»Das kann doch nicht sein!« stammelte er. »Das kann er doch nicht machen!«

Als hätte sie nur auf ein Stichwort gewartet, gab die LEOPOLD in diesem Moment einen zweiten Schuß auf sie ab. Diesmal lag der Einschlag wesentlich näher. Plötzlich drehte Singh mit aller Kraft und so schnell am Ruder, daß sich das Schiff auf die Seite legte wie ein Radfahrer in einer scharfen Kurve. Der Mast ächzte unter der Belastung, und das Segel war plötzlich so straff gespannt, als wolle es zerreißen. Erschrockene Schreie gellten über das Deck, und vor Mikes ungläubig aufgerissenen Augen vollführte die Jacht ein Manöver, das er nie für möglich gehalten hätte. Sie machte praktisch auf der Stelle kehrt und jagte nun direkt auf die Felseninsel zu - und die gefährlichen Riffe davor!

»Singh!« kreischte Mike entsetzt. »Willst du uns umbringen?«

Singh schien seine Worte nicht zu hören, sondern hielt das Boot mit eiserner Hand weiter auf Kurs. Mike klammerte sich wieder an der Reling fest. Doch der vernichtende Aufprall, auf den er wartete, kam nicht. Rechts und links der Jacht durchstießen immer wieder spitze Felsen die Wasseroberfläche, aber die Fahrrinne unmittelbar vor ihnen war frei. Es gab einen Weg durch die Riffe, und ganz offensichtlich kannte Singh ihn.

Allerdings fragte sich Mike, wohin Singh überhaupt wollte. Selbst wenn sie die Riffe überwanden - vor ihnen war nichts als senkrechter, unübersteigbarer Fels, an dessen Fuß sich die Wellen mit Urgewalt brachen. Trotzdem hielt Singh immer weiter auf die Insel zu. Die Jacht wurde immer schneller und schwankte manchmal nach rechts oder links, wenn der Inder dem Verlauf der unsichtbaren Fahrrinne folgte. Dann und wann schrammte etwas unter dem Rumpf entlang oder schlug unter Wasser gegen die Bordwand.

Mike sah zur LEOPOLD zurück. Das große Schiff war noch weiter zurückgefallen und verlor jetzt sichtlich mehr und mehr an Tempo. Sein Kapitän hatte wohl eingesehen, daß er der Jacht nicht auf demselben Weg folgen konnte, und zog es vor, sein Schiff nicht unnötig in Gefahr zu bringen.

Das brauchte er auch nicht. Mike beobachtete voller Entsetzen, wie einer der großen Geschütztürme am Vorderdeck herumschwenkte, sich genau auf die Jacht richtete - und eine grelle Feuerzunge ausstieß!

Der dumpfe Knall und die weiße Schaumexplosion vor ihnen erfolgten nahezu gleichzeitig. Die Jacht erzitterte wie unter einem Hammerschlag. Holzsplitter und winzige, scharfkantige Steintrümmer regneten auf sie herab, und in dem Segel über Mikes Kopf gähnte plötzlich ein fast metergroßes, schwarzgerändertes Loch. Winterfeld machte nun tatsächlich Ernst.

»Der nächste Schuß trifft«, sagte Paul. In seinem Gesicht stand das pure Entsetzen geschrieben. »Sie bringen uns um.«

Selbst Mike glaubte mittlerweile nicht mehr daran, daß die LEOPOLD nur Warnschüsse abgab. Winterfeld wollte sie vielleicht nicht umbringen, aber er schien entschlossen, die Jacht unter allen Umständen zu stoppen, und nahm dabei in Kauf, sie zu verletzen oder auch einen oder mehrere von ihnen zu töten. Mike sah, wie das Geschützrohr ein wenig herumschwenkte. Verzweifelt blickte er nach vorne. Die Felswand raste regelrecht auf sie zu. Noch ein paar Sekunden, und sie würden daran zerschellen, falls sie nicht vorher von einer Granate getroffen und in Stücke gerissen wurden!

Und das Schiff schoß weiter auf die Insel zu. Die Felsen kamen näher, immer schneller und schneller, wie eine granitene Faust, die sie zerschmettern würde - und dann waren sie plötzlich fort, und da, wo vor einer Sekunde noch eine scheinbar unüberwindliche Barriere gewesen war, tat sich ein schmaler Kanal auf. Hinter ihnen erscholl wieder ein dumpfer Knall und gleich darauf die Explosion der Granate, die diesmal die Felswand getroffen hatte. Aber sie waren in Sicherheit.

Zumindest vorläufig...

Sicher fragst Du Dich voll Spannung, was Mike und seine Freunde auf der Insel erwartet. Gleich kannst Du weiterlesen, wir wollen Dich nur schnell etwas fragen: Hat es Dir Spaß gemacht, die Jungen auf ihrer gefährlichen Flucht zu begleiten? Möchtest Du auch weiterhin mit ihnen und der Nautilus die Weltmeere durchqueren und die aufregendsten Abenteuer erleben?

Das kannst Du: Der zweite Band, »Das Mädchen von Atlantis«, wartet bereits in der Buchhandlung auf Dich.

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So, jetzt geht's weiter...

Mike kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, und auch die anderen sahen sich mit offenen Mündern um. Der Kanal war vollkommen gerade, als hätte jemand eine gigantische Axt genommen und die Insel mit einem einzigen Schlag gespalten. Das Wasser floß ruhig dahin, und nach dem Lärm und dem Tosen der vergangenen Minuten kam ihnen die Stille fast unheimlich vor.

»Das ist ... phantastisch«, flüsterte Mike.

Singh lächelte. »Ich sagte doch, daß die Insel durch einen mächtigen Zauber geschützt wird.«

Mike widersprach dem Sikh nicht, obwohl er ahnte, daß es wohl eher eine optische Täuschung als Zauberei war, die die Einfahrt verbarg - aber das änderte nichts am Ergebnis.

Und die Wunder waren noch nicht vorbei. Der Kanal war ungefähr hundert Meter lang, dann mündete er in einen kreisrunden, gut eine Meile messenden See. Die Insel war nicht massiv, sondern eine gewaltige Mauer, die diesen See umgab.

Den Strand, den sie auf der äußeren Seite der Insel vermißt hatten, fanden sie nun hier - und noch mehr. Das Äußere der Insel bot sich als kahler, salzverkrusteter Felsen dar, auf dem kein Leben Fuß gefaßt hatte - aber ihr Inneres quoll geradezu davon über. Bis dicht unter die Kanten der natürlichen Schutzmauer erhob sich das Blätterdach eines schier undurchdringlichen Dschungels, in dem es überall raschelte, huschte, knisterte, pfiff, kreischte und schrie. Vögel erhoben sich aus dem Blätterdach und begannen schimpfend über dem Boot zu kreisen, das ihre Ruhe störte, und Mike sah eine Anzahl kleiner Affen, die sich schnatternd von Ast zu Ast schwangen und ihnen ein Stück weit am Ufer folgten. Es war ein phantastischer, wunderbarer Anblick, ein vergessenes Paradies, das vielleicht seit Jahrmillionen vom Rest der Welt vergessen existierte.

Singh deutete schweigend nach vorne. Auf dem flachen, fast weißen Sandstrand erhob sich ein knappes Dutzend großer Gebäude von sonderbarer Bauweise. Mikes Herz begann schneller zu schlagen. Er ahnte, daß das Geheimnis der Vergessenen Insel nun zum Greifen nahe vor ihnen lag.

Als sich das Schiff langsam den Bauwerken auf der anderen Seite des Kratersees näherte, sah Mike, daß es sich bei vielen nur mehr um Ruinen handelte. Die Gebäude, aus tonnenschweren Felsquadern erbaut und einer sonderbar fremdartigen, auf eine beunruhigende Weise zugleich aber auch vertraut erscheinenden Geometrie folgend, waren zum Teil zerstört, zum Teil von Schlingpflanzen und Moos überwuchert, mit denen der Dschungel das Gelände zurückzuerobern begann, das ihm der Mensch einst abgetrotzt hatte. Nirgends war auch nur die mindeste Spur menschlichen Lebens zu sehen. Vor den Türen und Fensteröffnungen spannten sich große Spinnennetze oder Vorhänge aus Schlingpflanzen. Die Ansiedlung war verlassen, begriff Mike, und das schon seit ziemlich langer Zeit.

Singh steuerte die Jacht so nahe an den Strand heran, wie er konnte - was ihrer Größe wegen nicht nahe genug war, um trockenen Fußes an Land zu gehen. Aber da sie ohnehin alle bis auf die Haut durchnäßt waren, machte es niemandem etwas aus, die letzten Meter an Land zu waten. Mike selbst trat als erster an die Reling heran und wartete ungeduldig, daß das Schiff zur Ruhe kam. Doch Singh winkte ihn zurück.

»Wartet«, sagte er. »Es ist besser, wenn wir zusammenbleiben.«

»Wieso?« fragte Mike. »Hier lebt doch niemand mehr, oder?«

»Die Ruinen sind nicht ungefährlich«, erwiderte Singh. »Und viel größer, als es den Anschein hat. Es ist besser, wenn wir vorsichtig sind.«

Mike sah den Inder scharf an. Ihm war keineswegs entgangen, daß Singh seiner Frage geschickt ausgewichen war, statt sie wirklich zu beantworten.

»Jemand sollte beim Schiff zurückbleiben«, sagte Miß McCrooder. »Was ist, wenn es abgetrieben wird?« Sie klang ziemlich nervös, und Mike mußte nicht einmal in ihr Gesicht sehen, um die mühsam unterdrückte Furcht zu erkennen.

»Das ist nicht nötig«, antwortete Singh. »Wir brauchen es nicht mehr. Außerdem bleibt uns vielleicht nicht mehr genug Zeit, um zurückzugehen und den zu holen, der hiergeblieben ist.«

»Wieso?« fragte Miß McCrooder erschrocken.

»Weil wir die Insel auf einem anderen Wege verlassen«, antwortete Singh geduldig. »Wenn wir Erfolg haben, in Freiheit. Und wenn nicht - als Gefangene auf dem Kriegsschiff.«

»Als Gefangene? Aber ... aber sie können doch auf keinen Fall hierherkommen, oder?« stammelte Miß McCrooder. »Ich meine, sie kennen die Passage nicht, und das Schiff ist viel zu groß, um hier hereinzukommen.«

»Die LEOPOLD sicher«, sagte Paul. »Aber sie hat Beiboote. Und sie haben gesehen, wohin wir gefahren sind.«

»Ich fürchte, Paul hat recht«, sagte Singh. »Sie werden bestimmt eine Weile brauchen, um die Passage durch die Riffe zu finden. Vielleicht verlieren sie sogar ein Boot dabei oder auch mehr. Trotzdem glaube ich nicht, daß wir mehr als zwei oder drei Stunden haben.«

»Eher weniger«, sagte Paul düster. »Unterschätzt meinen Vater nicht. Ich kenne ihn. Und die Männer, die er bei sich hat, sind verdammt gut.«

»Sicher«, höhnte Ben. »Deshalb sind wir ihnen ja bisher auch entkommen, nicht wahr?«

»Sei lieber froh, daß es so ist«, sagte Mike rasch und ehe Paul antworten konnte. Die Zeit, die ihnen noch blieb, war einfach zu kostbar, um sie mit einem weiteren sinnlosen Streit zu vergeuden. Mit einer beinahe befehlenden Geste wandte er sich an den Sikh. »Also los! Geh voraus, Singh.«

Der Sikh war der erste, der über Bord sprang. Sofort versank er bis an die Hüften im glasklaren Wasser, drehte sich noch einmal um und hob die Arme, um den anderen zu helfen. Mike, Paul, Juan, Ben und André ignorierten seine angebotene Hilfe, während Miß McCrooder und auch Chris sich von seinen starken Armen über die Reling heben und so weit zum Ufer hin absetzen ließen, wie es ging. Mike spürte, wie sich ein sonderbares Gefühl in ihm breitzumachen begann, während sie den flachen Strand hinaufwateten. Es war eine Mischung aus Neugier, mühsam beherrschter Angst vor dem, was sie vielleicht entdecken mochten, und Faszination.

In den ersten Minuten jedenfalls gewahrten sie nichts als Ruinen und moosbedeckte Steine. Ein paar kleine Tiere huschten davon, als sie sich vorsichtig dem ersten der großen Quaderbauten näherten, die den Strand säumten, und einmal glaubte er einen Schatten hinter einem Fenster zu sehen, der hastig zurückzuckte, als er genauer hinsah, war sich aber nicht sicher. Aus dem Dschungel drang ihnen eine verwirrende Vielfalt von Gerüchen und Geräuschen entgegen, doch nichts davon war menschlichen Ursprungs. Und trotzdem... Er konnte es nicht begründen, aber Mike hatte mit jedem Schritt, der sie den Ruinen näher brachte, mehr das Gefühl, aus unsichtbaren Augen beobachtet zu werden.

Schließlich wurde es so stark, daß er stehenblieb und sich an Singh wandte. »Bist du sicher, daß hier niemand mehr ist?« fragte er.

»Es ist lange her, daß ich hier war«, antwortete Singh. »Du warst schon einmal hier?« fragte Mike überrascht.

Singh nickte. »Vor langer Zeit«, sagte er.

»Aber du ... hast doch gesagt, du wüßtest nicht, wo die Insel liegt!« sagte Mike.

»Das war auch die Wahrheit«, erwiderte Singh mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln. »Ich war Passagier auf dem Schiff Eures Vaters, damals. Müßtet Ihr jetzt aus England lossegeln - ohne die Karte und Euer Amulett -, würdet Ihr diese Insel wiederfinden?« Mike mußte zugeben, daß an diesem Argument etwas dran war. Vermutlich würde er die Vergessene Insel nicht einmal mit der Karte seines Vaters wiederfinden. Singhs Worte erklärten auch, wieso er von der verborgenen Passage durch die Riffe gewußt hatte. Und doch ... völlig stellte Mike diese Antwort nicht zufrieden. Singh verschwieg ihm etwas, selbst jetzt noch. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker, als sie in das erste Gebäude eindrangen.

Aber was sie im Inneren des leerstehenden Hauses sahen, das war so erstaunlich, daß es Mike so sehr in seinen Bann schlug und er seine Furcht beinahe vergaß. Von außen hatte das Gebäude zwar groß und irgendwie sonderbar gewirkt, ein gigantischer, aber eindeutig primitiver Bau, wie er ihn aus seinen Schulbüchern und Zeitschriften kannte, am ehesten noch vergleichbar mit den zyklopischen Ruinen, wie sie in Ägypten oder auch Mexiko gefunden worden waren; Zeugnisse einer untergegangenen Kultur, die riesenhafte Bauwerke zu erschaffen imstande gewesen, aber über einen gewissen niedrigen Stand der Technik nicht hinausgekommen war.

Hier stimmte das nicht. Nicht einmal im entferntesten.

Was sich vor Mike und den anderen ausbreitete, als sie durch die halb eingestürzte Tür traten, das war einmal eine Maschinenhalle gewesen. Von ihrer ehemaligen Einrichtung war nicht viel geblieben - was nicht fortgeschafft worden war, das hatten Erosion und Zeit zernagt, so daß sie im Grunde nur Staub und Rost fanden - aber man konnte noch deutlich sehen, wo einst gigantische Maschinen gestanden haben mußten. Riesige Fundamente erhoben sich aus dem grünen Teppich, der den Boden wieder überwuchert hatte. Hier und da ragte ein zerfressenes Rohr aus dem Boden, hingen die zerborstenen Reste einer Rohrleitung von den Wänden oder ringelten sich mächtige Kabel wie die zerrissenen Adern eines riesigen metallenen Tieres von der Decke. Es gab eine Anzahl runder, wie geschmolzenes Silber schimmernder Pfützen, in deren unmittelbarer Nähe nichts gedieh und denen Singh in respektvollem Bogen auswich, und wenn man erst einmal wußte, wonach man zu suchen hatte, entdeckte man bald die Stellen, an denen Schalttafeln gehangen haben mußten, Löcher in den steinernen Wänden, wo einst technische Apparaturen gewesen waren, und grün überwucherte Konturen, die trotz allem zu regelmäßig waren, um von der Hand der Natur erschaffen worden zu sein. Es gehörte tatsächlich nur noch ein wenig Phantasie dazu, und man glaubte noch das machtvolle Geräusch der riesigen Maschinen zu hören, das diesen Raum einst erfüllt hatte wie das Schlagen eines metallenen Herzens.

»Was ist das hier, Singh?« fragte Mike. Unwillkürlich hatte er die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, aber die Akustik dieser Halle war ebenso fremdartig und bizarr wie alles andere - seine Stimme wurde gebrochen und mehrfach verstärkt, so daß die Worte als verzerrtes Echo zurückkamen. Singh antwortete nicht, sondern gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß er still sein sollte, und Mike gehorchte. Plötzlich hatte er das verrückte Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem der Klang menschlicher Stimmen nichts zu suchen hatte.

Singh deutete auf eine Tür auf der anderen Seite des Raumes. Sie durchquerten die Halle und gelangten in einen zweiten, viel kleineren Raum, dessen Decke eingestürzt war, so daß helles Sonnenlicht hereinfiel. Sein Anblick war fast noch bizarrer als der des großen Maschinenraumes, obgleich die Natur auch hier bereits begonnen hatte, das verlorene Terrain zurückzuerobern. An einer Wand erhob sich etwas, was wie ein mit Knöpfen und Schaltern übersäter Schreibtisch aussah. Eine Anzahl rechteckiger, matter Glasscheiben von grauer Farbe waren darin eingelassen, und Mike entdeckte Beschriftungen in einer fremdartigen, sonderbar anmutenden Schrift, die nichts ähnelte, was er je zuvor gesehen hatte. Neugierig ging er hin und streckte die Hand nach einem der Knöpfe aus.

»Rührt nichts an!« sagte Singh, und in seiner Stimme lag ein so erschrockener Ton, daß Mike hastig die Hand zurückzog und einen Schritt zur Seite machte, ehe er sich zu dem Sikh umwandte.

»Was ist das hier?« fragte er.

»Nichts Besonderes.« Singh versuchte nicht mehr, seine Unruhe zu verbergen. »Aber es ist besser, wenn wir nichts anfassen.«

»Wieso bist du so nervös, wenn es nichts Besonderes ist?« fragte Juan mißtrauisch. »Der ganze Kram funktioniert doch nicht mehr, oder? Ich meine, das kann er doch gar nicht.«

»Sicher nicht«, antwortete Singh, hastig und in einem Tonfall, der seinen Worten eine Menge von ihrer Glaubhaftigkeit nahm. »Aber es ist besser, vorsichtig zu -«

Hinter ihnen polterte etwas, und Singh brach mitten im Wort ab und fuhr herum.

Unter der Tür, durch die sie gerade gekommen waren, war eine Gestalt erschienen. Mike konnte den Mann nur als Silhouette erkennen, aber er sah ganz deutlich das Gewehr, das er in den Händen hielt. Die Mündung der Waffe schwankte drohend hin und her und richtete sich dann direkt auf Singh, als der Sikh eine Bewegung machte. Miß McCrooder stieß einen halblauten Schreckensruf aus und schlug die Hand vor den Mund. Ben spannte sich sprungbereit, während die anderen - Mike eingeschlossen - vor Schreck erstarrten.

Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen rührte sich niemand, auch der Mann unter der Tür nicht. Dann hob Singh ganz langsam die Arme und drehte die leeren Handflächen nach außen; eine Geste, die wohl zu allen Zeiten und bei allen Völkern verstanden werden mußte. Sehr vorsichtig machte er einen Schritt auf den Fremden zu, blieb aber sofort wieder stehen, als dieser drohend das Gewehr hob. Mike überdachte blitzschnell ihre Chance, den Fremden zu überwältigen, bevor er mit seiner Waffe Schaden anrichten konnte. Sie standen nicht sehr gut. Zweifellos konnte er sie nicht alle erwischen - aber seine Position unter der Tür war so gut, daß er bestimmt zwei oder drei von ihnen niedergeschossen hätte, ehe sie ihn auch nur erreichten.

»Trautman?« fragte Singh. Er machte einen weiteren Schritt auf den Fremden zu und blieb wieder stehen, als sich die warnende Bewegung des Gewehres wiederholte. Mike sah den Sikh überrascht an.

»Wer ist das, Singh?« fragte er. »Kennst du ihn?« Singh reagierte nicht auf seine Worte, aber die Gestalt unter der Tür bewegte sich nun ebenfalls. Mit einem Schritt trat sie aus dem Schatten heraus; aus dem schwarzen Umriß wurde ein Körper, und Mike konnte erkennen, daß der Mann sehr alt war. Früher einmal mußte er nicht nur groß, sondern ein wahrer Riese gewesen sein, aber seine Schultern waren unter der Last der sicherlich achtzig Jahre, die er zählte, nach vorne gesunken. Sein Gesicht war schmal und von tiefen, wie mit Messern eingegrabenen Falten sowie einem kurzgeschnittenen, weißen Vollbart beherrscht. Von der gleichen Farbe war auch sein Haar, das in dünnen Strähnen fast bis auf die Schultern herabhing. Er trug eine zerschlissene, dunkelblaue Jacke, von deren Ärmeln das Gold dreier dünner paralleler Streifen abblätterte, und eine ehemals weiße Hose.

Aber so alt und gebrechlich seine Gestalt wirkte - der Blick seiner Augen strafte diesen Eindruck Lügen. Mike begriff, daß sie vielleicht einem alten Mann, aber ganz bestimmt keinem Greis gegenüberstanden. »Trautman?« fragte Singh noch einmal. »Sind ... Sie das?«

Er machte einen weiteren Schritt, und diesmal schien der Alte nichts dagegen zu haben - er senkte das Gewehr ein wenig, so daß seine Mündung nun nicht mehr unmittelbar auf Singhs Gesicht wies.

»Wer seid Ihr?« fragte er. »Woher kennt Ihr meinen Namen? Seid Ihr...« Er stockte. In das mißtrauische Glitzern seiner Augen mischte sich ein Ausdruck nur allmählich aufdämmernden Erkennens.

»Singh?« murmelte er. »Bist ... du das?«

Plötzlich verschwand der angespannte Ausdruck von Singhs Zügen. Ein befreites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er nahm die Hände herunter. »Es ist lange her«, sagte er. »Ich hatte schon Angst, daß Sie mich nicht mehr erkennen würden.«

»Singh?« wiederholte Trautmann staunend. Er senkte das Gewehr, machte aber keine Anstalten, dem Sikh entgegenzugehen, sondern blickte noch immer mit deutlichem Mißtrauen von einem zum anderen. Vor allem an Mikes Gesicht blieb sein Blick hängen; dann schüttelte er den Kopf, als hätte er sich selbst in Gedanken eine Frage gestellt und gleich beantwortet. »Das habe ich wirklich nicht«, sagte er. Er schüttelte den Kopf. »Du warst fast noch ein Kind, als du das letzte Mal hier warst. Wer sind die anderen? Warum seid ihr gekommen? Und was ist das für ein Schiff, das draußen vor der Passage kreuzt? Wieso haben sie auf euch geschossen? Und was sind das für Kinder, Singh? Wieso bringst du sie hierher? Du weißt, daß das verboten ist.«

»Ich hatte keine andere Wahl«, antwortete Singh. »Die Männer draußen auf dem Schiff haben uns verfolgt. Sie haben von Dakkars Erbe erfahren und suchen es.«

»Und dann bringst du sie geradewegs hierher?« fragte Trautman. »Ist das deine Art, seine Befehle zu befolgen?«

»Ich mußte es tun«, antwortete Singh. Er schwieg eine Sekunde, dann deutete er mit einer Handbewegung auf Mike. »Seinetwegen.«

Trautmans Aufmerksamkeit richtete sich abermals auf Mike, und wieder fühlte sich der Junge von den dunklen Augen des alten Mannes wie durchbohrt. Und dann begannen Trautmans Hände, die noch immer das Gewehr hielten, zu beben.

»Das ... das kann doch nicht sein«, flüsterte er schließlich.

Singh lächelte. »Er ist es, Trautman. Nemos Sohn.«

»Nemo?« sagte Juan verblüfft.

Der alte Mann begann zu zittern. Es war schwer, unter all den Falten und Runzeln in seinem Gesicht irgendeinen Ausdruck zu erkennen, aber Mike spürte, daß er mit aller Macht um seine Beherrschung kämpfte. Seine Augen begannen feucht zu schimmern.

»Tatsächlich«, murmelte er schließlich. »Er ... er ist es. Großer Gott, er ... er sieht genau aus wie sein Vater. Als ... als wäre er wieder auferstanden.« Plötzlich fuhr er herum und wandte sich fast schreiend an Singh: »Warum bringst du ihn hierher? Du weißt, was sein Vater befohlen hat! Du hast geschworen, ihm diese Last niemals -«

»Er kann nichts dafür«, unterbrach ihn Mike.

Trautman fuhr mit einem Ruck wieder herum. »Verzeiht, junger Herr«, sagte er, »aber ich fürchte, Ihr wißt nicht, wovon Ihr sprecht. Das Geheimnis dieser Insel muß für alle Zeiten gewahrt bleiben. Es war der letzte Wunsch Eures Vaters, und wir haben beide geschworen, eher unser Leben zu opfern, als ihn nicht zu respektieren.«

»Singh hat uns allen das Leben gerettet«, fuhr Mike fort. »Wir sind nicht freiwillig hier. Die Männer dort draußen auf dem Schiff hatten mich und die anderen entführt, weil sie das Geheimnis dieser Insel enträtseln wollten. Singh hat uns befreit.«

»Stimmt das?« fragte Trautman.

Singh nickte. »Ja. Es bleibt keine Zeit mehr, um Ihnen alles genau zu erklären. Aber er sagt die Wahrheit. Sie haben uns bis hierher verfolgt, aber sie hätten die Insel auch ohne uns gefunden, denn der Kapitän des Schiffes ist im Besitz der Papiere von Prinz Dakkars Vater. Wir mußten Sie warnen. Ich hoffe nur, wir sind nicht zu spät gekommen.«

»Dann ist alles verloren«, sagte Trautman. »Sie werden die Passage entdecken und das alles hier finden.« Sein Blick schien plötzlich mitten durch Singh hindurch ins Leere zu gehen. »Du weißt, was das bedeutet.«

»Noch haben wir etwas Zeit«, erwiderte Singh hastig. »Was ist mit dem Schiff? Mit etwas Glück können wir die Insel verlassen, ehe sie den Weg durch die Riffe gefunden haben.«

Trautman lächelte bitter. »Nein«, sagte er. »Das können wir nicht, Singh. Du kennst Nemos Befehl so gut wie ich.«

Singh machte eine ärgerliche Handbewegung. »Er konnte nicht ahnen, was geschehen würde«, sagte er. »Seien Sie vernünftig, Trautman! Wollen Sie, daß sein Sohn stirbt?«

»Natürlich nicht«, antwortete Trautman. Er lächelte noch immer auf diese seltsam traurige Art. »Es hat nichts mit Wollen zu tun, Singh«, sagte er. »Ich...« Er stockte, suchte einen Moment nach den richtigen Worten und drehte sich dann zur Seite, um sein Gewehr an die Wand neben der Tür zu lehnen.

»Es spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr«, sagte er. »Also kommt mit.«

Während sie Trautman wieder in den angrenzenden, großen Raum und zu einer zweiten, verborgenen Tür folgten, tauschte Mike einen Blick mit Singh, aber der Sikh tat so, als verstünde er die unausgesprochene Frage in seinen Augen nicht. Mike sah ihm allerdings deutlich an, daß er, vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, tatsächlich Angst hatte.

Sie durchquerten die Halle und begannen eine schmale, steil in die Tiefe führende Treppe hinabzusteigen, ehe es ihm gelang, an Singhs Seite zu kommen. »Wer ist das, Singh?« fragte er im Flüsterton.

»Ein Vertrauter Eures Vaters«, antwortete Singh. »Ein Freund. Vielleicht der einzige, den er jemals wirklich hatte. Er hat geschworen, sein Erbe bis zu seinem Tod zu beschützen.«

»Meines Vaters?« wiederholte Mike zweifelnd. »Oder dieses ... wie hat er ihn genannt? Nemo?«

Nun lächelte Singh. »Noch einen kleinen Moment Geduld, Herr«, sagte er. »Ihr werdet gleich alles verstehen.«

Die Treppe führte scheinbar endlos in die Tiefe. Mike gab es nach hundert Stufen auf, die Schritte zählen zu wollen, aber als sie endlich ihr Ende erreicht hatten, war er sicher, daß sie sich tief unter dem Meeresspiegel befinden mußten, und die Vorstellung erfüllte ihn mit Unbehagen. Er glaubte die Millionen und Abermillionen Tonnen Wasser fast körperlich zu fühlen, die auf dem Stein über ihren Köpfen lasteten, und war da nicht ein leises Knistern, das regelmäßige Geräusch von fallenden Tropfen und das Mahlen von Fels, der unter dem unvorstellbaren Gewicht genau in diesem Moment nachzugeben begann, und -

Der Gedanke endete so abrupt wie abgeschnitten. Mikes Augen weiteten sich. Er blieb stehen, als wäre er an eine unsichtbare Wand geprallt. Einer der anderen stolperte gegen ihn, aber das spürte Mike nicht einmal. Für die nächtsten, schier endlosen Sekunden registrierte er rein gar nichts von dem, was um ihn herum vorging. Er stand einfach da und starrte an Singh und Trautman vorbei in die Tiefe.

Der Gang führte auf eine schmale, steinerne Galerie hinaus, die sich in gut zwanzig Metern Höhe an den Wänden einer gewaltigen Höhle entlangzog, deren Boden allerdings nur zu einem kleinen Teil aus massivem Fels bestand. Der weitaus größte Teil wurde von den Fluten eines natürlichen, unterseeischen Hafens bedeckt.

Und direkt unter ihnen lag der Koloß.

Das Schiff - wenn es ein Schiff war, denn Mike hatte nie zuvor etwas gesehen, was diesem phantastischen Gefährt auch nur ähnelte - mußte an die hundert Meter lang sein und war von schlanker Form, die an eine stählerne Zigarre erinnerte. Der Rumpf bestand aus Stahl, der in einem unheimlichen, graugrünen Farbton schimmerte. Etwa in seiner Mitte erhob sich ein buckeliger, flacher Turm, zu dem eine Anzahl eiserner Leitersprossen emporführten. Zwei große, runde Fenster aus gewölbtem Glas vermittelten den Eindruck starrender Fischaugen, und wie um diese Ähnlichkeit noch zu betonen, hatte das Schiff eine gewaltige, senkrecht wie die Finne eines Wales in die Höhe ragende Heckflosse. Der Bug endete in einem langen, mit metallenen Kanten und Klingen versehenen Sporn, wie die natürliche Waffe eines übergroßen Sägefisches, und vom Bug bis zum Heck des Schiffes zog sich ein stählerner Stachelkamm. Das riesige Gefährt ähnelte viel weniger einem Schiff als einem bizarren Urweltungeheuer, das nach Jahrmillionen zu neuem Leben auferstanden war.

Mike hatte keine Fragen mehr. Es gab nichts, was Singh oder Trautman hätten erklären müssen. Er kannte jetzt das Geheimnis der Vergessenen Insel. Er hatte es im selben Moment begriffen, in dem sein Blick auf die fast mannshohen Buchstaben fiel, in denen der Name des Schiffes an seinem Bug stand:

NAUTILUS

Obwohl im Moment vielleicht nichts so kostbar war wie Zeit, schwiegen Singh und Trautman geduldig, bis Mike den Schock, den ihm der Anblick des Tauchbootes bereitet hatte, so weit überwand, um langsam weiterzugehen. Eine steile, geländerlose Treppe führte in die Tiefe, bei deren Anblick allein Mike normalerweise schwindelig geworden wäre. Jetzt bemerkte er den Abgrund nicht einmal, der neben ihm gähnte.

Auch als er näher kam, verlor das Schiff nichts von seiner unheimlichen Faszination. Im Gegenteil: Mike konnte sich einfach nicht satt sehen. Er hatte immer mehr das Gefühl, einem Etwas gegenüberzustehen, das zwar künstlich erschaffen, trotzdem aber mehr als nur eine Maschine war. Er konnte nicht sagen, was es war, was er empfand. Das Gefühl, das der Anblick der NAUTILUS in ihm auslöste, war zu gewaltig, um es in Worte zu fassen. Endlich, nach Minuten, wurde das fast ehrfürchtige Schweigen gebrochen.

»Die NAUTILUS!« flüsterte Paul. »Es ... es gibt sie wirklich. Dann ist alles wahr, was man sich erzählt. Die ... die ganzen Geschichten sind wahr!«

Mike löste widerstrebend seinen Blick von dem Unterseeboot und wandte sich zu Paul um. Er und die anderen waren ihm gefolgt, aber in einiger Entfernung stehengeblieben, und jeder reagierte auf andere Weise auf den Anblick des Schiffes: erstaunt, ungläubig, erschrocken oder entsetzt. Einzig Chris schien gar nicht zu begreifen, was er da sah.

Plötzlich erinnerte sich Mike wieder an den Schrecken, mit dem Paul reagiert hatte, als Mike das erste Mal seinen wirklichen Namen hörte. »Du hast das gewußt, nicht wahr?« fragte er. »Dein Vater hat dir gesagt, was wir auf dieser Insel finden.«

»Nein!« Pauls Stimme klang erschrocken. »Kein Wort, das schwöre ich! Aber ... aber jeder hat doch schon von Kapitän Nemo und der NAUTILUS gehört. Du doch auch!«

Das stimmte. Wer hätte nicht von dem phantastischen, unbesiegbaren Unterseeboot gehört, mit dem der sagenumwobene Kapitän Nemo die Weltmeere befahren hatte?

»Ich habe es für eine Legende gehalten«, fuhr Paul fort. Seine Stimme zitterte, und sein Blick irrte unstet über den Rumpf der NAUTILUS. »Wir alle haben das! Niemand hat geglaubt, daß dieses Schiff wirklich existiert!«

»Euer Vater hat dafür gesorgt, daß es so ist«, fügte Singh hinzu. »Es war seine letzte Tat. Nachdem er die NAUTILUS zu dieser Insel gebracht hat, verließ er sie noch einmal und sorgte dafür, daß aus den Geschichten um die NAUTILUS Legenden wurden. Es war nicht sehr schwer, glaube ich. Die Menschen sind nur zu schnell bereit, das, war sie nicht verstehen können, als Märchen abzutun.«

»Deshalb ist Winterfeld also auf dem Weg hierher«, murmelte Miß McCrooder. Die Worte waren an niemanden Bestimmten gerichtet. Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Langsam ging sie an Paul und den anderen vorbei und näherte sich dem Schiff. Sie war bleich. »Er muß geahnt haben, was er hier finden würde. O Gott. Mit diesem Schiff wäre er ... unbesiegbar!«

»Er könnte die Welt beherrschen«, bestätigte Singh.

»Oder zerstören«, fügte Trautman leise hinzu.

Miß McCrooder wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte ihn an. »Das meinen Sie nicht ernst!« sagte sie. »Ich meine, es ... es ist ein gewaltiges Schiff, aber doch nicht mehr!«

»Ich fürchte, Sie irren sich, Mylady«, sagte Trautman. »Im Vollbesitz seiner Kräfte wäre dieses Schiff unbesiegbar. Niemand könnte es aufhalten oder zerstören. Nemo hat seine Möglichkeiten niemals völlig genutzt, denn er erkannte, welche Gefahr es darstellt. Schließlich brachte er die NAUTILUS hierher und sorgte dafür, daß sie die Insel nie wieder verlassen konnte.«

»Moment mal«, sagte Ben. »Soll das heißen, wir können nicht damit von hier verschwinden?«

»Mit der NAUTILUS?« Trautman schüttelte lächelnd den Kopf. »Wäre es so, hätte ich euch niemals hierhergebracht.« Er deutete auf das Wasser vor dem Schiff. »Der Tunnel, der zu dieser Höhle führt, ist verschüttet. Nemo sprengte ihn, bevor er die Insel endgültig verließ. Ein gewaltiger Felsen blockiert den Eingang. Ihr hättet ihn eigentlich sehen müssen. Es ist das einzige Riff, das die Wasseroberfläche auf dieser Seite der Insel durchbricht.«

»Aber wenn man ihn wegschaffen könnte -«

Trautman unterbrach ihn. »Das ist unmöglich. Wir würden Tonnen von Sprengstoff benötigen. Und Zeit. Wir haben keines von beiden.«

»Dann ist alles verloren«, sagte Ben düster. »Winterfeld ist in spätestens zwei Stunden hier. Er wird das Schiff finden.«

»Nein«, antwortete Trautman, »das wird er nicht. Das Geheimnis dieses Schiffes darf niemals wieder in die Hände eines einzelnen Menschen fallen. Die Macht, die die NAUTILUS darstellt, ist zu gewaltig.«

»Na prima«, sagte Ben. »Und was wollen Sie tun? Sie schwarz anmalen, damit er sie nicht findet, oder schnell die Tür zumauern?«

»Ich werde tun, was Kapitän Nemo mir befohlen hat«, sagte Trautman ernst. »Was ich schon längst hätte tun sollen.« Er sah Singh an, und obwohl keiner von beiden etwas sagte, ja nicht einmal eine Miene verzog, spürte Mike doch ganz deutlich, daß Trautman dem Sikh eine Frage stellte und dieser sie auf die gleiche, lautlose Weise beantwortete. Nach einer Weile wandte sich Trautman schweigend um und ging auf eine Tür in der Wand zu. Sie war so wuchtig und schwer wie die eines Geldschrankes, und Trautman brauchte all seine Kraft, um sie zu öffnen.

»Was hat er vor?« fragte Ben mißtrauisch, nachdem der alte Mann verschwunden war.

Singh antwortete nicht, auch als Mike die Frage wiederholte. So verging sicher eine Minute, bis Singh mit einem Seufzen aus seiner sonderbaren Erstarrung erwachte und die Hand hob. »Wir müssen gehen«, sagte er.

»Er wird die NAUTILUS zerstören, nicht wahr?« fragte Mike leise.

Singhs Antwort bestand nur aus einem angedeuteten Nicken.

»Aber das ist doch Wahnsinn!« begehrte Ben auf. »Das ... das ist das phantastischste Schiff, das es jemals auf der Welt gegeben hat! Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich darüber erzählt, dann ist es -«

»Eine Waffe«, fiel ihm Mike ins Wort. »Die furchtbarste Waffe, die man sich nur vorstellen kann.«

Ben starrte ihn verständnislos an, aber auf Singhs Lippen erschien ein dankbares Lächeln. »Ich habe gehofft, daß Ihr so denkt«, sagte er. »Ihr seid also damit einverstanden, daß wir sie zerstören?«

»Würde es etwas ändern, wenn ich es nicht wäre?« fragte Mike.

»Nein«, antwortete Singh offen. »Aber ich bin trotzdem froh, daß Ihr Euch so und nicht anders entschieden habt.«

»Ihr beide müßt verrückt sein!« protestierte Ben. »Ihr habt nicht das Recht, das Schiff zu zerstören. Es gehört euch nicht! Es gehört -«

»Wem?« fiel ihm Mike ins Wort. »Deinen Leuten? Den Franzosen? Den Deutschen? Den Indern? Welcher Nation willst du dieses Schiff ausliefern? Wer, glaubst du, wäre am besten dazu geeignet, die Welt zu beherrschen?«

Für einen Moment war Ben verwirrt und etwas erschrocken. Dann machte er eine ärgerliche Bewegung mit beiden Händen. »Unsinn«, sagte er. »Es ist nur ein Schiff. Ganz egal, wie stark es ist, niemand kann damit die ganze Welt beherrschen.«

»Die NAUTILUS allein reicht dazu nicht aus«, antwortete Mike. »Aber das Wissen, das sie bedeutet. Glaubst du denn, sie würden sich damit zufriedengeben, sie zu bewundern oder in ein Museum stellen? Ich will dir sagen, was sie tun werden: Ganze Heerscharen von Wissenschaftlern und Ingenieuren würden über sie herfallen und ihr nach und nach alle Geheimnisse entreißen. Und sie würden sie mißbrauchen, um neue Waffen und neue Kriegsmaschinen zu konstruieren. Mein Vater hat das gewußt, und deshalb hat er das Schiff hierher gebracht!«

»Aber er hat es nicht zerstört!« beharrte Ben.

»Nein. Aber er hat ganz bestimmt nicht gewollt, daß es in die Hände machthungriger Verrückter fällt!« antwortete Mike heftig. Er ließ ganz bewußt offen, ob er damit nun Winterfelds oder Bens Leute meinte.

»Das Schiff muß zerstört werden«, sagte er noch einmal schweren Herzens. Dabei erfüllte ihn der Gedanke mit Entsetzen. Dieses unglaubliche Schiff hatte all die Jahre hindurch hier gelegen und auf ihn gewartet - nur damit er kam und den Befehl zu seiner Zerstörung gab. Doch es mußte sein. Und wahrscheinlich war es gut, daß er diese Entscheidung so schnell treffen mußte, denn er war gar nicht sicher, daß sie genauso ausgefallen wäre, hätte er Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Er glaubte plötzlich zu verstehen, warum sein Vater die NAUTILUS nicht zerstört hatte. Das Schiff stellte nicht nur eine ungeheuerliche Macht, sondern auch eine ebenso große Verlockung dar. Mike war nicht sicher, daß er ihr wirklich widerstehen konnte, wenn er ihr lange ausgesetzt war. Vielleicht konnte das niemand.

»Also los«, sagte er. »Gehen wir.«

»Wohin denn?« fragte Ben. »Wollt ihr vielleicht nach Hause schwimmen?«

»Winterfeld wird euch nach Hause bringen«, sagte Singh.

»Winterfeld?« Ben kreischte fast. »Bist du verrückt? Er wird uns umbringen!«

»Das wird er nicht«, antwortete Mike an Singhs Stelle. »Wenn die NAUTILUS zerstört ist, gibt es keinen Grund mehr für ihn, uns gefangenzuhalten.«

»Er kann es sich gar nicht leisten, uns laufenzulassen«, widersprach Ben. »Immerhin hat er uns entführt und auf uns geschossen. Wir würden alles erzählen.«

»Und wer würde uns glauben?« fragte Mike ruhig. Er deutete auf das Schiff. »Glaubst du wirklich, ein Mensch auf der Welt würde uns glauben, was wir hier gefunden haben?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Und selbst wenn - Winterfeld ist vielleicht unser Feind, aber kein Mörder.«

Er wandte sich an Singh. »Was ist mit Trautman?«

»Er bleibt hier«, antwortete der Sikh.

Mike empfand ein Gefühl tiefer Trauer, aber er sagte nichts. Die NAUTILUS war alles für Trautman gewesen. Während der letzten fünfzehn oder vielleicht auch mehr Jahre hatte sein Leben keinen anderen Sinn gehabt, als den, über das Schiff zu wachen. Wenn es die NAUTILUS nicht mehr gab, dann hatte auch sein Leben jeden Inhalt verloren.

»Willst du dich nicht von ihm verabschieden?« fragte er.

Singh sah schweigend zu der Tür, hinter der Trautman verschwunden war. Dann schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht nötig«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, daß er das will.«

»Mir kommen gleich die Tränen«, sagte Ben. »Ihr zwei müßt vollkommen übergeschnappt sein, wißt ihr das? Habt ihr überhaupt eine Ahnung, welchen Schatz ihr da vernichten wollt?«

Mike antwortete nicht darauf. »Gehen wir«, sagte er nur.

Sie wandten sich um und bewegten sich schweigend auf die Treppe zu, doch nach ein paar Schritten blieb André plötzlich stehen und fragte: »Wo ist Miß McCrooder?«

Auch Mike hielt inne und sah sich überrascht um, und noch bevor er sich selbst davon überzeugen konnte, daß Miß McCrooder tatsächlich nicht mehr bei ihnen war, sagte Ben: »Viel interessanter finde ich die Frage: Wo ist Paul?«

Einige Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Mike suchte jeden Winkel und jeden Schatten mit Blicken ab. Schließlich fuhr Ben fort: »Dein Freund ist abgehauen. Wahrscheinlich ist er längst unterwegs zu seinem Vater, um ihm den Weg hierher zu zeigen!«

Mike sah ihn betroffen an. Er weigerte sich noch immer zu glauben, daß es so war, aber die Tatsachen sprachen ihre eigene Sprache. Mike hätte vor Zorn und Enttäuschung am liebsten laut aufgeschrien. Er konnte es nicht fassen, daß Paul sie tatsächlich verraten haben sollte!

»Damit kommt er nicht durch!« sagte Ben entschlossen. »Er hat nur ein paar Minuten Vorsprung. Los, wir schnappen ihn uns!«

Mike wurde einfach mitgerissen, als sie losstürmten und hintereinander die Treppe hochpolterten. Sie kam ihm viel steiler vor als auf dem Weg nach unten, und auch viel länger. Mit Ausnahme Singhs waren sie alle außer Atem, ehe sie auch nur den halben Weg hinter sich gebracht hatten. Sie wurden immer langsamer - und blieben schließlich ganz stehen, kurz, bevor sie das Ende der Treppe erreichten. Allerdings nicht vor Erschöpfung oder Schwäche.

Wo vorher ein offener Durchgang gewesen war, da verwehrte ihnen nun eine Barriere aus Trümmern, Holz, Steinen und allerlei Abfällen den Weg. Sie war sichtbar in aller Hast errichtet worden und machte keinen sonderlich massiven Eindruck - aber als Mike als erster an dem Hindernis zu rütteln begann, drohte der ganze Trümmerberg ins Wanken zu geraten und auf sie herabzustürzen.

Singh schob Mike mit sanfter Gewalt zur Seite, bedeutete ihm und den anderen aber gleich darauf, ihm zu helfen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Hindernis aus dem Weg zu räumen, aber sie mußten sehr vorsichtig sein, damit ihnen der ganze Kram nicht auf die Köpfe fiel, was auf der Treppe fatale Folgen gehabt hätte. So verloren sie weitere wertvolle Zeit, in der Pauls Vorsprung abermals wuchs.

Weit genug, wie sich zeigte. Sie stürmten weiter, kaum daß sie so viele Trümmer aus dem Weg geräumt hatten, um sich durch die entstandene Öffnung zu quetschen. Mit Riesenschritten durchquerte Singh die Maschinenhalle und jagte zum Strand hinunter. Mike und die anderen folgten ihm dicht auf den Fersen.

Sie kamen zu spät. Die Segeljacht lag nicht mehr dort, wo sie sie zurückgelassen hatten, sondern hatte sich schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt, und sie schwenkte genau in diesem Moment herum und richtete den Bug auf die Mitte des Sees aus. Das große Segel hing schlaff vom Mast, aber Mike hörte das Tuckern des kleinen Motors, mit dem Paul das Boot in Bewegung gesetzt hatte.

Singh rannte, so schnell er konnte. Er stürmte den Strand hinunter und ins Wasser hinein, und für einige Augenblicke sah es sogar fast so aus, als könne er die Jacht noch einholen.

Doch auch das Schiff wurde schneller, und Singh würde das Rennen verlieren. Singh watete weiter, so rasch er konnte, warf sich schließlich nach vorne und versuchte, das Schiff mit kraftvollen Kraulbewegungen zu erreichen. Für einige Augenblicke hielt er sogar mit dessen Tempo mit, doch im Gegensatz zu ihm kannte der Motor des Schiffes keine Erschöpfung, während Singhs Kräfte rasch erlahmten. Schließlich gab er es auf. Einige Augenblicke lang verharrte er noch wassertretend auf der Stelle, dann machte er kehrt und kam zu ihnen zurückgeschwommen.

Auch Mike und die anderen waren bis an die Hüften ins Wasser hineingewatet. Mit vereinten Kräften halfen sie dem völlig erschöpften Sikh ans Ufer zurück.

»Dieser verdammte Verräter!« schimpfte Ben. »Ich habe ihm nie getraut, aber ihr habt ja nicht auf mich gehört!«

Die Worte trafen Mike wie Hiebe. Er konnte es nicht glauben, daß er sich so sehr in Paul getäuscht haben sollte; auch wenn er soeben gesehen hatte, was geschah. In seinen Augen war plötzlich ein heißes Brennen.

»Hoffentlich läuft er auf den Riffen auf und ersäuft, ehe sie ihn auffischen können«, fuhr Ben haßerfüllt fort. »Vielleicht fressen ihn ja auch die Fische.«

»Dann müßten sie schon an Land kommen«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Überrascht fuhren sie herum - und nicht nur Mikes Augen weiteten sich ungläubig, als er die Gestalt erblickte, die sich taumelnd und die rechte Hand gegen die Schläfe gepreßt aus dem Unterholz hinter ihnen erhob.

»Es tut richtig gut, wenn man hört, wie beliebt man ist«, sagte Paul gepreßt. Ein wenig Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und lief über sein Gesicht. Als er auf sie zukam, stolperte er und wäre beinahe wieder gestürzt.

»Paul!« murmelte Mike fassungslos. »Du? Aber wer ist dann -?!«

»Na, wer fehlt denn noch?« murmelte Paul. »Dreimal darfst du raten.«

Mike verstand nichts mehr. Die Antwort auf Pauls Frage war klar, aber das war doch... »Unmöglich!« flüsterte er. »Miß McCrooder?«

»Ich habe gemerkt, daß sie sich davonschlich!« bestätigte Paul, »und bin ihr nach. Als ich sah, daß sie auf die Jacht wollte, habe ich sie zur Rede gestellt.«

»Und?« fragte Ben.

»Und?« Paul zog eine Grimasse und nahm die Hand herunter, und sie konnten sehen, daß über seinem rechten Auge eine kleine Platzwunde entstanden war. Die Haut darunter schimmerte dunkelviolett. In spätestens einer Stunde würde er eine gewaltige Beule haben. »Sie hat einen Stein aufgehoben und mir eins übergezogen. Schlaumeier!« sagte er, ganz bewußt Bens Lieblingsausdruck benutzend.

»Das ... das glaube ich nicht«, antwortete Ben verstört.

Paul grinste hämisch. »Recht hast du«, sagte er. »In Wahrheit habe ich Miß McCrooder umgebracht und ihre Leiche irgendwo im Dschungel verscharrt. Und auf dem Schiff da fährt einer der Männer meines Vaters, den ich mit an Bord geschmuggelt habe. Ich wundere mich eigentlich, daß ihr ihn nicht längst entdeckt habt. Ich hatte ihn in der rechten Hosentasche, weißt du?«

»Aber Miß McCrooder«, stammelte Mike. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«

Paul musterte erst das Blut auf seiner Hand, dann ihn finster. »Glaub es ruhig«, grollte er. »Oder laß es meinetwegen. Ich schätze, sehr bald kannst du sie selbst fragen - auf der LEOPOLD.«

»Dann war sie der Verräter«, sagte Ben grimmig. »Ich hatte also recht! Wir hatten einen Verräter unter uns. Sie hat die ganze Zeit für Winterfeld gearbeitet. Von Anfang an!«

»Ja, und du könntest dich jetzt vielleicht bei Paul entschuldigen«, sagte Juan. Bens Antwort bestand nur aus einem bösen Blick. Er gehörte eindeutig nicht zu den Menschen, die sich jemals für irgend etwas entschuldigten.

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, mischte sich Singh ein. Er hatte sich wieder weit genug erholt, um aufstehen zu können. »Wir müssen zurück zu Trautman. Schnell!«

»Aber warum denn?« fragte Mike.

»Er darf die NAUTILUS nicht vernichten!« antwortete Singh, während er sich bereits umwandte. »Folgt mir - rasch!«

Mike setzte zu einer neuerlichen Frage an, aber Singh rannte bereits los - und trotz seiner Erschöpfung so schnell, daß er schon nach wenigen Augenblicken in der Maschinenhalle verschwunden war.

»Was ist denn mit dem los?« wunderte sich André. »Erst will er das Schiff mit aller Gewalt in die Luft jagen, und dann tut er so, als hinge unser Leben davon ab, daß es nicht passiert.«

»Winterfelds Leute werden nun früher hiersein, als wir es erwartet haben«, sagte Juan. »Die McCrooder zeigt ihnen garantiert die Passage.«

»Und?« fragte André. »Um so besser. Dann holen sie uns eben etwas eher von dieser Insel ab. Wo ist der Unterschied?«

Niemand wußte eine Antwort darauf - aber Mike hatte plötzlich ein sehr, sehr ungutes Gefühl. Irgend etwas sagte ihm, daß es einen Unterschied gab. Und daß vielleicht ihr Leben davon abhing.

Singh hatte Trautman längst erreicht, als sie zurück in den unterirdischen Hafen kamen, in dem die NAUTILUS lag. Die Höhle hatte sich verändert - unter der Decke war eine Anzahl großer Lampen angegangen, die das Wasser und den gigantischen Rumpf des Unterseebootes in blendend helles Licht tauchten, und Mike glaubte ein ganz sachtes Vibrieren zu spüren, als wären tief unter ihren Füßen gewaltige Maschinen angelaufen. Trautman und der Sikh standen unweit des Schiffes und unterhielten sich heftig gestikulierend miteinander. Beide waren einer Panik nahe.

Singh unterbrach seine Rede, als Mike und die anderen hereinkamen. Ein einziger Blick in seine Augen reichte Mike, um zu wissen, daß er nicht mehr rechtzeitig gekommen war.

»Zu spät!« stellte er fest.

Singh nickte. »Um eine Minute. Der Zerstörungsmechanismus ist in Gang gesetzt, und keine Macht der Welt kann ihn jetzt noch aufhalten.«

Ein eisiges Frösteln lief über Mikes Rücken. Er wandte sich zur NAUTILUS um und ließ seinen Blick über die schimmernden Panzerplatten ihres Rumpfes gleiten. Sie lag unverändert und unbeschädigt vor ihnen, und für einen Moment weigerte er sich einfach, Singhs Worte zu glauben.

»Dann sollten wir nicht hier rumstehen, sondern verschwinden, ehe uns das ganze Schuf um die Ohren fliegt«, sagte Ben schließlich. »Wieviel Zeit bleibt uns?«

»Zwei Stunden«, antwortete Trautman. »Vielleicht drei, aber auf keinen Fall mehr.«

»Worauf warten wir dann noch?« fragte Ben.

Singh seufzte. Er schloß die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief ein, ehe er antwortete: »Es ist nicht die NAUTILUS, die zerstört wird, Ben.«

»Nicht die NAUTILUS?« Ben blinzelte. »Aber was denn -«

»Die ganze Insel wird untergehen«, sagte Trautman.

»Die ... ganze Insel?« stammelte Ben. »Was zum Teufel soll das heißen? Das ist doch unmöglich!«

»Das ist es nicht«, sagte Trautman ernst. Er machte eine weit ausholende Geste. »Diese Insel ist der Gipfel eines unterseeischen Vulkans. Er ist erloschen, schon vor Tausenden von Jahren, und sein Krater hat sich mit Wasser gefüllt. Aber tief unter unseren Füßen ist seine Glut noch so heiß wie am ersten Tag.«

»Und?« fragte Ben. Seine Stimme schwankte. »Was hat das mit der NAUTILUS zu tun?«

Trautman wandte sich direkt an Mike. »Dein Vater sah eine Gefahr wie diese voraus. Die NAUTILUS nur zu versenken hätte wenig Sinn. Sie würden sie heben, ganz egal, wie lange es dauert. Und selbst ihr Wrack stellt noch eine ungeheure Gefahr dar. Also ließ er tiefe Schächte bohren, Schächte, die bis zum Lavakern der Insel hinabreichen.« Er schwieg kurz. Dann fuhr er leise fort: »Ich habe diese Schächte geöffnet. Das Wasser des Meeres wird in die Tiefe fließen und mit der Lava zusammentreffen. Die Dampfexplosion wird die ganze Insel vernichten.«

»Aber das ... das ist doch Wahnsinn!« krächzte Ben. »Ihr seid doch alle verrückt!«

»Die Zeit hätte gereicht«, verteidigte sich Singh. »Zwei Stunden sind mehr als genug, um zur LEOPOLD zurückzukehren und Winterfeld zu warnen. Niemand konnte ahnen, daß das Schiff nicht mehr da sein würde.«

»Sie müssen es aufhalten!« verlangte Ben. »Das darf nicht geschehen. Sie müssen ... irgend etwas tun. Schalten Sie es ab.«

»Das kann ich nicht, Junge«, sagte Trautman traurig. »Niemand kann das jetzt noch.«

»Was ist mit der NAUTILUS?« fragte Mike.

Trautman runzelte die Stirn. »Was soll damit sein?«

»Ich meine: Ist sie in Ordnung?« fragte Mike. »Ist sie seetüchtig?«

»Wir könnten versuchen, damit zu fliehen«, nahm Juan den Gedanken auf.

»Das ist unmöglich«, antwortete Trautman. »Ich habe es euch doch gesagt. Der Kanal ist versperrt. Wir kämen niemals hier heraus, selbst wenn wir das Schiff flottbekommen. Und ich bin nicht sicher, daß es mir gelingt. Immerhin hat sie sich seit zwanzig Jahren nicht mehr bewegt.«

»Aber es ist eine Chance!« beharrte Mike. »Vielleicht ... vielleicht können wir den Felsen einfach beiseiteschieben. Dieses Schiff ist ungeheuer groß!«

»Der Felsen ist größer«, antwortete Trautman ruhig. »Nicht einmal die NAUTILUS kann einen Berg zur Seite schieben. Wir würden umkommen.«

»Hier kommen wir auf jeden Fall um!« sagte Juan. Er deutete auf Mike. »Er hat recht. Ich bin auch dafür, es wenigstens zu versuchen. Wo ist der Unterschied, ob wir dabei getötet werden oder hier warten, bis die ganze Insel explodiert?«

Trautman schwieg.

»Bitte, Trautman! Vielleicht ... vielleicht sprengt der Vulkanausbruch den Felsen weg, ehe der ganze Tunnel über uns zusammenbricht. Ich weiß, das ... das ist eine verzweifelte Hoffnung. Vielleicht haben wir nur eine Chance von eins zu hundert, aber das ist immer noch mehr, als wir hier haben.«

»Ich würde Tage brauchen, um das Schiff seetüchtig zu machen«, antwortete Trautman. »Ganz davon abgesehen, daß die NAUTILUS eine ausgebildete Besatzung braucht. Wahrscheinlich würden wir einfach sinken, selbst wenn es uns gelänge, die Insel zu verlassen.«

»Dann sinken wir eben!« sagte Mike; nein - er schrie es fast. Er war der Verzweiflung nahe. »Trautman, das ist unsere einzige Chance! Bitte!«

Einige Sekunden vergingen, ohne daß Trautman antwortete. Er blickte Mike nur an, und in seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Aber Mike konnte den lautlosen Kampf, der sich in ihm abspielte, deutlich in seinen Augen lesen. Und schließlich nickte Trautman. »Also gut«, sagte er. »Versuchen wir es.«

Die zwei Stunden, von denen Trautman gesprochen hatte, waren nahezu vorbei. Die Insel war nicht mehr ruhig. Das Vibrieren und Zittern des Bodens, über dessen wahre Bedeutung sich Mike im ersten Moment so völlig getäuscht hatte, hatte zugenommen. Das Wasser, in dem die NAUTILUS lag, zitterte und wogte ununterbrochen, und manchmal lösten sich Steine und kleinere Felsbrocken von der Decke und fielen zu Boden. Wenn sie die NAUTILUS trafen, dröhnte der gewaltige stählerne Leib des Schiffes wie unter einem Kanonenschuß. Vor einigen Minuten hatte sich ein Brocken aus der Decke gelöst, der groß genug gewesen wäre, selbst das mächtige Schiff zu beschädigen. Er hatte die NAUTILUS verfehlt und nur ein gewaltiges Stück aus dem Felsenufer gebissen, aber Mike hatte die Warnung verstanden. Ihre Zeit lief ab.

Sie hatten sich im Turm der NAUTILUS versammelt, und Trautmans Hände umschlossen das große Steuerrad so fest, als wolle er es zerbrechen. Es war sehr eng in der kleinen Kammer, die eigentlich nur für den Steuermann und höchstens noch einen Assistenten gedacht war, aber niemand machte auch nur den Vorschlag, hinunter in das Schiff zu steigen, wo Platz für hundert oder mehr Menschen gewesen wäre.

Mike spürte eine sonderbare Erregung, die nichts mit der Furcht vor dem, das sie erwarten mochte, zu tun hatte. Er kam sich immer mehr wie in einem Traum gefangen vor. Vor wenigen Stunden noch hatte er nicht einmal gewußt, daß es dieses Schiff gab, und nun erwachte die NAUTILUS unter Trautmans Händen wieder zum Leben. Und selbst, wenn sie es nur tat, um in wenigen Minuten endgültig zerstört zu werden - es war ein erhebendes Gefühl, das mit Worten kaum zu beschreiben war.

Während der letzten beiden Stunden hatten sie die NAUTILUS von einem Ende zum anderen durchstreift und unter Trautmans und Singhs Anleitung Tausende von Dingen getan, die sie zum größten Teil nicht einmal begriffen. Aber das Wunder, das keiner von ihnen ernsthaft zu erhoffen gewagt hatte, war geschehen: So alt und verstaubt, wie das Schiff war, es war mit jedem Hebel, den sie umlegten, jedem Schalter, den sie betätigten, jedem Ventil, das sie öffneten, ein Stückchen mehr zum Leben erwacht, und jetzt erfüllte das unheimliche Summen und Stampfen der gewaltigen Motoren den Rumpf wie das Wispern unsichtbarer elektrischer Geister. Nach mehr als zwanzig Jahren war die NAUTILUS wieder aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, um noch einmal in See zu stechen. Vielleicht zum letzten Mal.

Das Summen der Motoren wurde ein wenig lauter, und etwas änderte sich im Takt der Wellen, die gegen den stählernen Rumpf der NAUTILUS schlugen. Mikes Herz begann zu hämmern.

Langsam, wie ein großes, eisernes Tier, das aus einem tiefen Schlaf erwachte und nur allmählich seine Kräfte wieder zu entdecken begann, setzte sich die NAUTILUS in Bewegung. Trautman betätigte einen Schalter, und an ihrem Bug flammte ein gewaltiger Scheinwerfer auf, der den Tunnel vor ihnen erhellte. Mike sah, daß sich die Decke des Stollens vor ihnen senkte, bis sie in einer Entfernung von zwei- oder dreihundert Metern beinahe das Wasser berührte. Irgendwo, noch viel, viel weiter entfernt, schimmerte ein winziger Fleck Tageslicht.

Allmählich wurde das Schiff schneller. Gleichzeitig sank es ein wenig tiefer, so daß die Wellen bald über dem Rumpf zusammenzuschlagen begannen. Trautman hatte ihnen erklärt, daß sie nicht wirklich tauchen konnten; dazu waren umfangreiche Vorbereitungen nötig und eine Mannschaft, die wußte, was sie tat, und nicht einfach nur auf Befehl ein paar Hebel umlegte. Aber der freie Spalt zwischen der Tunneldecke und dem Wasser war gerade hoch genug, den Turm des Schiffes hindurchzulassen.

Ein dumpfes Grollen drang an Mikes Ohr. Er fuhr erschrocken zusammen, als Steine und Felsbrocken wie Hagel rings um das Schiff ins Wasser schlugen; einige trafen die NAUTILUS, und das ganze Schiff begann wie eine riesige Glocke zu dröhnen. Die Insel war dabei, über ihren Köpfen zusammenzubrechen. Mike betete still, daß die Zeit reichte, um das Ende des Tunnels zu erreichen.

Die NAUTILUS wurde wieder schneller. Für einige Augenblicke pflügte sie wie ein Torpedo durch den Tunnel, und der helle Fleck an seinem Ende wuchs zu einem Halbkreis heran. Dann nahm Trautman das Tempo wieder zurück. Und einen Augenblick später sahen sie den Felsen.

Mike hätte vor Enttäuschung beinahe aufgestöhnt. Der Tunnel führte direkt auf das freie Meer hinaus, ganz wie Trautman gesagt hatte. Der Himmel draußen war nicht mehr blau. Unmittelbar über der Insel spiegelte sich roter Feuerschein am Firmament, und ein feiner Aschenregen ging auf das Wasser nieder. Mike konnte einen Teil einer mächtigen, schwarzgrauen Rauchwolke erkennen, die fast senkrecht in den Himmel stieg. Der Kratersee und die alte Stadt mußten bereits vernichtet worden sein. Der Vulkan hatte wieder angefangen, Feuer zu speien. Wie durch ein Wunder war der Tunnel bisher noch nicht verschüttet worden, und wie durch eine besonders grausame Laune des Schicksals versperrte der Felsen die Ausfahrt nicht völlig, sondern ragte wie ein steinerner Speer schräg von unten aus dem Wasser, gerade weit genug, um ein Schiff, das nur etwas kleiner gewesen wäre, hindurchzulassen. Für den stählernen Giganten aber stellte er eine unüberwindliche Barriere dar.

Trautman ließ das Schiff allmählich langsamer werden und hielt schließlich ganz an. Das vordere Drittel der NAUTILUS ragte bereits aus der Höhle heraus. Die Rettung lag zum Greifen nahe vor ihnen.

»Und wenn wir ihn einfach rammen?« fragte Juan.

Trautman schüttelte den Kopf. »Er würde unseren Rumpf aufreißen wie ein Messer«, sagte er. »Die Panzerplatten halten viel aus, aber sie sind nicht unzerstörbar.«

Ein dumpfer Schlag ging durch die Insel. Die NAUTILUS erbebte, und wieder regneten Felstrümmer rings um sie herum ins Wasser. Mike glaubte ein furchtbares Mahlen und Knirschen zu hören, das direkt aus den Tiefen des Meeres zu ihnen heraufdrang, und für einen Moment meinte er die unvorstellbaren Kräfte geradezu zu spüren, die sich tief unter ihnen zusammenballten, um die Insel in einer einzigen ungeheuerlichen Explosion vom Antlitz der Erde zu tilgen.

»Aber es muß einen Weg geben!« beharrte Juan.

»Vielleicht«, murmelte Trautman. Er fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn. Sein Blick huschte über die salzverkrusteten Flanken des Felsens, der die Zufahrt versperrte. »Vielleicht gibt es eine Chance. Wenn wir Anlauf nehmen und mit voller Kraft gegen den Felsen fahren, kommen wir vielleicht vorbei.«

»Sie meinen, er wird zerbrechen?«

»Ich meine, daß die NAUTILUS zerbrechen würde«, antwortete Trautman ruhig. »Ihre Flanke wird von vorne bis hinten aufreißen. Habt ihr alle Schotten geschlossen, wie ich es euch gesagt habe?«

Alle nickten, und Trautman fuhr fort: »Dann haben wir eine Chance. Vielleicht reicht dann der Schwung, uns an dem Felsen vorbeizutragen.«

»Aber das Schiff wird sinken wie ein Stein!« protestierte Ben.

»Nicht sofort«, widersprach Trautman. »Es wird sinken, aber nur langsam. Die Schotten halten dem Wasserdruck vielleicht lange genug stand, daß ihr von Bord gehen könnt. Mit ein wenig Glück fischt euch die LEOPOLD auf.«

»Uns?« fragte Juan. »Und was ist mit Ihnen?«

»Ich gehöre hierher«, antwortete Trautman ernst. »Ich könnte nirgendwo sonst leben. Aber ihr seid zu jung, um so sinnlos zu sterben. Wir müssen es riskieren.«

Er drückte einige Schalter, und die NAUTILUS begann langsam wieder in den Tunnel zurückzugleiten, um Anlauf zu ihrem verzweifelten Ausbruchsversuch zu nehmen. Plötzlich hatte Mike Angst, schreckliche Angst. Sie alle hatten das Risiko gekannt, und doch war er für einen Moment nahe daran, einfach in Panik auszubrechen. Vor seinen Augen stieg eine entsetzliche Vision auf: Er sah die NAUTILUS, mit zerborstenen, aufgeschlitzten Flanken, durch die das Wasser hereinsprudelte, hilflos eingeklemmt zwischen der Insel und dem Felsen, während der Himmel über ihnen Feuer fing und Glut und Felsen auf sie herabregneten.

»Halt!« sagte Singh plötzlich. »Halten Sie an, Trautman! Dort! Sehen Sie doch!«

Alle fuhren erschrocken herum und blickten durch das Fenster hinaus in die Richtung, in die Singhs ausgestreckte Hand deutete, während Trautman das Schiff hastig wieder zum Stehen brachte.

Hinter dem Felsen erschien ein grauer Koloß. So dicht, wie es gerade noch möglich war, ohne den gefahrlichen Riffen zu nahe zu kommen, stampfte die LEOPOLD um die Insel herum und hielt mit voller Fahrt auf den Ausgang des Tunnels zu!

»Was -?!« begann Trautman überrascht.

Seine Worte gingen in einem dumpfen Knall unter. Eine weiße Rauchwolke löste sich vom Bug des Kriegsschiffes, und einen Sekundenbruchteil später hörten sie alle das ihnen schon bekannte, furchtbare Heulen, das rasend schnell lauter wurde.

»Sie schießen!« schrie Ben. »Diese Wahnsinnigen schießen auf uns!«

Aber die Granate traf nicht die NAUTILUS. Plötzlich zerbarst das Meer direkt neben dem Felsen in einer gigantischen, weißen Schaumexplosion, und die Gischt hatte sich noch nicht wieder gelegt, als die LEOPOLD einen zweiten Schuß abgab und gleich darauf einen dritten. Diese beiden lagen genauer im Ziel. Steintrümmer und Funken stoben in alle Richtungen davon, als die Geschosse den Felsen trafen.

»Sie ... sie feuern auf den Felsen«, flüsterte Trautman fassungslos. »Großer Gott, sie versuchen den Felsen wegzusprengen!«

Und genau das war es, was das Kriegsschiff tat. Die LEOPOLD feuerte Breitseite auf Breitseite auf den Felsen. Die Welt vor dem Tunnelausgang versank in einem Chaos aus Flammen und Rauch und herumfliegenden Felstrümmern, und die Geschütze feuerten immer noch weiter. Und so riesig der Felsen auch war - am Ende gab er unter der Gewalt der Explosionen nach. Durch einen Vorhang aus kochender Gischt und Flammen hindurch beobachteten sie, wie der steinerne Koloß wankte, plötzlich von einem Riß der Länge nach gespalten wurde - und fiel!

»Haltet euch fest!« schrie Trautman.

Die NAUTILUS machte einen regelrechten Satz. Ihre Maschinen brüllten auf, und plötzlich schien das Wasser auch hinter ihrem Heck von einer Explosion zerrissen zu werden. Wie ein Torpedo schoß die NAUTILUS aus dem Tunnel heraus. Ein furchtbarer Schlag traf den Rumpf, als sie die Reste des zerborstenen Felsens streifte, und Mike glaubte zu spüren, wie irgendwo unter ihren Füßen etwas zerbrach. Doch das furchtbare Geräusch hereinströmenden Wassers, auf das er wartete, kam nicht. Statt dessen bäumte sich die NAUTILUS auf, schoß für einen Moment regelrecht aus dem Wasser heraus und krachte mit einem Schlag zurück, der sie allesamt von den Füßen riß und Trautman gegen das Ruder warf.

Und dann waren sie an der Barriere vorbei. Vor der NAUTILUS lag die offene See, und noch während sich Mike benommen aufzurichten versuchte, griff Trautman wieder nach dem Ruder und riß es herum.

Während hinter ihnen die Vergessene Insel in Feuer und Rauch explodierte, schoß die NAUTILUS mit rasch wachsender Geschwindigkeit auf das offene Meer hinaus.

»Findest du nicht, daß du dich jetzt wenigstens entschuldigen könntest?« fragte Juan.

Die Worte galten Ben, der zusammen mit ihnen auf das Deck der NAUTILUS hinausgetreten war. Vielleicht zum ersten Mal, solange Mike den Engländer kannte, sah er ihn ein wenig in Verlegenheit.

Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Im Osten kroch bereits die Dämmerung über den Horizont, aber es war der bizarrste Sonnenuntergang, den Mike jemals erlebt hatte - der Himmel färbte sich rot, aber es war ein Leuchten, das aus dem Wasser emporstieg. Die Insel war auseinandergebrochen und im Meer versunken, nicht einmal eine Viertelstunde, nachdem sie den Tunnel verlassen und beobachtet hatten, wie auch die LEOPOLD hastig beidrehte und sich aus der Gefahrenzone brachte, doch das Feuer schien unter der Meeresoberfläche weiterzubrennen. Selbst hier, in einer Entfernung von sicherlich zwanzig Meilen, spürten sie noch einen warmen Hauch, der mit dem Wind herantrieb. Die Gewalten, die Trautman entfesselt hatte, hatten sich noch lange nicht wieder beruhigt.

»Komm schon«, fuhr Juan fort, »benimm dich ausnahmsweise wie ein Mann.«

Ben biß sich auf die Lippen und starrte finster zu Boden. Paul war bereits in das kleine Boot gestiegen, das in einer entsprechenden Vertiefung am Heck der NAUTILUS vertäut war, und eigentlich gab es keinen Grund mehr für ihn, zu warten. Mike warf einen Blick nach Westen und stellte fest, daß die LEOPOLD nicht mehr sehr weit entfernt war. Sie lief mit voller Kraft auf sie zu und würde sie in spätestens zehn Minuten eingeholt haben. Aber dann würden sie nicht mehr an dieser Stelle sein.

»Nun mach schon«, sagte, auch André. »Wenn er nicht bei uns gewesen wäre, wären wir vielleicht alle tot.«

»Ich weiß«, murrte Ben widerwillig. »Also gut: Es tut mir leid. Ich habe mich wie ein Idiot benommen.«

Paul sah überrascht drein, als Ben plötzlich auf ihn zutrat und die Hand ausstreckte.

»Entschuldige«, sagte Ben. »Ich habe mich getäuscht.« Plötzlich grinste er über das ganze Gesicht und fügte hinzu: »Aber ich traue dir noch immer nicht.«

Paul sah eine Sekunde lang ziemlich hilflos drein und begann dann schallend zu lachen. Ben und die anderen stimmten in dieses Lachen ein, und schließlich trat Ben zurück, um Mike Platz zu machen. Auch die drei anderen Jungen zogen sich einige Schritte weit zurück, damit die beiden sich voneinander verabschieden konnten.

Mike trat zu seinem Freund, aber plötzlich fielen ihm die Worte, die er sich doch so sorgsam zurechtgelegt hatte, nicht mehr ein. Er konnte nichts anderes tun, als einfach dazustehen und Paul anzusehen, und auch Paul schien es nicht anders zu ergehen. Ein Abschied war immer eine schwierige Sache - aber dieser Abschied tat weh.

»Du ... du willst es dir nicht noch einmal überlegen und bei uns bleiben?« fragte er schließlich.

Ein Schatten huschte über Pauls Gesicht. »Das geht nicht, Mike«, sagte er. »Mein Vater würde nicht aufgeben, bis er mich gefunden hat. Und außerdem gehöre ich zu ihm.«

Pauls Vater hatte aus dem einzigen Grund alle seine Befehle ignoriert und der NAUTILUS dabei geholfen, die Insel zu verlassen, statt sie zu kapern oder zu versenken, weil er seinen Sohn an Bord des Schiffes wußte, und er würde um nichts in der Welt zulassen, daß sie ihn mit sich nahmen. Und der wichtigste Grund war genau der, den Paul ihm genannt hatte: er gehörte dorthin, nicht zu ihnen. Wo immer sie hingehen mochten. Plötzlich spürte Mike einen harten, bitteren Kloß im Hals. Das Sprechen fiel ihm schwer.

»Dann verschwinde jetzt«, sagte er. »Und grüße deinen Vater von mir. Wenn er nicht gewesen wäre, wären wir jetzt wahrscheinlich alle tot.«

»Er wird nicht aufgeben, euch zu jagen«, sagte Paul.

»Ich weiß«, antwortete Mike. »Aber wir passen schon auf uns auf. Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder.«

Paul antwortete nicht, sondern drehte sich nach einigen Sekunden wortlos herum, löste das Tau, das das kleine Schiffchen hielt, und stieß sich an der Bordwand ab. Mike sah ihm nach, bis das Boot zu einem kleinen Punkt auf den Wellen geworden war, der immer weiter zusammenschrumpfte.

Plötzlich bemerkte er, daß Paul nicht auf die LEOPOLD zuhielt, wie sie verabredet hatten, sondern einen Kurs einschlug, der nahezu im rechten Winkel von der NAUTILUS wegführte; ein letzter Freundschaftsdienst, den Paul ihnen erwies, denn auf diese Weise war sein Vater gezwungen, den Kurs seines Schiffes zu ändern, um seinen Sohn aufzufischen, was ihnen einen weiteren Vorsprung verschaffte. Mike lächelte dankbar. Vielleicht würde er Paul nie wiedersehen, aber er wußte, daß sie für den Rest ihres Lebens Freunde bleiben würden, ganz egal, was geschah. Und das war vielleicht das Wertvollste, das es auf der ganzen Welt gab.



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