Mike sah mit einer Mischung aus Verblüffung und Fassungslosigkeit zu, wie sich nach und nach nicht nur Männer, sondern auch Kinder und selbst Frauen und Alte an der allgemeinen Massenkeilerei zu beteiligen begannen, wobei es mittlerweile völlig egal zu sein schien, worum es ging. Möglicherweise wäre am Ende tatsächlich der ganze Ort in diesen Kampf hineingezogen worden, wäre nicht endlich Weisser wieder aus der Hütte hervorgetreten.

Er erfaßte die Lage mit einem einzigen Blick, griff rasch unter seine Jacke und zog eine Pistole hervor, um einen einzelnen Schuß in die Luft abzugeben. Die Wirkung war erstaunlich. Der Kampf endete sofort. Die Eingeborenen ließen auf der Stelle voneinander ab und sprangen erschrocken auf, und selbst die, die noch nicht an dem Handgemenge beteiligt gewesen waren, wichen erschrocken beiseite, als Weisser mit weit ausgreifenden, zornigen Schritten auf die Kampfhähne zu eilte. Er hatte seine Waffe wieder eingesteckt, was Mike nicht sofort verstand. Aber dann wurde ihm klar, daß diese Pistole Weisser ohnehin nichts genutzt hätte. Aber allein sein Auftauchen erfüllte die Eingeborenen mit einer Mischung aus Respekt und Furcht, die viel nachhaltiger war, als es die bloße Angst vor einer Waffe hätte sein können.

Weisser erreichte den Kampfplatz, fand zielsicher die beiden Männer heraus, die mit dem Streit angefangen hatten, und begann in ihrer Sprache auf sie einzureden. Anders als sie schrie er nicht, aber seine Stimme war so scharf, daß Mike sie trotz der großen Entfernung deutlich hören konnte. Obwohl die beiden Eingeborenen ein gutes Stück größer waren als Weisser, duckten sie sich unter seinen Worten wie geprügelte Hunde, und als er schließlich eine herrische Handbewegung machte, fuhren sie herum und hatten es sehr eilig, in entgegengesetzter Richtung in der Menschenmenge zu verschwinden.

Was Weisser auch wirklich sein mochte -jetzt hatte Mike begriffen, daß er alles andere als ein Gast wie sie war und über gewaltigen Einfluß bei den Eingeborenen hier verfügte.

Als Mike sich zu Singh herumdrehte, sah er, daß die Aufmerksamkeit des Inders nicht auf Weisser gerichtet war, sondern auf einen Punkt am jenseitigen Rand des Dorfplatzes. Mike sah in die gleiche Richtung und erblickte die Hütte des Medizinmannes, in der sie gerade gewesen waren.

Der Alte war ein Stück weit aus der Tür getreten und hatte die Szene ganz offenbar mit angesehen. Sein Gesicht hatte sich vor Zorn verdüstert. Er stand in angespannter Haltung da und hatte die Hände zu Fäusten geballt, und die beiden hünenhaften Krieger, die ihn flankierten, wirkten kaum weniger bedrohlich. Mike war allerdings sicher, daß dieser Zorn nicht den Männern galt, die den Streit angefangen hatten, sondern niemand anderem als Weisser.

Der angebliche deutsche Schiffskapitän kam in diesem Moment zu ihnen zurück. Er bemerkte sofort, wohin Singh und Mike sahen, denn auch er blickte flüchtig zur Hütte des Medizinmanns hinüber, und für einen Augenblick huschte ein Schatten über sein Gesicht. Doch er hatte sich ganz ausgezeichnet in der Gewalt. Schon eine halbe Sekunde später lächelte er wieder, und als er sich an Mike wandte, klang seine Stimme ganz unbeteiligt.

»Es tut mir leid, daß ihr Zeugen dieser häßlichen Szene geworden seid«, sagte er.

»Was war da los?« wollte Mike wissen. »Das war doch kein... normaler Streit?«

»Die Menschen hier sind normalerweise sehr friedlich, glaub mir«, antwortete Weisser. »Es ist das freundlichste Volk, dem ich begegnet bin -abgesehen von einem oder zweien vielleicht«, fügte er mit einem Seitenblick auf den Medizinmann hinzu, fuhr dann aber wieder in ernsterem Ton fort: »Aber seit das Sternenschiff hier gestrandet ist, hat sich leider einiges verändert. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht, und sie sind alle sehr nervös. « »Das ist mir nicht entgangen«, antwortete Mike. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hütte hinter sich. »Was ist dort drinnen? Wieso dürfen wir nicht hinein?«

Weisser antwortete weder auf die eine noch auf die andere Frage. »Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ihr jetzt geht«, sagte er. »Ich hätte euch gerne alles hier gezeigt, aber der Moment, euch die Gastfreundschaft dieser freundlichen Menschen zu demonstrieren, ist denkbar ungünstig. Ich fürchte, ihr würdet nur unnötig in Gefahr geraten. Kehrt zurück auf die NAUTILUS und verlaßt diese Insel, bevor ein noch größeres Unglück geschieht. Ich bin vielleicht nicht jedesmal zur Stelle, um euch zu helfen. «

»Woher wissen Sie das?« fragte Singh scharf. Weisser sah ihn einen Moment lang verständnislos an. »Was?«

»Alles«, antwortete Singh und fuhr schnell und mit erhobener Stimme fort, ehe Weisser ihn unterbrechen konnte: »Sie behaupten, Erster Offizier auf einem deutschen Handelsschiff gewesen zu sein? Das ist lächerlich. Niemand außer uns sieben weiß von der Existenz der NAUTILUS -so wie niemand außer uns weiß, daß es sich bei dem Gefährt, das an den Strand gespült worden ist, um ein Sternenschiff handelt. « Weisser sah ihn ruhig an. Schließlich lächelte er. »Wie Sie sehen, mein lieber Freund, weiß ich es doch«, antwortete er. »So wie manches, von dem Sie glauben, daß ich es nicht wüßte. «

»Woher?« verlangte Singh zu wissen, doch Weisser schüttelte abermals den Kopf.

»Dies ist nicht der Moment für Erklärungen«, sagte er, »so gerne ich es auch täte. Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich, aber im Augenblick sollten Sie sich auf Ihre eigentliche Aufgabe besinnen und Ihren jungen Schützling sicher an Bord des Schiffes zurückgeleiten. Die Stimmung hier im Dorf ist schlecht. Noch kann ich die Männer beruhigen, aber ich weiß nicht, wie lange noch. Und sie sind nicht die einzige Gefahr. « Singh war mit dieser Erklärung ganz und gar nicht zufrieden, das sah Mike ihm an. Aber nachdem er Weisser ein paar Sekunden ruhig und herausfordernd angesehen hatte,schüttelte er zu Mikes Überraschung den Kopf, drehte sich zu ihm herum und sagte: »Er hat recht, Herr. Wir müssen zurück aufs Schiff. Trautman und die anderen werden sich sicher schon Sorgen machen. «

»He!« protestierte Mike. »Aber du kannst nicht -« Singh schnitt ihm das Wort ab, indem er ihn unsanft am Arm ergriff und herumdrehte. Und nur einen Moment später verließen sie, begleitet von Weisser, den Dorfplatz und wenige Augenblicke darauf das Dorf.

Wie Mike befürchtet hatte, erwies sich der Rückweg zur NAUTILUS als der schwierigere Teil ihrer Unternehmung. Sie mußten weit länger auf der Insel verbracht haben, als ihnen bisher schon bewußt gewesen war, denn es begann zu dämmern, ehe sie das Ufer erreichten -und natürlich war von der NAUTILUS weit und breit nichts zu sehen. Weisser hatte sie zwar nicht selbst bis ans Meer begleitet, ihnen aber eine Eskorte aus vier Eingeborenenkriegern mitgegeben; wie er gesagt hatte zu ihrem Schutz; wie Mike jedoch argwöhnte, eher deshalb, damit sie sich davon überzeugten, daß sie die Insel auch tatsächlich verließen. Die Männer sagten kein Wort, unterhielten sich auch nicht untereinander, aber sie blieben auch mit stoischer Ruhe stehen, als Mike ihnen mit Gesten klarzumachen versuchte, daß ihre Aufgabe erfüllt war und er und Singh nun hier warten würden, bis die NAUTILUS auftauchte. Es verging noch eine geraume Weile, ehe es endlich soweit war; offensichtlich hatten sie die vereinbarte Zeit zur vollen Stunde gerade um ein paar Minuten verpaßt, so daß sie noch einmal eine Stunde lang ausharren mußten und es mittlerweile vollkommen dunkel geworden war, ehe weit draußen auf dem Meer ein blasses Licht erschien und nach einigen Augenblicken zum Suchscheinwerfer der NAUTILUS wurde, der wie ein körperloser leuchtender Finger über das Meer und das Ufer tastete, rasch über Singh und ihn hinwegglitt und dann mit einer fast ruckartigen Bewegung zurückkehrte.

Als sie losschwammen, war Mike fest davon überzeugt, daß Trautman einen der anderen mit dem Boot schicken würde, um sie aufzunehmen, aber alles, was geschah, war, daß der grelle Lichtkegel des Scheinwerfers unverwandt auf Singh und ihn gerichtet blieb und ihnen so zwar die Richtung wies, in die sie schwimmen mußten, sie zugleich aber auch blendete. Als sie die

NAUTILUS erreichten, war Mike so erschöpft, daß er es nicht mehr schaffte, sich aus eigener Kraft auf das Deck hinaufzuziehen, das nur eine knappe Handbreit aus dem Wasser ragte. Singh mußte ihm dabei helfen, danach sanken sie beide auf den nassen Eisenplatten nieder und rangen keuchend nach Atem. »Worauf zum Teufel wartet ihr? Daß die Deutschen kommen und uns hier entdecken?« Mike hob müde den Kopf hob und erkannte Ben, der sich aus der offenstehenden Turmluke gebeugt hatte. »Braucht ihr eine schriftliche Einladung, oder sollen wir den roten Teppich ausrollen?«

Mike war es nicht möglich zu antworten. Mühsam und mit kleinen, unsicheren Bewegungen stemmte er sich hoch, schleppte sich die wenigen Schritte bis zum Turm und raffte sein letztes bißchen Kraft zusammen, um die kurze Eisenleiter zur Luke hinaufzusteigen. Noch während er das tat, nahm die NAUTILUS wieder Fahrt auf und drehte den Bug mit dem gezackten Rammsporn auf die offene See, und zugleich schlugen die Wellen wieder über den Deckplanken zusammen - das Schiff begann zu tauchen. Und das, obwohl Singh und er nicht einmal ganz an Bord waren. Hastig kletterte Mike weiter, schwang sich mit einer Kraft, die er selbst kaum noch erwartet hätte, in die offenstehende Luke und kletterte rasch auf der anderen Seite hinunter. Singh tat es ihm gleich, und Mike konnte durch die großen Bullaugen sehen, daß das Wasser jetzt immer schneller stieg und die NAUTILUS somit schneller sank. Gerade als es wirklich gefährlich zu werden drohte, schloß Singh den Lukendeckel über sich und drehte das große Handrad, das ihn wasserdicht versiegelte. Mike sah sich zornig um. Von Ben war nichts mehr zu sehen, aber schließlich gab es nur eine Richtung, in der er verschwunden sein konnte.

Ohne auf Singh zu warten, eilte er die Wendeltreppe hinunter und stürmte in den Salon der NAUTILUS. Wie erwartet fand er Ben dort, aber auch alle anderen. Kaum hatte Mike den Raum betreten, fuhr er Ben wütend an: »Bist du wahnsinnig geworden? Was sollte das gerade? Wolltest du uns ersäufen, oder fandest du das besonders lustig?«

Den verständnislosen Blicken nach zu urteilen, die Trautman ihm und Ben zuwarf, schien außer ihnen beiden niemand hier drinnen zu wissen, wovon er überhaupt sprach. Ben grinste breit. »Wieso? Ihr habt es doch geschafft, oder?« »Was geschafft?« fragte Trautman. Mike deutete auf Ben. »Hat er Ihnen gesagt, Sie können tauchen?« Trautman nickte.

»Wir waren noch nicht einmal ganz die Leiter hoch«, fuhr Mike aufgebracht fort. »Eine Minute früher, und Singh und ich wären ertrunken. « »Seid ihr aber nicht«, sagte Ben feixend. »Und ich dachte mir, ein bißchen Bewegung tut euch ganz gut. « »Du verdammter -« begann Mike, wurde aber von Trautman mit einer herrischen Handbewegung unterbrochen. »Jetzt nicht. Wir haben keine Zeit für so etwas. Wo wart ihr den ganzen Tag? Wir sind acht- oder neunmal hierher gekommen. «

»Wahrscheinlich ist seine Uhr nicht wasserdicht«, erklärte Ben höhnisch. »Oder er hat ganz vergessen, auf die Zeit zu achten. « »Das reicht!« sagte Trautman, nahe daran zu schreien. »Wir beide unterhalten uns später -auch über deinen kleinen Scherz von soeben, über den ich gar nicht lachen kann!« Er wandte sich mit etwas ruhigerer Stimme erneut an Mike und dann an Singh, der in diesem Moment schwer atmend den Salon betrat: »Wo seid ihr so lange gewesen? Wir haben uns Sorgen gemacht. «

»Nicht ganz zu Unrecht«, sagte Singh, und Mike fügte hinzu:

»Wir wurden gefangengenommen, befreit, wieder gefangengenommen, noch einmal befreit und dann weggeschickt, bevor wir wieder in Gefangenschaft geraten konnten. «

Ben riß verblüfft die Augen auf, während Juan und Chris, die auf der anderen Seite des Tisches saßen und bisher kein Wort gesagt hatten, zu grinsen begannen. Nur Serena blieb ernst, und Trautman runzelte ärgerlich die Stirn. »Was soll dieser Unsinn?«

Nein, dachte Mike schaudernd, das ist nicht mehr der Trautman, den ich kenne. Aber im Grunde galt das für alle hier, vielleicht sogar für ihn selbst. Ben zum Beispiel: Es war bekannt, daß er manchmal zu derben Scherzen neigte, aber er hätte trotzdem niemals einen von ihnen dabei in Lebensgefahr gebracht, nur weil er es gerade lustig fand.

Bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, erklärte Singh mit wenigen, aber sehr präzisen Worten, was ihnen am Tag widerfahren war.

Trautman hörte schweigend zu und schien mit jedem Satz, den er hörte, besorgter zu werden, und auch Bens Grinsen erlosch und machte einem Ausdruck tiefen Erschreckens Platz. »Ein schwarzer Frachter ohne Hoheitskennzeichen?« vergewisserte er sich, nachdem Singh mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. »In welcher Sprache war sein Name geschrieben?« Singh zuckte mit den Schultern. »Ich konnte es nicht entziffern«, gestand er.

»Ich bin nicht einmal sicher, ob er überhaupt einen Namen hatte«, fügte Mike hinzu. Er erinnerte sich jedenfalls nicht, eine Beschriftung auf dem Rumpf dieses sonderbaren Schiffes gesehen zu haben. »Das klingt alles sehr seltsam«, sagte Trautman kopfschüttelnd. »Wir haben die Insel drei- oder viermal umkreist, und wir sind den deutschen Kriegsschiffen sehr nahe gekommen, aber wir haben keinen solchen Frachter gesehen. «

Und wir keine deutschen Kriegsschiffe, dachte Mike schaudernd. Trotzdem antwortete er laut: »Vielleicht war er hinter den Kreuzern verborgen, so daß Sie ihn nicht sehen konnten. «

»Vielleicht«, antwortete Trautman. Es klang nicht sehr überzeugt. »Aber ganz gleich, was es nun mitdiesem Schiff auf sich hat, es bestärkt mich in meiner Überzeugung, daß wir die Flugscheibe unbedingt vernichten müssen. «

»Und wie?« fragte Mike.

Trautman seufzte. »Ich fürchte, nun bleibt uns keine andere Wahl mehr. Jetzt, wo sie gewarnt sind, wird es uns kaum gelingen, noch einmal in ihre Nähe zu kommen. Wir werden sie von See her zerstören müssen. «

Mike erschrak bis ins Mark. Die NAUTILUS verfügte durchaus über Torpedos von großer Sprengkraft, die sicherlich auch das Sternenschiff zerstören konnten und das aus großer Entfernung. Sie hatten über diese Möglichkeit ja schon gesprochen, aber da hatten sie nicht gewußt, wie viele Menschen sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten, die bei einem solchen Angriff in Gefahr gerieten, verletzt, ja gar getötet zu werden. Wenn es überhaupt noch eines weiteren Beweises dafür bedurft hätte, daß auch mit Trautman eine unheimliche Veränderung vorgegangen war, dann wäre es dieser Vorschlag gewesen.

Empört sagte Mike: »Aber das können wir nicht tun!« »Ach?« fragte Ben. »Und warum nicht, Schlaumeier?« »Hast du mir überhaupt nicht zugehört?« fuhr Mike ihn an. »Sie arbeiten an dem Sternenschiff. Frag mich nicht, was, aber sie sind unmittelbar in seiner Nähe.

Wenn wir einen Torpedo abschießen, dann werden viele von ihnen verletzt und getötet. « Ben zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Und? Nachdem, was du gerade erzählt hast, halten sie es mit dem Leben anderer auch nicht so genau. « »Das ist doch kein Grund!« antwortete Mike wütend. Trautman hob besänftigend die Hand. »Mike, bitte. Ich verstehe und respektiere deine Gefühle durchaus. Du hast vollkommen recht. Daß sie euch angegriffen haben, gibt uns nicht das Recht, ihr Leben in Gefahr zu bringen. Aber hier steht mehr auf dem Spiel als das Leben dieser Männer oder unseres. Dieses Schiff muß zerstört werden, um jeden Preis. Wenn es in falsche Hände gerät, dann kann es unvorstellbaren Schaden anrichten.

«

»Und wer sagt das?« fragte Mike. »Dein Vater, Mike«, antwortete Trautman, plötzlich ruhig und mit einer unerwartet sanften, fast traurigen Stimme.

Mike starrte ihn an, sagte aber nichts. Und nach einigen Sekunden fuhr Trautman leise fort, wobei sein Blick auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter Mike gerichtet zu sein schien: »Damals, als er mir die NAUTILUS übergeben hat, Mike, hat er mir ein Versprechen abgenommen. Das Versprechen, dieses Schiff mit meinem Leben zu beschützen und dafür zu sorgen, daß es nicht in falsche Hände gerät, koste es, was es auch wolle. Du weißt, was geschehen würde, wenn irgendeine Nation auf dieser Welt in den Besitz der NAUTILUS und ihrer Technik geriete. Der Krieg, vor dem wir alle geflohen sind, wäre nichts dagegen. Und dieses Sternenschiff dort draußen ist der NAUTILUS so weit überlegen, wie sie den Kriegsschiffen, die auf der anderen Seite der Insel liegen. Es muß zerstört werden. Ich würde einen anderen Weg wählen, wenn es einen gäbe, aber es bleibt dabei. « Er schüttelte entschieden den

Kopf, um jeden Widerspruch schon im vorhinein zu entkräften. »Ich habe lange darüber nachgedacht, und mein Entschluß steht fest: Wir werden tauchen und die Nacht in sicherer Entfernung unter Wasser verbringen, aber morgen früh bei Sonnenaufgang zerstören wir das Schiff. « Er atmete hörbar ein und wandte sich dann direkt an Singh: »Bis dahin sind noch eine Menge Vorbereitungen zu treffen. Ich weiß, wie müde du sein mußt, aber ich wäre dir trotzdem dankbar, wenn du mir dabei helfen könntest. Wir werden nur eine einzige Chance haben. «

»Selbstverständlich«, antwortete Singh. Mike wartete, bis Trautman an ihm vorbeigegangen war und den Salon verlassen hatte, dann folgte er ihm; wenige Augenblicke später ging auch Ben. Wahrscheinlich erschien es ihm im Moment klüger, nicht allein mit Mike zurückzubleiben. Mike hatte den kurzen Streit beinahe schon vergessen. Er starrte Trautman fassungslos hinterher und schüttelte immer wieder den Kopf. Noch vor kurzer Zeit hätte sich Trautman geweigert, einen solchen Gedanken auch nur zu fassen, geschweige denn, ihn laut auszusprechen. Keiner von ihnen hätte ein solches Vorgehen auch nur in Erwägung gezogen. Sie hätten ganz im Gegenteil so lange beraten, bis sie eine andere Lösung gefunden hätten. Nun aber hatte mit Ausnahme von Mike niemand auch nur widersprochen. Selbst Mike ertappte sich für einen Moment bei dem Gedanken, ob es vielleicht wirklich notwendig wäre, dieses Opfer zu bringen, um weiteres, schlimmeres Unglück zu vermeiden. Erschrocken vor sich selbst, scheuchte er den Gedanken fort und drehte sich zu Serena, Juan und Chris herum. Alle drei sahen ihn an, und er erblickte in den Augen der beiden Jungen und des Mädchens von Atlantis die gleiche Mischung aus Furcht, Entsetzen und grimmiger Entschlossenheit, die er zuvor in Trautmans Augen gelesen hatte. »Aber das... das ist doch Wahnsinn«, stammelte er. »Das dürfen wir nicht zulassen!« Chris sagte nichts, sondern senkte nur den Blick, und Juan antwortete ganz leise: »Ich weiß, aber ich fürchte, uns bleibt keine andere Wahl. Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. «

»Wir haben alle Zeit, die wir brauchen!« protestierte Mike. »Selbst wenn sie das Sternenschiff bergen und an Bord ihres Schiffes nehmen, dann folgen wir ihnen eben und versuchen, eine andere Lösung zu finden. Ihr könnt doch nicht damit einverstanden sein!« Juan sagte nichts, sondern wandte langsam den Kopf und sah Serena an. Serena erwiderte seinen Blick. Mike spürte deutlich, daß er Zeuge einer stummen Unterredung wurde. »Was ist los?« fragte er. »Ihr beiden verheimlicht mir doch etwas. «

Serena und Juan sahen sich noch einige Sekunden weiter auf diese stumme Art an, dann atmete Juan tief ein, deutete auf Mike, ohne Serena aus den Augen zu lassen, und sagte: »Zeig es ihm. «

»Was soll sie mir zeigen?« fragte Mike scharf. Er schrie es fast, aber sein grober Ton zeigte weder bei Serena noch bei Juan oder Chris irgendeine Wirkung. Chris senkte nur noch weiter den Kopf, und Mike fiel plötzlich auf, in welch verkrampfter Haltung er auf dem Stuhl hockte. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet und preßte die Finger so fest zusammen, daß sie zitterten.

Schließlich stand Serena auf, ging zur Tür und deutete ihm mit einem Handzeichen, ihr nachzukommen. Mike erwartete unwillkürlich, daß auch Juan und Chris ihnen folgen würden, aber die beiden rührten sich nicht von der Stelle, so daß er allein hinter Serena herging.

Irgend etwas war an Bord der NAUTILUS geschehen, während Singh und er auf der Insel gewesen waren, und was immer es auch war, er hatte das sehr sichere Gefühl, daß es ihm nicht gefallen würde. Serena führte ihn zu ihrer Kabine, öffnete die Tür und schloß sie sorgfältig wieder hinter ihm, nachdem er den Raum betreten hatte. Dann legte sie den Riegel vor, was sehr ungewöhnlich war, denn sosehr jeder an Bord auch die Privatsphäre des anderen respektierte, gab es doch auf der NAUTILUS so gut wie keine verschlossenen Türen; schon aus Sicherheitsgründen. »Also?« fragte Mike. »Was ist los?« Serena antwortete nicht. Sie wich sogar seinem Blick aus, ging zu ihrer Kommode, zog die oberste Schublade auf und nahm ein großes, in ein grobes Leinentuch eingeschlagenes Buch heraus. Als sie es öffnete, erkannte Mike es sofort.

Er starrte Serena ebenso erstaunt wie erschrocken an. Was sie da vor seinen Augen aus der Schublade genommen hatte, das war nichts anderes als das Logbuch des untergegangenen deutschen Spionageschiffes. »Aber wie kommst du denn dazu?« fragte er ungläubig. »Ich habe es gestohlen«, antwortete Serena. »Wie?!«

»Du hast mich doch selbst aus Trautmans Kabine kommen sehen«, bestätigte sie. »Ich war dort, um nach diesem Buch zu suchen. « Mike blickte Serena verständnislos an. »Aber warum denn nur?« murmelte er kopfschüttelnd. Serena wandte sich wieder dem Buch zu und schlug es auf; nicht willkürlich, sondern an einer Stelle, die Trautman mit einem seiner kleinen Zettel markiert hatte. »Er hat uns nicht die Wahrheit gesagt«, sagte sie. »Hier. Lies selbst!«

Mike trat näher. Plötzlich erinnerte er sich wieder an damals, als Trautman ihnen einige Passagen aus dem Buch vorgelesen hatte. Er hatte gesehen, daß der alte Mann immer wieder die eine oder andere Stelle, die er mit einem Zettel angemerkt hatte, überschlug. Aber er war von dem Gehörten so erschrocken gewesen, daß er dem nicht so viel Bedeutung zugemessen hatte. Es fiel ihm allerdings schwer, das Geschriebene zu entziffern. Die Schrift war vom langen Liegen im Salzwasser zum Großteil aufgelöst und fast unleserlich, und dazu kam, daß das Buch in deutscher Sprache abgefaßt war; eine Sprache, die Mike zwar weit genug beherrschte, um sich mehr schlecht als recht darin verständlich machen zu können, aber nicht gut genug, um das Buch -noch dazu in diesem Zustand -zu entziffern. Er erkannte nur einige Worte, die einen Sinn zu ergeben schienen, zum allergrößten Teil aber blieb ihm der Text unverständlich. Enttäuscht schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, das kann ich nicht lesen«, sagte er. »So ging es mir anfangs auch«, antwortete Serena. »Aber wenn man es eine Weile versucht, dann klappt es ganz gut. Was du da liest, ist der Bericht über die Ereignisse an Bord in den letzten beiden Tagen, bevor das Schiff unterging. Der Kapitän schreibt, daß die Stimmung an Bord immer schlechter wurde. Die Mannschaft war gereizt und aggressiv, und es kam immer wieder zu Streitigkeiten und Kämpfen unter der Besatzung. « Sie schlug eine andere von Trautmans Markierungen auf und legte die flache Hand mit gespreizten Fingern auf die Seite. »Die Eintragungen des letzten Tages sind besonders schlimm. Einige Leute gingen aufeinander los. Zwei oder drei sogar mit Waffen, und es gab einen Toten und mehrere Verletzte. « Sie blätterte weiter. »Und hier schreibt er, daß sich einer der Männer plötzlich nicht mehr bewegen konnte. Er sei von einer sonderbaren Lähmung befallen, die seine Muskeln hart wie Stein werden ließ. « Serena trat einen Schritt zurück und sah ihn durchdringend an. »Das paßt, nicht wahr?« Mike nickte erschrocken. »Genau wie auf der Insel«, flüsterte er. »Man konnte regelrecht spüren, wie gereizt die Menschen dort waren. «

»Und ihr habt zwei Männer gesehen, bei denen es schon angefangen hat«, fügte Serena mit tonloser Stimme hinzu.

»Also werden sie... alle davon befallen?« fragte Mike erschrocken. »Die ganze Insel?« Serena schüttelte den Kopf. »Ich rede nicht von der Insel, Mike«, sagte sie. Wieder deutete sie auf das Buch. »Was dort beschrieben ist, ist dasselbe, was hier passiert. Seit wir auf dieses Schiff gestoßen sind, haben wir uns alle zum Schlechten verändert. In den ganzen Jahren, die wir nun zusammen sind, habe ich nicht soviel Streit und Zorn erlebt wie in den letzten Tagen. « Deshalb also waren Serena, Juan und Chris so erschrocken gewesen.

Mike fiel plötzlich der Krake ein, der ihn vor dem Wrack der TITANIC attackiert hatte: ein an sich harmloses, eher scheues Tier, das unter normalen Umständen niemals einen so großen Gegner wie einen Menschen angreifen würde und das sich doch wie toll gebärdet hatte. Und die Stimmung an Bord war von jenem Moment an, in dem sie die Spur des Sternenschiffes aufnahmen, praktisch minütlich schlechter geworden. Er hatte sich ja schon die ganze Zeit über immer wieder Gedanken deswegen gemacht. Und er hatte die beginnende Veränderung auch an sich selbst bemerkt. »Aber das würde bedeuten, daß... « »... daß es uns auch trifft, ja«, führte Serena den Satz zu Ende.

»Du meinst, wir... wir werden auch zu Stein?« flüsterte Mike.

Serena antwortete nicht.

»Vielleicht... vielleicht ist es nur... nur eine Art Nebenwirkung«, fuhr Mike stockend fort. »Es muß uns nicht auch so ergehen wie den Eingeborenen und den

Männern an Bord des Schiffes. Vielleicht ist es das, was man am Anfang spürt, wenn man ihm zu nahe kommt. Niemand sagt, daß wir so enden müssen wie die anderen. «

»0 doch«, flüsterte Serena. »Und Trautman weiß das. Er hat es die ganze Zeit über gewußt und wahrscheinlich nur nichts gesagt, um uns nicht zu ängstigen. Deshalb will er das Sternenschiff um jeden Preis zerstören. Vielleicht hört es auf, wenn es nicht mehr da ist. « »Und wenn nicht?« fragte Mike leise. »Dann sind wir verloren«, antwortete Serena. Für einen Moment drohte Mike in Panik zu geraten. Es war nicht einmal die Angst vor dem Tod. Natürlich spürte er auch sie, aber es war nicht das erste Mal, daß sie sich in einer gefährlichen Situation befanden, und trotz seiner Jugend auch nicht das erste Mal, daß er ernsthaft über die Möglichkeit nachdachte, sterben zu müssen. Und trotzdem war ihm eine Gefahr nie so furchtbar erschienen. Der steinernen Pest zu erliegen, die die Männer an Bord des Frachters dahingerafft und auch unter den Bewohnern der Insel schon die ersten Opfer gefordert hatte, war eine solch schreckliche Vorstellung, daß sich alles in ihm einfach weigerte, sie auch nur als bloße Möglichkeit zu akzeptieren.

»Weisser«, sagte er plötzlich. »Dieser Mann, der sich Weisser nennt, er weiß etwas darüber. Vielleicht kann er uns helfen. Wir müssen noch einmal zurück auf die Insel. «

»Trautman wird das nicht zulassen«, sagte Serena traurig.

Mike deutete auf das Buch. »Weiß Trautman, daß du es hast?«

»Nein. « Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gewagt, es ihm zu sagen. Er ist so... zornig geworden. Er macht mir angst. Alle hier machen mir angst. «

»Mir auch«, bestätigte Mike. »Aber wir müssen es ihm sagen. Vielleicht gibt es ja doch eine andere Möglichkeit. «

»Nein«, antwortete Serena leise. »Ich habe es nachgerechnet, weißt du? Es hat angefangen, nachdem wir das Wrack der TITANIC verlassen haben, und es wird jeden Tag schlimmer. Wenn uns ebensoviel Zeit bleibt wie den Männern an Bord des Frachters, dann ist unsere Frist morgen mittag abgelaufen. « »Woher willst du das wissen?« fragte Mike. Sein Herz klopfte immer noch vor Angst, und er hatte Mühe, Serena nicht anzuschreien. Plötzlich mußte er sich mit aller Macht beherrschen, um nicht ihr die Schuld an alledem zu geben. »Sie sind ihm viel näher gekommen als wir. Es gibt keinen Beweis, daß es uns überhaupt so ergeht wie ihnen oder genauso schnell. « »Doch«, antwortete Serena leise und sehr ernst. »Es gibt einen Beweis. Ich habe ihn heute morgen erst entdeckt. Bis jetzt weiß niemand davon. Und es ist besser, wenn auch du schweigst. «

Sie wies auf ihr Bett, und als Mike sie nur fragend anblickte, trat sie mit ein paar raschen Schritten darauf zu und schlug die Decke zurück. Etwas Schwarzes, Pelziges kam zum Vorschein, das reglos auf dem Kissen lag und Mike aus einem gelben Auge anblickte. »Astaroth!« Mike eilte zu ihm. »Was ist... ?« Er brach ab, als er sah, daß das eine Bein des Katers in einem unnatürlichen Winkel vom Körper abstand.

»Bist du verletzt? Was ist geschehen?«

Wie lautet eines eurer dämlichen Sprichwörter? erklang Astaroths lautlose Stimme in Mikes Kopf. Es bleibt kein Stein auf dem anderen. So wird es wohl bald auch an Bord der NAUTILUS sein.

Seine Stimme hatte grimmig geklungen, aber Mike konnte die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in Astaroths Auge genau erkennen. Seine Hand zitterte, als er sie langsam nach dem Kater ausstreckte. Astaroths Bein war zu Stein erstarrt.

Im Turm der NAUTILUS herrschte atemlose Stille. Trautman stand hinter einem der beiden mannshohen Bullaugen und hatte den Feldstecher angesetzt, um die Insel zu beobachten, die sich nur als schwarzer Schattenriß gegen den noch grauen Morgenhimmel abzeichnete. Es begann schon hell zu werden, und trotz der schlechten Sicht konnten Mike und die anderen die beiden gewaltigen deutschen Kriegsschiffe deutlich ausmachen, die wie schwimmende Berge aus Eisen vor der Insel lagen.

Obwohl sie seit gut zehn Minuten hier standen und darauf warteten, daß es richtig Tag wurde, hatte Mike den Anblick immer noch nicht wirklich verdaut. Es war noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, da hatten Singh und er auf der Insel dort drüben gestanden und genau in die Richtung, in der sich die NAUTILUS nun befand, aufs Meer hinausgeblickt, und sie hatten keine Spur des gewaltigen Schlachtschiffes und seines kaum weniger großen Begleiters gesehen -und das war schlichtweg unmöglich. Und als wäre dies noch nicht genug, war der schwarze Frachter mit seiner unheimlichen Besatzung dafür nun nicht mehr zu sehen. Irgend etwas stimmte hier nicht.

»Noch ein Strich Backbord«, sagte Trautman. Die Worte galten Ben, der hinter dem großen Steuerrad stand und die Aufgabe übernommen hatte, die NAUTILUS auf Trautmans Anweisungen hin genau in Schußposition zu bringen. Er gehorchte dem Befehl, und Mike konnte spüren, wie der eiserne Boden unter ihren Füßen sacht zu zittern begann, als sich das Schiff um wenige Grade nach rechts bewegte. Sein Herz klopfte schneller. Er hätte in diesem Moment selbst nicht in Worte fassen können, was er wirklich empfand, aber es war ein Gefühl, das an Verzweiflung grenzte. Er hatte vorhin nochmals versucht, Trautman von seiner Entscheidung abzubringen, aber es war umsonst gewesen.

»Und noch ein Strich Backbord, Ben«, sagte Trautman, ohne den Feldstecher abzusetzen, »und dann die Position halten... so, perfekt. «

Mikes Blick irrte nervös zwischen Trautman und den Umrissen der beiden Kriegsschiffe draußen auf dem Meer hin und her. Neben allem anderen war das, was sie vorhatten, auch für sie nicht ganz ungefährlich. Das Meer war an dieser Stelle nicht sehr tief, und die beiden Kriegsschiffe lagen so vor der Küste, daß zwischen ihnen nur ein schmaler Spalt blieb, durch den man den Strand und die darauf liegende riesige Flugscheibe erkennen konnte. Anstatt aus der sicheren Tiefe des Meeres herauszufeuern, hatte die NAUTILUS auftauchen müssen, und obwohl es niemand laut ausgesprochen hatte, war doch jedem an Bord klar, daß man sie spätestens in dem Moment entdecken würde, in dem sie ihre Torpedos auf das Sternenschiff abschössen. Singh stand unten an den Kontrollen bereit, die NAUTILUS sofort tauchen und einen Weg ins offene Meer einschlagen zu lassen, aber es würde trotzdem knapp werden. Die Schiffe der kaiserlich deutschen Kriegsmarine waren bekannt dafür, daß ihre Besatzung perfekt ausgebildet und ihre Waffen auf dem neuesten Stand waren. Und der Kommandant dieser Expedition würde mit Sicherheit nicht besonders erfreut sein, wenn er seine Beute in Rauch und Flammen aufgehen sah. Mike hatte auch dieses Argument vorgebracht, und Trautman hatte auch darauf nicht gehört. Jetzt hob Trautman die linke Hand und gab Juan damit das vereinbarte Zeichen, an einen roten Schalter direkt an der Wand hinter Mike zu treten und die Hand danach auszustrecken. »Noch nicht«, sagte Trautman. In seiner Stimme lag ein angespannter, scharfer Ton. »Warte... Achtung... Jetzt!«

Juan zog den Hebel mit einem Ruck nach unten, und Mike konnte spüren, wie eine kurze, aber heftige Erschütterung durch den Rumpf der NAUTILUS ging. Nur einen winzigen Augenblick später erschienen zwei schnurgerade Spuren aus sprudelnden Luftblasen vor dem Bug des Unterseebootes und bewegten sich rasend schnell auf die Lücke zwischen den beiden Kriegsschiffen zu.

Mike sah unwillkürlich zu den Aufbauten des Schlachtkreuzers hinauf. Es war zwar unwahrscheinlich, aber mit ein wenig Pech waren die Kielspuren der Torpedos bereits entdeckt worden und gellten jetzt schon die Alarmsirenen durch das große Kriegsschiff. »Da stimmt was nicht«, sagte Trautman plötzlich. Mike sah irritiert zu ihm hinüber, aber Trautman beobachtete weder die Insel noch die beiden Kriegsschiffe, sondern verfolgte mit dem Feldstecher die Spur der beiden Torpedos. Mit bloßem Auge hatte Mike Mühe, sie überhaupt zu entdecken, aber als es ihm schließlich gelungen war, begriff er sofort, was Trautman meinte: Die beiden Torpedos lagen nicht mehr auf Kurs. Ihre Spuren verliefen nicht mehr parallel, sondern begannen immer weiter auseinander zu weichen. Der rechte würde die Insel ganz verfehlen, wenn sich die Krümmung seiner Bahn weiter so fortsetzte, während der linke nicht weit vom Kurs abgewichen war, aber immerhin weit genug, um jetzt nicht mehr auf den Strand und die Flugscheibe zu zielen, sondern direkt auf den deutschen Schlachtkreuzer.

»Aber das ist doch nicht möglich«, murmelte Ben. Trautman hob erneut die Hand und hieß ihn mit einer ungeduldigen Bewegung zu schweigen. Und auch Mike verfolgte die Spur der beiden tödlichen Geschosse mit klopfendem Herzen weiter. Das eine wich tatsächlich immer weiter von seiner ursprünglichen Bahn ab und verschwand schließlich auf hoher See, während sich das andere unaufhaltsam dem Schlachtkreuzer näherte -und hindurchglitt!

Mike riß ungläubig die Augen auf, während Trautman den Feldstecher sinken ließ und einen keuchenden Laut von sich gab. »Was... ?« murmelte Ben.

Einen Moment später blitzte es drüben bei der Insel grell und orangefarben auf. Eine gewaltige Stichflamme schoß in den Himmel, gefolgt von einer brodelnden Rauchsäule, als der Torpedo fast eine halbe Meile neben dem Sternenschiff auf die Küste traf und explodierte. Das Licht war so grell, daß die Silhouetten der beiden deutschen Kriegsschiffe vor Mikes Augen zu flackern schienen, und er glaubte, dahinter tatsächlich die Küste und den Umriß eines dritten, kleineren und bis jetzt unsichtbar gebliebenen Schiffes auszumachen, aber natürlich war das nur eine optische Täuschung; er hatte direkt in den Explosionsblitz gesehen, und das war wohl mehr, als seine Sehnerven verkrafteten. »Nichts wie weg hier!« sagte Trautman. Er fuhr herum, trat mit einem Schritt an das Sprechgerät an der Wand und schaltete es ein. »Singh! Eine Drehung um hundertachtzig Grad und dann volle Kraft voraus aufs offene Meer! Raus hier!« Die beiden letzten Worte hatte er geschrien, und sie galten nicht mehr Singh, sondern Mike und den anderen. Dicht hintereinander polterten sie die Wendeltreppe hinunter, wobei Trautman den Abschluß bildete. Kaum daß er den Turm verlassen hatte, schloß er das wuchtige Sicherheitsschott über sich und verriegelte es. Normalerweise blieb der Zugang zum Turm immer offen. Daß Trautman ihn trotz seiner Eile jetzt verschloß, machte Mike erst richtig klar, wie ernst er ihre Situation einschätzte, denn diese

Luke hatte, wie zahlreiche andere Sicherheitstüren, die es an Bord der NAUTILUS gab und die eigentlich so gut wie nie benutzt wurden, nur den einen Zweck, den Schaden bei einem Wassereinbruch möglichst gering zu halten. Wenn alle wasserdichten Türen an Bord des Schiffes geschlossen waren, konnte selbst ein größeres Leck die NAUTILUS nicht in ernsthafte Gefahr bringen. Aber Mike blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn Trautman scheuchte sie rasch vor sich her in den Salon. Er schloß auch hier die Sicherheitstür, und bevor er irgend etwas sagte oder tat, eilte er zu dem riesigen Bullauge auf der rechten Seite und betätigte den Schalter, der die gewaltige Irisblende davor schloß. »Tauchen, Singh«, befahl er, »so schnell und so tief wie möglich!«

Singhs Finger flogen über die Armaturen, und das Maschinengeräusch der NAUTILUS änderte sich abermals. »Was ist passiert?« fragte er. »Folgen sie uns?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Trautman. »Aber die Torpedos haben ihr Ziel verfehlt. Einer ist im offenen Meer verschwunden, der andere harmlos am Strand explodiert. «

Singhs Gesicht bot für einen Moment einen Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit. »Aber wie kann das sein?« wunderte er sich. »Wir haben doch die halbe Nacht... «

»... die beiden Torpedos sorgsam vorbereitet und jede Einstellung dreimal überprüft, ich weiß«, unterbrach ihn Trautman. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich verstehe es nicht. Ich kenne diese Torpedos genau. Sie verfehlen niemals ihr Ziel, wenn sie richtig eingestellt sind. «

»Vielleicht gibt es eine Strömung hier«, vermutete Juan, »oder die NAUTILUS lag nicht genau an der richtigen Stelle. « »He!« protestierte Ben. »Ich habe die Position -«

»Hört auf!« sagte Trautman scharf. »So war es bestimmt nicht. Aber darum kümmern wir uns später. Jetzt müssen wir weg hier. « Er wandte sich wieder an Singh: »Folgen sie uns?«

Singh blickte kurz, aber sehr konzentriert auf die Vielzahl von Instrumenten vor sich und zuckte dann mit den Schultern. »Ich kann nichts feststellen«, sagte er, allerdings in einem Ton, der nicht nur Mike aufhorchen ließ.

Trautmans Augen wurden schmal. »Was heißt das nun, Singh?« fragte er ungeduldig. »Ja oder nein?« Singh zuckte unglücklich mit den Achseln. »Irgend etwas... scheint da zu sein, aber ich kann nicht sagen, was. «

Trautman sah für einen Moment fast zornig drein, schien aber dann einzusehen, daß Zorn sie im Augenblick am allerwenigsten weiterbrachte. »Also gut«, entschied er. »Nichts wie runter. Wie tief ist das Meer hier?« »Zweihundert Meter«, antwortete Singh. »Das reicht«, sagte Trautman. »So tief reichen ihre Wasserbomben nicht. Ab nach unten. « Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden, und Singhs Hände begannen wieder über die Instrumente zu gleiten. Das Schiffsdeck neigte sich spürbar unter ihren Füßen, und irgendwo fiel etwas um und zerbrach klirrend, als die NAUTILUS in steuern Winkel und mit voller Kraft in die Tiefe des Meeres hinabzutauchen begann. Mike hätte erleichtert sein müssen, denn zumindest vor ihren Verfolgern waren sie nun in Sicherheit. Mit Ausnahme der NAUTILUS konnte kein Tauchboot der Welt in eine solche Wassertiefe hinab gelangen -ganz davon abgesehen, daß es außer der NAUTILUS vermutlich auch kein anderes Tauchboot im Umkreis von fünfhundert Seemeilen gab -, und selbst die gefährlichen Wasserbomben, die der Schlachtkreuzer höchstwahrscheinlich an Bord hatte, würden unter dem enormen Druck in dieser Tiefe explodieren, lange, ehe sie auch nur in die Nähe der NAUTILUS gelangen konnten. Trotzdem fühlte sich Mike kein bißchen erleichtert, sondern immer nervöser, vor allem, als er Trautmans Blick auf sich spürte. »Du hast nicht zufällig etwas zu sagen?« fragte Trautman.

Mike blinzelte ihn verwirrt an. »Ich? Wieso? Was?« »Nun, immerhin hast du oft genug versucht, mich von meinem Vorhaben abzubringen«, erwiderte Trautman in so scharfem, mißtrauischem Ton, daß er allein Mike beinahe mehr verletzte als die noch halb unausgesprochene Verdächtigung, die hinter dieser Frage stand. Er antwortete gar nicht, aber er sah aus den Augenwinkeln, wie auch Ben ihn verblüfft anstarrte und sich sein Gesicht dann verdüsterte. »Sie meinen... «

Trautman machte eine rasche Handbewegung. »Ich meine gar nichts«, sagte er. »Ich werde jetzt nach vorne in den Torpedoraum gehen und ein paar Dinge überprüfen. Ihr bleibt hier, bis ich zurück bin. Niemand verläßt diesen Raum. « Und damit drehte er sich auf dem Absatz herum und ging.

Mike starrte ihm fassungslos hinterher. Glaubte Trautman tatsächlich, daß er etwas damit zu tun hatte, daß die beiden Torpedos ihr Ziel verfehlten? Allein der Verdacht war einfach absurd! Es mußte eine andere Erklärung geben. Vielleicht ein technischer Fehler; eine Kleinigkeit, die Trautman und Singh übersehen hatten. Es mußte einfach so sein!

Die NAUTILUS richtete sich nun allmählich wieder auf. Der Boden stand nicht mehr schräg, und er zitterte auch nicht mehr so heftig wie noch vor ein paar Augenblicken, und schließlich ging eine dumpfe, lang anhaltende Erschütterung durch den Rumpf des Schiffes; wie ein mächtiger Glockenton, der aus weiter Entfernung zu hören war. Sie hatten auf dem Meeresgrund aufgesetzt.

Mike starrte auf das Fenster, obwohl er dort im Moment gar nichts anderes sehen konnte als den matten Stahl der geschlossenen Irisblende. Er bewegte sich nicht, und auch die anderen verhielten sich ruhig. Alle warteten darauf, daß Trautman wiederkommen und ihnen berichten würde, ob er im Torpedoraum etwas entdeckt hatte.

Nach überraschend kurzer Zeit wurden draußen auf dem Korridor wieder Schritte laut, und sie alle wandten sich zur Tür. Aber es war nicht Trautman, der hereinkam. Es war Serena -und als Mike sah, was sie in den Armen trug, hatte er das Gefühl, von einem Blitz getroffen zu werden.

Es war Astaroth. Der Kater lag reglos auf ihren ausgestreckten Armen, mit weit geöffnetem, starrem Auge und gebleckten Zähnen, die Vorderläufe weit ausgestreckt und die Krallen gespreizt, als wäre er mitten im Sprung versteinert worden. Der furchtbare Prozeß, der in der vergangenen Nacht seinen Anfang genommen hatte, hatte seinen Abschluß erreicht. Astaroth war zu Stein erstarrt.

Für ein, zwei Sekunden fühlte sich auch Mike wie versteinert. Die anderen schrien erschrocken auf und eilten auf Serena zu, die den Kater langsam zum Kartentisch trug und ihn darauf ablud; mit einem Geräusch, als ließe sie tatsächlich einen zentnerschweren Steinbrocken auf die Tischplatte fallen, aber Mike selbst war nicht fähig, sich zu rühren. Erst als Serena ihre furchtbare Last abgeladen hatte und schluchzend in Juans Arme sank, fiel die Lähmung von Mike ab. Mit einem einzigen Satz war er am Tisch und beugte sich über den Kater.

Er wagte es nicht, ihn zu berühren. Der Anblick brach ihm schier das Herz. Astaroth lag da, als schliefe er; wie es Katzen manchmal tun, mit offenen Augen und im Traum irgendeine Beute jagend, aber er schlief nicht. Sein Fell war grau geworden, und das Leben war aus seinem Auge gewichen.

Was vor ihm lag, das war kein lebendes Wesen aus Fleisch und Blut mehr, sondern eine perfekte Nachbildung aus granithartem Stein. »Astaroth!« keuchte er. »Nein. Nicht... nicht du!« Er bekam keine Antwort, und so wiederholte er seine Worte in Gedanken, auf die lautlose Art, auf die Astaroth und er sich über so lange Zeit hin verständigt hatten, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Astaroth! So antworte doch! Sag etwas! IRGEND ETWAS! DU DARFST NICHT TOT SEIN! Aber Astaroth schwieg. Wenn er seine Worte hörte, wenn noch irgend etwas in ihm war, das fähig gewesen wäre, sie zu registrieren, so war er auf jeden Fall nicht mehr in der Lage, darauf zu reagieren. »Es... es tut mir so leid«, flüsterte Ben hinter ihm. Von einem plötzlichen Zorn ergriffen, fuhr Mike herum und wollte Ben anschreien und ihm sagen, wohin er sich sein Mitleid stecken konnte. Doch als er herumfuhr, erkannte er, daß die Worte gar nicht ihm gegolten hatten, sondern Serena, die noch immer in Juans Armen lag und heftig schluchzte.

»Mir auch«, sagte Juan. »Wirklich. Ich... ich wollte, ich könnte etwas für ihn tun. «

»Was tut euch leid?« fragte eine Stimme von der Tür her.

Mike sah auf und gewahrte Trautman, der aus dem Torpedoraum zurückgekehrt war und offenbar etwas gefunden hatte, was er triumphierend in der rechten Hand hielt. Als er näher kam, schloß er jedoch rasch die Faust darum und verbarg sie hinter dem Rücken. »Was tut euch leid?« wiederholte er seine Frage. Niemand antwortete, doch Ben und Juan traten beiseite, um Trautman einen freien Blick auf den Tisch zu gewähren. Als Trautman sah, was darauf lag, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck noch mehr. Doch er sagte nichts, sondern musterte den Kater nur einen Moment lang stirnrunzelnd und sah sie dann alle der Reihe nach düster an.

»Das ist furchtbar«, sagte er, »aber zugleich auch eine deutliche Warnung. Nur für die, die mir bisher nicht geglaubt zu haben scheinen, wie ernst die Lage ist. « Mike zweifelte für eine Sekunde an seinem Verstand. Das mußte er sich einbilden. So... so herzlos konnte Trautman einfach nicht sein. Nicht einmal jetzt. Und trotzdem fuhr Trautman, in fast unverändertem Tonfall, jetzt aber direkt an Serena gewandt, fort: »Siehst du es nun ein?«

Serena sah nicht zu ihm auf, aber Mike konnte sich nun nicht mehr beherrschen. Nur noch wenig davon entfernt, Trautman wirklich anzuschreien, sagte er: »Was soll das? Glauben Sie, Sie leidet noch nicht genug?«

Erstaunlicherweise schien ihm Trautman seinen Ton nicht übelzunehmen. Er wandte sich langsam zu ihm um und sah ihn auf die gleiche, sonderbare Art an, auf die er gerade Serena gemustert hatte. Dann sagte er: »Ich weiß jetzt, warum die Torpedos nicht getroffen haben. «

»Was hat das -« begann Mike, wurde aber sofort wieder von Trautman unterbrochen, der mit leicht erhobener Stimme fortfuhr: »Jemand hatte sie sabotiert. Die Einstellungen wurden verändert. « »Was?« keuchte Ben.

»Unmöglich!« fügte Juan hinzu, und Chris stammelte: »Aber... aber wer sollte denn... « »Zeig mir dein Kleid, Serena«, verlangte Trautman. Das Mädchen reagierte auch jetzt nicht auf seine Worte, und Trautman wiederholte seine Aufforderung auch kein zweites Mal, sondern ergriff sie an den Schultern und drehte sie fast gewaltsam herum. Serena wehrte sich nicht. Mike hatte das Gefühl, daß sie gar nicht richtig mitbekam, was mit ihr geschah. Trautman ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und musterteaufmerksam das weiße Kleid, das sie trug. Der große Ölfleck, der den weißen Stoff verunzierte, war deutlich zu erkennen. »Aber was... « murmelte Chris.

Trautman brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen und öffnete die linke Faust. Was er darin verborgen hatte, das entpuppte sich als ölverschmierter weißer Stoffetzen. Trautman zog die Falten von Serenas Kleid auseinander, und Mike sah überrascht, daß ein genau gleich großes Stück aus dem Saum von Serenas Kleid fehlte.

»Ich habe dieses Stück Stoff vorne im Torpedoraum gefunden«, erklärte Trautman. »Es steckte im Verschluß eines der Rohre. «

»Aber das... das kann doch gar nicht sein!« stammelte Mike. »Serena, sag, daß... daß das nicht wahr ist. « Serena schwieg. Sie hatte sich wieder halb herumgedreht und starrte den Tisch an, auf dem der versteinerte Kater lag. Sie schien Trautmans Worte gar nicht zu hören.

»Du?« murmelte Ben ungläubig. »Du hast die Torpedos sabotiert?«

»Es gibt keine andere Erklärung«, antwortete Trautman an Serenas Stelle. »Sie war es. « Er schüttelte den Kopf, ließ das Stück Stoff zu Boden fallen und stand auf. »Sie war die ganze Zeit dagegen, erinnert ihr euch? Aber ich hätte nicht gedacht, daß sie soweit geht. « »Aber warum?« murmelte Mike. »Warum hast du das getan, Serena?«

Serena antwortete auch jetzt nicht, sondern sah ihn nur aus tränenverschleierten Augen an. An ihrer Stelle sagte Ben: »Warum spielt ja jetzt wohl keine Rolle mehr. Wir hätten ihr nie trauen dürfen!«

»Sei still!« fuhr ihn Mike an. »Oder -« »Oder?« erkundigte sich Ben lauernd. »Oder was?« »Hört auf damit«, sagte Juan streng. »Das hat im Moment keinen Sinn. Wir müssen schnellstens zwei neue Torpedos bereitmachen. «

»Ich fürchte, das wird nicht gehen«, antwortete Trautman. »Wir brauchen Stunden, um die Torpedos für einen so genauen Schuß einzustellen. « Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch. »Soviel Zeit haben wir nicht mehr. «

»Ganz davon abgesehen, daß die Männer auf der Insel jetzt gewarnt sind«, fügte Singh hinzu. »Ich fürchte«, bestätigte Trautman. »Sie würden uns erwarten, sobald wir auftauchen. « Er seufzte tief. »Uns bleibt jetzt nur noch eine Wahl. « »Welche?« fragte Ben.

Anstelle einer direkten Antwort sah Trautman auf und tauschte einen ernsten Blick mit Singh. Der Inder reagierte mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken darauf, und Mike begriff, daß es zwischen den beiden wohl etwas gab, wovon er und die andern nichts wußten. »Was habt ihr vor?« fragte er geradeheraus. Trautman deutete auf den Kater. »Ihr könnt alle selbst sehen, was passiert, wenn man sich dieser Höllenmaschine auch nur nähert. Und ihr habt gehört, was Mike und Singh berichtet haben. Dieses Ding kann zu einer Gefahr für die gesamte Welt werden, wenn es in falsche Hände gerät. Wir müssen es vernichten. « »Und wie?« fragte Ben nervös.

Bevor Trautman antwortete konnte, erscholl vom Steuerpult her ein heller Glockenton. Trautman und Singh wandten sich gleichzeitig um, und Singh sagte: »Ich sehe nach. «

Während er zum Steuerpult ging, fuhr Trautman fort: »Es gibt noch eine Möglichkeit. Aber sie ist... nicht ganz ungefährlich. «

»Und wie gefährlich ist nicht ganz ungefährlich?« fragte Juan.

»Gefährlich genug, daß ich euch lieber von Bord hätte, wenn ich es versuche«, antwortete Trautman. »Wir werden auftauchen und euch auf der Insel absetzen. Es reicht, wenn Singh und ich allein an Bord zurückbleiben. «

Was hat er vor... ? dachte Mike. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Aber es war Juan, der den Gedanken laut aussprach:

»Sie haben vor, ein Selbstmordunternehmen zu starten, nicht wahr? Sie wollen das Schiff rammen. Mit der NAUTILUS. «

»Aber das ist -« begann Mike.

»Die einzige Möglichkeit«, fiel ihm Trautman ins Wort. »Das würde Ihren Tod bedeuten!« protestierte Ben. »Und den Singhs. Und den Untergang der NAUTILUS!« »Das ist nicht gesagt«, erwiderte Trautman. »Die NAUTILUS ist ein gewaltiges Schiff. Selbst im Vergleich zu der Flugscheibe. Wahrscheinlich wird sie sie einfach zermalmen. Das Schlimmste, was geschehen kann, ist, daß sie anschließend auf dem Strand liegt. « Er versuchte aufmunternd zu lächeln, aber sehr überzeugend wirkte es nicht. »Macht euch keine Sorgen. « »Und wenn Sie sich irren?« keuchte Mike. »Ich meine: Wenn dieses Ding einfach... explodiert oder so was? Ihr würdet sterben! Das lasse ich nicht zu!« Trautman lächelte traurig. Er deutete abermals auf den Kater. »In spätestens zwei oder drei Stunden sind wir sowieso tot«, sagte er ernst. »Wir alle. Und vielleicht sterben nicht Tausende von unschuldigen Menschen. Es ist die einzige Wahl, glaub mir. « »Das ist alles nur deine Schuld!« sagte Ben plötzlich. Er drehte sich zu Serena herum und ballte die Fäuste. Er zitterte am ganzen Leib. »Wenn du die Torpedos nicht sabotiert hättest... !«

»Da kommt irgend etwas auf uns zu«, sagte Singh vom Kommandopult aus. Mike konnte sehen, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. »Was ist los?« fragte Trautman alarmiert. »Um Gottes willen«, murmelte Singh. »Das... das ist unser eigener Torpedo! Weg hier!« Die beiden letzten Worte hatte er geschrien, und plötzlich flogen seine Hände nur so über die Tasten und Schalter auf dem Pult. Binnen einer einzigen Sekunde erwachten die Maschinen zu dröhnendem Leben, und der Boden schwankte so heftig, daß Mike um ein Haar von den Füßen gerissen worden wäre und hastig nach einem Halt griff. Astaroth rollte vom Tisch und wäre zu Boden gestürzt, hätte Serena sich nicht mit einem Schrei vorgeworfen und ihn aufgefangen. Während Mike sich mit aller Macht an der Tischplatte festklammerte, eilte Trautman mit wild rudernden Armen zum Steuerpult, um Singh zu helfen. Er hatte alle Mühe, dabei auf den Beinen zu bleiben, denn die NAUTILUS schoß in jähem Winkel schräg nach oben. Mike konnte hören, wie das Wasser an dem geschlossenen Fenster vorbeirauschte und die Maschinen schriller und schriller heulten. Das Boot mußte mittlerweile mit der Schnelligkeit eines Pfeiles durch das Wasser schießen. Bei diesem Tempo konnte es nur Augenblicke dauern, bis die NAUTILUS die Wasseroberfläche durchbrach.

»Er ist es!« brüllte Trautman, als er das Steuerpult erreicht hatte. »Unser eigener Torpedo! Der zweite, der vorbeigegangen ist! Aber wie kann das sein?!« »Sie müssen ihn fernsteuern!« antwortete Singh ebenso laut und mit deutlicher Panik in der Stimme. »Er ist zu schnell für uns! Ich kann ihn nicht abschütteln. « Die NAUTILUS hatte jetzt offensichtlich die Wasseroberfläche erreicht, brach hindurch und schien tatsächlich eine halbe Sekunde lang schwerelos in der

Luft zu hängen, ehe sie mit einem ungeheuren Krachen wieder zurückfiel. Mike, Ben, Chris, Juan und Serena stürzten hilflos übereinander, und auch Trautman wurde von den Füßen gerissen und fiel. Einzig Singh brachte das Kunststück fertig, sich nicht nur irgendwie am Steuerpult festzuhalten, sondern dabei noch weiter auf den Kontrollinstrumenten des Schiffes herumzuhämmern. Die NAUTILUS schaukelte wild hin und her, legte sich auf die rechte Seite, kippte dann ebenso jäh nach links und richtete sich schließlich träge wieder auf, während sie weiter mit Höchstgeschwindigkeit durch das Wasser schoß. Trotzdem brüllte Singh: »Er holt auf! Noch zwei Minuten! Allerhöchstens!« Mikes Gedanken rasten. Die NAUTILUS war ein gewaltiges Schiff, aber er wußte auch, wie enorm die Sprengkraft der Torpedos war, die sie auf die Flugscheibe abgeschossen hatten. Sie würde zwar nicht ausreichen, die NAUTILUS in Stücke zu reißen, aber durchaus, um ein gewaltiges Loch in ihren Rumpf zu sprengen. Selbst wenn sie die unmittelbare Explosion überstanden, würde das Schiff sinken wie ein Stein! »Raus!« befahl Trautman. »Alle raus! Hoch in den Turm. Schnell!«

Mike bückte sich hastig, klemmte sich den versteinerten Kater unter den einen Arm und ergriff Serena mit der freien Hand. Ohne auf ihre wilde Gegenwehr zu achten, zerrte er sie in die Höhe und hinter sich her auf die Tür zu. Ben, Chris und Juan stürmten bereits voraus und polterten die Wendeltreppe zum Turm hinauf. Mikes Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie den Turm erreicht hatten und sein Blick aus dem mannsgroßen Bullauge fiel. Die NAUTILUS schoß mit solcher Geschwindigkeit durch die See, daß das Wasser aufspritzte wie hinter einem Schnellboot, und die Insel schien nur so auf sie zuzufliegen. Wenn Singh nicht bald den Kurs änderte oder wenigstens die Geschwindigkeit drosselte, dann würden sie weit genug auf den Strand hinaufschießen, daß sie die NAUTILUS hinterher aus dem Wald pflücken konnten. Aber so viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Juan und Ben waren bereits vorausgeklettert und versuchten mit vereinten Kräften, die Turmluke zu öffnen. Endlich schafften sie es, das schwere Rad zu drehen und den Deckel aufzustoßen -und im gleichen Moment traf ein unvorstellbarer Schlag die NAUTILUS.

Es war, als wäre der Himmel auf die Erde herabgestürzt; besser gesagt, auf das Schiff. Die NAUTILUS wurde wie von einem Faustschlag getroffen und in die Höhe gerissen, hob sich mehrere Meter weit aus dem Wasser und stürzte mit unvorstellbarer Wucht wieder zurück. Ben und Juan wurden von der Leiter geschleudert, während Mike, Serena und Chris übereinanderpurzelten, und nur einen Sekundenbruchteil später spülte eine schäumende Flutwelle durch die offenstehende Turmluke herein. Das Dröhnen, Krachen und Bersten hielt an, und Mike konnte darunter noch einen anderen, ungleich schrecklicheren Laut hören: das Kreischen von zerreißendem Metall und dann das furchtbare Geräusch von Wasser, das sich gurgelnd seinen Weg ins Schiff hinein bahnte. Allerdings nicht nur durch das Leck irgendwo im Rumpf, sondern auch von oben. Durch die Turmluke stürzte ein wahrer Wasserfall aus weißem Schaum. Die NAUTILUS war auf Grund gelaufen. Sie bewegte sich nicht mehr, aber sie lag nicht gerade, sondern so schräg auf der Seite, daß das Meer bei jeder Welle durch die Turmluke hereinspülte. Der Turm war bereits halb vollgelaufen, und das Wasser stieg immer schneller -Singh mußte die Notautomatik ausgelöst haben, die alle Sicherheitstüren an Bord des Schiffes schloß, so daß nicht nur der Turm, sondern auch alle anderen Gänge und Räume hermetisch abgeschlossen waren. Auf diese Weise konnte das Wasser wenigstens nicht das gesamte Schiff überfluten, sondern nur in die beschädigten Teile eindringen.

Diese an sich sehr sinnvolle Einrichtung drohte nun allerdings für Mike und die anderen zur Todesfalle zu werden, denn auch die Tür hinter ihnen hatte sich automatisch geschlossen. Das Wasser stand Mike bereits bis zur Brust, und es stieg immer schneller und schneller. Er konnte sich kaum noch auf den Füßen halten. Er hörte Serena neben sich schreien und wollte ihr zu Hilfe eilen, sah dann aber, daß sie selbst gar nicht in Gefahr war. Irgendwie hatte sie es geschafft, eine der eisernen Leitersprossen zu ergreifen und sich daran festzuklammern. Ihr ausgestreckter Arm deutete auf einen Punkt unmittelbar neben Mike, und als sein Blick der Bewegung folgte, sah er gerade noch, wie eine versteinerte graue Katzenpfote in den wirbelnden Fluten versank. Ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in der er selbst schwebte, atmete er noch einmal tief ein und tauchte dann hinter dem Kater her.

Sofort wurde er von dem wirbelnden Wasser ergriffen und herumgeschleudert. Mehrmals prallte er schmerzhaft gegen unsichtbare Hindernisse, ehe seine tastenden Hände endlich Astaroths Schwanz erfaßten. Er griff mit aller Kraft zu, betete, daß er nicht abbrach (was angesichts des unheimlichen Zustandes, in dem sich Astaroth befand, gar nicht so unmöglich und ganz und gar nicht komisch war), und versuchte die Wasseroberfläche zu erreichen. Da war keine Wasseroberfläche mehr. Sein Kopf stieß schmerzhaft gegen Metall, als er nach oben schwamm. In den wenigen Augenblicken, die er nach Astaroth gesucht hatte, mußte der Turm endgültig vollgelaufen sein.

Panik drohte ihn zu übermannen. Mit aller Macht zwang er sich zur Ruhe, tastete mit den Händen blind um sich und fühlte plötzlich eine Leitersprosse unter den Fingern. Er wußte, daß er der Leiter nur zu folgen brauchte, um die offenstehende Luke zu erreichen und damit die Wasseroberfläche. Der Sog war immer noch enorm, aber wenn er sich von Sprosse zu Sprosse zog, konnte er es schaffen.

Er versuchte es, doch seine Hände verweigerten ihm den Dienst, und als er sie in dem trüben Wasser dicht vor das Gesicht hielt, begriff er auch, warum. Seine Finger waren zu Stein geworden. Und das unheimliche Geschehen setzte sich rasend schnell fort. Mikes Lungen brannten bereits vor Atemnot, und sein Herz hämmerte so schnell und schwer, als wollte es in seiner Brust auseinanderspringen. Aus entsetzt aufgerissenen Augen sah er zu, wie sich die graue Färbung in seinen Händen ausbreitete, die Gelenke erreichte und weiter seine Arme hinaufkroch; wie graue Tinte, die sich in einem Stück Löschpapier ausbreitete. Gleichzeitig wich alles Gefühl aus seinen Händen, den Armen und schließlich den Schultern. Seine Lungen schrien vor Schmerz. Wäre er in der Lage dazu gewesen, hätte er in diesem Moment vielleicht den Mund geöffnet und das tödliche Wasser eingeatmet.

Doch das konnte er nicht mehr. Die Lähmung hatte bereits seinen Hals erreicht und wanderte schnell und unaufhaltsam weiter nach oben, in sein Gesicht und seinen Kopf und hinab zu seinem Herzen. Als die Dunkelheit schließlich kam, war es fast wie eine Erlösung. Er ertrank nicht.

Seine Lungen brauchten keinen Sauerstoff mehr, denn sie waren zu Stein geworden.

Als Mike die Augen aufschlug, hatte er das gleiche Gefühl, das man manchmal nach einem sehr langen, sehr entspannenden Schlaf hatte: Er wußte, daß viel Zeit vergangen war, und irgendwie erinnerte er sich auch an alles, was in dieser Zeit gewesen war; wenn auch nicht so, daß er es tatsächlich jemandem hätte erzählen können. Es war, als wäre er tot, aber in Wirklichkeit doch nicht, oder als schliefe er, ohne wirklich eingeschlafen zu sein. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, gepaart mit dem sicheren Wissen, daß er entsetzlich lange in diesem düsteren Zwischenreich zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Doch was eigentlich zählte, war, daß er überhaupt imstande war, diesen Gedanken zu denken. Die bloße Tatsache allein nämlich bewies, daß er noch lebte. Dabei hätte er tot sein müssen - und sozusagen zweifach, hatte er doch die Wahl zwischen Ertrinken und Versteinern gehabt, und -

Da gäbe es schon noch eine dritte Möglichkeit, flüsterte eine wohlbekannte Stimme in spöttischherablassendem Tonfall in seinen Gedanken. Du könntest dir zum Beispiel einen Knoten ins Gehirn machen und auch noch dein letztes bißchen Verstand verlieren. »Astaroth?« murmelte Mike. Und dann schlug er mit einem Ruck die Augen auf, setzte sich hoch und schrie mit vollem Stimmaufwand: »Astaroth?!« Alles in der gleichen Sekunde, und das war zu schnell, denn ihm wurde auf der Stelle schwindelig, und er stürzte hilflos zur Seite. Leicht benommen registrierte er, daß er in weichen Sand fiel, nicht auf harten Stahl, und daß das Licht, das durch seine hastig wieder geschlossenen Lider drang, offenbar das der Sonne sein mußte, nicht mehr die künstliche Beleuchtung, wie sie an Bord der NAUTILUS herrschte.

Ganz recht. Das ist dieser dämliche Name, den du mir verpaßt hast. Zumindest scheinst du dich noch an deine

Schandtaten zu erinnern. Das gibt mir Hoffnung, daß noch nicht alles zu spät ist.

Mike öffnete behutsam ein zweites Mal die Augen und blickte direkt in ein schwarzes, einäugiges Katergesicht, das nur noch Zentimeter von seiner Nasenspitze entfernt war.

Und aus dem im nächsten Moment eine rauhe Katzenzunge herausschnellte, die quer über sein Gesicht schleckte.

»He!« protestierte Mike. »Laß das gefälligst!« Er schob Astaroth mit sanfter Gewalt von sich, setzte sich vorsichtig wieder auf und sah sich um. Er befand sich auf dem Strand, nur wenige Meter vom Meer entfernt, aber doch in Sicherheit. Und er war ebensowenig tot und versteinert wie Astaroth. Nicht daß er auch nur im entferntesten verstand, warum das so war...

Hätte mich auch gewundert, wenn du irgend etwas verstanden hättest, flüsterte Astaroths telepathische Stimme in seinen Gedanken.

»Aber wieso... stammelte Mike. »Was... wo... ich meine... «

Astaroth seufzte. Gib's auf, sagte er. Sonst machst du dir nachher wirklich noch einen Knoten ins Gehirn. »Hör mit dem Quatsch auf«, sagte Mike ein wenig verärgert. »Was ist hier passiert? Wieso bin ich hier? Und wieso lebe ich noch - und du?«

Welche von den vier Fragen soll ich zuerst beantworten? erkundigte sich Astaroth.

Mike nahm ihm die Antwort ab, indem er eine Handvoll Sand nach dem Kater schleuderte. Astaroth wich dem Sandregen mit einer geschickten Bewegung aus, und Mike glaubte so etwas wie ein gedankliches Lachen hinter seiner Stirn zu hören. Aber in der nächsten Sekunde hörte er ein wirkliches Lachen, nicht weit entfernt. Rasch drehte er sich herum und sah etwas, was ihn im ersten Moment kaum weniger überraschte, als es der Anblick Astaroths getan hatte. Er war nicht allein auf dem Strand. Nur ein paar Schritte entfernt hielten sich Ben, Chris, Juan und Serena auf - doch nicht nur sie. Mindestens zwei Dutzend der hochgewachsenen, bronzehäutigen Eingeborenen umstanden seine Freunde, schnatterten aufgeregt und gestikulierten dabei heftig mit den Händen, und bei ihnen war auch Weisser, der vermeintliche deutsche Marineoffizier.

Nur daß er kein Marineoffizier war. Und auch kein Deutscher.

Vielleicht war er nicht einmal ein Mensch, im herkömmlichen Sinne.

Weisser stand direkt neben Serena. Die beiden unterhielten sich angeregt, und als Mike sie nebeneinander sah, da fragte er sich verblüfft, wie um alles in der Welt er es auch nur für eine Sekunde nicht hatte merken können.

Weisser ähnelte Serena wie ein älterer Bruder. Seine Gestalt war ebenso feingliedrig wie die des Mädchens, die Wangenknochen hatten den gleichen, exotischen Schnitt, und das Verblüffendste überhaupt waren seine Augen, die Mike die ganze Zeit über so irritiert hatten. Es waren Serenas Augen. Die Augen eines Atlanters.

Ganz langsam stand Mike auf und ging zu der Gruppe hinüber. Juan und die anderen begrüßten ihn mit großem Hallo, und Serena unterbrach sofort ihr Gespräch mit Weisser, eilte ihm entgegen und schloß ihn so stürmisch in die Arme, als hätten sie sich tagelang nicht mehr gesehen. Mike ließ ihre Begrüßung einige Sekunden lang über sich ergehen, dann aber löste er ihre Arme von seinem Hals und schob sie sanft von sich. »Was ist hier los?« fragte er.

»Wie... wie komme ich hierher, und was... was ist überhaupt passiert? Was macht dieser Kerl hier?« Er deutete auf Weisser, aber Serena hob beruhigend die Hand. »Langsam, Mike«, sagte sie. »Ich erkläre dir alles, aber bitte beruhige dich erst einmal. Weisser ist nicht unser Feind. Das war er niemals, weißt du?« »Nein«, maulte Mike. »Das weiß ich nicht! Wo -« Er brach verblüfft ab, als sein Blick in das Gesicht eines der Eingeborenen hinter Serena fiel. Es war das Gesicht des Mannes mit der Narbe, den Singh und er in der Hütte des Medizinmannes gesehen hatten. Aber er war jetzt wieder vollkommen gesund. Sein Arm, der sich in Stein verwandelt gehabt hatte, bestand wieder aus Fleisch und Blut. Als er Mikes Verblüffung bemerkte, grinste er breit und sagte ein einzelnes Wort in seiner Muttersprache, das Mike zwar nicht verstand, auf das die anderen Eingeborenen aber mit grölendem Gelächter reagierten.

»Wo sind Trautman und Singh?« fragte Mike. »Und wo sind die Fremden?«

Serena wollte antworten, doch Weisser machte eine rasche Handbewegung. »Kapitän Trautman und Singh sind noch an Bord der NAUTILUS. Mach dir keine Sorgen um sie. «

»Keine Sorgen?« keuchte Mike. »Aber die NAUTILUS ist gesunken. Sie werden ertrinken, wenn wir sie nicht herausholen. « »So wie du?« fragte Weisser. Mike blinzelte verwirrt. Er sagte nichts. »Und... die anderen?« murmelte er nach einer Weile. »Die Fremden?«

»Sie sind fort«, antwortete Serena. »Nachdem sie die NAUTILUS versenkt hatten, hatten sie es plötzlich sehr eilig. Das Schiff ist noch am gleichen Abend verschwunden. « Ihre Stimme wurde etwas leiser, und ein bedauernder Ton klang darin mit. »Sie haben die Flugscheibe mitgenommen. «

»Sind wir... deshalb wieder aufgewacht?« fragte Mike stockend.

Serena verneinte und deutete auf Weisser. »Nein. Er hat Astaroth und dich aufgeweckt. Und er wird auch Trautman und Sing wieder wecken, sobald wir sie aus dem Schiff geholt haben. « »Du meinst, sie sind auch... versteinert?« »Ein interessantes Wort«, sagte Weisser. »Es trifft es nicht ganz, aber... ja, ich denke, das sind sie. Sie waren dem Sternenschiff nahe genug, damit es sie auch beschützen konnte. «

»Beschützen?« keuchte Mike. »Wie bitte?« »Du bist nicht durch Zufall in dem Moment erstarrt, in dem dir der Tod drohte«, sagte Weisser ernst. »Es ist die Aufgabe dieses Schiffes, Leben zu retten. Nicht, es zu zerstören. «

»Wir haben uns von Anfang an getäuscht, Mike«, fügte Serena hinzu. »In diesem Punkt sind die alten Legenden falsch. Diese Wesen von den Sternen sind niemals unsere Feinde gewesen, sowenig, wie sie heute eure Feinde sind. Sie sind gar nicht in der Lage, jemandem etwas anzutun. «

»Aber... aber all die toten Fische«, murmelte Mike. »Und die Männer auf Ihrem Schiff, Weisser. « »Ich will versuchen, es dir zu erklären«, sagte Weisser. »Auch wenn ich selbst so manches noch nicht ganz verstehe. Prinzessin Serena hat recht -die alten Legenden irren in einem Punkt. Diese Wesen, die unser Volk vor zehntausend Jahren besuchten, waren nicht unsere Feinde. Und dieses Schiff hatte die Aufgabe, die Brüder zu holen, die vor langer Zeit auf der Erde zurückgeblieben sind und die ihr in den Laderäumen der TITANIC gefunden habt. « Er deutete nach oben. »Du mußt eines verstehen, Mike. Diese Wesen mögen uns technisch unendlich überlegen sein, aber ihre Heimat ist auch unendlich weit fort. Viel weiter, als sich einer von uns auch nur vorzustellen vermag. Selbst mit dem schnellsten Schiff, sogar wenn es schnell fliegt wie das Licht, dauert eine Reise dorthin Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Niemand würde es ertragen, so lange auf engstem Raum eingesperrt zu sein. Es ist wohl eine Art... Schlaf, in die der Körper versetzt wird, um all diese Jahre zu überstehen. «

»Sie meinen... diese Versteinerung war ein... Tiefschlaf?« murmelte Mike.

»Ich vermute es«, sagte Weisser. »Als das Schiff die TI-TANIC rammte und sie sank, wären die Sternenwesen in ihren Särgen im Laderaum ertrunken, und so tat es das einzige, was es tun konnte, um sie zu retten. « Mike starrte den vermeintlichen Marineoffizier nachdenklich an, aber er widersprach nicht. Er erinnerte sich plötzlich an die Szene auf dem Meeresgrund, als Hasim und er den ersten »Sarg« mit einem Außerirdischen aus dem Wrack der TITANIC geborgen hatten. Er hatte einen Blick auf das Wesen darin werfen können und es für schlafend gehalten, aber jetzt, als er darüber nachdachte...

»Und alles andere? Warum die Fische. Warum wir? Weshalb haben wir uns zu verändern begonnen?« »Ich weiß es nicht«, gestand Weisser. »Vielleicht wurde das Schiff beim Zusammenstoß mit der TITANIC doch stärker beschädigt, so daß die Maschine nicht mehr ordnungsgemäß funktioniert. Ich bin hierhergekommen, um dieses Rätsel zu lösen, aber die anderen waren schneller als ich. Wärt ihr nicht gekommen, wäre mir vielleicht genug Zeit dazu geblieben, aber nach dem Angriff der NAUTILUS sind sie sehr schnell verschwunden. «

»Sie meinen, wir haben alles versaut«, murmelte Mike. Weisser lächelte. »Ihr konntet es nicht wissen. Es war mein Fehler. Als ich dich und Singh traf, hätte ich euch alles erzählen sollen. Aber ich wollte euch nicht in Gefahr bringen. Und vor allem Prinzessin Serena nicht. Du mußt dir nichts vorwerfen. Ich an eurer Stelle hätte vermutlich genauso gehandelt. Und es ist noch nicht alles zu spät. « Er deutete auf das Meer hinaus. »Sie sind fort, aber ich denke, ich weiß, wo wir sie finden können. Wir werden die NAUTILUS heben und reparieren, und danach werden wir sie suchen. « »Wir?« vergewisserte sich Mike.

Sein Blick wanderte irritiert zwischen Serena und Weisser hin und her. Irgend etwas ging zwischen den beiden vor. »Wieso wir?« »Diese Männer in dem schwarzen Schiff, Mike«, sagte Weisser ernst, »sind so wie Serena und ich. Sie sind Nachfahren unseres Volkes. « »Sie sind Atlanter?« fragte Mike ungläubig. »In gewissem Sinne«, erwiderte Weisser geheimnisvoll. »Auf jeden Fall verfügen sie über das alte Wissen von Atlantis, und das macht sie zu einer großen Gefahr, vor allem jetzt, wo sie auch noch das Sternenschiff in ihrer Gewalt haben. Wir müssen sie unschädlich machen. Ich weiß, wo ihr Versteck ist, und die NAUTILUS ist das einzige Schiff auf der Welt, das in der Lage ist, mich dorthin zu bringen. «

»Und was bringt Sie auf die Idee, daß wir Ihnen dabei helfen könnten?« fragte Mike. »Oder es überhaupt wollen?«

Weisser antwortete nicht mehr, aber Serena sagte -zwar in scharfem Ton, aber trotzdem lächelnd: »Jetzt reicht es aber. Selbstverständlich werden wir ihm helfen. Ohne ihn wärst du jetzt tot - und wir anderen vermutlich auch. «

Ohne ihn, dachte Mike, wären wir vielleicht gar nicht in diese Gefahr geraten. Aber er sprach diesen Gedanken nicht aus. Ein einziger Blick in Serenas Gesicht machte ihm klar, wie sinnlos das gewesen wäre. »Wir haben genug Zeit verloren«, sagte Weisser plötzlich »Später ist noch ausreichend Gelegenheit, über alles zu reden. Du hast sicher noch tausend Fragen, aber jetzt sollten wir uns daran machen, die NAUTILUS zu heben. «

Er fügte einige Worte in der Eingeborenensprache hinzu, woraufhin sich alle -selbst Juan und Ben gehorsam in Richtung auf das Meer hin in Bewegung setzten. Mike sah erst jetzt, daß einige der Riffe, die unweit des Strandes aus der Brandung aufragten, keine Riffe waren, sondern die metallenen Aufbauten der NAUTILUS, die dort gesunken war.

Weisser hat recht, dachte er niedergeschlagen. Er hatte nicht tausend, sondern eher zehntausend Fragen, aber die mußten warten. Sie hatten eine Menge Arbeit vor sich.

Erst als sich auch Serena - und sogar Astaroth! - umwandten, um mit den anderen zum Strand zu gehen, fiel ihm auf, daß als einziger Chris bei ihm zurückgeblieben war. Ihm fiel auch der nachdenkliche Gesichtsausdruck des Jüngsten der Besatzung auf, und so sah er ihn fragend an.

»Wir haben verdammtes Glück gehabt, daß wir diesen... Mann von Atlantis getroffen haben, nicht wahr? « fragte Chris.

Er tat es in einem Ton, der Mike aufhorchen ließ. »Du magst ihn nicht, wie?« fragte er. Chris zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, mir geht es wie dir«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob ich ihn mag, das ist das Problem. Und ob ich ihm trauen soll. « »Die anderen tun es«, antwortete Mike. »Selbst Serena scheint ganz versessen auf ihn zu sein. « Er schüttelte den Kopf und sah der schlanken Gestalt in der zerschlissenen blauen Marineuniform nachdenklich hinterher.

»Ich frage mich, wer dieser Mann wirklich ist«, flüsterte er. Chris sah ihn völlig überrascht an. »Oh«, sagte er nach

einer kleinen Pause. »Hat Astaroth es dir nicht gesagt?

Und Serena auch nicht?«

»Astaroth hat mir gar nichts gesagt«, erwiderte Mike. »Und woher sollte Serena wissen, wer er ist?« »Wenn nicht sie, wer dann?« fragte Chris. »Dieser Mann -« Er deutete auf Weisser und Serena, die Hand in Hand den Strand hinuntergingen. »- ist ihr

Vater. «

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