieder: »Ich kann es versuchen. Passt auf.«
Eine dritte Stimme, selbst nach menschlichen Maßstäben spröde und schmal: »Es wird noch fünfzig Sekunden dauern, Herr Stahl. Wir haben Schwierigkeiten mit dem Wenden.«
Gut. Konzentriert euch aufs Fliegen und aufs Töten. Seht euch eure Opfer nicht allzu genau an. Die Armbrustschützen hatten den Menschen zurückgetrieben, halb unter die Rauchdecke. Andere Rudel eilten nach vorn, um sie zu beschützen. Bis die Besucher zurückkamen, würde es eine Menge Ziele geben und der Mensch sich unter ihnen verlieren.
Zwei von ihm erblickten den Raumler, wie er durch den Dunst näher kam. Die Besucher würden nicht deutlich sehen, worauf sie schossen. Fahles Licht flackerte unter dem Gefährt hervor. Eine Sense strich über den Berghang auf Holzschnitzerins Soldaten zu.
Pham wurde gegen seine Gurte gepresst, als Blaustiel das Boot zurück zum Ziel wendete. Sie flogen nicht schnell, die Luftströmung konnte nicht mehr als dreißig Meter pro Sekunde betragen. Doch jede Sekunde war angefüllt mit dem widerwärtigsten Rucken und Schwankungen. Einmal hinderte nur Phams fester Griff an der Zielvorrichtung ihn daran, hinauszufallen. In etwas über vierzig Stunden wird das tödlichste Ding des Weltalls hier eintreffen, und ich befasse mich hier mit Schießübungen auf Hunde.
Wie sollte er den Berghang säubern? Stahls quengelnde Stimme klang ihm noch in den Ohren. Und Ravna war sich nicht sicher, was die ADR eigentlich unter all dem Rauch sah. Ganz ohne Automatik wären wir vielleicht besser dran, als mit dieser Bastardmischung. Wenigstens hatte sein Strahler eine Handsteuerung. Pham schlang einen Arm um den Lauf, während er den anderen ausstreckte, um eine Einstellung zu ändern. Eine breite Streuung des Strahlenbündels war gegen Panzerung nutzlos, konnte aber Augen zum Platzen bringen und Haut und Haare in Brand setzen — und am Boden würde der Strahl Dutzende von Metern breit sein.
»Fünfzehn Sekunden, Herr Pham«, erklang Blaustiels Stimme in seinem Ohr.
Diesmal flogen sie tief. Löcher im Rauchvorhang huschten vorbei wie Schlaglichtkunst. Der größte Teil des Erdbodens hatte eine schwarze Brandkruste, doch es gab nackte Felswände und sogar rußige Fleckchen Schnee, gefangen in Rinnen und schattigen Senken… Hier und da lag ein Haufen hundeähnlicher Körper und gelegentlich ein Kanonenrohr.
»Vor uns ist eine Menge von ihnen, Herr Pham. Sie laufen auf die Burg zu.«
Pham beugte sich herab und blickte nach vorn. Die Meute war etwa vierhundert Meter entfernt. Sie liefen parallel zu den Burgmauern über ein Feld, das mit Pfeilschäften gespickt war. Er drückte den Feuerknopf und schwenkte den Strahl unter dem Boot hervor. Unter der ausgetrockneten Oberfläche gab es eine Menge Wasser; es explodierte zu Dampf, während der Strahl darüber hinwegstrich… Doch weiter vorn bewirkte die breite Streuung nicht viel. Es würde noch ein paar Sekunden dauern, bis er eine gute Gelegenheit zu einem Schuss auf die unglückseligen Rudel bekommen würde.
Zeit für die kleinen Verdachtsmomente. Wieso hatte also der Feind Vorderlader-Geschütze? Die mussten sie selber hergestellt haben — auf einer Welt ohne Anzeichen von Feuerwaffen. Stahl war der klassische Fall eines mittelalterlichen Ränkeschmieds; Pham hatte den Typ aus tausend Lichtjahren Entfernung erkannt. Sie erledigten gerade die Dreckarbeit für den Kerl, das war offensichtlich. Lass sein. Stahl kommt später dran.
Pham feuerte abermals, während er den Strahl auf die Rudel schwenkte, diesmal mitten durch lebende Körper hindurch. Er schoss vor sie und zur Burgseite hin; vielleicht würden nicht alle sterben. Er reckte den Kopf weiter in den Luftzug, um besser sehen zu können. Vor den Rudeln lagen hundert Meter freies Feld, ein einzelnes Viererrudel und — eine menschliche Gestalt, schwarzhaarig und schlank, die umhersprang und winkte.
Pham riss den Lauf nach oben gegen den Rumpf und sicherte ihn gleichzeitig. Der Rückschlag war eine Hitzewelle, die ihm die Augenbrauen versengte. »Blaustiel! Geh runter! Geh runter!«
»Ein Missverständnis. Sie ist belogen worden.«
Ravna versuchte, etwas hinter der Stimme zu hören. Stahls Samnorsk klang so knarrend wie immer, der Tonfall kindlich und quengelnd. Er klang nicht anders als zuvor. Aber seine Geschichte wurde ziemlich dünn angesichts dessen, was eben geschehen war…
»Der Mensch muss verletzt gewesen und dann von Holzschnitzerin belogen worden sein. Das erklärt vieles, Ravna. Ohne sie könnte Holzschnitzerin nicht angreifen. Ohne sie kann alles sicher sein.«
Pham meldete sich auf einem persönlichen Kanal. »Das Mädchen war wirklich während eines Teils des Überfalls bewusstlos, Rav. Aber sie hat mir fast die Augen ausgekratzt, als ich andeutete, sie könnte sich in bezug auf Stahl und Holzschnitzerin irren. Und das Rudel, das bei ihr ist, wirkt viel überzeugender als Stahl.«
Ravna blickte fragend über das Deck hinweg zu Grünmuschel. Pham wusste nicht, dass sie hier war. Schwierig. Grünmuschel war eine Insel gesunder Vernunft inmitten des Wahnsinns — und sie kannte die ADR unendlich viel besser als Ravna.
Während sie noch zögerte, erklang wieder Stahls Stimme: »Sieh doch, nichts hat sich verändert, außer zum Besseren. Noch ein Mensch lebt. Wie kannst du an uns zweifeln? Sprich mit Jefri, er versteht uns. Wir haben das Beste getan für die Kinder im…«, ein kollerndes Geräusch, und eine (andere?) Stimme sagte: »… Kälteschlaf.«
»Gewiss, wir müssen wieder mit ihm sprechen, Stahl. Er ist unser bester Beweis für deine guten Absichten.«
»In Ordnung. In ein paar Minuten, Ravna. Aber weißt du, er ist auch mein guter Schutz gegen Tricks von eurer Seite. Ich weiß, wie mächtig ihr Besucher seid. Ich… fürchte euch. Wir müssen…« — kollernde Beratung — »… uns jeder auf die Ängste des anderen einstellen.«
»Hm. Wir werden einen Weg finden. Lass uns jetzt mit Jefri sprechen.«
»Ja.«
Ravna wechselte den Kanal. »Was meinst du, Pham?«
»Für mich gibt es da gar keine Fragen. Diese Johanna ist kein naives Kind wie Jefri. Wir haben immer gewusst, dass Stahl ein harter Brocken ist. Wir haben nur ein paar andere Tatsachen falsch verstanden. Der Landeplatz liegt mitten in seinem Gebiet. Er ist der Mörder.« Phams Stimme wurde leiser, fast ein Flüstern. »Das Schlimme ist, dass es vielleicht nichts ändert. Stahl hat wirklich das Schiff. Ich muss hineinkommen.«
»Das wird noch eine Falle.«
»Ich weiß. Aber was macht das? Wenn wir für mich Zeit mit dem GEGENMITTEL herausholen können, dann könnte es — dann wird es — die Mühe wert sein.« Kam es denn innerhalb eines Selbstmordkommandos noch auf ein weiteres Selbstmordkommando an?
»Ich bin nicht sicher, Pham. Wenn wir ihm alles geben, wird er uns umbringen, ehe wir dem Schiff überhaupt nahekommen.«
»Er wird es versuchen. Pass auf, halt du ihn nur am Reden. Vielleicht können wir sein Radio anpeilen, den Mistkerl wegpusten.« Es klang nicht sehr optimistisch.
Tyrathect brachte sie nicht zurück ins Schiff, auch nicht in ihre Unterkunft. Sie gingen Treppen im Innern der Außenmauern hinab, zuerst ein Teil von Amdi, dann Jefri mit dem Rest von Amdi, dann das Solo von Tyrathect.
Amdi beklagte sich noch immer: »Ich verstehe nicht, ich verstehe nicht. Wir können helfen.«
Jefri: »Ich habe keine feindlichen Kanonen gesehen.«
Das Solo floss über von Erklärungen, obwohl es noch voreingenommener als sonst klang. »Ich habe sie mit einem von meinen anderen Gliedern gesehen, unten im Tal. Wir ziehen alle unsere Soldaten in die Burg. Wir müssen standhalten, oder keiner von uns wird die Rettung erleben. Gegenwärtig ist das der beste Ort für euch.«
»Woher weißt du das? Kannst du jetzt gleich mit Stahl sprechen?«
»Ja, eins von mir ist noch oben bei ihm.«
»Gut, sag ihm, dass wir helfen müssen. Wir sprechen sogar besser Samnorsk als du.«
»Ich werde es ihm sofort sagen«, erwiderte das Vermummte rasch.
In den Mauern befanden sich keine Fensterschlitze mehr. Das einzige Licht kam von Öllampen, die alle zehn Meter im Tunnel angebracht waren. Die Luft war kühl und muffig, Nässe glänzte auf ungepolstertem Stein. Die winzigen Türen waren nicht aus poliertem Holz. Statt dessen gab es Gitterstäbe und dahinter Dunkelheit. Wohin gehen wir? Jefri fühlte sich plötzlich an die Verliese in Geschichten erinnert, an den Verrat, der die beiden Größeren und die Gräfin vom See ereilt hatte. Amdi schien es nicht zu spüren. Bei all seiner vertrackten Natur war Welpen im Grunde vertrauensvoll; er war immer von Herrn Stahl abhängig gewesen. Doch Jefris Eltern hatten sich niemals derart verhalten, nicht einmal auf der Flucht vom Hochlabor. Herr Stahl wirkte mit einem Mal so anders, als ob er sich nicht mehr die Mühe machte, nett zu erscheinen. Und dem finsteren Tyrathect hatte Jefri nie ganz getraut, nun begann der ganz offensichtlich mit Winkelzügen.
Es hatte keine neue Gefahr am Berghang gegeben.
Angst und Starrsinn und Misstrauen trafen zusammen: Jefri drehte sich schnell um und stand dem Vermummten gegenüber. »Wir werden nicht weitergehen. Das ist nicht die Richtung, in die wir gehen sollen. Wir wollen mit Ravna und Herrn Stahl sprechen.« Und mit plötzlicher befreiender Erkenntnis: »Und du bist nicht groß genug, um uns aufzuhalten!«
Das Solo wich jäh zurück und setzte sich dann hin. Es senkte den Kopf, zwinkerte. »Du traust mir also nicht? Daran tust du recht. Es gibt hier niemanden außer euch selbst, dem ihr vertrauen könnt.« Sein Blick wanderte von Jefri über Amdi hinweg, dann in den Korridor hinab. »Stahl weiß nicht, dass ich euch hierhergebracht habe.«
Das Geständnis kam ihm so schnell, so leicht über die Lippen, Jefri schluckte hart. »Du hast uns hier heruntergebracht, um uns zu t-töten.« Alle von Amdi starrten ihn und Tyrathect an, die Augen schreckgeweitet.
Das Solo ließ den Kopf als Teil eines Lächelns auf und ab wippen. »Ihr haltet mich für einen Verräter? Nach all der Zeit wenigstens ein vernünftiger Verdacht. Ich bin stolz auf euch.« Herr Tyrathect fuhr aalglatt fort: »Ihr seid von Verrätern umgeben, Amdijefri. Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin hier, um euch zu helfen.«
»Ich weiß.« Amdi streckte eine Schnauze aus, um die des Solos zu berühren. »Ihr seid kein Verräter. Ihr seid die einzige Person außer Jefri, die ich berühren kann. Wir haben euch immer gern haben wollen, aber…«
»Ah, aber ihr solltet misstrauisch sein. Sonst werdet ihr alle sterben.« Tyrathect schaute über die Welpen hinweg zu dem finster dreinblickenden Jefri. »Deine Schwester lebt, Jefri. Sie ist jetzt da draußen, und Stahl weiß es seit langem. Er hat deine Eltern umgebracht; er hat fast alles getan, was er Holzschnitzerin zugeschrieben hat.« Amdi fuhr zurück und schüttelte sich in verschrecktem Widerspruch. »Ihr glaubt mir nicht? Das ist komisch. Ich war einmal so ein guter Lügner, ich konnte jemandem ein Kind in den Bauch reden. Aber jetzt, wo nur noch die Wahrheit hilft, kann ich euch nicht überzeugen… Hört zu:«
Plötzlich kam von dem Solo in der Menschensprache die Stimme Stahls, der Ravna davon berichtete, dass Johanna lebte, und den Angriff auf sie entschuldigte, den er gerade befohlen hatte.
Johanna. Jefri stürzte vor, fiel vor dem Solo auf die Knie. Fast ohne zu überlegen packte er das Solo an der Kehle und schüttelte sie. Zähne schnappten nach seinen Händen, als ihn der andere abzuschütteln versuchte. Amdi schoss vor, zog heftig an seinen Ärmeln. Nach einem Moment ließ Jefri los. Zentimeter von seinem Gesicht entfernt starrte ihn das Solo an, den Widerschein der Lampen auf den dunklen Augen. Amdi sagte gerade: »Menschenstimmen sind leicht nachzuahmen…«
Das Fragment erwiderte verächtlich: »Natürlich. Und ich behaupte nicht, dass das eine direkte Wiedergabe war. Was ihr gehört habt, liegt ein paar Minuten zurück. Und jetzt kommt, was Stahl und ich in ebendieser Sekunde planen.« Sein Samnorsk brach unvermittelt ab, und den Korridor erfüllten die kollernden Akkorde der Rudelsprache. Selbst nach einem Jahr konnte Jefri nur verschwommen Sinn aus dem Gespräch heraushören. Es klang wirklich wie zwei Rudel. Einer von beiden verlangte vom anderen, etwas zu tun, Amdijefri — dieser Akkord war klar — heraufzubringen.
Amdiranifani verstummte plötzlich, jedes Glied von den übermittelten Tönen aufs Äußerste gespannt. »Aufhören!«, schrie er dann. Und der Korridor lag still wie ein Grab. »Herr Stahl! O Herr Stahl!« Alle von Amdi drängten sich an Jefri. »Er redet davon, dir weh zu tun, wenn Ravna nicht gehorcht. Er will die Besucher umbringen, wenn sie landen.« In seinen aufgerissenen Augen standen Tränen. »Ich verstehe es nicht.«
Jefri stieß mit einer Hand nach dem Vermummten. »Vielleicht spielt er auch das nur vor.«
»Ich weiß nicht. Ich könnte niemals zwei Rudel so gut nachahmen…« Die winzigen Körper zitterten an Jefri gepresst, und menschliches Weinen ertönte, der unheimlich vertraute Klang eines verlassenen kleinen Kindes… »Was sollen wir tun, Jefri?«
Doch Jefri schwieg, während er sich an die ersten paar Minuten erinnerte, nachdem Stahls Soldaten ihn gerettet — gefangen genommen — hatten, und sie nun endlich verstand. Erinnerungen, die von späterer Freundlichkeit unterdrückt worden waren, krochen aus den Winkeln seines Gedächtnisses hervor. Mutti, Vati, Johanna. Aber Johanna lebt noch, gleich hinter diesen Mauern…
»Jefri?«
»Ich weiß auch nicht? V-vielleicht verstecken?«
Einen Augenblick lang starrten sie einander an. Schließlich sprach das Fragment. »Ihr könnt Besseres tun, als euch zu verstecken. Ihr wisst schon, dass durch diese Mauern Gänge führen. Wenn man die Eingänge kennt — und ich kenne sie —, kann man fast überall hingehen. Man kann sogar nach draußen gelangen.«
Johanna.
Amdi hörte auf zu weinen. Drei von ihm betrachteten Tyrathect von vorn, hinten und der Seite. Der Rest drängte sich noch an Jefri. »Wir trauen dir immer noch nicht, Tyrathect«, sagte Jefri.
»Gut, gut. Ich bin ein Rudel von verschiedenen Teilen. Vielleicht nicht völlig vertrauenswürdig.«
»Zeig uns alle Löcher.« Lass uns entscheiden.
»Dazu reicht die Zeit nicht…«
»Gut, aber fang damit an. Und während du das tust, übermittle weiter, was Herr Stahl gerade sagt.«
Das Solo ließ den Kopf wippen, und wieder erklang der mehrfache Redefluss der Rudelsprache. Das Vermummte kam unter Schmerzen auf die Füße und führte die beiden Kinder einen Nebentunnel hinab, wo die Öllampen fast leergebrannt waren. Das lauteste Geräusch hier unten war das leise Tropfen von Wasser. Der Ort war kein Jahr alt, dennoch — abgesehen von den rauen Kanten des behauenen Steins — wirkte er uralt.
Welpen weinte wieder. Jefri streichelte den Rücken des einen, das an seiner Schulter hing. »Bitte, Amdi, übersetze für mich.«
Nach kurzer Zeit drang Amdis Stimme zögernd an sein Ohr. »Herr Stahl fragt wieder, wo wir sind. Tyrathect sagt, dass wir von einer herabgestürzten Decke im inneren Flügel eingeschlossen sind.« In der Tat hatten sie vor ein paar Minuten gehört, dass sich das Mauerwerk verschob, doch es hatte weit weg geklungen. »Herr Stahl hat gerade die übrigen von Tyrathect losgeschickt, um Herrn Sreck zu holen und uns auszugraben. Herr Stahl klingt so… anders.«
»Vielleicht ist er es nicht wirklich«, flüsterte Jefri zurück.
Langes Schweigen. »Nein. Er ist es. Er wirkt nur so wütend, und er verwendet seltsame Wörter.«
»Große Worte?«
»Nein. Schlimme. Von Schneiden und Töten… Ravna und dich und mich. Er… er mag uns nicht, Jefri.«
Das Solo blieb stehen. Sie hatten die letzte Wandlampe passiert, und es war zu dunkel, als dass man irgendetwas außer schemenhaften Umrissen sehen konnte. Er zeigte auf eine kleine Stelle an der Wand. Amdi langte nach vorn und drückte gegen den Stein. Die ganze Zeit über sprach Herr Tyrathect weiter und berichtete von den Vorgängen draußen.
»In Ordnung«, sagte Amdi, »es geht auf. Und es ist groß genug für dich, Jefri. Ich denke…«
Tyrathects Menschenstimme sagte: »Die Raumleute sind wieder da. Ich sehe ihr kleines Boot… Ich bin gerade noch rechtzeitig weggekommen. Stahl wird allmählich misstrauisch. Noch ein paar Sekunden, und er wird überall suchen lassen.«
Amdi schaute in die dunkle Öffnung. »Ich meine, wir gehen«, sagte er leise und traurig.
»Hm-ja.« Jefri langte hinab, um eine von Amdis Schultern zu berühren. Das Glied führte ihn zu einem in scharfkantigen Stein geschnittenen Loch. Wenn er die Schultern einzog, war Platz genug, um hineinzukriechen. Einer von Amdi ging vor ihm hinein. Die anderen würden folgen. »Ich hoffe, es wird nicht noch enger.«
Tyrathect: »Das dürfte es nicht. Alle diese Gänge sind für Rudel in leichter Rüstung entworfen worden. Wichtig ist eins: Bleibt in Gängen, die nach oben führen. Geht immer weiter, und ihr werdet schließlich nach draußen gelangen. Phams fliegendes Gefährt ist weniger als, äh, fünfhundert Meter von den Mauern entfernt.«
Jefri konnte nicht einmal über die Schulter zurückschauen, um mit dem Vermummten zu sprechen. »Was, wenn uns Herr Stahl innerhalb der Mauern verfolgt?«
Kurzes Schweigen. »Das wird er vermutlich nicht tun, wenn er nicht weiß, wo ihr hineingegangen seid. Es würde zu lange dauern, ehe er euch findet. Aber« — die Stimme wurde mit einem Mal sanfter — »es gibt Öffnungen oben auf den Mauern. Falls feindliche Soldaten versuchen, sich von außen hereinzuschleichen, muss es einen Weg geben, um sie in den Tunneln zu töten. Er könnte Öl in die Tunnel hinabschütten.«
Die Möglichkeit ängstigte Jefri nicht. Im Augenblick klang sie nur bizarr. »Dann müssen wir uns beeilen.«
Jefri krabbelte voran, während die übrigen von Amdi hinter ihm hereinkrochen. Er war schon etliche Meter tief im Stein, als er Amdis Stimme hinten am Eingang hörte, wo sein letztes Glied noch stand: »Wird mit Euch alles in Ordnung gehen, Herr Tyrathect?«
Oder ist das alles auch nur eine Lüge? dachte Jefri.
Die Antwort kam in dem üblichen, zynischen Tonfall: »Ich gedenke auf die Füße zu fallen. Erinnert euch bitte daran, dass ich euch geholfen habe.«
Und dann wurde die Luke geschlossen, und sie krochen in das Dunkel hinein.
Verhandlungen, Scheiße. Für Pham stand es außer Zweifel, dass Stahls Idee von ›wechselseitig sicherem Treffen‹ der Deckmantel für einen Hinterhalt war. Selbst Ravna ließ sich von den neuen Vorschlägen des Rudels nicht täuschen. Wenigstens bedeutete es, dass Stahl jetzt improvisierte — dass er über alle Szenarien und Pläne hinaus war. Leider lieferte er ihnen immer noch keinerlei Ansatzpunkt. Pham hätte für ein paar Stunden ohne Störung bei dem GEGENMITTEL mit Freuden sein Leben gegeben, aber wenn sie auf Stahls Bedingungen eingingen, würden sie tot sein, ehe sie jemals das Innere des Flüchtlingsschiffs zu sehen bekamen.
»Bleib in Bewegung, Blaustiel. Ich will, dass wir Stahl auf die Seele drücken, ohne ein gutes Ziel abzugeben.«
Der Fahrer winkte mit einem Wedel Zustimmung, und das Boot stieg kurz vom Moos auf, schwebte hundert Meter parallel zu den Burgmauern und senkte sich wieder. Sie befanden sich im Niemandsland zwischen den Streitkräften von Holzschnitzerin und Stahl.
Johanna Olsndot fuhr herum, um ihn zu betrachten. Das Boot war jetzt sehr voll, Blaustiel an der Fahrersteuerung im Bug ausgestreckt, Pham und Johanna in die Sitze dahinter gequetscht — und ein Rudel namens Pilger an jeder freien Stelle dazwischen. »Selbst wenn du das Kom-Gerät orten kannst, schieß nicht. Jefri könnte in der Nähe sein.« Seit zwanzig Minuten versprach Stahl, Jefri würde jeden Moment wieder dasein.
Pham musterte ihr schmutzbedecktes Gesicht. »Ja, wir werden nicht schießen, wenn wir nicht genau sehen, was wir treffen.« Das Mädchen nickte kurz. Sie konnte nicht viel älter als vierzehn sein, aber sie war ein guter Soldat. Die Hälfte der Leute, die er in der Dschöng Ho gekannt hatte, wäre nach alledem in schlappe Hysterie verfallen. Und von den Übrigen hätten nur wenige einen besseren Lagebericht als Johanna und ihr Freund geben können.
Er betrachtete das Rudel. Es würde eine Weile dauern, sich an diese Kerle zu gewöhnen. Zuerst hatte er geglaubt, dass zweien von den Hunden zusätzliche Köpfe sprössen — dann hatte er bemerkt, dass die kleinen nur Welpen waren, die in Jackentaschen getragen wurden. Der ›Pilger‹ war aufs ganze Boot verstreut; welchen Teil von ihm sollte er ansprechen? Er entschied sich für den Kopf, der in seine Richtung schaute. »Irgendwelche Theorien, wie wir mit Stahl verfahren sollen?«
Das Samnorsk des Rudels war besser als Phams: »Stahl und Flenser sind so gerissen wie nur irgendwas, das ich in Johannas Datio gesehen habe. Und Flenser ist eiskalt.«
»Flenser? Hab nicht gewusst, dass es jemanden mit diesem Namen gibt… Da war ein ›Herr Schneider‹ , mit dem wir gesprochen haben. Eine Art Gehilfe von Stahl.«
»Hmm. Er ist raffiniert genug, den Lakaien zu mimen… Ich wünschte, wir könnten zurückfliegen und mit Holzschnitzerin darüber plaudern.« Die Aufforderung war kunstvoll in seinem Tonfall verpackt. Einen Augenblick lang fragte sich Pham, wie viel Prozent von dem Rudelvolk derart flexibel waren. Sie könnten eine Rasse verteufelt guter Kauffahrer abgeben, wenn sie jemals in den Raum vorstießen.
»Dazu haben wir leider keine Zeit. Wirklich, wenn wir nicht sofort hinein können, haben wir alles verloren. Ich hoffe nur, dass Stahl das nicht ahnt.«
Die Köpfe ordneten sich auf subtile Weise neu. Das größte Glied, das mit dem aus der Jacke herausragenden abgebrochenen Pfeilschaft, rückte näher an das Mädchen heran. »Nun, wenn Stahl das Sagen hat, dann gibt es eine Chance. Er ist sehr schlau, aber wir glauben, er läuft Amok, wenn es hart auf hart geht. Dass ihr Johanna gefunden habt, lässt ihn wahrscheinlich den eigenen Schwänzen nachjagen. Haltet ihn unausgeglichen, und ihr könnt mit ein paar groben Fehlern rechnen.«
Johanna sagte abrupt: »Er könnte Jefri umbringen.«
Oder das Sternenschiff in die Luft sprengen. »Ravna, irgendwelche Fortschritte mit Stahl?«
Über das Kom kam ihre Stimme zurück: »Nein. Die Drohungen sind jetzt ein bisschen durchsichtiger, und sein Samnorsk wird schwerer zu verstehen. Er versucht, Geschütze vom Norden her heranzuschaffen; ich glaube, er weiß nicht, wie viel ich sehen kann… Er hat Jefri immer noch nicht ans Radio zurückgeholt.«
Johanna erbleichte, doch sie sagte nichts. Ihre Hände stahlen sich herauf, um eine von Pilgers Pfoten zu drücken.
Blaustiel war während der ganzen Rettungsaktion sehr still gewesen, zuerst, weil er mit der Steuerung alle Wedel voll zu tun hatte, dann, weil das Mädchen und das Rudel so viel zu sagen hatten. Pham hatte bemerkt, dass ein Teil von Pilger höflich in der Nähe des Fahrers herumgeschnüffelt hatte. Blaustiel war anscheinend nicht verärgert über diese Beachtung; seine Rasse hatte eine Menge Erfahrung mit anderen.
Nun aber machte der Fahrer »brap«, um Aufmerksamkeit zu erhalten. »Herr Pham, vor der Burg ist etwas im Gange.«
Pilger war fast im selben Moment bei der Sache; ein Kopf half dem anderen, durch ein Fernrohr zu schauen. »Ja. Es ist die Haupt-Ausfallpforte, die aufgeht. Aber warum sollte Stahl jetzt Rudel hinausschicken? Holzschnitzerin wird Kleinholz daraus machen.« Der Feind war tatsächlich Feldinfanterie. Die Rudel kamen in einer Reihe aus dem breiten Loch herausgerannt, ganz wie Soldaten in Phams Erinnerung. Sobald sie aber den Eingang passiert hatten, teilten sie sich in Gruppen zu vier bis sechs Hunden und schwärmten rings um die Burg aus.
Pham lehnte sich vor und versuchte, so weit wie möglich an den Mauern entlang zu schauen. »Vielleicht nicht. Die Burschen rücken nicht vor. Sie bleiben in Schussweite der Schützen auf den Mauern.«
»Tja. Aber wir haben ja noch Geschütze.« Pilgers perfekte Menschenimitation brach für eine Sekunde ab, und ein Akkord der Klauensprache erfüllte das Cockpit. »Etwas ist wirklich seltsam. Es ist, als ob sie versuchten, jemanden am Herauskommen zu hindern.«
»Gibt es weitere Eingänge?«
»Wahrscheinlich. Und eine Menge von kleinen Tunneln, gerade mal ein Glied weit.«
»Ravna?«
»Stahl redet jetzt überhaupt nicht. Er hat etwas von Verrätern gesagt, die die Burg unterwandert haben. Jetzt empfange ich nur noch Klauenkollern.« Auf den Burgzinnen konnte Pham Soldaten erkennen, die sich über denen am Boden von einer Schießscharte zur anderen bewegten. Etwas hatte das Rattennest aufgestört.
Johanna Olsndot hatte eine Vision von beängstigender Dichte; ihre freie Hand war zur Faust geballt, die Lippen zuckten schwach. »Die ganze Zeit habe ich ihn für tot gehalten. Wenn sie ihn jetzt umbringen, werde ich…« Plötzlich wurde ihre Stimme lauter: »Was tun die da?« Schmiedeeiserne Kessel waren auf die Mauerkronen geschleppt worden.
Pham konnte es sich denken. Bei Belagerungskämpfen auf Canberra waren ähnliche Dinge vorgekommen. Er blickte das Mädchen an und hielt den Mund. Wir können nichts machen.
Das Pilger-Rudel war nicht so freundlich — oder nicht so herablassend. »Es ist Öl, Johanna. Sie wollen jemanden in den Mauern töten. Aber wenn er herauskommen kann… Blaustiel, ich habe etwas über Lautsprecher gelesen. Kann ich einen benutzen? Wenn Jefri in den Mauern ist, kann Holzschnitzerin Stahls Soldaten ohne Gefahr vom Feld und von den Zinnen wegputzen.«
Pham wollte gerade Einwände machen, aber der Fahrer hatte schon einen Kanal geöffnet. Pilgers Klauenstimme ertönte über den Berghang hinweg. Entlang der Burgmauern drehten sich Köpfe. Für sie musste die Stimme wie die eines Gottes klingen. Die Akkorde und Triller hielten noch einen Moment an, dann verstummten sie.
Ravnas Stimme meldete sich einen Augenblick später: »Was immer ihr jetzt getan habt, es hat Stahl zum Äußersten getrieben. Ich kann ihn kaum noch verstehen; er scheint zu schildern, wie er Jefri foltern will, wenn wir die Holzschnitzer nicht zurückziehen.«
Pham grunzte: »Also gut. Bring uns hoch, Blaustiel.« Es war ein gutes Gefühl, sich von den feinsinnigen Manövern zu verabschieden.
Blaustiel brachte das Boot in die Luft. Sie flogen vorwärts, nicht viel schneller, als ein Mensch laufen kann. Hinter ihnen kamen mehr von Holzschnitzerins Truppen aus der Deckung des Hanges. Diese Burschen waren nach Phams Beschuss weit zurückgezogen worden; vielleicht würde alles entschieden sein, ehe sie die Burg erreichten… Doch noch immer reichte Holzschnitzerins Kriegsmacht weit und war tödlich: Rauchwolken und Feuerblitze erschienen entlang der Zinnen, gefolgt von scharfen Knallen. Der Versuch, Jefri Olsndot umzubringen, würde Stahl sehr teuer zu stehen kommen.
»Können wir den Strahler benutzen, um Stahls Soldaten von der Mauer fernzuhalten?«, fragte Johanna.
Pham wollte nicken, dann bemerkte er, was bei der Burg geschah. »Da, das Öl.« Dunkle Tümpel breiteten sich zwischen den feindlichen Rudeln und den von ihnen bewachten Mauern aus. Solange sie nicht wussten, wo das Kind hervorkommen würde, wäre es besser, keine Brände zu entfachen.
Pilger: »Och.« Dann rief er wieder etwas durch den Lautsprecher. Holzschnitzerins Artillerie verstummte.
»Gut«, sagte Pham, »jetzt alle Augen auf die Mauer. Flieg außen entlang, Blaustiel. Wenn wir das Kind eher als Stahls Kerle sehen, haben wir vielleicht eine Chance.«
Ravna: »Sie sind gleichmäßig über alle Seiten außer Norden verteilt. Ich glaube nicht, dass Stahl eine Ahnung hat, wo sich der Junge befindet.«
Wenn man den Himmel herausfordert, ist der Einsatz hoch. Und ich hätte gewinnen können. Wenn er mich nicht verraten hätte. Ich hätte gewinnen können. Doch nun waren die Masken gefallen, und nichts zählte außer der blanken physischen Gewalt des Feindes. Stahl kämpfte die besinnungslose Hysterie der letzten Minuten in sich nieder. Wenn ich nicht den Himmel haben kann, kann ich sie immer noch mit zur Hölle nehmen. Amdijefri töten, das Schiff zerstören, nach dem es die Besucher so sehr verlangte — vor allem seinen verräterischen Lehrer vernichten.
»Mein Fürst?« Es war Sreck.
Stahl wandte ihm einen Kopf zu. Die Zeit für Hysterie war vorbei. »Wie kommt das Fluten voran?«, fragte er sanft. Er würde nicht wieder nach Tyrathect fragen.
»Fast fertig. Das Öl bildet Tümpel jenseits der Burgmauern.« Die beiden Rudel zuckten zusammen, als eine von Holzschnitzerins Bomben knapp unter dem Wehrgang explodierte. Ihre Truppen hatten schon den halben Weg übers Feld zurückgelegt — und Stahls Armbrustschützen waren mit dem Fluten der Tunnel und der Beobachtung der Ausgänge beschäftigt. »Vielleicht haben wir die Verräter ausgespült, mein Fürst. Kurz bevor Holzschnitzerin das Feuer wieder aufgenommen hat, haben wir etwas an der Südostmauer gehört. Aber ich fürchte, dass die Raumleute alles sehen werden, was wir dort tun.« Seine Köpfe wippten krampfhaft auf und ab.
Wie seltsam, Sreck zerbrechen zu sehen, ging es Stahl beiläufig durch den Sinn. Sreck besaß die Loyalität eines Uhrwerks, doch nun versagte seine wohlgeordnete Welt, und ihm blieb nichts, was ihn gehalten hätte. Nichts blieb als der Wahnsinn, aus dem er geboren worden war.
Wenn Sreck nahe am Zerbrechen war, dann ging die Belagerung von Schiffsberg ihrem Ende entgegen. Nur noch eine Weile, mehr verlange ich jetzt nicht. Stahl zwang seinen Gliedern einen zuversichtlichen Ausdruck auf. »Ich verstehe. Du hast richtig gehandelt, Sreck. Wir können immer noch siegen. Ich weiß, wie diese Pfahlwesen denken. Wenn du das Kind töten kannst, vor allem vor ihren Augen, wird das ihren Willen brechen — genauso, wie Welpen mit den richtigen Schrecken gebrochen werden können.«
»Jawohl.« In Srecks Augen stand eine stumpfe Skepsis, doch das würde ihn bei der Stange halten, ein plausibler Vorwand, das Rätselraten fortzusetzen.
»Zündet das Öl vor den Mauern an. Schickt die Soldaten vor die Stellen, wo du glaubst, dass Amdijefri dort herauskommen wird. Die Besucher müssen das sehen, wenn es die rechte Wirkung haben soll. Und…« und sprenge das Flüchtlingsschiff! Fast wären ihm die Worte herausgerutscht, doch er fing sich rechtzeitig. Der Sprengstoff in den Kiefern und der Schiffskuppel würde alles innerhalb der Außenmauern einstürzen lassen und die meisten Rudel darin töten. Wenn er Sreck damit beauftragte, würde Stahls wirkliches Ziel allzu deutlich werden. »… und beeilt euch, ehe Holzschnitzerins Soldaten den Ring schließen können. Das ist die letzte Hoffnung der Bewegung, Sreck.«
Das Rudel ging mit gesenkten Köpfen rückwärts die Treppe hinab. Stahl behielt eine ausdrucksvolle Haltung bei und blickte kühn über das Schlachtfeld, bis Sreck außer Sicht war. Dann langte er über die Zinnen und warf das Radio auf den steinernen Umgang. Es zerbrach nicht, und nun drang Ravnas Pfahlwesen-Stimme nörgelnd daraus hervor. Stahl sprang die Stufen hinab. »Nichts kriegst du«, schrie er in der Klauensprache zurück. »Alles, was du haben willst, wird sterben!«
Und dann war er unten und rannte über den Burghof. Er huschte außer Sicht, in den Korridor hinein, der rings um die Kiefer des Willkommens lief. Es wäre leicht gewesen, sie zu sprengen, doch höchstwahrscheinlich wären die Hauptkuppel und das Schiff darin heil geblieben. Nein, er musste zum Herzen gehen. Das Schiff und all die schlafenden Pfahlwesen töten. Er betrat einen geheimen Raum, nahm zwei Armbrüste — und den zusätzlichen Radioumhang, den er vorbereitet hatte. In dem Umhang befand sich eine kleine Bombe. Er hatte die Idee an dem zweiten Satz Radios ausprobiert, der Träger war auf der Stelle gestorben.
Eine weitere Treppenflucht hinab in einen Versorgungsgang. Der Schlachtlärm blieb hinter ihm zurück. Das Klirren seiner eigenen Klauen war das lauteste Geräusch. Rings um ihn stapelten sich Pulverfässer, Nahrungsvorräte, frisches Bauholz. Die Zündschnüre und Initialladungen lagen nur fünfzig Ellen weiter. Und Stahl verlangsamte den Schritt, krümmte die Krallen, sodass das Metall an ihnen keinen Lärm machte. Er lauschte. Blickte nach allen Seiten. Irgendwie wusste er, dass der andere hier sein würde. Das Flenser-Fragment. Flenser hatte von Anbeginn seines Daseins wie ein Fluch über ihm gehangen, selbst dann noch, als Flenser größtenteils gestorben war. Doch erst seit diesem klaren Verrat war Stahl imstande, seinem Hass freien Lauf zu lassen. Höchstwahrscheinlich hoffte der Meister, zusammen mit den Kindern zu entkommen, doch es konnte sein, dass Flenser alles zu gewinnen plante. Es konnte sein, dass er zurückgekehrt war. Stahl wusste, dass sein eigener Tod nahe bevorstand. Und trotzdem konnte er immer noch triumphieren. Wenn er mit eigenen Zähnen und Klauen den Meister töten könnte… Bitte, bitte sei hier, lieber Meister. Sei hier und glaube, du könntest mich noch einmal überlisten.
Der Wunsch wurde erfüllt. Er hörte schwache Denkgeräusche. Nahe. Köpfe erhoben sich hinter den Fässern über ihm. Zwei von dem Fragment zeigten sich weiter vorn im Korridor.
»Schüler.«
»Meister.« Stahl lächelte. Alle fünf des anderen waren hier, das Fragment hatte sich vollständig wieder eingeschmuggelt. Doch die Radioumhänge waren weg. Die Glieder waren nackt, das Fell mit eiternden Geschwüren bedeckt. Die Radiobombe würde nutzlos sein. Vielleicht spielte das keine Rolle; Stahl hatte Leichen gesehen, die gesünder als dieser hier aussahen. Außer Sicht hob er seine Armbrüste. »Ich bin gekommen, um dich zu töten.«
Die Totenköpfe schüttelten sich. »Du bist gekommen, um es zu versuchen.«
Mit bloßen Kiefern und Krallen hätte Stahl keine Mühe gehabt, den anderen zu töten. Aber das Fragment hatte drei von sich weiter oben postiert, bei Vorratsfässern, die seltsam wacklig aussahen. Ein direkter Frontalangriff konnte verhängnisvoll sein. Wenn er gute Armbrusttreffer anbringen konnte… Stahl ging langsam weiter, bis kurz vor die Stelle, wo die Fässer hinfallen würden. »Glaubst du wirklich, dass du am Leben bleiben kannst, Fragment? Ich bin nicht dein einziger Feind.« Er wies mit einer Nase zurück in den Korridor. »Da draußen sind Tausende, die es nach deinem Tode dürstet.«
Der andere ließ die Köpfe in einem gespenstischen Lächeln wippen. Neues Blut quoll aus den offenen Wunden. »Lieber Stahl, du scheinst es nie zu begreifen. Du selbst hast es mir ermöglicht, am Leben zu bleiben. Siehst du das nicht? Ich habe die Kinder gerettet. Sogar jetzt hindere ich dich daran, das Sternenschiff zu beschädigen. Das wird mir am Ende eine Kapitulation zu gewissen Bedingungen einbringen. Ein paar Jahre lang werde ich schwach sein, doch ich werde überleben.«
Der alte Flenser schimmerte durch den Schmerz der Wunden hervor. Der alte Opportunismus.
»Aber du bist ein Fragment. Drei Fünftel von dir sind…«
»Die kleine Lehrerin?« Flenser senkte die Köpfe, blinzelte schüchtern. »Sie war stärker, als ich erwartet hatte. Eine Zeit lang beherrschte sie dieses Rudel, doch Stück für Stück habe ich mir den Rückweg erkämpft. Nun bin ich, sogar ohne die anderen, ganz.«
Flenser wieder ganz. Stahl wich zurück, fast auf der Flucht. Doch etwas war da sonderbar. Ja, der Flenser war in Frieden mit sich selbst. Doch nun, da Stahl das Rudel beisammen sah, erblickte er in seiner Körpersprache etwas, das… Dann kam die Erkenntnis, und mit ihr ein Blitz heftigen Stolzes. Einmal in meinem Leben habe ich etwas besser als der Meister verstanden. »Ganz, sagst du? Überlege. Wir beide wissen, wie Seelen im Innern miteinander kämpfen, die kleinen Vernunftargumente, die großen Ungewissheiten. Du glaubst, die andere in dir getötet zu haben, aber woher kommt deine gegenwärtige Zuversicht? Was du gerade tust, ist genau das, was Tyrathect jetzt tun würde. Das ganze Denken gehört jetzt dir, doch zugrunde liegt ihm ihre Seele. Und was du auch glauben magst, es ist die kleine Lehrerin, die gesiegt hat!«
Das Fragment zögerte in plötzlichem Begreifen. Seine Aufmerksamkeit war nur für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt, doch Stahl war bereit: er sprang auf, schoss seine Pfeile ab und stürzte vorwärts, dem anderen an die Kehlen.
Zu jedem früheren Zeitpunkt hätte das Herumklettern in den Mauern Spaß gemacht. Obwohl es stockdunkel war, ging Amdi vor und hinter ihm, und seine Nasen gaben ihm ein gutes Gespür für den Weg. Zu jedem früheren Zeitpunkt hätte es die Spannung der Entdeckungen gegeben und das Kichern über Amdis langgezogenen Geisteszustand.
Nun aber war Amdis Verwirrung einfach beängstigend. Immer wieder stieß er gegen Jefris Fersen. »Ich gehe so schnell, wie ich kann.« Der Hosenstoff an Jefris Knien war schon von dem rauen Stein aufgerissen. Er kroch schneller, wobei ihm die stechenden Stöße von Stein gegen die Knie kaum zu Bewusstsein kamen. Er prallte auf den Welpen vor sich. Der Welpe war stehen geblieben und schien sich seitlich zu drehen. »Hier ist eine Gabelung. Ich sage, wir… Was sollte ich sagen, Jefri?«
Jefri rollte zurück und stieß mit dem Kopf an. Fast ein ganzes Jahr lang hatten ihn Amdis Zuversicht, seine dreiste Klugheit aufrechterhalten. Jetzt… Plötzlich empfand er die Tonnen von Felsgestein, die von allen Seiten gegen ihn drängten. Wenn der Tunnel nur ein paar Zentimeter schmaler wurde, würden sie für immer hier feststecken.
»Jefri?«
»Ich…« Nachdenken! »Welche Seite scheint aufwärts zu führen?«
»Eine Sekunde.« Das vordere Glied lief ein kleines Stück in einen der Zweige hinein.
»Geh nicht zu weit!«, rief Jefri.
»Keine Angst. Ich… er wird wissen, wie er zurückkommt.« Dann hörte er das Tappen des Rückkehrenden, und das vordere Glied berührte mit der Nase seine Wange. »Der rechte führt aufwärts.«
Sie waren noch keine fünfzehn Meter weitergegangen, als Amdi etwas zu hören glaubte. »Verfolgt uns jemand?«, fragte Jefri.
»Nein. Ich meine, ich weiß nicht recht. Warte. Höre… Hörst du? Klitsch, ditsch.« Öl!
Sie hielten nicht mehr an. Jefri bewegte sich schneller denn je den Tunnel hinauf. Sein Kopf stieß gegen die Decke, er fiel auf die Ellbogen, rappelte sich ohne zu denken auf und eilte weiter. Ein dünner Blutfaden tropfte ihm die Wange hinab.
Selbst er konnte jetzt das Öl hören.
Die Seiten des Tunnels schlossen sich um seine Schultern. Vor ihm sagte Amdi: »Eine Sackgasse — oder wir sind an einem Ausgang!« Kratzgeräusche. »Ich kann ihn nicht bewegen.« Der Welpe wandte sich um und schlängelte sich zwischen Jefris Beinen vorbei. »Schiebe am oberen Ende, Jefri. Wenn der Ausgang so ist wie der, den ich in der Kuppel gefunden habe, geht er oben auf.«
Der verdammte Tunnel wurde direkt vor der Tür eng. Jefri stellte die Schultern schräg und presste sich vorwärts. Er drückte gegen das obere Ende der Tür. Es bewegte sich vielleicht einen Zentimeter weit. Er kroch noch ein Stückchen weiter, so eng zwischen die Wände gepresst, dass er nicht einmal tief Luft holen konnte. Jetzt drückte er, so sehr er nur konnte. Der Stein drehte sich ganz weg, und Licht strömte ihm ins Gesicht. Es war kein volles Tageslicht, vor der Außenwelt waren sie noch hinter steinernen Winkeln verborgen — doch es war der glücklichste Anblick, den Jefri jemals gesehen hatte. Noch einen halben Meter, und er würde draußen sein — nur dass er jetzt feststak.
Er wand sich ein kleines Stück voran, und alles schien nur noch schlimmer zu werden. Hinter ihm drängte sich Amdi. »Jefri! Meine Hinterpfoten stecken im Öl. Es hat den ganzen Tunnel hinter uns ausgefüllt.«
Panik. Eine Sekunde lang konnte Jefri keinen Gedanken fassen. So nahe, so nahe. Er konnte jetzt Farben sehen, seine blutverschmierten Hände. »Zurück! Ich werde meine Jacke ausziehen und es wieder versuchen.«
Zurückzukriechen war an sich schon fast unmöglich, so gründlich hatte er sich eingeklemmt. Schließlich schaffte er es. Er drehte sich auf die Seite, zerrte die Jacke herunter.
»Jefri! Zwei von mir unter… Öl. Kann nicht atmen.« Die Welpen drängten sich zu ihm herauf, das Fell schlüpfrig vom Öl. Schlüpfrig!
»Moment!« Jefri fuhr mit der Hand durch das Fell, schmierte sich die Schultern mit Öl ein. Er streckte die Arme am Kopf vorbei und benutzte die Fersen, um sie wieder in die Enge zu schieben. Hinter ihm machte der Rest von Amdi pfeifende Geräusche. Er saß fest. Schieben. Schieben. Ein Zentimeter, noch einer. Und dann war er bis zu den Achselhöhlen heraus, und es ging leicht.
Er ließ sich zu Boden fallen und langte zurück, um den nächsten Teil von Amdi zu erfassen. Der Welpe entwand sich seinen Händen. Er blubberte etwas, das weder nach Klauen- noch nach Menschensprache klang. Jefri sah, wie die dunklen Schatten von mehreren Gliedern an etwas außer Sicht zerrten. Eine Sekunde später rollte ein kalter, nasser Fellklumpen aus der Dunkelheit in seine Arme. Noch eine Sekunde, und der nächste kam. Jefri legte die beiden auf den Boden und wischte eine klebrige Masse von ihren Schnauzen. Eins rollte auf die Füße und schüttelte sich. Das andere begann zu würgen und zu husten.
Inzwischen kamen die übrigen von Amdi aus dem Loch. Alle acht waren mit Öl bedeckt. Sie wankten benommen zu einem Haufen zusammen und wischten sich gegenseitig an den Trommelfellen. Ihr Surren und Krächzen ergab keinen Sinn.
Jefri wandte sich von seinem Freund ab und ging auf das Licht zu. Sie waren durch eine Wendung in der Mauer verdeckt — zum Glück. Um die Ecke herum hörte er die Kommandorufe von Stahls Soldaten. Er kroch bis zur Kante und spähte hervor. Einen Augenblick lang glaubte er, sie beide seien wieder im Burghof; es waren so viele Soldaten da. Doch dann sah er die freie Bergflanke und den Rauch, der aus dem Tal aufstieg.
Was nun? Er warf einen Blick zurück auf Amdi, der noch immer fieberhaft seine Trommelfelle säuberte. Die Akkorde und Summtöne klangen jetzt vernünftiger, und alle von Amdi bewegten sich. Er wandte sich wieder dem Hang zu. Einen Moment lang war ihm fast danach, zu den Soldaten hinauszulaufen. Sie waren so lange seine Beschützer gewesen.
Eins von Amdi stieß gegen sein Bein und schaute selbst. »He. Da ist ja ein richtiger Ölsee zwischen uns und Herrn Stahls Soldaten. Ich…«
Das Donnern war laut, aber nicht wie bei einer Schießpulver-Explosion. Es dauerte fast eine Sekunde, dann wurde es zu einem Brüllen im Hintergrund. Zwei weitere von Amdi streckten Nasen um die Ecke herum. Der See war zu einem tosenden Flammenmeer geworden.
Blaustiel hatte das Boot in zweihundert Meter Entfernung von der Burgmauer gebracht, gegenüber der Stelle, wo sich die Rudel gesammelt hatten. Nun schwebte der Lander gerade in Mannshöhe über dem Moos. »Schon dass wir hier sind, treibt die Rudel weg«, sagte Pilger.
Pham warf einen Blick über die Schulter. Holzschnitzerins Truppen hatten wieder das Feld gewonnen und rannten auf die Burgmauern zu. Noch sechzig Sekunden, höchstens, und sie würden auf Stahls Rudel treffen.
Aus Blaustiels Voder kam ein lautes Brap, und Pham blickte nach vorn. »Bei der Flotte«, sagte er leise. Rudel auf den Wehrgängen hatten mit einer Art Flammenwerfer in die Öltümpel unter den Burgmauern gefeuert. Blaustiel flog ein wenig näher heran. Lange Öltümpel erstreckten sich parallel zu den Mauern. Die feindlichen Rudel auf der Außenseite waren jetzt fast völlig von ihrer Burg abgeschnitten. Ausgenommen eine dreißig Meter breite Lücke, stand der Abschnitt, den sie bewacht hatten, in hellen Flammen.
Das Boot federte ein wenig höher, in dem vom Feuer erzeugten Luftwirbel schwankend und weggleitend. An vielen Stellen stieß das Öl gegen den schrägen Mauerfuß. Diese Mauern waren komplizierter als die Burgen von Canberra — an vielen Stellen hatte es den Anschein, als seien kleine Labyrinthe oder Höhlen in den Mauerfuß eingebaut. Sieht bei einem Verteidigungsbau ziemlich blöd aus.
»Jefri!«, schrie Johanna und zeigte auf die Mitte des nicht in Brand gesteckten Abschnitts. Pham erhaschte einen Blick auf etwas, das sich hinter das Mauerwerk zurückzog.
»Ich habe ihn auch gesehen.« Blaustiel kippte das Boot und glitt seitlich auf die Wand zu. Johannas Hand schloss sich um Phams Arm, drückte und rüttelte. Sie konnte zwischen den Rufen des Pilgers kaum ihre eigene Stimme hören. »Bitte, bitte, bitte«, sagte sie immerzu.
Einen Moment lang sah es so aus, als ob sie es schaffen würden: Stahls Truppen waren ein gutes Stück hinter ihnen, und obwohl unter ihnen Teiche von Öl lagen, waren diese noch nicht in Brand. Sogar die Luft schien ruhiger als vorher zu sein. Und bei alledem brachte es Blaustiel fertig, die Kontrolle zu verlieren. Er verpasste es, eine leichte Neigung auszugleichen, und das Boot glitt seitwärts in den Boden. Es war ein langsamer Aufprall, doch Pham hörte, wie eine der Landestützen brach. Blaustiel arbeitete an der Steuerung, und die andere Seite des Gefährts setzte auf. Der Strahler steckte mit der Mündung in der Erde fest.
Phams Blick heftete sich auf den Skrodfahrer. Er hatte gewusst, dass es dazu kommen würde.
Ravna: »Was ist passiert? Könnt ihr aufsteigen?«
Blaustiel machte sich noch einen Moment an der Steuerung zu schaffen, machte dann die Geste, die bei den Fahrern einem Achselzucken entspricht. »Ja. Aber es dauert zu lange…« Er machte sich los, indem er die Verankerung seines Skrods am Boot löste. Die Luke vor ihm glitt auf, und der Lärm von Schlacht und Feuer drang laut herein.
»Was, zum Teufel, gedenkst du zu tun, Blaustiel?!«
Die Wedel des Fahrers signalisierten Pham Gehorsam. »Den Jungen retten. Das alles wird jeden Moment in Flammen stehen.«
»Und dieses Boot könnte geröstet werden, wenn wir es hier lassen. Du wirst nirgends hingehen, Blaustiel.« Er lehnte sich vor, weit genug, um den anderen bei den unteren Wedeln zu packen.
Johanna blickte in verständnisloser Panik wild von einem zum anderen. »Nein! Bitte…« Und Ravna schrie ebenfalls auf ihn ein. Pham spannte sich, alle Aufmerksamkeit auf den Fahrer konzentriert.
Blaustiel ruckte in dem engen Raum auf ihn zu und brachte seine Wedel nahe an Phams Gesicht. Die Voderstimme glitt in den nichtlinearen Bereich: »Und was werden Sie tun, wenn ich nicht gehorche? Ich gehe, Herr Pham. Ich beweise, dass ich nicht die Marionette einer MACHT bin. Können Sie das von sich auch beweisen?«
Er verstummte, und einen Augenblick lang starrten sich Fahrer und Mensch aus nächster Nähe an. Doch Pham griff nicht nach ihm.
Brap. Blaustiel zog seine Wedel weg. Er rollte zurück auf die Schwelle der Luke. Die dritte Achse des Skrods erreichte den Boden, und er fuhr in kontrolliertem Taumeln hinab. Noch immer hatte sich Pham nicht bewegt. Ich bin nicht das Programm einer MACHT.
»Pham?« Das Mädchen schaute ihn an und zog an seinem Ärmel. Nuwen schüttelte den Alp ab und sah wieder. Das Pilger-Rudel war schon aus dem Boot heraus. Die vier Erwachsenen hielten kurze Schwerter in den Mäulern, Stahlklauen glänzten an ihren Vorderpfoten.
»In Ordnung.« Er klappte ein Stück Wandverkleidung auf und holte die Pistole hervor, die er dort versteckt hatte. Nachdem Blaustiel nun einmal das verdammte Boot zum Absturz gebracht hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Beste draus zu machen.
Diese Erkenntnis brachte einen kühlen Hauch von Freiheit. Er zog sich die Sicherheitsgurte vom Körper und kletterte hinab. Pilger stand rings um ihn. Die beiden mit Welpen brachten eine Art Schilde in Stellung. Selbst mit vollen Mäulern war die Stimme des Kerls so deutlich wie eh und je: »Vielleicht können wir einen Weg näher heran finden…«, zwischen den Flammen. Von den Wehrgängen kamen keine Pfeile mehr geflogen. Die Luft über dem Feuer war einfach zu heiß für die Schützen.
Pham und Johanna folgten Pilger um Lachen von schwarzer klebriger Flüssigkeit herum. »Bleibt so weit wie möglich von dem Öl weg.«
Die Rudel von Herrn Stahl kamen um die Flammen herumgelaufen. Pham konnte nicht sagen, ob sie den Lander erbeuten wollten oder einfach vor den Verbündeten flohen, die Jagd auf sie machten. Und vielleicht war es auch egal. Er ließ sich auf ein Knie fallen und strich mit seiner Pistole über die herankommenden Rudel. Es war nicht mit dem Strahler zu vergleichen, schon gar nicht auf diese Entfernung, aber auch nicht zu unterschätzen: die vorderen Hunde stürzten. Andere sprangen über sie hinweg. Sie erreichten den entfernteren Rand des Öls. Nur wenige wagten sich in die Masse hinein — sie wussten, was daraus werden konnte. Andere verschwanden aus Phams Gesichtsfeld hinter das Landeboot.
Gab es einen Zugang übers Trockene? Pham lief am Rande des Öls entlang. Es musste eine Lücke in dem ›Graben‹ geben, sonst hätte das Feuer gewiss übergegriffen. Vor ihm ragten die Flammen zehn Meter in die Luft empor, die Hitze schmerzte auf der Haut. Hoch oben über dem Feuerschein wehte rußiger Rauch zurück über das Feld und machte aus dem Sonnenlicht ein rötliches Halbdunkel. »Ich sehe gar nichts«, drang Ravnas Stimme verzweifelt an sein Ohr.
»Es gibt noch eine Chance, Rav.« Wenn er sie lange genug zurückhalten konnte, bis Holzschnitzerins Truppen eintrafen…
Stahls Rudel hatten einen sicheren Weg nach innen gefunden und kamen näher. Etwas schwirrte an ihm vorbei — ein Pfeil. Er ließ sich zu Boden fallen und bestrich die feindlichen Rudel mit voller Ladung. Wenn sie gewusst hätten, wie schnell er die Waffe leergeschossen haben würde, wären sie vielleicht weiter angestürmt, doch nach ein paar Sekunden Gemetzel stockte der Angriff. Die feindliche Front zerbrach, und die Hundeviecher rannten weg, um es mit Holzschnitzerins Rudeln aufzunehmen.
Pham wandte sich um und schaute zurück zur Burg. Johanna und Pilger standen zehn Meter näher an den Mauern. Sie stand da und zerrte an dem Rudel, das sie zurückhielt. Pham folgte ihrem Blick… Da war der Skrodfahrer. Blaustiel hatte die Rudel, die um den Rand des Feuers herumrannten, nicht beachtet. Er rollte stetig einwärts und hinterließ ölige Spuren. Der Fahrer hatte alle seine Extremitäten eingezogen und sein Frachttuch dicht an den Mittelstiel herangezogen. Er fuhr blind durch die überhitzte Luft, immer tiefer in die enger werdende Lücke zwischen den Flammen.
Er war keine fünfzehn Meter mehr von der Mauer entfernt. Unvermittelt schossen zwei Wedel aus seinem Rumpf hervor in die Hitze. Dort. Durch das Hitzeflirren hindurch sah Pham das Kind, wie es unsicher aus der Deckung der Steine hervorkam. Kleine Gestalten saßen auf den Schultern des Jungen und gingen neben ihm. Pham rannte den Hang hinan. Über diesen Boden konnte er sich schneller als jeder Fahrer bewegen. Vielleicht reichte die Zeit noch.
Eine einzige Flammenkugel flog im Bogen von der Burg herab in den Tümpel zwischen ihm und dem Fahrer an der Mauer. Der schmale sichere Durchgang war verschwunden, und die Flammen breiteten sich lückenlos vor ihm aus.
»Es gibt noch eine Menge freien Platz«, sagte Amdi. Er streckte sich ein paar Meter von ihrem Versteck aus, um um die Ecken herumzuspähen. »Der Flieger ist unten! Ein… seltsames Ding… kommt auf uns zu. Blaustiel oder Grünmuschel?«
Jetzt war auch eine Menge von Stahls Rudeln da draußen, aber nicht nahe — wahrscheinlich wegen des Fliegers. Der sah fremdartig aus, ohne die Symmetrie von Straumer-Flugzeugen. Er wirkte ganz schief, fast, als ob er abgestürzt wäre. Ein großgewachsener Mensch rannte über ihr Blickfeld und schoss auf Stahls Truppen. Jefri schaute ein Stück weiter vor, seine Hand fasste beinahe unbewusst den nächsten Welpen fester. Auf sie zu kam ein Fahrzeug mit Rädern, wie etwas aus einem historischen Film über die Nyjora. Die Seiten waren mit gezackten Streifen bemalt. Ein dicker Stiel wuchs aus der Mitte hervor.
Die beiden Kinder traten ein Stück aus ihrer Deckung hervor. Der Raumler sah sie! Er schwenkte herum, Öl und Moos spritzten unter seinen Rädern hervor. Zwei schwache Dinger langten aus seinem bläulichen Rumpf hervor. Seine Sprache war ein quäkendes Samnorsk. »Schnell, Herr Jefri. Wir haben wenig Zeit.« Hinter dem Wesen, jenseits des Öltümpels, sah Jefri… Johanna.
Und dann explodierte der Tümpel, und das Feuer auf beiden Seiten breitete sich über alle Fluchtwege aus. Immer noch gestikulierte der Raumler mit seinen Tentakeln und forderte sie auf, den flachen Teil seiner Hülle zu besteigen. Jefri fasste nach den wenigen verfügbaren Handgriffen. Die Welpen sprangen nach ihm herauf, klammerten sich ihm an Hemd und Hose. Aus der Nähe konnte Jefri erkennen, dass der Stiel die Person war: Die Haut war schmutzbedeckt und trocken, aber er war weich und bewegte sich.
Zwei von Amdi waren noch am Boden, zu beiden Seiten des Fahrzeugs ausgebreitet, um das Feuer besser sehen zu können. »Wehe!«, schrie ihm Amdi ins Ohr. Trotz der Nähe war er im Tosen des Feuers kaum zu hören. »Da kommen wir niemals durch, Jefri. Unsere einzige Chance ist, hier zu bleiben.«
Die Stimme des Raumlers erklang aus einer kleinen Platte an der Basis seines Stiels. »Nein. Wenn ihr hier bleibt, dann werdet ihr sterben. Das Feuer breitet sich aus.« Jefri hatte sich so weit wie möglich hinter den Stiel des Fahrers geduckt, und trotzdem spürte er die Hitze noch. Wenig mehr, und das Öl in Amdis Fell konnte Feuer fangen.
Die Tentakel des Fahrers hoben die bunte Decke an, die auf seiner Hülle lag. »Zieht das über euch.« Er winkte mit einem Tentakel den übrigen von Amdi. »Über euch alle.«
Die beiden am Boden kauerten hinter den Vorderrädern des Wesens. »Zu heiß, zu heiß«, erklang Amdis Stimme. Doch die beiden sprangen auf und verkrochen sich unter der sonderbaren Plane.
»Bedeckt euch, überall!« Jefri spürte, wie der Fahrer die Decke über sie zog. Der Wagen rollte schon zurück, auf die Flammen zu. Schmerz brannte durch jede Pore in der Plane hindurch. Der Junge langte fieberhaft erst mit einer, dann mit der anderen Hand zu, um den Stoff über seine Beine zu ziehen. Ihre Fahrt war ein wildes Geschüttel, und Jefri konnte sich kaum festhalten. Rings um sich fühlte er, wie sich Amdi mit seinen freien Kiefern anstrengte, um die Plane an Ort und Stelle zu halten. Das Feuer brüllte wie ein wildes Tier, und die Plane selbst brannte heiß auf seiner Haut. Jeder neue Stoß stieß ihn von der Hülle hoch und drohte seinen Griff aufzureißen. Eine Zeit lang verdunkelte Panik sein Denken. Erst viel später erinnerte er sich an die winzigen Töne, die aus der Voderplatte drangen, und verstand, was sie bedeuten mussten.
Pham rannte auf die neuen Flammen zu. Quälender Schmerz. Er hob die Arme vors Gesicht und fühlte, wie die Haut an seinen Händen Blasen bekam. Er wich zurück.
»Hier lang, hier lang!«, rief Pilger hinter ihm und geleitete ihn heraus. Er taumelte zurück. Das Rudel stand in einer schmalen Gasse. Es hatte seine Schilde dem neuen Feuerstreifen entgegengekehrt. Zwei von dem Rudel machten ihm Platz, als er zwischen sie sprang.
Sowohl Johanna als auch das Rudel klopften ihm auf den Kopf.
»Dein Haar brennt!«, rief das Mädchen. Nach ein paar Sekunden hatten sie das Feuer erstickt. Der Pilger sah auch ein wenig angesengt aus. Seine Schultertaschen waren sicher verschlossen; zum ersten Mal spähten keine neugierigen Welpenaugen daraus hervor.
»Ich kann immer noch nichts sehen, Pham.« Das war Ravna von hoch oben her. »Was geht vor?«
Ein rascher Blick nach hinten. »Wir sind wohlauf«, keuchte er. »Holzschnitzerins Rudel erledigen gerade Stahls. Aber Blaustiel…« Er spähte zwischen den Schilden hindurch. Es war, als schaute er in einen Brennofen. Direkt an der Burgmauer gab es vielleicht einen kleinen Freiraum. Eine schwache Hoffnung, aber…
»Etwas bewegt sich da drin.« Pilger hatte einen Kopf kurz hinter einem Schild hervorgestreckt. Er zog ihn jetzt zurück und leckte seine Nase von beiden Seiten.
Pham schaute abermals durch den Spalt. In dem Feuer gab es Schatten, weniger helle Stellen, die hin und her wogten — sich bewegten? »Ich sehe es auch.« Er spürte, wie Johanna ihren Kopf dicht neben seinen presste und fieberhaft spähte. »Es ist Blaustiel, Rav… Bei der Flotte!« Das letzte hatte er zu leise gesagt, als dass es durch den Klang des Feuers zu hören gewesen wäre. Es gab keine Spur von Jefri Olsndot, aber: »Blaustiel rollt mitten durch das Feuer, Rav.«
Der Skrod kam aus den tieferen Teilen des Ölsees heraus. Langsam, stetig rollte er weiter. Und nun sah Pham Feuer im Feuer, sah, wie Blaustiels Rumpf in kleinen Flammenadern glühte. Seine Wedel waren nicht mehr eingezogen. Sie ragten heraus und wanden sich in ihrem eigenen Feuer. »Er kommt immer noch, fährt geradewegs heraus.«
Der Skrod ließ die Feuerwand hinter sich und rollte mit ruckartiger Selbstvergessenheit den Hang hinab. Blaustiel bog nicht zu ihnen ab, doch kurz bevor er das Landeboot erreichte, kamen alle sechs Räder auf einmal knirschend zum Stehen.
Pham stand auf und rannte zu dem Skrodfahrer zurück. Pilger nahm schon seine Schilde wieder auf und wandte sich um, ihm nach. Johanna Olsndot blieb eine Sekunde lang stehen, traurig und klein und allein, den Blick hoffnungslos auf das Feuer und den Rauch auf der Burgseite geheftet. Eins von dem Pilger fasste sie am Ärmel und zog sie vom Feuer weg.
Pham war jetzt bei dem Fahrer. Einen Moment lang starrte er schweigend hin. »… Blaustiel ist tot, Rav, du würdest nicht daran zweifeln, wenn du das sehen könntest.« Die Wedel waren abgebrannt und hatten nur Stümpfe am Stiel hinterlassen. Der Stiel selbst war geborsten.
Ravnas Stimme in seinem Ohr bebte. »Er ist da durch gefahren, obwohl er schon brannte?«
»Unmöglich. Er muss nach den ersten paar Metern tot gewesen sein. Das muss alles der Autopilot getan haben.« Pham versuchte, die qualvollen Bewegungen der Wedel zu vergessen, die er im Feuer gesehen hatte. Für einen Augenblick starrte er geistesabwesend auf das von Feuer zersplitterte Fleisch.
Der Skrod selbst strahlte Hitze aus. Pilger schnüffelte daran herum und zuckte heftig zurück, als er mit einer Nase zu nahe kam. Unvermittelt langte er mit einer stahlklauenbewehrten Pfote hin und riss hart an dem Tuch, das die Hülle bedeckte.
Johanna schrie auf und stürzte schneller als Pilger oder Pham vor. Die Gestalten unter dem Schal waren reglos, aber nicht verbrannt. Sie packte ihren Bruder bei den Schultern und zog ihn auf den Erdboden. Pham kniete sich neben ihr ihn. Atmet das Kind? Entfernt kam ihm zu Bewusstsein, dass Ravna ihm ins Ohr schrie und Pilger winzige Hundewesen von dem heißen Metall herunterholte.
Sekunden später begann der Junge zu husten. Seine Arme fuchtelten seiner Schwester entgegen. »Amdi, Amdi!« Seine Augen öffneten sich, wurden weit. »Du!« Und dann wieder: »Amdi?«
»Ich weiß nicht«, sagte der Pilger, der nahe bei den sieben — nein, acht — ölbedeckten Gestalten stand. »Es gibt ein paar Denklaute, aber zusammenhangslos.« Er schnüffelte an drei Welpen und tat etwas, das vielleicht so etwas wie eine Beatmung war.
Dann begann der kleine Junge zu weinen, ein Geräusch, das in den Geräuschen des Feuers unterging. Er kroch zu den Welpen hinüber, das Gesicht gleich neben einem von Pilger. Johanna war direkt hinter ihm, hielt ihn bei den Schultern und schaute erst auf Pilger, dann auf die reglosen Geschöpfe.
Pham kniete sich hin und blickte zurück zur Burg. Das Feuer war jetzt ein wenig niedriger. Lange Zeit starrte er den verkohlten Stumpf an, der Blaustiel gewesen war. Er fragte sich und erinnerte sich. Er fragte sich, ob all der Verdacht unbegründet gewesen war. Er fragte sich, welche Mischung von Mut und automatischer Steuerung hinter der Rettung steckte.
Er erinnerte sich an all die Monate, die er mit Blaustiel verbracht hatte, an die Zuneigung und dann den Hass… O Blaustiel mein Freund.
Die Feuer brannten langsam nieder. Pham ging am Rande der zurückweichenden Hitze auf und ab. Er fühlte, wie die Gottsplitter schließlich wieder über ihn kamen. Dieses eine Mal waren sie willkommen, der unbezähmbare Trieb und die Manie, das Ausblenden irrelevanter Gefühle. Er schaute zu Pilger und Johanna und Jefri und dem sich erholenden Welpenrudel hin. Es war alles eine bedeutungslose Ablenkung. Nein, nicht ganz bedeutungslos: Es hatte eine Wirkung gehabt, hatte den Fortschritt in der wirklich tödlich wichtigen Sache verzögert.
Er blickte nach oben. Es gab Lücken in den Rußwolken, Stellen, wo er den rötlichen Dunst hochgewirbelter Asche und vereinzelte Fleckchen von Blau sehen konnte. Die Wehrgänge der Burg schienen verlassen zu sein, und die Schlacht rings um die Mauern abgeklungen. »Was gibt’s Neues?«, sagte er ungeduldig in den Himmel hinein.
Ravna: »Ich kann immer noch nicht viel um euch herum sehen, Pham. Eine große Anzahl Klauenwesen — wahrscheinlich der Feind — zieht sich nach Norden zurück. Sieht wie ein rascher, geordneter Rückzug aus. Nichts von dem ›Kämpfen bis zuletzt‹ , das wir vorher erlebt haben. Es gibt keine Brände innerhalb der Burg — und auch keine Anzeichen von zurückgebliebenen Rudeln.«
Entscheidung. Pham wandte sich wieder den anderen zu. Er gab sich Mühe, scharfe Befehle in vernünftig klingende Wünsche umzuwandeln. »Pilger! Pilger! Ich brauche Holzschnitzerins Hilfe. Wir müssen in die Burg.«
Pilger brauchte nicht eigens überzeugt zu werden, obwohl er voller Fragen war. »Du wirst über die Mauern fliegen?«, fragte er, als er auf ihn zu sprang.
Pham lief bereits zum Boot. Er schubste Pilger an Bord, kletterte dann hinterher. Nein, er würde nicht versuchen, das verdammte Ding zu fliegen. »Nein, benutze nur den Lautsprecher, damit deine Chefin einen Weg nach drinnen findet.«
Sekunden später hallte Rudelsprache über den Berghang. Nur noch Minuten. Nur noch Minuten, und ich werde dem GEGENMITTEL gegenüberstehen. Und obwohl er keine bewusste Vorstellung hatte, was daraus werden könnte, spürte er die Gottsplitter zu einer letzten Übernahme aufwallen, zu einem letzten Akt vom Willen des ALTEN. »Wo ist die Pestflotte, Rav?«
Ihre Antwort kam sofort. Sie hatte die Schlacht unten beobachtet und den Hammer, der von oben herabkam. »Achtundvierzig Lichtjahre entfernt.« Undeutlicher Wortwechsel abseits vom Mikrofon. »Sie sind ein bisschen schneller geworden. Sie werden in sechsundvierzig Stunden im System sein… Tut mir Leid, Pham.«
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
ANSCHEINEND VON: Sandor Schiedsintelligenz
[Nicht der übliche Sender, aber von Zwischenstationen bestätigt. Sender ist vielleicht eine Filiale oder eine Reservestation.]
GEGENSTAND: Unsere letzte Botschaft?
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
›Wo sind sie jetzt‹ , Ausrottungs-Log
DATUM: 72,78 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Netz-Großangriff, der Untergang von Sandor Schiedsintelligenz
TEXT DER BOTSCHAFT:
Soweit wir es feststellen können, sind alle unsere Stationen im Hohen Jenseits von der PEST aufgesogen worden. Wenn möglich, ignoriert alle Botschaften von diesen Stationen. Bis vor vier Stunden bestand unsere Organisation aus zwanzig Zivilisationen an der Obergrenze. Was von uns übrig ist, weiß nicht, was es sagen oder tun soll. Es ist jetzt alles so langsam und trübe und stumpf; wir sind nicht dafür geschaffen, so weit unten zu leben. Wir haben vor, uns nach dieser Sendung aufzulösen.
Für jene, die weitermachen können, wollen wir mitteilen, was geschehen ist. Der neue Angriff kam unvermittelt. Unsere letzten Eindrücke von Oben sind, dass die PEST plötzlich in alle Richtungen ausgriff und ihre gesamte unmittelbare Sicherheit opferte, um so viel Rechenkapazität wie möglich zu erwerben. Wir wissen nicht, ob wir ihre Kraft einfach unterschätzt hatten oder ob die PEST nun selber zum Äußersten entschlossen ist — und verzweifelte Risiken eingeht.
Bis vor 3000 Sekunden waren wir noch einem schweren Überfall über die internen Netze unserer Organisation ausgesetzt. Das hat aufgehört. Vorübergehend? Oder ist das die Grenze des Angriffs? Wir wissen es nicht, aber wenn ihr wieder von uns hört, werdet ihr wissen, dass die PEST uns erwischt hat.
Lebt wohl.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Optima -› Acquileron -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Gesellschaft für rationale Forschungen
[Wahrscheinlich ein Einzelsystem im Mittleren Jenseits, 7500 Lichtjahre antispinwärts von Sjandra Kei]
GEGENSTAND: Das Gesamtbild
SCHLAGWÖRTER: Die PEST, Die Schönheit der Natur, Nie dagewesene Gelegenheiten
ZUSAMMENFASSUNG: Das Leben geht weiter
VERTEILER:
Pestgefahr
Gesellschaft für rationales Netzwerk-Management
Interessengruppe Kriegsbeobachter
DATUM: 72,80 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
TEXT DER BOTSCHAFT:
Es ist immer amüsant, Leute zu sehen, die sich selbst für den Nabel des Weltalls halten. Nehmt zum Beispiel die gegenwärtige Ausbreitung der PEST [folgen Verweise für Leser, die nicht an diese Gefahren- und Nachrichtengruppen angeschlossen sind]. Die PEST ist eine bisher nicht dagewesene Veränderung in einem begrenzten Teilgebiet an der Obergrenze des Jenseits — weit entfernt von den meisten meiner Leser. Ich bin sicher, dass es für viele die äußerste Katastrophe ist, und gewiss fühle ich mit jenen, doch auch eine kleine Belustigung darüber, dass diese Leute irgendwie glauben, ihr Missgeschick sei das Ende von allem. Das Leben geht weiter, Leute.
Gleichzeitig ist klar, dass viele Leser diesen Ereignissen nicht die gebührende Beachtung schenken — sicherlich, weil sie nicht sehen, was daran wirklich wichtig ist. Im letzten Jahr sind wir Zeugen der Etablierung eines neuen Ökosystems in einem Teilgebiet des Hohen Jenseits sowie anscheinend der Ermordung etlicher MÄCHTE geworden. Wenngleich weit entfernt, sind diese Ereignisse beispiellos.
Schon oft habe ich dies das Netz der Million Lügen genannt. Nun, Leute, jetzt haben wir eine Gelegenheit, die Dinge zu betrachten, solange die Wahrheit noch deutlich sichtbar ist. Mit etwas Glück lösen wir vielleicht einige grundlegende Rätsel um die Zonen und die MÄCHTE.
Ich ersuche die Leser, die Ereignisse unterhalb der PEST aus so vielen Blickwinkeln wie möglich zu beobachten. Insbesondere sollten wir das verbliebene Relais bei Debley Tief nutzen, um die Beobachtungen zu beiden Seiten der von der PEST befallenen Region zu koordinieren. Das wird teuer und mühsam, da in der befallenen Region nur Stationen im Mittleren und Unteren Jenseits zur Verfügung stehen, doch es wird sich lohnen.
Allgemeine Sachgebiete für die Beobachtung:
Die Natur der Netzkommunikation der PEST: die Kreatur ist teils MACHT und teils Hohes Jenseits, und damit unendlich interessant.
Die Natur der jüngsten Großen Flutwelle im Unteren Jenseits unterhalb der PEST: Dies ist ein weiteres Ereignis ohne eindeutigen Präzedenzfall. Jetzt ist es an der Zeit, es zu untersuchen…
Die Natur der Pestflotte, die sich nun einem nicht dem Netz angeschlossenen System im Unteren Jenseits nähert: Dies ist die letzten Wochen über von großem Interesse für ›Kriegsbeobachter‹ gewesen, jedoch größtenteils aus blödsinnigen Gründen (wen kümmern schon Sjandra Kei und die Aprahant-Hegemonie; Lokalpolitik ist für die Einheimischen). Die wirkliche Frage sollte allen außer den Hirngeschädigten klar sein: Warum hat die PEST so weit von ihrer natürlichen Zone entfernt diese gewaltige Anstrengung unternommen?
Wenn es noch irgendwelche Schiffe in der Umgebung der Pestflotte gibt, ersuche ich sie, ›Kriegsbeobachter‹ auf dem Laufenden zu halten. Wenn das nicht möglich ist, sollten einheimische Zivilisationen dafür entschädigt werden, wenn sie Ultrawellen-Spuren weiterleiten.
All dies ist sehr teuer, aber lohnend, die Beobachtung des Äons. Und die Kosten werden nicht lange andauern. Die Flotte der PEST müsste jeden Moment beim Zielstern eintreffen. Wird sie anhalten und etwas bergen? Oder werden wir sehen, wie eine MACHT die Systeme zerstört, die sich ihr entgegenstellen? Wie dem auch sei, wir genießen die einmalige Gelegenheit.
Ravna ging über das Feld unter die wartenden Rudel. Der dicke Rauch war weggeweht worden, doch der Geruch danach lag noch schwer in der Luft. Der Berghang eine Brandwüste. Von oben her hatte Stahls Burg wie der Mittelpunkt einer großen schwarzen Warze ausgesehen, viele Hektar natürlicher und von Rudeln bewirkter Zerstörung rings um den Berggipfel.
Die Soldaten machten ihr schweigend Platz. Mehr als einer warf einen beklommenen Blick auf das gelandete Sternenschiff hinter ihr. Sie ging langsam an ihnen vorbei zu den Wartenden hin. Unheimlich, wie sie so dasaßen, wie Leute bei einem Picknick, denen aber die Anwesenheit der anderen lästig ist. Das musste bei ihnen einer engen Stabsbesprechung entsprechen. Ravna ging auf das Rudel in der Mitte zu, das, welches auf Seidenmatten saß. Kunstvolles hölzernes Filigran-Schnitzwerk hing um die Hälse der Erwachsenen, doch manche von ihnen sahen alt und krank aus. Und vor ihnen saßen zwei Welpen. Sie traten exakt vor, als Ravna das letzte Stück freien Bodens überquerte.
»Äh, du bist die Holzschnitzerin?«, fragte sie.
Eine Frauenstimme, unglaublich menschlich, erklang von einem der größeren Glieder. »Ja, Ravna. Ich bin Holzschnitzerin. Aber es ist Wanderer, den du sprechen willst. Er ist oben in der Burg, bei den Kindern.«
»Oh.«
»Wir haben einen Wagen. Wir können dich sofort hineinbringen.« Eins von ihnen zeigte auf ein Fahrzeug, das den Hang heraufgezogen wurde. »Aber ihr hättet viel näher landen können, nicht wahr?«
Ravna schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht mehr.« Es war die beste Landung gewesen, die sie und Grünmuschel zustande gebracht hatten.
Die Köpfe reckten sich ihr entgegen, alle in einer abgestimmten Geste. »Ich dachte, ihr seid in schrecklicher Eile. Wanderer sagt, dass euch eine Flotte von Raumleuten auf den Fersen ist.«
Einen Moment lang sagte Ravna nichts. Also hatte Pham ihnen von der PEST erzählt? Aber sie war froh, dass er es getan hatte. Sie schüttelte den Kopf und versuchte das taube Gefühl loszuwerden. »J-ja. Wir sind sehr in Eile.« Das Datio an ihrem Handgelenk stand mit der ADR in Verbindung. Der winzige Bildschirm zeigte die stete Annäherung der Pestflotte.
Alle Köpfe drehten sich, eine Geste, die Ravna nicht zu deuten wusste. »Und ihr seid verzweifelt. Ich fürchte, ich verstehe es.«
Wie kannst du das? Und wenn, wie kannst du uns dann vergeben? Doch laut sagte Ravna nur: »Es tut mir Leid.«
Die Königin bestieg ihren Wagen, und sie fuhren über den Berghang auf die Burgmauern zu. Ravna blickte noch einmal zurück. Da unten lag die ADR wie ein großer sterbender Falter. Ihre oberen Antriebsdorne ragten hundert Meter weit in die Luft. Sie glänzten in nassem, metallischem Grün. Es war nicht direkt eine Bruchlandung gewesen. Selbst jetzt fing der Agrav einen Teil vom Gewicht des Schiffes ab. Doch die Antriebsdorne an der Unterseite waren eingedrückt. Hinter dem Schiff fiel der Hang steil ab zum Wasser und den Inseln. Die nach Westen ziehende Sonne warf dunstige Schatten über die Inseln und auf die Burg jenseits der Meerenge. Ein Phantasiebild mit Burgen und Sternenschiffen.
Der Bildschirm an ihrem Handgelenk zeigte gelassen den Countdown der Sekunden an.
»Stahl hat rings um die Kuppel Sprengladungen angebracht.« Holzschnitzerin wies mit ein paar Nasen nach oben. Ravna folgte der Geste mit dem Blick. Die Bögen glichen eher der Kathedrale einer Fürstin als einem militärischen Bauwerk: rosa Marmor, der den Himmel herausforderte. Und wenn das alles herunterkam, würde es mit Sicherheit das darunter stehende Raumschiff zerstören.
Holzschnitzerin sagte, dass Pham jetzt drinnen sei. Sie fuhren hinein, durch dunkle, kühle Räume. Ravna sah Reihe um Reihe von Kälteschlaf-Zellen. Wie viele mag man wieder zum Leben erwecken können? Ob wir es je herausfinden werden? Die Schatten waren tief. »Du bist sicher, dass Stahls Truppen weg sind?«
Holzschnitzerin zögerte, ihre Köpfe starrten in unterschiedliche Richtungen. Ravna konnte den Ausdruck der Rudel noch nicht deuten. »Ziemlich sicher. Jeder in der Burg müsste hinter einer Menge Stein stecken, oder meine Suchtrupps hätten ihn gefunden. Und vor allem haben wir die Reste von Stahl.« Die Königin schien Ravnas fragenden Gesichtsausdruck perfekt deuten zu können. »Du wusstest das nicht? Anscheinend ist Fürst Stahl hier heruntergekommen, um alle Sprengladungen zu zünden. Es wäre Selbstmord gewesen, aber dieses Rudel war schon immer wahnsinnig. Jemand hat ihn aufgehalten. Hier war alles voll von Blut. Zwei von ihm sind tot. Wir haben die übrigen gefunden, wie sie herumirrten, ein winselndes Häufchen… Wer immer Stahl erledigt haben mag, er steckt auch hinter dem schnellen Rückzug. Dieser jemand tut sein Bestes, um jede Konfrontation zu vermeiden. Er wird nicht so bald wiederkommen, obwohl ich fürchte, dass ich irgendwann einmal dem lieben Flenser gegenüberstehen werde.«
Unter den gegebenen Umständen rechnete Ravna damit, dass dieses Problem niemals Gestalt annehmen würde. Ihr Datio zeigte fünfundvierzig Stunden bis zur Ankunft der Pestflotte.
Jefri und Johanna waren bei ihrem Sternenschiff unter der Hauptkuppel. Sie saßen auf den Stufen der Landetreppe und hielten sich bei den Händen. Als die breiten Tore aufgingen und Holzschnitzerins Wagen hereinfuhr, stand das Mädchen auf und winkte. Dann sahen sie Ravna. Der Junge ging erst schnell und dann langsamer über die große freie Fläche. »Jefri Olsndot?«, rief Ravna leise. Er hatte eine vorsichtige, würdevolle Haltung, die überhaupt nicht zu seinem Alter von neun Jahren zu passen schien. Der arme Jefri hatte viel verloren und so lange mit so wenig gelebt. Sie stieg vom Wagen und ging ihm entgegen.
Der Junge trat aus dem Schatten hervor. Er war von einer Meute kleiner Rudelglieder umgeben. Eins davon hing an seiner Schulter, andere wimmelten um seine Füße, anscheinend ohne ihm jemals in den Weg zu kommen, noch andere gingen vor und hinter ihm. Jefri blieb ein Stück von ihr entfernt stehen. »Ravna?«
Sie nickte.
»Könntest du ein bisschen näher kommen? Die Denklaute der Königin sind zu nahe.« Es war immer noch die Stimme des Jungen, doch seine Lippen hatten sich nicht bewegt. Sie ging die paar Meter, die sie noch trennten. Welpen und Junge kamen ihr zögernd entgegen. Aus der Nähe sah sie, dass seine Kleidung zerrissen war und seine Schultern, Ellbogen und Knie mit etwas bedeckt war, das Wundverbände zu sein schienen. Das Gesicht sah frisch gewaschen aus, doch seine Haare waren ein verfilztes Gewirr. Er schaute ernst zu ihr auf, dann hob er die Hände, um sie zu umarmen. »Danke, dass du gekommen bist.« Seine Stimme klang erstickt, aber er weinte nicht. »Ja, danke, und danke dem armen Herrn Blaustiel.« Wieder seine Stimme, traurig, aber klar, von dem Welpenrudel rings um ihn.
Johanna Olsndot war herbeigekommen und stand dicht hinter ihnen. Erst vierzehn ist sie? Ravna streckte ihr eine Hand entgegen. »Nach allem, was ich höre, bist du allein schon ein Rettungstrupp.«
Holzschnitzerins Stimme drang von ihrem Wagen herüber: »Johanna war das in der Tat. Sie hat unsere Welt verändert.«
Ravna wies die Treppe hinan, in den Schein der Innenbeleuchtung. »Pham ist da oben?«
Das Mädchen wollte nicken, doch das Welpenrudel kam ihr zuvor. »Ja. Er und der Pilger sind da oben.« Die Welpen entwirrten sich und begannen die Stufen hinanzusteigen, wobei der letzte Ravna mitzog. Sie folgte ihnen, Jefri an ihrer Seite.
»Wer ist eigentlich dieses Rudel?«, fragte sie Jefri unvermittelt und zeigte auf die Welpen.
Der Junge blieb überrascht stehen. »Amdi natürlich.«
»Verzeihung«, sagten die Welpen mit Jefris Stimme. »Ich habe so oft mit dir gesprochen, ich vergesse, dass du nicht weißt…« Es folgte ein Chor von Tönen und Akkorden, der in einem menschlichen Kichern endete. Sie blickte auf die wippenden Köpfe hinab und war sich sicher, dass der kleine Teufel seine falschen Darstellungen durchaus einschätzen konnte. Mit einem Mal löste sich ein Rätsel. »Sehr angenehm«, sagte sie, gleichzeitig wütend und bezaubert. »Jetzt…«
»Richtig, jetzt gibt es viel Wichtigeres.« Das Rudel sprang weiter die Stufen hinauf. ›Amdi‹ schien zwischen schüchterner Traurigkeit und manischer Aktivität hin und her zu schwanken. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt. Sie haben uns hinausgeworfen, sobald wir ihnen alles gezeigt hatten.«
Ravna folgte dem Rudel, Jefri dicht hinter ihr. Es klang nicht so, als ob irgendetwas geschähe. Das Innere der Kuppel war wie ein Grabgewölbe, es hallte von den Worten der wenigen Rudel wider, die es bewachten. Hier aber, auf halbem Wege die Treppe hinauf, klangen selbst diese Töne gedämpft, und nichts drang oben durch die Luke. »Pham?«
»Er ist da oben.« Johanna sagte es vom Fuß der Treppe her. Sie und Holzschnitzerin schauten zu ihnen hoch. Sie zögerte. »Ich bin nicht sicher, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Nach der Schlacht wirkte er… seltsam.«
Holzschnitzerins Köpfe schwankten hin und her, als versuche sie, sie im Schein der Lukenleuchten besser sehen zu können. »Die Akustik in diesem Schiff von euch ist grauenhaft. Wie können Menschen das aushalten?«
Amdi: »Ach, so schlimm ist es gar nicht. Jefri und ich haben eine Menge Zeit da oben verbracht. Ich hab mich dran gewöhnt.« Zwei von seinen Köpfen drückten gegen die Luke. »Ich weiß nicht, warum Pham und Pilger uns hinausgeworfen haben, wir hätten im anderen Raum bleiben und richtig still sein können.«
Ravna trat vorsichtig zwischen den vorderen Welpen des Rudels hindurch und klopfte gegen die Metallverkleidung. Die Luke war nicht verschlossen, jetzt konnte sie die Schiffsbelüftung hören. »Pham, wie steht’s?«
Es gab ein rasselndes Geräusch und das Klicken von Klauen. Helles, flackerndes Licht strömte die Treppe herab. Ein einzelner Hundekopf erschien. Ravna konnte Weiß rings um seine Augen sehen. Hatte das etwas zu bedeuten? »Hallo«, sagte er. »Äh, sieh mal. Es ist jetzt ein bisschen eng geworden. Pham… ich glaube, Pham sollte jetzt nicht gestört werden.«
Ravna schob die Hand durch die Öffnung. »Ich habe nicht vor, ihn zu stören. Aber ich komme herein.« Wie lange haben wir um diesen Augenblick gekämpft. Wie viele Milliarden sind unterwegs umgekommen. Und jetzt sagt mir so ein redender Hund, dass es ein bisschen eng geworden ist.
Der Pilger schaute auf ihre Hand herab. »Gut.« Er schob die Luke weit genug auf, um sie durchzulassen. Die Welpen waren rasch um ihre Füße, wichen aber vor Pilgers Blick zurück. Ravna bemerkte es nicht…
Das ›Schiff‹ war kaum mehr als ein Frachtcontainer, eine Transportkapsel. Die Fracht — diesmal die Kälteschlaf-Zellen — war entladen worden und hatte größtenteils ebenen Boden zurückgelassen, der mit Hunderten von Halterungen übersät war.
All dies bemerkte sie kaum. Es war das Licht, das Ding, was ihren Blick fesselte. Es wuchs aus den Wänden hervor und sammelte sich in der Mitte des Raums so hell, dass es fast nicht auszuhalten war. Seine Gestalt änderte sich ständig, die Farben flossen von Rot über Violett nach Grün. Pham saß mit gekreuzten Beinen bei den Geräten, mittendrin. Die Hälfte seines Haars war weggebrannt. Seine Hände und Arme zitterten, und er murmelte etwas in einer unbekannten Sprache. Gottsplitter. Zweimal waren sie der Begleiter der Katastrophe gewesen. Der Wahnsinn einer sterbenden MACHT — und nun die einzige Hoffnung. O Pham.
Ravna trat einen Schritt auf ihn zu, fühlte, wie sich Kiefer um ihren Ärmel schlossen. »Bitte, er darf nicht gestört werden.« Der eine, der ihren Arm festhielt, war ein großer Hund mit Kampfnarben. Der Rest des Rudels — Pilger — blickte nach innen zu Pham hin. Der Wilde starrte sie an, sah irgendwie, dass ihr der Zorn ins Gesicht schoss. Dann sagte das Rudel: »Sehen Sie, Ihr Pham befindet sich in einer Art Gedächtnislücke, die ganze normale Persönlichkeit ist für Denkoperationen geopfert worden.«
Was? Pham musste mit diesem Pilger gesprochen haben.
Ravna machte eine beschwichtigende Geste. »Ja, ja. Ich verstehe.« Sie starrte ins Licht. Die wechselnde Form, die anzusehen so schwer fiel, ähnelte den Grafiken, die man auf den meisten Bildschirmen erzeugen kann, die närrischen Schnitte von hochdimensionalem Schnickschnack. Es leuchtete in reinstem monochromatischem Licht, das aber durch die Farbskala wanderte. Ein großer Teil des Lichts musste kohärent sein: Interferenztupfer glitten über jede feste Oberfläche. An manchen Stellen war die Interferenz deutlicher, Streifen von Hell und Dunkel, die in dem Maße über die Wände glitten, wie die Farbe wechselte.
Langsam ging sie näher heran und starrte dabei auf Pham und… das GEGENMITTEL. Denn was sonst konnte es sein? Das Zeug in der Wand, das nun hervorgewachsen war, um die Gottsplitter zu treffen. Das waren nicht einfach Daten, eine zu übertragende Nachricht. Es war eine Transzendente Maschine. Ravna hatte von solchen Dingen gelesen: Geräte, die im Transzens zur Benutzung am Grund des Jenseits hergestellt worden waren. Es war nichts Bewusstes daran, nichts, was die Einschränkungen der Unteren Zonen verletzt hätte — und doch würde es den hier bestmöglichen Gebrauch von der Natur machen, um zu tun, wofür auch immer es sein Erbauer geschaffen hatte. Sein Erbauer? Die PEST? Ein Feind der PEST?
Sie trat noch näher. Das Ding ragte tief in Phams Brust hinein, doch es gab kein Blut, kein aufgerissenes Fleisch. Sie hätte alles für einen holographischen Trick halten können, nur dass sie sah, wie er unter den Vibrationen des Dings erbebte. Sie schnappte nach Luft, hätte ihn beinahe beim Namen gerufen. Doch Pham wehrte sich nicht. Er schien tiefer in den Gottsplittern versunken, als je zuvor, und mehr in Frieden mit sich selbst. Plötzlich traten Hoffnung und Furcht aus ihrem Versteck hervor: die Hoffnung, dass die Gottsplitter vielleicht sogar jetzt noch etwas gegen die PEST tun könnten, und die Furcht, Pham würde dabei umkommen.
Die in sich gekrümmte Evolution des Artefakts verlangsamte sich. Das Licht blieb am fahlen Ende von Blau. Phams Augen öffneten sich. Sein Kopf wandte sich ihr zu. »Der Fahrermythos ist Wirklichkeit, Ravna.« Seine Stimme klang fern. Sie vernahm ein kaum hörbares Lachen. »Die Fahrer dürften es wissen, denke ich. Sie haben es beim letzten Mal erfahren. Es gibt DINGE, die die PEST nicht mögen. Dinge, die selbst der ALTE nur ahnte…«
MÄCHTE jenseits der MÄCHTE? Ravna bekam weiche Knie. Der Bildschirm an ihrem Handgelenk leuchtete zu ihr auf. Keine fünfundvierzig Stunden mehr.
Pham sah ihren abwärtsgerichteten Blick. »Ich weiß. Nichts hat’ die Flotte gebremst. Es ist ein armseliges Etwas, so weit hier unten — aber mehr als mächtig genug, um diese Welt, dieses Sonnensystem zu vernichten. Und das ist es, was die PEST jetzt will. Die PEST weiß, dass ich sie vernichten kann… genauso, wie sie schon einmal vernichtet worden ist.«
Ravna war sich vage bewusst, dass Pilger von allen Seiten herangekommen war. Jedes Gesicht war auf das blaue Gebilde und den darin eingeschlossenen Menschen gerichtet. »Wie, Pham?«, flüsterte Ravna.
Stille. Dann: »Die ganze Zonenturbulenz — das war ein Versuch des GEGENMITTELS zu handeln, aber ohne Koordination. Jetzt lenke ich es. Ich habe begonnen… mit der Gegen-Flutwelle. Sie saugt die örtlichen Energiequellen aus. Spürst du es?«
Gegen-Flutwelle? Wovon redete Pham? Sie blickte abermals auf ihr Handgelenk — und schnappte nach Luft. Die Geschwindigkeit des Feindes war auf zwanzig Lichtjahre pro Stunde heraufgeschnellt, so schnell, wie man es im Mittleren Jenseits erwarten konnte. Was eine Gnadenfrist von fast zwei Tagen gewesen war, dauerte jetzt kaum noch zwei Stunden… Jetzt zeigte der Bildschirm fünfundzwanzig Lichtjahre pro Stunde. Dreißig.
Jemand schlug gegen die Luke.
Scrupilo vernachlässigte seine Pflichten. Er hätte den Vormarsch den Berghang hinan überwachen sollen. Er wusste das und hatte wirklich ein ziemlich schlechtes Gewissen — doch er beharrte in seiner Pflichtvergessenheit. Wie ein Süchtiger, der Krima-Blätter kaut, fand er manche Dinge zu verlockend, um sie sein zu lassen.
Scrupilo trottete hinter den Truppen her und trug das Datio sorgfältig zwischen sich, sodass die rosa Schlappohren nicht über den Boden schleiften. Das Datio zu bewachen, war ja eigentlich gewiss wichtiger, als seine Soldaten anzutreiben. Jedenfalls befand er sich halbwegs nahe genug, um Ratschläge geben zu können. Und was die alltäglichen Verrichtungen betraf, waren seine Leutnants klüger als er. In den letzten paar Stunden hatten die Küstenwinde die Rauchwolken ins Landesinnere geweht, und die Luft war rein und salzig. Auf diesem Teil des Berges war nicht alles verbrannt. Es gab sogar ein paar Blumen und flaumige Samenkapseln. Kurzschwänzige Vögel segelten in der vom Küstental aufsteigenden Luft, ihre Schreie waren eine fröhliche Musik, wie ein Versprechen, dass die Welt bald wieder wie vorher sein würde.
Scrupilo wusste, dass das nicht sein konnte. Er wandte alle Köpfe, um den Berghang hinab nach Ravna Bergsndots Sternenschiff zu schauen. Er schätzte die heilgebliebenen Antriebsdorne auf hundert Meter Länge. Der Rumpf selbst maß mehr als einhundertundzwanzig. Er setzte sich rings um das Datio hin und zog sein gefüttertes Olifanten-Gesicht auf. Das Datio wusste eine Menge über Raumschiffe. Dieses Schiff hier war keine Konstruktion von Menschen, doch die allgemeine Form war ziemlich weit verbreitet; er wusste das von seiner früheren Lektüre. Zwanzig- oder dreißigtausend Tonnen, ausgerüstet mit Antigravitationskissen und Überlichtantrieb. Alles sehr gewöhnlich für das Jenseits… Aber es hier zu sehen, mit den Augen seiner eigenen Glieder! Scrupilo konnte den Blick nicht davon losreißen. Drei von ihm arbeiteten am Datio, während die anderen beiden den schimmernden grünen Rumpf anschauten. Die Soldaten und Geschützwagen um ihn her verblassten zur Belanglosigkeit. Bei all seiner Masse schien das Schiff sanft auf dem Berghang zu ruhen. Wie lange wird es dauern, bis wir so etwas bauen können? Ohne Hilfe von außen Jahrhunderte, behaupteten die Geschichten im Datio. Was würde ich nicht für einen Tag an Bord geben!
Und dennoch wurde dieses Schiff von etwas Mächtigerem gejagt. Scrupilo erschauderte in der Sommersonne. Er hatte oft genug Pilgers Erzählung von der ersten Landung gehört, und er hatte die Strahlenwaffe der Menschen gesehen. Im Datio hatte er viel über planetenknackende Bomben und die anderen Waffen des Jenseits gehört. Während er an Holzschnitzerins Geschützen arbeitete — den besten Waffen, die er zustande bringen konnte —, hatte er geträumt und sich Fragen gestellt. Bis er das Sternenschiff in der Höhe hatte schweben sehen, hatte er im Grunde seiner Herzen niemals vollends die Wirklichkeit empfunden. Nun tat er es. Eine Flotte von Mördern jagte also Ravna Bergsndot hinterher. Die Stunden der Welt mochten wahrlich gezählt sein. Er tastete rasch durch die Suchpfade des Datios, auf der Suche nach Artikeln über Raumschiffsteuerung. Wenn nur noch Stunden bleiben, dann lerne wenigstens, soviel die Zeit noch erlaubt.
Also verlor sich Scrupilo in den Klängen und Bildern des Datios. Er hatte drei Fenster geöffnet, jedes über einen anderen Aspekt der Pilotenwissenschaft.
Laute Rufe vom Berghang her. Er schaute mit einem Kopf auf, eher irritiert als sonst etwas. Es war kein Gefechtsalarm, was sie riefen, nur ein allgemeines Unbehagen. Seltsam, die Nachmittagsluft wirkte angenehm kühl. Zwei von ihm blickten empor, doch da war kein Dunst. »Scrupilo! Schaut nur, schaut!«
Seine Kanoniere sprangen in Panik umher. Sie deuteten zum Himmel… zur Sonne. Er faltete die rosa Deckel über dem Gesicht des Datios zusammen und blinzelte gleichzeitig in Richtung Sonne. Die Sonne stand noch hoch im Süden, blendend hell. Doch die Luft war kühl, und die Vögel machten die gurrenden Laute, mit denen sie bei tiefer Sonne ins Nest flogen. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er geradewegs in die Sonnenscheibe blickte, schon seit fünf Sekunden — ohne dass ihm die Augen schmerzten oder auch nur tränten. Und immer noch war kein Dunst zu sehen. Eine innere Kälte breitete sich in seinem Denken aus.
Das Sonnenlicht verblasste. Er konnte schwarze Stellen auf der Oberfläche erkennen. Sonnenflecken. Er hatte sie oft genug mit Schreibers Fernrohren gesehen. Damals aber durch dichte Filter hindurch. Etwas stand zwischen ihm und der Sonne, etwas, das ihr Licht und ihre Wärme aufsog.
Die Rudel am Hang stöhnten. Es war ein Angstlaut, wie Scrupilo ihn niemals in der Schlacht gehört hatte, der Laut von jemandem, der sich einem Schrecken jenseits allen Verständnisses gegenübersieht.
Das Blau erlosch am Himmel. Auf einmal war die Luft kalt wie mitten in finsterer Nacht. Und die Farbe der Sonne war eine graue Lumineszenz, wie ein verblasster Mond. Weniger. Scrupilo presste sich mit den Bäuchen an den Erdboden. Manche von ihm pfiffen tief in der Kehle. Waffen, Waffen. Aber davon stand nie etwas im Datio.
Die Sterne waren das hellste Licht über dem Berghang.
»Pham, Pham. Sie werden in einer Stunde hier sein. Was hast du getan?« Ein Wunder, aber ein verderbenbringendes?
Pham Nuwen wiegte sich in der strahlenden Umarmung des GEGENMITTELS. Seine Stimme klang fast normal, die Gottsplitter wichen zurück. »Was habe ich getan? N-nicht viel. Und mehr als jede MACHT. Selbst der ALTE hat es nur geahnt, Ravna. Das Ding, das die Straumer hierher gebracht haben, ist der Fahrermythos. Wir — ich, es — haben nur die Zonengrenze zurückgeschoben. Eine lokale Veränderung, aber intensiv. Wir befinden uns jetzt in der Entsprechung des Hohen Jenseits, vielleicht sogar des Unteren Transzens. Darum kommt die Pestflotte so schnell voran.«
»Aber…«
Pilger kehrte von der Luke zurück. Er unterbrach Ravnas zusammenhanglose Panik mit einem sachlichen »Die Sonne ist eben erloschen.« Seine Köpfe wippten mit einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.
Pham antwortete: »Das geht vorbei. Irgendwo muss die Energie für dieses Manöver herkommen.«
»W-warum, Pham?« Selbst wenn die PEST gewiss siegt, warum ihr helfen?
Das Gesicht des Mannes wurde leer, Pham Nuwen verschwand fast unter den anderen Programmen, die in seinem Verstand abliefen. Dann: »Ich… bündle gerade das GEGENMITTEL. Ich sehe jetzt, das GEGENMITTEL, was es ist… Es ist von etwas jenseits der MÄCHTE geschaffen worden. Vielleicht gibt es die Wolkenbewohner, vielleicht erhalten sie jetzt Signale. Oder vielleicht ist das, was gerade geschieht, wie ein Insektenstich, etwas, das eine viel größere Reaktion auslöst. Der Grund des Jenseits hat sich gerade zurückgezogen, wie die Wasserlinie vor einem Tsunami.« Das GEGENMITTEL glühte rotorange, seine Bögen und Fäden umklammerten Pham enger als zuvor. »U-und jetzt, wo wir uns selbst in eine anständige Zone hinaufgezogen haben…, kann wirklich etwas geschehen. Oh, der Geist des ALTEN ist amüsiert. Einen Blick hinter die MÄCHTE zu werfen, war es fast wert, dafür zu sterben.«
Die Flottenanzeigen strömten über Ravnas Handgelenk. Die PEST kam noch schneller als zuvor. »Fünf Minuten, Pham.« Obwohl sie noch dreißig Lichtjahre entfernt waren.
Lachen. »Oh, die PEST weiß es auch. Ich sehe, dass es das ist, was sie die ganze Zeit über gefürchtet hat. Das ist es, was sie in jenen vergangenen Äonen getötet hat. Sie stürmt nun voran, aber es ist zu spät.« Das Glühen wurde heller, die Lichtmaske, die Phams Gesicht war, schien sich zu entspannen. »Etwas sehr… weit… Entferntes hat mich gehört, Rav. Es kommt.«
»Was? Was kommt?«
»Die Flutwelle. So groß. Dagegen wirkt das, was uns getroffen hat, wie ein sanftes Plätschern. Das ist die Flut, an die niemand glaubt, weil niemand übrig bleibt, um sie aufzuzeichnen. Der Grund wird unter den Füßen weggeschlagen.«
Plötzliches Begreifen. Plötzliche wilde Hoffnung. »Und sie werden da draußen in der Falle sitzen, nicht wahr?« Also hatte Kjet Svensndot nicht vergebens gekämpft, und Phams Rat war kein Unsinn gewesen: Es gab jetzt in der Pestflotte keinen einzigen Staustrahlantrieb.
»Ja. Sie sind dreißig Lichtjahre weit draußen. Wir haben alle vernichtet, die auf Geschwindigkeit kommen könnten. Sie werden tausend Jahre brauchen, bis sie hier sind…« Das Artefakt zog sich plötzlich zusammen, und Pham stöhnte. »Nicht viel Zeit. Wir haben das Maximum des Zurückweichens erreicht. Wenn die Flutwelle kommt, wird sie…« Wieder ein Schmerzenslaut. »Ich sehe sie! Bei den MÄCHTEN, Ravna, sie wird hoch emporschlagen und lange dauern.«
»Wie hoch, Pham?«, sagte Ravna leise. Sie dachte an all die Zivilisationen über ihnen. Da waren die Schmetterlinge und die verräterischen Typen, die den Pogrom bei Sjandra Kei unterstützt hatten… Und da waren Billionen, die in Frieden lebten und ihren eigenen Weg zu den Höhen gingen.
»Tausend Lichtjahre? Zehntausend? Ich bin nicht sicher. Die Geister im GEGENMITTEL — Arne und Sjana glaubten, sie könnte so hoch reichen, dass sie ins Transzens schwappen und die PEST an Ort und Stelle einkapseln würde… Das muss es sein, was Damals geschehen ist.«
Arne und Sjana?
Die Vibrationen des GEGENMITTELS waren langsamer geworden. Seine Lichter flackerten hell auf und gingen dann aus. Hell — und dann aus. Sie hörte Pham bei jedem Stück Dunkelheit um Atem ringen. Das GEGENMITTEL, der Retter, der im Begriff war, eine Million Zivilisationen auszulöschen. Und der den Mann tötete, der den Prozess in Gang gebracht hatte.
Fast ohne zu denken duckte sie sich an dem Ding vorbei und streckte die Arme nach Pham aus. Aber ein Bündel rasiermesserscharfer Bögen nach dem anderen hielt sie auf, schnitt ihr in die Arme.
Pham blickte zu ihr auf. Er versuchte, noch etwas zu sagen.
Dann ging das Licht zum letzten Mal aus. Aus der Dunkelheit ringsum kamen ein zischendes Geräusch und ein anschwellender bitterer Geruch, den Ravna niemals vergessen sollte.
Für Pham Nuwen gab es keinen Schmerz. Die letzten Minuten seines Lebens waren jenseits jeder Schilderung, die im Langsam oder sogar im Jenseits wiedergegeben werden kann.
Versuchen wir also Metapher und Gleichnis: Es war… es war…, als stünde Pham mit dem ALTEN auf einem ausgedehnten und leeren Strand. Ravna und Klauenwesen waren winzige Geschöpfe zu ihren Füßen. Planeten und Sterne waren die Sandkörner. Und das Meer war für kurze Zeit zurückgewichen und ließ den hellen Lichtschein des Denkens hierher dringen, wo zuvor Dunkelheit gewesen war. Die Transzendenz würde kurz sein. Am Horizont türmte sich das zurückgedrängte Meer auf, eine dunkle Wand, höher als jeder Berg, die wieder auf sie zu stürmte. Er schaute zu ihrer riesigen Masse auf. Phan und die Gottsplitter und das GEGENMITTEL würden die Überflutung nicht überleben, nicht einmal getrennt. Sie hatten eine Katastrophe ausgelöst, die jedes Denken überstieg, ein ausgedehnter Abschnitt der Galaxis wurde ins Langsam gestürzt, so tief wie die Alte Erde selbst, und auf Dauer.
Arne und Sjana und die Straumer und der ALTE wären gerächt… und das GEGENMITTEL war vollständig.
Und Pham Nuwen? Ein Werkzeug, das hergestellt und benutzt worden war und nun weggeworfen werden sollte. Ein Mann, den es nie gegeben hatte.
Dann war die Flut über ihnen und begrub sie in der Tiefe. Hinab aus dem Transzendenten Licht. Draußen würde die Sonne der Klauenwelt wieder hell scheinen, doch innen fiel Phams Geist in sich zusammen, indes die Sinne zu dem zurückkehrten, was Augen sehen und Ohren hören können. Er fühlte das GEGENMITTEL ins Nichtsein gleiten, nun, da es sein Werk getan hatte, ohne jemals bewusst zu denken. Der Geist des ALTEN verharrte noch ein wenig länger, zog sich zusammen und wich zurück, während das Denkvermögen abnahm. Doch er tastete Phams Bewusstsein nicht an. Dieses eine Mal schob er ihn nicht beiseite. Dieses eine Mal war er sanft, strich über die Oberfläche von Phams Geist, wie ein Mensch einen treuen Hund streicheln mochte.
Eher ein kühner Wolf bist du, Pham Nuwen. Ihnen blieben nur noch Sekunden, bis sie vollends in den Tiefen waren, wo die verschmolzenen Körper des GEGENMITTELS und Pham Nuwens für immer sterben und alle Gedanken erlöschen würden. Die Erinnerungen verschoben sich. Der Geist des ALTEN trat beiseite und gab Gewissheiten frei, die er die ganze Zeit über verborgen hatte. Ja, ich habe dich aus mehreren Körpern auf dem Schrottplatz bei Relais gebaut. Doch es gab nur einen Geist und ein Ensemble von Erinnerungen, die ich wiedererwecken konnte. Ein starker, kühner Wolf — so stark, dass ich dich niemals hätte beherrschen können, wenn ich dich nicht zuvor in Zweifel gestürzt hätte…
Irgendwo glitten Barrieren beiseite: das endgültige Versagen der Herrschaft des ALTEN — oder ein letztes Geschenk. Welches von beiden, war nun egal, denn was immer der Geist sagte, die Wahrheit stand deutlich vor Pham Nuwen, und nichts würde sein Dasein leugnen:
Canberra, Cindi, die Jahrhunderte unterwegs mit der Dschöng Ho, der letzte Flug der Wildgans. Es war alles wirklich.
Er schaute zu Ravna auf. Sie hatte so viel getan. Sie hatte so vieles hingenommen. Und obwohl sie nicht geglaubt hatte, hatte sie geliebt. Es ist gut. Es ist gut. Er versuchte, sie zu erreichen, es ihr zu sagen. O Ravna, ich bin wirklich!
Dann brach das ganze Gewicht der Tiefen über ihn herein, und er war nicht mehr.
Abermals wurde gegen die Tür geklopft. Sie hörte Pilger zur Luke gehen. Ein Lichtkeil fiel herein. Ravna vernahm Jefris schrille Stimme: »Die Sonne ist wieder da! Die Sonne ist wieder da!… He, warum ist es hier drin so dunkel?«
Pilger: »Das Artefakt — das Ding, dem Pham geholfen hat — sein Licht ist ausgegangen.«
»Du meinst, ihr habt alle Hauptlampen aus gelassen?« Die Luke glitt ganz auf, und der Kopf des Jungen zeichnete sich zusammen mit etlichen Welpenköpfen gegen den Fackelschein draußen ab. Er stieg über die Schwelle. Das Mädchen war direkt hinter ihm. »Die Steuerung ist gleich da drüben — siehst du?«
Und weiches weißes Licht schien auf die gekrümmten Wände. Alles war gewöhnlich und menschlich, außer… Jefri stand starr, die Augen aufgerissen, die Hand vor dem Mund. Er wandte sich zu seiner Schwester, um Halt zu finden. »Was ist das? Was ist das?«, klang seine Stimme von der offenen Luke her.
Jetzt hätte Ravna gewünscht, nichts sehen zu können. Sie sank auf die Knie. »Pham?«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde. Was von Pham Nuwen übrig war, lag inmitten des GEGENMITTELS. Das Artefakt leuchtete nicht mehr. Seine verwickelten Grenzen waren stumpf und dunkel. Mehr als allem anderen ähnelte es verfaultem Holz — aber Holz, das den Mann, der bei ihm lag, umschlang und durchdrang. Es gab kein Blut, keine Verbrennungen. Wo das Artefakt Pham durchbohrt hatte, war ein Fleck wie von Asche, und das Fleisch schien mit dem Ding verschmolzen zu sein.
Pilger stand eng rings um sie, seine Nasen berührten fast die reglose Gestalt. Der bittere Geruch hing noch in der Luft. Es war der Geruch des Todes, doch nicht einfach von verrottetem Fleisch: Gestorben war hier das Fleisch und noch etwas.
Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Die Anzeige war auf ein paar alphanumerische Zeilen geschrumpft. Es konnten keine Ultraantriebe entdeckt werden. Die Statuswerte der ADR zeigten Probleme mit der Steuerung der räumlichen Orientierung. Sie befanden sich tief in der Langsamen Zone, außer Reichweite jeglicher Hilfe, außer Reichweite der Pestflotte. Sie schaute Pham ins Gesicht. »Du hast es geschafft, Pham. Du hast es wirklich geschafft.« Sie sagte die Worte leise, zu sich selbst.
Die Bögen und Schleifen des GEGENMITTELS waren jetzt etwas Zerbrechliches und Sprödes. Der Körper Phan Nuwens war ein Teil davon. Wie konnten sie diese Bögen zerbrechen, ohne…? Pilger und Johanna drängten Ravna sanft aus dem Frachtraum hinaus. Sie erinnerte sich kaum an die nächsten paar Minuten, daran, wie sie den Körper heraustrugen. Blaustiel und Pham, beide unwiederbringlich verloren.
Nach einer Weile verließen sie sie. Es fehlte ihnen nicht an Mitgefühl, aber es gab zu viel an Katastrophen und Fremdartigkeit und Notfällen. Da waren die Verwundeten. Da war die Möglichkeit eines Gegenangriffs. Da waren die gewaltige Verwirrung und ein dringender Bedarf an Ordnung. Auf sie machte all das kaum einen Eindruck. Sie war am Ende ihres langen verzweifelten Laufs, mit all ihrer Kraft am Ende.
Ravna musste einen Großteil des Nachmittags bei der Treppe gesessen haben, so tief in den Verlust versenkt, dass sie an nichts dachte, sich nur vage des Meerliedes bewusst, das Grünmuschel mit ihr über das Datio teilte. Schließlich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nicht allein war. Außer Grünmuschels Trost… irgendwann vorher war der kleine Junge zurückgekehrt. Er saß neben ihr, umringt von all den Welpen, alle ganz still.