Zweiter Teil

16 Neue Bekanntschaften

Während der Morgen sich unausweichlich dem Mittag näherte, wurden Rothens Lider vor Erschöpfung immer schwerer. Er schloss die Augen und beschwor ein wenig heilende Magie herauf, um sich zu erfrischen; dann griff er wieder nach seinem Buch und zwang sich, weiterzulesen.

Noch bevor er mit der Seite fertig war, ertappte er sich dabei, dass er immer wieder zu dem schlafenden Mädchen hinüberschaute. Sie lag in einem kleinen Schlafzimmer in seiner Wohnung, in dem Bett, das früher einmal seinem Sohn gehört hatte. Einige seiner Kollegen hatten Einwände dagegen erhoben, dass er sie im Quartier der Magier untergebracht hatte. Obwohl er ihre Befürchtungen nicht teilte, hatte er sie dennoch im Auge behalten – nur für den Fall der Fälle.

In der dunkelsten Stunde der Nacht hatte er Yaldin gestattet, über Sonea zu wachen, damit er ein wenig Ruhe finden konnte. Aber statt zu schlafen, hatte er wach dagelegen und über das Mädchen nachgedacht. Es gab so vieles zu erklären. Er wollte auf all die Fragen und Anklagen vorbereitet sein, mit denen sie ihn gewiss konfrontieren würde. In Gedanken hatte er mögliche Gespräche wieder und wieder durchgespielt und schließlich den Versuch zu schlafen aufgegeben, um an ihre Seite zurückzukehren.

Sie selbst hatte den größten Teil des Tages geschlafen. Magische Erschöpfung wirkte sich bei jungen Menschen häufig so aus. In den zwei Monaten seit der Säuberung war ihr Haar ein wenig länger geworden, aber ihre Haut war bleich und spannte sich straff über die Knochen ihres Gesichts. Bei der Erinnerung daran, wie leicht sie in seinen Armen gewesen war, schüttelte Rothen den Kopf. Die Zeit bei den Dieben war ihrem Gesundheitszustand eindeutig abträglich gewesen. Seufzend richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch.

Nachdem es ihm gelungen war, eine weitere Seite zu lesen, blickte er auf. Dunkle Augen starrten ihn an.

Dann wanderte der Blick des Mädchens über seine Roben. Und im nächsten Moment versuchte sie auch schon, sich mit hektischen Bewegungen aus den Laken zu befreien. Als es ihr schließlich gelungen war, besah sie sich voller Entsetzen das Nachtgewand aus schwerer Baumwolle, das sie trug.

Rothen legte das Buch auf den Tisch neben dem Bett und stand auf, wobei er jede schnelle Bewegung vermied. Das Mädchen presste sich mit weit aufgerissenen Augen gegen die Wand. Rothen öffnete die Türen eines Schranks im hinteren Teil des Raums und nahm einen dicken Morgenmantel heraus.

»Hier«, sagte er und reichte ihr das Kleidungsstück. »Das ist für dich.«

Sie starrte das Gewand an, als sei es ein wildes Tier.

»Nimm nur«, drängte er sie und machte einen Schritt auf sie zu. »Du frierst bestimmt.«

Stirnrunzelnd riss sie ihm den Morgenmantel aus der Hand. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, schlüpfte sie in das Kleidungsstück und schlang es fest um ihren mageren Leib, bevor sie sich wieder an die Wand zurückzog.

»Ich heiße Rothen«, sagte er.

Keine Reaktion.

»Wir wollen dir nichts Böses, Sonea«, fuhr er fort. »Du hast nichts von uns zu befürchten.«

Ihre Augen wurden schmal, und ihr Mund verwandelte sich in eine dünne Linie.

»Du glaubst mir nicht.« Er zuckte die Achseln. »Ich an deiner Stelle täte das auch nicht. Hast du unseren Brief bekommen, Sonea?«

Ein Ausdruck der Verachtung legte sich über ihre Züge. Er widerstand dem Drang zu lächeln.

»Natürlich, das hast du uns auch nicht geglaubt, nicht wahr? Was hat die größten Zweifel in dir geweckt?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schaute aus dem Fenster und gab ihm immer noch keine Antwort. Er unterdrückte einen Anflug von Ärger. Widerstand, ja, sogar diese lächerliche Weigerung, auf Fragen zu antworten, waren zu erwarten gewesen.

»Sonea, wir müssen miteinander reden«, sagte er sanft. »Ob du willst oder nicht, du besitzt eine Macht, die du zu beherrschen lernen musst. Wenn du es nicht tust, wird diese Macht dich töten. Ich weiß, dass dir das klar ist.«

Sie zog die Brauen zusammen, blickte aber weiter nur aus dem Fenster. Rothen gestattete sich einen Seufzer.

»Welche Gründe deine Abneigung gegen uns auch haben mag, du musst begreifen, dass es töricht wäre, unsere Hilfe abzulehnen. Gestern haben wir nicht mehr getan, als die Kraft zu erschöpfen, die du in dir trägst. Es wird nicht lange dauern, bis diese Kräfte in dir abermals stark und gefährlich werden. Denk darüber nach.« Er hielt inne. »Aber lass dir nicht allzu viel Zeit dabei.«

Er wandte sich zur Tür um und streckte die Hand nach dem Griff aus.

»Was muss ich tun?«

Ihre Stimme klang hoch und schwach. Trotz des jähen Triumphgefühls, das in ihm aufstieg, gelang es ihm, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Er drehte sich wieder um, und sein Herz krampfte sich zusammen, als er die Angst in ihren Augen sah.

»Du musst lernen, mir zu vertrauen«, antwortete er.


Der Magier – Rothen – war zu seinem Stuhl zurückgekehrt. Soneas Herz hämmerte noch immer, wenn auch nicht mehr gar so schnell wie zuvor. In dem Morgenmantel fühlte sie sich jetzt ein klein wenig sicherer. Sie wusste, dass er keinen Schutz gegen Magie bot, aber immerhin verhüllte er das lächerliche Ding, das man ihr angezogen hatte.

Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht besonders groß. An der einen Wand stand ein hoher Schrank, an einer anderen das Bett und in der Mitte ein kleiner Tisch. Die Möbel waren aus teurem, poliertem Holz gemacht. Auf dem Tisch lagen kleine Kämme und Schreibutensilien aus Silber. An der Wand darüber hing ein Spiegel, und die Wand hinter dem Magier zierte ein Gemälde.

»Kontrolle ist etwas sehr schwer Fassbares«, erklärte Rothen. »Um es dir zu zeigen, muss ich in deinen Geist eindringen, aber das kann ich nicht tun, wenn du dich gegen mich wehrst.«

Sonea musste an die Novizen denken, die in einem Klassenzimmer gestanden hatten. Jeweils einer von ihnen hatte einem anderen die Hände auf die Schläfen gelegt. Die Erklärungen des Lehrers stimmten mit dem überein, was Rothen sagte. Sonea verspürte eine beklommene Befriedigung, weil sie wusste, dass dieser Magier die Wahrheit sagte. Kein Magier konnte unaufgefordert in ihren Geist eindringen.

Dann runzelte sie die Stirn, denn sie erinnerte sich plötzlich wieder an die Aura, die ihr die Quelle ihrer Magie gezeigt hatte und auch, wie sie sie benutzen musste.

»Gestern habt Ihr das aber getan.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe dich zu deiner eigenen Magie geführt und dir dann an meiner eigenen Magie demonstriert, wie du sie benutzen musst. Das ist etwas gänzlich anderes. Um dich zu lehren, wie du deine Magie kontrollieren kannst, muss ich an den Ort in dir vordringen, an dem deine Macht wohnt. Und um dorthin zu gelangen, muss ich in deinen Geist eindringen.«

Sonea wandte den Blick ab. Einen Magier in ihren Geist einlassen? Was würde er sehen? Würde er alles sehen oder nur die Dinge, die zu sehen sie ihm gestattete?

Hatte sie denn eine Wahl?

»Rede mit mir«, drängte der Magier sie. »Stell mir alle Fragen, die dich bewegen. Wenn du mehr über mich erfährst, wirst du feststellen, dass ich ein vertrauenswürdiger Mensch bin. Du brauchst nicht die ganze Gilde zu mögen, du brauchst nicht einmal mich zu mögen. Du musst mich nur gut genug kennen, um darauf zu vertrauen, dass ich dich lehren werde, was du wissen musst, und dir keinen Schaden zufügen will.«

Sonea sah ihn sich ein wenig genauer an. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt oder älter. Obwohl sich graue Strähnen durch sein dunkles Haar zogen, waren seine Augen blau und lebendig. Die Falten um Mund und Augen verliehen ihm einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Er wirkte wie ein freundlicher, väterlicher Mann – aber sie war keine Närrin. Betrüger sahen immer ehrlich und anziehend aus. Wenn es anders wäre, könnten sie sich nicht durchs Leben schlagen. Natürlich würde die Gilde dafür sorgen, dass sie zuerst ihren sympathischsten Magier kennen lernte.

Sonea schaute tiefer. Als sie in seine Augen sah, erwiderte er ihren Blick vollkommen ruhig. Seine gelassene Zuversicht verstörte sie. Entweder war er sich ganz sicher, dass sie nichts entdecken konnte, woran sie Anstoß nehmen würde, oder aber er glaubte, sie mit einer List dahin bringen zu können, genau diesen Eindruck zu gewinnen.

So oder so, vor ihm lag eine schwierige Aufgabe, soviel stand für Sonea fest.

»Warum sollte ich Euch irgendetwas glauben, was Ihr mir erzählt?«

Er hob die Schultern. »Warum sollte ich dich belügen?«

»Um zu bekommen, was Ihr haben wollt. Warum sonst?«

»Und was will ich haben?«

Sie zögerte. »Das weiß ich noch nicht.«

»Ich will dir lediglich helfen, Sonea.« Er klang aufrichtig besorgt.

»Ich glaube Euch nicht«, antwortete sie.

»Warum nicht?«

»Ihr seid ein Magier. Es heißt, Ihr hättet einen Schwur geleistet, die Menschen zu beschützen, aber ich habe euch töten sehen.«

Die Falten zwischen seinen Brauen vertieften sich, dann nickte er langsam. »Das hast du allerdings. Wie wir schon in unserem Brief an dich geschrieben haben, hatten wir nicht die Absicht, an jenem Tag irgendjemanden zu verletzen – weder dich noch den Jungen.« Er seufzte. »Es war ein schreckliches Versehen. Wenn ich gewusst hätte, was geschehen würde, hätte ich die anderen niemals auf dich aufmerksam gemacht. Es gibt viele Methoden, um Magie auszusenden, und die gebräuchlichste davon ist der ›Schlag‹. Der schwächste dieser Art ist der ›Betäubungsschlag‹, der dazu gedacht ist, einen Menschen zu lähmen; die Muskeln des Betroffenen erstarren, so dass er sich nicht mehr bewegen kann. Die Magier, die den Jungen angegriffen haben, haben alle den ›Betäubungsschlag‹ benutzt. Erinnerst du dich an die Farbe der Schläge?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht hingesehen.« Weil ich zu beschäftigt damit war, wegzulaufen, dachte sie, aber sie hatte nicht die Absicht, das laut auszusprechen.

Der Magier runzelte die Stirn. »Dann wirst du mir einfach glauben müssen, wenn ich sage, dass sie alle rot waren. Ein ›Betäubungsschlag‹ ist rot. Aber da so viele Magier gleichzeitig reagiert haben, haben sich einige der ›Schläge‹ zusammengefügt und sind zu einem stärkeren ›Feuerschlag‹ verschmolzen. Diese Magier hatten keinerlei Absicht, irgendjemandem Schaden zuzufügen, sie wollten den Jungen lediglich daran hindern, wegzulaufen. Ich versichere dir, dass unser Fehler uns großen Kummer bereitet und eine Menge Tadel vom König und von den Häusern eingetragen hat.«

Sonea rümpfte die Nase. »Als ob die sich für so etwas interessieren würden.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ah, sie interessieren sich sehr wohl dafür. Ich gebe zu, dass ihre Gründe eher mit dem Wunsch zusammenhängen, die Gilde unter Kontrolle zu halten, als mit Mitgefühl für den Jungen oder seine Familie, aber man hat uns sehr wohl für unseren Fehler zur Rechenschaft gezogen.«

»Wie?«

Er lächelte schief. »Protestbriefe. Öffentliche Ansprachen. Eine Verwarnung vom König. Das klingt nicht besonders beeindruckend, aber in der Welt der Politik sind Worte erheblich gefährlicher als Schlagstöcke oder Magie.«

Sonea schüttelte den Kopf. »Die Magie ist Euer Geschäft. Sie ist das, worauf Ihr Euch angeblich am besten versteht. Ein einzelner Magier mag einen Fehler machen, aber nicht so viele von Euch gleichzeitig.«

Er breitete die Hände aus. »Glaubst du, wir verbrächten unsere Tage damit, uns darauf vorzubereiten, dass ein mittelloses Mädchen uns mit von Magie geleiteten Steinen angreifen könnte? Unsere Krieger werden in den kompliziertesten Manövern und Kriegsstrategien ausgebildet, aber keine Situation, wie sie in der Arena vorkommt, hätte sie auf einen Angriff durch ihre eigenen Leute vorbereiten können – Menschen, die sie für harmlos hielten.«

Sonea prustete laut. Harmlos. Sie sah, dass Rothen angesichts ihrer Reaktion die Lippen zusammenpresste. Wahrscheinlich findet er mich abstoßend, überlegte sie. Für die Magier waren die Hüttenleute schmutzig, hässlich und lästig. Hatten sie überhaupt eine Ahnung, wie sehr die Vorstadtbewohner sie hassten?

»Aber Ihr habt früher schon Dinge getan, die fast genauso schlimm waren«, entgegnete sie. »Ich habe Menschen mit Brandwunden gesehen, die Magier ihnen zugefügt hatten. Dann sind da noch jene, die zertrampelt werden, wenn Ihr die Menge so sehr in Panik versetzt, dass die Menschen in blinder Flucht davonlaufen. Die meisten jedoch erfrieren später in der Kälte der Hüttensiedlungen.« Sie musterte ihn mit schmalen Augen. »Aber Ihr begreift natürlich nicht, dass die Gilde auch daran die Schuld trägt, nicht wahr?«

»Es hat in der Vergangenheit Unfälle gegeben«, räumte er ein. »Magier, die unvorsichtig waren. Sofern es möglich war, hat man die Opfer später geheilt und entschädigt. Was die Säuberung selbst betrifft…« Er schüttelte den Kopf. »Viele von uns denken, dass diese Maßnahme nicht länger notwendig ist. Weißt du, wie und warum die Säuberungen eigentlich begonnen haben?«

Sie öffnete den Mund, um eine spitze Antwort zu geben, zögerte dann jedoch. Es konnte nicht schaden, zu erfahren, warum die Säuberungen seiner Meinung nach begonnen hatten. »Dann erzählt es mir.«

Ein geistesabwesender Ausdruck trat in Rothens Augen. »Vor über dreißig Jahren ist im hohen Norden ein Berg explodiert. Ruß erfüllte den Himmel und ließ das Licht der Sonne nicht mehr durchdringen. Der folgende Winter war so lang und kalt, dass wir keinen echten Sommer hatten, bevor der nächste Winter begann. Überall in Kyralia und Elyne verdarben die Ernten, und das Vieh starb. Hunderte, vielleicht Tausende von Bauern und ihre Familien strömten in die Stadt, aber es gab nicht genug Arbeit für sie alle und auch nicht genug Quartiere.

Die Stadt war voll von hungernden Menschen. Der König verteilte Nahrungsmittel und veranlasste, dass Orte wie die Rennbahn geräumt wurden, um den Menschen ein Obdach zu bieten. Er schickte einige der Bauern zurück auf ihre Höfe, versehen mit genug Nahrungsmitteln, um bis zum nächsten Sommer durchzukommen. Es gab allerdings nicht für jeden genug.

Wir erklärten den Menschen, dass der nächste Winter weniger hart werden würde, aber es gab viele, die uns nicht glaubten. Einige von ihnen dachten sogar, die Welt würde vollends zufrieren, und wir würden alle den Tod finden. Sie warfen jeden Anstand über Bord und überfielen andere, weil sie davon ausgingen, dass niemand am Leben bleiben würde, um sie zu bestrafen. Nach einer Weile waren die Straßen so unsicher, dass selbst bei hellem Tageslicht Gefahr drohte. Banden brachen in Häuser ein, und Menschen wurden in ihren Betten ermordet. Es war eine furchtbare Zeit.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Zeit, die ich niemals vergessen werde. Der König schickte damals die Garde aus, um die Banden aus der Stadt zu vertreiben. Als klar wurde, dass dieses Unterfangen nicht ohne Blutvergießen abgehen würde, bat er die Gilde um Hilfe. Der nächste Winter war ebenfalls hart, und als der König Anzeichen dafür entdeckte, dass sich ähnliche Probleme abermals ergeben würden, beschloss er, für Ordnung zu sorgen, bevor die Situation sich aufs Neue zuspitzte. Und so ist es seither in jedem Jahr gewesen.«

Rothen seufzte. »Viele sagen, die Säuberungen hätten schon vor Jahren eingestellt werden müssen, aber das Gedächtnis der Menschen ist lang, und die Hüttenviertel haben sich seit jenem Winter um ein Vielfaches vergrößert. Viele Menschen fürchten sich vor dem, was geschehen wird, wenn die Stadt nicht jeden Winter gesäubert wird, vor allem jetzt, da es die Diebe gibt. Sie befürchten, dass die Diebe eine solche Situation ausnützen würden, um die Kontrolle über die Stadt an sich zu reißen.«

»Das ist doch lächerlich!«, rief Sonea. Rothens Version der Geschichte war, wie vorauszusehen, einseitig, aber einige der Gründe, die er für die erste Säuberung genannt hatte, waren ihr neu. Explodierende Berge? Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Er würde sich einfach auf ihre Unwissenheit herausreden. Aber etwas wusste sie, das er nicht wusste.

»Es war gerade die Säuberung, die dazu geführt hat, dass die Diebe sich zusammenschlossen«, erklärte sie ihm. »Glaubt Ihr, all die Menschen, die Ihr damals vertrieben habt, waren Räuber und Bandenmitglieder? Ihr habt die hungernden Bauern und ihre Familien vertrieben und diejenigen, die wie die Bettler und Hausierer auf die Stadt angewiesen sind. Diese Menschen haben sich zusammengetan, um einander zu helfen. Sie haben überlebt, indem sie sich den Gesetzlosen anschlossen, denn sie sahen keinen Grund, sich noch länger nach den Gesetzen des Königs zu richten. Er hatte sie fortgejagt, als er ihnen eigentlich hätte helfen sollen.«

»Er hat so vielen Menschen wir nur möglich geholfen.«

»Aber nicht allen und nicht jetzt. Glaubt Ihr denn, dass er die Straßen von Räubern und Banden säubert? Nein, es sind gute Menschen, die von dem leben, was die Reichen wegwerfen, oder ein Gewerbe in der Stadt betreiben, aber in den Hütten leben. Die Gesetzlosen sind die Diebe – und die Diebe kümmert die Säuberung nicht im Geringsten, denn sie können die Stadt betreten und wieder verlassen, wann immer ihnen der Sinn danach steht.«

Rothen nickte langsam und mit nachdenklicher Miene. »Etwas Derartiges habe ich schon vermutet.« Er beugte sich vor. »Sonea, mir gefällt die Säuberung genauso wenig wie dir – und ich bin nicht der einzige Magier, der so denkt.«

»Aber warum tut Ihr es dann?«

»Weil wir, wenn der König etwas von uns verlangt, durch unseren Eid gebunden sind und ihm gehorchen müssen.«

Sonea schnaubte. »Also könnt Ihr dem König an allem, was Ihr tut, die Schuld geben.«

»Wir sind alle Untertanen des Königs«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Die Gilde muss ihm gehorchen, damit die Menschen nicht glauben, wir wollten selbst die Herrschaft über Kyralia an uns reißen.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wenn wir die skrupellosen Mörder sind, für die du uns hältst, warum haben wir das dann nicht schon vor langer Zeit getan, Sonea? Warum regieren dann nicht die Magier über das Land?«

Sonea zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht, aber für die Hüttenleute würde es keinen Unterschied machen. Wann habt Ihr uns jemals etwas Gutes getan?«

Rothens Augen wurden schmal. »Es gibt viele Dinge, von denen du nichts bemerkst.«

»Zum Beispiel?«

»Wir halten zum Beispiel den Hafen frei von Schlick. Ohne uns könnten keine Schiffe in Imardin vor Anker gehen, und der Handel mit anderen Ländern käme zum Erliegen.«

»Welchen Nutzen haben die Hüttenleute davon?«

»Der Handel gibt allen Ständen von Imardin Arbeit. Mit den Schiffen kommen Seeleute, die Geld für Unterkunft, Verpflegung und allerlei anderes ausgeben. Arbeiter verpacken und transportieren Waren. Die Zünftler stellen die Waren her.« Er musterte sie kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Vielleicht ist unsere Arbeit zu weit von deinem eigenen Leben entfernt, als dass du ihren Nutzen erkennen könntest. Du müsstest sehen, wie wir den Menschen direkt helfen, zum Beispiel durch die Bemühungen unserer Heiler. Sie arbeiten hart, um –«

»Heiler!« Sonea verdrehte die Augen. »Wer hat denn das Geld, um einen Heiler zu bezahlen? Das Honorar beträgt das Zehnfache von dem, was ein guter Dieb in seinem ganzen Leben verdienen kann!«

Rothen stutzte. »Natürlich, du hast Recht«, sagte er leise. »Wir verfügen nur über eine begrenzte Anzahl an Heilern – kaum genug, um die vielen Kranken zu versorgen, die bei uns Hilfe suchen. Die hohen Honorare schrecken Menschen mit nur geringfügigen Leiden davon ab, die Zeit der Heiler unnötig zu verschwenden. Dafür bilden wir auch nichtmagiekundige Heiler aus. Diese Bader behandeln die übrigen Bürger von Imardin.«

»Aber nicht die Hüttenleute«, entgegnete Sonea. »Wir haben Kurierer, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Menschen töten, ist genauso groß wie die, dass sie jemanden kurieren. Bader kenne ich nur vom Hörensagen aus der Zeit, als ich im Nordviertel lebte, und sie zu Rate zu ziehen kostet eine Stange Gold.«

Rothen blickte aus dem Fenster und seufzte. »Sonea, wenn ich das Problem der Armut in der Stadt lösen könnte, würde ich es tun, ohne einen Moment lang zu zögern. Aber wir können nur wenig ausrichten, selbst wir Magier.«

»Ach ja? Wenn Euch die Säuberung wirklich nicht gefällt, dann weigert Euch doch einfach, Euch daran zu beteiligen. Sagt dem König, dass Ihr alles andere tun würdet, was er befiehlt, nur das nicht. So etwas hat es durchaus schon gegeben.«

Es war offensichtlich, dass ihre Bemerkung ihn verwirrte.

»Damals, als König Palen sich weigerte, die Bündnisverträge zu unterzeichnen.« Als sie die Überraschung in seinem Gesicht sah, musste sie ein Lächeln unterdrücken. »Und dann bringt den König dazu, in den Hüttenvierteln eine ordentliche Kanalisation und ähnliche Dinge bauen zu lassen. Sein Urgroßvater hat das für den Rest der Stadt getan, warum sollte er es nicht für uns tun?«

Rothen zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du hättest nicht den Wunsch, die Hüttenleute in die Stadt umzusiedeln?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Einige Viertel des Äußeren Rings sind gut. Die Stadt wird sowieso nicht aufhören zu wachsen. Vielleicht sollte der König noch eine weitere Mauer errichten lassen.«

»Mauern sind überflüssig geworden. Wir haben keine Feinde. Aber deine anderen Vorschläge sind… interessant.« Er musterte sie anerkennend. »Und was sollten wir deiner Meinung nach sonst noch tun?«

»Geht in die Hütten und heilt die Menschen dort.«

Er verzog das Gesicht. »Dafür gibt es nicht genug Heiler.«

»Ein paar Heiler wären besser als gar keine. Warum ist der gebrochene Arm des Sohns eines Hauses wichtiger als der gebrochene Arm eines Hüttensohns?«

Jetzt lächelte er, und Sonea befiel der beunruhigende Verdacht, dass ihre Antworten ihn lediglich erheiterten. Was kümmerten diese Dinge ihn überhaupt? Er hatte nur das Ziel, sie glauben zu machen, er habe Verständnis für sie. Aber es gehörte schon mehr dazu, ihr Vertrauen zu gewinnen.

»Ihr werdet all das niemals tun«, murmelte sie ungehalten. »Ihr behauptet immer wieder, einige von Euch würden helfen, wenn sie könnten, aber die Wahrheit sieht anders aus: Wenn den Magiern wirklich etwas an den Hüttenleuten liegen würde, wären sie dort draußen. Es gibt kein Gesetz, das sie daran hindern könnte. Aber warum sieht man sie niemals in den Hüttensiedlungen? Ich werde Euch sagen, warum. Die Hüttenviertel stinken, und die Verhältnisse dort sind erbärmlich. Deshalb tut Ihr lieber so, als gäbe es sie gar nicht. Hier habt Ihr alle erdenklichen Annehmlichkeiten.« Sie zeigte auf die prächtigen Möbel im Raum. »Jeder weiß, dass der König Euch eine Menge Gold für Eure Arbeit bezahlt. Nun, wenn Ihr alle so viel Mitleid für uns empfindet, dann solltet Ihr einen Teil des Geldes dazu benutzen, den Menschen zu helfen, aber genau das tut Ihr nicht. Ihr behaltet Euren Wohlstand lieber für Euch.«

Er schürzte die Lippen und musterte sie nachdenklich. Sie war sich der Stille im Raum plötzlich eigenartig bewusst. Als ihr klar wurde, dass sie sich von ihm hatte provozieren lassen, knirschte sie mit den Zähnen.

»Wenn man irgendeinem der Menschen in den Hütten, die du kennst, eine große Summe Geldes gäbe«, sagte er, »meinst du, er würde alles hergeben, um anderen zu helfen?«

»Ja«, lautete ihre Antwort.

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Also würde nicht ein Einziger von ihnen sich versucht fühlen, das Geld für sich zu behalten?«

Sonea hielt inne. Sie kannte einige Menschen, die sich so verhalten würden. Nun ja, mehr als nur einige.

»Ein paar von ihnen würden das Geld wohl behalten«, gab sie zu.

»Ah«, sagte er. »Aber du möchtest nicht, dass ich glaube, alle Hüttenleute seien egoistisch, nicht wahr? Ebenso wenig solltest du glauben, dass alle Magier nur an sich selbst denken. Zweifellos würdest du mir außerdem versichern, dass die Menschen, die du kennst, trotz ihrer Verstöße gegen das Gesetz oder ihrer rauen Art zum größten Teil anständige Leute sind. Dann ergibt es keinen Sinn, dass du alle Magier für die Fehler, die einige von ihnen machen, oder für ihre hohe Geburt verurteilst. Die meisten von uns, das kann ich dir versichern, bemühen sich darum, anständige Menschen zu sein.«

Stirnrunzelnd wandte Sonea den Blick ab. Was er sagte, klang vernünftig, aber es tröstete sie keineswegs. »Vielleicht«, erwiderte sie. »Trotzdem habe ich in den Hütten keinen einzigen Magier gesehen, der den Menschen dort hilft.«

Rothen nickte. »Weil wir wissen, dass die Hüttenleute unsere Hilfe ablehnen würden.«

Sonea zögerte. Er hatte natürlich Recht, aber wenn die Hüttenleute die Hilfe der Gilde ablehnten, dann nur deshalb, weil die Gilde ihnen allen Grund gegeben hatte, sie zu hassen.

»Geld würden sie nicht ablehnen«, bemerkte sie.

»Angenommen, du gehörst nicht zu den Menschen, die ihren Reichtum horten würden – was würdest du tun, wenn ich dir hundert Goldmünzen gäbe, die du nach eigenem Belieben verteilen könntest?«

»Ich würde den Menschen zu essen geben«, antwortete sie.

»Hundert Goldstücke würden ausreichen, um einige wenige Menschen für viele Wochen mit Nahrung zu versorgen, oder viele für nur einige wenige Tage. Danach wären diese Menschen wieder genauso arm wie zuvor. Du hättest kaum etwas ausgerichtet.«

Sonea öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. Darauf wusste sie nichts zu sagen. Er hatte Recht und auch wieder nicht. Es konnte nicht richtig sein, wenn man nicht einmal versuchte zu helfen.

Seufzend blickte sie an sich hinunter und verzog das Gesicht angesichts der unförmigen Kleidungsstücke, die sie trug. Obwohl sie wusste, dass ein Themenwechsel bei ihm vielleicht den Eindruck erwecken würde, dass er die Auseinandersetzung gewonnen hatte, zupfte sie an dem Morgenmantel.

»Wo sind meine Kleider?«

»Weg. Ich werde dir neue geben.«

»Ich will meine eigenen Sachen«, protestierte sie.

»Ich habe sie verbrennen lassen.«

Ungläubig starrte sie ihn an. Ihr Mantel war zwar schmutzig und an manchen Stellen verkohlt, aber von guter Qualität gewesen – und Cery hatte ihn ihr geschenkt.

Es klopfte an der Tür. Rothen erhob sich.

»Ich muss jetzt gehen, Sonea«, sagte er. »In einer Stunde bin ich zurück.«

Er ging zur Tür hinüber, und dahinter konnte sie kurz einen weiteren luxuriösen Raum erkennen. Als er die Tür schloss, horchte sie auf das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, und eine schwache Hoffnung flackerte in ihr auf, als das Geräusch ausblieb.

Stirnrunzelnd betrachtete sie die Tür. War sie durch Magie verschlossen worden? Sie trat einen Schritt näher, dann hörte sie auf der anderen Seite der Tür gedämpfte Stimmen.

Es hatte keinen Sinn, jetzt schon einen Fluchtversuch zu wagen, aber vielleicht später…


Schmerz umklammerte seinen Kopf wie eine eiserne Zange, aber er konnte etwas Kühles spüren, das ihm hinter den Ohren über den Schädel tropfte. Als er die Augen aufschlug, sah Cery ein verschwommenes Gesicht in der Dunkelheit. Das Gesicht einer Frau.

»Sonea?«

»Hallo.« Die Stimme war ihm fremd. »Es wurde aber auch Zeit, dass du wieder zu dir kommst.«

Cery schloss die Augen noch einmal und öffnete sie dann wieder. Das Gesicht wurde klarer. Langes, dunkles Haar umrahmte auf exotische Weise schöne Züge. Die Haut der Frau war dunkel, aber nicht so tintenschwarz wie die Farens. Die vertraute, gerade kyralische Nase verlieh dem länglichen Gesicht Eleganz. Es war, als seien Sonea und Faren zu einer einzigen Person verschmolzen.

Ich träume, dachte er.

»Nein, das tust du nicht«, erwiderte die Frau. Sie blickte zu etwas über seinem Kopf empor. »Er muss einen ziemlich üblen Schlag abbekommen haben. Möchtest du jetzt mit ihm reden?«

»Versuchen kann ich es ja.« Diese Stimme war ihm bekannt. Als Faren in sein Gesichtsfeld trat, kehrte die Erinnerung zurück, und Cery versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Die Dunkelheit begann sich zu drehen, und sein Kopf hämmerte vor Schmerz. Dann legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter, und widerstrebend ließ er sich wieder auf sein Lager hinunterdrücken.

»Hallo, Cery. Das ist Kaira.«

»Sie sieht aus wie du, nur hübsch«, murmelte Cery.

Faren lachte. »Vielen Dank. Kaira ist meine Schwester.«

Die Frau lächelte und verschwand. Cery hörte irgendwo zu seiner Rechten eine Tür zuschlagen. Er blickte zu Faren auf.

»Wo ist Sonea?«

Der Dieb wurde mit einem Schlag ernst. »Die Magier haben sie. Sie haben sie in die Gilde gebracht.«

Die Worte hallten in Cerys Gedanken wider. Er hatte das Gefühl, als zerre ein schreckliches Ungeheuer an seinen Eingeweiden. Sie ist fort! Wie hatte er nur glauben können, er sei in der Lage, sie zu beschützen? Aber nein. Faren sollte auf sie aufpassen. Ärger blitzte in ihm auf. Er holte tief Luft, um zu sprechen…

Nein. Ich muss sie finden. Ich muss sie zurückholen. Und vielleicht werde ich dazu Farens Hilfe benötigen.

Aller Zorn fiel von ihm ab. »Was ist passiert?«, fragte er kleinlaut.

Faren seufzte. »Das Unvermeidliche. Sie haben uns entdeckt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich hätte tun können, um sie aufzuhalten. Ich hatte bereits alles versucht.«

Cery nickte. »Und jetzt?«

Ein freudloses Lächeln umspielte die Lippen des Diebs. »Ich habe meine Seite unseres Handels nicht einhalten können. Sonea hatte ihrerseits nie eine Chance, ihre Magie für mich einzusetzen. Wir haben uns beide große Mühe gegeben und sind gescheitert. Was dich betrifft…« Farens Lächeln verschwand. »Ich würde dich gern bei mir behalten.«

Cery starrte den Dieb an. Wie konnte er Sonea so einfach aufgeben?

»Es steht dir frei, zu tun, was du möchtest«, fügte Faren hinzu.

»Was ist mit Sonea?«

Der Dieb runzelte die Stirn. »Sie ist in der Gilde.«

»Es ist nicht weiter schwierig, dort einzubrechen. Ich habe es schon früher getan.«

Farens Stirnrunzeln vertiefte sich. »Das wäre ausgesprochen töricht. Man wird sie streng bewachen.«

»Wir werden die Magier ablenken.«

»Wir werden nichts dergleichen tun.« Farens Augen blitzten. Er entfernte sich einige Schritte, dann kehrte er zu Cery zurück. »Die Diebe haben sich niemals mit der Gilde angelegt und werden es auch niemals tun. Wir sind nicht so dumm zu glauben, wir könnten einen solchen Kampf gewinnen.«

»So klug sind die Magier gar nicht. Glaub mir, ich habe –«

»NEIN!«, schnitt Faren ihm das Wort ab. Er holte tief Luft, dann stieß er den Atem langsam wieder aus. »Es ist nicht so einfach, wie du denkst, Cery. Ruh dich ein wenig aus. Werde gesund. Denk noch einmal über meinen Vorschlag nach. Wir werden bald wieder miteinander reden.«

Faren verschwand aus seinem Gesichtsfeld. Cery hörte das Klicken, mit dem er die Tür öffnete und kurz darauf entschlossen hinter sich zuzog. Er versuchte aufzustehen, aber sein Kopf fühlte sich so an, als würde er vor Schmerz explodieren. Seufzend schloss er die Augen und legte sich schwer atmend flach auf den Rücken.

Er konnte versuchen, Faren dazu zu überreden, Sonea zu retten, aber er wusste, dass er keinen Erfolg haben würde. Nein. Wenn sie gerettet werden sollte, würde er das selbst in die Hand nehmen müssen.

17 Soneas Entscheidung

Sonea sah sich abermals in dem Raum um. Er war zwar nicht groß, aber luxuriös. Sie trat ans Fenster und schob die hübsch dekorierte Papierblende, die es bedeckte, beiseite. Vor ihr lagen die Gärten der Gilde. Auf der rechten Seite ragte das Universitätsgebäude empor, und auf der linken konnte sie, halb verborgen hinter den Bäumen, das Haus des Hohen Lords erkennen. Sie selbst befand sich im zweiten Stockwerk des Gebäudes, das Cery das »Haus der Magier« genannt hatte.

In der Gilde wimmelte es von Magiern. Wo sie auch hinsah, entdeckte sie in Roben gekleidete Gestalten: im Garten, in den Fenstern und auf dem schneegesäumten Fußweg direkt unter ihrem Fenster. Zitternd schob sie die Papierblende wieder an ihren Platz.

Tiefe, trostlose Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Ich sitze in der Falle. Ich werde nie wieder von hier fortkommen. Ich werde Jonna und Ranel nicht wiedersehen und Cery auch nicht. Nie mehr.

Blinzelnd kämpfte sie gegen die Tränen an, die ihr die Sicht raubten. Als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, drehte sie sich um und fand sich einem leuchtenden, ovalen Spiegel gegenüber. Sie betrachtete das Gesicht mit den roten Augen. Der Mund des Mädchens verzog sich voller Verachtung.

Soll ich so leicht aufgeben?, fragte sie das Spiegelbild. Soll ich plärren wie ein Kind?

Nein! Tagsüber mochten sich überall in der Gilde Magier aufhalten, aber sie hatte die Gilde bei Nacht gesehen und wusste, wie einfach es war, sich unbemerkt auf dem Grundstück zu bewegen. Wenn sie wartete, bis es dunkel wurde, und es ihr gelang, aus dem Haus zu schlüpfen, würde sie nichts daran hindern, in die Hüttenviertel zurückzukehren.

Das Schwierigste bei dem Unterfangen würde es natürlich sein, hinauszukommen. Wahrscheinlich würden die Magier sie einschließen. Andererseits hatte Rothen selbst gesagt, dass die Magier durchaus bisweilen Fehler machten. Also würde sie warten und ihre Umgebung genau beobachten. Sobald sich eine Gelegenheit bot, würde sie bereit sein, sie zu ergreifen.

Das Gesicht im Spiegel hatte aufgehört zu weinen und war jetzt starr vor Entschlossenheit. Sie fühlte sich ein wenig besser und ging zu dem kleinen Tisch hinüber. Nach kurzem Zögern griff sie nach einer Haarbürste und strich beinahe liebevoll über den silbernen Griff. Wenn sie etwas wie diese Bürste zum Pfandleiher brachte, konnte sie sich davon neue Kleider kaufen und genug zu essen für mehrere Wochen.

Hatte Rothen auch nur darüber nachgedacht, dass sie ihn vielleicht bestehlen würde? Natürlich brauchte er sich keine Gedanken über einen möglichen Diebstahl zu machen, wenn er darauf baute, dass sie nicht fliehen konnte. Solange sie in der Gilde festsaß, würde es ihr nichts nutzen, wertvolle Gegenstände an sich zu bringen.

Als sie sich abermals umsah, wurde ihr plötzlich bewusst, dass dies ein sehr eigenartiges Gefängnis war. Sie hatte eine kalte Zelle erwartet und keinen Luxus.

Vielleicht wollten die Magier sie ja wirklich auffordern, der Gilde beizutreten.

Sie blickte zu dem Spiegel auf und versuchte sich vorzustellen, eine Robe zu tragen. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper.

Nein, dachte sie, ich könnte niemals eine von ihnen sein. Damit würde ich alle verraten – meine Freunde, die Hüttenleute, mich selbst

Aber sie musste lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren. Die Gefahr war durchaus real, und Rothen hatte wahrscheinlich die Absicht, ihr einige Dinge beizubringen – selbst wenn er damit nur verhindern wollte, dass sie in der Stadt weiteren Schaden anrichtete. Sie bezweifelte jedoch, dass er ihr mehr als das beibringen würde. Bei der Erinnerung an die vielen Enttäuschungen und das Grauen der letzten sechs Wochen schauderte sie. Ihre Kräfte hatten ihr schon genug Schwierigkeiten eingetragen. Gewiss wäre sie nicht enttäuscht, wenn sie sie nie wieder würde benutzen können.

Was würde dann aus ihr werden? Würde die Gilde ihr gestatten, zu den Hütten zurückzukehren? Unwahrscheinlich. Rothen behauptete, die Gilde wolle sie in ihre eigenen Reihen aufnehmen. Sie? Ein Mädchen aus den Hüttenvierteln? Auch das war unwahrscheinlich.

Aber warum machten sie ihr dann ein solches Angebot? Gab es noch irgendeinen anderen Grund dafür? Bestechung? Vielleicht versprachen sie ihr, sie in Magie zu unterweisen, wenn sie… was tat? Was könnte die Gilde von ihr wollen?

Und plötzlich kannte sie die Antwort.

Die Diebe.

Wenn sie entkam, wäre Faren dann immer noch bereit, sie zu verstecken? Ja – vor allem, wenn ihre Kräfte nicht länger gefährlich waren. Sobald sie Farens Vertrauen genoss, wäre es nicht weiter schwierig, gegen die Diebe zu arbeiten. Sie könnte ihre magischen Kräfte benutzen, um der Gilde Informationen über die kriminellen Gruppen in der Stadt zu schicken.

Sie schnaubte. Selbst wenn sie bereit gewesen wäre, mit der Gilde zusammenzuarbeiten, würden die Diebe schnell dahinterkommen. Keiner vom Hüttenvolk war dumm genug, die Diebe zu verpfeifen. Selbst wenn es ihr gelang, sich mit Magie zu schützen, würde sie die Diebe nicht daran hindern können, ihren Freunden und Verwandten etwas anzutun. Die Diebe waren gnadenlos, wenn man sich ihnen in den Weg stellte.

Aber hatte sie denn eine Wahl? Was, wenn die Gilde beschloss, sie zu töten, falls sie den Magiern nicht half? Was, wenn die Magier drohten, ihren Freunden und ihrer Familie Schaden zuzufügen? Mit wachsender Bestürzung überlegte sie, ob die Gilde wohl von Jonna und Ranel wusste.

Sie schob den Gedanken beiseite, denn sie fürchtete sich noch immer vor starken Gefühlen, die ihre Magie entfesseln könnten. Kopfschüttelnd wandte sie sich von dem Spiegel ab. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lag ein Buch. Sie durchquerte den Raum und griff danach.

Als sie die Seiten durchblätterte, stellte sie fest, dass sie in säuberlichen Reihen beschrieben waren. Sie schaute näher hin. Zu ihrer Überraschung konnte sie den größten Teil der Worte verstehen. Serins Lektionen hatten mehr bewirkt, als sie geglaubt hatte.

Bei dem Text schien es um Boote zu gehen. Nachdem sie einige Zeilen gelesen hatte, bemerkte Sonea, dass das letzte Wort in jeder zweiten Zeile mit dem gleichen Laut endete, genau wie in den gereimten Liedern, die die Straßenkünstler auf Märkten und in Bolhäusern sangen.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie erstarren. Als die Tür geöffnet wurde, legte Sonea das Buch hastig wieder auf den Tisch. Rothen stand vor ihr, ein in Tuch gehülltes Bündel unter dem Arm.

»Kannst du lesen?«

Sie überlegte, was sie antworten sollte. Gab es irgendwelche Gründe, ihre Fähigkeit vor ihm zu verbergen? Es fiel ihr kein Grund ein, und sie fand die Vorstellung äußerst befriedigend, ihn wissen zu lassen, dass nicht alle Hüttenleute ungebildet waren.

»Ein wenig«, erwiderte sie.

Er schloss die Tür und deutete auf das Buch. »Zeig es mir«, sagte er. »Lies mir etwas vor.«

Ein Hauch von Zweifel machte sich in ihr breit, aber dann überwand sie sich. Sie griff nach dem Buch, schlug es auf und begann zu lesen.

Nur um prompt zu bedauern, dass sie sich in diese Situation gebracht hatte. Unter dem Blick des Magiers fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Seite, die sie ausgewählt hatte, war schwieriger als die erste, und ihre Wangen wurden heiß, während sie sich durch unvertraute Worte haspelte.

Und dann verbesserte der Magier auch noch ihre Aussprache eines ihr unbekannten Wortes.

Verärgert über die Unterbrechung, schlug sie das Buch zu und warf es auf das Bett. Mit einem entschuldigenden Lächeln legte Rothen das Bündel daneben.

»Wie hast du lesen gelernt?«, wollte er wissen.

»Meine Tante hat es mir beigebracht.«

»Und du hast in letzter Zeit geübt.«

Sie wandte sich ab. »Es gab immer irgendetwas zu lesen. Straßenschilder, Etiketten, Plakate, die Belohnungen versprechen…«

Er lächelte. »In einem der Räume, in denen du gewohnt hast, haben wir ein Buch über Magie gefunden. Hast du irgendetwas davon verstanden?«

Ein Frösteln überlief sie, und sie hielt unwillkürlich den Atem an. Er würde ihr nicht glauben, wenn sie abstritt, das Buch gelesen zu haben, aber wenn sie es zugab, würde er nur weitere Fragen stellen, und sie könnte versehentlich preisgeben, welche anderen Bücher sie noch gelesen hatte. Falls er wusste, dass die Bücher, die Cery gestohlen hatte, verschwunden waren, musste er die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie sich heimlich bei Nacht in die Gilde geschlichen hatte, und dann würde er erst recht alles daransetzen, sie hier einzusperren.

Statt einer Antwort deutete sie nur mit dem Kopf auf das Stoffbündel auf dem Bett.

»Was ist das?«

Er sah sie kurz an, dann zuckte er die Achseln. »Kleider.«

Sonea beäugte das Bündel zweifelnd.

»Ich werde dir Zeit geben, dich umzuziehen, und dann meine Dienerin mit etwas zu essen hereinschicken.« Er wandte sich zur Tür.

Als er fort war, packte Sonea das Bündel aus. Zu ihrer Erleichterung hatte er ihr keine Magierroben mitgebracht. Stattdessen fand sie eine einfache Hose vor, Unterwäsche und ein Hemd mit hohem Kragen – ganz ähnliche Dinge, wie sie sie in den Hütten getragen hatte, aber aus weichen, teuren Stoffen gemacht.

Sie zog sich den Morgenmantel und das Nachtgewand aus und schlüpfte in die neuen Kleider. Obwohl sie jetzt schicklich angezogen war, fühlte sich ihre Haut immer noch seltsam nackt an. Als sie auf ihre Hände blickte, stellte sie fest, dass man ihr die Fingernägel geschnitten und gesäubert hatte. Sie schnupperte daran und roch den Duft von Seife.

Ein Schauer der Angst überfiel sie, gepaart mit Entrüstung. Irgendjemand hatte sie gewaschen, während sie geschlafen hatte. Sie starrte zur Tür hinüber. Rothen?

Nein, befand sie, solche Arbeiten überließen die Magier gewiss den Dienstboten. Sie strich sich mit den Fingern über den Kopf und stellte fest, dass man ihr auch die Haare gewaschen hatte.

Einige Minuten verstrichen, dann erklang abermals ein leises Klopfen an der Tür. Der Magier hatte ihr eine Dienerin hereinschicken wollen, und nun wartete Sonea darauf, dass die Fremde eintrat. Wieder klopfte es.

»Lady?«, rief eine Frau von der anderen Seite der Tür. »Darf ich eintreten?«

Erheitert setzte sich Sonea auf das Bett. Noch niemals hatte jemand sie »Lady« genannt.

»Wenn du willst«, antwortete sie.

Eine Frau von etwa dreißig Jahren kam herein. Sie trug einen schlichten, grauen Kittel und eine passende Hose, und in den Händen hielt sie ein zugedecktes Tablett.

»Hallo«, sagte die Frau mit einem nervösen Lächeln. Ihr Blick flackerte zu Sonea hinüber, dann sah sie hastig wieder weg.

Die Dienerin brachte das Tablett an den Tisch und stellte es ab. Als die Frau nach der Abdeckung griff, zitterten ihre Finger. Sonea runzelte die Stirn. Wovor fürchtete sich die Dienerin? Doch gewiss nicht vor einem Hüttenkind.

Die Frau ordnete einige Dinge auf dem Tablett, dann drehte sie sich um und machte eine tiefe Verbeugung vor Sonea, bevor sie sich hastig aus dem Raum zurückzog.

Minutenlang konnte Sonea nur die Tür anstarren. Die Frau hatte sich vor ihr verneigt. Das war… eigenartig. Beunruhigend. Sie konnte nicht begreifen, was das bedeutete.

Dann lenkte der Geruch von warmem Brot und etwas, das nach köstlichen Gewürzen duftete, ihre Aufmerksamkeit auf das Tablett. Eine große Schale Suppe und ein Teller mit kleinen, süßen Kuchen standen dort für sie bereit, und sie hörte, wie ihr Magen zu knurren begann.

Sie lächelte. Die Magier würden schon noch herausfinden, dass man sie nicht bestechen konnte, damit sie Faren verriet, aber sie brauchten es ja nicht sofort zu erfahren. Wenn sie ihr Spiel für eine Weile mitspielte, würden sie sie vielleicht noch sehr lange Zeit so behandeln.

Und sie hatte keine Skrupel, ihre Gastfreundschaft auszunutzen.


Mit der ganzen wachsamen Nervosität eines wilden Tieres, das aus einem Käfig trat, stahl Sonea sich in das Gästezimmer. Mit flackerndem Blick sah sie sich im Raum um, wobei sie vor allem die Türen ausgiebig betrachtete, bevor sie sich Rothen zuwandte.

»Von dort aus kommst du in einen kleinen Waschraum«, erklärte ihr Rothen und zeigte auf die linke Seite des Raums. »Dort drüben liegt mein Schlafzimmer, und diese Tür führt zum Hauptkorridor der Magierquartiere.«

Sie betrachtete die letzte Tür, dann ging sie zu den Bücherregalen hinüber. Rothen lächelte. Es gefiel ihm offenkundig, dass sie sich zu den Büchern hingezogen fühlte.

»Nimm dir, was immer dich interessiert«, forderte er sie auf. »Ich werde dir helfen zu lesen, was du dir ausgesucht hast, und dir erklären, was du nicht verstehst.«

Mit hochgezogenen Brauen blickte sie noch einmal zu ihm hinüber, dann beugte sie sich über die Bücher. Sie wollte gerade mit dem Finger über den Rücken eines der Bände streichen, als der Gong der Universität erklang, und sie erstarrte.

»Das Läuten sagt den Novizen, dass es an der Zeit ist, in ihre Klassen zurückzukehren«, erklärte er. Er trat an eines der Fenster und bedeutete ihr, hinauszusehen.

Sie folgte seiner Aufforderung. Während sie die Magier und Novizen draußen beobachtete, wie sie zur Universität hinübergingen, versteifte sie sich vor Anspannung.

»Was haben die Farben zu bedeuten?«

Rothen runzelte die Stirn. »Farben?«

»Die Roben. Sie haben verschiedene Farben.«

»Ah.« Er beugte sich über das Fenstersims und lächelte. »Zuerst sollte ich dir wohl etwas über die verschiedenen Disziplinen sagen. Es gibt drei wesentliche Bereiche, in denen Magie Anwendung findet: die Heilkunst, die Alchemie und die Kriegskunst.« Er zeigte auf zwei Heiler, die langsam durch die Gärten schlenderten. »Die Heiler tragen Grün. Um die Heilkunst ausüben zu können, muss man mehr lernen als nur die magischen Methoden, mit denen man Verletzungen und Krankheiten kuriert. Ein Heiler muss außerdem über genaue Kenntnisse sämtlicher Heilmittel verfügen, was die Heilkunst zu einer Disziplin macht, der man sein ganzes Leben widmen muss.«

Als er Sonea ansah, bemerkte er das Interesse, das in ihren Augen aufgeflackert war.

»Die Krieger tragen Rot«, fuhr er fort, »und sie studieren Strategie und die verschiedenen Methoden, wie man in einer Schlacht Magie einsetzen kann. Einige von ihnen üben sich außerdem in den traditionellen Formen des Kampfes und des Schwerterspiels.«

Er deutete auf seine eigenen Roben. »Purpur steht für Alchemie, und darunter fällt so ziemlich alles andere, was man mit Magie tun kann. Die Alchemie schließt Chemie, Mathematik, Architektur und viele andere Bereiche ein.«

Sonea nickte langsam. »Was ist mit den braunen Roben?«

»Die werden von Novizen getragen.« Er zeigte auf zwei Jungen draußen im Garten. »Siehst du, dass ihre Roben nur bis zum Oberschenkel reichen?« Sonea nickte. »Erst nach ihrem Abschluss bekommen sie volle Roben, und bis dahin haben sie sich entschieden, welcher Disziplin sie folgen wollen.«

»Was ist, wenn sie mehr als eine Disziplin erlernen wollen?«

Rothen kicherte. »Dafür bleibt einfach nicht genug Zeit.«

»Wie lange dauert das Studium?«

»Das kommt darauf an, wie lange sie brauchen, um die notwendigen Fähigkeiten zu erwerben. Im Allgemeinen sind es fünf Jahre.«

»Und was ist mit dem da?«, fragte Sonea und zeigte auf einen Mann draußen. »Er trägt einen andersfarbigen Gürtel.«

Rothen folgte ihrem Blick und bemerkte Lord Balkan, der unter dem Fenster vorbeiging. Auf seinem kantigen Gesicht lag ein konzentrierter Ausdruck, als grüble er über ein schwieriges Problem nach.

»Ah, du bist eine gute Beobachterin.« Rothen lächelte anerkennend. »Die Schärpe ist schwarz. Das bedeutet, dass der Mann, den du da siehst, der Dekan, das heißt das Oberhaupt, der von ihm erwählten Disziplin ist.«

»Das Oberhaupt der Krieger.« Sonea betrachtete Rothens Robe, und ihre Augen wurden schmal. »Welche Art von Alchemie studiert Ihr?«

»Die Chemie. Außerdem unterrichte ich dieses Fach.«

»Was ist das?«

Er dachte kurz darüber nach, wie er ihr sein Fach so erklären konnte, dass sie es verstehen würde. »Wir arbeiten mit verschiedenen Substanzen: mit Flüssigkeiten, mit festen Stoffen und mit Gasen. Diese Substanzen vermischen wir, oder wir erhitzen sie, oder wir setzen sie irgendwelchen anderen Einflüssen aus und beobachten, was geschieht.«

Sonea runzelte die Stirn. »Warum?«

Rothen breitete die Hände aus. »Um festzustellen, ob wir irgendetwas Nützliches dabei herausfinden können.«

Sonea zog die Augenbrauen hoch. »Welche nützlichen Dinge habt Ihr denn bisher herausgefunden?«

»Ich selbst oder die Chemiker der Gilde?«

»Ihr selbst.«

Er lachte. »Nicht viel! Man könnte mich wohl als einen gescheiterten Alchemisten bezeichnen, aber im Laufe der Zeit habe ich eine wichtige Entdeckung gemacht.«

Sonea zog erneut die Brauen hoch. »Und die wäre?«

»Dass ich ein sehr guter Lehrer bin.« Er wandte sich vom Fenster ab und blickte zum Bücherregal hinüber. »Wenn du es mir erlaubst, könnte ich dir helfen, deine Fähigkeiten im Lesen zu verbessern. Hättest du Lust, heute Nachmittag daran zu arbeiten?«

Sie sah ihn lange an, und ihr Gesichtsausdruck war zurückhaltend und nachdenklich. Schließlich nickte sie steif. »Was sollte ich Eurer Meinung nach als Erstes lesen?«

Rothen trat vor das Bücherregal und ließ den Blick über die verschiedenen Bände wandern. Er brauchte etwas, das leicht zu lesen war, das aber dennoch das Interesse des Mädchens wach halten würde. Schließlich griff er nach einem Buch und blätterte darin.

Sie war williger, als er erwartet hatte. Ihre Neugier war stark ausgeprägt, und ihre Fähigkeit zu lesen sowie ihr Interesse an seinen Büchern waren Vorteile, mit denen er nicht gerechnet hatte. Beides ließ darauf schließen, dass sie sich wahrscheinlich recht gut an ein Leben in der Universität würde gewöhnen können.

Jetzt brauchte er sie also nur noch davon zu überzeugen, dass die Gilde nicht so schlecht war, wie sie glaubte.

Dannyl lächelte seinen Freund an. Seit er an diesem Abend mit Yaldin und seiner Frau zusammensaß, hatte Rothen ohne Unterlass geredet. Noch nie zuvor hatte Dannyl Rothen so lebhaft über einen potenziellen Novizen sprechen hören – obwohl Dannyl insgeheim hoffte, dass sein Freund genauso begeistert darüber gewesen war, seine Ausbildung überwachen zu dürfen.

»Du bist so ein Optimist, Rothen. Du hast sie kaum kennen gelernt, und schon redest du, als würde sie einmal die Zierde der Universität sein.«

Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als sein Freund sofort in Abwehrhaltung ging.

»Tue ich das?«, erwiderte Rothen. »Wenn es mir an Begeisterung für diese Dinge fehlte, hätte ich dann im Laufe der Jahre so viele Erfolge bei meinen Novizen erzielt? Wenn man sie aufgibt, haben sie keinen Grund, sich anzustrengen.«

Dannyl nickte. Er selbst war nicht gerade der willigste Novize gewesen, und als Rothen sich bemüht hatte, seinen Geist auf etwas anderes zu richten als auf die Streitereien mit Fergun und seinen Mitstudenten, hatte er sich zu Anfang mit großer Entschlossenheit dagegen gewehrt. Und obwohl Dannyl alles darangesetzt hatte, Rothen zu beweisen, dass er sich in ihm irrte, hatte sein Lehrer ihn niemals aufgegeben.

»Hast du ihr erzählt, dass wir nicht die Absicht haben, ihr zu schaden?«, fragte Ezrille.

»Ich habe mit ihr über den Tod des Jungen gesprochen und ihr erklärt, dass wir ihr beibringen wollen, wie sie ihre Kräfte kontrollieren kann. Ob sie mir glaubt oder nicht…« Er hob die Schultern.

»Hast du ihr gesagt, dass sie der Gilde beitreten kann?«

Rothen zog eine Grimasse. »Ich habe das Gespräch mit Absicht nicht in diese Bahnen gelenkt. Sie hat nicht allzu viel für uns übrig. Sie macht uns zwar nicht direkt für die Armut des Hüttenvolks verantwortlich, aber sie findet, dass wir etwas dagegen unternehmen sollten.« Er runzelte die Stirn. »Sie sagt, sie habe uns niemals etwas Gutes tun sehen, was vermutlich der Wahrheit entspricht. Der größte Teil der Arbeit, die wir für die Stadt tun, ist weder für sie noch für den Rest der Hüttenleute von Nutzen. Und dann ist da noch die Säuberung.«

»In dem Fall ist es keine große Überraschung, dass sie die Gilde nicht mag«, bemerkte Ezrille. Sie beugte sich vor. »Aber wie ist sie denn so?«

Rothen überlegte. »Still, aber trotzig. Sie hat offensichtlich Angst, aber ich glaube nicht, dass wir Tränen bei ihr sehen werden. Sie begreift, dass sie die Beherrschung ihrer Kräfte erlernen muss, dessen bin ich mir sicher. Und darum glaube ich auch nicht, dass wir zu diesem Zeitpunkt schon mit Fluchtversuchen ihrerseits rechnen müssen.«

»Und wenn sie die Kontrolle ihrer Kräfte gelernt haben wird?«, fragte Yaldin.

»Ich hoffe, dass wir sie bis dahin davon überzeugt haben, wie sinnvoll es für sie wäre, der Gilde beizutreten.«

»Was ist, wenn sie sich weigert?«

Rothen holte tief Luft und seufzte. »Ich bin mir nicht sicher, was dann geschehen wird. Wir können niemanden zwingen, sich uns anzuschließen, aber das Gesetz verbietet uns, Magier außerhalb der Gilde zuzulassen. Wenn sie sich weigert, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als ihre Kräfte zu blockieren.«

Ezrilles Augen weiteten sich. »Ihre Kräfte blockieren? Ist das schlecht?«

»Nein. Es ist… nun, für die meisten Magier wäre es etwas sehr Unangenehmes, weil sie daran gewöhnt sind, magische Kräfte zur Verfügung zu haben. In Soneas Fall haben wir es mit jemandem zu tun, der bisher nie Magie benutzt hat – jedenfalls nicht in einer nützlichen Form.« Er zuckte die Achseln. »Sie wird sie nicht so sehr vermissen.«

»Was glaubst du, wie lange es dauern wird, sie Kontrolle zu lehren?«, fragte Yaldin. »Mir ist ein wenig unbehaglich zumute bei dem Gedanken, dass nur wenige Türen weiter eine Magierin lebt, die ihre Kraft nicht kontrollieren kann.«

»Es wird einige Zeit dauern, bis ich ihr Vertrauen gewonnen habe«, erwiderte Rothen. »Vielleicht mehrere Wochen.«

»Unmöglich!«, entfuhr es Yaldin. »Es dauert niemals länger als zwei Wochen, selbst bei den schwierigsten Novizen.«

»Sie ist kein verwöhntes oder nervöses Kind aus den Häusern.«

»Da hast du wahrscheinlich Recht.« Yaldin schüttelte den Kopf. »Am Ende der Woche werde ich vermutlich nur noch ein Nervenbündel sein.«

Rothen lächelte und führte seinen Becher an die Lippen. »Ja, aber je länger sie braucht, umso mehr Zeit habe ich, sie zum Bleiben zu bewegen.«


Sonea saß auf dem Bett, spähte durch eine schmale Lücke in der Fensterblende in die Gärten hinaus und spielte mit einer zierlichen Haarnadel. Draußen war es dunkel, und der Mond war bereits aufgegangen. Der Schnee, der die Wege säumte, verströmte einen sanften Schimmer im Licht der Nacht.

Eine Stunde zuvor hatte abermals der Gong geläutet. Während Magier und Novizen zu ihren Quartieren zurückgeeilt waren, hatte Sonea nur dagesessen und abgewartet. Jetzt war alles still, abgesehen von dem einen oder anderen Dienstboten, der draußen vorbeilief.

Schließlich erhob sie sich, schlich sich zur Tür hinüber und legte ein Ohr an das Holz. Obwohl sie lauschte, bis ihr der Hals wehtat, konnte sie keinerlei Geräusche aus dem Raum auf der anderen Seite hören.

Sie betrachtete den Türknauf. Er war glatt und aus poliertem Holz. In den Griff selbst waren Stücke aus dunklerem Holz eingelassen, die das Symbol der Gilde formten. Sonea zeichnete das Muster nach und staunte über die Mühe und Geschicklichkeit, die irgendjemand auf einen bloßen Türknauf verwandt hatte.

Langsam begann sie, den Knauf zu drehen. Er ließ sich nur wenig bewegen, bevor er sich verkeilte. Vorsichtig zog sie die Tür zu sich heran, aber der Riegel saß immer noch fest.

Was sie nicht daran hindern konnte, ihre Bemühungen fortzusetzen. Sie drehte den Knauf in die andere Richtung. Und wieder ließ er sich nur ein klein wenig bewegen, bevor er festklemmte. Sie zog an der Tür, aber ohne Erfolg.

Schließlich bückte sie sich und hob die Hand, um die Haarnadel ins Schloss zu schieben, stutzte dann jedoch. Es gab kein Schlüsselloch.

Seufzend ließ Sonea sich in die Hocke nieder. Wenn Rothen den Raum verließ, hatte sie kein einziges Mal das Geräusch eines Schlüssels vernommen, der im Schloss gedreht wurde, und schon früher war ihr aufgefallen, dass auf der anderen Seite der Tür keine Riegel angebracht waren. Die Tür wurde durch Magie versperrt.

Nicht dass sie irgendwo hätte hingehen können. Sie musste hier bleiben, bis sie gelernt hatte, ihre Magie zu kontrollieren.

Aber sie musste ihre Grenzen erkunden. Wenn sie nicht nach möglichen Fluchtwegen Ausschau hielt, würde sie vielleicht niemals welche finden.

Sie erhob sich und trat an den Tisch neben dem Bett. Das Buch der Lieder lag noch immer dort. Sie nahm es zur Hand und schlug es auf der ersten Seite auf. Darauf stand in schöner, gleichmäßiger Handschrift etwas geschrieben. Sonea ging zu dem Tisch hinüber und entzündete die Kerzen, die Rothen ihr dagelassen hatte.

»Für meinen geliebten Rothen zur Geburt unseres Sohnes. Yilara.«

Sonea schürzte die Lippen. Also war er verheiratet und hatte mindestens ein Kind. Sie fragte sich, wo seine Familie sein mochte. In Anbetracht von Rothens Alter war sein Sohn wahrscheinlich inzwischen ein erwachsener Mann.

Er schien ein anständiger Kerl zu sein. Sie hatte sich immer für eine gute Menschenkennerin gehalten – etwas, das sie von ihrer Tante gelernt hatte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Rothen gütig und wohlmeinend war. Aber das bedeutete nicht, dass sie ihm vertrauen konnte, rief sie sich ins Gedächtnis. Er war trotzdem ein Magier und musste den Geboten der Gilde folgen, worin sie auch bestehen mochten.

Plötzlich erklang von draußen ein schwaches, schrilles Lachen, das Soneas Aufmerksamkeit wieder auf das Fenster lenkte. Sie schob die Papierblende beiseite und beobachtete zwei Magier, die durch den Garten schritten. Die grünen Roben unter ihren Umhängen leuchteten im Schein des unsteten Lichts. Zwei Kinder liefen vor ihnen her und bewarfen einander mit Schnee.

Vor allem die Frau war es, die Sonea interessierte. Bei den Säuberungen hatte sie niemals weibliche Magier gesehen. War es ihr eigener Entschluss, nicht an dieser Maßnahme teilzunehmen, oder gab es eine Regel, die es ihnen untersagte?

Sie schürzte die Lippen. Jonna hatte ihr erzählt, dass die Töchter reicher Familien genauestens beobachtet wurden, bis sie den Mann heirateten, den ihre Väter für sie ausgewählt hatten. In den Häusern durften die Frauen keine wichtigen Entscheidungen treffen.

In den Hütten dagegen gab es keine arrangierten Ehen. Obwohl die Frauen natürlich versuchten, einen Mann zu finden, der eine Familie ernähren konnte, heirateten sie im Allgemeinen aus Liebe. Während Jonna dieses Vorgehen für das bessere hielt, hatte Sonea sich eine eher zynische Sicht der Dinge zu Eigen gemacht. Ihr war aufgefallen, dass Frauen, wenn sie verliebt waren, vieles in Kauf nahmen. Aber die Liebe pflegte irgendwann zu verblassen. Besser, man heiratete jemanden, den man mochte und dem man vertraute.

Wurden weibliche Magier in eine Art goldenen Käfig gesperrt? Legte man ihnen nahe, die Leitung der Gilde den Männern zu überlassen? Es musste frustrierend sein, über starke magische Kräfte zu verfügen und trotzdem ganz und gar von anderen beherrscht zu werden.

Als die Familie außer Sicht war, wollte Sonea sich vom Fenster zurückziehen, aber dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung in einem der Fenster der Universität. Ein bleiches, ovales Gesicht war dort erschienen.

Aufgrund des Zuschnitts der Kleidung des Fremden vermutete sie, dass es sich um einen Magier handelte. Wegen der Dunkelheit und der Entfernung konnte sie sich nicht sicher sein, aber sie hatte den starken Verdacht, dass der Mann sie beobachtete. Ein Frösteln überlief sie, und sie schob hastig die Papierblende vors Fenster.

Verstört durchquerte sie den Raum, blies die Kerze aus und legte sich dann auf das Bett, um die Decke bis zum Kinn hochzuziehen. Sie war erschöpft, und sie war es müde, zu denken, war es müde, Angst zu haben. War es müde, müde zu sein…

Aber als sie zur Decke hinaufstarrte, wusste sie, dass der Schlaf auf sich warten lassen würde.

18 Abseits neugieriger Blicke

Ein zartes Licht hatte sich über die Bäume und Bauten der Gilde gelegt. Cery runzelte die Stirn. Als er das letzte Mal hingesehen hatte, war alles in Dunkelheit getaucht gewesen. Er musste eingenickt sein, konnte sich aber nicht daran erinnern, die Augen geschlossen zu haben. Jetzt rieb er sich das Gesicht, sah sich um und ließ die lange Nacht, die soeben verstrichen war, in Gedanken noch einmal an sich vorüberziehen.

Begonnen hatte es mit Faren. Nachdem Cery sich ein wenig erholt und gegessen hatte, hatte er den Dieb gefragt, ob er ihm helfen werde, Sonea zurückzuholen. Farens Ablehnung war unmissverständlich gewesen.

»Wenn die Garde sie gefangen hätte oder sie im Palast eingekerkert wäre, hätte ich sie bereits befreit – und es hätte mir großen Spaß gemacht, zu beweisen, dass ich dazu imstande bin.« Faren lächelte kurz, dann verhärtete seine Miene sich wieder. »Aber hier geht es um die Gilde, Cery. Was du vorschlägst, übersteigt meine Möglichkeiten.«

»Nein, das tut es nicht«, hatte Cery beharrt. »Sie stellen keine Wachen auf, und es gibt auch keine magischen Barrieren. Sie –«

»Nein, Cery.« Farens Augen blitzten. »Es geht nicht um Wachen oder Barrieren. Die Gilde hatte nie einen wirklich triftigen Grund, sich aufzuraffen und etwas gegen uns zu unternehmen. Wenn wir auf ihr ureigenstes Territorium vordringen und Sonea entführen würden, dann würden wir ihnen damit vielleicht einen Grund liefern, es doch einmal zu versuchen. Glaub mir, Cery, niemand möchte herausfinden, ob wir in der Lage wären, es mit den Magiern aufzunehmen oder nicht.«

»Die Diebe haben Angst vor der Gilde?«

»Ja.« Farens Gesichtsausdruck war ungewöhnlich nüchtern gewesen. »So ist es. Und wir haben einen guten Grund dafür.«

»Wenn wir es so aussehen ließen, als hätte jemand anders sie gerettet…«

»Dann würde die Gilde vielleicht trotzdem glauben, dass wir es waren. Hör mir zu, Cery. Ich kenne dich gut genug, um zu erraten, dass du versuchen wirst, sie ganz allein zu befreien. Aber denk einmal über Folgendes nach: Wenn die anderen glauben müssten, du seist eine Bedrohung für sie, werden sie dich töten. Sie werden uns genau beobachten.«

Cery hatte mit Schweigen auf diese Warnung reagiert.

»Möchtest du weiterhin für mich arbeiten?«

Cery hatte genickt.

»Gut. Ich habe einen neuen Auftrag für dich, wenn du willst.«

Farens Auftrag hatte Cery zum Hafen geführt, so weit weg von der Gilde wie nur möglich. Anschließend war er quer durch die Stadt gegangen, über die Mauer der Gilde geklettert und im Wald untergetaucht, um zu beobachten, was geschah.

Als das Treiben auf dem Grundstück der Gilde langsam verebbt und die Nacht dunkler geworden war, hatte Cery in einem der Fenster der Universität eine Bewegung wahrgenommen. Ein Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes gewesen, und er hatte konzentriert zum Gebäude der Magier hinübergeblickt.

Eine halbe Stunde lang war der Beobachter auf seinem Posten geblieben. Schließlich war in einem Fenster im Magierquartier ein blasses Gesicht aufgetaucht, und Cerys Herz hatte einen Satz gemacht. Selbst aus dieser Entfernung hatte er Sonea erkannt.

Sonea hatte minutenlang in die Gärten hinausgesehen, bis sie den Beobachter entdeckt und sich hastig zurückgezogen hatte.

Kurz darauf war der Mann dann ebenfalls verschwunden. Cery hatte die ganze Nacht ausgeharrt, aber es hatte sich nichts mehr getan. Jetzt, da die Morgendämmerung nah war, wusste er, dass er zu Faren zurückkehren sollte. Der Dieb würde nicht gutheißen, was Cery getan hatte, aber er wusste bereits, wie er vorgehen wollte. Ein Eingeständnis, dass Sonea zu gut bewacht wurde, würde genügen, um den Dieb zu beschwichtigen. Faren hatte ihm nicht verboten, einen Rettungsversuch zu wagen oder Informationen zu sammeln, und er musste damit gerechnet haben, dass Cery sich davon würde überzeugen wollen, dass Sonea noch lebte.

Cery stand auf und reckte sich. Er würde Faren allerdings nicht erzählen, was er in dieser Nacht herausgefunden hatte. Abgesehen von dem rätselhaften Beobachter, hatten die Magier keine Wachen vor den Gebäuden aufgestellt. Falls Sonea allein in diesem Raum war, bestand noch Hoffnung für sie.

Zum ersten Mal seit Tagen lächelte Cery, als er sich durch den Wald auf den Heimweg machte.


Sonea schreckte jäh aus dem Schlaf hoch. Rothens Dienerin blickte auf sie hinab.

»Ich bitte um Vergebung, Lady«, sagte die Frau hastig. »Aber als ich sah, dass das Bett leer war, dachte ich… Warum schlaft Ihr auf dem Boden?«

Sonea rappelte sich auf und befreite sich aus den Decken. »Das Bett«, erklärte sie. »Es sinkt so tief ein. Ich habe das Gefühl, als würde ich durch die Matratze hindurchfallen.«

»Es sinkt ein?« Die Frau blinzelte überrascht. »Ihr meint, es ist zu weich?« Sie lächelte strahlend. »Aber wahrscheinlich habt Ihr noch nie zuvor auf einer Matratze aus Reber-Wolle geschlafen. Hier.«

Sie zog die Laken vom Bett, und darunter kamen mehrere Schichten dicker, weicher Matratzen zum Vorschein. Die Dienerin nahm etwa die Hälfte des Stapels weg.

»Meint Ihr, so wäre es bequemer für Euch?«, fragte sie.

Sonea zögerte, dann prüfte sie mit der Hand die restlichen Lagen der Matratze. Das Bett war immer noch weich, aber jetzt konnte sie das hölzerne Gerüst darunter spüren. Sie nickte.

»Wunderbar«, gurrte die Dienerin. »Also, ich habe Euch Wasser zum Waschen mitgebracht und – oh! Ihr habt in Euren Kleidern geschlafen. Aber egal. Ich habe Euch frische Sachen mitgebracht. Wenn Ihr fertig seid, kommt bitte ins Gästezimmer. Dort stehen Kuchen und Sumi bereit, um Euch für den vor Euch liegenden Tag zu stärken.«

Belustigt beobachtete Sonea, wie die Frau die überflüssigen Matratzen zusammenraffte und damit aus dem Zimmer huschte. Als die Tür hinter ihr zugefallen war, setzte sich Sonea aufs Bett und seufzte.

Ich bin immer noch hier.

In Gedanken ging sie noch einmal den vergangenen Tag durch: das Gespräch mit Rothen, ihre Entschlossenheit zu fliehen, die Menschen, die sie am Abend durch das Fenster beobachtet hatte. Schließlich erhob sie sich und begutachtete die Schale mit Wasser, die Seife und das Handtuch, die die Dienerin mitgebracht hatte.

Mit einem Achselzucken zog sie sich aus, wusch sich und schlüpfte in die frischen Sachen, bevor sie zur Tür ging. Als sie jedoch die Hand auf den Griff legte, zögerte sie plötzlich. Zweifellos würde Rothen auf der anderen Seite auf sie warten. Eine leichte Nervosität durchzuckte sie, aber sie hatte keine Angst.

Er war ein Magier. Eigentlich hätte sie diese Tatsache mehr erschrecken müssen, aber der Mann hatte ihr versprochen, dass er ihr nichts antun würde, und sie hatte den Entschluss gefasst, ihm zu glauben – für den Augenblick.

Es würde ihr jedoch nicht leicht fallen, ihn in ihren Geist einzulassen. Sie hatte keine Ahnung, ob er ihr auf diese Weise Schaden zufügen konnte. Was, wenn er Einfluss auf ihre Gedanken nehmen und sie dazu bringen konnte, die Gilde zu lieben?

Welche Wahl habe ich denn? Sie würde darauf vertrauen müssen, dass er ihren Geist nicht verbiegen konnte oder wollte. Es war ein Risiko, das sie eingehen musste, und das würde ihr nicht leichter fallen, wenn sie sich den Kopf darüber zerbrach.

Also straffte sie die Schultern und öffnete die Tür. Der Raum dahinter machte den Anschein, als verbrächte Rothen den größten Teil seiner Zeit dort. Um einen niedrigen Tisch in der Mitte waren zusammenpassende Sessel angeordnet. An den Wänden standen Bücherregale und höhere Tische. Rothen saß in einem der gepolsterten Sessel, und seine blauen Augen waren auf die Seiten eines Buches gerichtet.

Jetzt blickte er auf und lächelte. »Guten Morgen, Sonea.«

Die Dienerin trat an einen der Seitentische. Sonea ließ sich in dem Sessel Rothen gegenüber nieder. Sofort brachte die Dienerin ihnen ein Tablett an den Tisch und stellte eine Tasse vor Rothen und eine andere vor Sonea hin.

Rothen legte das Buch beiseite. »Das ist Tania«, sagte er und deutete auf die junge Frau. »Meine Dienerin.«

Sonea nickte. »Hallo, Tania.«

»Ich fühle mich geehrt, Euch kennen zu lernen, Lady«, antwortete die Frau mit einer Verbeugung.

Soneas Gesicht wurde heiß vor Verlegenheit, und sie wandte den Blick ab. Zu ihrer Erleichterung kehrte Tania zu dem Tisch zurück, auf dem das Essen stand.

Während sie die Frau beobachtete, wie sie einige kleine Kuchen auf einem Tablett arrangierte, fragte sich Sonea, ob sie sich durch die Unterwürfigkeit der Dienerin geschmeichelt fühlen sollte. Vielleicht hofften die Magier, dass sie Gefallen daran finden würde und dann eher bereit war, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Als die Frau Soneas Blick spürte, sah sie auf und lächelte nervös.

»Hast du gut geschlafen, Sonea?«, erkundigte sich Rothen.

Sonea zuckte die Achseln. »Ein wenig.«

»Möchtest du heute mit dem Unterricht im Lesen fortfahren?«

Sie betrachtete das Buch, das neben Rothen auf dem Tisch lag, und runzelte die Stirn, als sie feststellte, dass sie es bereits kannte.

Er folgte ihrem Blick. »Ah, Fiens Notizen über den Umgang mit Magie. Ich dachte, ich sollte mich darüber informieren, was du gelesen hast. Dies ist ein altes Geschichtsbuch, kein Lehrbuch, und das Wissen, das es vermittelt, könnte ein wenig veraltet sein. Vielleicht wirst du –«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Er erhob sich und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Da Sonea wusste, dass er sie mühelos an einer Flucht hindern konnte, musste seine Vorsicht andere Gründe haben. Offensichtlich wollte er nicht, dass sie den Besucher sah – oder war es umgekehrt, und der Besucher sollte sie nicht sehen?

»Ja? Lord Fergun. Was kann ich für Euch tun?«

»Ich möchte mit dem Mädchen sprechen.«

Die Stimme klang weich und kultiviert. Als Tania ihr eine Serviette auf den Schoß legte, zuckte Sonea zusammen. Die Dienerin sah stirnrunzelnd zu Rothen hinüber, bevor sie sich wieder zurückzog.

»Dafür ist es noch zu früh«, antwortete Rothen dem anderen Mann. »Sie ist…« Er zögerte, dann trat er durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Von der anderen Seite konnte Sonea jetzt nur noch das leise Murmeln von Stimmen hören.

Tania stellte ein Tablett mit süßem Kuchen vor sie hin. Sonea wählte einen davon aus und kostete versuchsweise von dem Getränk in ihrer Tasse.

Es schmeckte bitter, und sie verzog das Gesicht. Tania hob die Augenbrauen und deutete mit dem Kopf auf das Getränk in Soneas Hand.

»Ich schätze, das bedeutet, Ihr mögt keinen Sumi«, sagte sie. »Was kann ich Euch denn stattdessen anbieten?«

»Raka«, antwortete Sonea.

Die Dienerin sah sie bedauernd an. »Es tut mir Leid, aber wir haben hier keinen Raka. Darf ich Euch vielleicht ein wenig Pachi-Saft bringen?«

»Nein, danke.«

»Dann vielleicht Wasser?«

Sonea warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

Tania lächelte. »Das Wasser hier ist sauber. Ich hole Euch welches.« Sie kehrte an den Tisch im hinteren Teil des Raums zurück, füllte ein Glas aus einem Krug und brachte es Sonea.

»Vielen Dank«, sagte Sonea. Sie hob das Glas und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass die Flüssigkeit vollkommen klar war. Sie konnte nicht einmal die winzigste Verunreinigung darin entdecken. Sie nahm einen Schluck und schmeckte nichts anderes als eine schwache Süße.

»Seht Ihr?«, sagte Tania. »Ich werde jetzt Euer Zimmer aufräumen. Wenn Ihr etwas brauchen solltet, zögert nicht, nach mir zu rufen.«

Sonea nickte und lauschte den sich entfernenden Schritten der Dienerin. Dann griff sie von neuem nach ihrem Glas, leerte es und wischte das Innere hastig mit der Serviette trocken. Anschließend ging sie leise zur Tür hinüber, drückte das Glas gegen das Holz und legte ihr Ohr daran.

»… sie dort festzuhalten. Es ist gefährlich.«

Die Stimme gehörte dem Fremden.

»Nicht solange sie nicht wieder bei Kräften ist«, erwiderte Rothen. »Sobald das passiert, werde ich ihr zeigen, wie sie ihre Magie ohne Risiko verausgaben kann, so wie wir es gestern getan haben. Dem Gebäude droht keine Gefahr.«

Es folgte eine Pause. »Trotzdem gibt es keinen Grund, sie zu isolieren.«

»Wie ich Euch bereits erklärt habe, ist sie leicht zu erschrecken, und sie ist sehr verwirrt. Sie kann jetzt keine Horde von Magiern gebrauchen, die ihr ein Dutzend verschiedene Erklärungen für ein und dieselbe Sache gibt.«

»Ich rede nicht von einer Horde, sondern nur von mir – und ich habe lediglich den Wunsch, ihre Bekanntschaft zu machen. Den Unterricht werde ich Euch überlassen. Daran ist doch gewiss nichts auszusetzen?«

»Ich verstehe, aber dafür wird später noch genug Zeit sein, wenn sie ein wenig Zutrauen gewonnen hat.«

»Es gibt kein Gesetz der Gilde, das Euch gestattet, sie von mir fern zu halten, Rothen«, entgegnete der Fremde, in dessen Stimme sich jetzt ein warnender Unterton eingeschlichen hatte.

»Nein, aber ich denke, die meisten unserer Kollegen würden meine Beweggründe verstehen.«

Der Fremde seufzte. »Mir liegt das Wohlergehen des Mädchens genauso am Herzen wie Euch, Rothen, und ich habe genauso lange und konzentriert nach ihr gesucht wie Ihr. Ich denke, viele unserer Kollegen würden mir zustimmen, wenn ich sage, dass ich mir in dieser Angelegenheit ein Mitspracherecht verdient habe.«

»Ihr werdet Eure Chance haben, sie kennen zu lernen, Fergun«, erwiderte Rothen.

»Wann?«

»Wenn sie so weit ist.«

»Und Ihr seid der Einzige, der das entscheidet.«

»Für den Augenblick, ja.«

»Das werden wir ja sehen.«

Stille folgte, dann wurde der Türgriff gedreht. Sonea lief zu ihrem Platz zurück und legte sich die Serviette wieder auf den Schoß. Als Rothen hereinkam, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und Freundlichkeit trat an die Stelle von Verärgerung.

»Wer war das?«, erkundigte sich Sonea.

Rothen zuckte die Achseln. »Nur jemand, der wissen wollte, wie es dir geht.«

Sonea nickte, dann beugte sie sich vor, um sich noch einen der süßen Kuchen zu nehmen.

»Warum verbeugt Tania sich vor mir und nennt mich Lady?«

»Oh.« Rothen ließ sich in seinen Sessel fallen und griff nach der Tasse mit der bitteren Flüssigkeit, die Tania ihm hingestellt hatte. »Alle Magier werden mit Lord oder Lady angesprochen.« Er machte eine wegwerfende Geste mit der freien Hand. »So ist es immer schon gewesen.«

»Aber ich bin keine Magierin«, entgegnete Sonea.

»Nun, Tania ist ein wenig voreilig.« Rothen kicherte.

»Ich glaube…« Sonea runzelte die Stirn. »Ich glaube, sie hat Angst vor mir.«

Er sah sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. »Sie ist nur ein klein wenig nervös in deiner Gegenwart. Es kann gefährlich sein, sich in der Nähe eines Magiers aufzuhalten, der seine Magie noch nicht zu beherrschen gelernt hat.« Er lächelte schief. »Anscheinend ist sie nicht die Einzige, die sich deswegen Sorgen macht. Da du die Gefahren besser kennst als die meisten anderen Menschen, kannst du dir vorstellen, mit welchen Gefühlen einige der Magier deine Anwesenheit in unserem Wohnheim betrachten. Du bist nicht die Einzige, die gestern Nacht schlecht geschlafen hat.«

Sonea dachte an die Umstände, unter denen sie gefangen genommen worden war, an die eingestürzten Mauern und die Trümmer, auf die sie nur einen kurzen Blick hatte werfen können, bevor sie ohnmächtig geworden war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Wie lange wird es dauern, bis Ihr mich die Kontrolle meiner Magie lehren könnt?«

Seine Miene wurde schlagartig ernst. »Das weiß ich nicht«, gestand er. »Aber zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Wenn deine Kräfte sich wieder zeigen, können wir sie auf die gleiche Art und Weise verbrauchen, wie wir es schon einmal getan haben.«

Sie nickte und betrachtete den Kuchen in ihrer Hand. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Mund erschien ihr plötzlich zu trocken für etwas so Süßes. Schluckend legte sie den Kuchen beiseite.

Der Morgen war neblig und trüb gewesen, und jetzt, am Nachmittag, hingen schwere Wolken tief und bedrohlich über der Stadt. Alles war in Schatten gehüllt, als sei der Abend zu ungeduldig gewesen, um auf das Ende des Tages zu warten. An Tagen wie diesen war das schwache Leuchten der inneren Mauern der Universität deutlicher wahrnehmbar als sonst.

Als sie in den Korridor der Universität einbogen, beschleunigte Dannyl sein Tempo. Rothen versuchte, mit ihm Schritt zu halten, gab den Versuch dann aber auf.

»Wie seltsam«, sagte er zu Dannyls Rücken. »Dein Hinken scheint verschwunden zu sein.«

Dannyl drehte sich um und blinzelte überrascht, als er sah, wie weit Rothen zurückgefallen war. Als er – langsamer – weiterging, kehrte das leichte Humpeln in seinen Schritt zurück.

»Ah, da ist es wieder.« Rothen nickte. »Warum die Eile, Dannyl?«

»Ich möchte es einfach hinter mich bringen.«

»Wir geben nur unsere Berichte ab«, erwiderte Rothen. »Wahrscheinlich werde ich den größten Teil des Redens übernehmen.«

»Ich war derjenige, den der Hohe Lord mit der Suche nach den Dieben betraut hat«, murmelte Dannyl. »Ich werde all seine Fragen beantworten müssen.«

»Er ist nur wenige Jahre älter als du, Dannyl. Dasselbe gilt für Lorlen, und er jagt dir keine panische Angst ein.«

Dannyl öffnete den Mund, um zu protestieren, dann schloss er ihn wieder und schüttelte den Kopf. Sie hatten das Ende des Korridors erreicht.

Als sie vor dem Büro des Administrators standen, lächelte Rothen, während Dannyl tief Luft holte. Auf Rothens Klopfen schwang die Tür nach innen, und ein großer, spärlich möblierter Raum wurde sichtbar. Über einem Schreibtisch am gegenüberliegenden Ende schwebte eine Lichtkugel, die die dunkelblauen Roben des Administrators beleuchtete.

Lorlen blickte auf und winkte die beiden Magier mit seiner Schreibfeder zu sich heran.

»Kommt herein, Lord Rothen, Lord Dannyl. Nehmt Platz.«

Rothen sah sich in dem Raum um. Keine schwarzgewandete Gestalt saß in einem der Sessel oder lauerte in den dunklen Ecken. Dannyl stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus.

Sie setzten sich auf zwei Stühle vor Lorlens Schreibtisch. Lorlen beugte sich vor und nahm die Papiere entgegen, die Rothen ihm hinhielt. »Ich freue mich schon darauf, Eure Berichte zu lesen. Vor allem Lord Dannyls Aufzeichnungen werden gewiss faszinierend sein.«

Dannyl zuckte zusammen, sagte jedoch nichts.

»Der Hohe Lord lässt Euch seinen Glückwunsch ausrichten.« Lorlen blickte zwischen Rothen und Dannyl hin und her. »Und auch ich möchte Euch gratulieren.«

»Dann wollen wir unsererseits unseren Dank aussprechen«, erwiderte Rothen.

Lorlen nickte, dann lächelte er schief. »Vor allem ist Akkarin sehr froh darüber, dass es in Zukunft keine unbeholfenen, nächtlichen Experimente mit Magie mehr geben wird und er wieder ungestört schlafen kann.«

Dannyls Augen weiteten sich, und Rothen musste sich ein Grinsen verkneifen. »Ich schätze, es hat seine Nachteile, so scharfe Sinne zu besitzen.«

Er versuchte sich vorzustellen, wie der Hohe Lord des Nachts in seinen Wohnräumen auf und ab ging und das Mädchen aus dem Hüttenviertel verfluchte. Das Bild passte jedoch nicht recht zu dem gelassenen Anführer der Gilde. Er runzelte die Stirn. Wie groß würde Akkarins Interesse an Sonea jetzt, da sie gefunden war, noch sein?

»Administrator, glaubt Ihr, dass der Hohe Lord Sonea wird sehen wollen?«

Lorlen schüttelte den Kopf. »Nein. Seine Hauptsorge bestand darin, dass wir sie vielleicht nicht finden würden, bevor ihre Kräfte zerstörerisch werden – und der König zweifelte langsam, ob wir wirklich in der Lage sind, unseresgleichen unter Kontrolle zu halten.« Er bedachte Rothen mit einem Lächeln. »Ich denke, ich verstehe, warum Ihr fragt. Akkarin kann ziemlich einschüchternd sein, vor allem für die jüngeren Novizen, und Sonea ist gewiss leicht zu erschrecken.«

»Das bringt mich zu einem anderen Punkt«, sagte Rothen und beugte sich vor. »Sie ist tatsächlich leicht zu erschrecken, und sie begegnet uns mit großem Argwohn. Sie wird einige Zeit brauchen, um ihre Angst zu überwinden. Ich würde sie gern isoliert halten, bis sie ein wenig Zutrauen gefasst hat, bevor ich sie nach und nach mit den Mitgliedern der Gilde bekannt mache.«

»Das klingt vernünftig.«

»Fergun hat heute Morgen verlangt, sie zu sehen.«

»Ah.« Lorlen nickte und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Mmm. Ich kann mir all die Argumente gut vorstellen, die er ins Feld führen wird, um seinen Willen durchzusetzen. Ich könnte verfügen, dass niemand sie sehen darf, bevor sie bereit ist, aber ich glaube nicht, dass Fergun Ruhe geben wird, bevor ich klar definiere, was der Ausdruck ›bereit‹ bedeutet, und ein Datum festgesetzt habe.«

Er erhob sich und begann, hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Auch die Tatsache, dass zwei Magier zu ihrem Mentor ernannt werden wollen, kompliziert die Dinge. Die Kollegen akzeptieren, dass Ihr dem Mädchen Kontrolle beibringt, da Ihr über große Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt. Aber wenn ich Fergun von Soneas früher Ausbildung ausschließe, verbessern sich dadurch Ferguns Chancen, zu ihrem Mentor bestimmt zu werden, weil eine solche Benachteiligung ihm Sympathien eintragen würde.« Er hielt inne. »Könnte Fergun eine der Personen sein, die Ihr Sonea vorstellt?«

Rothen schüttelte den Kopf. »Sie hat eine gute Beobachtungsgabe und erfasst mühelos die Gefühle der Menschen. Fergun bringt mir wenig Zuneigung entgegen. Wenn ich sie davon überzeugen soll, dass wir alle freundlich und wohlmeinend sind, wird es meinen Bemühungen nicht dienen, wenn sie irgendwelche Konflikte zwischen uns wahrnimmt. Außerdem könnte sie in seiner Entschlossenheit, mit ihr zu sprechen, irrtümlich die Absicht sehen, ihr zu schaden.«

Lorlen betrachtete ihn einen Moment lang, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Wir alle wollen, dass Sonea so schnell wie möglich lernt, ihre Kräfte zu beherrschen«, erklärte er. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand Protest erheben wird, wenn ich entscheide, dass sie durch nichts von dieser Arbeit abgelenkt werden darf. Was glaubt Ihr, wie lange sie brauchen wird?«

»Das kann ich nicht sagen«, gestand Rothen. »Ich habe desinteressierte, unaufmerksame Novizen unterrichtet, aber ich habe noch nie versucht, jemandem die Kontrolle seiner Magie beizubringen, der Magiern mit solchem Misstrauen begegnet. Es könnte mehrere Wochen dauern.«

Lorlen kehrte zu seinem Stuhl zurück. »So viel Zeit kann ich Euch nicht geben. Ich werde Euch zwei Wochen geben, und während dieser Zeit dürft Ihr selbst entscheiden, wer sie sehen darf und wer nicht. Danach werde ich selbst sie in Abständen von einigen Tagen aufsuchen, um ihre Fortschritte zu überprüfen.« Er hielt inne und klopfte mit einem Fingernagel auf die Tischfläche. »Wenn es Euch irgend möglich ist, macht sie bis dahin mit mindestens einem weiteren Magier bekannt. Ich werde Fergun sagen, dass er sie besuchen darf, sobald sie ihre Kräfte unter Kontrolle hat, aber denkt daran, je länger es dauert, umso mehr Sympathien wird meine Entscheidung Fergun eintragen.«

Rothen nickte. »Ich verstehe.«

»Die Leute werden erwarten, dass die Anhörung auf der ersten Versammlung stattfindet, nachdem sie die Beherrschung ihrer Fähigkeiten erlernt hat.«

»Falls ich sie dazu überreden kann zu bleiben«, fügte Rothen hinzu.

Lorlen runzelte die Stirn. »Glaubt Ihr, dass sie es ablehnen wird, der Gilde beizutreten?«

»Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen«, antwortete Rothen. »Wir können sie jedenfalls nicht dazu zwingen, das Gelübde zu sprechen.«

Lorlen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Rothen mit sorgenvollem Gesichtsausdruck. »Ist sie sich über die Alternative im Klaren?«

»Noch nicht. Da ich versuche, ihr Vertrauen zu gewinnen, hielt ich es für besser, mir diese Dinge für später aufzuheben.«

»Ich verstehe. Wenn Ihr den richtigen Moment abpasst, könnt Ihr sie damit vielleicht zum Bleiben bewegen.« Er lächelte leicht gequält. »Falls sie fortgeht, wird Fergun davon überzeugt sein, Ihr hättet sie dazu überredet, nur um ihm eins auszuwischen. So oder so stehen Euch einige harte Kämpfe bevor, Rothen.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Dann hat er also gute Chancen, dass man ihn zu ihrem Mentor bestimmt?«

»Das ist schwer zu sagen. Es könnte eine Menge davon abhängen, wie viel Unterstützung Ihr jeweils gewinnen könnt. Aber ich sollte vor der Anhörung nicht über dieses Thema sprechen.« Lorlen richtete sich auf und blickte zwischen Rothen und Dannyl hin und her. »Ich habe keine weiteren Fragen mehr. Hat einer von Euch noch irgendetwas, das er zu besprechen wünscht?«

»Nein.« Rothen erhob sich und neigte den Kopf. »Vielen Dank, Administrator.«

Sobald sie draußen auf dem Korridor standen, wandte Rothen sich seinem Gefährten zu.

»Das war doch gar nicht so schlimm, oder?«

Dannyl hob die Schultern. »Er war nicht da.«

»Nein.« Als ein anderer Magier in den Korridor hinaustrat, hielt Dannyl kurz inne, dann wurden seine Schritte plötzlich zögerlicher. Rothen schüttelte den Kopf. »Dieses Hinken ist tatsächlich nur gespielt!«

Dannyl blickte gekränkt drein. »Es war eine tiefe Wunde, Rothen.«

»Nicht so tief.«

»Lady Vinara meinte, es würde einige Tage dauern, bis die Steifheit sich wieder löst.«

»Das hat sie gesagt, ja?«

Dannyl zog die Brauen hoch. »Und es würde dir nichts schaden, wenn ich die Leute gelegentlich daran erinnere, was wir durchgemacht haben, um das Mädchen zu fangen.«

Rothen kicherte. »Ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet, dass du deine Würde für mich opferst.«

Dannyl schnalzte angewidert mit der Zunge. »Nun, wenn Fergun eine geschlagene Woche mit einem Verband über diesem winzigen Schnitt an seiner Schläfe herumlaufen kann, dann darf ich ja wohl ein wenig humpeln.«

»Ich verstehe.« Rothen nickte langsam. »Dann ist das natürlich in Ordnung.«

Sie erreichten den Hinterausgang der Universität und blieben stehen. Draußen herrschte heftiges Schneetreiben. Die beiden Magier tauschten einen widerwilligen Blick, dann traten sie hinaus in die durcheinander wirbelnden weißen Flocken und entfernten sich hastig von dem Gebäude.

19 Der Unterricht beginnt

Das immer schlechter werdende Wetter der vergangenen Woche hatte das Gelände der Gilde unter einer dicken Schneeschicht begraben. Rasen, Gärten und Dächer waren unter der leuchtend weißen Decke verschwunden. Dannyl, der sich im Schutz seines magischen Schildes recht behaglich fühlte, konnte den Anblick genießen, ohne unter den Unbilden des Wetters leiden zu müssen.

Am Eingang der Universität standen einige Novizen. Als er das Gebäude betrat, eilten drei junge Leute an ihm vorbei, eingemummt in ihre dicken Umhänge. Wahrscheinlich gehörten sie zu den Studenten, die zur Wintersonnenwende aufgenommen worden waren, vermutete er. Es bedurfte mehrerer Wochen Ausbildung, bevor die Erstsemester lernten, wie man die Kälte abwehrte.

Als er nun die Treppe hinaufging, fand er eine kleine Gruppe Novizen vor dem Alchemiesaal, in dem Rothen unterrichtete. Dannyl scheuchte sie durch die Tür und schickte sich an, ihnen zu folgen.

»Lord Dannyl.«

Als Dannyl die Stimme erkannte, unterdrückte er ein Stöhnen. Fergun kam zusammen mit Lord Kerrin auf ihn zugeschlendert.

Fergun blieb einige Schritte entfernt von Dannyl stehen und betrachtete die Tür des Klassenzimmers. »Ist das Rothens Klasse?«

»Ja«, antwortete Dannyl.

»Ihr gebt den Unterricht für ihn?«

»Ja.«

»Verstehe.« Fergun wandte sich ab, und Kerrin folgte ihm. Gerade laut genug, damit Dannyl es noch hören konnte, fügte er hinzu: »Es überrascht mich, dass sie das erlauben.«

»Wie meint Ihr das?«, fragte Kerrin, dessen Stimme leiser wurde, während die beiden Magier sich entfernten.

»Erinnert Ihr Euch nicht mehr an all die Schwierigkeiten, in die er als Novize geraten ist?«

»Oh, das!« Kerrins Gelächter hallte im Korridor wider. »Du hast Recht, er könnte einen schlechten Einfluss auf die Novizen ausüben.«

Zähneknirschend drehte Dannyl sich um. Rothen stand in der Tür.

»Rothen!«, rief Dannyl. »Was machst du denn hier?«

»Ich war gerade in der Bibliothek.« Rothen hatte den Blick nach wie vor auf Ferguns Rücken geheftet. »Es erstaunt mich, wie lange ihr beide eure Fehde schon aufrecht erhaltet. Wirst du denn niemals die Vergangenheit hinter dir lassen?«

»Für ihn ist es keine Fehde«, knurrte Dannyl. »Es ist ein Sport, und er findet viel zu viel Gefallen daran, um damit aufzuhören.«

Rothen zog die Augenbrauen hoch. »Nun, wenn er sich aufführt wie ein gehässiger Novize, werden die Leute wissen, wie sie seine Worte zu verstehen haben.« Er lächelte, als drei Novizen den Flur hinuntergelaufen kamen und blitzartig im Klassenzimmer verschwanden. »Wie machen sich meine Novizen?«

Dannyl schnitt eine Grimasse. »Ich weiß nicht, wie du das aushältst, Rothen. Du wirst mich ihnen nicht mehr lange ausliefern, ja?«

»Das kann ich nicht sagen. Einige Wochen. Vielleicht Monate.«

Dannyl stöhnte. »Glaubst du, dass Sonea schon so weit ist, mit den Kontrolllektionen anzufangen?«

Rothen schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Aber sie ist bereits eine Woche hier.«

»Nur eine Woche.« Rothen seufzte. »Ich bezweifle, dass sie uns vertrauen würde, selbst wenn wir ihr sechs Monate Zeit gäben, sich hier einzuleben.« Er runzelte die Stirn. »Es ist nicht so, dass sie uns persönlich nicht mag, aber sie glaubt nicht, dass die Gilde es gut meint – und bevor sie keine Beweise für das Gegenteil sieht, wird sie ihre Meinung nicht ändern. Dafür haben wir keine Zeit. Wenn Lorlen sie besucht, wird er erwarten, dass wir mit dem Unterricht bereits begonnen haben.«

Dannyl umfasste den Arm seines Freundes. »Für den Augenblick brauchst du ihr lediglich Kontrolle beizubringen, und dafür muss sie nur dir vertrauen, Rothen. Du bist ein netter Kerl, und außerdem willst du wirklich nur ihr Bestes.« Er zögerte. »Wenn du es ihr nicht sagen kannst, dann zeig es ihr.«

Rothen runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen, als er plötzlich begriff. »Ich soll sie in meinen Geist sehen lassen?«

»Ja. Dann wird sie wissen, dass du ihr die Wahrheit sagst.«

»Das… das ist normalerweise nicht notwendig, wenn man Kontrolle unterrichtet, aber die Umstände sind wohl auch kaum normal zu nennen.« Rothen schürzte die Lippen. »Aber einige Dinge sollte sie lieber nicht erfahren…«

»Dann verbirg sie vor ihr.« Dannyl lächelte. »So, auf mich wartet ein Klassenzimmer voll von deinen Novizen, die alle darauf brennen, ihre neuesten Streiche und Gemeinheiten an mir auszuprobieren. Von Lorlen hast du nichts zu befürchten. Aber ich erwarte heute Abend von dir zu hören, dass du beträchtliche Forschritte erzielt hast.«

Rothen kicherte. »Geh vernünftig mit ihnen um, dann werden sie vernünftig mit dir umgehen, Dannyl.«

Als sein Freund sich zum Gehen wandte, stieß Dannyl ein kurzes, freudloses Lachen aus. Irgendwo über ihnen erklang der Gong und kündete den Beginn der Unterrichtsstunde an. Seufzend straffte Dannyl die Schultern und betrat das Klassenzimmer.


Auf das Fenstersims gestützt, beobachtete Sonea die letzten Magier und Novizen, die davoneilten. Aber nicht alle hatten auf den Gong der Universität reagiert. Auf der anderen Seite der Gärten waren zwei Magier zurückgeblieben.

Bei dem einen handelte es sich um eine Frau in grünen Roben mit schwarzer Schärpe – das Oberhaupt der Heiler. Also hatten Frauen doch einen gewissen Einfluss in der Gilde, überlegte sie.

Der andere Magier war ein Mann, der blaue Roben trug. Sonea rief sich Rothens Erklärungen, was die Farben der Roben betraf, noch einmal ins Gedächtnis, konnte sich aber nicht daran erinnern, dass er blaue Roben erwähnt hatte. Die Farbe war ungewöhnlich, also war dieser Mann vermutlich ein einflussreicher Magier.

Rothen hatte ihr erklärt, dass Magier in hohen Positionen von den Mitgliedern der Gilde gewählt wurden. Diese Methode, Anführer durch eine Mehrheit bestimmen zu lassen, war faszinierend. Sonea hatte erwartet, dass die stärksten Magier über die anderen herrschen würden.

Rothen zufolge verbrachten die übrigen Magier ihre Zeit damit, zu unterrichten, zu experimentieren oder an öffentlichen Projekten zu arbeiten. Die Gebiete, auf denen sie sich betätigten, reichten von beeindruckenden bis hin zu schlicht lächerlichen Dingen. Zu ihrer Überraschung hatte sie erfahren, dass die Magier den Hafen gebaut hatten, und sie war einigermaßen belustigt gewesen, zu hören, dass einer der Magier einen großen Teil seines Lebens auf den Versuch verwandt hatte, immer stärkere Klebstoffe herzustellen.

Sie trommelte mit den Fingern auf das Sims und sah sich dann noch einmal in dem Raum um. In der vergangenen Woche hatte sie mehrmals Gelegenheit gehabt, alles einer gründlichen Musterung zu unterziehen, selbst das Zimmer, in dem Rothen schlief. Eine bedächtige Suche in sämtlichen Schränken, Truhen und Schubladen hatte Kleidungsstücke und alltägliche Gegenstände zutage gefördert. Die wenigen Schlösser, auf die sie gestoßen war, hatte sie mühelos öffnen können, aber der einzige Lohn für ihre Anstrengungen waren einige alte Dokumente gewesen.

Als sie eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds wahrnahm, drehte sie sich wieder zum Fenster um. Die beiden Magier hatten sich getrennt, und der Mann in Blau ging jetzt am Rand des Gartens entlang auf die zweistöckige Residenz des Hohen Lords zu.

Bei dem Gedanken an die Nacht, in der sie in dieses Gebäude gespäht hatte, überlief sie ein Frösteln. Rothen hatte nicht davon gesprochen, dass es unter den Magiern Assassinen gab, aber das war wohl kaum überraschend. Er versuchte schließlich, sie davon zu überzeugen, dass die Gilde wohlmeinend und nützlich war. Und wenn der schwarzgewandete Magier kein Assassine war, was konnte er dann sein?

Die Erinnerung an einen Mann in blutbefleckten Kleidern zuckte in ihr auf.

»Es ist vollbracht«, hatte der Mann gesagt. »Hast du meine Roben mitgebracht?«

Als sie das Klicken der Haupttür hinter sich hörte, zuckte sie zusammen. Sie wandte sich um und stieß langsam den Atem aus. Rothen kam mit wallenden purpurnen Roben auf sie zu.

»Entschuldige, dass es so lange gedauert hat.«

Er war ein Magier, und trotzdem entschuldigte er sich bei ihr. Erheitert zuckte sie nur die Achseln.

»Ich habe einige Bücher aus der Bibliothek mitgebracht.« Er straffte sich und betrachtete sie mit ernster Miene. »Aber ich dachte, wir fangen vielleicht mit einigen gedanklichen Übungen an. Was hältst du davon?«

»Gedankliche Übungen?« Sie runzelte die Stirn, dann wurde ihr plötzlich eiskalt, als sie begriff, was er da vorschlug. Glaubte er etwa, dass sie ihm nach nur einer Woche schon vertraute?

Tue ich das?

Er beobachtete sie genau. »Ich werde dich heute wahrscheinlich noch nicht in Kontrolle magischer Kräfte unterrichten«, erklärte er. »Aber zur Vorbereitung auf die Lektionen solltest du dich mit der Gedankenrede vertraut machen.«

Sonea dachte noch einmal an die vergangene Woche zurück und an die Dinge, die sie von ihm gelernt hatte.

Den größten Teil der Zeit hatte er darauf verwandt, ihr das Lesen beizubringen. Zuerst war sie argwöhnisch gewesen und hatte erwartet, im Inhalt der Bücher etwas zu finden, das er vielleicht als Bestechung verwenden würde. Sie war beinahe enttäuscht gewesen, dass er ihr lediglich einfache Abenteuergeschichten zu lesen gab, in denen von Magie kaum die Rede war.

Im Gegensatz zu Serin, der ängstlich darauf bedacht gewesen war, sie auf keinen Fall zu verärgern, zögerte Rothen nicht, sie zu verbessern, wenn sie einen Fehler machte. Er konnte ziemlich streng sein, aber sie hatte zu ihrer Überraschung herausgefunden, dass er ihr keine Angst machte. Bisweilen hatte sie sogar den Drang verspürt, ihn ein wenig aufzuziehen, wenn er allzu ernst war.

Wenn er sie nicht unterrichtete, versuchte er, mit ihr zu plaudern. Sie wusste, dass sie es ihm nicht leicht machte, da es so viele Themen gab, über die zu sprechen sie sich weigerte. Obwohl er immer bereit war, ihre Fragen zu beantworten, hatte er nie versucht, sie mit Gewalt oder List dazu zu bringen, ihrerseits mehr zu enthüllen, als sie enthüllen wollte.

Ob es sich mit der Gedankenrede genauso verhielt? Würde sie auch bei dieser Art der Kommunikation gewisse Dinge vor ihm verbergen können?

Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich muss es versuchen, sagte sie sich. Schließlich schluckte sie und nickte hastig. »Wie fangen wir an?«

Er bedachte sie mit einem forschenden Blick. »Wenn du es nicht tun willst, können wir durchaus noch ein paar Tage warten.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit.«

Er nickte, dann deutete er auf die Stühle. »Setz dich. Und mach es dir bequem.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und beobachtete, wie Rothen den niedrigen Tisch beiseite schob und einen Stuhl heranzog, so dass er ihr gegenüber Platz nehmen konnte. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt sitzen würde.

»Ich werde dich bitten, die Augen zu schließen«, sagte er. »Dann werde ich deine Hände nehmen. Es ist zwar nicht notwendig, dass wir uns berühren, wenn wir miteinander sprechen, aber es hilft dabei, sich zu konzentrieren. Bist du so weit?«

Sie nickte.

»Schließ die Augen«, wies er sie an, »und entspann dich. Atme tief und gleichmäßig. Hör auf das Geräusch deines Atems.«

Sie tat wie geheißen. Lange Zeit blieb er still. Nach einer Weile stellte sie fest, dass sie im gleichen Rhythmus atmeten, und sie fragte sich, ob er seinen Atem dem ihren angepasst hatte.

»Stell dir vor, dass sich mit jedem Atemzug ein Teil deines Körpers entspannt. Zuerst deine Zehen, dann die Füße, dann die Knöchel. Waden, Knie, Oberschenkel. Lass die Finger ganz locker, die Hände, die Handgelenke, die Arme, den Rücken. Lass die Schultern sinken. Beug den Kopf ein wenig vor.«

Obwohl sie fand, dass seine Anweisungen etwas seltsam waren, tat sie, was er sagte. Als sie spürte, wie die Anspannung aus ihren Gliedern wich, nahm sie gleichzeitig ein eigenartiges Flattern im Magen wahr.

»Ich werde jetzt deine Hände nehmen«, erklärte er.

Die Hände, die sich um ihre schlossen, erschienen ihr ungewöhnlich groß. Sie widerstand dem Drang, die Augen zu öffnen und nachzusehen.

»Hör mir zu. Und denk genau darüber nach, was du hören kannst.«

Plötzlich wurde Sonea bewusst, dass sie umringt von stetigen, leisen Geräuschen war. Jedes Geräusch sprang sie an und verlangte, identifiziert zu werden: der Klang von Schritten draußen, die fernen Stimmen von Magiern und Dienern, die sowohl von innerhalb des Gebäudes wie von außerhalb kamen…

»Jetzt lass die Geräusche außerhalb des Raums verblassen. Konzentrier dich stattdessen auf die Geräusche hier im Raum.«

Es wurde stiller in ihr. Das einzige Geräusch waren ihr Atem und seiner, die jetzt wieder verschiedenen Rhythmen folgten.

»Und nun lass auch diese Geräusche verklingen. Lausche stattdessen auf die Geräusche in deinem eigenen Körper. Das langsame Schlagen deines Herzens…«

Sie gab sich Mühe, aber abgesehen von ihrem Atem konnte sie keine Geräusche in ihrem Körper hören.

»… das Strömen des Blutes, das in deinem Körper kreist.«

Auch das konnte sie nicht hören …

»… das Geräusch deines Magens…«

… oder vielleicht doch? Irgendetwas war da…

»… die Vibrationen in deinen Ohren…«

Dann begriff sie, dass sie die Geräusche, die er beschrieb, weniger hörte als vielmehr fühlte.

»Und nun horch auf das Geräusch deiner Gedanken.«

Einen Moment lang war Sonea verwirrt über diese Anweisung, dann spürte sie mit einem Mal eine fremde Aura am Rande ihres Geistes.

Hallo, Sonea.

Rothen?

Stimmt.

Die Aura wurde greifbarer. Die Persönlichkeit, die sie spüren konnte, war ihr überraschend vertraut. Es war, als erkenne man eine Stimme, eine so einzigartige Stimme, dass man sie nicht mit anderen verwechseln konnte.

Das also ist Gedankenrede, überlegte sie.

Ja. Mit ihrer Hilfe können wir selbst über große Entfernungen hinweg miteinander sprechen.

Ihr wurde klar, dass sie keine Worte hörte, sondern die Bedeutung der Gedanken spürte, die er in ihre Richtung sandte. Die Gedanken blitzten in ihrem Kopf auf, und sie konnte sie so schnell und so vollständig verstehen, dass sie mit absoluter Sicherheit genau das erfuhr, was er sie wissen lassen wollte.

Es geht so viel schneller als reden!

Ja, und die Gefahr von Missverständnissen ist deutlich geringer.

Könnte ich mich auf diese Weise auch mit meiner Tante unterhalten? Ich könnte sie wissen lassen, dass ich noch am Leben bin.

Ja und nein. Nur Magier können ohne körperlichen Kontakt von Geist zu Geist miteinander kommunizieren. Du könntest zu deiner Tante sprechen, aber dazu müsstest du sie berühren. Es spricht jedoch nichts dagegen, dass du deiner Tante eine ganz gewöhnliche Nachricht schickst

Womit sie den Aufenthaltsort ihrer Tante und ihres Onkels preisgeben würde. Soneas Begeisterung für die Gedankenrede geriet ins Wanken. Sie musste vorsichtig sein.

Also… unterhalten Magier sich ständig auf diese Weise?

Nein, nicht allzu oft.

Warum nicht?

Diese Form der Kommunikation hat ihre Grenzen. Man spürt die Gefühle hinter den Gedanken, die andere einem schicken. So ist es zum Beispiel sehr leicht, festzustellen, wenn jemand lügt.

Ist das schlecht?

Nicht prinzipiell, aber stell dir vor, dir wäre aufgefallen, dass dein Freund langsam kahl wird. Er würde die Erheiterung hinter deinen Gedanken spüren, und obwohl er nicht wissen würde, was du so komisch findest, würde ihm klar sein, dass der Scherz auf seine Kosten geht. Und nun stell dir vor, es wäre nicht dein gutmütiger Freund, sondern jemand, den du respektierst und den du zu beeindrucken wünschst.

Ich verstehe, was Ihr meint.

Gut. Jetzt zum nächsten Teil deiner Lektion. Ich möchte, dass du dir vorstellst, dein Geist sei ein Zimmer – ein Raum mit Wänden, einem Fußboden und einer Decke.

Mit einem Mal fand sie sich in der Mitte eines Raums wieder. Er wirkte vertraut, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, so etwas schon einmal gesehen zu haben. Der Raum war leer und hatte keine Türen oder Fenster, und die Wände bestanden aus nacktem Holz.

Was siehst du?

Die Wände sind aus Holz, und das Zimmer ist leer, antwortete sie.

Ah, ich sehe den Raum. Er ist der bewusste Teil deines Geistes.

Also… also könnt Ihr in meinen Geist blicken?

Nein, du hast mir lediglich ein Bild davon geschickt. Ich schicke es dir zurück.

Ein Bild des Raums blitzte durch ihre Gedanken. Es war undeutlich und verschwommen, und man konnte keine Einzelheiten mehr erkennen.

Es ist… anders und irgendwie nebelhaft, erwiderte sie.

Das liegt daran, dass ein wenig Zeit verstrichen und meine Erinnerung daran verblasst ist. Der Unterschied, den du wahrnimmst, hat seine Ursache darin, dass mein Geist die Einzelheiten ergänzt hat, die meinem Gedächtnis entfallen sind, Einzelheiten wie Farbe und Beschaffenheit. Also, als Nächstes braucht dein Zimmer eine Tür.

Sofort entstand eine Tür vor ihr.

Geh zu der Tür hinüber. Erinnerst du dich noch, wie deine Magie ausgesehen hat?

Ja, wie ein leuchtender Ball aus Licht.

Das ist eine weit verbreitete Methode, sie zu visualisieren. Ich möchte, dass du darüber nachdenkst, wie deine Magie aussah, wenn sie stark und gefährlich war, und wie du sie gesehen hast, nachdem sie verblasst war. Erinnerst du dich daran?

Ja

Als die Tür aufschwang, fand Sonea sich an der Schwelle von Dunkelheit wieder. Eine weiße Kugel hing vor ihr in der Luft und verströmte strahlendes Licht. Sie konnte unmöglich abschätzen, wie weit die Kugel entfernt war. Einen Augenblick lang schien sie nur um eine Armeslänge entfernt zu schweben, dann wieder war Sonea davon überzeugt, dass sie riesengroß war und unvorstellbar weit fort.

Wie groß ist die Kugel im Vergleich zu dem, was du in Erinnerung hast?

Nicht so groß, wie sie war, als Gefahr von ihr ausging. Sie schickte ihm ein Bild der Kugel.

Gut. Sie wächst schneller, als ich erwartet habe, aber uns bleibt noch ein wenig Zeit, bevor deine Magie ungeheißen wieder an die Oberfläche kommt. Schließ die Tür und kehr in das Zimmer zurück.

Die Tür schloss sich und verschwand, und Sonea stellte fest, dass sie abermals in der Mitte des Raums stand.

Jetzt stell dir eine weitere Tür vor. Diesmal ist es die Tür, die nach draußen führt, also solltest du sie größer machen.

Doppeltüren erschienen in Soneas Zimmer, und sie erkannte sie wieder. Es waren die Haupttüren des Bleibehauses, in dem sie vor der Säuberung gelebt hatte.

Wenn du die Türen öffnest, wirst du ein Haus bemerken. Es sollte ungefähr so aussehen.

In ihren Gedanken blitzte das Bild eines weißen Hauses auf, das den großen Kaufmannshäusern im Westviertel nicht unähnlich war. Als sie die Doppeltüren in ihrem Geist öffnete, stand sie mit einem Mal dem Gebäude gegenüber. Zwischen ihrem Zimmer und diesem Haus befand sich eine schmale Straße.

Geh zu dem Gebäude hinüber.

Das Haus hatte nur eine einzige rote Tür. Das Bild veränderte sich, und Sonea stand jetzt direkt davor. Als sie den Knauf berührte, schwang die Tür nach innen auf, und sie trat in einen großen, weißen Raum.

An den Wänden hingen Gemälde, und in den Ecken des Raums standen gepolsterte Sessel. Der Raum erinnerte sie ein wenig an Rothens Gästezimmer, obwohl er deutlich prachtvoller eingerichtet war. Das Gefühl von Rothens Persönlichkeit war stark, wie ein kräftiges Parfüm oder die Wärme von Sonnenlicht.

Willkommen, Sonea. Du bist jetzt in dem Raum, den man das erste Zimmer meines Geistes nennen könnte. Hier kann ich dir Bilder zeigen. Sieh dir die Gemälde an.

Sie trat auf das Bild zu, das ihr am nächsten war. Auf dem Bild sah sie sich selbst, gekleidet in Magierroben, wie sie sich ernsthaft mit anderen Magiern unterhielt. Verstört trat sie einen Schritt zurück.

Warte, Sonea. Sieh dir erst das nächste Gemälde an.

Widerstrebend ging sie an der Wand entlang. Das nächste Bild zeigte sie in grünen Roben, wie sie einen Mann mit einem verletzten Bein heilte. Sie wandte sich hastig ab.

Warum stößt diese Zukunft dich derart ab?

Weil ich das nicht bin.

Aber du könntest es sein, Sonea. Begreifst du jetzt, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe?

Als sie sich noch einmal zu den Gemälden umdrehte, wurde ihr plötzlich klar, dass er tatsächlich die Wahrheit sprach. Hier konnte er sie nicht belügen. Er zeigte ihr reale Möglichkeiten. Die Gilde wollte sie wirklich als Novizin aufnehmen…

Dann entdeckte sie eine schwarze Tür, die ihr vorher nicht aufgefallen war. Als sie sie betrachtete, erkannte sie, dass sie verschlossen war, und ihr Argwohn kehrte zurück. Rothen mochte vielleicht nicht in der Lage sein, sie zu belügen, aber möglicherweise konnte er einige Wahrheiten vor ihr verborgen halten.

Ihr versteckt etwas vor mir!, beschuldigte sie ihn.

Ja, antwortete er. Wir alle haben die Fähigkeit, jene Dinge, die wir für uns behalten wollen, zu verbergen. Wenn es anders wäre, würde keiner von uns jemals einen anderen in seinen Geist einlassen. Ich werde dir beibringen, wie man das macht, denn du brauchst solche privaten Bereiche dringender als die meisten von uns. Beobachte mich, und ich werde dir erlauben, einen kurzen Blick auf das zu werfen, was hinter dieser Tür liegt.

Die Tür schwang auf. Auf der anderen Seite sah Sonea eine Frau auf einem Bett liegen. Ihr Gesicht war totenbleich. Ein Gefühl alles durchdringender Trauer strömte ihr aus diesem Raum entgegen. Ohne Vorwarnung fiel die Tür wieder ins Schloss.

Meine Frau.

Sie ist gestorben…?

Ja. Verstehst du jetzt, warum ich diesen Teil von mir verborgen halte?

Ja. Es… es tut mir Leid.

Es ist lange her, und mir ist klar, dass du dich davon überzeugen musst, dass ich die Wahrheit spreche.

Sonea wandte sich von der schwarzen Tür ab. Ein Luftschwall war in den Raum geweht und hatte einen starken Geruch mitgebracht: eine Mischung aus Blumen und etwas, das scharf und unangenehm war. Die Bilder, die sie selbst in Roben zeigten, hatten sich ausgedehnt, so dass sie die Wände jetzt zur Gänze ausfüllten, aber die Farben wirkten gedämpft.

Wir haben viel erreicht. Wollen wir jetzt in deinen Geist zurückkehren?

Unverzüglich rutschte ihr der Raum unter den Füßen weg, und sie wurde durch die rote Tür befördert. Draußen angelangt, blickte sie auf. Vor ihr erhob sich die Fassade ihres Hauses. Es war ein schlichter Holzbau, ein wenig schäbig, aber immer noch stabil – und typisch für die besseren Teile der Hüttensiedlungen. Sie überquerte die Straße und kehrte in den ersten Raum ihres Geistes zurück. Die Türen fielen hinter ihr zu.

Jetzt dreh dich noch einmal um und schau nach draußen.

Als sie die Türen wieder aufdrückte, stand zu ihrer Überraschung Rothen vor ihr. Er wirkte ein wenig jünger und vielleicht auch ein wenig kleiner.

»Wirst du mich hineinbitten?«, fragte er lächelnd.

Sie trat einen Schritt zurück und bedeutete ihm einzutreten. Als er hereinkam, konnte sie seine Aura im Raum deutlich spüren. Er sah sich um, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass das Zimmer nicht länger leer war.

Gewissensbisse durchzuckten sie, als sie sah, dass auf einem Tisch in der Nähe eine Schatulle stand. Eine Schatulle, die sie aufgebrochen hatte. Der Deckel stand offen, und die Dokumente darin waren deutlich zu sehen.

Dann bemerkte sie Cery, der im Schneidersitz auf dem Fußboden sah und drei vertraute Bücher in Händen hielt.

Und in einer anderen Ecke standen Jonna und Ranel …

»Sonea.«

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Rothen sich die Augen zuhielt.

»Versteck alles, was ich nicht sehen soll, hinter Türen.«

Sonea sah sich im Raum um und konzentrierte sich darauf, alles beiseite zu schieben. Personen und Dinge glitten rückwärts durch die Wände und verschwanden.

Sonea?

Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Rothen ebenfalls verschwunden war.

Habe ich Euch auch hinausgeschoben?

Ja. Lass uns das noch einmal versuchen.

Abermals öffnete sie die Tür und ließ Rothen in den Raum hinein. Als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, wandte sie den Blick ab, aber was immer sie gesehen hatte, versank in den Wänden. Sie drehte sich wieder um und stellte fest, dass jenseits der Tür ein neuer Raum aufgetaucht war. An der gegenüberliegenden Seite dieses Raumes stand eine Tür offen, und im nächsten Moment erschien dort Rothen.

Er trat durch die Tür, und alles war jetzt in Veränderung begriffen. Zuerst waren zwei Räume zwischen ihnen, dann drei.

Genug!

Sie spürte, wie er sie losließ. Abrupt nahm sie wieder die körperliche Welt um sich herum wahr und schlug die Augen auf. Rothen hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und rieb sich die Schläfen.

»Ist alles in Ordnung mit Euch?«, fragte sie besorgt. »Was ist passiert?«

»Mir geht es gut.« Er ließ die Hände sinken und lächelte schief. »Du hast mich aus deinem Geist hinauskatapultiert. Es ist eine ganz natürliche Reaktion und eine, die du zu beherrschen lernen kannst. Keine Bange, ich bin daran gewöhnt. Ich habe schon viele Novizen unterrichtet.«

Sie nickte langsam. »Wollt Ihr es noch einmal versuchen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Wir werden uns ein wenig ausruhen, und dann kannst du dich weiter im Lesen üben. Vielleicht werden wir es heute Nachmittag noch einmal versuchen.«

20 Der Gefangene der Gilde

Cery gähnte. Seit die Magier Sonea gefangen hatten, war der Schlaf ein launisches Ding. Er wich ihm aus, wenn er ihn brauchte, und schlich sich an ihn heran, wenn er ihn nicht brauchte. Im Augenblick war es für ihn wichtiger als je zuvor, hellwach zu sein.

Ein eiskalter Wind peitschte durch Bäume und Hecken und erfüllte die Luft mit Lärm von Zweigen und Blättern, die er herumwirbelte. Die Kälte stahl sich in seine Muskeln, bis sie sich verkrampften. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht, streckte sich und massierte erst das eine Bein, dann das andere.

Er blickte abermals zu dem Fenster hinauf und dachte, was er wohl schon hundertmal in dieser Nacht gedacht hatte: »Sieh nach draußen«. Dann kam er zu der Erkenntnis, dass sein Kopf explodieren würde, wenn er sich noch stärker auf diesen einen Gedanken konzentrierte. Sonea mochte zwar in der Lage sein, den Geist anderer zu erspüren, aber offenkundig erstreckte sich dieses Talent nicht darauf, unerwartete Besucher draußen vor ihrem Fenster zu entdecken.

Er betrachtete die Schneebälle, die er geformt hatte, und wieder machten sich Zweifel in ihm breit. Wenn er einen davon nach ihrem Fenster warf, müsste er genug Lärm machen, um sie zu wecken, durfte aber gleichzeitig nicht so laut sein, dass er auch die Aufmerksamkeit anderer auf sich zog. Und obendrein hatte er keine Ahnung, ob sie sich noch immer in diesem Raum befand oder ob sie allein war.

Als er seinen Posten bezogen hatte, hatte Licht in dem Fenster gebrannt, das jedoch bald darauf gelöscht worden war. Die Fenster links von Soneas Zimmer lagen im Dunkeln, aber die auf der rechten Seite verströmten noch immer ihr sanftes Leuchten. Nervös blickte Cery zum Universitätsgebäude hinüber, das zu seiner Linken aufragte. Die Fenster dort waren dunkel. Seit jener ersten Nacht, in der er einen kurzen Blick auf Sonea hatte werfen können, hatte Cery keine Spur mehr von dem rätselhaften Beobachter gesehen.

Irgendwo am Rande seines Gesichtsfelds erlosch ein Licht. Er schaute zu dem Gebäude der Magier hinüber. Das Licht in den Räumen neben dem von Sonea war verschwunden. Cery lächelte grimmig und massierte sich die tauben Beine. Nur noch ein kleines Weilchen …

Als ein blasses Gesicht in dem Fenster erschien, dachte er für einen Moment, er sei tatsächlich eingeschlafen und träume. Mit hämmerndem Herzen beobachtete er dann, wie Sonea in den Garten hinausspähte, bevor sie sich in die Richtung wandte, in der die Universität lag.

Und dann verschwand sie vom Fenster.

Alle Müdigkeit fiel von Cery ab. Er schloss die Finger um einen Schneeball. Seine Beine protestierten, als er sich durch die Hecke zwängte. Er zielte, und noch während der Schneeball durch die Luft flog, duckte er sich wieder hinter die Hecke.

Ein schwacher Aufprall drang zu ihm hinüber. Der Schneeball hatte das Fenster getroffen. Jubel stieg in ihm auf, als Soneas Gesicht wieder auftauchte. Sie betrachtete die Schneekristalle auf der Glasscheibe und blickte schließlich in den Garten hinaus.

Cery konnte in den übrigen Fenstern keine weiteren Beobachter erkennen. Er schob sich ein klein wenig vor und sah, wie Soneas Augen sich weiteten, als sie ihn entdeckte. Der ersten Überraschung folgte ein breites Grinsen.

Er winkte, dann benutzte er die Zeichensprache, um ihr eine Frage zu stellen. Sie antwortete mit einem »Ja«. Es war ihr nichts passiert. Er stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.

Die Zeichensprache der Diebe beschränkte sich auf simple Botschaften wie »Fertig?«, »Jetzt«, »Warte«, »Verschwinden wir von hier« und die üblichen Zeichen für »Ja« und »Nein«. Es gab kein Zeichen für: »Ich werde dich retten. Ist das Fenster verschlossen?« Also deutete er auf sich selbst, tat so, als erklimme er ein Gebäude und öffne ein Fenster. Dann zeigte er auf Sonea und wieder auf sich selbst, bevor er das Zeichen für »Verschwinden wir von hier« machte.

Sie antwortete mit »Warte«, dann deutete sie auf sich selbst, machte das Zeichen für »Verschwinden wir von hier« und schüttelte den Kopf.

Er runzelte die Stirn. Obwohl sie die Zeichensprache der Diebe besser beherrschte als die meisten anderen Hüttenbewohner, hatte sie sich nie so gut darauf verstanden wie er selbst. Vielleicht wollte sie ihm sagen, dass sie das Gebäude nicht verlassen durfte oder dass sie es jetzt noch nicht verlassen wollte oder dass er später in der Nacht noch einmal zurückkehren solle. Er kratzte sich am Kopf, dann machte er die Zeichen für »Verschwinden wir von hier« und »Jetzt«.

Sie schüttelte den Kopf, als irgendetwas links von Cery ihre Aufmerksamkeit erregte und ihre Augen sich weiteten. Sie trat ein wenig von dem Fenster zurück und machte wieder und wieder das Zeichen für »Verschwinden wir von hier«. Cery duckte sich und zog sich in die Hecke zurück, wobei er hoffte, dass der Wind das Rascheln der Blätter übertönen würde.

Keine Schritte drangen an seine Ohren, und er begann sich zu fragen, was Sonea erschreckt hatte. Und dann glitt warme Luft über seine Haut, und ihm sträubten sich die Nackenhaare.

»Komm heraus«, sagte eine kultivierte Stimme, die unbehaglich nahe war. »Ich weiß, dass du da drin bist.«

Als Cery durch die Hecke spähte, konnte er das weiche Tuch von Magierroben sehen, die nur eine Armeslänge von ihm entfernt waren. Eine Hand schob sich durch die Blätter. Cery zuckte zurück, sprang aus der Hecke und drückte sich mit wild hämmerndem Herzen an die Mauer des Gebäudes. Der Magier richtete sich hastig auf. Da Cery wusste, dass der Mann ihn jetzt deutlich würde sehen können, rannte er um die Ecke des Gebäudes herum auf den Wald zu.

Etwas krachte in seinen Rücken, und er fiel mit dem Gesicht nach unten in den Schnee. Etwas machte ihn bewegungsunfähig und presste ihn so fest auf den Boden, dass er kaum atmen konnte und die Kälte des Schnees ihm im Gesicht brannte. Er hörte Schritte näher kommen, und Panik stieg in ihm auf.

Ruhig. Bleib ganz ruhig, dachte er. Du hast noch nie davon gehört, dass sie Eindringlinge töten… Allerdings hast du auch noch nie gehört, dass sie Eindringlinge entdecken …

Der unerträgliche Druck, der auf seinem Rücken lastete, ließ nach. Als Cery sich auf Hände und Knie hochrappelte, griff jemand nach seinem Arm. Er wurde auf die Füße gezogen und durch die Hecke auf den Fußweg hinübergestoßen.

Er blickte auf, und das Blut gefror ihm in den Adern, als er den Magier erkannte.

Die Augen des Mannes waren schmal geworden. »Du kommst mir bekannt vor… Ah, jetzt erinnere ich mich wieder. Du bist der schmutzige Hüttenjunge, der versucht hat, mich zu schlagen.« Er sah zu Soneas Fenster hinüber und feixte. »Sonea hat also einen Bewunderer. Wie niedlich.«

Nachdenklich betrachtete er Cery, dann trat plötzlich ein unangenehmer Glanz in seine Augen. »Was soll ich mit dir machen? Ich glaube, Eindringlinge werden im Allgemeinen befragt und anschließend aus der Gilde hinauseskortiert. Dann sollten wir uns wohl am besten auf den Weg machen.«

Als der Magier ihn hinter sich herzuzerren begann, wehrte Cery sich nach Kräften. Aber die dünne Hand des Mannes war überraschend stark.

»Lasst mich los!«, verlangte Cery.

Der Magier seufzte. »Wenn du darauf bestehst, derart an meinem Arm zu reißen, werde ich gezwungen sein, andere Mittel einzusetzen. Bitte, hör auf dich zu wehren. Ich brenne genauso sehr wie du darauf, diese Angelegenheit zu Ende zu bringen.«

»Wohin führt Ihr mich?«

»Zunächst einmal aus diesem lärmenden Wind heraus.« Sie hatten das gegenüberliegende Ende der Magierquartiere erreicht und gingen auf die Universität zu.

»Lord Fergun.«

Der Magier blieb stehen und drehte sich um. Zwei in Roben gewandete Schatten näherten sich. Cery spürte, wie der Griff des Mannes sich plötzlich verkrampfte, und er war sich nicht sicher, ob er über das Auftauchen der Neuankömmlinge beunruhigt oder erleichtert sein sollte. Fergun kam ihr Erscheinen offenkundig ungelegen.

»Administrator«, sagte Fergun. »Was für ein glücklicher Zufall. Ich war gerade auf dem Weg zu Euch. Ich habe einen Eindringling entdeckt. Anscheinend hat er versucht, das Mädchen aus den Hüttenvierteln zu erreichen.«

»Das habe ich gehört«, erwiderte der größere der beiden Neuankömmlinge.

»Wollt Ihr ihn befragen?« Ferguns Stimme klang hoffnungsvoll, aber der Griff, mit dem er Cerys Arm festhielt, wurde stärker.

»Ja«, antwortete der hochgewachsene Magier. Er machte eine träge Handbewegung, und direkt über ihnen flammte ein Ball aus Licht auf.

Cery spürte, wie Wärme über seinen Körper strich und der Wind verschwand. Als er sich umsah, stellte er fest, dass die Bäume sich immer noch unter dem Sturm bogen, aber um die drei Magier herum war alles still.

Die Roben der Magier waren leuchtend bunt in dem grellen Licht. Der hochgewachsene Mann trug Blau, sein Begleiter, der ein wenig älter war, trug Purpur, und Cerys Häscher war in Rot gekleidet. Der Mann in den blauen Roben blickte auf Cery hinab und lächelte schwach.

»Du wolltest mit Sonea reden, Cery?«

Cery blinzelte überrascht, dann runzelte er die Stirn. Woher wusste dieser Magier seinen Namen?

Sonea musste es ihm erzählt haben. Wenn sie Cery hätte warnen wollen, hätte sie ihnen einen anderen Namen genannt… Es sei denn, sie hatten sie überlistet oder seinen Namen aus ihren Gedanken gelesen oder…

Was spielte das für eine Rolle? Sie hatten ihn gefangen. Wenn sie ihm etwas antun wollten, war er ohnehin machtlos. Dann konnte er ebenso gut Sonea besuchen.

Er nickte. Der hochgewachsene Magier sah Fergun an. »Lasst ihn los.«

Ferguns Griff spannte sich noch einmal, bevor seine Finger Cerys Arm freigaben. Der blaugewandete Magier bedeutete Cery, ihm zu folgen, dann machte er sich auf den Weg hinüber zum Quartier der Magier.

Die Türen öffneten sich vor ihnen. Da er wusste, dass die beiden anderen Magier wie Wächter hinter ihm hergingen, folgte er dem Mann in Blau eine kurze Treppe hinauf in den oberen Stock. Sie gingen durch einen breiten Korridor und blieben vor einer der vielen schlichten Türen stehen. Der ältere Magier legte eine Hand auf den Knauf, und die Tür schwang auf.

Auf der anderen Seite lag ein behaglich eingerichtetes Zimmer mit gepolsterten Sesseln und kostbaren Möbeln. In einem der Sessel saß Sonea. Als sie Cery sah, lächelte sie.

»Geh nur hinein«, sagte der blaugewandete Magier.

Mit immer noch wild hämmerndem Herzen trat Cery in den Raum. Als die Tür sich hinter ihm schloss, drehte er sich um und fragte sich, ob er soeben in eine Falle gegangen war.

»Cery«, flüsterte Sonea. »Wie schön, dich zu sehen.«

Er wandte sich zu ihr um, um sie zu betrachten. Sie lächelte abermals, aber das Lächeln verblasste sehr schnell.

»Setz dich, Cery. Ich habe Rothen gebeten, mir zu erlauben, mit dir zu reden. Ich habe ihm versichert, dass du so lange weiter versuchen würdest, mich zu retten, bis ich dir erklärt habe, warum ich nicht fortgehen kann.« Sie deutete auf einen Sessel.

Widerstrebend nahm er Platz. »Warum kannst du nicht fort?«

Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich es dir so erklären kann, dass es einen Sinn ergibt.« Sie lehnte sich in dem Sessel zurück. »Magier müssen lernen, ihre Magie zu kontrollieren, und nur andere Magier können es ihnen beibringen, denn Kontrolle ist etwas, das man von Geist zu Geist unterrichten muss. Wenn ein Magier nicht lernt, seine Kräfte zu kontrollieren, wird seine Magie aktiv, sobald er irgendetwas fühlt. Die Magie nimmt einfache, gefährliche Formen an und wird immer stärker. Bis man am Ende…« Sie schnitt eine Grimasse. »An dem Tag, an dem sie mich gefunden haben, wäre ich… Ich wäre um ein Haar gestorben, Cery. Sie haben mich gerettet.«

Cery fröstelte. »Ich habe es gesehen, Sonea. Die Häuser – sie sind alle weg.«

»Es wäre noch schlimmer geworden, wenn sie mich nicht gefunden hätten. Menschen wären gestorben. Viele Menschen.«

Er blickte auf seine Hände hinab. »Das heißt, du kannst nicht nach Hause gehen.«

Sie kicherte – ein so unerwartet fröhlicher Laut, dass er sie erstaunt anstarrte.

»Es wird mir schon nichts zustoßen«, sagte sie. »Sobald ich die Kontrolle meiner Magie erlernt habe, wird keine Gefahr mehr von mir ausgehen. Außerdem erfahre ich, wie die Dinge hier funktionieren.« Sie zwinkerte ihm zu. »Aber erzähl mir doch, wo hängst du denn jetzt so rum?«

Er grinste. »Da, wo ich immer rumhänge. Im besten Bolhaus außerhalb der Stadtmauern.«

Sie nickte. »Und dein… Freund? Gibt er dir immer noch Arbeit?«

»Ja.« Cery schüttelte den Kopf. »Aber wenn er herausfindet, was ich heute Abend getan habe, wird sich das vielleicht ändern.«

Während sie über diese Bemerkung nachdachte, erschienen die vertrauten Sorgenfalten zwischen ihren Brauen. Cery spürte, wie irgendetwas sein Herz so fest umklammerte, dass es wehtat. Er ballte die Fäuste und wandte den Blick ab. Er hätte ihr gern von all den Schuldgefühlen und der Angst erzählt, die ihn quälten, seit man sie gefangen hatte, aber der Gedanke, dass sie vielleicht belauscht wurden, machte ihm das Sprechen unmöglich.

Er sah sich noch einmal in dem luxuriös eingerichteten Raum um und tröstete sich damit, dass man sie zumindest gut behandelte. Sie gähnte. Ihm fiel wieder ein, wie spät es war.

»Dann gehe ich wohl besser mal.« Er stand auf, hielt jedoch noch einmal inne, denn er wollte sie nicht verlassen.

Sie lächelte, und diesmal war es ein trauriges Lächeln. »Sag den anderen, dass es mir gut geht.«

»Das tue ich.«

Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ihr Lächeln verblasste ein wenig, dann deutete sie auf die Tür. »Ich komme schon zurecht, Cery. Vertrau mir. Und jetzt geh.«

Irgendwie zwang er sich, zur Tür zu treten und zu klopfen. Die Tür schwang nach innen auf. Die drei Magier musterten ihn forschend.

»Soll ich unseren Besucher zum Tor begleiten?«, erbot sich Fergun.

»Ja, danke«, antwortete der blaugewandete Magier.

Eine Lichtkugel erschien über Ferguns Kopf. Er sah Cery erwartungsvoll an. Cery drehte sich noch einmal nach dem Magier in Blau um und zögerte.

»Vielen Dank.«

Der Magier nickte zur Antwort. Cery wandte sich um und ging, gefolgt von dem blonden Magier, auf die Treppe zu.

Auf dem Weg nach unten ließ er sich Soneas Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Jetzt ergaben ihre Zeichen einen Sinn. Sie musste warten, bis sie gelernt hatte, ihre Magie zu kontrollieren, aber sobald sie das geschafft hatte, würde sie zu fliehen versuchen. Er konnte nur wenig tun, um ihr zu helfen, außer dafür zu sorgen, dass sie einen sicheren Ort hatte, an den sie zurückkehren konnte.

»Bist du Soneas Mann?«

Cery blickte überrascht zu dem Magier auf. »Nein.«

»Dann vielleicht ihr, äh… Geliebter?«

Cerys Wangen wurden heiß, und er wandte sich ab. »Nein, nur ein Freund.«

»Ich verstehe. Es war sehr heldenhaft von dir, hierher zu kommen.«

Da er fand, dass er auf diese Bemerkung nicht zu antworten brauchte, trat Cery aus dem Gebäude der Magier in den kalten Wind hinaus und wandte sich dem Garten zu. Fergun blieb stehen.

»Warte. Ich führe dich durch die Universität hinaus. Dort ist es wärmer.«

Sein Herz machte einen Satz. Die Universität.

Er hatte sich schon immer gewünscht, einmal einen Blick in das prächtige Gebäude werfen zu können. Wenn Sonea erst aus der Gilde geflohen war, würde sich eine solche Gelegenheit vielleicht nie mehr bieten. Achselzuckend, als sei es ihm vollkommen gleichgültig, machte er sich auf den Weg zum Hintereingang des gewaltigen Gebäudes.

Als sie die Treppen hinaufstiegen, begann sein Herz zu rasen. Sie kamen in ein großes Treppenhaus. Als der Magier Cery durch eine Seitentür in einen breiten, scheinbar endlosen Korridor führte, erlosch die Lichtkugel.

Zu beiden Seiten des Korridors zweigten Türen und weitere Korridore ab. Cery sah sich um, konnte aber die Quelle des Lichts nirgendwo ausmachen. Es war, als leuchteten die Wände selbst.

»Sonea hat uns ziemlich überrascht«, bemerkte Fergun plötzlich, und seine Stimme hallte durch den Gang. »Wir haben noch nie zuvor Anzeichen von magischem Talent bei den unteren Klassen entdeckt. Normalerweise ist Magie einzig den Häusern vorbehalten.«

Fergun sah Cery erwartungsvoll an; offensichtlich wollte er ihn in ein Gespräch verwickeln.

»Sonea selbst war ebenfalls ziemlich überrascht«, erwiderte Cery.

»Hier entlang.« Der Magier führte Cery in einen der Nebengänge. »Hast du schon einmal von anderen Hüttenleuten gehört, die über magische Kräfte verfügen?«

»Nein.«

Sie bogen um eine Ecke, gingen durch eine Tür in einen kleinen Raum und traten dann durch eine weitere Tür in einen Korridor, der ein wenig breiter war. Im Gegensatz zu den ersten Korridoren waren die Wände hier mit Holz vertäfelt, und in regelmäßigen Abständen hingen Bilder.

»Dieser Teil des Gebäudes ist das reinste Labyrinth«, bemerkte Fergun mit einem leisen Seufzen. »Komm, wir nehmen eine Abkürzung.«

Er blieb neben einem Gemälde stehen und griff dahinter. Ein Teil der Wand glitt beiseite, und ein dunkles Rechteck von der Größe einer schmalen Tür wurde sichtbar. Cery warf dem Magier einen fragenden Blick zu.

»Ich habe Geheimnisse schon immer geliebt«, sagte Fergun mit leuchtenden Augen. »Überrascht es dich, dass auch wir unterirdische Gänge haben? Dieser hier führt in den Inneren Ring – ein Weg, auf dem man trockenen Fußes und unbehelligt vom Wind an sein Ziel gelangt. Wollen wir?«

Cery betrachtete zuerst die Tür, dann den Magier. Unterirdische Gänge unter der Gilde? Das war wirklich eigenartig. Er trat zurück und schüttelte den Kopf.

»Ich habe schon viele Tunnel gesehen«, erklärte er, »und die Kälte macht mir nichts aus. All die hübschen Dinge in diesem Gebäude sind viel interessanter.«

Der Magier schloss die Augen und nickte. »Verstehe.« Dann straffte er sich und lächelte. »Nun, es ist gut zu wissen, dass dir die Kälte nichts ausmacht.«

Irgendetwas übte plötzlich Druck auf Cerys Rücken aus und zwang ihn zu dem Rechteck hinüber. Er schrie auf und klammerte sich an der Türkante fest, aber der Druck war zu stark, und seine Finger glitten von dem polierten Holz ab. Er stürzte nach vorn und konnte gerade rechtzeitig die Hände hochreißen, um sein Gesicht zu schützen, bevor er gegen eine Wand krachte.

Die Macht, die ihn festhielt, presste ihn gegen die Ziegelsteine. Er konnte nicht einmal einen Finger rühren. Mit wild hämmerndem Herzen verfluchte er sich für die Dummheit, den Magiern zu vertrauen. Dann hörte er ein Klicken hinter sich. Die geheime Tür hatte sich geschlossen.

»Jetzt kannst du brüllen, wenn du willst«, kicherte Fergun, ein leises, unangenehmes Geräusch. »Hier kommt niemals jemand herunter, daher wirst du auch niemanden stören.«

Ein Stück Stoff wurde über Cerys Augen gelegt und an seinem Hinterkopf fest verknotet. Der Magier riss ihm grob die Hände auf den Rücken und fesselte sie mit einem weiteren Stück Stoff. Als der Druck gegen seinen Rücken nachließ, packte ihn eine Hand am Kragen und stieß ihn vorwärts.

Cery taumelte den Tunnel hinunter. Nach einigen Schritten erreichte er eine steile Treppe. Er ertastete sich den Weg nach unten, dann schob der Magier ihn über einen gewundenen Weg weiter.

Die Temperatur fiel rapide ab. Nach einigen hundert Schritten blieb Fergun stehen. Cerys Magen krampfte sich zusammen, als er das Geräusch eines Schlüssels hörte, der in einem Schloss gedreht wurde.

Der Magier nahm ihm die Augenbinde ab. Cery stellte fest, dass er an der Tür zu einem großen, leeren Raum stand. Dann wurden seine Fesseln gelöst.

»Rein mit dir.«

Cery sah Fergun an. Ihm juckte es in den Fingern, seine Messer zu zücken, aber er wusste, dass er sie nur verlieren würde, wenn er versuchte, gegen den Magier zu kämpfen. Wenn er nicht freiwillig in den Raum ging, würde Fergun ihn hineinstoßen.

Langsam und wie betäubt betrat er die Zelle. Die Tür fiel hinter ihm zu, und tiefe Dunkelheit hüllte ihn ein. Er hörte, wie der Schlüssel sich drehte, dann das gedämpfte Geräusch sich entfernender Schritte.

Seufzend hockte er sich auf den Boden. Faren würde fuchsteufelswild sein.

21 Die Hoffnung auf Freiheit

Als Rothen durch den Korridor des Magiertrakts eilte, fing er etliche neugierige Blicke von Kollegen auf. Einigen nickte er zu, und jenen, mit denen er besonders vertraut war, schenkte er ein Lächeln, aber nicht ein einziges Mal verlangsamte er seinen Schritt. An der Tür zu seinen Wohnräumen angekommen, legte er eine Hand auf den Knauf und befahl dem Schloss, sich zu öffnen.

Als er über die Schwelle trat, hörte er zwei Stimmen aus dem Gästezimmer.

»Mein Vater stand im Dienst von Lord Margen, Lord Rothens Mentor. Auch mein Großvater hat schon hier gearbeitet.«

»Dann musst du viele Verwandte hier haben.«

»Einige«, stimmte Tania zu. »Aber viele von ihnen sind fortgegangen, um eine Stellung in den Häusern anzunehmen.«

Die beiden Frauen saßen nebeneinander auf zwei Sesseln. Als Tania ihn sah, sprang sie auf, und Röte schoss ihr ins Gesicht.

»Lasst euch von mir nicht stören«, sagte Rothen mit einer beschwichtigenden Handbewegung.

Tania neigte den Kopf. »Ich bin noch nicht fertig mit meiner Arbeit, Mylord«, sagte sie. Ihr Gesicht glühte noch immer, und sie lief eilig in sein Schlafzimmer. Offenkundig erheitert, beobachtete Sonea sie.

Ich glaube, sie hat keine Angst mehr vor mir.

Rothen sah seine Dienerin an, als sie mit einem Bündel Kleider und Bettzeug unter dem Arm wieder auftauchte.

Nein. Ihr zwei kommt gut miteinander aus.

Tania blieb kurz stehen, warf Rothen einen durchdringenden Blick zu und musterte dann mit nachdenklicher Miene Sonea.

Kann sie erkennen, dass wir uns in Gedanken unterhalten?, fragte Sonea.

Sie sieht, dass unsere Gesichter einen anderen Ausdruck annehmen. Man braucht nicht lange in der Nähe von Magiern zu leben, um zu wissen, dass dies ein sicheres Zeichen dafür ist, dass ein lautloses Gespräch stattfindet.

»Verzeihung, Tania«, sagte Rothen laut. Tania zog die Brauen in die Höhe, aber dann zuckte sie nur die Achseln und ließ das Bündel Kleider in einen Korb fallen.

»Ist das alles, Lord Rothen?«

»Ja, danke, Tania.«

Rothen wartete, bis sich die Tür hinter der Dienerin geschlossen hatte, dann setzte er sich neben Sonea. »Es wird wahrscheinlich langsam Zeit, dass ich dir etwas erkläre. Es gilt als unhöflich, sich in Gegenwart anderer mithilfe der Gedankenrede zu unterhalten, vor allem wenn die betreffenden Personen nicht die Möglichkeit haben, an dem Gespräch teilzunehmen. Es ist so, als tuschelte man hinter jemandes Rücken.«

Sonea runzelte die Stirn. »Habe ich Tania gekränkt?«

»Nein.« Ihre erleichterte Miene entlockte Rothen ein Lächeln. »Außerdem sollte ich dich warnen, dass man bei der Gedankenrede keineswegs so ungestört ist, wie du vielleicht vermutest. Andere Magier können solche Gespräche mithören, vor allem wenn sie mit Vorsatz lauschen.«

»Dann wäre es also möglich, dass irgendjemand gerade eben unser Gespräch mitangehört hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Möglich wäre es zwar, aber ich bezweifle es. Es gilt als äußerst unhöflich und respektlos, zu lauschen – außerdem kostet es eine Menge Konzentration und Anstrengung. Wenn es nicht so wäre, würden uns die Gespräche anderer Leute wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben.«

Sonea blickte nachdenklich drein. »Wenn man nur dann etwas hört, wenn man gerade lauscht, woher weiß man dann, wenn ein anderer mit einem reden will?«

»Je näher du einem Magier bist, umso einfacher ist es, den Betreffenden zu hören«, erklärte er. »Wenn du dich mit ihm im selben Raum befindest, kannst du im Allgemeinen die Gedanken auffangen, die er dir sendet. Wenn die Entfernung größer ist, muss der Betreffende zuerst deine Aufmerksamkeit erregen.«

Er legte eine Hand auf seine Brust. »Wenn du zum Beispiel mit mir reden wolltest, während ich mich in der Universität aufhalte, würdest du meinen Namen projizieren. Andere Magier würden das zwar hören, aber sie würden nicht antworten oder ihren Geist öffnen, um das folgende Gespräch zu belauschen. Wenn ich zur Antwort deinen Namen rufe, wirst du wissen, dass ich dich gehört habe, und dann beginnen wir unser Gespräch. Wenn wir begabt und mit der Stimme des anderen vertraut sind, können wir es Dritten erschweren, uns zu belauschen, indem wir die Aussendung unserer Gedanken scharf bündeln, aber über größere Entfernungen hinweg ist das praktisch unmöglich.«

»Hat sich schon mal jemand über diese Regel hinweggesetzt?«

»Wahrscheinlich.« Rothen zuckte die Achseln. »Deshalb darfst du auch nie vergessen, dass man bei der Gedankenrede niemals sicher sein kann, ob man nicht belauscht wird. Wir haben hier ein Sprichwort: Geheimnisse spricht man nicht, man sagt sie.«

Sonea schnaubte leise. »Das ergibt keinen Sinn.«

»Nicht, wenn man es wörtlich nimmt.« Er kicherte. »Aber die Worte ›sprechen‹ und ›hören‹ haben hier in der Gilde eine andere Bedeutung. Obwohl allgemein das Höflichkeitsgebot gilt, ist es erstaunlich, wie häufig die Leute die Entdeckung machen, dass ein streng gehütetes Geheimnis plötzlich zum Gegenstand von Klatsch und Tratsch geworden ist. Wir vergessen häufig, dass die Magier nicht die einzigen sind, die uns hören.«

Interesse leuchtete in ihren Augen. »Ach nein?«

»Nicht alle Kinder, bei denen wir magisches Potenzial entdecken, treten der Gilde bei«, erklärte er. »Wenn es sich bei dem Kind zum Beispiel um den ältesten Bruder handelt, dann könnte er seiner Familie als Erbe vielleicht von größerem Nutzen sein. In den meisten Ländern gibt es Gesetze, die es Magiern erschweren, sich in der Politik zu betätigen. Ein Magier darf zum Beispiel nicht König werden. Aus diesem Grund ist es unklug, einen Magier zum Oberhaupt einer Familie zu machen. Die Gedankenrede ist eine Fähigkeit, die mit dem magischen Potenzial eines Menschen einhergeht. Manchmal, wenn auch nur sehr selten, entwickelt sich bei einem Menschen die Fähigkeit zur Gedankenrede auf natürliche Weise, auch wenn er nicht Magier geworden ist. Diese Personen kann man in der Wahrheitslesung unterweisen, was eine sehr nützliche Fähigkeit sein kann.«

»Eine Wahrheitslesung?«

Rothen nickte. »Natürlich kann man das nicht ohne das Einverständnis des Betreffenden tun, daher ist die Wahrheitslesung nur dann von Nutzen, wenn jemand einem anderen zeigen will, was er gesehen oder gehört hat. Es gibt bei uns in der Gilde ein Gesetz, das Anklagen betrifft. Wenn jemand einen Magier eines Verbrechens bezichtigt, muss der Betreffende sich mit einer Wahrheitslesung einverstanden erklären oder seine Anklage zurückziehen.«

»Das scheint mir nicht fair zu sein«, erwiderte Sonea. »Es war doch der Magier, der etwas Unrechtes getan hat.«

»Ja, aber diese Methode verhindert falsche Anklagen. Der Angeklagte, sei er nun ein Magier oder nicht, kann eine Wahrheitslesung ohne Weiteres verhindern.« Er zögerte. »Eine Ausnahme gibt es allerdings.«

Sonea runzelte die Stirn. »Ach?«

Rothen lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Finger. »Vor einigen Jahren wurde ein Mann in die Gilde gebracht, der im Verdacht stand, einige besonders grausame Morde begangen zu haben. Der Hohe Lord – unser Anführer – hat seine Gedanken gelesen und seine Schuld bestätigt. Es bedarf großer Begabung, um an den Blockaden in einem widerstrebenden Geist vorbeizukommen. Akkarin ist der Einzige von uns, dem das gelungen ist, obwohl es auch in der Vergangenheit schon Magier gegeben haben soll, die dazu in der Lage waren. Akkarin ist jedenfalls ein ungewöhnlicher Mann.«

Sonea nahm diese Worte in sich auf. »Aber hätte der Mörder seine Geheimnisse nicht einfach hinter Türen verbergen können, so wie Ihr es mir gezeigt habt?«

Rothen zuckte die Achseln. »Im Grunde weiß niemand, wie Akkarin es gemacht hat, aber als er erst einmal in den Geist des Mannes eingedrungen war, dauerte es nicht lange, bis dieser ihm seine Gedanken verriet.« Er hielt inne, dann sah er Sonea forschend an. »Du weißt selbst, dass man ein wenig Übung braucht, um Geheimnisse hinter Türen zu verstecken. Je größer deine Furcht vor einer Entdeckung ist, desto schwerer ist es, sie zu verbergen.«

Soneas Augen weiteten sich, dann wandte sie sich ab. Ihre Miene hatte sich jäh verschlossen.

Rothen, der sie beobachtete, ahnte, was sie dachte. Wann immer er in ihren Geist getreten war, waren Dinge und Menschen darin zum Vorschein gekommen, die sie vor ihm verbergen wollte. Sie geriet dann jedes Mal in Panik und verbannte ihn aus ihrem Geist.

Alle Novizen reagierten ähnlich. Er sprach nie über die Geheimnisse, die sich ihm in den Gedanken seiner Schüler offenbarten. Die versteckten Sorgen der jungen Menschen, die er unterrichtet hatte, drehten sich um persönliche Laster oder bestimmte Angewohnheiten – bisweilen auch um irgendeinen politischen Skandal – und waren leicht zu ignorieren. Indem er nicht darüber sprach, gab er den Novizen die Sicherheit, dass ihre Privatsphäre respektiert wurde.

Aber mit Schweigen würde er Sonea keine Sicherheit geben, und die Zeit wurde langsam knapp. Am Ende der Woche würde Lorlen seinen ersten Besuch machen, und er erwartete, dass sie bis dahin mit dem Kontrollunterricht begonnen hatte. Wenn sie jemals die Kontrolle ihrer Fähigkeiten erlernen sollte, dann musste sie diese Ängste überwinden.

»Sonea.«

Sie sah ihn widerstrebend an. »Ja?«

»Ich denke, wir sollten über deine Lektionen reden.«

Sie nickte.

Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Im Allgemeinen spreche ich nicht darüber, was ein Novize mir in seinen Gedanken gezeigt hat. Auf diese Weise fällt es meinen Schülern leichter, mir zu vertrauen, aber in unserem Fall wird das nicht gehen. Du weißt, dass ich Dinge gesehen habe, die du für dich behalten wolltest, und es wird uns nicht im Mindesten weiterhelfen, wenn ich so tue, als wäre nichts dergleichen geschehen.«

Sie starrte den Tisch an, und ihre Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie die Lehnen ihres Stuhls.

»Fürs Erste«, fuhr er fort, »hatte ich damit gerechnet, dass du meine Räume durchsuchen würdest. Ich an deiner Stelle hätte es getan. Es macht mir nichts aus. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.«

Ihre Wangen röteten sich leicht, aber sie schwieg immer noch.

»Zweitens. Deinen Freunden und Verwandten droht keine Gefahr von uns.« Sie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Du hast Angst, dass wir dir, wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest, damit drohen könnten, ihnen etwas anzutun.« Er hielt ihrem Blick gelassen stand. »Das werden wir nicht tun, Sonea. Wenn wir es täten, würden wir damit das Gesetz des Königs brechen.«

Sie wandte sich wieder ab, und ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich.

»Ah, aber du machst dir trotzdem Sorgen. Du hast keinen Grund zu glauben, dass wir uns an das Gesetz des Königs halten«, erklärte Rothen. »Du hast keinen Grund, uns zu vertrauen. Was mich zu deiner dritten Sorge bringt, nämlich dass ich deine Fluchtpläne entdecken werde.«

Langsam wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.

»Du brauchst keine solchen Pläne zu machen«, sprach er weiter. »Wir werden dich nicht zwingen, hier zu bleiben, wenn du es nicht willst. Sobald du gelernt hast, deine Magie zu beherrschen, kannst du gehen oder bleiben, ganz wie du willst. Um Magierin zu werden, musst du ein Gelübde ablegen, das wir alle ablegen müssen – ein Gelübde, das uns bis ans Ende unseres Lebens bindet. Es ist kein Schwur, der unwillig getan werden darf.«

Sie sah ihn mit leicht geöffnetem Mund an. »Ihr werdet mich gehen lassen?«

Er nickte, dann wählte er seine nächsten Worte mit großem Bedacht. Es war zu früh, um ihr zu sagen, dass die Gilde sie nicht gehen lassen würde, ohne vorher ihre Kräfte zu blockieren, aber sie musste wissen, dass sie in diesem Fall all ihre magischen Fähigkeiten verlieren würde.

»Ja. Ich muss dich jedoch warnen: Ohne Ausbildung wirst du nicht in der Lage sein, deine Magie zu benutzen. Was du vorher tun konntest, wird dir dann nicht länger möglich sein. Du wirst über keinerlei Magie mehr gebieten können.« Er hielt inne. »In dem Fall wärst du auch den Dieben nicht mehr von Nutzen.«

Zu seiner Überraschung wirkte sie erleichtert. Der Anflug eines Lächelns glitt über ihre Lippen. »Das wäre kein Problem.«

Rothen musterte sie forschend. »Bist du dir sicher, dass du in die Hüttensiedlungen zurückkehren willst? Du hättest keinerlei Möglichkeit, dich zu verteidigen.«

Sonea hob die Schultern. »Dann wird es nicht anders sein als zuvor. Und ich bin früher gut zurechtgekommen.«

Rothen runzelte die Stirn. Ihr Selbstbewusstsein beeindruckte ihn, aber gleichzeitig erschreckte ihn der Gedanke, sie in die Armut zurückzuschicken. »Ich weiß, dass du wieder zu deiner Familie willst. Wenn du der Gilde beitrittst, heißt das nicht, dass du die Menschen, die dir teuer sind, verlieren würdest, Sonea. Sie können dich hier besuchen, genauso wie du zu ihnen gehen kannst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er schürzte die Lippen. »Machst du dir Sorgen, dass sie dich fürchten werden, dass es Verrat an allen Hüttenleuten wäre, das zu werden, was sie hassen?«

Der kurze, durchdringende Blick, den sie ihm zuwarf, sagte ihm, dass er dem wahren Problem näher gekommen war, als sie es für möglich gehalten hätte.

»Was müsstest du tun, um dir die Achtung der Hüttenleute zu bewahren?«

Sie schnaubte. »Als würde die Gilde – oder der König – mir erlauben, zu tun, was immer ich will, nur um vor dem Hüttenvolk gut dazustehen!«

»Ich will dich nicht glauben machen, dass es einfach sein wird«, erwiderte Rothen. »Aber es ist eine Möglichkeit, über die du nachdenken solltest. Magie ist keine alltägliche Gabe. Viele Menschen würden all ihren Reichtum dafür opfern. Denk darüber nach, was du hier lernen könntest. Denk darüber nach, wie du deine Fähigkeiten nutzen könntest, um anderen zu helfen.«

Einen Moment lang schien sie ins Wanken zu geraten, dann verhärtete sich ihre Miene wieder. »Die Kontrolle meiner Magie ist alles, was ich hier lernen will.«

Er nickte langsam. »Wenn das wirklich so ist, dann wird diese Kontrolle auch das Einzige sein, was wir dir geben können. Viele von uns werden sehr überrascht sein, wenn sie hören, dass du aus freien Stücken in die Hütten zurückkehren willst. Viele Magier werden nicht verstehen, warum jemand, der sein ganzes Leben in Armut verbracht hat, ein solches Angebot ausschlägt. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du keinen großen Wert auf Reichtum und Luxus legst.« Er zuckte die Achseln, dann lächelte er. »Und ich werde nicht der Einzige sein, der dich dafür bewundert. Allerdings solltest du wissen, dass ich mir größte Mühe geben werde, dich zum Bleiben zu bewegen.«

Zum ersten Mal, seit er ihre Bekanntschaft gemacht hatte, lächelte sie. »Vielen Dank für die Warnung.«

Rothen, der plötzlich sehr zufrieden mit sich war, rieb sich die Hände. »Nun, das wäre also geklärt. Wollen wir jetzt mit dem Unterricht anfangen?«

Sie zögerte, dann schob sie ihren Stuhl ein wenig näher an seinen heran. Erheitert über ihren Eifer, griff er nach ihren ausgestreckten Händen.

Er schloss die Augen, verlangsamte seine Atmung und suchte die Aura, die ihn in Soneas Geist führen würde. Sie beherrschte die Kunst des Visualisierens inzwischen recht gut, und er fand sich sofort vor einer offenen Tür wieder. Nachdem er hindurchgetreten war, kam er in einen vertrauten Raum. In der Mitte des Raums stand Sonea.

Ein Gefühl von Entschlossenheit lag in der Luft. Er wartete auf die gewohnte Störung in der Szene, aber nichts Unerwünschtes erschien in dem Raum. Überrascht und ehrlich erfreut, nickte er Soneas Abbild zu.

Zeig mir die Tür zu deiner Magie.

Sie drehte sich um. Als Rothen ihrem Blick folgte, fand er sich vor einer weißen Tür wieder.

Jetzt öffne die Tür und hör mir genau zu. Ich werde dir zeigen, wie du deine Magie kontrollieren kannst.


Cery ließ sich auf die Knie sinken und stieß ein wütendes Zischen aus.

Er hatte sein Gefängnis gründlich untersucht, und wann immer er mit den Fingern auf die flink umherhuschenden, achtbeinigen Faren gestoßen war, hatte ihm der Atem gestockt. Seine Suche hatte ergeben, dass die Mauern aus großen Ziegelsteinen bestanden und der Boden aus festgetretenem Lehm. Die Tür war eine massive Holzplatte mit schweren, eisernen Angeln.

Sobald die Schritte des Magiers verklungen waren, hatte Cery einen Dietrich aus seinem Mantel gezogen und nach der Tür getastet. Nachdem er das Schlüsselloch gefunden hatte, hatte er sich an dem Schloss zu schaffen gemacht, bis der Mechanismus sich drehte, aber die Tür hatte sich trotzdem nicht öffnen lassen.

Er konnte sich daran erinnern, dass er zuerst laut aufgelacht hatte, als ihm klar geworden war, dass der Magier die Tür überhaupt nicht verschlossen hatte. Er hatte das Schloss nicht aufgebrochen, sondern vielmehr einrasten lassen.

Abermals hatte er sich mit dem Schloss beschäftigt und es wieder geöffnet – nur um feststellen zu müssen, dass er die Tür immer noch nicht öffnen konnte. Da er nach dem Verschwinden des Magiers jedoch gehört hatte, wie dieser einen Schlüssel umdrehte, musste es wohl ein zweites Schloss geben.

Er hatte allerdings keines entdecken können, was bedeutete, dass das Schloss, das die Tür versperrte, nur auf der Außenseite ein Schlüsselloch hatte. Also hatte er seinen Dietrich in den Spalt zwischen Tür und Rahmen geschoben und tatsächlich den Eindruck gehabt, dass er auf einen Widerstand stieß.

Als er sein Drahtwerkzeug jedoch wieder herausziehen wollte, klemmte es fest.

Aus Angst, es zu beschädigen, ließ er es in dem Spalt stecken und nahm einen anderen Dietrich aus der Tasche. Diesen schob er ein klein wenig höher als den ersten in den Spalt.

Aber noch bevor er herausfinden konnte, was sein erstes Werkzeug festhielt, verkeilte sich auch das zweite. Fluchend hatte Cery mit aller Kraft daran gezogen – mit dem einzigen Erfolg, dass er den Dietrich dabei verbog.

Mit einem dritten erging es ihm nicht besser. Ganz gleich, wie kräftig er daran zog, auch dieser Dietrich ließ sich nicht wieder herausnehmen, ebenso wenig wie die anderen.

Im Laufe vieler dunkler Stunden hatte er noch mehrmals versucht, seine Werkzeuge wieder zu befreien, ohne Erfolg. Er konnte sich auch nicht vorstellen, was seine Dietriche eigentlich in dem Spalt festhielt. Nichts außer Magie natürlich.

Seine Beinmuskeln verkrampften sich in der Kälte, daher stand er schließlich wieder auf. Der Raum um ihn herum schien sich zu drehen, und er stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab. Sein Magen knurrte und sagte ihm, dass seine letzte Mahlzeit viel zu lange zurücklag, aber sein Durst war noch schlimmer. Was hätte er nicht alles gegeben für einen Becher Bol oder ein Glas Pachi-Saft oder auch nur ein wenig Wasser.

Wieder fragte er sich, ob er in dieser Zelle den Tod finden sollte. Wenn die Gilde jedoch seinen Tod wollte, hätte sie das ohne Weiteres arrangieren können, bevor sie seinen Körper irgendwo versteckte. Das gab ihm ein wenig Hoffnung, denn es konnte nur eines bedeuten: Die Pläne der Magier sahen vor, dass er am Leben blieb – für den Augenblick.

Er dachte noch einmal an den anderen Magier – den in den blauen Roben – und konnte sich nicht daran erinnern, in dem Verhalten des Mannes irgendwelche Anzeichen von Verrat bemerkt zu haben. Entweder verstand der Magier sich bestens darauf, Vertrauenswürdigkeit zu heucheln, oder er hatte nichts von Ferguns Plänen gewusst. Wenn Letzteres zutraf, dann war seine Gefangenschaft allein Ferguns Idee gewesen.

Ob der blonde Magier nun auf eigene Faust gehandelt hatte oder nicht, Cery konnte sich nur zwei Gründe für seine Gefangenschaft vorstellen: die Diebe oder Sonea.

Falls die Magier Cery benutzen wollten, um Druck auf die Diebe auszuüben, würden sie enttäuscht werden. So dringend brauchte Faren Cery nun auch wieder nicht.

Vielleicht würden sie versuchen, ihn zu foltern, um Informationen aus ihm herauszubekommen. Obwohl er sich gern eingeredet hätte, dass er dieser Art von Überzeugungskraft widerstehen konnte, wollte er sich doch am Ende nichts vormachen. Er wusste nicht, ob er im Angesicht körperlicher Qualen Stillschweigen bewahren würde.

Es war möglich, dass die Magier, auch ohne zu solchen Mitteln greifen zu müssen, seine Gedanken lesen konnten. In dem Fall würden sie herausfinden, dass er kaum etwas wusste, was sich gegen die Diebe verwenden ließ. Sobald die Magier das begriffen hatten, würden sie ihn wahrscheinlich für alle Zeit der Dunkelheit überlassen.

Aber er bezweifelte, dass es ihnen um die Diebe ging. Wenn es so wäre, hätten sie ihn schon längst danach gefragt.

Nein, die einzigen Fragen, die man ihm gestellt hatte, betrafen Sonea. Auf dem Weg zur Universität hatte Fergun wissen wollen, welcher Art Cerys Beziehung zu Sonea war. Wenn die Magier erfahren wollten, ob Cery ihr etwas bedeutete, dann wollten sie ihn wahrscheinlich als Druckmittel benutzen, um sie zu etwas zu zwingen, das sie nicht tun wollte.

Der Gedanke, dass er ihre Situation noch verschlechtert haben könnte, quälte ihn ebenso sehr wie die Furcht, man könne ihn zum Sterben in diese Zelle geführt haben. Wenn er doch nur nicht der Versuchung erlegen wäre, sich die Universität anzusehen! Je länger Cery darüber nachdachte, desto heftiger verfluchte er sich für seine Neugier.

Zwischen einem Atemzug und dem nächsten hörte er plötzlich Schritte in der Ferne. Als sie lauter wurden, verebbte sein Zorn, und sein Herz begann zu rasen.

Vor der Tür hielten die Schritte inne. Er hörte ein stumpfes, metallischen Klicken, gefolgt von dem leiseren Klappern, mit dem seine Dietriche zu Boden fielen. Im nächsten Moment fiel ein schmaler Streifen gelben Lichts durch den Türspalt.

»Nun schau sich das einer an«, murmelte Fergun. Er drehte sich zur Seite und ließ den Teller und die Flasche los, die er mitgebracht hatte. Statt jedoch zu Boden zu fallen, schwebten beide Dinge langsam herab. Fergun breitete die Finger aus, und die Drähte sprangen ihm gehorsam in die Hand.

Er unterzog sie einer genauen Musterung, dann hob er die Brauen. Lächelnd sah er Cery an.

»Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass diese Dinger funktionieren würden, oder? Ich hatte mir schon gedacht, dass du ein wenig Erfahrung mit solchen Dingen besitzt, deshalb habe ich gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.« Er betrachtete Cerys Kleidung. »Hast du irgendwo noch mehr von diesen Dingern versteckt?«

Cery schluckte die verneinende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hastig herunter. Fergun würde ihm niemals glauben. Der Magier lächelte und streckte die Hand aus.

»Gib sie mir.«

Cery zögerte. Wenn er einige der Gegenstände, die er in seiner Kleidung versteckt hielt, herausgab, würde er vielleicht andere, noch wichtigere Werkzeuge behalten können.

Fergun trat einen Schritt auf ihn zu. »Na komm, welchen Nutzen haben diese Sachen hier unten für dich?« Er machte eine knappe Bewegung mit dem Zeigefinger. »Gib sie mir.«

Langsam griff Cery in seinen Mantel und zog eine Hand voll weniger wichtiger Werkzeuge heraus. Dann funkelte er den Magier wütend an und legte sie ihm auf die ausgestreckte Hand.

Fergun besah sich die Drähte, dann blickte er wieder auf. Ein boshaftes Lächeln spielte um seine Lippen. »Erwartest du wirklich von mir, dass ich dir glaube, das hier wäre schon alles?«

Er bog die Finger durch. Cery spürte, wie eine unsichtbare Kraft gegen seine Brust drückte, und er taumelte bis zur Mauer zurück.

Fergun kam näher und durchsuchte Cerys Mantel. Mit einem Ruck hatte er das Futter aufgerissen, um mehrere versteckte Taschen darin zu entblößen. Er pflückte den Inhalt heraus, dann wandte er sich Cerys übrigen Kleidungsstücken zu.

Während er die Messer aus Cerys Stiefeln zog, stieß Fergun einen leisen Laut der Befriedigung aus, dann folgte ein noch zufriedeneres »Ah«, als er Cerys Dolche fand. Schließlich richtete er sich auf und zog eine der Waffen aus der Scheide. Er untersuchte den breitesten Teil der Klinge, auf dem ein grobes Bild des kleinen Nagetiers eingeritzt war: Cerys Namensvetter.

»Ceryni«, sagte der Magier und sah zu Cery hinüber.

Cery erwiderte seinen Blick voller Trotz. Fergun kicherte und wandte sich ab. Er nahm ein großes Stück Tuch aus seinen Roben, wickelte die Werkzeuge und Waffen darin ein und trat zur Tür hinüber.

Als ihm klar wurde, dass der Magier gehen würde, ohne ihm irgendwelche Erklärungen zu geben, setzte Cerys Herz einen Schlag aus.

»Wartet! Was wollt Ihr von mir? Warum bin ich hier?« Fergun beachtete ihn jedoch nicht. Als die Tür hinter ihm zufiel, löste sich die Umklammerung, mit der der Magier ihn belegt hatte, und Cery sackte auf die Knie. Keuchend vor Zorn tastete er nach seinem Mantel und fluchte dann, als er feststellte, dass tatsächlich die meisten seiner Werkzeuge verschwunden waren. Am meisten bedauerte er den Verlust der Dolche, aber es war schwierig, Waffen von dieser Größe verborgen zu halten.

Er hockte sich auf die Fersen und stieß einen langen Seufzer aus. Einige seiner Sachen waren ihm verblieben und würden ihm vielleicht von Nutzen sein. Er brauchte sich lediglich einen Plan zurechtzulegen.



22 Ein unerwartetes Angebot

»Muss ich das wirklich tun?«

»Ja.« Dannyl legte beide Hände auf Rothens Schultern, drehte ihn um und schob ihn aus dem Raum. »Wenn du dich versteckst, unterstützt du damit nur die Argumente von Ferguns Anhängern.«

Rothen seufzte und folgte Dannyl in den Korridor hinaus. »Du hast natürlich Recht. Während der vergangenen Wochen habe ich praktisch mit niemandem gesprochen – und ich sollte Lorlen bitten, seinen Besuch noch um einige Tage hinauszuzögern. Warte …« Rothen blickte auf und zog die Brauen zusammen. »Was sagen Ferguns Anhänger eigentlich?«

Dannyl lächelte grimmig. »Dass sie binnen weniger Tage die Kontrolle ihrer Kräfte erlernt hat und dass du sie unter Verschluss hältst, damit Fergun sie nicht sehen kann.«

Rothen schnalzte wütend mit der Zunge. »Was für ein Unsinn. Ich wünschte, einige von denen müssten die Kopfschmerzen ertragen, die ich während der vergangenen Woche gehabt habe.« Er schnitt eine Grimasse. »Das bedeutet wahrscheinlich, dass ich Lorlens Besuch nicht allzu lange werde hinauszögern können.«

»Richtig«, stimmte Dannyl ihm zu.

Sie erreichten den Ausgang des Wohngebäudes der Magier und traten ins Freie. Obwohl Novizen jeden Morgen und jeden Abend den Schnee auf den Gehsteigen und den Fußwegen schmolzen, war der Innenhof bereits wieder mit einer dünnen, weißen Pulverschicht bedeckt. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie zu den Sieben Bögen hinübergingen.

Kaum dass sie den gut geheizten Abendsaal betreten hatten, drehten sich auch schon etliche Köpfe in ihre Richtung. Dannyl hörte ein leises Stöhnen von seinem Begleiter; mehrere Magier kamen bereits auf sie zu. Sarrin, das Oberhaupt der Alchemisten, war der Erste, der sie ansprach.

»Guten Abend, Lord Rothen, Lord Dannyl. Wie geht es Euch beiden?«

»Gut, Lord Sarrin«, antwortete Rothen.

»Habt Ihr schon irgendwelche Fortschritte bei dem Mädchen erzielen können?«

Inzwischen standen mehrere Magier um ihn herum, um sich seine Antwort nicht entgehen zu lassen. »Sonea kommt gut voran«, erklärte er ihnen. »Es hat ein wenig gedauert, bis sie in der Lage war, mich nicht bei jedem meiner Versuche unweigerlich aus ihrem Geist zu vertreiben. Wie Ihr Euch denken könnt, war sie uns gegenüber ziemlich argwöhnisch.«

»Sie kommt gut voran?«, murmelte einer der Magier. »Kaum ein Novize braucht jemals zwei Wochen dafür.«

Als sich Rothens Miene verdüsterte, konnte Dannyl sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Sein Freund wandte sich dem Sprecher zu. »Ihr dürft nicht vergessen, dass sie keine widerstrebende Novizin ist, die von ihren Eltern maßlos verwöhnt wurde, bevor sie sie zu uns schickten. Bis vor zwei Wochen glaubte sie, wir wollten sie töten. Ich habe einige Zeit gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen.«

»Wann habt Ihr mit den Kontrollübungen begonnen?«, wollte ein anderer Magier wissen.

Rothen zögerte. »Vor zwei Tagen.«

Ein Raunen lief durch die Reihen der Magier. Mehrere von ihnen runzelten kopfschüttelnd die Stirn.

»In diesem Fall möchte ich bemerken, dass Ihr beeindruckende Fortschritte gemacht habt«, erklang jetzt eine neue Stimme.

Dannyl drehte sich um und sah Lady Vinara näher kommen. Die Magier machten dem Oberhaupt der Heiler respektvoll Platz.

»Was habt Ihr bisher von ihrer Kraft zu sehen bekommen?«

Rothen lächelte. »Als mir zum ersten Mal klar wurde, über welch ein Potenzial sie verfügt, konnte ich es nicht glauben. Ihre Kräfte sind einfach erstaunlich!«

Das Getuschel der anderen Magier wurde lauter. Dannyl nickte vor sich hin. Gut, dachte er. Wenn sie sehr stark ist, werden die Leute sich für Rothen als ihren Mentor aussprechen.

Ein älterer Magier, der ziemlich weit vorn in der Gruppe stand, zuckte die Achseln. »Aber wir wussten vorher schon, dass sie stark sein musste, sonst hätten ihre Kräfte sich nicht aus sich heraus entwickelt.«

Vinara lächelte. »Natürlich ist Stärke nicht der entscheidende Test für einen Novizen. Welche Talente hat sie bisher gezeigt?«

Rothen schürzte die Lippen. »Ihre Fähigkeit, zu visualisieren, ist sehr gut. Das wird ihr bei den meisten Disziplinen helfen. Außerdem hat sie ein hervorragendes Gedächtnis. Und sie ist eine intelligente und aufmerksame Schülerin.«

»Hat sie ihre Kräfte denn überhaupt schon einmal erprobt?«, fragte ein rotgewandeter Magier.

»Seit ihrer Ankunft hier nicht mehr. Sie begreift sehr wohl, welche Gefahren ihre Magie birgt.«

Damit hatten die Fragen noch lange kein Ende genommen. Dannyl erblickte in einer Gruppe sich nähernder Magier einen blonden Haarschopf. Er rückte dichter an Rothen heran und wartete auf einen geeigneten Moment, um ihm eine Warnung zuzuflüstern.

Lord Dannyl.

Einige Magier blinzelten und sahen zu Dannyl hinüber. Als Dannyl die Gedankenstimme erkannte, schaute er sich suchend im Raum um und entdeckte Administrator Lorlen in seinem gewohnten Sessel. Der Magier in den blauen Roben deutete auf Rothen und gab Dannyl dann ein Zeichen.

Dannyl nickte lächelnd und beugte sich zu Rothen vor. »Ich glaube, der Administrator will dich retten.«

Inzwischen hatte Fergun die Gruppe erreicht. Eine vertraute Stimme fügte sich in das Geplapper ein, und einige der Leute drehten sich zu dem Krieger um.

»Entschuldigt mich bitte«, sagte Rothen. »Ich muss mit Administrator Lorlen sprechen.« Er neigte höflich den Kopf, dann schob er Dannyl sanft in Lorlens Richtung.

Als Dannyl sich noch einmal umdrehte, begegnete sein Blick für einen Moment dem Ferguns. Die Lippen des Kriegers verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln.

Als sie Lorlen erreicht hatten, bedeutete der Administrator ihnen, neben ihm Platz zu nehmen. »Guten Abend, Lord Rothen, Lord Dannyl. Setzt Euch und erzählt mir, welche Fortschritte Sonea macht.«

Rothen blieb stehen. »Ich hatte gehofft, unter vier Augen mit Euch darüber reden zu können, Administrator.«

Lorlen zog die Brauen in die Höhe. »Meinetwegen. Wollen wir in den Bankettsaal gehen?«

»Das wäre mir lieber, ja.«

Der Administrator erhob sich und geleitete sie zu einer Tür in der Nähe. Als sie hindurchtraten, flackerte eine Lichtkugel über Lorlens Kopf auf und beleuchtete einen riesigen Tisch, der den größten Teil des Raumes einnahm.

Lorlen zog sich einen der Stühle am Tisch heran und setzte sich. »Was macht Euer Bein, Lord Dannyl?«

Dannyl blickte überrascht auf. »Es ist besser geworden.«

»Eure Beschwerden scheinen heute Abend zurückgekehrt zu sein«, bemerkte Lorlen. »Ich habe gesehen, dass Ihr wieder humpelt.«

»Das liegt an der Kälte«, erwiderte Dannyl.

»Ah, verstehe.« Lorlen nickte, dann wandte er sich Rothen zu. »Was wolltet Ihr mit mir besprechen?«

»Ich habe vor zwei Tagen mit den Kontrollübungen begonnen«, antwortete Rothen. Lorlen runzelte die Stirn, ließ Rothen jedoch weitersprechen. »Ihr wolltet Euch nach zwei Wochen von ihren Fortschritten überzeugen und habt mich gebeten, sie zuvor mit einem anderen Magier bekannt zu machen. Da sie jedoch noch keine allzu großen Fortschritte gemacht hat, wollte ich sie bisher nicht mit Besuchern ablenken, denke aber, dass sie in Kürze so weit sein dürfte. Könntet Ihr Euren Besuch noch um einige Tage verschieben?«

Lorlen musterte Rothen gelassen und nickte schließlich. »Um einige Tage, aber nicht länger.«

»Vielen Dank. Da wäre jedoch noch etwas. Eine Möglichkeit, die wir besser von Anfang an in Betracht ziehen sollten.«

Lorlen zog die Brauen in die Höhe. »Ja?«

»Sonea möchte der Gilde nicht beitreten. Ich habe…« Er seufzte. »Um ihr Vertrauen zu gewinnen, habe ich ihr versichert, dass wir sie gehen lassen werden, falls sie den Wunsch haben sollte, in die Hütten zurückzukehren. Schließlich können wir sie nicht zwingen, das Gelübde abzulegen.«

»Habt Ihr ihr auch erklärt, dass wir in diesem Fall ihre Kräfte blockieren würden?«

»Darüber habe ich noch nicht mit ihr gesprochen.« Rothen runzelte die Stirn. »Obwohl ich nicht glaube, dass es ihr viel ausmachen würde. Ich habe sie gewarnt, dass sie in einem solchen Fall ihre Kräfte nicht mehr würde einsetzen können, aber das schien sie eher zu freuen. Ich glaube, sie wäre glücklich, ihre Magie loszuwerden.«

Lorlen nickte. »Das überrascht mich nicht. Bisher hat sie Magie nur als unkontrollierbare, zerstörerische Kraft kennen gelernt.« Er spitzte die Lippen. »Vielleicht solltet Ihr ihr einige nützliche Tricks beibringen, damit sie ein wenig mehr Gefallen an der Sache findet.«

Rothen legte die Stirn in Falten. »Sie sollte ihre Kraft nicht benutzen, bevor sie vollkommene Kontrolle darüber hat, und sobald sie diese Kontrolle erlangt hat, wird sie von uns erwarten, dass wir sie gehen lassen.«

»Sie müsste den Unterschied zwischen einer Kontrollübung und einer Lektion in Magie kennen lernen«, warf Dannyl ein. »Lass in deinem Unterricht einfach ein wenig Informationen über die Benutzung von Magie einfließen. Das wird dir außerdem zusätzliche Zeit verschaffen, um sie zum Bleiben zu bewegen.«

»Aber nicht viel Zeit«, nahm Lorlen den Faden auf. »Auch wenn Fergun nicht genau weiß, wann Ihr mit ihr so weit seid, werdet Ihr ihm nichts vormachen können. Vielleicht gewinnt Ihr dadurch eine zusätzliche Woche, mehr nicht.«

Rothen sah Lorlen erwartungsvoll an. Der Administrator seufzte und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Also schön. Sorgt nur dafür, dass er nichts davon erfährt, sonst wird er mir deswegen ewig in den Ohren liegen.«

»Wenn er doch dahinterkommen sollte, sagen wir einfach, wir hätten ihre Kontrolle geprüft«, erklärte Dannyl. »Sie ist schließlich ungewöhnlich stark. Wir wollen doch nicht, dass sie irgendwelche Fehler macht.«

Lorlen warf Dannyl einen anerkennenden Blick zu. Dann schien er etwas sagen zu wollen, schüttelte aber stattdessen den Kopf und wandte sich wieder an Rothen. »Ist das alles, was Ihr mit mir besprechen wolltet?«

»Ja. Vielen Dank, Administrator«, antwortete Rothen.

»Dann werde ich Sonea in einigen Tagen besuchen. Habt Ihr schon einmal darüber nachgedacht, wen Ihr dem Mädchen als Erstes vorstellen wollt?«

Als Rothen vielsagend zu Dannyl hinübersah, blinzelte dieser.

»Mich?«

Rothen lächelte. »Ja, dich. Morgen Nachmittag, wenn es nach mir geht.«

Dannyl öffnete den Mund, um zu protestieren, aber als ihm bewusst wurde, dass Lorlen ihn eingehend beobachtete, besann er sich eines Besseren.

»Na schön«, sagte er widerstrebend. »Nur bring vorher das Besteck in Sicherheit.«

Sonea langweilte sich.

Es war noch zu früh, um schlafen zu gehen. Tania war kurz nach dem Abendessen mit den schmutzigen Tellern fortgegangen, und Rothen war bald darauf ebenfalls verschwunden.

Da sie schon am Morgen das letzte Buch, das Rothen ihr mitgebracht hatte, zu Ende gelesen hatte, lief Sonea jetzt unruhig in ihrem Zimmer auf und ab und betrachtete die Bücherregale und die Zierstücke, die im Raum standen.

Da sie nichts fand, was sie interessierte, trat sie ans Fenster und schaute hinaus. Die Nacht war mondlos, und die Gärten lagen in Dunkelheit gehüllt. Nichts regte sich.

Seufzend beschloss sie, früh zu Bett zu gehen. Sie schob die Papierblende wieder vor das Fenster und wandte sich zu ihrem Schlafzimmer um – nur um im nächsten Moment zu erstarren. Irgendjemand hatte an die Wohnungstür geklopft.

Sie drehte sich um. Rothen klopfte niemals an, bevor er eintrat, und Tanias Klopfen war leise und höflich, nicht so beharrlich und durchdringend wie dieses. Es hatten schon vorher Besucher angeklopft, aber Rothen hatte sie nie hereingebeten.

Als der Besucher abermals klopfte, lief es Sonea einen Moment lang kalt über den Rücken. Vorsichtig stahl sie sich quer durch den Raum zur Tür hinüber.

»Wer ist da?«

»Ein Freund«, kam die gedämpfte Antwort.

»Rothen ist nicht hier.«

»Ich möchte auch nicht mit Rothen reden. Ich möchte mit dir reden, Sonea.«

Sie starrte die Tür an, und ihr Herz begann zu rasen. »Warum?«

Diesmal klang die Antwort noch leiser. »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen, etwas, das er dir nicht sagen wird.«

Rothen hielt etwas vor ihr verborgen? Die Mischung aus Furcht und Erregung ließ ihr Herz noch schneller schlagen. Wer immer dieser Fremde war, er war bereit, um ihretwillen den Magiern zu trotzen. Sie wünschte, sie hätte durch die Tür sehen können, um festzustellen, wer der Besucher war.

Aber war es wirklich eine gute Idee, gerade jetzt etwas Nachteiliges über Rothen in Erfahrung bringen zu wollen? Gerade jetzt, da sie ihm unbedingt vertrauen musste?

»Sonea. Lass mich herein. Im Moment ist außer mir niemand im Korridor, aber das wird nicht lange so bleiben. Dies ist meine einzige Chance, mit dir zu reden.«

»Ich kann nicht. Die Tür ist abgeschlossen.«

»Versuche es noch einmal.«

Sie beäugte den Türknauf. Obwohl sie während ihrer ersten Tage hier mehrmals versucht hatte, die Tür zu öffnen, war es ihr nie gelungen. Jetzt streckte sie die Hand aus, drehte den Knauf und sog überrascht die Luft ein, als die Tür aufschwang.

Ein roter Ärmel erschien, dann die vollen, roten Roben eines Magiers. Sonea trat hastig einen Schritt zurück und sah den Magier entsetzt an. Sie hatte einen Diener erwartet oder einen als Diener verkleideten Retter – es sei denn, dieser Mann hatte es gewagt, sich in Roben zu kleiden, um zu ihr vordringen zu können …

Der Mann zog die Tür sachte hinter sich zu, dann drehte er sich zu ihr um. »Hallo, Sonea. Endlich lernen wir uns kennen. Ich bin Lord Fergun.«

»Ihr seid ein Magier?«

»Ja, wenn auch kein Magier, wie Rothen einer ist.« Er legte eine Hand auf seine Brust.

Sonea runzelte die Stirn. »Ihr seid ein Krieger?«

Fergun lächelte. Er war viel jünger als Rothen, stellte sie fest, und recht attraktiv. Sein Haar war hell und säuberlich gekämmt, und seine Gesichtszüge wirkten gleichzeitig elegant und stark. Sie wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, konnte sich aber nicht daran erinnern, wo.

»Das bin ich«, sagte er. »Aber das ist nicht der Unterschied, von dem ich spreche.« Er legte eine Hand aufs Herz. »Ich bin auf deiner Seite.«

»Und Rothen ist es nicht?«

»Nein, obwohl er es durchaus gut meint«, antwortete er. »Rothen gehört zu der Art Menschen, die glauben zu wissen, was das Beste für andere ist, insbesondere für eine junge Frau wie dich. Ich dagegen betrachte dich als Erwachsene, der man gestatten sollte, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Willst du mich anhören, oder soll ich dich in Ruhe lassen?«

Obwohl ihr Herz immer noch raste, nickte sie und deutete auf die Sessel. »Bleibt«, sagte sie. »Ich werde Euch anhören.«

Er neigte höflich den Kopf, dann ließ er sich in einen Sessel sinken. Sonea nahm in dem Sessel ihm gegenüber Platz und sah ihn erwartungsvoll an.

»Zunächst einmal: Hat Rothen dir erklärt, dass du der Gilde beitreten kannst?«, fragte er.

»Ja.«

»Und hat er dir auch erzählt, was du tun musst, um Magierin zu werden?«

Sie zuckte die Achseln. »Ein wenig. Man muss ein Gelübde ablegen, und die Ausbildung dauert mehrere Jahre.«

»Und du weißt, was du in diesem Gelübde schwören musst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber das spielt auch keine Rolle. Ich habe nicht die Absicht, der Gilde beizutreten.«

Er blinzelte. »Du willst der Gilde nicht beitreten?«, wiederholte er.

»Nein.«

Er nickte langsam und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Eine Weile schwieg er nachdenklich, dann blickte er wieder zu ihr hinüber. »Darf ich fragen, warum nicht?«

Sonea musterte ihn eingehend. Rothen hatte ihr erklärt, dass viele der Magier überrascht sein würden, wenn sie das Angebot der Gilde ausschlug. »Ich will nach Hause zurück«, antwortete sie.

Wieder nickte er. »Du weißt, dass die Gilde keinen Magier duldet, der sich ihrem Einfluss entzieht?«

»Ja«, erwiderte sie. »Das weiß jeder.«

»Dann weißt du auch, dass man dir nicht einfach gestatten wird, von hier fortzugehen.«

»Ich werde meine Kräfte nicht benutzen können, daher werde ich keine Bedrohung darstellen.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Dann hat Rothen dir also erzählt, dass die Gilde deine Kräfte blockieren wird?«

Sonea runzelte die Stirn. Ihre Kräfte blockieren?

Fergun spitzte die Lippen. »Nein? Das hatte ich mir gedacht. Er sagt dir nur einen Teil der Wahrheit.« Er beugte sich vor. »Die Höheren Magier werden deine Kräfte in dir in einen Käfig stecken, so dass du keinen Zugriff mehr darauf hast. Das ist… keine angenehme Prozedur, ganz und gar nicht, und du wirst für den Rest deiner Tage mit diesem Käfig leben müssen. Verstehst du, auch wenn du nicht wissen wirst, wie du Magie wirken kannst, besteht doch immer die Möglichkeit, dass du von allein darauf kommst, wie du deine Kräfte benutzen kannst. Oder aber du findest einen wilden Magier, der bereit ist, dich zu unterrichten – obwohl Letzteres höchst unwahrscheinlich ist. Das Gesetz verlangt von der Gilde, dafür Sorge zu tragen, dass du keine Magie benutzen kannst, selbst wenn du alle Hilfe hättest, die du dazu brauchtest.«

Während er sprach, hatte sich ein bohrendes Gefühl der Kälte in Sonea ausgebreitet. Sie dachte darüber nach, was Rothen ihr erzählt hatte. Hatte er die Wahrheit wirklich mit Absicht so formuliert, dass sie weniger erschreckend klang? Wahrscheinlich. Ihr Argwohn wuchs, als sie sich plötzlich an etwas erinnerte: Rothen hatte die Möglichkeit, dass die Gilde sie freigeben würde, lediglich laut ausgesprochen. Sie hatte es nicht in seinen Gedanken gelesen und wusste daher nicht, ob er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte …

Sie blickte zu dem rotgewandeten Magier auf. Wie konnte sie irgendetwas von dem glauben, was er sagte? Andererseits fiel ihr kein Grund ein, warum er sie hätte belügen sollen, da sie die Wahrheit in jedem Fall selbst herausfinden würde, sobald sie Kontrolle gelernt hatte.

»Warum erzählt Ihr mir das?«

Er bedachte sie mit einem verzerrten Lächeln. »Wie ich schon sagte, ich bin auf deiner Seite. Du musst die Wahrheit erfahren, und… ich kann dir eine Alternative anbieten.«

Sie richtete sich auf. »Welche Alternative?«

Er schürzte die Lippen. »Es wird nicht einfach sein. Hat Rothen dir bereits erklärt, was es bedeutet, wenn ein Magier zum Mentor eines Novizen wird?«

Sonea schüttelte den Kopf.

Fergun verdrehte die Augen. »Er hat dir überhaupt nichts erklärt! Hör mir zu.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Als Mentor hat ein Magier die Möglichkeit, die Ausbildung eines Novizen zu überwachen. Rothen hat gleich nach der Säuberung den Antrag gestellt, dass man ihn zu deinem Mentor bestimmen möge. Als ich davon erfuhr, habe ich beschlossen, seinen Anspruch anzufechten. Damit habe ich die Gilde gezwungen, eine Anhörung – eine Versammlung – einzuberufen, bei der darüber entschieden wird, wer von uns beiden zu deinem Mentor bestimmt wird. Du wirst mir helfen, meine Forderung durchzusetzen, dann –«

»Warum sollte man eine Anhörung abhalten, wenn ich der Gilde doch gar nicht beitreten will?«, warf Sonea ein.

Er breitete versöhnlich die Hände aus. »Lass mich ausreden, Sonea.« Er holte tief Luft, dann fuhr er fort: »Wenn du dich weigerst, der Gilde beizutreten, wird man deine Kräfte blockieren und dich zu den Hütten zurückschicken. Wenn du dich dagegen zum Bleiben bereit erklärst und man mich zu deinem Mentor bestimmt, kann ich dir helfen.«

Sonea runzelte die Stirn. »Wie?«

Er lächelte. »Du wirst einfach eines Tages verschwinden. Wenn du willst, kannst du in die Hüttenviertel zurückkehren. Ich werde dir eine Methode zeigen, wie du deine Magie vor der Gilde verborgen halten kannst – was bedeutet, dass man deine Kräfte nicht blockieren wird. Am Anfang wird man Jagd auf dich machen, aber wenn du klug bist, wird man dich beim nächsten Mal nicht finden.«

Sie starrte ihn ungläubig an. »Aber damit brecht Ihr die Gesetze der Gilde.«

Er nickte langsam. »Das ist mir bewusst.« Verschiedene Gefühle spiegelten sich auf seinem Gesicht wider. Schließlich erhob er sich und trat ans Fenster. »Es gefällt mir nicht, wenn Menschen dazu gezwungen werden, etwas zu sein, was sie nicht sein wollen«, fuhr er fort. »Sieh dir das an.« Er durchquerte den Raum und streckte ihr die Hände hin. Die Haut auf den Innenflächen war schwielig und voller Narben.

»Schwertkampf. Ich bin ein Krieger, wie du so scharfsinnig bemerkt hast. Diese Disziplin entspricht am ehesten dem, was ich mir einmal für mein Leben gewünscht habe. Als Junge habe ich davon geträumt, Schwertkämpfer zu werden. Ich habe jeden Tag viele Stunden geübt und davon geträumt, einmal von den größten Lehrern ausgebildet zu werden.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Dann wurde mein magisches Potenzial entdeckt. Es war nicht besonders groß, aber meine Eltern wollten einen Magier in der Familie haben. Ich würde ihrem Haus großes Ansehen einbringen, sagten sie. Also zwang man mich, der Gilde beizutreten. Ich war zu jung, um mich dagegen aufzulehnen, zu unsicher, um wirklich davon überzeugt zu sein, dass die Magie nicht meine wahre Berufung war. Meine Kräfte sind nicht stark, und obwohl ich gelernt habe, sie geschickt zu nutzen, finde ich keinen Gefallen daran. Ich habe mich weiter in den Kampfkünsten geübt, obwohl die meisten Magier nur Verachtung für einen ehrlichen Kampf Mann gegen Mann übrig haben. Aber ich halte daran fest, denn näher kann ich meinem Lebenstraum nicht kommen.«

Er sah zu ihr auf, und seine Augen leuchteten. »Ich werde nicht zulassen, dass Rothen dir das Gleiche antut. Wenn du der Gilde nicht beitreten willst, dann werde ich dir bei der Flucht helfen. Aber du musst mir vertrauen. Die Gesetze und die Politik der Gilde sind kompliziert und verwirrend.« Er kehrte zu seinem Sessel zurück, nahm aber nicht wieder Platz. »Also, soll ich dir helfen?«

Sonea blickte auf den Tisch hinab. Ferguns Geschichte und die Leidenschaft, mit der er sie vorgetragen hatte, hatten sie beeindruckt, aber einige Teile davon bereiteten ihr Unbehagen. Sie würde abermals zum Flüchtling werden, um ihre Magie zu behalten. War es das wirklich wert?

Dann überlegte sie, was Cery dazu sagen würde. Warum sollten die höheren Klassen allein ein Anrecht auf Magie haben? Wenn die Gilde keine Vertreter der unteren Klassen akzeptierte, warum sollten diese Menschen dann nicht ihre eigenen Magier haben?

»Ja.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber ich muss noch darüber nachdenken. Ich kenne Euch nicht. Bevor ich zu irgendetwas mein Einverständnis gebe, möchte ich überprüfen, was Ihr mir über Mentoren erzählt habt.«

Er nickte. »Das verstehe ich. Denk darüber nach, aber lass dir nicht zu lange Zeit. Es ist Rothen inzwischen gelungen, Administrator Lorlen davon zu überzeugen, dass er Recht daran tut, wenn er alle anderen Magier von dir fern hält, bis du Kontrolle gelernt hast. Zweifellos geht es ihm darum, die Wahrheit vor dir zu verbergen. Ich gehe ein hohes Risiko ein, indem ich mich über die Entscheidung des Administrators hinwegsetze. Ich werde versuchen, schon bald noch einmal herzukommen, aber bis dahin musst du eine Antwort für mich haben. Eine dritte Gelegenheit wird sich mir vielleicht nicht bieten.«

»Wenn Ihr wiederkommt, werde ich mich entschieden haben.«

Fergun blickte zur Tür hinüber und seufzte. »Ich sollte besser gehen. Es wäre nicht gut, wenn er mich hier bei dir vorfände.«

Er trat zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinaus. Er bedachte sie mit einem letzten, grimmigen Lächeln, dann war er verschwunden. Die Tür fiel mit einem Klicken hinter ihm zu.

Wieder allein, starrte Sonea geistesabwesend auf den Tisch, während die Worte des Magiers in ihren Gedanken herumwirbelten. Sie konnte keinen Grund dafür entdecken, warum Fergun sie hätte belügen sollen, aber sie würde jede seiner Behauptungen überprüfen: Hatten die Magier wirklich die Möglichkeit, ihre Kräfte zu blockieren? Gab es in der Gilde Mentoren? Und traf es zu, was er ihr über zerstörte Träume erzählt hatte? Wenn sie Rothen vorsichtig ausfragte, konnte sie ihn vielleicht dazu bringen, ihr einen großen Teil dessen, was Fergun gesagt hatte, zu bestätigen.

Aber nicht mehr heute Abend. Der Besuch des Magiers hatte sie zu sehr aus dem Gleichgewicht gebracht, um Rothen mit der Gelassenheit gegenüberzutreten, mit der sie dieses Gespräch führen musste. Also stand sie auf, ging in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.

23 Rothens Freund

»Heute hat kein Unterricht stattgefunden.«

Rothen blickte von dem Buch auf, in dem er gelesen hatte. Sonea lehnte am Fenstersims, und ihr Atem hatte einen kleinen Kreis aus Dunst auf der Glasscheibe hinterlassen.

»Nein«, erwiderte er. »Es ist Freitag. Am letzten Tag der Woche findet kein Unterricht statt.«

»Was tut Ihr dann an diesem Tag?«

Er zuckte die Achseln. »Das hängt ganz von dem einzelnen Magier ab. Einige von uns besuchen die Rennen, treiben Sport oder gehen anderen Interessen nach. Andere nutzen die Gelegenheit zu einem Besuch bei ihren Familien.«

»Und was ist mit den Novizen?«

»Sie tun das Gleiche, obwohl die älteren Novizen den Tag im Allgemeinen zum Lernen nutzen.«

»Und sie müssen natürlich die Fußwege begehbar halten.«

Sie beobachtete etwas, das draußen vor dem Fenster geschah. Rothen erriet, was es war, und kicherte. »Die Aufsicht über die Fußwege gehört zu den vielen Pflichten, die Novizen im ersten Jahr ihrer Ausbildung zu erfüllen haben. Danach verrichten sie solche Arbeiten nur noch zur Strafe.«

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Zur Strafe?«

»Für kindische Streiche oder Respektlosigkeit den Magiern gegenüber«, erklärte er. »Sie sind ein wenig zu alt, um sie übers Knie zu legen.«

Ihre Mundwinkel zuckten, und sie wandte sich wieder zum Fenster um. »Deshalb macht er also ein so mürrisches Gesicht.«

Rothen bemerkte, dass sie mit den Fingern leise gegen den Fensterrahmen trommelte, und seufzte. Zwei Tage lang hatte sie große Fortschritte gemacht, hatte die Kontrollübungen schneller begriffen als jeder andere Novize, den er in der Vergangenheit unterrichtet hatte. Heute jedoch hatte ihre Konzentrationsfähigkeit sie mehrmals verlassen. Obwohl sie diesen Umstand gut zu verbergen wusste und damit bewies, dass ihre geistige Disziplin sich verbessert hatte, war doch offenkundig, dass ihr irgendetwas im Kopf herumging.

Zuerst hatte er die Schuld bei sich selbst gesucht. Er hatte ihr nicht erzählt, dass Dannyl später vorbeikommen würde, weil er befürchtet hatte, die Aussicht auf den Besuch eines fremden Magiers könnte sie vom Unterricht ablenken. Sie hatte jedoch gespürt, dass er etwas vor ihr verborgen hielt.

Als ihm sein Fehler zu Bewusstsein kam, hatte er ihr von dem Besuch erzählt.

»Ich habe mich schon gefragt, wann ich weitere Magier kennen lernen würde«, hatte sie erwidert.

»Wenn du heute Abend niemanden sehen willst, kann ich ihn bitten, ein andermal zu kommen«, hatte er ihr angeboten.

Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, ich würde mich sehr freuen, Euren Freund kennen zu lernen.«

Angenehm überrascht von ihrer Reaktion, hatte er versucht, den Unterricht fortzusetzen. Es war ihr immer noch schwer gefallen, sich auf die Übungen zu konzentrieren, und er hatte ihre wachsende Ungeduld gespürt. Jedes Mal, wenn sie eine Pause gemacht hatten, war Sonea zum Fenster zurückgekehrt, um hinauszublicken.

Während er sie verstohlen beobachtete, überlegte er, wie lange sie nun schon in seinem Quartier eingesperrt war. Es war leicht, zu vergessen, dass diese Räume für Sonea ein Gefängnis waren. Sie musste ihrer Umgebung inzwischen müde sein, und wahrscheinlich langweilte sie sich auch.

Was bedeutete, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um ihr Dannyl vorzustellen. Auf jene, die ihn nicht kannten, wirkte der hochgewachsene Magier einschüchternd, aber mit seiner freundlichen Art gelang es ihm im Allgemeinen sehr schnell, die Menschen für sich einzunehmen. Rothen hoffte, dass Sonea sich an Dannyl gewöhnen würde, bevor Lorlen seinen ersten Besuch machte.

Und danach? Rothen lächelte. Danach würde er mit ihr hinausgehen und ihr die Gilde zeigen.

Ein Klopfen unterbrach seine Gedanken. Er erhob sich und öffnete die Haupttür. Dannyl stand draußen, und er wirkte ein wenig angespannt.

»Du bist früh dran«, bemerkte Rothen.

Dannyls Augen leuchteten auf. »Soll ich wieder gehen?«

Rothen schüttelte den Kopf. »Nein, komm herein.«

Rothen drehte sich um und beobachtete Soneas Gesicht, während Dannyl in den Raum trat. Sie musterte den fremden Magier von Kopf bis Fuß.

»Dannyl, das ist Sonea«, sagte er.

»Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen«, erwiderte Dannyl und neigte den Kopf.

Sonea nickte. »Ganz meinerseits.« Ihre Augen wurden ein wenig schmaler, und ein Lächeln stahl sich auf ihre Züge. »Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet.« Sie senkte den Blick. »Wie geht es Eurem Bein?«

Dannyl blinzelte, dann begannen seine Mundwinkel zu zucken. »Besser, vielen Dank.«

Rothen presste die Hand auf den Mund und versuchte erfolglos, ein Lachen zu ersticken. So gut es eben ging, machte er ein Husten daraus, bevor er auf die Sessel deutete. »Setzt euch. Ich werde uns Sumi machen.«

Sonea nahm in einem Sessel Dannyl gegenüber Platz. Die beiden beäugten einander wachsam. Rothen ging zu einem Beistelltisch hinüber und stellte alles, was man zur Zubereitung von Sumi benötigte, auf ein Tablett.

»Wie geht der Unterricht voran?«, fragte Dannyl.

»Gut, denke ich. Und was ist mit Euch?«

»Mit mir?«

»Ihr vertretet doch Rothen in seiner Klasse, nicht wahr?«

»Oh. Ja. Es ist… eine Herausforderung. Ich habe noch nie zuvor jemanden unterrichtet, deshalb kommt es mir so vor, als müsste ich mehr lernen als die Novizen.«

»Womit beschäftigt Ihr Euch denn normalerweise?«

»Mit Experimenten. Es sind vor allem kleinere Projekte. Manchmal helfe ich bei größeren Arbeiten.«

Rothen brachte das Tablett an den Tisch und setzte sich. »Erzähl ihr von dem Gedankendrucker«, schlug er vor.

»Oh, das ist lediglich ein Hobby.« Dannyl machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dafür interessiert sich sonst niemand.«

»Worum geht es denn dabei?«, wollte Sonea wissen.

»Es ist eine Methode, um Bilder aus dem Geist eines Menschen auf Papier zu übertragen.«

Soneas Augen leuchteten auf. »Kann man so etwas tun?«

Dannyl nahm eine Tasse Sumi von Rothen entgegen. »Nein, noch nicht. Viele Magier haben es im Laufe der Jahrhunderte versucht, aber niemand konnte bisher eine Substanz finden, die geeignet ist, ein Bild dauerhaft festzuhalten.« Er nahm einen Schluck von dem heißen Getränk. »Ich habe ein spezielles Papier aus den Blättern der Anivope-Rebe hergestellt, das ein Bild über einige Tage hinweg festhalten kann, aber bereits nach zwei Stunden verschwimmen die Konturen, und die Farben verlieren ihre Leuchtkraft. Im Idealfall müsste das Bild unbegrenzt haltbar sein.«

»Zu welchem Zweck würdet Ihr das Verfahren denn einsetzen wollen?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Zunächst einmal zur Identifikation. Ein solches Verfahren wäre zum Beispiel bei unserer Suche nach dir äußerst vorteilhaft gewesen. Rothen war der Einzige von uns, der dich gesehen hatte. Wenn er in der Lage gewesen wäre, Bilder von dir anzufertigen, hätten wir sie mitnehmen und den Leuten zeigen können.«

Sonea nickte langsam. »Wie sehen die Bilder denn aus, wenn sie ihre Farben verloren haben?«

»Verblasst. Verschwommen. Aber in manchen Fällen kann man immer noch erkennen, worum es sich handelt.«

»Kann… kann ich ein solches Bild mal sehen?«

Dannyl lächelte. »Natürlich. Ich bringe beim nächsten Mal welche mit.«

Echte Neugier leuchtete in Soneas Augen auf. Wenn Dannyl seine Versuchsaufbauten hierher brächte, überlegte Rothen, könnte sie seine Experimente aus nächster Nähe verfolgen. Dann dachte er an das Durcheinander von Phiolen und Pressen in Dannyls Gästezimmer, und einen Moment lang stellte er sich das ganze Chaos in seinen Räumen vor…

»Dannyl hätte gewiss nichts dagegen, wenn wir ihn in seiner Wohnung aufsuchen würden«, sagte er.

Dannyl riss die Augen auf. »Jetzt sofort?«

Rothen hatte schon den Mund geöffnet, um seinen Freund zu beruhigen, zögerte jedoch. Soneas Begeisterung war förmlich mit Händen zu greifen. Er betrachtete die beiden jungen Leute kurz.

Dannyl wirkte offensichtlich keineswegs beängstigend auf Sonea. Im Gegenteil, wenn einer der beiden sich in dieser Situation unwohl fühlte, dann war es eher Dannyl. Dannyls Räume lagen im unteren Stockwerk des Gebäudes, sie würden also nicht weit zu gehen haben.

»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, erwiderte Rothen laut.

Bist du dir sicher, dass das klug ist?, sandte Dannyl.

Soneas Blick flackerte zu ihm hinüber. Rothen ignorierte die Frage und sah Sonea eindringlich an. »Würde dir das gefallen?«

»Ja«, antwortete sie und wandte sich dann an Dannyl. »Wenn es Euch nichts ausmacht.«

»Absolut nichts.« Dannyl schaute unsicher zu Rothen hinüber. »Es ist nur… bei mir ist es immer etwas unordentlich.«

»Etwas?« Rothen griff nach seiner Tasse, um seinen Sumi auszutrinken.

»Habt Ihr denn keinen Diener?«, fragte Sonea.

»Doch«, erwiderte Dannyl. »Aber ich habe ihm ausdrücklich verboten, sich an meinen Versuchsaufbauten zu vergreifen.«

Rothen lächelte. »Warum gehst du nicht einfach voraus und sorgst dafür, dass zumindest zwei Stühle frei sind, damit wir uns setzen können?«

Seufzend erhob sich Dannyl. »Also schön.«

Rothen begleitete seinen Freund an die Tür und trat mit ihm auf den Korridor hinaus. Sofort stellte Dannyl ihn zur Rede.

»Bist du verrückt geworden? Was ist, wenn jemand euch sieht?«, flüsterte Dannyl. »Wenn jemand mitbekommt, dass du sie aus deinem Quartier lässt, wird Fergun sagen, du hättest keinen Grund mehr, ihn von ihr fern zu halten.«

»Dann erlaube ich ihm, sie zu besuchen.« Rothen zuckte die Achseln. »Ich habe sie nur deshalb isolieren wollen, damit er nicht zu einer Zeit auftauchte, als es ihr noch Angst gemacht hätte, einem fremden Magier zu begegnen. Aber wenn sie in deiner Gegenwart so ruhig und gelassen ist, glaube ich nicht, dass Fergun sie erschrecken wird.«

»Vielen Dank«, erwiderte Dannyl trocken.

»Weil du ehrfurchtgebietender aussiehst als er«, erklärte Rothen.

»Tue ich das?«

»Und er ist viel charmanter«, fügte Rothen mit einem Lächeln hinzu. Dann scheuchte er Dannyl zur Treppe hinüber. »Geh jetzt. Wenn du so weit bist – und sich niemand im Korridor aufhält –, gib mir Bescheid. Lass dir nur nicht zu viel Zeit mit dem Aufräumen, sonst werden wir beide denken, du hättest etwas zu verbergen.«

Als sein Freund davoneilte, kehrte Rothen in sein Quartier zurück. Sonea stand mit leicht geröteten Wangen vor ihrem Sessel. Während er den Tisch abräumte, nahm sie wieder Platz.

»Er klang nicht so, als hätte er gern Besuch«, sagte sie zweifelnd.

»Oh doch«, versicherte Rothen ihr. »Er mag nur keine Überraschungen.«

Er griff nach dem Tablett, trug es zu dem Seitentisch hinüber, nahm dann einen Stapel Papiere aus einer Schublade und schrieb eine kurze Notiz für Tania, in der er ihr mitteilte, wo sie waren. Als er fertig war, hörte er Dannyl seinen Namen rufen.

So, ich habe etwas Platz geschaffen. Ihr könnt jetzt runterkommen.

Sonea stand auf und sah Rothen erwartungsvoll an. Lächelnd trat er an die Tür und öffnete sie. Sonea spähte ängstlich hinaus und betrachtete den breiten Korridor mit seinen zahlreichen Türen.

»Wie viele Magier leben hier?«, fragte sie, als sie sich in Bewegung setzten.

»Mehr als achtzig«, antwortete er, »zusammen mit ihren Familien.«

»Dann wohnen also nicht nur Magier in der Gilde?«

»Nein, die Partner und die Kinder von Magiern dürfen auch hier wohnen. Andere Verwandte nicht.«

»Warum nicht?«

Er kicherte. »Wenn wir sämtliche Verwandten eines jeden Magiers hier unterbringen wollten, müssten wir den ganzen Inneren Ring der Stadt der Gilde einverleiben.«

»Natürlich«, bemerkte sie trocken. »Was passiert, wenn die Kinder erwachsen werden?«

»Wenn sie magisches Potenzial haben, treten sie im Allgemeinen der Gilde bei. Wenn nicht, müssen sie die Gilde verlassen.«

»Wohin gehen sie dann?«

»Zu Verwandten in der Stadt.«

»In den Inneren Ring.«

»Ja.«

Sie dachte über seine Worte nach, dann blickte sie ihn an. »Leben auch Magier in der Stadt?«

»Einige wenige. Man sieht es nicht gern.«

»Warum nicht?«

Er lächelte schief. »Vergiss nicht, dass wir einander im Auge behalten sollen, um sicherzustellen, dass keiner von uns sich zu intensiv mit Politik beschäftigt oder sich an einer Verschwörung gegen den König beteiligt. Wenn zu viele von uns außerhalb der Gilde lebten, wäre das deutlich schwieriger.«

»Warum gestattet man trotzdem einigen Magiern, es zu tun?«

Sie hatten das Ende des Korridors erreicht und machten sich auf den Weg nach unten.

»Dafür gibt es viele Gründe, die von Fall zu Fall ganz verschieden sind. Alter, Krankheit.«

»Gibt es auch Magier, die sich dagegen entschieden haben, der Gilde beizutreten – die zwar die Kontrolle ihrer Magie erlernt haben, aber nicht, wie man sie benutzt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die Kräfte der jungen Männer und Frauen, die sich uns anschließen wollen, sind anfangs nur latent vorhanden, sie sind noch nicht geweckt worden. Erst wenn klar ist, dass sie der Gilde beitreten wollen, werden ihre Kräfte aktiviert, und dann müssen sie sofort deren Kontrolle erlernen. Denk daran, dass du ein Einzelfall bist. Deine Kräfte haben sich von allein entwickelt, was normalerweise nie geschieht.«

Sie runzelte die Stirn. »Hat schon jemals ein Magier die Gilde verlassen?«

»Nein.«

Bevor sich ihr Gespräch weiterentwickeln konnte, hörten sie von unten Dannyls Stimme – und die eines anderen Magiers. Rothen verlangsamte seine Schritte, um Sonea reichlich Zeit zu geben, sich der Anwesenheit dieses anderen Magiers bewusst zu werden.

Als der Mann die Treppe heraufgeschwebt kam, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren, wich Sonea zurück. Rothen erkannte den Magier und begrüßte ihn mit einem Lächeln.

»Guten Abend, Lord Garrel.«

»Guten Abend«, erwiderte der Magier und zog dann die Augenbrauen in die Höhe, als er Sonea bemerkte.

Sonea starrte den Magier mit weit aufgerissenen Augen an. Als Garrel das höhergelegene Stockwerk erreicht hatte, setzte er die Füße auf den festen Boden des Korridors. Er sah Sonea zwar nur kurz, aber mit deutlichem Interesse an, dann ging er seiner Wege.

»Levitation«, erklärte Rothen Sonea. »Beeindruckend, nicht wahr? Dazu gehört eine Menge Talent. Nur etwa die Hälfte von uns ist dazu in der Lage.«

»Ihr auch?«, fragte sie.

»Früher habe ich mich ständig der Levitation bedient«, antwortete Rothen. »Aber inzwischen bin ich aus der Übung. Dannyl kann es.«

»Ah, aber ich bin nicht so ein Angeber wie Garrel.« Dannyl stand am unteren Ende der Treppe.

»Ich ziehe es vor, meine Beine zu benutzen«, erklärte Rothen Sonea. »Mein ehemaliger Mentor sagte immer, dass körperliche Ertüchtigung genauso notwendig sei wie geistige Übung. Vernachlässige den Körper, und…«

»… und du vernachlässigst den Geist«, beendete Dannyl mit einem Stöhnen Rothens Satz. »Sein Mentor war ein weiser und aufrechter Mann«, sagte er dann zu Sonea. »Lord Margen hatte sogar etwas gegen Wein.«

»Das muss wohl der Grund gewesen sein, warum du ihn nie besonders gemocht hast«, bemerkte Rothen lächelnd.

»Ein Mentor?«, wiederholte Sonea.

»Das ist eine Tradition der Gilde«, erklärte er. »Als ich Novize war, hat Lord Margen beschlossen, meine Ausbildung zu begleiten, so wie ich Dannyls Ausbildung begleitet habe.«

Rothen schlug den Weg zu Dannyls Räumen ein, und Sonea ging neben ihm her. »Inwiefern habt Ihr ihn begleitet?«

Rothen breitete die Hände aus. »In vielerlei Hinsicht. Vor allem habe ich ihm auf die Sprünge geholfen, wo er Wissenslücken aufwies. In einigen Fällen hatten seine Lehrer sich Versäumnisse zu Schulden kommen lassen, und für manche Dinge war er einfach zu faul gewesen oder hatte zu wenig Begeisterung aufgebracht.« Sonea sah zu Dannyl hinüber, der sichtlich erheitert nickte.

»Außerdem hat Dannyl mir bei meiner Arbeit geholfen und mehr durch Erfahrung gelernt, als er im Unterricht hätte lernen können. Der Grundgedanke dieses Systems besteht darin, einem Novizen zu helfen, auf einem bestimmten Gebiet herausragende Leistungen zu erzielen.«

»Haben alle Novizen Mentoren?«

Rothen schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht üblich. Nicht alle Magier haben Zeit und Lust, die Verantwortung für die Ausbildung eines Novizen zu übernehmen. Nur solche Novizen, die besonders vielversprechend sind, haben Mentoren.«

Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Warum wollt Ihr dann…« Sie runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf.

Als sie sein Quartier erreicht hatten, legte Dannyl sachte die Hand auf die Tür. Sie schwang nach innen, und ein schwacher Duft von Chemikalien wehte ihnen entgegen.

»Herzlich willkommen«, sagte er und ließ sie eintreten.

Obwohl das Gästezimmer genauso groß war wie das von Rothen, wurde die Hälfte des Raums von langen Tischen vereinnahmt. Darauf standen eigenartige Gerätschaften, und darunter lagerten zahlreiche Kisten. Dannyls Arbeitsutensilien waren jedoch wohlgeordnet und makellos gepflegt.

Sonea schaute sich mit unverhohlener Erheiterung in dem Raum um. Obwohl Rothen schon viele Male in Dannyls Quartier gewesen war, fand er es immer wieder seltsam, ein Alchemieexperiment in einem Wohnraum aufgestellt zu sehen. In der Universität war der Platz begrenzt, daher benutzten die wenigen Magier, die ähnlichen Interessen wie Dannyl nachgingen, häufig ihre eigenen Räume.

Rothen seufzte. »Man kann unschwer erkennen, warum Ezrille die Hoffnung aufgegeben hat, eine Frau für dich zu finden, Dannyl.«

Wie immer schnitt sein Freund eine Grimasse. »Ich bin zu jung zum Heiraten.«

»Unsinn«, entgegnete Rothen. »Du hast einfach keinen Platz für eine Frau, das ist alles.«

Dannyl lächelte und winkte Sonea zu sich heran. Sie trat auf die Tische zu und ließ sich von ihm seine Experimente erklären. Schließlich holte er einige verblasste Bilder hervor, die sie genauestens untersuchte.

»Es ist möglich«, beendete er seinen kleinen Vortrag. »Die einzige Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass das Bild nicht wieder verblasst.«

»Könntet Ihr nicht einen Maler beauftragen, Euch eine Kopie des Bildes anzufertigen, solange die Farben noch frisch sind?«, fragte sie.

»Das könnte ich natürlich tun.« Dannyl runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich ließe sich das Problem auf diese Weise umgehen. Der Maler müsste natürlich gut sein. Und schnell.«

Sonea gab ihm die Proben seiner Arbeit zurück und ging zu einer gerahmten Landkarte an der Wand hinüber.

»Ihr habt gar keine Bilder aufgehängt«, sagte sie. »Es sind alles Landkarten.«

»Ja«, erwiderte Dannyl. »Ich sammle alte Landkarten und Pläne.«

Sie ging weiter. »Das hier ist die Gilde.«

Rothen trat neben sie. Der Plan war von dem berühmtesten Architekten der Gilde, Lord Corel, eigenhändig mit säuberlich geschriebenen Erklärungen versehen worden.

»Wir befinden uns hier.« Dannyl zeigte auf eine Stelle der Karte. »Im Magierquartier.« Dann bewegte er den Finger zu einem ähnlichen Rechteck hinüber. »Das ist das Novizenquartier. Alle Novizen, die zur Ausbildung in die Gilde kommen, werden hier untergebracht, selbst wenn sie Familie in der Stadt haben.«

»Warum?«

»Damit wir ihnen das Leben schwer machen können«, antwortete Dannyl prompt. Sonea warf ihm einen raschen Blick zu und schnaubte leise.

»Man entzieht die Novizen dem Einfluss ihrer Familie, wenn sie hierher kommen«, schaltete sich Rothen ein. »Wir müssen sie von den kleinen Intrigen entwöhnen, mit denen die Häuser sich die Zeit vertreiben.«

»Wir haben viele Novizen hier, die noch nie vor Mittag aus dem Bett gekommen sind«, fügte Dannyl hinzu. »Es ist immer ein ziemlicher Schock für sie, wenn sie erfahren, wie früh sie zum Unterricht erscheinen müssen. Wenn sie weiter zu Hause leben würden, hätten wir keine Chance, sie rechtzeitig zum Unterricht hier in Empfang nehmen zu können.«

Er zeigte auf das runde Gebäude auf dem Plan. »Das ist das Quartier der Heiler. Einige der Heiler leben dort, aber die meisten Räume dienen der Behandlung und dem Unterricht.« Sein Finger bewegte sich zu einem kleineren Kreis innerhalb des Gartens. »Das hier ist die Arena. Dort trainieren die Krieger. Die Arena ist mit einem Schild umgeben, der von den Masten gestützt wird. Diese Masten absorbieren die Magie, die innerhalb des Schildes freigesetzt wird, und schützen gleichzeitig alles außerhalb des Schildes. Ab und zu lassen wir ein wenig von unserer Kraft in den Schild einfließen, damit er mit der Zeit nicht schwächer wird.«

Sonea besah sich den Plan, und Dannyl machte sie als Nächstes auf das gewölbte Gebäude neben dem Magierquartier aufmerksam.

»Das ist das Badehaus. Es steht praktisch in einem Flussbett. Wir haben das Wasser in das Gebäude geleitet, wo man es in Badezuber fließen lassen und erhitzen kann. Neben dem Badehaus siehst du die Sieben Bögen, unsere drei großen Säle, in denen wir uns treffen oder besondere Feste begehen.«

»Was sind die Residenzen?«, fragte Sonea und zeigte auf den Rand der Karte, wo ein Pfeil über das Gelände hinauswies.

»Das sind mehrere kleine Häuser, in denen unsere ältesten Magier leben«, erklärte Dannyl. »Ich habe noch eine ältere Karte, auf der die Häuser eingezeichnet sind.«

Sie durchquerten den Raum und traten vor einen vergilbten Stadtplan. Dannyl deutete auf eine Reihe winziger Quadrate. »Die Residenzen befinden sich neben dem alten Friedhof.«

»Auf dieser Karte sind in der Gilde nur wenige Gebäude eingezeichnet«, bemerkte Sonea.

Dannyl lächelte. »Die Karte ist über dreihundert Jahre alt. Wie viel weißt du über die kyralische Geschichte? Hast du schon einmal etwas von dem Sachakanischen Krieg gehört?«

Sonea nickte.

»Nach dem Sachakanischen Krieg war von Imardin nicht mehr viel übrig. Als die Stadt wieder aufgebaut wurde, nutzten die größeren Häuser die Chance, die Stadt neu zu planen. Du kannst hier gut erkennen, dass man sie in konzentrischen Kreisen angelegt hat.« Er deutete auf die Mitte der Karte. »Zuerst erbaute man eine Mauer um die Überreste des alten Königspalastes herum, dann eine weitere um die Stadt. Der Äußere Wall wurde einige Jahrzehnte später errichtet. Die alte Stadt nannte man von diesem Zeitpunkt an den Inneren Ring, und die neuen Gebiete teilte man in die vier Viertel ein.«

Er zeichnete mit dem Finger die Umrisse der Gilde nach. »Aus Dankbarkeit für die Vertreibung der sachakanischen Eindringlinge wurde den Magiern das gesamte Ostviertel zugesprochen. Das war keineswegs eine willkürliche Entscheidung«, fügte er hinzu. »In jenen Tagen bezogen der Palast und der Innere Ring Wasser aus den Quellen, und indem man die Gilde um diesen Wasservorrat herumbaute, verringerte sich die Gefahr, dass ihn jemand vergiftete – wie es während des Krieges häufig geschehen war.«

Er machte Sonea auf das kleine Rechteck innerhalb des Grundstücks aufmerksam. »Das erste Gebäude, das man damals errichtete, war die Gildehalle«, setzte Dannyl seine Erklärungen fort. »Man erbaute es aus dem harten, grauen Stein, den man hier in der Gegend findet. In der Gildehalle fanden die Magier und ihre Lehrlinge Unterkunft, und gleichzeitig hatten sie genug Platz für den Unterricht und für ihre Debatten. Den Geschichtsbüchern zufolge herrschte zu jener Zeit starke Einigkeit unter unseren Vorgängern. Dadurch, dass sie sich mit anderen zusammenschlossen, entdeckten sie neue Wege zur Benutzung und Formung von Magie. Es dauerte nicht lange, bis die Gilde zur größten und mächtigsten Schule für Magier in der gesamten bekannten Welt geworden war.« Er lächelte. »Und sie ist weiter gewachsen. Als Lonmar, Elyne, Vin, Lan und Kyralia sich zu einer starken Allianz zusammenschlossen, gehörte zu ihrem Abkommen die Vereinbarung, dass Magier aller Länder hier unterrichtet werden würden. Plötzlich war die Gildehalle nicht mehr groß genug, und man musste mehrere neue Gebäude errichten.«

Sonea runzelte die Stirn. »Was passiert mit den Magiern aus anderen Ländern, wenn sie mit der Ausbildung fertig sind?«

»Im Allgemeinen kehren sie in ihre Heimat zurück«, erwiderte Rothen. »Manchmal bleiben sie auch hier.«

»Wie schafft Ihr es dann, sie im Auge zu behalten?«

»Wir haben Botschafter in allen Ländern, die die Aktivitäten ausländischer Magier beobachten«, erklärte Dannyl. »Genau, wie wir schwören, dem König zu dienen und Kyralia zu schützen, leisten die ausländischen Magier ihrem eigenen Herrscher einen Eid.«

Sonea blickte zu einer Landkarte hinüber, die die Region um Imardin herum zeigte. »Es erscheint mir nicht besonders klug, Magier aus anderen Ländern zu unterrichten. Was ist, wenn sie Kyralia überfallen?«

Rothen lächelte. »Wenn wir ihnen nicht gestatteten, der Gilde beizutreten, würden sie eigene Organisationen gründen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Ob wir sie unterrichten oder nicht, eine Invasion könnten wir in keinem Fall verhindern, aber auf diese Weise haben wir zumindest die Kontrolle darüber, was man sie lehrt. Wir unterrichten unsere eigenen Leute nicht anders als sie, so dass sie wissen, dass sie nicht ungerecht behandelt werden.«

»Außerdem würden sie es ohnehin nicht wagen, uns anzugreifen«, ergänzte Dannyl. »Kyralier haben starke magische Blutlinien. Wir bringen mehr Magier und stärkere Magier hervor als jede andere Rasse.«

»Die Vindo und die Lan sind die schlechtesten Magier«, warf Rothen ein. »Deshalb gibt es nur wenige von ihnen bei uns. Wir bekommen mehr Novizen aus Lonmar und Elyne, aber auch deren Kräfte sind selten beeindruckend.«

»Die Sachakaner waren früher einmal mächtige Magier.« Dannyl blickte zu der Karte auf. »Aber dem hat der Krieg ein Ende bereitet.«

»Was bedeutet, dass wir die mächtigste Nation in der Region sind«, beendete Rothen ihre Erklärungen.

Soneas Augen wurden schmal. »Warum fällt der König dann nicht in andere Länder ein?«

»Die Allianz wurde eigens zu dem Zwecke geschaffen, so etwas zu verhindern«, antwortete Rothen. »Wie du mir bei unserem ersten Gespräch so scharfsinnig ins Gedächtnis gerufen hast, hat König Palen sich anfangs geweigert, den Vertrag zu unterzeichnen. Die Gilde hat daraufhin laut darüber nachgedacht, dass sie ihre politische Neutralität eventuell aufgeben könnte, falls Palen an seinem Nein festhalten sollte.«

Soneas Mundwinkel zuckten. »Was hindert die anderen Länder daran, gegeneinander zu kämpfen?«

Rothen seufzte. »Viele diplomatische Bemühungen – die nicht immer funktionieren. Seit der Gründung der Allianz hat es mehrere geringfügige Konflikte gegeben. So etwas ist für die Gilde immer sehr unangenehm. Im Allgemeinen geht es bei diesen Streitigkeiten um Grenzen und –«

Ein schüchternes Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Er sah Dannyl an, und der Gesichtsausdruck seines Freundes sagte ihm, dass sie das Gleiche dachten. Hatte Fergun bereits davon erfahren, dass Sonea Rothens Quartier verlassen hatte?

»Erwartest du irgendjemanden?«

Dannyl schüttelte den Kopf und ging zur Tür hinüber. Als er sie öffnete, hörte Rothen Tanias Stimme und atmete erleichtert auf.

»Ich habe Euch Euer Essen heruntergebracht«, sagte die Dienerin, als sie eintrat. Zwei andere Diener folgten ihr mit Tabletts. Nachdem sie ihre Last auf den einzigen freien Tisch gestellt hatten, verneigten sie sich und verschwanden wieder.

Als der Duft von Gebratenem durch den Raum wehte, schnalzte Dannyl anerkennend mit der Zunge. »Mir war gar nicht klar, dass schon so viel Zeit verstrichen ist«, sagte er.

Rothen sah Sonea an. »Hast du Hunger?«

Sie nickte, und ihr Blick wanderte zu den Schüsseln und Platten hinunter.

Er lächelte. »Dann denke ich, wir beenden den Geschichtsunterricht für heute. Lasst uns essen.«

24 Unbeantwortete Fragen

Am Ende des Korridors angekommen, blieb Dannyl stehen. Die Tür zum Büro des Administrators hatte sich geöffnet, und ein blaugekleideter Mann trat nach draußen.

»Administrator«, rief Dannyl Lorlen nach, der sich bereits auf den Weg in Richtung Eingangshalle gemacht hatte.

Lorlen drehte sich um. Als er Dannyl bemerkte, lächelte er. »Guten Morgen, Lord Dannyl.«

»Ich wollte gerade zu Euch. Habt Ihr einen Moment Zeit für mich?«

»Natürlich, aber wirklich nur einen Moment.«

»Vielen Dank.« Dannyl verschränkte die Finger. »Ich habe gestern Nacht eine Nachricht von dem Dieb bekommen. Er hat mich gefragt, ob wir etwas über den Verbleib eines jungen Mannes wüssten, der mit Sonea befreundet war. Ich dachte, es könnte sich vielleicht um den Jungen handeln, der versucht hat, sie zu retten.«

Lorlen nickte. »Der Hohe Lord hat eine ähnliche Nachfrage erhalten.«

Dannyl blinzelte überrascht. »Der Dieb hat sich mit ihm direkt in Verbindung gesetzt?«

»Ja. Akkarin hat Gorin zugesagt, dass er ihm Bescheid geben würde, falls er den jungen Mann findet.«

»Dann werde ich ihm die gleiche Nachricht schicken.«

Lorlen kniff die Augen zusammen. »Ist das das erste Mal, dass die Diebe Kontakt zu Euch aufgenommen haben, seit Ihr Sonea gefangen habt?«

»Ja.« Dannyl lächelte kläglich. »Ich war davon überzeugt, dass ich nie wieder von ihnen hören würde. Ihre Nachricht hat mich einigermaßen überrascht.«

Lorlen zog die Augenbrauen hoch. »Es hat uns alle einigermaßen überrascht, dass Ihr überhaupt mit den Dieben gesprochen habt.«

Dannyl spürte, wie ihm Röte ins Gesicht stieg. »Nicht alle, nein. Der Hohe Lord wusste davon, obwohl ich keine Ahnung habe, wie er es erfahren hat.«

Lorlen lächelte. »Nun, das wiederum überrascht mich nicht. Akkarin mag sich den Anschein geben, als interessiere ihn das alles nicht, aber glaubt nicht, dass er deswegen unaufmerksamer wäre. Er weiß mehr über die Menschen, sowohl hier als auch in der Stadt, als irgendjemand sonst.«

»Aber Ihr müsst, wenn es um die Gilde geht, doch sicher mehr wissen als er.«

Lorlen schüttelte den Kopf. »Oh, Akkarin weiß mehr, als ich jemals in Erfahrung bringen könnte.« Er hielt inne. »Ich werde ihn gleich treffen. Möchtet Ihr, dass ich ihn nach irgendetwas frage?«

»Nein«, antwortete Dannyl hastig. »Ich mache mich dann wohl besser wieder auf den Weg. Vielen Dank, dass Ihr Euch Zeit für mich genommen habt, Administrator.«

Lorlen neigte den Kopf, drehte sich um und ging davon. Dannyl eilte in die entgegengesetzte Richtung und kam schon bald an etlichen Magiern und Novizen vorbei. Jetzt, kurz vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde des Tages, summte das Gebäude von Stimmen.

Er dachte noch einmal über die Nachricht des Diebes nach. In dem Brief hatte ein anklagender Unterton mitgeschwungen, als argwöhne Gorin, die Gilde könne für das Verschwinden des Mannes verantwortlich sein. Dannyl glaubte nicht, dass der Dieb die Gilde ebenso leichtfertig zum Sündenbock für alle Unbilden des Lebens machte, wie die meisten anderen Hüttenleute es taten – oder dass er Kontakt zum Hohen Lord aufnahm, wenn er keinen guten Grund dafür hatte.

Also musste Gorin glauben, die Gilde sei in der Lage, den Mann zu finden. Als Dannyl die Ironie der Situation bewusst wurde, kicherte er leise. Die Diebe hatten der Gilde bei der Suche nach Sonea geholfen, und nun erwarteten sie, dass man diese Gefälligkeit mit gleicher Münze zurückzahlte. Er fragte sich, ob die Diebe wohl eine ebenso große Belohnung aussetzen würden, wie die Magier es getan hatten.

Aber warum dachte Gorin, die Gilde wüsste, wo der junge Mann war? Als ihm die Antwort dämmerte, blinzelte Dannyl.

Sonea.

Wenn Gorin glaubte, Sonea wüsste, wo ihr Freund war, warum hatte er sich dann nicht direkt an sie gewandt? Dachte er, sie würde es ihm nicht verraten? Immerhin hatten die Diebe sie an die Gilde verkauft.

Und auch ihr Gefährte mochte gute Gründe für sein Verschwinden haben.

Dannyl rieb sich die Schläfen. Er könnte Sonea fragen, ob sie wusste, was da vorging, aber wenn sie bisher keine Ahnung davon hatte, dass ihr Freund verschwunden war, würde diese Neuigkeit sie vielleicht aus dem Gleichgewicht bringen. Möglicherweise würde auch sie die Gilde für das Verschwinden des Jungen verantwortlich machen. Das könnte alles ruinieren, was Rothen bisher erreicht hatte.

Inmitten der Novizen um ihn herum tauchte plötzlich ein vertrautes Gesicht auf. Eine leise Nervosität beschlich Dannyl, aber Fergun blickte nicht auf. Stattdessen eilte der Krieger an ihm vorbei und bog in einen Seitengang ein.

Dannyl blieb überrascht stehen. Was konnte Fergun so sehr beschäftigen, dass er seinen alten Widersacher nicht einmal bemerkte? Nach kurzem Zögern kehrte Dannyl um und spähte den Seitengang hinunter. Er konnte gerade noch einen Blick auf rote Roben werfen, bevor der Krieger um die nächste Ecke bog.

Fergun hatte etwas in Händen gehalten. Dannyl fühlte sich ernsthaft versucht, dem anderen Magier zu folgen. Als Novize hätte er sich keine Gelegenheit entgehen lassen, Ferguns kleinen Geheimnissen nachzuspionieren.

Aber er war kein Novize mehr, und Fergun hatte diesen Kampf schon vor langer Zeit gewonnen. Achselzuckend machte er sich auf den Weg zu Rothens Klassenzimmer. In weniger als fünf Minuten würde der Unterricht beginnen, und Dannyl hatte keine Zeit zum Spionieren.

Nach einer Woche Dunkelheit hatten Cerys Sinne sich geschärft. Seine Ohren fingen jetzt mühelos das leise Scharren von Insektenfüßen auf, und er konnte mit den Fingern jede noch so winzige Unebenheit ertasten, wo der Rost an dem Metalldorn nagte, den er aus dem Saum seines Mantels gezogen hatte.

Als er den Daumen gegen die scharfe Spitze des Werkzeugs drückte, stieg von neuem Wut in ihm auf. Der Magier war inzwischen noch zweimal mit Essen und Wasser zurückgekehrt. Und jedes Mal hatte Cery versucht herauszufinden, warum er eingekerkert war.

All seine Bemühungen, Fergun in ein Gespräch zu verstricken, waren gescheitert. Er hatte geschmeichelt, gefordert, ja sogar um eine Erklärung gebettelt, aber der Magier hatte ihn nicht einmal beachtet. Das war nicht richtig, wütete Cery. Schurken mussten ihre Pläne immer offenbaren, entweder versehentlich oder weil sie der Versuchung nicht widerstehen konnten, damit zu prahlen.

Ein kaum wahrnehmbares Kratzen drang an Cerys Ohren. Er hob den Kopf und sprang auf. Schritte! Er griff nach dem Metalldorn, ging hinter der Tür in die Hocke und wartete.

Die Schritte hielten vor der Tür inne. Cery hörte das Klicken des Riegels und straffte sich, während die Tür langsam nach innen aufschwang. Licht ergoss sich in sein Gefängnis und beleuchtete den leeren Teller, den er direkt vor der Tür hatte stehen lassen. Der Magier machte einen Schritt darauf zu, dann besann er sich eines anderen und betrachtete stattdessen den Mantel und die Hose, die halb verborgen unter einer Decke in der Ecke des Raumes lagen.

Cery machte einen Satz nach vorn, riss den Dorn hoch und zielte auf das Herz des Mannes.


Der Dorn traf auf etwas Hartes und glitt Cery durch die Finger. Als Fergun herumfuhr, stieß etwas gegen Cerys Brust und warf ihn nach hinten. Er hörte ein Knacken, als er gegen die Wand prallte, dann durchzuckte ein heißer Schmerz seinen Arm. Im nächsten Moment sank er in sich zusammen und konnte nur noch keuchend seinen Arm umklammern.

Hinter ihm ertönte ein langer, übertriebener Seufzer. »Das war dumm. Sieh nur, was du damit angerichtet hast.«

Fergun stand, die Arme vor der Brust verschränkt, über ihm. Cery blickte zähneknirschend zu dem Magier auf.

»Ist das der Dank dafür, dass ich die Mühe auf mich genommen habe, dir Decken zu bringen?« Fergun schüttelte den Kopf, dann hockte er sich vor Cery hin.

Cerys Versuch, vor dem Magier zurückzuweichen, trug ihm lediglich eine neuerliche Welle von Schmerz ein. Als Fergun nach seinem verletzten Arm griff, musste Cery einen Aufschrei unterdrücken. Er versuchte sich loszureißen, was seine Qualen wiederum nur verschlimmerte.

»Gebrochen«, murmelte der Magier. Sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, das weit unter dem staubbedeckten Fußboden lag. Plötzlich wurde der Schmerz erträglicher, dann breitete sich langsam ein Gefühl der Wärme in Cerys Arm aus.

Als ihm bewusst wurde, dass sein Arm soeben geheilt worden war, zwang sich Cery, Ruhe zu bewahren. Er starrte Fergun an, das scharfgeschnittene Kinn und die dünnen Lippen. Das blonde Haar des Mannes, das er normalerweise zurückgekämmt trug, fiel ihm jetzt in die Stirn.

Cery wusste, dass er sich für den Rest seines Lebens an dieses Gesicht erinnern würde. Eines Tages werde ich meine Rache bekommen, dachte er. Und wenn du Sonea etwas angetan hast, dann darfst du davon ausgehen, dass dein Tod langsam und qualvoll sein wird.

Der Magier blinzelte und ließ Cerys Arm los. Dann stand er auf, schnitt eine Grimasse und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Der Bruch ist nicht vollkommen geheilt. Ich kann schließlich nicht all meine Kräfte für dich verschwenden. Sei vorsichtig mit dem Arm, sonst wird der Knochen abermals brechen.« Seine Augen wurden schmal. »Wenn du noch einmal etwas in der Art versuchst, werde ich dich fesseln müssen – um dich daran zu hindern, dich selbst zu verletzen.«

Er senkte den Blick. Der Teller, den er mitgebracht hatte, wer zersplittert, und das Essen hatte sich auf dem Fußboden verteilt. In der Nähe lag eine Flasche, aus der langsam das Wasser heraussickerte.

»Ich an deiner Stelle würde die Sachen nicht verschwenden«, bemerkte Fergun. Dann bückte er sich, hob Cerys Dorn auf und verließ den Raum.

Als die Tür hinter ihm zufiel, stöhnte Cery laut auf. Hatte er wirklich geglaubt, er könnte einen Magier mit einem Dorn ermorden? Vorsichtig untersuchte er mit den Fingerspitzen seinen Arm. Die Haut reagierte ein wenig empfindlich auf Berührung, aber mehr war von seiner Verletzung nicht übrig geblieben.

In der Dunkelheit wurde der Geruch von frischem Brot jetzt immer stärker, und Cerys Magen begann zu knurren. Er seufzte bei dem Gedanken an das verschüttete Essen. Der Hunger war sein einziger Fingerzeig für das Verstreichen der Zeit, und er schätzte, dass zwischen den einzelnen Besuchen des Magiers jeweils zwei Tage oder mehr gelegen hatten. Wenn er nicht aß, würden seine Kräfte bald erlahmen. Schlimmer noch war der Gedanke an all die kriechenden Geschöpfe, die das Essen aus den Ecken locken würde – den Ecken, die er normalerweise benutzte, um sich zu erleichtern.

Mühsam zog er sich auf die Knie hoch und kroch durch den Raum, während er mit den Händen den staubigen Fußboden absuchte.


Sonea schnappte nach Luft, als der blaugewandete Magier hereinkam. Hochgewachsen, schlank, das dunkle Haar im Nacken zusammengebunden, hätte er durchaus der Meuchelmörder sein können, den sie unter dem Haus des Hohen Lords gesehen hatte. Dann drehte der Mann sich zu ihr um, und sie sah, dass seine Züge nicht so schroff waren wie die des Mannes, an den sie sich erinnerte.

»Das ist Administrator Lorlen«, erklärte Rothen.

Sie nickte dem Magier zu. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Sonea«, erwiderte der Mann.

»Bitte, setzt Euch«, sagte Rothen und deutete auf die Sessel.

Als sie Platz genommen hatten, brachte Tania das bittere Getränk herbei, das die Magier anscheinend besonders gern mochten. Sonea ließ sich ein Glas Wasser geben und beobachtete den Administrator, während dieser an seiner Tasse nippte. Er lächelte anerkennend, aber als er sich wieder ihr zuwandte, wurde seine Miene schlagartig ernst.

»Als man dich hierher brachte, befürchtete Rothen, du könntest dich ängstigen, wenn ich dich aufsuche«, sagte er. »Deshalb musst du mir verzeihen, dass ich mit meinem Besuch so lange gewartet habe. Als Administrator der Gilde möchte ich mich in aller Form für das Ungemach entschuldigen, das wir dir bereitet haben. Begreifst du, warum wir dich finden mussten?«

Soneas Wangen wurden heiß. »Ja.«

»Das erleichtert mich sehr«, erwiderte er lächelnd. »Ich habe einige Fragen an dich, und wenn du mich deinerseits etwas fragen möchtest, zögere bitte nicht, das zu tun. Kommst du mit deinen Kontrollübungen gut voran?«

Sonea sah zu Rothen hinüber, der ihr aufmunternd zunickte.

»Ich glaube, ich mache Fortschritte«, antwortete sie. »Die Tests werden immer einfacher.«

Der Administrator dachte über ihre Worte nach, dann nickte er langsam. »Es ist ein wenig wie laufen lernen«, sagte er. »Zuerst musst du darüber nachdenken, aber wenn du es erst mal ein Weilchen getan hast, wird das Nachdenken ganz von allein aufhören.«

»Nun, so ausgedrückt klingt es kinderleicht«, erwiderte sie.

Der Administrator lachte, dann trat ein Flackern in seine Augen. »Rothen hat mir erzählt, dass du nicht bei uns bleiben möchtest. Ist das wahr?«

Sonea nickte.

»Darf ich fragen, warum nicht?«

»Ich möchte zurück nach Hause«, antwortete sie.

Er beugte sich vor. »Wir werden dich nicht daran hindern, deine Freunde und Verwandten zu besuchen. Du könntest an Freitagen zu ihnen gehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich, aber ich möchte trotzdem nicht hier bleiben.«

Er nickte und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. »Es wird uns Leid tun, jemanden mit einem solchen magischen Potenzial zu verlieren«, bemerkte er. »Bist du dir sicher, dass du deine Magie aufgeben willst?«

Sonea erinnerte sich an Ferguns Worte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Meine Magie aufgeben?«, wiederholte sie langsam und blickte zu Rothen hinüber. »So hat Rothen es nicht bezeichnet.«

Der Administrator zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was hat er dir denn erzählt?«

»Dass ich meine Magie nicht werde benutzen können, weil ich nicht wüsste, wie.«

»Glaubst du, dass du es dir selbst beibringen könntest?«

Sie zögerte. »Wäre das möglich?«

»Nein.« Der Administrator lächelte. »Was Rothen dir erzählt hat, ist die Wahrheit«, sagte er. »Aber der Erfolg deines Unterrichts hängt davon ab, dass du ihm weiterhin vertraust. Deshalb hat er mich gebeten, dir die Gesetze bezüglich der Entlassung von Magiern aus der Gilde zu erläutern.«

Sonea begriff, dass Lorlen ihr nun bestätigen würde, ob Fergun die Wahrheit gesagt hatte oder nicht, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Das Gesetz verfügt, dass jeder Mann und jede Frau, deren Kräfte aktiv sind, entweder der Gilde beitreten oder zulassen muss, dass man seine oder ihre Kräfte blockiert«, fuhr er fort. »Man kann die Kräfte eines Magiers erst dann blockieren, wenn er die volle Kontrolle darüber gewonnen hat. Danach jedoch wird eine solche Blockade ihn zuverlässig daran hindern, Magie in irgendeiner Form zu benutzen.«

In der Stille, die nun folgte, beobachteten die beiden Magier sie eindringlich. Sonea wich ihrem Blick aus.

Also hatte Rothen ihr tatsächlich etwas vorenthalten.

Allerdings verstand sie, warum er das getan hatte. Das Wissen, dass Magier sich an ihrem Geist zu schaffen machen würden, hätte es ihr sehr erschwert, Rothen zu vertrauen.

Aber Fergun hatte Recht gehabt…

»Hast du irgendwelche Fragen, Sonea?«, erkundigte sich Lorlen.

Sie zögerte, denn ihr war inzwischen etwas anderes wieder eingefallen, das Fergun gesagt hatte. »Diese Blockade ist nicht… unangenehm?«

Er schüttelte den Kopf. »Du wirst nichts spüren. Wenn du später versuchst, Magie zu wirken, wirst du einen inneren Widerstand wahrnehmen, der jedoch nicht schmerzhaft ist. Da du nicht daran gewöhnt bist, Magie zu benutzen, bezweifle ich, dass dir die Blockade überhaupt auffallen wird.«

Sonea nickte. Der Administrator musterte sie schweigend, dann lächelte er. »Ich werde nicht versuchen, dich zum Bleiben zu überreden«, fuhr er fort. »Du sollst nur wissen, dass hier ein Platz für dich ist, wenn du willst. Hast du sonst noch Fragen?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Nein. Vielen Dank, Administrator.«

Er stand auf, und seine Roben raschelten. »Mich rufen meine Pflichten. Ich werde dich später noch einmal besuchen, Sonea. Vielleicht haben wir dann mehr Zeit zum Reden.«

Sie nickte und sah zu, wie Rothen den Administrator aus dem Raum geleitete. Als sich die Tür hinter Lorlen geschlossen hatte, wandte Rothen sich wieder Sonea zu.

»Nun, was hältst du von Lorlen?«

Sie dachte nach. »Er wirkt nett, aber er ist sehr förmlich.«

Rothen kicherte. »Ja, bisweilen ist er das allerdings.«

Er ging in sein Schlafzimmer hinüber, und als er zurückkam, trug er einen Umhang. Zu Soneas Überraschung hatte er einen zweiten Umhang über dem Arm.

»Steh auf«, sagte er. »Ich möchte sehen, ob er dir passt.«

Sonea ließ sich den Umhang um die Schultern legen. Er reichte fast bis zum Boden.

»Ein wenig zu lang. Ich werde ihn kürzen lassen. Für den Augenblick musst du einfach aufpassen, dass du nicht darüber stolperst.«

»Der Umhang ist für mich?«

»Ja. Als Ersatz für deinen alten.« Er lächelte. »Du wirst ihn brauchen. Es ist ziemlich kalt draußen.«

Sie sah ihn scharf an. »Draußen?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich dachte, wir machen einen Spaziergang. Würde dir das gefallen?«

Sie nickte und wandte den Blick ab, weil sie nicht wollte, dass er ihr Gesicht sah. Der Gedanke, nach draußen zu kommen, erfüllte sie mit einer tiefen Sehnsucht. Sie hatte noch keine drei Wochen in diesen Räumen zugebracht, aber es kam ihr so vor, als wären es Monate gewesen.

»Unten werden wir Dannyl treffen«, erklärte er, während er die Tür öffnete.

»Jetzt?«

Er winkte sie zu sich heran. Sonea holte tief Luft und ging auf die Tür zu.

Anders als beim letzten Mal war der Korridor heute nicht verlassen. Einige Schritte rechts von ihnen standen zwei Magier, und eine Frau in gewöhnlicher Kleidung, die zwei kleine Kinder an der Hand hielt, kam ihnen entgegen. Und alle starrten Sonea voller Überraschung und Neugier an.

Rothen nickte den Leuten zu und machte sich auf den Weg in Richtung Treppe. Sonea, die ihm folgte, widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Diesmal tauchten keine schwebenden Magier auf, als sie die Treppe hinuntergingen. Stattdessen wurden sie an der untersten Stufe von einem vertrauten, hochgewachsenen Mann erwartet.

»Guten Abend, Sonea«, sagte Dannyl lächelnd.

»Guten Abend«, erwiderte sie.

Dannyl deutete mit weit ausladender Geste auf zwei große Türen am Ende des Korridors. Die Türen schwangen langsam auf, und ein kalter Windstoß wehte durch den Gang.

Den Innenhof, den sie jetzt betraten, hatte Sonea schon einmal gesehen, als sie mit Cery die Gilde erkundet hatte. Damals war es dunkel gewesen. Jetzt lag ein dämmriges Zwielicht über der Szenerie, so dass ihre Umgebung ihr seltsam gedämpft und unwirklich erschien.

Draußen angelangt, drang die kalte Luft sofort durch Soneas Kleidung. Obwohl sie sogleich zu zittern begann, war ihr die Kälte durchaus willkommen. Endlich wieder im Freien

Wärme strich über ihre Haut. Erstaunt sah sie sich um, konnte aber nichts entdecken, was die Veränderung erklärt hätte. Rothen beobachtete sie.

»Ein simpler Trick«, erklärte er ihr. »Es ist ein magischer Schild, der die Wärme festhält. Man kann ihn betreten und auch wieder verlassen. Versuch es einmal.«

Sie machte einige Schritte zurück in Richtung der Türen und spürte die Kälte auf ihrem Gesicht. Ihr Atem formte sich in der Luft vor ihr zu weißem Nebel. Dann streckte sie die Hand aus – hinein in wohlige Wärme.

Rothen lächelte aufmunternd und winkte sie zu sich heran. Sonea trat neben ihn.

Zu ihrer Linken ragte der hintere Teil der Universität auf. Sie konnte jetzt die meisten der Gebäude identifizieren, die sie auf Dannyls Plan gesehen hatte. Ein seltsames Gebilde auf der anderen Seite des Innenhofs erregte ihre Aufmerksamkeit.

»Was ist das?«

Rothen folgte ihrem Blick. »Das ist der Dom«, antwortete er. »Vor einigen Jahrhunderten, bevor wir die Arena errichtet haben, fand dort der größte Teil der Ausbildung der Krieger statt. Unglücklicherweise konnte man die Vorgänge nur beobachten, wenn man sich im Innern des Doms aufhielt, daher mussten die Lehrer stark genug sein, um sich gegen die Magie zu schützen, die ihre Schüler vielleicht versehentlich entfesselten. Wir benutzen den Dom heute nicht mehr.«

Sonea betrachtete das Gebäude. »Es sieht aus, als hätte man eine große Kugel im Boden versenkt.«

»Genau das hat man auch getan.«

»Wie kommt man hinein?«

»Durch einen unterirdischen Korridor. Dort befindet sich eine Tür, die sich nur nach innen öffnen lässt. Die Mauern dort sind drei Schritte breit.«

Die Tür zum Novizenquartier wurde geöffnet, und drei in dicke Umhänge gehüllte Jungen kamen heraus. Sie gingen um den Innenhof herum und klopften sachte gegen die Laternenpfosten, die dort standen. Bei ihrer Berührung begannen die Lampen zu leuchten.

Sobald alle Lampen im Innenhof brannten, trennten sich die Jungen und liefen in verschiedene Richtungen davon. Einer eilte an der Vorderseite des Gebäudes entlang, der zweite verschwand im Garten auf der anderen Seite der Universität, und der dritte rannte auf dem Weg zwischen dem Badehaus und dem Magierquartier in Richtung Wald.

Dannyl sah Rothen fragend an. Obwohl die beiden Magier einander zu necken pflegten wie alte Freunde, war Sonea aufgefallen, dass Dannyl im Zweifelsfall stets seinen ehemaligen Mentor zu Rate zog.

»Wohin?«

Rothen deutete mit dem Kopf auf den Wald. »Hier entlang.«

Als sie ihren Weg fortsetzten, hielt sich Sonea dicht neben Rothen. Der Novize, der die Lampen dort entzündet hatte, eilte zurück zum Novizenquartier.

Als sie an der hinteren Mauer des Magierquartiers vorbeikamen, erregte eine Bewegung in einem der Fenster Soneas Aufmerksamkeit. Sie blickte auf und sah einen blonden Magier, der sie beobachtete. Mit einem leisen Erschrecken wurde ihr bewusst, dass sie den Mann kannte. Jetzt zog er sich hastig in die Dunkelheit zurück. Sonea runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, wann Fergun sie wieder besuchen würde, aber wenn er es tat, würde er wissen wollen, ob sie sein Angebot annahm. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

Vor ihrem Gespräch mit Lorlen hatte sie nicht herausfinden können, ob Fergun in allen Punkten die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte auf eine Gelegenheit gewartet, ihre Unterhaltung mit Rothen auf Gelübde und Mentoren zu lenken oder auf Fergun selbst, aber solche Gelegenheiten hatten sich ihr nur selten geboten. Konnte sie ihn direkt nach diesen Dingen fragen, ohne seinen Argwohn zu wecken?

Rothen hatte ihr zwar erzählt, was ein Mentor tat, hatte aber mit keinem Wort erwähnt, dass er sie auf diese Weise betreuen wollte. Vielleicht wollte er über seine Pläne Schweigen bewahren, bis er wusste, ob sie bleiben würde oder nicht.

Sobald sie die Kontrolle ihrer Kräfte erlernt hatte, standen ihr zwei Möglichkeiten offen: Sie konnte ihre Kräfte blockieren lassen und in die Hütten zurückkehren, oder sie konnte Fergun helfen, die Gilde dazu zu bewegen, ihn zu ihrem Mentor zu bestimmen. In diesem Fall würde sie ihre Magie behalten können, wenn sie wieder nach Hause ging.

Im Wald angekommen, besah Sonea sich das Labyrinth der Bäume. Ferguns Plan bereitete ihr Unbehagen. Er war gefährlich, und er bedeutete, dass sie andere würde täuschen müssen. Sie würde so tun müssen, als wolle sie in der Gilde bleiben, und wahrscheinlich würde sie auch lügen müssen, damit man Fergun zu ihrem Mentor bestimmte. Sie würde ein Gelübde ablegen müssen, das sie zu brechen gedachte, und wenn sie die Gilde verließ, würde sie nicht nur ihr Gelübde brechen, sondern auch das Gesetz des Königs.

Hatte sie Rothen inzwischen so sehr ins Herz geschlossen, dass der Gedanke, ihn zu belügen, ihr zu schaffen machte? Er ist ein Magier, rief sie sich ins Gedächtnis. Seine Loyalität gehört der Gilde und dem König. Obwohl sie nicht glaubte, dass er sie würde einsperren wollen, zweifelte sie nicht daran, dass er es tun würde, wenn man es ihm befahl.

Oder war es der Gedanke, ein Gelübde zu brechen, der ihr so sehr missfiel? Harrin und seine Freunde betrogen und stahlen ständig, aber den Bruch eines Schwurs betrachteten sie als unverzeihliches Vergehen. Um ihr Ansehen bei den anderen nicht zu verlieren, taten sie alles in ihrer Macht Stehende, um zu verhindern, dass irgendjemand ein solches Gelübde von ihnen verlangte.

Wenn sich ein Gelübde allerdings nicht vermeiden ließ, konnte man nur hoffen, dass der Schwur nachlässig formuliert war, um auf diese Weise peinlichen Situationen zu entgehen …

»Du bist sehr still heute Abend«, bemerkte Rothen plötzlich. »Keine Fragen?«

Sonea sah Rothen an und stellte fest, dass er sie voller Zuneigung beobachtete. Sein Lächeln gab schließlich den Ausschlag für sie: Es wurde Zeit, das Risiko einzugehen, einige unerwartete Fragen zu stellen.

»Ich habe über das Gelübde nachgedacht, das die Magier ablegen.«

Zu ihrer Erleichterung deutete nichts in seiner Miene darauf hin, dass er Verdacht geschöpft hatte. Vielmehr schien er überrascht zu sein. »Genau genommen gibt es zwei Gelübde. Das Novizengelübde und das Magiergelübde. Eins legt man ab, wenn man als Novize der Gilde beitritt, das andere bei Abschluss der Ausbildung.«

»Was muss man in seinem Schwur versprechen?«

»Vier Dinge.« Rothen hob die Finger der linken Hand. »Die Novizen geloben, niemals vorsätzlich einem anderen Mann oder einer anderen Frau zu schaden, es sei denn, es dient der Verteidigung der Länder der Allianz. Außerdem schwören sie, den Regeln der Gilde und den Gesetzen des Königs zu gehorchen und den Befehlen der Magier Folge zu leisten, es sei denn, diese Befehle verlangen von ihnen, ein Gesetz zu brechen. Ferner geloben sie, niemals Magie zu benutzen, es sei denn, ein Magier fordert sie dazu auf.«

Sonea runzelte die Stirn. »Warum dürfen Novizen Magie nur dann benutzen, wenn ein Magier es ihnen sagt?«

Rothen kicherte. »Viele Novizen haben sich in der Vergangenheit bei Experimenten ohne Anleitung verletzt. Aber trotz dieser Regel müssen die Magier immer noch genau aufpassen. Alle Lehrer wissen, was passiert, wenn sie einem Novizen sagen, er solle ›üben‹. Wenn sie nicht dazusagen, was genau er üben soll, wird der Novize ihren Befehl nach eigenem Gutdünken interpretieren: ›Übe, was immer du üben willst‹, lautet dann seine Deutung. Ich erinnere mich gut daran, dass ich dieses Argument einmal benutzt habe, um angeln zu gehen.«

Dannyl schnaubte. »Das ist doch gar nichts.«

Während der Magier ihr von einigen seiner eigenen Streiche als Novize erzählte, dachte Sonea über das Gelübde nach, das die Novizen ablegten. Es enthielt nichts, was sie nicht erwartet hätte. Sie kannte noch immer nicht alle Regeln, die in der Gilde galten. Vielleicht wurde es Zeit, dass sie Rothen danach fragte. Die beiden letzten Versprechen hatte man, wie ihr schien, einzig deshalb hinzugefügt, damit die Novizen es nicht allzu bunt trieben.

Wenn sie die Gilde verließ, ohne dass man zuvor ihre Kräfte blockiert hatte, würde sie den zweiten Teil des Gelübdes brechen. Seltsamerweise widerstrebte es ihr keineswegs, gegen ein Gesetz zu verstoßen, während der Bruch eines Gelübdes ihr unerträglich erschien.

Als Dannyl mit seiner Anekdote zum Ende kam, setzte Rothen seine Erklärungen fort. »Die beiden ersten Punkte des Magiergelübdes entsprechen dem, was die Novizen schwören müssen«, sagte er. »Aber mit dem dritten Punkt gelobt ein Magier, dem Herrscher seines eigenen Landes zu dienen, und der vierte Punkt ist ein Versprechen, niemals böse Formen von Magie zu benutzen.«

Sonea nickte. Wenn er ihr die Flucht ermöglichte, würde Fergun ein Gesetz und das Magiergelübde brechen.

»Welche Strafe erwartet einen Magier, wenn er das Gelübde bricht?«

Rothen zuckte die Achseln. »Das hängt von der Art des Verstoßes ab, davon, in welchem Land der Magier lebt, und zu guter Letzt von dem Urteil seines Herrschers.«

»Was passiert einem kyralischen Magier?«

»Die schlimmste Strafe ist der Tod, die jedoch nur Mörder zu erwarten haben. Die zweitschlimmste Strafe wäre die Verbannung.«

»Ihr… blockiert die Kräfte des Magiers und schickt ihn fort.«

»Ja. Keines der Verbündeten Länder würde den Betreffenden aufnehmen. Das war ein Teil des Abkommens.«

Sie nickte. Sie konnte ihn nicht fragen, welche Strafe Fergun erwartete, sollte die Gilde herausfinden, dass er ihr geholfen hatte, fortzugehen, ohne dass man zuvor ihre Kräfte blockiert hatte. Eine solche Frage würde Rothen gewiss argwöhnisch machen.

Wenn sie Ferguns Plan zustimmte, würde sie ihre Absichten gut verborgen halten müssen, oder ihr drohte eine ähnliche Strafe. Die Gilde würde ihr keine zweite Chance geben, Novizin zu werden. Sie hätte keine andere Wahl, als sich abermals auf einen Dieb zu verlassen, der sie versteckte – obwohl sie davon überzeugt war, dass Faren sie mit offenen Armen willkommen heißen würde, wenn sie über Magie gebieten – und sie kontrollieren – konnte.

Was würde er als Gegenleistung von ihr verlangen? Sie schnitt eine Grimasse bei der Vorstellung, den Rest ihres Lebens im Verborgenen zubringen und nach der Pfeife eines Diebs tanzen zu müssen. Im Grunde wollte sie nur eins: bei ihrer Familie sein.

Als sie den Schnee betrachtete, der zu beiden Seiten des Gehwegs aufgeworfen war, durchzuckte sie ein Gefühl der Sorge. Ihre Tante und ihr Onkel hockten jetzt wahrscheinlich irgendwo in einem winzigen Zimmer und zitterten vor Kälte. Es musste eine harte Zeit für sie sein. Sie würden nur wenige Kunden haben, und wie sollten sie ihre Lieferungen bewältigen, jetzt, da Jonna ein Kind erwartete und Ranels krankes Bein steif von der Kälte war? Sie sollte zurückkehren, um ihnen zu helfen, statt für einen Dieb Magie zu wirken.

Aber wenn sie mit Magie zurückkehrte, würde Faren dafür sorgen, dass ihre Tante und ihr Onkel ein gutes Auskommen hatten, und sie selbst wäre in der Lage zu heilen…

Aber wenn sie mit Rothen zusammenarbeitete, konnte sie schon in wenigen Wochen wieder bei ihrer Tante und ihrem Onkel sein. Ferguns Pläne würden sich vielleicht über Monate hinziehen …

Es war so schwer, eine Entscheidung zu treffen.

Wie schon so viele Male zuvor, wünschte sie, sie hätte ihre Kräfte niemals entdeckt. Sie hatten ihr Leben ruiniert. Sie hatten sie beinahe umgebracht. Sie hatten sie gezwungen, den verhassten Magiern dankbar zu sein, dass sie ihr das Leben gerettet hatten. Unterm Strich wollte sie ihre Magie einfach nur wieder loswerden.

Rothen verlangsamte seine Schritte. Als Sonea aufblickte, wurde ihr bewusst, dass der Weg zu einer breiten, gepflasterten Straße führte. Kurz darauf kamen mehrere gut gepflegte Häuser in Sicht.

»Das sind die Residenzen«, erklärte Rothen ihr.

Zwischen einigen der Gebäude ragten die geschwärzten Skelette von Häusern auf. Rothen bot ihr dafür keine Erklärung an. Er ging auf das Ende der Straße zu, die auf einen großen, runden Platz mündete, auf dem eine Kutsche wenden konnte. Am Straßenrand lag ein Baumstamm, auf dem der Magier sich nun niederließ.

Während Dannyl seine langen Beine einzog und sich neben den älteren Magier setzte, sah Sonea sich im Wald um. Zwischen den Bäumen erkannte sie eine Reihe dunkler Umrisse im Schnee, die zu gleichmäßig waren, um natürlichen Ursprungs zu sein.

»Was ist das da?«

Rothen folgte ihrem Blick. »Das ist der alte Friedhof. Wollen wir ihn uns ansehen?«

Dannyl drehte sich abrupt zu seinem Freund um. »Jetzt?«

»Wir sind nun schon einmal hier«, bemerkte Rothen und erhob sich. »Da wird es nicht schaden, wenn wir noch ein wenig weitergehen.«

»Könnte das nicht bis morgen früh warten?« Dannyl warf einen nervösen Blick auf den Friedhof.

Rothen hob die Hand, und plötzlich flackerte unmittelbar darüber ein winziger Lichtfunke auf. Im Nu war daraus eine runde Lichtkugel geworden, die kurz darauf über ihren Köpfen schwebte.

»Anscheinend nicht.« Dannyl seufzte.

Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie auf den Friedhof zugingen. Jetzt ließ auch Dannyl über seinem Kopf eine Lichtkugel entstehen.

»Fürchtest du dich vor der Dunkelheit, Dannyl?«, fragte Rothen über die Schulter gewandt.

Der hochgewachsene Magier antwortete nicht. Kichernd stieg Rothen über einen am Boden liegenden Ast und trat dann auf die Lichtung hinaus. Mehrere Reihen von Grabsteinen breiteten sich in der Finsternis vor ihnen aus.

Als sie näher kamen, sandte Rothen sein Licht voraus, so dass es direkt über einem der Steine hing. Der Schnee schmolz fast sofort, und die Gravur wurde sichtbar. Als die Lichtkugel wieder höher stieg, bedeutete er Sonea, näher an den Stein heranzutreten.

Ein ansprechendes Muster war in die Oberfläche eingemeißelt, und Sonea konnte einige Zeichen in der Mitte des Steins entdecken, die früher einmal vielleicht Worte geformt hatten.

»Kannst du die Inschrift lesen?«, fragte Rothen.

Sonea strich mit der Hand über die Gravur.

»Lord Gamor«, las sie. »Und dann kommt ein Jahr…« Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich muss mich irren.«

»Ich glaube, da steht: ›Im fünfundzwanzigsten Jahr von Urdon‹.«

»Dieser Stein ist siebenhundert Jahre alt?«

»Allerdings. All die Gräber hier sind mindestens fünfhundert Jahre alt. Sie stellen ein großes Rätsel dar.«

Sonea ließ den Blick über die Reihen der Steine gleiten. »Warum sind diese Gräber ein Rätsel?«

»Seit jener Zeit sind hier keine Magier mehr begraben worden, und auch außerhalb der Gilde wird keiner begraben.«

»Wo begräbt man die Magier denn dann?«

»Überhaupt nicht.«

Sonea drehte sich zu ihm um. Ein leises Wispern fuhr durch die Bäume in der Nähe, und Dannyl riss die Augen auf und zuckte zusammen. Sonea spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten.

»Warum nicht?«, fragte sie.

Rothen trat vor und betrachtete das Grab. »Vor vierhundert Jahren hat ein Magier seine Magie einmal als einen ständigen Begleiter beschrieben. Die Magie kann ein hilfsbereiter Freund sein, sagte er, oder ein tödlicher Gegner.« Er wandte sich wieder zu Sonea um. Seine Augen wurden von den Brauen überschattet, so dass Sonea den Ausdruck darin nicht erkennen konnte.

»Denk über all das nach, was du über Magie und Kontrolle gelernt hast. Deine Kräfte haben sich auf natürliche Weise entwickelt, aber die meisten von uns brauchen einen anderen Magier, der sie entfesselt. Sobald das geschehen ist, sind wir für den Rest unseres Lebens durch die Erfordernisse unserer Kräfte gebunden. Wir müssen lernen, sie zu kontrollieren, und wir müssen diese Kontrolle aufrechterhalten. Wenn wir das nicht tun, wird unsere Magie uns zu guter Letzt zerstören.« Er hielt inne. »Im Augenblick unseres Todes verlieren wir alle den Zugriff auf unsere Kräfte, und die in uns verbliebene Magie wird freigesetzt. Wir werden buchstäblich von dieser Magie verzehrt.«

Sonea blickte auf das Grab hinab. Trotz Rothens Wärmeschild drang ihr die Kälte jetzt bis auf die Knochen.

Sie hatte geglaubt, sie würde ihre Magie loswerden, sobald sie erst Kontrolle gelernt hatte, aber jetzt wusste sie, dass sie niemals frei davon sein würde. Was sie auch tat, die Magie würde immer da sein. Eines Tages würde sie, Sonea, in irgendeiner Hütte einfach verlöschen…

»Wenn wir eines natürlichen Todes sterben, ist das nur selten ein Problem«, fügte Rothen hinzu. »Die Kraft unserer Magie verblasst im Allgemeinen während unserer letzten Lebensjahre. Wenn wir jedoch keines natürlichen Todes sterben… Es gibt ein altes Sprichwort: Es bedarf eines Narren, eines Märtyrers oder eines Genies, um einen Magier zu ermorden.«

Plötzlich verstand sie Dannyls Unbehagen. Es war nicht die Gegenwart der Toten, die ihm zusetzte, sondern die Erinnerung an das, was mit ihm geschehen würde, wenn er starb. Aber er hatte dieses Leben aus freien Stücken gewählt, rief sie sich ins Gedächtnis. Im Gegensatz zu ihr.

Und im Gegensatz zu Fergun. Nachdem seine Eltern ihn gezwungen hatten, Magier zu werden, stand auch ihm dieses Ende bevor. Sie fragte sich, wie viele Magier der Gilde nur widerstrebend beitraten. Erstaunt über ihr neues Mitgefühl, sah sie noch einmal auf den Grabstein hinab.

»Also, warum gibt es dann diese Gräber hier?«

Rothen zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Es dürfte sie eigentlich gar nicht geben. Viele unserer Historiker glauben, diese Magier hätten sich all ihrer Kräfte entledigt, als sie begriffen, dass sie sterben würden. Sobald ihre Kräfte erloschen waren, so vermutet man, hätten sie sich erstochen oder Gift genommen. Wir wissen, dass sie andere Magier zu Zeugen ihres Todes bestellt haben. Vielleicht sollten diese Zeugen dafür sorgen, dass die alten Magier im richtigen Augenblick starben. Selbst ein winziger Rest von Magie kann genügen, um einen Körper zu zerstören, so dass die Wahl des richtigen Zeitpunkts von großer Bedeutung gewesen sein muss, vor allem weil die Magier dieser Zeit außergewöhnlich stark waren.«

»Aber wir wissen nicht mit Sicherheit, ob das die Wahrheit ist«, warf Dannyl ein. »Möglicherweise sind die Geschichten über ihre Kräfte übertrieben worden. Helden neigen dazu, immer riesenhafter zu werden, wenn die Nachwelt ihre Geschichte wieder und wieder neu erzählt.«

»Wir besitzen Bücher, die zu Lebzeiten dieser Magier geschrieben wurden«, erinnerte Rothen ihn. »Es gibt sogar Tagebücher von ihnen. Warum sollten sie ihre eigenen Fähigkeiten übertreiben?«

»Ja wirklich, warum?«, erwiderte Dannyl trocken.

Schließlich drehte Rothen sich um und führte sie auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.

»Ich glaube, dass jene ersten Magier wirklich mächtiger waren«, bemerkte Rothen. »Und dass wir seither schwächer geworden sind.«

Dannyl schüttelte den Kopf, dann wandte er sich an Sonea. »Was meinst du dazu?«

Sie blinzelte überrascht. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatten sie irgendeine Möglichkeit, ihre Magie zu verstärken.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Möglichkeit, die Stärke eines Magiers zu vergrößern. Was er bei seiner Geburt hatte, damit muss er zeitlebens zurechtkommen.«

Sie erreichten die gepflasterte Straße und setzten ihren Weg fort. Inzwischen war es vollends dunkel geworden, und aus den Fenstern der Häuser entlang der Straße leuchtete ihnen Licht entgegen. Als sie an einer niedergebrannten Ruine vorbeikamen, fröstelte Sonea plötzlich. War dieses Haus vielleicht zerstört worden, als sein Bewohner starb?

Schweigend gingen sie weiter die Straße hinunter. Als sie zu dem Fußweg kamen, schickte Rothen sein schwebendes Licht voraus, so dass sie besser sehen konnten.

Als das Magierquartier in Sicht kam, dachte Sonea an all die Magier, die dort lebten und die alle, selbst im Schlaf, ihre Kräfte unter Kontrolle hielten. Vielleicht hatten jene frühen Stadtplaner einen anderen Grund gehabt, warum sie den Magiern ein ganzes Stadtviertel zur Verfügung gestellt hatten.

»Ich glaube, mehr Bewegung brauche ich für heute Abend nicht«, sagte Rothen plötzlich. »Und es ist auch gleich Zeit zum Essen. Möchtest du dich zu uns gesellen, Dannyl?«

»Natürlich«, antwortete der hochgewachsene Magier. »Mit Freuden.«



25 Neue Pläne

Die Sonne hing über den fernen Türmen des Palastes wie eine riesige Magierkugel und tauchte die Gärten in orangefarbenes Licht.

Sonea ging schweigend neben Rothen her. In sich gekehrt. Rothen wusste, dass sie die Absicht hinter diesem Ausflug erraten hatte und sich innerlich gegen die neuen Eindrücke sperrte, so dass nichts von alledem sie in Versuchung führen konnte, in der Gilde zu bleiben.

Er lächelte. Sie mochte fest entschlossen sein, nichts an sich heranzulassen, aber Rothen hatte die Absicht, ihr so viel wie möglich von der Gilde zu zeigen. Sie musste sehen, was sie zurückwies.

Rothen, den ihre unverrückbare Entschlossenheit, fortzugehen, ehrlich überraschte, hatte in den vergangenen Tagen häufig über sein eigenes Leben nachgedacht. Wie alle Kinder der Häuser hatte man ihn, als er etwa zehn Jahre alt gewesen war, auf magische Fähigkeiten getestet. Man hatte ihm gesagt, er sei etwas Besonderes und könne sich glücklich schätzen. Von jenem Tag an hatte er sich darauf gefreut, der Gilde beizutreten.

Für Sonea war es niemals denkbar gewesen, Magierin zu werden. Man hatte sie gelehrt, die Magier als Feinde zu betrachten, denen man die Schuld an allem Unheil gab. Angesichts ihrer Erziehung war es klar, warum sie sich nicht der Gilde anschließen wollte: Für sie wäre es ein Verrat an den Menschen, mit denen sie aufgewachsen war.

Aber so musste es nicht sein. Wenn es ihm gelang, sie davon zu überzeugen, dass sie am Ende ihre Kräfte würde nutzen können, um den Hüttenleuten zu helfen, würde sie sich vielleicht doch zum Bleiben bewegen lassen.

Hinter dem Universitätsgebäude bog Rothen nach rechts ab. Als der Gong erklang, der das Ende der Unterrichtsstunden anzeigte, hatten sie bereits die Gärten erreicht. Rothen wusste natürlich, dass die Novizen gleich darauf aus der Universität stürzen und in ihre Quartiere zurückeilen würden, und hatte daher einen längeren, aber stilleren Weg zum Heilerquartier gewählt.

Er freute sich auf diesen Ausflug. Das Heilen war die nobelste der Magierkünste und die einzige Art von Magie, die Sonea anzuerkennen schien. Die Kriegerkünste würden sie wohl kaum beeindrucken, deshalb hatte Rothen ihr diesen Teil der Ausbildung zuerst gezeigt. Die Demonstration hatte sie jedoch mehr beunruhigt, als er erwartet hatte. Obwohl der Lehrer die Regeln erklärt und verdeutlicht hatte, auf welche Weise man sich in der Arena schützen konnte, war Sonea sichtlich zurückgeprallt, als die Novizen mit ihrem Schaukampf begonnen hatten.

Dannyls Experiment hatte dem Mädchen zwar eine mögliche Verwendungsweise der Alchemie verdeutlicht, aber im Grunde war das nur ein Hobby. Wenn Rothen sie beeindrucken wollte, musste er ihr etwas zeigen, das für die Stadt von größerem Nutzen wäre. Er hatte sich nur noch nicht entschieden, was das sein würde.

Als sie sich jetzt dem Rundbau des Heilerquartiers näherten, sah Rothen noch einmal verstohlen zu Sonea hinüber. Obwohl ihre Miene verschlossen war, leuchteten aus ihren Augen Neugier und Interesse. Vor dem Eingang des Gebäudes blieb er stehen.

»Dies ist das zweite Heilerquartier, das die Gilde errichtet hat«, erklärte er Sonea. »Das erste war ziemlich luxuriös. Unglücklicherweise haben unsere Vorgänger Schwierigkeiten mit einigen wohlhabenden Patienten gehabt, die glaubten, sich dauerhaft bei ihnen niederlassen zu können. Zu der Zeit, als die Universität und die anderen Gebäude der Gilde errichtet wurden, hat man das alte Heilerquartier abgerissen und dieses hier an seine Stelle gesetzt.«

Trotz des ansprechenden äußeren Erscheinungsbildes war das Gebäude der Heiler bei weitem nicht so beeindruckend wie die Universität. Rothen trat durch die offenen Türen und führte Sonea in eine kleine, schmucklose Halle. Ein frischer, medizinischer Geruch hing in der Luft.

Zwei Heiler, ein Mann von etwa fünfzig Jahren und eine jüngere Frau, blickten auf. Der Mann musterte Sonea zweifelnd und wandte sich ab, aber die junge Frau kam ihnen mit einem Lächeln entgegen.

»Seid mir gegrüßt, Lord Rothen«, sagte sie.

»Seid mir gegrüßt, Lady Indria«, erwiderte er. »Das ist Sonea.«

Sonea nickte. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.«

Indria neigte den Kopf. »Auch ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Sonea.«

»Indria wird uns durch das Heilerquartier führen«, erklärte Rothen.

Die Heilerin lächelte Sonea zu. »Ich hoffe, du findest meine Führung interessant.« Sie sah Rothen an. »Wollen wir anfangen?«

Rothen bejahte.

»Hier entlang, bitte.«

Indria durchquerte die Halle, gab einer hohen Doppeltür den Befehl, sich zu öffnen, und führte Rothen und Sonea in einen breiten, gewölbten Korridor. Sie kamen an mehreren offenen Türen vorbei, und Sonea nutzte die Gelegenheit, einen Blick in die Räume dahinter zu werfen.

»Im unteren Stockwerk des Gebäudes werden Patienten behandelt und untergebracht«, erklärte Indria ihnen. »Schließlich können wir den Kranken nicht zumuten, Treppen zu steigen, nicht wahr?« Sie hatte sich mit freundlicher Miene zu Sonea umgedreht, die zur Antwort nur ein verwundertes Achselzucken zustande brachte.

»Im oberen Stockwerk findet der Unterricht statt, und dort haben auch die Heiler ihre Wohnungen. Die meisten von uns ziehen es vor, in diesem Gebäude zu leben, statt im Magierquartier. Das ermöglicht es uns, in Notfällen schnell zu reagieren.« Sie deutete nach links. »Die Patientenzimmer liegen auf der Seite, von der aus man einen schönen Blick auf die Gärten oder den Wald hat.« Dann wandte sie sich nach rechts. »Die Räume im inneren Teil des Gebäudes sind unsere Behandlungszimmer. Komm, ich werde dir einen dieser Räume zeigen.«

Rothen folgte der Heilerin durch eine der geöffneten Türen und beobachtete Sonea, während sie sich in dem Raum umsah. Er war klein und nur mit einem Bett, einem Schrank und mehreren Holzstühlen eingerichtet.

»Hier nehmen wir die weniger anspruchsvollen Heilungen und Behandlungen vor«, fuhr Indria fort. Sie öffnete den Schrank, in dem, säuberlich nebeneinander aufgereiht, Flaschen und Schachteln standen. »Alle Medikamente, die wir schnell zubereiten oder schon im Voraus zusammenbrauen können, werden hier aufbewahrt, wo wir jederzeit Zugriff darauf haben. Im oberen Stockwerk haben wir noch weitere Räume, in denen kompliziertere Heilmittel hergestellt werden.«

Indria trat wieder auf den Korridor hinaus und zeigte auf eine Tür am Ende des Ganges. »In der Mitte des Gebäudes befinden sich die Räume, in denen wir die schwierigeren Fälle heilen«, sagte sie. »Ich möchte mich nur schnell davon überzeugen, dass dieser Raum leer ist.«

Sie eilte voraus und spähte durch ein Glaspaneel in der Tür. Dann drehte sie sich wieder zu ihnen um und nickte.

»Er ist frei«, erklärte sie. »Kommt mit.«

Der Raum, in den sie nun kamen, war größer als der erste. In der Mitte stand ein schmales Bett, und die Wände waren von Schränken gesäumt.

»Hier wirken wir größere Heilungen und führen Operationen durch«, sagte Indria. »Während der Behandlung darf niemand außer den Heilern – und dem Patienten natürlich – hier herein.«

Sonea ließ den Blick aufmerksam durch den Raum wandern. Als sie zu einer Öffnung in der gegenüberliegenden Wand trat, folgte Indria ihr.

»Direkt über uns befinden sich die Räume, in denen die Medikamente zubereitet werden«, erklärte die Heilerin und deutete auf die Nische. Sonea beugte sich vor und spähte in den Raum über ihr hinauf. »Wir haben Heiler, die eigens auf die Herstellung von Medikamenten spezialisiert sind. Wenn wir etwas brauchen, lassen sie die frisch zubereiteten Mixturen durch diese Schächte hinuntergleiten.«

Nachdem Sonea ihre Neugier befriedigt hatte, kehrte sie zu Rothen zurück. Indria öffnete einen Schrank und nahm eine der Flaschen heraus.

»Hier in der Gilde weiß man mehr über Medizin als irgendwo sonst auf der Welt«, sagte sie mit unverhohlenem Stolz. »Wir kurieren die Menschen nicht nur mit unseren Heilkräften. Wenn es so wäre, hätten wir keine Chance, alle Kranken zu versorgen, die unsere Hilfe brauchen.« Sie zuckte die Achseln. »Was wir natürlich ohnehin nicht tun können. Dafür gibt es einfach nicht genug Heiler.«

Sie zog eine Schublade auf und nahm eine kleine, weiße Flasche heraus. Dann wandte sie sich an Sonea, hielt jedoch plötzlich inne und sah Rothen fragend an. Rothen, der begriff, was sie vorhatte, schüttelte den Kopf. Indria biss sich auf die Unterlippe und blickte erst Sonea an, dann die Phiole in ihren Händen.

»Ah, vielleicht werden wir diesen Teil der Führung auslassen.«

Sonea betrachtete die Flasche, und ihre Augen funkelten vor Neugier. »Welchen Teil?«

Indria drehte die Flasche so, dass Sonea die Aufschrift lesen konnte. »Es ist eine Narkosesalbe«, erklärte sie. »Normalerweise streiche ich ein wenig davon auf die Handflächen von Besuchern, um die Kraft unserer Medizin zu demonstrieren.«

Sonea runzelte die Stirn. »Eine Narkosesalbe?«

»Sie betäubt deine Haut, so dass du nichts mehr fühlen kannst. Nach einer Stunde verliert sich die Wirkung wieder.«

Sonea zog die Augenbrauen in die Höhe, dann streckte sie die Hand aus. »Ich möchte es ausprobieren.«

Rothen sog scharf die Luft ein und musterte Sonea überrascht. Das war wirklich bemerkenswert. Was war aus ihrem Misstrauen Magiern gegenüber geworden? Hocherfreut beobachtete er, wie Indria die Flasche aufschraubte und ein wenig von der Salbe auf ein weißes Tuch strich.

Indria warf Sonea einen nervösen Blick zu. »Zuerst wirst du gar nichts spüren. Nach einer Minute wird es sich dann so anfühlen, als sei deine Haut plötzlich viel dicker als sonst. Möchtest du es trotzdem ausprobieren?«

Sonea nickte, und Indria gab behutsam etwas von der Salbe auf Soneas Handfläche.

»Pass auf, dass du nichts davon in die Augen bekommst. Du wirst nicht blind davon, aber glaub mir, es ist ein ausgesprochen eigenartiges Gefühl, betäubte Augenlider zu haben.«

Sonea betrachtete lächelnd ihre Hand. Indria legte die Phiole wieder in die Schublade, warf das Tuch in einen Eimer in einem der Schränke und rieb sich dann die Hände.

»Jetzt lasst uns nach oben gehen und einen Blick in die Klassenzimmer werfen.«

Sie gingen zurück durch den Hauptkorridor, wo sie an mehreren Heilern und einigen Novizen vorbeikamen. Manche von ihnen betrachteten Sonea voller Neugier. Andere dagegen machten zu Rothens Entsetzen kein Hehl aus ihrer Abneigung.

»Indria!«

Die Heilerin drehte sich um, und ihre grünen Roben wirbelten bei der abrupten Bewegung um ihre Beine. »Darlen?«

»Hier drin.«

Die Stimme kam aus einem der Behandlungszimmer in der Nähe. Indria ging auf die Tür zu.

»Ja?«

»Könntest du mir kurz zur Hand gehen?«

Indria drehte sich um und grinste Rothen an. »Ich werde fragen, ob es dem Patienten etwas ausmacht, Publikum zu haben«, sagte sie leise.

Sie trat in den Raum, und Rothen hörte mehrere leise Stimmen. Sonea sah Rothen mit undeutbarer Miene an, dann wandte sie sich ab.

Kurz darauf kehrte Indria zurück und machte ihnen ein Zeichen. »Kommt herein.«

Rothen nickte. »Gebt mir einen Moment Zeit.«

Als die Heilerin wieder verschwunden war, holte Rothen tief Luft. »Ich weiß nicht, was du da drin sehen wirst, aber ich glaube nicht, dass Indria uns hereinbitten würde, wenn es etwas Beängstigendes wäre. Wenn du dich jedoch vor dem Anblick von Blut fürchtest, sollten wir besser nicht hineingehen.«

Sonea wirkte erheitert. »Ich werde schon zurechtkommen.«

Achselzuckend deutete Rothen auf die Tür. Als sie hindurchtrat, sah sie, dass der Raum genauso eingerichtet war wie das erste Behandlungszimmer. Auf dem Bett lag ein Junge von etwa acht Jahren. Sein Gesicht war weiß, und seine Augen waren gerötet vom Weinen. Der Heiler, der Indria um Hilfe gebeten hatte, war ein junger Mann in grünen Roben, Lord Darlen, der soeben behutsam einen blutgetränkten Verband von der Hand des Jungen abnahm. Ein junger Mann und eine junge Frau saßen auf zwei Holzstühlen und verfolgten die Prozedur mit unverkennbarer Sorge.

»Stellt euch bitte dorthin«, wies Indria sie an. Ihre Stimme wirkte plötzlich verändert und strenger als zuvor. Rothen trat in eine Ecke des Raums, und Sonea folgte ihm. Darlen sah sie nur kurz an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zuwandte.

»Tut es noch weh?«

Der Junge schüttelte Kopf.

Rothen blickte zu den jungen Eltern hinüber. Obwohl sie sich offenkundig in aller Eile angezogen hatten, wirkten ihre Kleider luxuriös. Der Mann trug einen modischen langen Mantel und die Frau einen schlichten, schwarzen Umhang mit einer pelzbesetzten Kapuze.

Sonea, die neben ihm stand, keuchte leise. Lord Darlen hatte soeben die letzten Verbände abgenommen. Zwei tiefe Schnitte durchzogen die Handfläche des Jungen, und Blut tropfte aus den Wunden.

Darlen krempelte den Ärmel des Jungen hoch und umfasste mit festem Griff den Arm. Der Blutstrom versiegte, und der Heiler sah zu den Eltern hinüber.

»Wie ist das passiert?«

Der Mann errötete und senkte den Blick zu Boden. »Er hat mit meinem Schwert gespielt. Ich habe es ihm verboten, aber er…« Der junge Vater schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf.

»Hm.« Darlen drehte die Hand des Jungen ein wenig. »Die Wunden müssten eigentlich gut heilen, obwohl er für den Rest seines Lebens Narben als Andenken zurückbehalten wird.«

Die Frau schluchzte leise auf, dann brach sie in Tränen aus. Ihr Mann legte ihr den Arm um die Schultern und sah den Heiler erwartungsvoll an.

Darlen wandte sich zu Indria um. Sie nickte und ging zu den Regalen hinüber. Aus einer der Schubladen dort nahm sie einige weiße Tücher, eine Schale und eine große Flasche mit Wasser. Dann kehrte sie zu dem Bett des Jungen zurück und wusch ihm vorsichtig die Hand. Als die Wunde gesäubert war, legte der Heiler behutsam eine Hand auf die des Jungen und schloss die Augen.

Stille folgte. Obwohl die Mutter weiter leise schluchzte, wirkten jetzt alle Geräusche gedämpft. Der Junge wurde unruhig, aber Indria beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Pst. Du darfst ihn nicht in seiner Konzentration stören.«

»Aber es juckt«, protestierte er.

»Das hört gleich auf.«

Rothen bemerkte eine Bewegung neben sich und sah, dass Sonea sich die Hand rieb. Darlen holte tief Luft und schlug die Augen auf. Dann strich er mit den Fingern über die Verletzungen des Jungen. Statt der tiefen Wunden durchzogen jetzt nur noch feine, rote Linien die Handfläche des Jungen. Darlen blickte den Kleinen lächelnd an.

»Deine Hand ist jetzt geheilt. Ich möchte, dass du sie jeden Tag neu verbindest. Und du darfst sie mindestens zwei Wochen lang nicht benutzen. Du möchtest doch nicht, dass meine ganze Arbeit umsonst war, oder?«

Der Junge schüttelte den Kopf. Dann hob er die Hand und fuhr mit dem Finger die Narben nach. Darlen klopfte ihm auf die Schulter.

»Nach zwei Wochen kannst du anfangen, sie vorsichtig wieder zu bewegen.« Er wandte sich zu den Eltern um. »Es dürfte kein dauerhafter Schaden zurückbleiben. Er wird schon bald wieder alles tun können, was er zuvor getan hat, einschließlich des Spiels mit dem Schwert seines Vaters.« Er beugte sich vor und stieß dem Jungen sachte einen Finger gegen die Brust. »Aber nicht bevor er erwachsen ist.«

Der Junge grinste. Darlen half ihm beim Aufstehen und beobachtete lächelnd, wie der Junge zu seinen Eltern hinüberlief und sich in die Arme schließen ließ.

Der Vater blickte mit feuchten Augen zu Darlen auf und öffnete den Mund, um zu sprechen. Der Heiler hob die Hand, um ihm Schweigen zu gebieten, dann nickte er Indria zu.

Indria bedeutete Rothen und Sonea, ihr zu folgen, und sie verließen den Raum. Als sie wieder im Korridor standen, konnte Rothen die Stimme des Vaters hören, der sich bei Darlen bedankte.

»Sieht einfach aus, nicht wahr?« Indria verzog das Gesicht. »Aber in Wirklichkeit ist es ausgesprochen hart.«

»Die Heilkunst ist die schwierigste aller Disziplinen«, ergänzte Rothen. »Sie verlangt eine genauere Kontrolle und viele Jahre Übung.«

»Weshalb sie einigen jungen Leuten nicht besonders erstrebenwert erscheint«, erklärte Indria naserümpfend. »Sie sind einfach zu faul.«

»Ich habe viele Novizen, die ganz und gar nicht faul sind«, entgegnete Rothen spitz.

Indria grinste. »Aber Ihr seid auch so ein wunderbarer Lehrer, Rothen. Selbstverständlich sind Eure Schüler die aufmerksamsten und strebsamsten in der Universität – wie könnte es auch anders sein?«

Rothen lachte. »Ich sollte öfter hierher kommen. Eure Worte tun mir so gut.«

»Hm«, sagte sie, »im Allgemeinen bekommen wir Euch nur dann zu Gesicht, wenn Ihr über Magenverstimmung klagt oder Euch bei Euren dummen Experimenten Brandwunden zugezogen habt.«

»Sagt das nicht.« Rothen legte einen Finger an die Lippen. »Als Nächstes werde ich Sonea nämlich die Alchemieräume zeigen.«

Indria warf Sonea einen mitfühlenden Blick zu. »Viel Glück. Und versuch, nicht einzuschlafen.«

Rothen straffte sich und deutete auf die Treppe. »Setz deine Führung fort, du freches Mädchen«, befahl er. »Es ist erst ein Jahr vergangen seit deinem Abschluss, und schon jetzt glaubst du, du kannst so mit deinen ehemaligen Lehrern umspringen.«

»Sehr wohl, Mylord.« Sie vollführte eine spöttische Verbeugung, dann setzte sie ihren Weg durch den Korridor fort.

Sonea schob eine von Rothens Fensterblenden zurück und betrachtete die hinter der Glasscheibe umherwirbelnden Schneeflocken. Geistesabwesend rieb sie sich die Hand. Obwohl das Gefühl schon vor Stunden zurückgekehrt war, stand ihr die Taubheit noch immer lebhaft im Gedächtnis.

Sie hatte erwartet, dass Rothen ihr die Heiler bei der Arbeit zeigen und sie die Versuchung verspüren würde, diese Kunst selbst zu erlernen. Trotz ihres festen Entschlusses, sich davon nicht beeinflussen zu lassen, waren unerwünschte Gefühle in ihr aufgestiegen, als sie die Heilung des Kindes mit eigenen Augen gesehen hatte. Obwohl sie gewusst hatte, dass sie die Fähigkeit zu solchen Dingen besaß, hatte sie doch erst in diesem Moment begriffen, welche Chance ihre Magie darstellte.

Und genau das war natürlich Rothens Absicht gewesen. Seufzend klopfte sie an den Rand des Fensters. Wie erwartet, versuchte er, sie zum Bleiben zu bewegen, indem er ihr all die wunderbaren Dinge zeigte, die sie mit ihrer Magie würde tun können.

Aber gewiss hatte er nicht damit gerechnet, dass die Demonstrationen der Krieger, die sie am Vortag erlebt hatte, sie auch nur im Mindesten beeindrucken würden. Die Novizen, die einander Magie entgegenschleuderten, würden Sonea nicht in Versuchung führen, sich der Gilde anzuschließen. Vielleicht hatte Rothen ihr ja nur zeigen wollen, dass die Kämpfe harmlos waren. Strengen Regeln unterworfen, ähnelten sie eher Spielen als richtigen Kämpfen.

Als Sonea darüber nachdachte, fiel es ihr leichter zu begreifen, warum die Reaktion der Magier so heftig ausgefallen war, als sie sie auf dem Nordplatz »angegriffen« hatte. Sie waren an »innere Schilde« gewöhnt und daran, »Treffer« aufzulisten.

Es musste ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein, zu sehen, wie Magie sich auswirken konnte, wenn man ihr ohne schützenden Schild ausgesetzt war.

Wieder seufzte sie. Wahrscheinlich würde ihr als Nächstes eine Führung durch die Labors der Alchemisten bevorstehen. Gegen ihren Willen regte sich so etwas wie Neugier in ihr. Von allen Disziplinen war die Alchemie diejenige, von der sie am wenigsten wusste.

Ein Klopfen an der Wohnungstür schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Tania hatte ihr schon vor Stunden Gute Nacht gesagt, und auch Rothen hatte sich bereits verabschiedet. Ein Name schoss ihr durch den Kopf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Fergun.

Er würde eine Antwort wollen, und sie hatte sich noch nicht entschieden. Widerstrebend durchquerte sie den Raum und hoffte dabei, der Besucher könnte jemand anders sein.

»Wer ist da?«

»Fergun. Lass mich rein, Sonea.«

Sonea holte tief Luft und legte eine Hand auf den Griff. Sofort schwang die Tür auf. Der rotgewandete Magier schlüpfte herein und zog die Tür hinter sich zu.

»Wieso könnt Ihr die Tür öffnen?«, fragte sie und betrachtete stirnrunzelnd den Griff. »Ich dachte, sie sei verschlossen.«

Fergun lächelte. »Das war sie auch, aber sie lässt sich öffnen, wenn der Türknauf gleichzeitig von innen und von außen gedreht wird.«

»Ist das mit Absicht so eingerichtet?«

Fergun nickte. »Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Rothen könnte gerade nicht zur Stelle sein, wenn ein Notfall eintritt. Wenn du zum Beispiel ein Feuer verursachen solltest, könnte auch jemand anders dir zu Hilfe kommen.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Ich hoffe, dass das nie wieder ein Problem sein wird.« Sie deutete auf die Sessel. »Nehmt Platz, Fergun.«

Er ging zu den Sesseln hinüber und setzte sich. Als sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, beugte er sich gespannt vor.

»Also, macht dein Kontrollunterricht gute Fortschritte?«

»Ja … ich glaube schon.«

»Hm, erzähl mir, was du heute getan hast.«

Sie lächelte kläglich. »Ich musste eine Schachtel vom Boden hochheben. Das war nicht einfach.«

Fergun sog scharf die Luft ein, und seine Augen weiteten sich. »Was er dir beibringt, hat nichts mehr mit Kontrollübungen zu tun. Er zeigt dir, wie du deine Magie benutzen kannst. Wenn er das tut, musst du die Kontrolle bereits gemeistert haben.«

Eine Mischung aus Erregung und Hoffnung stieg in Sonea auf. »Er hat gesagt, er wolle auf diese Weise meine Kontrolle testen.«

Fergun schüttelte ernst den Kopf. »Jede Magie ist ein Test der eigenen Kontrolle. Er würde dir nicht beibringen, Gegenstände anzuheben, wenn du nicht schon hinreichend Kontrolle über deine Magie besäßest. Du bist bereit, Sonea.«

Sonea lehnte sich in ihrem Sessel zurück und spürte, wie ein Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte. Endlich!, dachte sie. Ich kann wieder nach Hause gehen!

Ein unerwarteter Stich des Bedauerns folgte dem Gedanken. Wenn sie fortging, würde sie Rothen vielleicht nie wieder sehen …

»Also, hast du dich davon überzeugt, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe – dass Rothen dir Informationen vorenthalten hat?«

Sonea nickte. »Den größten Teil Eurer Worte konnte ich überprüfen. Administrator Lorlen hat mir erklärt, wie man die Kräfte eines Magiers blockiert.«

Fergun wirkte überrascht. »Lorlen selbst hat es dir erklärt? Gut.«

»Er hat mir auch gesagt, dass die Prozedur nicht schmerzhaft sei und dass sie mir anschließend nie wieder Unannehmlichkeiten bereiten würde.«

»Wenn es richtig gemacht wird. Es ist viele, viele Jahre her, seit die Gilde das letzte Mal die Kräfte eines Magiers blockieren musste.« Er verzog das Gesicht. »Beim letzten Mal haben sie die Sache ein wenig verpfuscht – aber du solltest dir deswegen keine Sorgen machen. Nimm meine Hilfe an, und du wirst dieses Risiko nicht eingehen müssen.« Er lächelte. »Also, werden wir zusammenarbeiten?«

Sie zögerte. Ihre Zweifel waren keineswegs zerstreut.

Als Fergun den Ausdruck in ihren Augen sah, fragte er: »Hast du dich entschieden zu bleiben?«

»Nein.«

»Das heißt, du bist noch immer unentschlossen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Eurem Plan zustimmen soll«, gestand sie. »Zumindest einige Teile davon gefallen mir nicht.«

»Welche Teile?«

Sie holte tief Luft. »Wenn ich Novizin werde, muss ich ein Gelübde ablegen, von dem ich weiß, dass ich es brechen werde.«

Er runzelte die Stirn. »Und?«

»Ich bin nicht… glücklich darüber.«

Seine Augen wurden schmal. »Du machst dir Sorgen, ein Gelübde zu brechen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit, um deinetwillen das Gesetz des Königs zu brechen, Sonea. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass wir es so aussehen lassen können, als seist du aus eigenem Antrieb geflohen, besteht doch eine gewisse Gefahr, dass man meinen Anteil an der Sache entdecken könnte. Ich bin bereit, dieses Risiko um deinetwillen einzugehen.« Er beugte sich vor. »Du musst dich entscheiden, ob der König das Recht hat, dir deine Magie zu nehmen. Wenn du diese Frage für dich verneinen kannst, welchen Wert hat das Gelübde dann noch?«

Sonea nickte langsam. Er hatte Recht. Faren würde ihm zustimmen und Cery ebenfalls. Die Häuser hatten die Magie schon viel zu lange für sich behalten – und sie dann während der Säuberung gegen die Armen eingesetzt. Die Hüttenleute würden sie nicht verachten, wenn sie das Novizengelübde brach. Es war die Meinung dieser Menschen, die für sie zählte, nicht die Meinung des Königs oder der Magier.

Wenn sie mit unversehrten Kräften in die Vorstadt zurückkehrte und sich dann selbst Magie beibrachte, könnte sie auch andere Magie lehren. Sie könnte ihre eigene geheime Gilde gründen.

Das würde allerdings bedeuten, dass Faren sie abermals vor der Gilde würde verstecken müssen. Es würde bedeuten, dass sie nicht zu ihrer Familie zurückkehren konnte. Es würde bedeuten, dass sie zu guter Letzt ihre Kräfte würde benutzen können, um Menschen zu helfen und zu heilen – und diese Chance war das Risiko vielleicht wert.

Sie sah den Magier an, der ihr gegenübersaß. Ob er sie immer noch so bereitwillig würde ziehen lassen, wenn er wüsste, was sie dachte? Sie runzelte die Stirn. Wenn sie seine Novizin wurde, könnte sich durchaus eine Situation ergeben, in der sie ihn in ihren Geist einlassen musste, um von ihm zu lernen. Er könnte ihre Pläne entdecken und seine Meinung ändern, wenn ihm nicht gefiel, was er in ihren Gedanken las.

Sein Vorschlag zwang sie, ihm in vielen Dingen vollkommen zu vertrauen. Sie kannte ihn nicht, und sie hatte auch nicht in seinen Geist geblickt.

Wenn sie doch nur ohne seine Hilfe fortgehen – fliehen – könnte!

Plötzlich stieg ein Gefühl der Erregung in ihr auf. Vielleicht war das ja tatsächlich möglich. Sie hatte Kontrolle gelernt. Rothen wusste nicht, dass sie es wusste. Irgendwann würde er es schließlich zugeben müssen, und wenn er das tat, würde er auf einen Fluchtversuch ihrerseits gefasst sein. Aber jetzt rechnete er noch nicht mit so etwas. Jetzt war der perfekte Zeitpunkt, um es zu versuchen.

Und was war, wenn sie keine Chance zur Flucht bekam oder ihre Flucht misslang?

Dann würde sie Ferguns Angebot annehmen müssen. Für den Augenblick jedoch musste sie ihn zunächst einmal vertrösten.

Sie sah Fergun an und schüttelte seufzend den Kopf. »Ich weiß es nicht. Selbst wenn Euer Plan gelingen sollte – die Gilde würde später Jagd auf mich machen.«

»Man würde dich nicht finden können«, versicherte er ihr. »Ich werde dir beibringen, wie du deine Kräfte verbergen kannst. Die Gilde wird keine Ahnung haben, wo du dich aufhältst, und am Ende wird man die Suche aufgeben. Du bist nicht die Einzige, die beim letzten Mal der Jagd müde geworden ist, Sonea. Man wird nicht für alle Zeit nach dir suchen.«

»Es gibt einige Dinge, die Ihr nicht wisst«, erklärte sie ihm. »Wenn ich mit Magie zu den Hütten zurückkehre, werden die Diebe wollen, dass ich für sie arbeite. Ich möchte nicht das Werkzeug der Diebe werden.«

Er lächelte. »Du wirst über Magie gebieten, Sonea. Die Diebe können nichts tun, was du nicht willst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Familie, Fergun. Mir würden die Diebe vielleicht nichts antun können, aber andere könnten unter ihnen leiden. Ich…« Sie rieb sich das Gesicht und sah ihn dann entschuldigend an. »Ich brauche mehr Zeit zum Nachdenken.«

Sein Lächeln erlosch. »Wie viel Zeit?«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht ein paar Wochen?«

»So lange kann ich nicht warten«, entgegnete er mit düsterer Miene. »Du kannst nicht so lange warten.«

Sonea war verwirrt. »Warum nicht?«

Fergun stand abrupt auf, zog etwas aus seiner Robe und warf es vor ihr auf den Tisch.

Sonea keuchte, als sie den Dolch erkannte. So viele Male hatte sie zugesehen, wie die Klinge gewissenhaft und liebevoll geschärft wurde. Sie konnte sich sogar an den Tag vor vielen Jahren erinnern, an dem die groben Umrisse eines vertrauten Nagetiers in das Metall eingeritzt worden waren.

»Wie ich sehe, erkennst du den Dolch.«

Jetzt stand Fergun hoch aufgerichtet vor ihr, und seine Augen glitzerten.

»Ich habe den Besitzer dieses Messers in einen dunklen, kleinen Raum gesperrt, den niemand hier kennt.« Seine Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Lächeln. »Und es ist ein Glück, dass meine Kollegen nichts von dem Raum wissen, sonst würden sie sich vielleicht ein wenig Sorgen machen, wenn sie sähen, wie groß einige dieser Nagetiere werden können.« Er ließ sich in die Hocke sinken und legte die Hände auf die Armlehnen ihres Sessels. Sonea wich zurück, entsetzt von seinem hasserfüllten Blick.

»Tu, was ich dir sage, und ich werde deinen Freund freilassen. Mach mir Scherereien, und er wird für alle Zeit bleiben, wo er ist.« Seine Augen wurden schmal. »Hast du mich verstanden?«

Unfähig zu antworten, konnte Sonea nur wie betäubt nicken.

»Hör mir genau zu«, fuhr er fort. »Ich werde dir erklären, was du tun musst. Zuerst wirst du Rothen mitteilen, dass du dich zum Bleiben entschlossen hast. Daraufhin wird er dir erzählen, dass du inzwischen so weit bist, deine Magie zu kontrollieren, denn es wird ihm daran gelegen sein, dich in die Gilde zu bringen, bevor du deine Meinung wieder ändern kannst. In einer Woche findet eine Versammlung statt und anschließend eine Anhörung, die darüber befindet, wer dein Mentor sein soll. Bei dieser Anhörung wirst du allen erzählen, dass ich dich bei der Säuberung vor Rothen gesehen habe. Du wirst erklären, ich hätte dich angesehen, während der Stein die Barriere durchdrang. Den Höheren Magiern wird dann nichts anderes übrig bleiben, als mich zu deinem Mentor zu bestimmen. Du wirst der Gilde beitreten, aber ich versichere dir, es wird nicht für lange sein. Sobald du eine kleine Aufgabe für mich erledigt hast, wird man dich dorthin zurückschicken, wo du hingehörst. Auf diese Weise bekomme ich, was ich will – und du ebenfalls. Du hast nichts zu verlieren, wenn du mir hilfst, aber…« Er fuhr mit dem Finger über die Klinge von Cerys Dolch. »Wenn du dich weigerst, wirst du deinen kleinen Freund verlieren.«

Ohne sie aus den Augen zu lassen, schob er den Dolch wieder in seine Roben. »Sorg dafür, dass Rothen nichts von dieser Sache erfährt. Niemand außer mir weiß, wo das kleine Ceryni steckt, und wenn ich ihm nichts zu essen bringen kann, wird er schon bald sehr, sehr hungrig sein.«

Fergun erhob sich, glitt zur Tür hinüber und öffnete sie einen Spaltbreit. Dann drehte er sich noch einmal um und grinste sie höhnisch an. Soneas Magen krampfte sich zusammen, als ihr plötzlich wieder einfiel, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Er war der Magier, den sie bei der Säuberung mit ihrem Stein bewusstlos geschlagen hatte.

»Ich erwarte zu hören, dass Rothen morgen seinen Erfolg bekannt gibt. Danach werden wir uns wiedersehen.« Er schlüpfte durch die Tür und zog sie hinter sich zu.

Sonea lauschte seinen sich entfernenden Schritten, dann presste sie die Hände auf die Augen. Magier. Sie zischte einen Fluch. Ich werde ihnen nie wieder vertrauen, niemals mehr.

Dann dachte sie an Rothen, und ihr Zorn verebbte. Er hatte sie zwar getäuscht und vorgegeben, sie sei noch nicht in der Lage, ihre Magie zu kontrollieren, aber sie bezweifelte nicht, dass er gute Absichten hatte. Wahrscheinlich zögerte er die Dinge nur deshalb hinaus, um ihr Zeit zu geben, zu entscheiden, ob sie wirklich fortgehen wollte oder nicht. Wenn das stimmte, hatte er nichts getan, was sie an seiner Stelle nicht auch getan hätte – und sie war davon überzeugt, dass er ihr helfen würde, wenn sie ihn darum bat.

Aber sie konnte ihn nicht darum bitten. Erdrückende Hilflosigkeit machte sich in ihr breit. Wenn sie nicht tat, was Fergun wollte, würde Cery sterben.

Sie rollte sich in ihrem Sessel zusammen und schlang die Arme um den Oberkörper. Oh, Cery, dachte sie. Wo bist du? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen, dass man dich nicht erwischt?

Sie seufzte. Warum tat Fergun das? Sie dachte an das erste Mal, als sie dieses hämische Grinsen gesehen hatte, und fröstelte.

Rache. Simple, schäbige Rache für die Demütigung, dass ein rebellisches Hüttenmädchen ihn bewusstlos geschlagen hatte. Er musste außer sich vor Zorn darüber sein, dass man sie in die Gilde eingeladen hatte, statt sie zu bestrafen. Aber wozu die Mühe, wenn sie doch nicht bleiben wollte?

Sie ließ sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Der Gilde beizutreten, um dann wieder weggeschickt zu werden… Und Fergun würde gewiss dafür Sorge tragen, dass man sie für ihren Angriff bestrafte.

Er würde dafür Sorge tragen, dass sie niemals mehr ihre Meinung ändern und in die Gilde zurückkehren konnte.



26 Der Betrug beginnt

In der Luft zwischen den beiden Händen – die eine groß und alt, die andere schmal und schwielig – tanzten zwei Funken farbigen Lichts wie winzige Insekten. Die Lichter wirbelten herum, umkreisten einander und wichen sich in einem komplizierten Spiel aus. Plötzlich schoss das blaue Licht auf das gelbe zu. Das gelbe verwandelte sich daraufhin in einen Ring aus Licht, und als der blaue Funke hindurchsprang, lachte Rothen laut auf.

»Genug!«, rief er.

Als die beiden Funken erloschen, hörten auch die Schatten um sie herum auf zu tanzen. Rothen sah sich in dem düsteren Raum um und staunte darüber, wie spät es schon war. Er streckte seinen Willen aus, schuf eine Lichtkugel und ließ die Blenden über die Fenster gleiten.

»Du lernst schnell«, sagte er. »Die Kontrolle über deine Magie wächst.«

»Ich habe schon seit etlichen Tagen die Kontrolle über meine Magie«, erwiderte sie. »Ihr habt es mir nur nicht erzählt.«

Überrascht drehte Rothen sich zu ihr um. Sie begegnete seinem Blick ohne einen Wimpernschlag. In ihrer Stimme hatte nicht einmal ein Hauch von Zweifel gelegen. Irgendwie hatte sie es selbst herausgefunden.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte über die Situation nach. Wenn er ihre Worte bestritt, würde sie ihm nur umso mehr grollen, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Es war besser, ihr seine Gründe für die Verzögerung darzulegen.

Was bedeutete, dass ihm die Zeit davongelaufen war. Er hatte keinen Grund mehr, sie noch länger hier festzuhalten. In ein oder zwei Tagen würde sie fort sein. Er konnte Lorlen bitten, die Blockade noch ein wenig aufzuschieben, aber er wusste, dass er Soneas Meinung nicht binnen weniger Tage würde ändern können.

Er nickte. »In einer der letzten Unterrichtsstunden dachte ich, dass du einen Punkt erreicht hast, an dem ich normalerweise zu dem Schluss komme, dass ein Novize über eine ausreichende Kontrolle seiner Kräfte verfügt. In deinem Fall hielt ich es jedoch für besonders wichtig, deine Kontrolle auf die Probe zu stellen, da wir nicht in der Nähe sein werden, falls etwas schief gehen sollte.« Statt Erleichterung sah er nur Furcht in ihrem Blick. »Nicht dass ich dächte, irgendetwas würde tatsächlich schief gehen«, beruhigte er sie. »Deine Kontrolle ist –«

»Ich werde bleiben«, unterbrach sie ihn.

Er starrte sie an, einen Moment lang zu überrascht, um etwas zu sagen. »Du bleibst?«, entfuhr es ihm dann. »Du hast deine Meinung geändert?«

Sie nickte.

Er sprang auf. »Das ist ja wunderbar!«

Sonea betrachtete ihn mit großen Augen. Er hätte sie am liebsten auf die Füße gezogen und umarmt, aber er wusste, dass er ihr damit nur Angst machen würde. Stattdessen ging er zu dem Schrank im hinteren Teil des Raums hinüber.

»Das müssen wir feiern!«, erklärte er. Er nahm eine Flasche Pachi-Wein und zwei Gläser aus dem Schrank und kehrte damit zu seinem Sessel zurück. Sonea beobachtete schweigend, wie er den Stöpsel aus der Flasche zog und etwas von dem gelben Likör in die Gläser goss.

Mit zitternden Fingern nahm sie ihr Glas entgegen. Rothen wurde jäh wieder ernst, denn er begriff, dass Sonea sich vor all den unbekannten Dingen, die nun auf sie zukommen würden, fürchtete.

»Was hat dich bewogen, deine Meinung zu ändern?«, fragte er, während er wieder Platz nahm.

Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. »Ich möchte einem Menschen das Leben retten.«

»Ah!« Er lächelte. »Dann waren es also die Heiler, die dich am meisten beeindruckt haben.«

»Ja«, gab sie zu. Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude auf. »Pachi-Wein!«

»Du kennst diesen Wein?«

Sie lächelte. »Ein Dieb hat mir einmal eine Flasche davon mitgebracht.«

»Du hast mir nie viel über die Diebe erzählt. Ich wollte nicht danach fragen, damit du nicht auf die Idee kommst, ich würde versuchen, dir Informationen abzuschwatzen.«

»Ich habe selbst nie viel über die Diebe erfahren«, erwiderte sie achselzuckend. »Den größten Teil der Zeit war ich allein.«

»Wenn ich das alles richtig verstanden habe, wollten sie, dass du als Gegenleistung für ihre Hilfe Magie wirkst?«

Sie nickte. »Aber ich konnte dem Dieb niemals geben, was er wollte.« Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. »Ich frage mich… wenn ich hier bleibe, wird er dann denken, ich hätte unsere Abmachung gebrochen?«

»Es ist ihm nicht gelungen, dir zu helfen«, bemerkte Rothen. »Wie kann er dann erwarten, dass du deine Seite des Abkommens erfüllst?«

»Er hat sich große Mühe gegeben, mich zu verstecken, und er hat eine Menge Gefälligkeiten dafür eingefordert.«

Rothen schüttelte den Kopf. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Die Diebe werden dich nicht belästigen. Sie waren es, die uns erzählt haben, wo wir dich finden würden.«

Soneas Augen weiteten sich. »Sie haben mich verraten?«, wisperte sie.

Er runzelte die Stirn, verblüfft über die Wut in ihren Augen. »Ich fürchte, das ist die Wahrheit. Ich glaube nicht, dass sie dich gern verraten haben, aber es war offenkundig, dass deine Kräfte langsam gefährlich wurden.«

Sie blickte auf ihr Glas hinab und brütete eine Weile schweigend vor sich hin.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie plötzlich.

Rothen zögerte. Dies war der Moment, in dem er ihr erzählen musste, dass zwei Magier der Gilde das Recht beanspruchten, zu ihrem Mentor bestimmt zu werden. Der Gedanke, in die Obhut eines Magiers gegeben zu werden, den sie nicht kannte oder dem sie nicht vertraute, war möglicherweise so erschreckend für sie, dass sie abermals ihre Meinung änderte, aber er musste trotzdem mit ihr darüber reden.

»Es gibt verschiedene Dinge, die geklärt werden müssen, bevor du deinen Novizeneid ablegen kannst«, erwiderte er. »Du musst über gute Fähigkeiten im Lesen und Schreiben verfügen, und du musst die grundlegenden Rechenarten erlernen. Außerdem musst du dich mit den Regeln und Gebräuchen der Gilde vertraut machen. Und bevor das geschieht, muss entschieden werden, wen die Gilde zu deinem Mentor bestimmt.«

»Ein Mentor?« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ihr habt gesagt, nur sehr begabte Novizen hätten Mentoren.«

Rothen nickte. »Ich wusste von Anfang an, dass du die Unterstützung eines Mentors brauchen würdest. Als einzige Novizin, die nicht aus den Häusern stammt, wirst du vielleicht ab und an mit kleinen Schwierigkeiten fertig werden müssen. Wenn ein Magier bereit ist, dich als Mentor zu begleiten, wird dir das vielleicht manches erleichtern. Deshalb habe ich darum gebeten, deine Ausbildung auf diese Weise begleiten zu dürfen. Aber ich bin nicht der einzige Magier, der Anspruch auf diese Ehre erhebt. Auch ein zweiter, jüngerer Magier namens Fergun tut das. Wenn zwei Magier den Anspruch erheben, zum Mentor eines Novizen ernannt zu werden, muss die Gilde eine Anhörung abhalten, bei der darüber entschieden wird, welcher der beiden Bewerber zum Mentor ernannt werden soll. Das Gesetz der Gilde bei solchen Zweifelsfällen ist sehr klar: Derjenige Magier, der das magische Potenzial des Novizen zuerst erkannt hat, hat Anspruch auf die Ehre, zu seinem Mentor bestimmt zu werden. Im Allgemeinen ist die Entscheidung daher sehr einfach.« Er schnitt eine Grimasse. »Aber diesmal nicht. Wir haben deine Magie nicht durch die üblichen Tests entdeckt. Manche Magier glauben, dass ich deine Kräfte zuerst wahrgenommen habe, weil ich dich als Erster gesehen habe. Andere wiederum meinen, Fergun habe die Konsequenzen deiner Kräfte als Erster gespürt, weil er derjenige war, der von deinem Stein getroffen wurde.« Rothen kicherte. »Anscheinend streitet sich die Gilde schon seit Monaten über dieses Thema.«

Er hielt inne, um noch einen Schluck von seinem Wein zu nehmen. »Die Anhörung wird nach der nächsten Versammlung stattfinden, also in einer Woche. Danach wirst du deinen Unterricht entweder mit mir oder mit Fergun fortsetzen.«

Sonea runzelte die Stirn. »Der Novize hat also nicht das Recht, seinen Mentor selbst auszuwählen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann sollte ich diesen Fergun wohl besser kennen lernen«, sagte sie langsam. »Um herauszufinden, was für ein Mensch er ist.«

Rothen sah sie forschend an, erstaunt über die Gelassenheit, mit der sie der Situation begegnete. Er hätte sich darüber freuen sollen, sagte er sich, aber er konnte sich einer leichten Enttäuschung nicht erwehren. Es wäre befriedigender gewesen, wenn sie gegen die Aussicht protestiert hätte, seiner Gesellschaft beraubt zu werden.

»Wenn du es wünschst, kann ich ein Treffen mit ihm arrangieren«, erwiderte er. »Er wird dich kennen lernen wollen, ebenso wie andere. Bevor das geschieht, sollte ich dich jedoch mit einigen der Regeln und Gebräuche der Gilde vertraut machen.«

In ihren Augen leuchtete Interesse auf. Erleichtert darüber, dass ihre Neugier zurückgekehrt war, lächelte Rothen.

»Zum Ersten wäre da die Sitte der Verbeugung.«

Unwille zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Rothen kicherte mitfühlend.

»Ja. Verbeugungen. Alle Nichtmagier – natürlich mit Ausnahme der Mitglieder der königlichen Familie – müssen sich vor Magiern verbeugen.«

Sonea verzog das Gesicht. »Warum?«

»Es ist eine Geste des Respekts.« Rothen zuckte die Achseln. »So töricht es dir erscheinen mag, einige von uns betrachten es als eine nicht unerhebliche Kränkung, wenn man sich nicht vor ihnen verneigt.«

Ihre Augen wurden schmal. »Seht Ihr das auch so?«

»Im Allgemeinen nicht«, antwortete er. »Aber manchmal ist die Weigerung, sich zu verneigen, als bewusste Beleidigung gedacht.«

Sie sah ihn argwöhnisch an. »Erwartet Ihr, dass ich mich von jetzt an vor Euch verneige?«

»Ja und nein. Wenn wir unter uns sind, erwarte ich es nicht, aber sobald wir diese Räume verlassen, solltest du dich vor mir verbeugen, und sei es auch nur, um dich daran zu gewöhnen. Außerdem solltest du den Ehrentitel benutzen. Magier werden mit Lord oder Lady angesprochen. Die einzigen Ausnahmen bilden die Rektoren, die Administratoren und der Hohe Lord, die du mit ihrem Titel ansprechen musst.« Rothen lächelte über Soneas Gesichtsausdruck. »Ich hatte mir schon gedacht, dass dir das nicht gefallen würde. Du magst zwar in der untersten Gesellschaftsschicht aufgewachsen sein, aber du hast den Stolz eines Königs.« Er beugte sich vor. »Eines Tages wird sich jeder vor dir verneigen, Sonea. Das zu akzeptieren wird dir noch schwerer fallen.«

Sie runzelte die Stirn, dann griff sie nach ihrem Glas und leerte es.

»Also«, fuhr Rothen fort, »dann wollen wir uns jetzt den Regeln der Gilde zuwenden. Hier.« Er schenkte ihr noch einmal von dem Wein nach. »Mal sehen, ob du diese Regeln weniger schwer verdaulich findest.«


Rothen ging gleich nach dem Abendessen fort, zweifellos, um die Neuigkeit zu verbreiten. Als Tania den Tisch abräumte, trat Sonea ans Fenster. Sie hielt inne, um die Fensterblende zu betrachten, und zum ersten Mal bemerkte sie, dass das komplizierte Muster darauf winzige Symbole der Gilde darstellte.

Ihre Tante hatte zwei alte, von Schimmelflecken übersäte Fensterblenden besessen. Sie hatten die falsche Form für das Fenster ihres Zimmers in dem Bleibehaus gehabt, aber ihre Tante hatte sie trotzdem an die Scheibe gelehnt. Wenn die Sonne durch das Papier fiel, war es ihr leicht gefallen, über diese kleinen Mängel hinwegzusehen.

Statt des gewohnten Heimwehs, das sie sonst bei solchen Erinnerungen befiel, verspürte sie eine vage Sehnsucht. Der Luxus, der sie umgab, die Bücher und die blankpolierten Möbel entlockten ihr einen Seufzer.

Sie würde die Annehmlichkeiten und das gute Essen vermissen, aber damit hatte sie sich bereits abgefunden. Rothen zu verlassen, würde ihr jedoch nicht so leicht fallen. Sie schätzte seine Gesellschaft – die Gespräche mit ihm, ihren Unterricht und die Gedankenrede.

Ich wollte ohnehin fortgehen, rief sie sich zum hundersten Mal ins Gedächtnis. Ich habe bisher nur nicht darüber nachgedacht, wie viel ich hier gewonnen habe.

Das Wissen, dass man sie aus der Gilde vertreiben würde, hatte ihr erst zu Bewusstsein gebracht, was sie verlieren würde. Es würde ihr nur allzu leicht fallen, so zu tun, als wolle sie wirklich bleiben.

Nur gut, dass Fergun das nicht weiß, ging es ihr durch den Kopf. Das würde seine Rache nur umso süßer machen.

Fergun ging ein hohes Risiko ein, um ihr die Demütigung heimzuzahlen, die sie ihm zugefügt hatte. Er musste sehr wütend sein – oder sehr sicher, dass er damit durchkommen konnte. So oder so, er war bereit, große Anstrengungen zu unternehmen, um sie aus der Gilde verstoßen zu lassen.

»Lady?«

Als Sonea sich umdrehte, stand Tania vor ihr. Die Dienerin lächelte.

»Ich wollte Euch nur sagen, wie sehr ich mich freue, dass Ihr Euch zum Bleiben entschlossen habt«, bemerkte sie. »Es wäre eine Schande, wenn Ihr fortgehen würdet.«

Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Ich danke dir, Tania.«

Die Frau verschränkte die Hände. »Ihr seht so aus, als wärt Ihr voller Zweifel. Ihr tut das Richtige. Die Gilde hat noch nie arme Leute aufgenommen. Es wird ihnen nicht schaden, festzustellen, dass Ihr alles tun könnt, was sie können, und zwar genauso gut wie sie.«

Ein kalter Schauer überlief Sonea. Hier ging es nicht nur um Rache!

Die Gilde war nicht dazu verpflichtet, sie aufzunehmen. Die Magier hätten einfach ihre Kräfte blockieren und sie in die Hütten zurückschicken können. Aber genau das wollten sie nicht. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten hatten die Magier es in Erwägung gezogen, jemanden von außerhalb der Häuser zu unterrichten.

Ferguns Worte hallten in ihren Gedanken wider. Sobald du eine kleine Aufgabe für mich erledigt hast, wird man dich dorthin zurückschicken, wo du hingehörst. Zurück dorthin, wo sie hingehörte?

Sie hatte die Verachtung in seiner Stimme gehört, aber sie hatte die Bedeutung seiner Worte nicht begriffen. Fergun wollte nicht nur dafür sorgen, dass sie der Gilde nicht beitreten konnte. Er wollte sicherstellen, dass man niemals wieder jemandem vom Hüttenvolk eine solche Chance geben würde. Welche »Aufgabe« Fergun auch für sie vorgesehen haben mochte, er würde damit beweisen, dass die Hüttenleute nicht vertrauenswürdig waren. Die Gilde würde es nie wieder in Erwägung ziehen, ein Mitglied dieser Gesellschaftsschicht in ihre Reihen aufzunehmen.

Sonea hielt sich am Fenstersims fest, und ihr Herz hämmerte vor Wut. Sie öffnen mir, einem Mädchen aus den Hüttenvierteln, ihre Türen, aber ich werde fortgehen, als bedeutete das gar nichts!

Ein vertrautes Gefühl der Hilflosigkeit überfiel sie. Sie konnte nicht bleiben. Cerys Leben hing davon ab.

»Lady?«

Sonea blinzelte. Die Dienerin legte ihr sachte eine Hand auf den Arm.

»Ihr werdet Eure Sache gut machen«, versicherte Tania ihr. »Rothen sagt, Ihr wärt sehr stark und würdet schnell lernen.«

»Das sagt er?«

»Oh ja.« Tania wandte sich um und griff nach ihrem Korb, in den sie das schmutzige Geschirr gepackt hatte. »Nun, wir sehen uns morgen früh wieder. Und macht Euch keine Sorgen. Es wird alles gut werden.«

Sonea lächelte. »Danke, Tania.«

Die Dienerin verbeugte sich. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Als Sonea wieder allein war, blickte sie seufzend aus dem Fenster. Draußen hatte es erneut zu schneien begonnen, und weiße Flocken tanzten in der Nacht.

Wo bist du, Cery?

Bei dem Gedanken an den Dolch, den Fergun ihr gezeigt hatte, runzelte sie die Stirn. Es war möglich, dass er das Messer gefunden hatte, dass er Cery gar nicht wirklich in seiner Gewalt hatte …

Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ sich in einen Sessel fallen. Es gab so vieles, worüber sie nachdenken musste: Cery, Fergun, die Anhörung. Trotz Tanias Beteuerungen würde sie während der nächsten Wochen nicht viel Schlaf bekommen.


An jedem Dritt-Tag ging Dannyl zum Abendessen zu Yaldin und dessen Frau. Ezrille hatte diese Tradition schon vor Jahren begründet, als sie anfing, sich darum zu sorgen, dass er sich einsam fühlen könnte, wenn er den Tag allein beenden musste.

Als er Yaldins Diener seinen leeren Teller überließ, stieß Dannyl einen leisen Seufzer der Zufriedenheit aus. Obwohl er bezweifelte, dass er jemals in Melancholie versinken würde, wie Ezrille befürchtete, war es auf jeden Fall angenehmer, in Gesellschaft zu essen statt allein.

»Mir sind Gerüchte über Euch zu Ohren gekommen, Dannyl«, sagte Yaldin.

Dannyl runzelte die Stirn; seine Zufriedenheit verpuffte jäh. Fergun konnte doch nicht schon wieder irgendwelche Lügengeschichten über ihn in Umlauf gebracht haben! »Oh, was erzählt man sich denn so?«

»Dass der Administrator so beeindruckt von Euren Verhandlungen mit den Dieben ist, dass er Euch für einen Botschafterposten in Erwägung zieht.«

Dannyl starrte den alten Magier an. »Das tut er?«

Yaldin nickte. »Was haltet Ihr von der Idee? Sagt Euch das Reisen zu?«

»Ich…« Dannyl schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Ich? Botschafter?«

»Ja.« Yaldin kicherte. »Ihr seid nicht mehr gar so jung und dumm, wie Ihr es einmal wart.«

»Danke«, erwiderte Dannyl trocken.

»Diese neue Aufgabe könnte Euch gut tun«, warf Ezrille ein. Sie lächelte und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Vielleicht kommt Ihr sogar mit einer Ehefrau zurück.«

Dannyl warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Fangt nicht wieder damit an, Ezrille.«

Sie zuckte die Achseln. »Nun, da es offensichtlich keine Frau in Kyralia gibt, die gut genug für Euch wäre –«

»Ezrille«, ermahnte Dannyl sie. »Die letzte junge Lady, die ich kennen gelernt habe, ist mit einem Dolch auf mich losgegangen. Ihr wisst, dass in Bezug auf Frauen ein Fluch auf mir lastet.«

»Das ist doch lächerlich. Ihr habt versucht sie einzufangen, statt sie zu bestricken. Aber jetzt erzählt mir lieber, wie es Sonea geht.«

»Rothen sagt, dass sie im Unterricht gute Fortschritte macht, obwohl sie immer noch entschlossen ist fortzugehen. Und sie plaudert gern mit Tania.«

»Wahrscheinlich fühlt sie sich im Umgang mit Dienern wohler als mit uns«, überlegte Yaldin laut. »Sie stehen nicht so hoch über ihr, wie wir es tun.«

Dannyl zuckte zusammen. Früher einmal hätte er eine solche Bemerkung nicht infrage gestellt – er hätte Yaldins Worten sogar zugestimmt –, aber seit er Sonea kannte, erschien ihm diese Denkweise ungerecht, ja sogar beleidigend. »Es würde Rothen nicht gefallen, so etwas zu hören.«

»Nein«, pflichtete Yaldin ihm bei. »Aber er steht mit seinen Ansichten allein. Der Rest der Gilde ist der Meinung, dass Klasse und Status sehr wichtig sind.«

»Was redet man denn zur Zeit so?«

Yaldin zuckte die Achseln. »Anfangs waren es nur freundschaftliche Wetten, welcher der beiden Männer zu Soneas Mentor bestimmt werden würde. Aber inzwischen gehen die Dinge weit darüber hinaus. Viele Leute glauben, dass es unklug wäre, jemanden mit ihrer zweifelhaften Vergangenheit in die Gilde aufzunehmen.«

»Fängt das schon wieder an? Wie begründen sie es denn diesmal?«

»Wird sie ihr Gelübde halten? Wird sie einen schlechten Einfluss auf andere Novizen ausüben?« Yaldin beugte sich vor. »Ihr habt sie kennen gelernt. Was meint Ihr dazu?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich bin der Letzte, den Ihr danach fragen dürft. Sie ist mit einem Dolch auf mich losgegangen, habt Ihr das bereits vergessen?«

»Ihr werdet schon dafür sorgen, dass wir das niemals vergessen«, bemerkte Ezrille. »Aber Ihr müsst uns doch noch mehr über sie erzählen können.«

»Ihre Ausdrucksweise ist ungehobelt, wenn auch nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Ihre Manieren sind nicht das, woran wir gewöhnt sind. Keine Verbeugungen, kein ›Mylord‹.«

»Das wird Rothen ihr alles beibringen, wenn sie so weit ist«, warf Ezrille ein.

Yaldin schnaubte leise. »Er sollte besser dafür sorgen, dass sie vor der Anhörung darüber Bescheid weiß.«

»Ihr vergesst beide nach wie vor, dass sie nicht bleiben will. Warum sollte er sich die Mühe machen, ihr die Etikette beizubringen?«

»Vielleicht wäre es für alle Beteiligten einfacher, wenn sie tatsächlich ginge.«

Ezrille warf ihrem Mann einen tadelnden Blick zu. »Yaldin«, schalt sie ihn, »willst du das Mädchen wirklich in die Armut zurückschicken, nachdem man ihr all den Reichtum hier gezeigt hat? Das wäre grausam.«

Der alte Mann breitete die Hände aus. »Natürlich nicht, aber sie will fortgehen, und es wird einfacher sein, wenn sie es tut. Es wird keine Anhörung geben, und all die Überlegungen, ob man Leute von außerhalb der Häuser aufnehmen sollte, werden in Vergessenheit geraten.«

»Diese ganzen Spekulationen sind doch müßig«, sagte Dannyl. »Wir alle wissen, dass der König sie in der Gilde sehen will, unter unserer Kontrolle.«

»Dann wird er nicht allzu glücklich sein, wenn sie bei ihrem Entschluss bleibt, von hier fortzugehen.«

»Das ist richtig«, stimmte Dannyl ihm zu. »Aber er kann sie nicht zwingen, das Gelübde abzulegen, wenn sie es nicht will.«

Yaldin runzelte die Stirn, dann wurde er durch ein Klopfen an der Tür abgelenkt. Er machte eine träge Handbewegung, und die Tür schwang auf.

Rothen trat ein. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Sie bleibt!«

»Nun, dann wäre das Problem also gelöst«, sagte Ezrille.

Yaldin schnaubte. »Nicht alle Probleme sind dadurch gelöst, Ezrille. Uns steht immer noch die Anhörung bevor.«

»Die Anhörung?« Rothen machte eine wegwerfende Geste. »Darüber zerbrechen wir uns ein andermal den Kopf. Heute Abend möchte ich einfach nur feiern.«



27 Irgendwo unter der Universität

Sonea, die sich in einem Sessel zusammengerollt hatte, gähnte und ließ im Geiste noch einmal die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen.

Am Morgen hatte Administrator Lorlen sie aufgesucht, um sie danach zu fragen, wie sie sich entschieden habe, und ihr zum wiederholten Mal zu erklären, was es mit der Anhörung und der Sache mit dem Mentor auf sich habe. Er war ehrlich erfreut darüber gewesen, dass sie bleiben wollte, und Sonea hatte deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt – ein Gefühl, das ihr im Laufe des Tages immer vertrauter geworden war.

Es waren weitere Besucher gekommen: zuerst Dannyl, dann die strenge, einschüchternde Magierin, die den Heilern vorstand, und ein älteres Ehepaar, das mit Rothen befreundet war. Wann immer es an ihrer Tür geklopft hatte, hatte sie sich verkrampft und sich innerlich auf das Erscheinen Ferguns vorbereitet, aber der Krieger war nicht gekommen.

Sie vermutete, dass er sie erst aufsuchen würde, wenn sie allein war, daher war sie beinahe erleichtert, als Rothen sich nach dem Abendessen verabschiedete und erklärte, dass er erst sehr spät zurückkehren werde und sie nicht auf ihn warten solle.

»Ich werde hier bleiben und mit Euch plaudern, wenn Ihr wollt«, erbot sich Tania.

Sonea lächelte. »Vielen Dank, Tania, aber ich glaube, ich möchte heute Abend lieber allein sein.«

Die Dienerin nickte. »Das verstehe ich.« Sie wandte sich wieder dem Tisch zu, hielt jedoch inne, als ein Klopfen von der Tür erklang. »Soll ich öffnen, Mylady?«

Sonea nickte. Sie holte tief Luft, während die Dienerin die Tür einen Spaltbreit öffnete.

»Ist Lady Sonea hier?«

Als Sonea die Stimme hörte, krampfte sich ihr Magen vor Furcht zusammen.

»Ja, Lord Fergun«, antwortete Tania. Sie drehte sich mit ängstlichem Blick zu Sonea um. »Ich werde mich erkundigen, ob sie Euch zu sehen wünscht.«

»Lass ihn herein, Tania.« Obwohl ihr Herz wie wild zu hämmern begonnen hatte, gelang es Sonea, äußerlich gelassen zu wirken.

Die Dienerin wich einen Schritt zurück, und der rotgewandete Magier trat in den Raum. Er begrüßte Sonea mit einem Nicken und legte eine Hand auf die Brust.

»Ich bin Fergun. Ich nehme an, Lord Rothen hat dir von mir erzählt?«

Er warf einen kurzen Blick auf Tania. Sonea nickte.

»Ja«, sagte sie. »Das hat er. Wollt Ihr Euch setzen?«

»Vielen Dank«, erwiderte er, während er sich in einen Sessel sinken ließ.

Schick die Frau weg.

Sonea schluckte und drehte sich zu Tania um. »Hast du sonst noch etwas zu erledigen, Tania?«

Die Dienerin sah zum Tisch hinüber, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, Mylady. Ich werde später noch einmal zurückkommen, um das Geschirr abzuräumen.« Sie verneigte sich und schlüpfte aus dem Raum.

Als sich die Tür hinter ihr schloss, fiel alle Freundlichkeit von Fergun ab. »Ich habe heute Morgen erfahren, dass Rothen deinen Entschluss zu bleiben verkündet hat. Du hast dir wahrhaftig Zeit gelassen, es ihm zu sagen.«

»Ich musste auf den richtigen Augenblick warten«, erwiderte sie. »Sonst hätte es sehr seltsam gewirkt.«

Fergun starrte sie an, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Wie dem auch sei, es ist also geschehen. Und nun hör mir zu. Damit ich auch sicher bin, dass du meine Befehle verstanden hast, möchte ich, dass du sie mir wiederholst.«

Sie tat wie geheißen, und Fergun nickte.

»Gut«, sagte er. »Hast du irgendwelche Fragen?«

»Ja«, erwiderte sie. »Woher soll ich wissen, dass Cery sich tatsächlich in Eurer Gewalt befindet? Alles, was ich gesehen habe, ist ein Dolch.«

Er lächelte. »Du wirst mir einfach vertrauen müssen.«

»Euch vertrauen?« Sie schnaubte laut und zwang sich, ihm direkt in die Augen zu blicken. »Ich will Cery sehen. Wenn Ihr mich nicht zu ihm bringt, könnte ich Administrator Lorlen vielleicht fragen, ob Erpressung in der Gilde als Verbrechen gilt.«

Er verzog höhnisch die Lippen. »Du bist nicht in der Position, solche Drohungen auszusprechen.«

»Ach nein?« Sie erhob sich, schlenderte zu dem hohen Tisch hinüber und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Ihre Hände zitterten, und sie war froh darüber, dass sie ihm den Rücken zuwandte. »Ich weiß bestens Bescheid über diese Art von Erpressung. Ich habe bei den Dieben gelebt, oder habt Ihr das vergessen? Ihr müsst beweisen, dass Ihr tatsächlich in der Lage seid, Eure Drohung wahr zu machen. Bisher habe ich nur einen Dolch gesehen. Warum sollte ich Euch glauben, dass Ihr seinen Besitzer habt?«

Sie drehte sich um und konnte mit Befriedigung beobachten, wie ein Ausdruck der Unsicherheit über seine Züge huschte. Er ballte die Fäuste, dann nickte er langsam.

»Also gut«, sagte er und stand auf. »Ich werde dich zu ihm bringen.«

Ein Gefühl des Triumphs stieg in Sonea auf, das jedoch alsbald wieder verblasste. Fergun wäre nicht auf ihre Bedingung eingegangen, wenn er Cery nicht tatsächlich in seiner Gewalt hätte. Außerdem wusste sie um die größte Gefahr in einer solchen Situation: Man musste den Entführer daran hindern, sein Opfer zu töten, sobald er bekommen hatte, was er wollte.

Fergun trat zur Tür, öffnete sie und ließ Sonea vorangehen. Im Korridor kamen ihnen zwei Magier entgegen, die bei Soneas Anblick erschrocken stehen blieben, sich dann aber entspannten, als Fergun neben ihr erschien.

»Hat Rothen dir von den verschiedenen Gebäuden der Gilde erzählt?«, fragte Fergun aufgeräumt, als sie auf die Treppe zugingen.

»Ja«, antwortete sie.

»Sie wurden vor über vierhundert Jahren erbaut«, fuhr er fort. »Die Gilde ist viel zu groß geworden…«


Endlich Wochenende!, dachte Dannyl jubilierend, als er aus dem Klassenzimmer trat. Mehrere Novizen hatten den ganzen Tag über die Möglichkeit geredet, dass Sonea der Gilde beitreten könnte. Als zwei von ihnen die übrigen allzu sehr abgelenkt hatten, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sie zur Strafe dazubehalten.

Seufzend klemmte er sich Bücher, Papiere und Schreibutensilien unter den Arm und ging den Korridor hinunter. Als er die Treppe erreichte, erstarrte er, außerstande zu glauben, was er in der Halle unter sich sah.

Fergun und Sonea waren soeben eingetreten. Der Krieger sah sich in der Halle um und warf dann einen Blick auf die Treppe gegenüber von Dannyl. Dieser horchte auf die Schritte der beiden unter ihm, die langsam verklangen.

So geräuschlos wie möglich ging Dannyl die Treppe hinunter. Er durchquerte die Halle bis zu der Abzweigung, in der Fergun und Sonea verschwunden waren, und spähte um die Ecke. Fergun und Sonea waren mehrere Schritte von ihm entfernt, und sie hatten es offensichtlich eilig. Kurz darauf bogen sie in einen Seiteneingang ein.

Dannyl, dessen Herz jetzt schneller schlug, folgte ihnen und verlangsamte seinen Schritt, als ihm klar wurde, dass dies derselbe Korridor war, in dem er Fergun vor einigen Tagen so hastig hatte verschwinden sehen. Er riskierte einen schnellen Blick.

Der Korridor war leer, und während Dannyl weiterging, spitzte er die Ohren. Mit Mühe konnte er in einiger Entfernung Ferguns Stimme wahrnehmen. Er folgte der Stimme durch einige weitere Korridore, bis plötzlich nichts mehr zu hören war.

Die Stille jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Hatte Fergun bemerkt, dass er verfolgt wurde? Lauerte er ihm irgendwo auf?

Als er eine Biegung des Korridors erreichte, fluchte Dannyl lautlos. Ohne Ferguns Stimme als Orientierung hatte er keine Ahnung, ob er nicht vielleicht im nächsten Moment über den Magier stolpern würde. Er blickte vorsichtig um die Ecke und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Korridor vor ihm war leer.

Er bewegte sich vorsichtig weiter, hielt jedoch kurz darauf inne. Er war in eine Sackgasse geraten. Genau genommen war es natürlich keine echte Sackgasse, da es so etwas in der Universität nicht gab. Eine der Türen musste zu einem Nebengang führen, über den man zurück in den Hauptkorridor gelangte. Aber wenn Fergun in diese Richtung gegangen war, hätte Dannyl hören müssen, wie eine Tür zufiel. Fergun hatte sich keine besondere Mühe gegeben, Geräusche zu vermeiden.

Aber wenn er bemerkt hatte, dass ihm jemand folgte …?

Dannyl drehte den Knauf der Tür, durch die man in den Seitengang gelangte. Die Scharniere knarrten dramatisch, als die Tür sich öffnete, wie um Dannyl zu bestätigen, dass er es hätte hören müssen, falls Fergun durch die gleiche Tür gegangen war. Auf der anderen Seite fand Dannyl jedoch wieder niemanden vor.

Auch der Hauptkorridor war verlassen. Verwirrt kehrte Dannyl zurück und versuchte es mit anderen Türen, aber nirgendwo war ein Zeichen von Sonea oder Fergun zu entdecken.

Kopfschüttelnd verließ er die Universität, während sich die Fragen in seinem Kopf überschlugen. Warum hatte Fergun Sonea aus Rothens Quartier geholt? Warum hatte er sie in die menschenleeren inneren Korridore der Universität geführt? Wie war es möglich, dass die beiden hatten verschwinden können?

Rothen?

Dannyl.

Wo bist du?

Im Abendsaal.

Dannyl zog die Brauen zusammen. Fergun hatte also gewartet, bis Rothen nicht mehr da war, bevor er an Sonea herantrat. Typisch.

Bleib, wo du bist. Ich muss mit dir reden.


Cery zog sich die Decke fester um die Schultern und lauschte dem Klappern seiner Zähne. Die Temperatur im Raum war im Laufe der Tage langsam gesunken, und inzwischen war es so kalt, dass die Feuchtigkeit auf den Mauern gefror. Irgendwo über ihm hatte der Winter die Stadt mit seinem Würgegriff umklammert.

Der Magier brachte ihm jetzt mit jeder Mahlzeit eine Kerze, die jedoch nur wenige Stunden hielt. Wenn sich die Dunkelheit von neuem herabsenkte, schlief Cery oder ging im Raum auf und ab, um sein Blut warm zu halten, und er zählte die Schritte, damit er nicht gegen die Wände prallte. Die Wasserflasche drückte er sich an die Brust, um zu verhindern, dass das Wasser gefror.

Ein leises Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, und er blieb jäh stehen, überzeugt davon, noch andere Schritte als seine eigenen gehört zu haben. Nur Stille folgte. Seufzend setzte er sich wieder in Bewegung.

In Gedanken hatte er ungezählte Gespräche mit seinem Entführer geführt. Nach seinem erfolglosen Versuch, den Magier zu töten, hatte Cery viele Stunden lang über seine Situation nachgegrübelt. Es war unmöglich, aus der Zelle auszubrechen, und er stellte nicht die geringste Gefahr für Fergun dar. Sein Schicksal lag ganz in dessen Händen.

Obwohl es ihm einen bitteren Geschmack in den Mund trieb, wusste er, dass seine einzige Chance auf Entkommen darin lag, sich den Magier gewogen zu machen. Was jedoch unmöglich schien – Fergun zeigte keinerlei Neigung, mit ihm zu reden. Und offensichtlich brachte er Cery nur Verachtung entgegen. Um Soneas willen, dachte Cery. Um ihretwillen muss ich es versuchen.

Sonea. Cery schüttelte den Kopf und seufzte. Möglicherweise war sie gezwungen worden, ihm zu sagen, dass sie die Hilfe der Gilde brauchte, um Kontrolle über ihre Kräfte zu gewinnen, aber Cery bezweifelte es. Sie hatte nicht ängstlich oder angespannt gewirkt, nur resigniert. Er hatte selbst mitangesehen, wie ihre Kräfte auf ihre Gefühle reagiert hatten, wie gefährlich sie geworden waren. Es war durchaus möglich, dass ihre Magie sie am Ende getötet hätte.

Was bedeutete, dass er nichts Schlimmeres hätte tun können, als Sonea zu den Dieben zu bringen. Dort hatte sie jeden Tag Magie benutzen müssen und versucht, ihre Kräfte noch zu stärken, wodurch sie womöglich umso schneller die Kontrolle darüber verloren hatte.

Aber irgendwann wäre sie ohnehin zu diesem Punkt gelangt, ganz gleich, was er, Cery, getan hätte. Früher oder später hätte die Gilde sie gefunden, oder sie wäre gestorben.

Cery schnitt in der Dunkelheit eine Grimasse und dachte an den Brief, den die Magier ihr geschickt und in dem sie behauptet hatten, sie wollten Sonea keinen Schaden zufügen. Stattdessen hatten sie ihr einen Platz in der Gilde angeboten. Sonea hatte ihnen nicht geglaubt. Ebenso wenig wie Faren.

Aber Cery hatte einen alten Bekannten unter den Dienern der Gilde. Der Mann wäre vielleicht in der Lage gewesen, den Wahrheitsgehalt dieses Briefes zu bestätigen, aber Cery hatte ihn nicht gefragt.

Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte, dass wir zusammenblieben. Sonea und ich, im Dienst der Diebe… Oder ohne die Diebe, aber zusammen

Sie war nicht für die Diebe bestimmt – oder für ihn. Sie besaß Magie. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie gehörte zu den Magiern.

Eifersucht loderte in ihm auf, aber er schob sie beiseite. In der Dunkelheit waren ihm Zweifel an seinem Hass auf die Gilde gekommen. Ein Gedanke drängte sich ihm immer wieder auf: Wenn die Magier so viel Mühe darauf verwandt hatten, Sonea – und viele andere Hüttenleute – vor ihren unbeherrschten Kräften zu retten, dann konnten sie dem Hüttenvolk gegenüber nicht gar so gleichgültig sein, wie er es immer vermutet hatte.

Und welche bessere Zukunft hätte er sich für Sonea vorstellen können? Sie konnte Reichtum, Wissen und Macht haben. Wie konnte er ihr das verwehren?

Er konnte es nicht. Er hatte keinen Anspruch auf sie. Diese Erkenntnis schmerzte ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Obwohl sein Herz in dem Moment, als sie in sein Leben zurückgekehrt war, zu singen begonnen hatte, hatte sie ihm gegenüber niemals mehr als Zuneigung oder Freundschaft zu erkennen gegeben.

Wieder hörte er ein leises Geräusch und blieb stehen. Irgendwo in der Ferne konnte er das Klatschen von Schuhsohlen auf dem Stein wahrnehmen. Als die Schritte näher kamen, wich Cery von der Tür zurück, damit der Magier eintreten konnte. Die Schritte kamen jetzt schnell näher, was bedeutete, dass Fergun es eilig hatte.

Aber dann blieb, wer immer draußen vorbeiging, nicht vor der Tür stehen, sondern setzte seinen Weg fort.

Cery machte einen Schritt nach vorn. War das da draußen wirklich Fergun, der nur in eine andere Richtung ging? Oder war es jemand anders?

Er stürzte zur Tür hinüber und hob die Hand, um dagegen zu hämmern, dann packten ihn plötzlich Zweifel, und er erstarrte. Wenn er Recht hatte und Fergun ihn benutzte, um Sonea zu erpressen, würde er sie dann in Gefahr bringen, indem er floh und Ferguns Pläne durchkreuzte?

Wenn Fergun Sonea zu viel erzählt hatte, würde er sie vielleicht töten, um sein Verbrechen geheim zu halten. Cery hatte viele Geschichten von fehlgeschlagenen Entführungen und Erpressungsversuchen gehört, und als er sich jetzt das unerfreuliche Ende einiger dieser Berichte ins Gedächtnis rief, schauderte er.

Die Schritte draußen waren inzwischen verklungen. Cery lehnte den Kopf an die Tür und fluchte. Es war zu spät. Der Fremde war fort.

Seufzend beschloss er, weiterhin zu versuchen, Ferguns Freundschaft zu gewinnen, und sei es auch nur, um mehr über die Pläne des Magiers zu erfahren. Wieder einmal ging Cery im Geiste verschiedene Möglichkeiten eines Gesprächs mit dem Mann durch. Als kurz darauf abermals Schritte erklangen, glaubte er beinahe, er habe sie sich nur eingebildet.

Aber dann wurden die Schritte lauter, und er wusste, dass er sich nicht geirrt hatte. Sein Herz schlug plötzlich schneller – es waren zwei Personen, die sich seinem Gefängnis näherten. Sie blieben draußen vor der Tür stehen, und Cery hörte, durch die Tür gedämpft, Ferguns Stimme.

»Halt, wir sind da.«

Das Schloss klickte, und die Tür schwang auf. Eine Lichtkugel schwebte über Ferguns Kopf und blendete Cery für einen Moment. Doch trotz des grellen Lichts erkannte er die Silhouette des zweiten Besuchers.

»Sonea!«, rief er überglücklich.

»Cery?«

Sonea hob die Hände und nahm ihre Augenbinde ab. Dann lächelte sie ihn blinzelnd an und trat in seine Zelle.

»Geht es dir gut? Du bist nicht krank oder verletzt?« Sie musterte ihn forschend.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und was ist mit dir?«

»Mir geht es gut.« Sie drehte sich zu Fergun um, der sie und Cery voller Interesse beobachtete. »Fergun hat dir nichts angetan?«

Cery brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Nur, wenn ich es herausgefordert habe.«

Sie zog die Brauen hoch. Dann wandte sie sich um und sah Fergun mit schmalen Augen an. »Gebt mir etwas Zeit, um allein mit ihm zu reden.«

Fergun zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Meinetwegen. Ein paar Minuten, mehr nicht.«

Er machte eine Bewegung mit der rechten Hand, und die Tür fiel zu, so dass sie in tiefer Dunkelheit zurückblieben.

Cery seufzte. »Nun, jetzt sitzen wir immerhin zusammen in der Falle.«

»Er wird mich nicht hier zurücklassen. Er braucht mich.«

»Wozu?«

»Das ist ziemlich kompliziert. Er möchte, dass ich der Gilde beitrete, damit er mich dazu zwingen kann, ein Gesetz zu brechen, so dass man mich wieder hinauswirft. Ich glaube, das ist seine Art, sich dafür zu rächen, dass ich ihn bei der Säuberung mit meinem Stein getroffen habe – aber ich vermute, dass es ihm außerdem darum geht, die Gilde davon zu überzeugen, wie wenig wünschenswert es ist, Hüttenleute aufzunehmen. Es spielt keine Rolle. Wenn ich tue, was er sagt, wird er dich freilassen. Glaubst du, dass er zu seinem Wort stehen wird?«

Cery schüttelte den Kopf, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. »Diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Er war nicht grausam zu mir. Die Diebe wären schlimmer gewesen.« Er zögerte. »Ich glaube nicht, dass er weiß, was er tut. Zieh irgendjemanden ins Vertrauen.«

»Nein«, erwiderte sie. »Wenn ich ihn verrate, wird Fergun sich weigern, dein Versteck preiszugeben. Du wirst verhungern.«

»Es muss doch noch jemanden geben, der über dieses Verlies Bescheid weiß.«

»Es könnte Tage dauern, bis man dich findet, Cery. Wir sind weit gegangen, um hierher zu kommen. Möglicherweise befindest du dich nicht einmal innerhalb der Gilde.«

»Mir kam der Weg nicht so weit –«

»Es spielt keine Rolle, Cery. Ich wollte ohnehin nicht bleiben, deshalb macht es keinen Sinn, dein Leben aufs Spiel zu setzen.«

»Du wolltest der Gilde nicht beitreten?«

»Nein.«

Sein Herzschlag beschleunigte sich. »Warum nicht?«

»Aus vielerlei Gründen. Zum einen hassen die Menschen die Magier. Ich käme mir wie eine Verräterin vor, wenn ich mich ihnen anschlösse.«

Er lächelte. Es sah ihr so ähnlich, die Dinge so zu betrachten. Er holte tief Luft. »Sonea, du solltest bleiben. Du musst lernen, deine Magie zu benutzen.«

»Aber dann werden mich alle hassen.«

»Nein, das stimmt nicht. In Wahrheit würden sie alle liebend gern selbst Magier werden, wenn sie auch nur die leiseste Chance dazu hätten. Wenn du das Angebot der Magier ablehnst, werden dich alle für verrückt halten oder für dumm. Sie würden es verstehen, wenn du bleibst. Niemand würde verlangen, dass du all das aufgibst.« Er schluckte hörbar und zwang sich zu einer Lüge. »Ich möchte nicht, dass du all das aufgibst.«

Sie zögerte. »Du würdest mich nicht hassen?«

»Nein.«

»Ich würde es tun.«

»Die Menschen, die dich kennen, würden deine Entscheidung nicht für falsch halten«, sagte Cery.

»Aber… mir würde es trotzdem so vorkommen, als hätte ich die Seiten gewechselt.«

Cery seufzte. »Sei nicht dumm, Sonea. Wenn du Magierin wärst, könntest du den Menschen helfen. Du könntest vielleicht sogar darauf hinwirken, dass man die Säuberungen einstellt. Die Leute würden auf dich hören.«

»Aber… ich gehöre zu Jonna und Ranel. Die beiden brauchen mich.«

»Nein, das tun sie nicht. Es geht ihnen gut. Denk nur, wie stolz sie wären. Ihre eigene Nichte in der Gilde.«

Sonea stampfte mit dem Fuß auf. »Es spielt keine Rolle, Cery. Ich kann nicht bleiben. Fergun hat gesagt, er würde dich töten. Ich werde einen Freund nicht im Stich lassen, nur um ein paar Magiertricks zu lernen.«

Einen Freund. Cery sackte in sich zusammen. Er schloss die Augen und stieß einen langen Seufzer aus. »Sonea. Erinnerst du dich an die Nacht, in der wir in der Gilde spioniert haben?«

»Natürlich.« Er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören.

»Ich habe dir damals erzählt, dass ich jemanden hier kenne, einen Diener der Gilde. Ich hätte diesen Mann bitten können, herauszufinden, welche Pläne die Gilde für dich hatte, aber ich habe es nicht getan. Weißt du, warum?«

»Nein.« Sie klang jetzt ziemlich verwirrt.

»Ich wollte nicht herausfinden müssen, dass die Gilde dir wirklich helfen wollte. Du warst gerade erst zurückgekommen, und ich wollte dich nicht noch einmal verlieren.«

Sie erwiderte nichts darauf. Ihr Schweigen sagte ihm mehr als alle Worte. Er schluckte, denn sein Mund war plötzlich trocken geworden.

»Ich hatte hier jede Menge Zeit zum Nachdenken«, fuhr er fort. »Ich… nun ja, ich habe mich gezwungen, den Dingen ins Auge zu sehen. Zwischen uns ist nichts außer Freundschaft, daher wäre es unfair –«

Sie gab einen seltsamen kleinen Laut von sich. »Oh, Cery«, flüsterte sie. »Du hast nie etwas gesagt!«

Sein Gesicht brannte mit einem Mal, und er war dankbar für die Dunkelheit. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass sie weitersprach. Vielleicht würde sie ja irgendetwas sagen, das ihm zeigte, dass sie seine Gefühle erwiderte, vielleicht würde sie ihn berühren…

Die Stille dehnte sich, bis er es nicht länger ertragen konnte. »Nun, das ist nicht wichtig«, murmelte er. »Wichtig ist, dass du nicht in die Hütten gehörst. Nicht, seit du deine Magie entdeckt hast. In die Gilde passt du vielleicht auch nicht richtig, aber du musst es wenigstens versuchen.«

»Nein«, erwiderte sie entschieden. »Ich muss dich hier rausholen. Ich weiß nicht, wie lange Fergun dich benutzen will, um mich zu erpressen, aber er kann dich nicht für immer hier unten festhalten. Ich werde ihn dazu zwingen, mir Nachrichten von dir zu überbringen, damit ich weiß, dass du noch lebst. Wenn er das nicht tut, werde ich nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten. Erinnerst du dich noch an die Geschichte über Hurin, den Zimmermann?«

»Natürlich.«

»Wir werden das Gleiche tun, was er getan hat. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er dich freilässt, aber ich…«

Das Klicken der Tür ließ sie verstummen. Das Licht des Magiers fiel auf ihr Gesicht, und Cery hatte das Gefühl, als breche ihm das Herz.

»Du warst jetzt lange genug hier drin«, blaffte Fergun sie an.

Sonea wandte sich wieder zu Cery um, umarmte ihn schnell und ging zur Tür. Cery schluckte. Irgendwie hatte diese kurze Berührung mehr geschmerzt als ihr früheres Schweigen.

»Halt dich warm«, sagte sie zu ihm. Dann drehte sie sich um und ging an Fergun vorbei in den Korridor hinaus. Als die Tür sich hinter ihr schloss, eilte Cery durch den Raum und drückte ein Ohr gegen das Holz.

»Tu, was ich dir sage, dann wirst du ihn wiedersehen«, erklärte Fergun. »Ansonsten…«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Sonea. »Aber vergesst niemals, was die Diebe mit denen machen, die ihre Versprechen brechen…«

Erzähl es ihm, dachte Cery mit einem grimmigen Lächeln.


Sobald Dannyl den Abendsaal betreten hatte, war klar, dass ihn irgendetwas beunruhigte. Rothen löste sich aus dem Kreis neugieriger Magier, die sich um ihn geschart hatten, und durchquerte den Raum, um seinen Freund zu begrüßen.

»Was ist passiert?«

»Ich kann hier nicht darüber sprechen«, antwortete Dannyl mit einem warnenden Blick.

»Sollen wir nach draußen gehen?«, schlug Rothen vor.

Sie traten in den fallenden Schnee hinaus. Weiße Flocken wirbelten um sie herum und zischten leise, als sie auf Rothens Schild trafen. Dannyl schlenderte zu dem Springbrunnen hinüber und blieb stehen.

»Rate mal, wen ich gerade in der Universität gesehen habe.«

»Wen?«

»Fergun und Sonea.«

»Sonea?« Ein Anflug von Sorge regte sich in Rothen, aber er drängte das Gefühl beiseite. »Er hat jetzt das Recht, mit ihr zu reden, Dannyl.«

»Mit ihr zu reden, ja, aber darf er sie auch aus deinem Quartier holen?«

Rothen zuckte die Achseln. »Es gibt kein Gesetz dagegen.«

»Machst du dir keine Sorgen?«

»Doch, aber es wird nichts nützen, dagegen zu protestieren, Dannyl. Wenn die anderen sehen, dass Fergun zu weit geht, ist meinen Zwecken damit eher gedient, als wenn ich bei allem, was er unternimmt, Protest erhebe. Ich bezweifle, dass sie mit ihm gegangen wäre, wenn sie es nicht selbst gewollt hätte.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Willst du nicht wissen, wohin er sie gebracht hat?«

»Wohin?«

Verärgerung zeichnete sich auf Dannyls Zügen ab. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich bin ihnen in die Universität gefolgt. Fergun ist mit ihr in die inneren Korridore gegangen. Danach habe ich die beiden verloren. Sie sind einfach verschwunden.«

»Sie haben sich vor deinen Augen in Luft aufgelöst?«

»Nein. Zuerst konnte ich Fergun noch reden hören, dann war plötzlich alles still. Zu still. Ich hätte Schritte hören müssen oder eine Tür, die geschlossen wird. Irgendetwas.«

Abermals drängte Rothen das aufkeimende Unbehagen beiseite. »Hm, ich würde tatsächlich gern wissen, wohin er sie gebracht hat. Was könnte er ihr in der Universität zeigen wollen? Ich werde sie morgen danach fragen.«

»Und wenn sie es dir nicht erzählt?«

Rothen blickte auf den schneebedeckten Boden und dachte nach. Die inneren Korridore der Universität führten zu kleinen, privaten Räumen. Die meisten davon standen leer oder waren verschlossen. Es gab nichts Sehenswertes dort… außer…

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr die unterirdischen Tunnel gezeigt hat«, murmelte er.

»Aber natürlich!« Dannyls Augen leuchteten auf, und Rothen bedauerte seine Worte sofort. »Das ist es!«

»Das kommt mir höchst unwahrscheinlich vor, Dannyl. Niemand weiß, wo sich die Eingänge befinden, niemand außer –«

Dannyl hörte ihm nicht mehr zu. »Jetzt ergibt alles einen Sinn! Warum bin ich nicht eher darauf gekommen?« Er drückte die Hände an die Schläfen.

»Nun, ich würde dir ernsthaft nahe legen, den Tunneln fernzubleiben. Es gibt gute Gründe für das Verbot, sie zu benutzen. Sie sind alt und baufällig.«

Dannyl zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was ist dann mit den Gerüchten, dass ein gewisses Mitglied der Gilde sie regelmäßig benutzt?«

Rothen verschränkte die Arme vor der Brust. »Er kann tun, was ihm gefällt, und ich bin davon überzeugt, dass er in der Lage wäre zu überleben, falls ein Tunnel einstürzen sollte. Außerdem bin ich mir sicher, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn du dort herumschnüffelst. Was wird er sagen, wenn er dich in den Tunneln vorfindet?«

Bei diesem Gedanken erlosch das Leuchten in Dannyls Augen. »Ich müsste den Zeitpunkt sorgfältig wählen. Wenn ich genau wüsste, dass er sich woanders aufhält –«

»Du solltest nicht einmal im Traum daran denken«, warnte Rothen seinen Freund. »Du würdest dich dort nur verirren.«

Dannyl schnaubte. »Schlimmer als die Gänge der Diebe können die Tunnel unter der Universität auch nicht sein, oder?«

»Du wirst es nicht tun, Dannyl!«

Aber wenn Dannyls Neugier erst einmal geweckt war, das wusste Rothen, dann konnte ihn höchstens die Drohung, aus der Gilde ausgeschlossen zu werden, von seinen Plänen abbringen. Und wegen eines so geringfügigen Verstoßes würde man nicht zu einer derart drastischen Strafe greifen. »Überleg es dir genau, Dannyl. Du möchtest dir doch nicht die Chance verderben, Botschafter zu werden, oder?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Sie haben mir meine Verhandlungen mit den Dieben durchgehen lassen, da werden sie es nicht allzu sehr missbilligen, wenn ich ein wenig unter der Universität herumschnüffle.«

Rothen wandte sich resigniert ab und machte sich auf den Rückweg zum Abendsaal. »Das mag sein. Aber manchmal kommt es darauf an, wessen Missbilligung man sich zuzieht.«

28 Die Anhörung beginnt

»Macht Euch keine Sorgen, Sonea«, flüsterte Tania, als sie das Universitätsgebäude erreichten. »Es wird schon alles gut gehen. Die Magier sind einfach nur eine Bande alter Männer, die lieber behaglich an ihrem Wein nippen, als in einer zugigen Halle zu sitzen. Bevor Ihr recht wisst, wie Euch geschieht, wird alles vorbei sein.«

Tanias Beschreibung der Gilde entlockte Sonea ein Lächeln. Dann folgte sie der Dienerin über die Treppe und durch die riesigen Türen. Sie hielt den Atem an, als sie in einen Raum voller Treppen gelangten. Jede dieser Treppen bestand aus miteinander verschmolzenem Stein und Glas und wirkte zu zerbrechlich, um das Gewicht eines Menschen zu tragen. Die Treppen zogen sich in gewundenen Spiralen durch den Raum und umschlangen einander wie ein kunstvolles Schmuckstück.

»Der andere Teil der Universität sieht ganz anders aus!«, entfuhr es ihr.

Tania schüttelte den Kopf. »Der Hintereingang ist für die Novizen und Magier gedacht. Aber durch diese Türen kommen die Besucher, deshalb muss es beeindruckend sein.«

Die Dienerin durchquerte die Vorhalle und ging einen kurzen Korridor hinunter. Sonea konnte vor sich die untere Hälfte einer weiteren gewaltigen Doppeltür erkennen. Am Ende des Korridors angelangt, blieb Sonea stehen und sah sich voller Ehrfurcht um.

Sie standen an der Schwelle zu einem großen, hohen Raum. Weiße Wände erstreckten sich bis zu einer Decke aus Glaspaneelen, durch die das strahlende, goldene Licht der Nachmittagssonne fiel. Auf der Höhe des dritten Stockwerks durchzog ein Netz von Balkons den Raum – so zart, dass man den Eindruck gewann, als schwebten sie in der Luft.

Vor ihr ragte ein Gebäude auf. Ein Gebäude innerhalb eines Gebäudes. Die groben, grauen Mauern stellten einen dramatischen Kontrast zu dem hellen Weiß der Halle dar. Über die gesamte Länge des Bauwerks zog sich eine Reihe schmaler Fenster.

»Das ist die Große Halle«, erklärte Tania. »Und das«, sie zeigte auf das Gebäude, »ist die Gildehalle. Sie ist mehr als sieben Jahrhunderte alt.«

»Das ist die Gildehalle?« Sonea schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte, man hätte sie durch ein anderes Gebäude ersetzt.«

»Nein.« Tania lächelte. »Sie war solide gebaut und hat außerdem historischen Wert, deshalb wäre es eine Schande gewesen, sie abzureißen.«

Beeindruckt folgte Sonea der Dienerin. Tania machte sie auf eine Doppeltür an der Seite der Gildehalle aufmerksam. »Dort werdet Ihr hineingehen. Im Augenblick findet die Versammlung der Magier statt. Gleich danach wird die Anhörung beginnen.«

Sonea verspürte einmal mehr ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Hundert Magier saßen in diesem Raum und warteten darauf, über ihr Schicksal zu befinden. Und sie würde vor all diese Menschen hintreten… und sie täuschen.

Übelkeit erregende Angst befiel sie. Was würde geschehen, wenn Fergun nicht als Sieger aus der Anhörung hervorging – obwohl sie getan hatte, was er von ihr verlangte? Würde er Cery dann trotzdem freilassen?

Cery…

Bei der Erinnerung an sein stockendes Geständnis in der dunklen Zelle schüttelte Sonea den Kopf.

Er liebte sie. Die Überraschung hatte sie zuerst sprachlos gemacht, aber wenn sie jetzt zurückdachte, ergaben manche Dinge plötzlich einen Sinn. Wie oft hatte sie ihn dabei ertappt, dass er sie beobachtete; wie oft war er so seltsam scheu geworden, wenn sie miteinander sprachen… Und jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass Faren sich häufig so benommen hatte, als sei Cery mehr als nur ein treuer Freund für sie.

Empfand sie genauso wie er? Seit ihrer Begegnung im Kerker hatte sie sich diese Frage ungezählte Male gestellt, aber sie konnte sie nicht mit Sicherheit beantworten. Sie hatte nicht das Gefühl, verliebt zu sein, andererseits legte sich jedes Mal eisige Furcht um ihr Herz, wenn sie an die Gefahr dachte, in der er schwebte. Bedeutete das vielleicht, dass sie am Ende doch in ihn verliebt war? Oder hätte sie die gleiche Angst um jeden anderen gehabt, der ihr teuer war, ob nun als Freund oder als Geliebter?

Wenn sie ihn liebte, hätte ihr Herz bei seinem Eingeständnis dann nicht jubeln müssen? Wäre sie nicht glücklich darüber gewesen, dass er sie zu retten versucht hatte, statt sich schuldig zu fühlen, weil seine Zuneigung zu ihr zu seiner Gefangenschaft geführt hatte?

Und wenn sie ihn liebte, müsste sie sich doch gewiss nicht all diese Fragen stellen.

Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite und atmete tief durch.

Tania klopfte ihr auf die Schulter. »Wahrscheinlich dauert die Versammlung nicht allzu lange, aber man kann nie wissen…«

Ein lautes Klicken wehte durch die Halle, dann öffneten sich die Türen, auf die Tania Sonea kurz zuvor aufmerksam gemacht hatte. Der erste Magier kam aus dem Gebäude, und weitere folgten ihm. Sonea fragte sich unwillkürlich, warum so viele von ihnen fortgingen. Hatte man die Anhörung abgesagt?

»Wohin gehen sie?«

»Es werden nur diejenigen bleiben, die sich für die Anhörung interessieren«, erklärte Tania.

Während einige der Magier die Große Halle verließen, bildeten andere kleine Gruppen. Einige der Männer und Frauen sahen Sonea mit unverhohlener Neugier an. Sonea wich ihrem Blick aus.

Sonea?

Sie zuckte zusammen, dann wandte sie sich zu der Gildehalle um.

Rothen?

Es war eine kurze Versammlung. Man wird dich bald hereinrufen.

Sonea schaute zu den Türen der Gildehalle hinüber und sah eine dunkle Gestalt hindurchtreten. Als sie den Mann erkannte, stockte ihr der Atem.

Der Assassine!

Sie war davon überzeugt, dass dies der Mann war, den sie in jener Nacht während ihres Erkundungszugs in der Gilde gesehen hatte. Sein Gesicht hatte denselben grimmigen, grüblerischen Ausdruck, den sie in Erinnerung hatte. Während er mit langen Schritten den Raum durchmaß, schlugen ihm seine schwarzen Roben um die Beine.

Einige Magier drehten sich um und nickten ihm zu, und sie begegneten ihm mit dem gleichen wachsamen Respekt, den sie bei Faren erlebt hatte, wenn er mit einem Auftragsmörder der Diebe sprach. Der Mann grüßte mit einem knappen Nicken in die Runde, blieb jedoch nicht stehen. Obwohl Sonea wusste, dass sie seine Aufmerksamkeit auf sich lenken würde, wenn sie ihn weiter anstarrte, konnte sie sich einfach nicht abwenden. Für einen kurzen Moment begegnete sein Blick dem ihren, dann ging er weiter.

Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie fuhr herum.

»Das da drüben ist Lord Osen.« Tania zeigte zu den Türen der Gildehalle hinüber. »Der Assistent des Administrators.«

Ein junger Magier stand dort und beobachtete sie. Als er ihren Blick auffing, winkte er sie zu sich heran.

»Geht nur«, flüsterte Tania und klopfte Sonea abermals auf die Schulter. »Ihr werdet schon zurechtkommen.«

Sonea drückte die Schultern durch und zwang sich, die Halle zu durchqueren. Als sie den jungen Magier erreicht hatte, neigte dieser höflich den Kopf.

»Sei mir gegrüßt, Sonea«, sagte er. »Willkommen in der Gildehalle.«

»Ich danke Euch, Lord Osen.« Hastig vollführte sie eine unbeholfene Verbeugung. Osen bedeutete ihr lächelnd, ihm in die Gildehalle zu folgen.

Der Geruch von Holz und Bohnerwachs schlug ihr aus dem Raum entgegen. Die Halle wirkte größer, als es von außen den Anschein hatte, und die Wände ragten zu einer dunklen Decke hoch über ihnen auf. Unter den Dachsparren schwebten mehrere Magierkugeln und tauchten den Raum in einen goldenen Schein.

Zu beiden Seiten des Gebäudes erstreckten sich mehrere Reihen stufenförmig übereinander angeordneter Holzstühle. Als Sonea sah, dass die in Roben gewandeten Männer und Frauen sie beobachteten, wurde ihr Mund plötzlich trocken. Sie schluckte und wandte den Blick ab.

Osen blieb stehen, bedeutete ihr, dass sie zurückbleiben solle, und stieg dann zu den treppenförmig angeordneten Sitzen zu ihrer Rechten empor. Dort saßen, wie sie wusste, die Höheren Magier. Rothen hatte ein Schaubild der Sitzverteilung in der Halle für sie gezeichnet, damit sie sich die Namen und Titel der Magier hatte einprägen können.

Die oberste Reihe war leer, wie sie feststellte. Rothen hatte ihr versichert, dass der König höchst selten an den Zeremonien der Gilde teilnahm. Sein Stuhl in der Mitte der Reihe war größer als die anderen, und auf der gepolsterten Rückenlehne war das königliche Wappen eingestickt.

Darunter stand ein einzelner Stuhl. Sonea verspürte eine vage Enttäuschung, als sie sah, dass er leer war. Sie hatte gehofft, einen Blick auf den Hohen Lord werfen zu können.

Im Zentrum der mittleren Reihe saß Administrator Lorlen. Die beiden Stühle links und rechts von ihm waren ebenfalls verwaist. Er unterhielt sich mit Osen und einem pferdegesichtigen Mann in der Reihe unter ihm, der eine schwarze Schärpe über seinen roten Roben trug. Dies musste also Lord Balkan sein, das Oberhaupt der Krieger.

Links von Balkan saß die strenge Lady Vinara, das Oberhaupt der Heiler, die Rothen nach seiner Ankündigung, dass Sonea bleiben würde, aufgesucht hatte. Zu seiner Rechten entdeckte Sonea einen alten Mann mit einem kantigen Gesicht und einer großen Nase – Lord Sarrin, das Oberhaupt der Alchemisten. Beide beobachteten Lorlen mit großer Aufmerksamkeit.

In der untersten Reihe saßen die Prinzipale – die Magier, die den Unterricht an der Universität organisierten. Von den drei Plätzen waren aber nur zwei besetzt. Angestrengt dachte Sonea über eine Erklärung dafür nach, bis ihr Blick erneut auf Lord Balkan fiel. Dann erinnerte sie sich wieder. Er bekleidete beide Positionen, sowohl die des Oberhaupts als auch die des Prinzipals seiner Disziplin.

Osen straffte sich und kam wieder nach unten. Die Höheren Magier wandten sich der Halle zu. Administrator Lorlen stand auf, reckte das Kinn und ließ den Blick durch den Raum gleiten.

»Hiermit erkläre ich die Anhörung, die darüber befinden soll, welcher der beiden Bewerber zu Soneas Mentor bestimmt wird, für eröffnet«, sagte er mit volltönender Stimme. »Würden Lord Rothen und Lord Fergun jetzt bitte vortreten?«

Als Sonea das Scharren von Stiefeln auf dem Boden hörte, blickte sie zu den Magiern auf. Eine vertraute Gestalt kam die Treppe herunter. Rothen blieb einige Schritte von Osen entfernt stehen und lächelte Sonea zu.

Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie sich ihrer Zuneigung zu dem älteren Magier bewusst und wollte gerade sein Lächeln erwidern, als ihr wieder einfiel, was sie in den nächsten Minuten tun musste, und hastig senkte sie den Blick. Rothen würde so enttäuscht von ihr sein…

Abermals wurden Schritte laut. Fergun war ebenfalls vorgetreten. Auch er bedachte sie mit einem Lächeln. Sie unterdrückte ein Schaudern und sah stattdessen zu dem Administrator hinauf.

»Sowohl Lord Rothen als auch Lord Fergun haben den Antrag gestellt, zu Soneas Mentor ernannt zu werden«, erklärte Lorlen dem Publikum. »Beide glauben, sie seien die ersten Magier gewesen, die ihr Potenzial erkannt haben. Wir müssen jetzt darüber befinden, welchem der beiden Männer wir Recht geben wollen. Die weitere Leitung der Anhörung möchte ich meinem Assistenten, Lord Osen, überlassen.«

Der junge Mann, der sie in den Raum begleitet hatte, trat vor. Sonea holte tief Luft, starrte zu Boden und versuchte, sich für das Kommende zu wappnen.


»Lord Rothen.«

Rothen wandte sich zu Lord Osen um.

»Würdet Ihr uns bitte von den Ereignissen berichten, die dazu geführt haben, dass Ihr Sonea als potenzielle Magierin erkannt habt?«

Rothen nickte und räusperte sich. »An dem Tag, an dem ich Soneas Kräfte erkannte – dem Tag der Säuberung –, war ich zusammen mit Lord Fergun zum Dienst eingeteilt. Wir waren auf dem Nordplatz angekommen und ließen unsere Kräfte in den Schutzschild einfließen. Wie immer fingen einige junge Leute an, mit Steinen zu werfen. Ich stand Lord Fergun gegenüber. Der Schild war ungefähr drei Schritte von uns entfernt, zu meiner Linken. Am Rand meines Gesichtsfelds sah ich in der Nähe des Schildes einen Lichtblitz, und im gleichen Moment geriet der Schild ins Wanken. Ich sah einen Stein durch die Luft fliegen, unmittelbar bevor er Lord Fergun an der Schläfe traf und ihn bewusstlos schlug.«

Rothen hielt inne und blickte zu Fergun hinüber. »Ich habe Lord Fergun aufgefangen, und als ich ihn auf den Boden gelegt hatte, habe ich Ausschau nach der Person gehalten, die den Stein geworfen hatte. Das war der Moment, in dem ich Sonea sah.«

Osen machte einen Schritt auf Rothen zu. »Das war also das erste Mal, dass Ihr Sonea gesehen habt?«

»Ja.«

Osen verschränkte die Arme vor der Brust. »Habt Ihr zu irgendeiner Zeit beobachten können, wie Sonea Magie wirkte?«

Rothen zögerte. »Nein, das habe ich nicht«, gestand er widerstrebend. Ein Raunen lief durch die Reihen der Magier zu seiner Rechten, aber als Lord Osen in diese Richtung blickte, kehrte sofort wieder Stille ein.

»Woher wusstet Ihr, dass sie es war, die den Stein geworfen hatte?«

»Ich habe die Richtung abgeschätzt, aus der der Stein gekommen war, und bin zu dem Schluss gekommen, dass nur zwei junge Leute als Werfer in Frage kamen«, erklärte Rothen. »Einer davon war ein Junge, aber er interessierte sich gar nicht für das Geschehen. Sonea dagegen starrte voller Überraschung auf ihre Hände. Dann sah sie mich an, und ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie den Stein geworfen hatte.«

»Und Ihr haltet es für ausgeschlossen, dass Lord Fergun Sonea vor Euch entdeckt haben könnte?«

»Allerdings. Lord Fergun kann Sonea an diesem Tag überhaupt nicht gesehen haben«, erwiderte Rothen trocken, »und zwar aufgrund der unglücklichen Natur seiner Verletzung.«

Einige Magier kicherten verstohlen, andere hüstelten. Lord Osen nickte, dann wandte er sich ab und trat vor Fergun hin.

»Lord Fergun«, sagte er, »würdet Ihr uns bitte von den Ereignissen des Tages berichten, wie Ihr sie erlebt habt.«

Fergun neigte den Kopf. »Ich habe, wie Rothen es bereits beschrieben hat, an der Aufrechterhaltung des Schilds auf dem Nordplatz mitgewirkt. Eine Gruppe junger Leute begann, uns mit Steinen zu bewerfen. Ich habe festgestellt, dass es etwa zehn Personen waren. Eine davon war ein junges Mädchen.« Fergun blickte zu Sonea hinüber. »Ich fand ihr Benehmen eigenartig, deshalb habe ich sie aus den Augenwinkeln weiterhin beobachtet. Als sie ihren Stein warf, dachte ich mir natürlich nichts dabei, bis ich einen Lichtblitz wahrnahm. In dem Moment wurde mir klar, dass sie etwas getan haben musste, um die Barriere zu durchdringen.« Fergun lächelte. »Das überraschte mich so sehr, dass ich, statt zuerst den Stein abzuwehren, in ihre Richtung sah, um mich davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich diejenige war, die die Störung verursacht hatte.«

»Also habt Ihr Soneas magisches Potenzial bemerkt, nachdem der Stein den Schild durchbrochen hatte, und bevor Ihr getroffen wurdet.«

»Ja«, antwortete Fergun.

Lautes Stimmengewirr hallte daraufhin durch den Raum. Rothen knirschte mit den Zähnen und widerstand dem Drang, Fergun wütend anzustarren. Die Geschichte des Kriegers war eine Lüge. Fergun hatte zu keiner Zeit zu Sonea hinübergesehen. Rothen warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie stand still und mit herabhängenden Schultern in der Dunkelheit. Er hoffte, dass ihr klar war, wie wichtig ihre Darstellung für die Bestätigung seiner Version sein würde.

»Lord Fergun.«

Als diese neue Stimme erklang, senkte sich abermals Schweigen über die Halle. Es war Lady Vinara, die sprach. Die Heilerin sah Fergun mit ihrem berühmten, unbewegten Blick an.

»Wenn Ihr Sonea beobachtet habt, wie kommt es dann, dass Euch der Stein an der rechten Schläfe getroffen hat? Für mich würde das darauf schließen lassen, dass Ihr zu dieser Zeit Rothen angesehen habt.«

Fergun nickte. »Es ist alles sehr schnell gegangen, Lady«, sagte er. »Ich habe den Blitz gesehen und aus den Augenwinkeln zu Sonea hinübergeschaut. Es war nur ein flüchtiger Blick – und ich erinnere mich daran, dass ich meinen Partner fragen wollte, ob er beobachtet habe, was dieses Mädchen getan hatte.«

»Ihr habt nicht einmal versucht, dem Stein auszuweichen?«, fragte Lord Balkan mit ungläubigem Tonfall.

Fergun lächelte kläglich. »Ich bin es nicht gewohnt, dass man mit Steinen nach mir wirft. Ich vermute, in dem Moment war die Überraschung einfach stärker als der Instinkt, den Kopf einzuziehen.«

Lord Balkan sah die Magier neben sich an, erhielt aber als Antwort nur ein Achselzucken. Als keine weiteren Fragen mehr kamen, nickte Osen und wandte sich wieder Rothen zu.

»Lord Rothen, könnt Ihr bestätigen, dass Fergun zu Sonea hinübergesehen hat, nachdem der Stein die Barriere durchbrochen hatte und bevor er getroffen wurde?«

»Nein«, erwiderte Rothen und gab sich alle Mühe, den Ärger aus seiner Stimme herauszuhalten. »Er hat mit mir gesprochen. Der Stein hat ihn mitten im Satz unterbrochen.«

Osen zog die Augenbrauen in die Höhe. Er sah zu den Höheren Magiern hinüber, bevor er sich wieder an das Publikum wandte. »Kann irgendjemand eine Darstellung beisteuern, die dem Gehörten widerspricht oder es ergänzt?«

Stille antwortete ihm. Osen nickte langsam und drehte sich zu Sonea um.

»Dann möchte ich Sonea als Zeugin des Vorfalls aufrufen.«

Sonea trat aus der Dunkelheit am Rand der Halle und blieb einige Schritte entfernt von Fergun stehen. Sie sah zu den Höheren Magiern auf, dann verbeugte sie sich hastig.

Ein Stich des Mitleids durchzuckte Rothen. Noch vor wenigen Wochen hatte Sonea furchtbare Angst vor ihm gehabt, und jetzt stand sie in einer Halle voller Magier, die sie alle eindringlich betrachteten.

Osen lächelte ihr aufmunternd zu. »Sonea«, sagte er. »Bitte erzähl uns deine Version der Ereignisse, über die wir hier sprechen.«

Sie schluckte. »Ich war mit den anderen Jungen und Mädchen zusammen. Sie haben Steine geworfen. Ich beteilige mich normalerweise nicht daran – im Allgemeinen bin ich bei solchen Gelegenheiten bei meiner Tante geblieben.« Sie errötete und sprach dann hastig weiter. »Irgendwie bin ich in die Sache hineingeraten. Am Anfang habe ich selbst keine Steine geworfen. Ich habe die anderen beobachtet und die Magier. Ich erinnere mich daran, dass ich… dass ich wütend war, und als ich dann doch einen Stein warf, habe ich all meine Wut in diesen Stein hineingelegt. Erst später wurde mir klar, dass ich irgendetwas getan hatte, aber in dem Moment war alles so … so verwirrend.« Sie brach ab, als müsse sie um Fassung ringen.

»Als ich den Stein warf, hat er die Barriere durchdrungen. Lord Fergun sah mich an, dann wurde er getroffen, und Ro… Lord Rothen fing ihn auf. Die übrigen Magier schauten in andere Richtungen, und dann sah ich, dass Lord Rothen mich beobachtete. Danach bin ich weggelaufen.«

Eine kalte Woge der Ungläubigkeit schlug über Rothen zusammen. Er starrte Sonea an, aber diese hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet. Er wandte sich zu Fergun um, um dessen Lippen ein hinterhältiges Lächeln spielte. Als der Krieger spürte, dass er beobachtet wurde, erlosch das Lächeln.

Rothen konnte nur hilflos die Fäuste ballen, während die übrigen Mitglieder der Gilde ihrer Zustimmung Ausdruck verliehen.


Das Bild von der Gildehalle, das Dannyl von Rothen auffing, verschwamm, als Wut, Ungläubigkeit und Kränkung in Dannyls Geist fluteten. Erschrocken blieb er stehen.

Was ist passiert, Rothen?

Sie hat gelogen! Sie hat Ferguns Lüge bekräftigt!

Vorsicht!, warnte Dannyl seinen Freund. Man wird dich hören.

Das ist mir egal. Ich weiß, dass er lügt!

Vielleicht hat sie die Dinge auf dem Nordplatz so erlebt.

Nein. Fergun hat niemals in ihre Richtung gesehen. Ich habe mich mit ihm unterhalten, erinnerst du dich?

Dannyl seufzte und schüttelte den Kopf. Endlich hatte Rothen Ferguns wahren Charakter durchschaut. Er hätte sich darüber freuen sollen, aber wie konnte er das in dieser Situation? Fergun hatte einmal mehr gewonnen.

Oder vielleicht nicht?

Dannyl trommelte mit den Fingern an eine Mauer.

Hast du schon irgendetwas gefunden?

Nein, aber ich setze meine Suche fort.

Wir brauchen mehr Zeit. Nachdem Sonea Fergun unterstützt hat, werden sie wahrscheinlich bereits in den nächsten Minuten eine Entscheidung treffen.

Du musst sie irgendwie aufhalten.

-Wie?

Bitte darum, dass man dich mit ihr sprechen lässt.

Rothens Aura verschwand, als er seine Aufmerksamkeit wieder der Anhörung zuwandte. Dannyl schnitt eine Grimasse und besah sich die Mauern, die ihn umgaben. Jeder Magier wusste, dass es innerhalb der Universität Eingänge zu den unterirdischen Tunneln gab. Ihm war klar, dass diese Eingänge gut versteckt sein mussten, denn anderenfalls hätten die Novizen ständig gegen die Vorschrift verstoßen.

Wie erwartet, hatte eine einfache Durchsuchung der Flure und Gänge keinerlei Ergebnisse gezeitigt. Er war zwar davon überzeugt, dass er irgendwann etwas finden würde, wenn er die Mauern nur gründlich genug untersuchte, aber dafür blieb keine Zeit mehr.

Er brauchte irgendeinen Fingerzeig. Fußspuren vielleicht. Die unterirdischen Tunnel waren wahrscheinlich sehr staubig. Fergun musste irgendwelche Spuren hinterlassen haben. Den Blick auf den Boden geheftet, ging Dannyl noch einmal durch den Korridor.

Als er um eine Ecke bog, stieß er mit einer kleinen, rundlichen Frau zusammen. Die Frau keuchte überrascht auf, dann trat sie zurück, eine Hand aufs Herz gedrückt.

»Verzeiht mir, Mylord!« Sie verbeugte sich, und das Wasser in ihrem Eimer schwappte über. »Ich habe Euch gar nicht kommen hören!«

Dannyl betrachtete den Eimer und unterdrückte ein Stöhnen. Falls Fergun irgendwelche Spuren hinterlassen hatte, hatten die Diener sie regelmäßig beseitigt. Die Frau schob sich an ihm vorbei und eilte den Gang hinunter. Als er ihr nachsah, kam ihm der Gedanke, dass sie wahrscheinlich mehr über die inneren Korridore der Universität wusste als jeder Magier.

»Warte!«, rief Dannyl.

Sie blieb stehen. »Ja, Mylord?«

Dannyl ging auf sie zu. »Machst du immer in diesem Teil der Universität sauber?«

Sie nickte.

»Hast du hier in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt? Schmutzige Fußspuren zum Beispiel?«

Die Lippen der Dienerin wurden schmal. »Irgendjemand hat Essen auf den Fußboden geworfen. Die Novizen dürfen nichts zu essen hier hereinbringen.«

»Essen. Aha. Wo hast du es gefunden?«

Die Dienerin warf ihm einen eigenartigen Blick zu, dann führte sie ihn zu einem Gemälde weiter unten im Korridor.

»Das Gemälde war auch schmutzig«, sagte sie. »Als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht.«

»Ich verstehe.« Dannyl beäugte das Gemälde. Es zeigte einen Strand, und in den Rahmen waren winzige, spiralförmige Muscheln eingeritzt. »Vielen Dank«, sagte er. »Du darfst jetzt gehen.«

Die Frau zuckte die Achseln, verbeugte sich hastig und eilte davon. Dannyl unterzog das Gemälde einer genauen Untersuchung, dann nahm er es von der Wand. Dahinter kam die Holzvertäfelung zum Vorschein, die man in den inneren Korridoren überall finden konnte. Er strich mit der Hand darüber, streckte seine Sinne nach dem Gemäuer aus und sog scharf die Luft ein, als er metallene Gebilde dahinter wahrnahm. Bei einer genaueren Untersuchung gab ein Teil der Vertäfelung unter seinen tastenden Fingern nach.

Ein leisen Kratzen folgte, und ein Teil der Mauer glitt zur Seite. Dunkelheit und kalte Luft schlugen ihm entgegen: Triumphierend schob er das Gemälde an seinen Platz zurück, schuf eine Lichtkugel und trat durch die Öffnung.

Zu seiner Linken führte eine steile Treppe in die Tiefe. Nachdem er einen Hebel an der Innenseite der Tür gefunden hatte, drückte Dannyl dagegen, und die Tür schloss sich. Lächelnd ging er die Treppe hinunter.

Der Korridor war schmal, und Dannyl musste sich bücken, um sich nicht den Kopf an der Decke zu stoßen. In den Ecken hingen Faren-Netze. Als er die erste Abzweigung erreichte, griff er in eine Tasche und zog ein Fläschchen mit einer farbigen Paste heraus. Er entkorkte die kleine Flasche und rieb ein wenig von dem Inhalt auf die Mauer neben sich.

Die Paste würde sich während der nächsten Stunden in eine klare, harte Substanz verwandeln, ein Wegweiser, der schon bald beinahe unsichtbar sein würde. Selbst wenn er tatsächlich mehrere Stunden hier unten zubringen musste, würde er auf diese Weise wieder hinausfinden.

Er senkte den Blick und lachte laut auf.

Eine dicke Staubschicht überzog den Boden – durchbrochen von deutlichen Fußspuren. Dannyl hockte sich hin und erkannte die vertrauten Abdrücke von Stiefeln, wie Magier sie zu tragen pflegten. Die Zahl der Spuren ließ keinen Zweifel daran, dass irgendjemand viele Male hier entlanggegangen sein musste.

Er erhob sich und folgte den Fußspuren einige hundert Schritte weit. Als er zu einer weiteren Abzweigung kam, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass die Spuren sowohl den Hauptkorridor hinunterführten als auch durch einen der neueren Gänge. Wieder ging er in die Hocke und sah sich die Abdrücke genau an: Es waren nur vier zu erkennen, zwei von Magierstiefeln und zwei von kleineren Schuhen. Die Abdrücke im Hauptkorridor waren frischer und zahlreicher.

Plötzlich drang ein schwaches Geräusch an seine Ohren – ein sehr menschlich klingender Seufzer. Dannyl erstarrte, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Dunkelheit jenseits seiner Lichtkugel schien jetzt voller unangenehmer Möglichkeiten zu sein, und mit einem Mal war er davon überzeugt, dass irgendetwas ihn beobachtete.

Lächerlich, sagte er sich. Hier unten ist nichts, absolut nichts.

Dannyl holte tief Luft, richtete sich auf und zwang sich, sich ausschließlich auf die Spuren zu konzentrieren. Er folgte ihnen noch einmal etwa hundert Schritte weit und entdeckte weitere Nebenkorridore mit älteren Abdrücken.

Wieder beschlich ihn die beklemmende Gewissheit, dass er verfolgt wurde. Hinter seinen Schritten war das Echo weiterer, leiserer Schritte zu hören. Ein schwacher, kaum merklicher Lufthauch wehte ihm den Geruch von Fäulnis entgegen und von etwas, das lebendig war, aber sehr schmutzig…

Er bog um eine Ecke. Etwa zwanzig Schritte vor ihm endeten die Fußspuren – vor einer Tür. Er machte einen Schritt nach vorn, dann wurde er plötzlich stocksteif vor Entsetzen. Eine Gestalt trat aus einem Seitengang.

»Lord Dannyl. Dürfte ich nach den Gründen für Eure Anwesenheit hier unten fragen?«

Dannyl starrte den Mann an, und sein Geist schien sich in zwei Teile aufzuspalten. Während der eine Teil wirre Entschuldigungen plapperte, musste der andere hilflos zusehen, wie der erste sich zum Narren machte.

Und am Rande seines Geistes tauchte eine vertraute Aura auf, die gleichzeitig Mitgefühl und selbstgefällige Befriedigung verströmte.

Ich habe dir doch gesagt, dass du da nicht hingehen sollst, sagte Rothen.


In der lichtlosen Stille wirkte das Knurren seines Magens überlaut. Cery rieb sich den Bauch und setzte sein Auf und Ab durch den Raum fort.

Er war inzwischen davon überzeugt, dass seit seiner letzten Mahlzeit mehr als ein Tag verstrichen sein musste, was bedeutete, dass Soneas Besuch jetzt eine Woche zurücklag. Er lehnte sich an die Tür und wünschte Fergun jedes schmutzige Gebrechen an den Hals, das ihm einfiel. Zwischen zwei Flüchen hörte er Schritte von draußen und erstarrte.

Sein Magen knurrte wild und hungrig. Die Schritte verlangsamten sich, als wollten sie ihn verhöhnen. Sie kamen näher, dann blieben sie stehen. Das leise Geräusch von Stimmen drang zu ihm. Zwei Stimmen. Beide männlich.

Er holte hastig Luft und presste das Ohr gegen die Tür. »…Tunnel sind sehr ausgedehnt. Man kann leicht die Orientierung verlieren. Es ist schon vorgekommen, dass Magier tagelang hier unten umherirrten und vollkommen ausgehungert wieder auftauchten. Ich schlage Euch vor, Ihr kehrt auf demselben Weg zurück, auf dem Ihr gekommen seid.« Die Stimme war streng und fremd.

Eine andere Stimme antwortete. Cery schnappte nur wenige Worte auf, begriff aber, dass der andere Magier sich entschuldigte. Auch diese Stimme kam ihm fremd vor, aber er konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass Ferguns Stimme schwach und schrill klingen würde, wenn er derart ins Stottern geriet.

Der strenge Magier schien Ferguns Anwesenheit in den Korridoren offensichtlich zu missbilligen. Daher war es unwahrscheinlich, dass es ihm gefallen würde, zu erfahren, dass Fergun hier unten Gefangene hielt. Cery brauchte also nur laut zu rufen oder gegen die Tür zu hämmern, und Ferguns Falle würde sich öffnen.

Er hob die Faust, hielt dann jedoch inne, als die Stimmen verstummten. Hastige Schritte entfernten sich, andere kamen näher. Cery biss sich auf die Unterlippe und trat von der Tür zurück. Welcher der beiden Magier war es? Fergun oder der strenge Fremde?

Das Schloss klickte. Cery zog sich hastig an die gegenüberliegende Wand zurück. Als die Tür geöffnet wurde, fiel helles Licht in den Raum, und Cery schloss die Augen.

»Wer bist du?«, erklang eine dröhnende, unvertraute Stimme. »Was machst du hier unten?«

Als Cery die Augen öffnete, verdrängte Erstaunen seine anfängliche Erleichterung, als er den Mann erkannte, der in der Tür stand.

29 Leben unter Magiern

»Soneas Meinung nach tut er das, damit niemals mehr jemand auf die Idee kommt, Hüttenleute könnten Magier sein«, beendete Cery seine Erklärungen.

Der Magier kniff die Augen zusammen. »Das klingt allerdings ganz nach Fergun.« Er schwieg einen Moment, bevor er mit nachdenklicher Miene zu sprechen fortfuhr. »Gerade eben findet in der Gildehalle die Anhörung statt. Ich kann Ferguns Verbrechen offenbaren, aber nur wenn ich einen Beweis dafür habe, dass er der Mann ist, von dem du sprichst.«

Cery seufzte und sah sich in dem Raum um. »Ich habe nichts außer den Dingen, die er mir gegeben hat, aber er hat mein Messer und meine Werkzeuge. Wäre es genug, wenn Ihr diese Dinge bei ihm finden würdet?«

Der Mann schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Was ich brauche, liegt in deiner Erinnerung. Wirst du mir gestatten, in deinen Gedanken zu lesen?«

Cery starrte den Magier an. In seinen Gedanken lesen?

Er hatte Geheimnisse. Dinge, die sein Vater ihm erzählt hatte. Dinge, die Faren ihm erzählt hatte. Dinge, die selbst Faren nicht wusste. Was, wenn der Magier all das sah?

Aber wenn ich ihn nicht in meinen Gedanken lesen lasse, kann ich Sonea nicht retten.

Eine Hand voll schäbiger kleiner Geheimnisse durfte ihn nicht daran hindern, ihr beizustehen – außerdem würde der Magier diese Dinge vielleicht gar nicht finden. Also schluckte Cery seine Angst herunter und sah den Mann an.

»Sicher. Tut es.«

Der Magier warf Cery einen ernsten Blick zu. »Es wird dir weder Schaden zufügen noch dich verletzen. Schließ die Augen.«

Cery holte tief Luft und gehorchte. Sogleich konnte er die Berührung von Fingern an seinen Schläfen spüren. Und dann wurde er sich eines anderen Geistes bewusst, der hinter seine eigenen Gedanken zu schlüpfen schien. Einen Moment später erklang eine Stimme von… von irgendwoher.

Denk an den Tag zurück, an dem wir deine Freundin gefangen haben.

Eine Erinnerung blitzte vor Cerys Augen auf. Der andere Geist schien sie aufzufangen und festzuhalten. Mit einem Mal stand Cery in einer verschneiten Gasse. Es war wie eine Vision, klar, aber nicht allzu detailliert. Er sah Sonea weglaufen und spürte ein Echo der Furcht und der Verzweiflung, die ihn übermannt hatten, als er gegen die unsichtbare Barriere hämmerte, die sie beide trennte. Dann drehte er sich um und sah einen Mann in einem wallenden Umhang hinter sich stehen.

Ist das der Mann, der dich gefangen hat?

Ja.

Zeig mir, wie.

Wieder zuckte eine Erinnerung durch seine Gedanken, und wieder wurde diese Erinnerung festgehalten und noch einmal abgespult. Er stand vor dem Magierquartier und blickte zu Sonea auf. Fergun erschien. Er jagte ihn. Fing ihn ein. Der blaugewandete Magier und sein Begleiter erschienen und brachten Cery zu Sonea. Seine Erinnerung eilte weiter. Er verabschiedete sich von Sonea und ging durch das Magierquartier. Fergun schlug ihm vor, den Weg durch die Universität zu nehmen. Sie betraten das Gebäude und wanderten durch die Korridore.

Dann öffnete Fergun die Geheimtür und stieß ihn hindurch. Er spürte die Augenbinde auf seinem Gesicht und hörte seine eigenen Schritte, als er durch den unterirdischen Tunnel ging. Er sah die Zelle, trat hinein, hörte die Tür ins Schloss fallen…

Wann hast du ihn das nächste Mal gesehen?

Erinnerungen an die Besuche des Magiers folgten. Cery beobachtete, wie Fergun ihn durchsuchte und beraubte, dann durchlebte er noch einmal seinen gescheiterten Angriff auf den Mann und die anschließende Heilung. Er sah Sonea in den Raum treten und hörte noch einmal das Gespräch, das sie miteinander geführt hatten.

Danach strich der andere Geist sanft über den seinen, bevor er zu verblassen schien. Cery spürte, dass der Magier die Finger von seinen Schläfen nahm. Er schlug die Augen auf.

Der Magier nickte. »Das ist mehr als genug«, sagte er. »Komm mit mir. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch an der Anhörung teilnehmen wollen.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Cery folgte ihm, und eine Woge der Erleichterung schlug über ihm zusammen, als er aus der Zelle trat. Er drehte sich noch einmal kurz um, dann eilte er hinter seinem Retter her.

Der Mann bewegte sich so schnell, dass Cery Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Sie bogen in einen anderen Gang ein und wechselten noch mehrmals die Richtung. Keiner der Tunnel kam Cery bekannt vor.

Nach einer Weile erreichten sie eine Treppe. Der Magier stieg die Stufen hinauf und bückte sich dann, um die Mauer zu betrachten. Als Cery einen kleinen Lichtkreis um das Auge des Magiers herum sah, vermutete er, dass in der Wand ein Guckloch eingelassen sein musste.

»Ich möchte mich für Eure Hilfe bedanken«, sagte er leise. »Ein kleiner Dieb wie ich kann Euch wahrscheinlich keine Gegenleistung anbieten, aber solltet Ihr jemals irgendetwas benötigen, braucht Ihr nur zu fragen.«

Der Magier richtete sich auf und sah ihn gelassen an. »Weißt du, wer ich bin?«

Cery errötete. »Natürlich. Es gibt nichts, was ich einem wie Euch zu bieten hätte. Trotzdem erschien es mir richtig, es Euch anzubieten.«

Ein geisterhaftes Lächeln spielte um die Lippen des Magiers. »Hast du wirklich ernst gemeint, was du gesagt hast?«

Cery, dem plötzlich beklommen zumute war, trat von einem Fuß auf den anderen. »Natürlich«, antwortete er widerstrebend.

Das Lächeln des Mannes wurde ein wenig deutlicher. »Ich werde dich nicht zwingen, einen Handel mit mir zu schließen. Ganz gleich, was du sagst, Ferguns Taten müssen offenbart und bestraft werden. Deine Freundin wird frei sein, zu gehen, wenn es das ist, was sie will.« Er hielt inne, und seine Augen wurden eine Spur schmaler. »Aber es ist möglich, dass ich irgendwann einmal Kontakt zu dir aufnehmen werde. Ich werde dich um nichts bitten, was deine Möglichkeiten übersteigt, und ich werde auch nichts verlangen, was deinen Platz bei den Dieben gefährdet. Du wirst selbst entscheiden können, ob das, worum ich bitte, annehmbar ist.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Klingt das vernünftig?«

Cery senkte den Blick. Was der Mann vorschlug, war mehr als vernünftig. Unwillkürlich nickte er. »Ich bin einverstanden.«

Der Magier hielt ihm die Hand hin, und Cery schlug ein. Er sah den Mann an, der seinen Blick ohne einen Wimpernschlag erwiderte.

»Abgemacht«, sagte Cery.

»Abgemacht«, wiederholte der Magier. Dann wandte er sich wieder der Mauer zu. Nachdem er noch einmal durch das Guckloch gespäht hatte, griff er nach einem Hebel und zog daran. Das Paneel glitt zur Seite. Der Magier trat hindurch, und sein Licht folgte ihm.

Cery eilte ihm hinterher und fand sich in einem großen Raum wieder. An einem Ende des Raums standen ein Schreibpult und mehrere Stühle.

»Wo bin ich?«

»In der Universität«, antwortete der Mann und ließ das Paneel wieder an seinen Platz zurückgleiten. »Folge mir.«

Der Magier durchquerte den Raum und öffnete eine Tür, durch die sie in einen breiten Korridor gelangten. Zwei grüngewandete Magier blieben stehen, um ihn anzustarren, bevor sie sich seinem Führer zuwandten. Mit einem überraschten Blinzeln neigten sie respektvoll den Kopf.

Der Magier beachtete sie nicht, sondern setzte seinen Weg bis zum Ende des Korridors fort. Cery ging dicht hinter ihm her. Als sie durch eine weitere Tür kamen, blickte Cery auf, und ihm stockte der Atem. Sie befanden sich in einem Raum voller fantastischer Wendeltreppen. Auf der einen Seite der Halle standen die Türen der Universität weit offen, und dahinter konnte man schneebedeckten Boden und einen Teil der Inneren Stadt erkennen. Cery drehte sich einmal im Kreis, bevor er feststellte, dass der Magier bereits weitergegangen war.

»Das wird Harrin mir niemals glauben«, murmelte er, während er seinem Führer hinterhereilte.

»So ist es nicht gewesen«, sagte Rothen zu Sonea.

Sonea wandte den Blick ab. »Ich weiß, was ich gesehen habe«, erwiderte sie. »Verlangt Ihr von mir zu lügen?« Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund. Sie schluckte und versuchte, verwirrt dreinzuschauen.

Rothen starrte sie an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das verlange ich nicht. Sollte sich herausstellen, dass du heute gelogen hast, würden sich vermutlich viele gegen den Gedanken sperren, dich in die Gilde aufzunehmen.«

»Genau deswegen musste ich sagen, was ich gesagt habe.«

Rothen seufzte. »Dann hat es sich deiner Meinung nach tatsächlich so abgespielt?«

»Das habe ich doch gesagt, oder?« Sonea warf ihm einen flehentlichen Blick zu. »Macht es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist, Rothen.«

Seine Miene wurde weicher. »Also gut. Vielleicht habe ich an diesem Tag etwas übersehen. Es ist eine Schande, aber es lässt sich nicht ändern.« Er schüttelte den Kopf. »Mir werden unsere Unterrichtsstunden fehlen, Sonea. Falls es –«

»Lord Rothen.«

Sie drehten sich um und sahen, dass Osen auf sie zukam. Rothen seufzte abermals, dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Als Fergun auf sie zutrat, musste sie ein Stöhnen unterdrücken.

Nachdem Rothen darum gebeten hatte, sie allein sprechen zu dürfen, hatte Fergun prompt das Gleiche getan. Was wollte er ihr sagen? Sie hatte jetzt nur noch den einen Wunsch, die Anhörung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Fergun bedachte sie mit einem Übelkeit erregenden Lächeln. »Es läuft alles wie geplant?«, fragte er.

»Ja.« Sie nickte.

»Gut«, erwiderte er selbstzufrieden. »Sehr gut. Deine Geschichte war überzeugend, wenn auch ein wenig schlecht formuliert. Aber wie dem auch sei, sie hatte eine erfrischende Aufrichtigkeit.«

»Freut mich, dass sie Euch gefallen hat«, entgegnete sie trocken.

Er blickte zu den Höheren Magiern empor. »Ich glaube kaum, dass sie die Diskussion noch lange hinauszögern werden. Sie werden schon bald zu einer Entscheidung kommen. Danach werde ich veranlassen, dass man dir ein Zimmer im Novizenquartier gibt. Du solltest lächeln, Sonea. Die Leute sollen glauben, du wärst überglücklich bei der Aussicht, meine Novizin zu werden.«

Seufzend zog sie die Mundwinkel hoch und hoffte, dass die Magier in den Sitzreihen über ihr ihre Grimasse für ein Lächeln halten würden.

»Das reicht mir jetzt«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lasst es uns endlich hinter uns bringen.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »O nein. Ich will meine vollen zehn Minuten.«

Sonea presste die Lippen aufeinander und beschloss, kein Wort mehr zu sagen. Auf seine nächste Frage antwortete sie einfach nicht. Als sie den Ärger in seinen Augen aufflackern sah, fiel ihr das Lächeln mit einem Mal sehr viel leichter.

»Lord Fergun?«

Lord Osen winkte sie zu sich heran. Sonea atmete erleichtert auf, dann folgte sie Fergun zurück in den vorderen Teil der Halle. Der Raum war noch immer vom Summen vieler Stimmen erfüllt. Osen hob die Hände.

»Ruhe, bitte.«

Erwartungsvolle Stille legte sich über die Halle.

Sonea konnte aus den Augenwinkeln Rothen sehen, der sie beobachtete. Abermals durchzuckten sie Gewissensbisse.

»Die Berichte, die wir heute gehört haben, zeigen deutlich, dass Lord Fergun der Erste war, der Soneas Fähigkeiten erkannt hat«, erklärte Lord Osen. »Legt irgendjemand Widerspruch gegen diese Schlussfolgerung ein?«

»Ich.«

Die Stimme klang tief und seltsam vertraut, und sie kam von irgendwo hinter ihr. Jähe Unruhe breitete sich in der Halle aus. Sonea drehte sich um und sah, dass eine der riesigen Türen einen Spaltbreit offen stand. Zwei Gestalten kamen den Gang hinunter auf sie zu.

Als sie den kleineren der beiden Männer erkannte, stieß sie einen Freudenschrei aus.

»Cery!«

Sie machte einen Schritt nach vorn – und erstarrte, als sie Cerys Begleiter erkannte. Ein Raunen ging durch die Halle, und geflüsterte Fragen drangen an Soneas Ohren. Als der schwarzgewandete Magier näher trat, bedachte er sie mit einem prüfenden Blick. Verstört wandte Sonea sich Cery zu.

Obwohl er blass und schmutzig war, lag auf Cerys Zügen ein glückliches Grinsen. »Er hat mich gefunden und freigelassen«, erklärte er ihr. »Es wird alles gut.«

Sonea sah den schwarzgekleideten Magier fragend an. Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, aber er sagte nichts. Stattdessen schob er sich an ihr vorbei, begrüßte Osen mit einem knappen Nicken und ging dann die Treppe zwischen den Höheren Magiern hinauf. Niemand erhob Protest, als er sich auf den Stuhl über dem Administrator setzte.

»Aus welchem Grund fechtet Ihr diese Schlussfolgerung an, Hoher Lord?«, fragte Osen.

Sonea hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie starrte den Magier in der schwarzen Robe an. Dieser Mann war kein Meuchelmörder. Er war der Anführer der Gilde.

»Weil mir Beweise für einen Betrug vorliegen«, antwortete der Hohe Lord. »Das Mädchen wurde gezwungen zu lügen.«

Sonea hörte ein ersticktes Geräusch zu ihrer Rechten. Sie drehte sich um und sah, dass Fergun schneeweiß geworden war. Triumph und Wut loderten in ihr auf, sie vergaß den schwarzgewandeten Magier und zeigte auf Fergun.

»Er hat mich gezwungen zu lügen!«, rief sie anklagend. »Er hat gesagt, wenn ich ihm nicht gehorche, würde er Cery töten.«

Ein überraschtes Murmeln und Zischen wurde laut. Sonea spürte, dass Cery ihren Arm umklammerte. Sie drehte sich zu Rothen um, und als ihr Blick dem seinen begegnete, wusste sie, dass er alles verstand.

»Es ist eine Anklage erhoben worden«, bemerkte Lady Vinara.

Sofort kehrte wieder Stille ein. Rothen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, runzelte dann jedoch die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Sonea. Kennst du das Gesetz, das im Falle einer solchen Anklage zur Anwendung kommt?«, fragte Lord Osen.

Sonea sog scharf die Luft ein, als sie sich daran erinnerte. »Ja«, antwortete sie mit zitternder Stimme. »Eine Wahrheitslesung?«

Osen nickte, dann wandte er sich den Höheren Magiern zu. »Wer wird die Wahrheitslesung durchführen?«

Stille folgte. Die Höheren Magier tauschten Blicke, dann sahen sie zu Lorlen hinüber. Der Administrator nickte und erhob sich von seinem Stuhl.

»Ich werde die Wahrheitslesung durchführen.«

Als er die Treppe herunterkam, zupfte Cery Sonea am Ärmel. »Was wird er tun?«, flüsterte er.

»Er wird meine Gedanken lesen«, antwortete sie.

»Oh«, erwiderte er merklich ruhiger. »Das ist alles?«

Erheitert drehte sie sich zu ihm um. »Es ist nicht ganz so einfach, wie du glaubst, Cery.«

Er zuckte die Achseln. »Mir schien es nicht weiter schwierig zu sein.«

»Sonea.«

Lorlen hatte sie erreicht.

»Siehst du Lord Rothen dort drüben, Cery?« Sie zeigte auf Rothen. »Er ist ein guter Mann. Stell dich neben ihn.«

Cery nickte, drückte noch einmal ihren Arm und ging davon. Als er bei Rothen angelangt war, wandte sich Sonea zu Lorlen um. Der Administrator beobachtete sie mit ernster Miene.

»Während deines Kontrollunterrichts hast du auch einmal eine Berührung von Geist zu Geist erlebt«, sagte er. »Dies hier wird ein wenig anders sein. Ich möchte deine Erinnerungen sehen. Du wirst dich sehr darauf konzentrieren müssen, die Dinge, die du mir zeigen willst, von allem anderen, was dich bewegt, zu trennen. Um dir zu helfen, werde ich dir konkrete Fragen stellen. Bist du bereit?«

Sie nickte.

»Schließ die Augen.«

Sie tat wie geheißen und spürte im nächsten Moment seine Hände an ihren Schläfen.

Zeig mir den Raum, der dein Geist ist.

Sonea zog die hölzernen Türen und Wände hoch und sandte Lorlen ein Bild des Raums. Sie nahm eine flüchtige Erheiterung bei dem Administrator wahr.

Ein wahrhaft bescheidenes Quartier. Jetzt öffne die Türen.

Sie drehte sich zu den Doppeltüren um und gab ihnen den Befehl, sich zu öffnen. Statt Häusern und einer Straße lag dahinter nur Dunkelheit. In der Dunkelheit stand eine blaugewandete Gestalt.

Hallo, Sonea.

Lorlens Bild lächelte. Er durchmaß die Dunkelheit und blieb an den Türen stehen. Dann streckte er die Hand aus und nickte Sonea zu.

Bring mich hinein.

Sie ergriff seine Hand, und bei ihrer Berührung schien sich der Raum unter seinen Füßen zu verschieben.

Hab keine Angst, sagte er. Ich werde mir deine Erinnerungen ansehen, und dann bin ich auch gleich wieder fort. Er trat zu einer Wand hinüber. Zeig mir Fergun.

Sonea konzentrierte sich auf die Wand und schuf ein Gemälde, in dem sie ein Bild von Ferguns Gesicht platzierte.

Gut. Jetzt zeig mir, was er getan hat, um dich zu zwingen, für ihn zu lügen.

Es kostete sie keinerlei Willensanstrengung, Ferguns Bild zu beleben. Das Gemälde schwoll an, bis es die ganze Wand ausfüllte und Rothens Gästezimmer zeigte. Fergun kam auf sie zu und legte Cerys Messer auf den Tisch vor ihr.

Ich habe den Besitzer dieses Messers in einen dunklen, kleinen Raum gesperrt, den niemand hier kennt

Die Szene verschwamm, dann hockte Fergun vor Sonea und Lorlen, weitaus größer, als er in Wirklichkeit war.

Tu, was ich dir sage, und ich werde deinen Freund freilassen. Mach mir Scherereien, und er wird für alle Zeit bleiben, wo er ist… Den Höheren Magiern wird dann nichts anderes übrig bleiben, als mich zu deinem Mentor zu bestimmen. Du wirst der Gilde beitreten, aber ich versichere dir, es wird nicht für lange sein. Sobald du eine kleine Aufgabe für mich erledigt hast, wird man dich dorthin zurückschicken, wo du hingehörst. Auf diese Weise bekomme ich, was ich will – und du ebenfalls. Du hast nichts zu verlieren, wenn du mir hilfst, aber… Er fuhr mit dem Finger über die Klinge von Cerys Dolch. Wenn du dich weigerst, wirst du deinen kleinen Freund verlieren.

Bei der Erinnerung daran schlug eine Woge des Zorns über Sonea zusammen. Einen Moment lang war sie abgelenkt, und das Bild verblasste, bis es mit der Wand verschmolz. Sie riss sich zusammen und befahl ihm, abermals zu erscheinen.

Als Nächstes beschwor sie ein Bild von Cery herauf, schmutzig und mager, und von dem Raum, in dem er eingekerkert gewesen war. Neben ihm stand, mit selbstgefälliger Miene, Fergun. Der Geruch von Essensresten und menschlichen Exkrementen floss von dem Gemälde in den Raum hinein.

Bei dieser Szene schüttelte das Bild von Lorlen den Kopf und wandte sich zu Sonea um.

Das ist ungeheuerlich! Wir können wahrhaft von Glück sagen, dass der Hohe Lord deinen Freund heute gefunden hat.

Bei der Erwähnung des schwarzgewandeten Magiers spürte Sonea, wie das Bild sich veränderte. Als sie sich wieder zu der Wand umdrehte, folgte Lorlen ihrem Blick und sog scharf die Luft ein.

Was ist das?

In dem Rahmen stand der Hohe Lord, angetan mit blutdurchtränkten Bettlerkleidern. Lorlen starrte Sonea fassungslos an.

Wann hast du diese Szene beobachtet?

Vor vielen Wochen.

Wie? Wo?

Sonea zögerte. Wenn sie Lorlen diese Erinnerung zeigte, würde er wissen, dass sie die Gilde unbefugt betreten hatte. Er war nicht in ihren Geist eingedrungen, um das zu sehen, und sie war davon überzeugt, dass er sich nicht beschweren würde, wenn sie ihn aus dem Bild hinausschob.

Aber ein Teil von ihr wollte, dass er es sah. Inzwischen drohte ihr keine Gefahr mehr, wenn die Magier von ihrem Erkundungszug durch die Gilde erfuhren, und sie wollte unbedingt eine Antwort auf das Rätsel des schwarzgekleideten Magiers.

Also schön. Angefangen hat es folgendermaßen

Das Bild veränderte sich und zeigte nun Cery, der Sonea durch die Gilde führte. Sie spürte Lorlens Überraschung und dann seine wachsende Erheiterung, als das Bild von Szene zu Szene sprang. Im einen Moment spähte sie durch ein Fenster, im nächsten rannte sie durch den Wald, und schließlich betrachtete sie die Bücher, die Cery gestohlen hatte. Jetzt war Lorlens Belustigung unverkennbar.

Wer hätte gedacht, dass Jerriks Bücher einen Weg zu dir gefunden haben? Aber was ist nun mit Akkarin?

Sie zögerte, diese Erinnerung zu enthüllen.

Bitte, Sonea. Er ist unser Anführer und mein Freund. Ich muss es wissen. War er verletzt?

Sonea beschwor die Erinnerung an einen Wald herauf und ließ sie in das Gedankenbild einfließen. Wieder bewegte sie sich zwischen den Bäumen hindurch auf das graue Haus zu. Der Diener erschien, und sie versteckte sich zwischen den Büschen und der Mauer.

Abermals tauchte der Hohe Lord in dem Bild auf, diesmal bekleidet mit einem schwarzen Umhang. Der Diener kam herbei, und Sonea spürte, dass Lorlen ihn erkannte.

Takan.

Es ist vollbracht, sagte der Hohe Lord, dann legte er seinen Umhang ab, und darunter kamen die blutbefleckten Kleider zum Vorschein. Angewidert blickte er an sich hinab. Hast du meine Roben mitgebracht?

Der Diener murmelte eine Antwort, und der Hohe Lord zog das Bettlerhemd aus. Der Ledergürtel, den er um die Taille trug, und die Dolchscheide kamen zum Vorschein. Er wusch sich, dann verschwand er kurz und kam in schwarzen Roben zurück.

Als Nächstes griff er nach der Scheide, zog den glitzernden Dolch heraus und wischte ihn an einem Tuch ab. Jetzt fing Sonea Überraschung und Verwirrung von Lorlen auf. Der Hohe Lord blickte seinen Diener an.

Der Kampf hat mich geschwächt, sagte er. Ich brauche deine Stärke.

Der Diener ließ sich auf ein Knie nieder und hielt ihm den Arm hin. Der Hohe Lord fuhr mit der Klinge über die Haut des Mannes und legte dann eine Hand auf die Wunde. Sonea spürte das Echo eines seltsamen Flatterns in ihrem Kopf.

Nein!

Eine Woge des Entsetzens schlug über ihr zusammen. Vor Schreck über die Wucht von Lorlens Gefühlen ließ Soneas Konzentration abrupt nach. Das Bild wurde schwarz, dann verschwand es zur Gänze.

Das kann nicht sein! Nicht Akkarin!

Was ist los? Ich verstehe das nicht. Was hat er getan?

Lorlen schien sich mit Macht zusammenzureißen. Sein Bild erlosch, und Sonea begriff, dass er ihren Geist verlassen hatte.

Beweg dich nicht und öffne auch nicht die Augen. Ich muss nachdenken, bevor ich ihm wieder gegenübertrete.

Einige Herzschläge lang schwieg er, dann kehrte seine Aura zurück.

Was du gesehen hast, ist verboten, erklärte er ihr. Es ist das, was wir schwarze Magie nennen. Mithilfe dieser Magie kann ein Magier von jedem lebenden Geschöpf, sei es Mensch oder Tier, Kraft beziehen. Dass Akkarin diese Magie benutzt hat, ist… ist unvorstellbar schrecklich. Er ist sehr mächtig – mächtiger als jeder andere von uns… Ah! Das muss der Grund für seine ungewöhnliche Kraft sein! Wenn das so ist, dann muss er diese verderbten Künste bereits praktiziert haben, bevor er aus dem Ausland zurückgekehrt ist

Lorlen hielt inne, um diesem Gedanken nachzugehen.

Er hat sein Gelübde gebrochen. Man sollte ihn seines Amtes entkleiden und verstoßen. Wenn er diese Kräfte benutzt hat, um zu töten, würde ihm seinerseits der Tod als Strafe drohenaber

Sonea spürte die Qual des Magiers. Erneut herrschte lange Zeit Stille in ihren Gedanken.

Lorlen?

Er schien sich wieder gefasst zu haben.

Ah, es tut mir Leid, Sonea. Er war mein Freund, seit wir beide als Novizen der Gilde beigetreten sind. So viele Jahre… Und ausgerechnet ich musste das entdecken!

Als er wieder zu sprechen begann, schwang in seinen Worten kalte Entschlossenheit mit.

Wir müssen ihn aus dem Amt entfernen, aber nicht jetzt. Er ist zu mächtig. Wenn wir ihn deswegen zur Rede stellen und er gegen uns kämpft, könnte er ohne Weiteres siegen – und jeder Mord, den er begeht, würde ihn stärker machen. Wenn sein Geheimnis offenbar wird und er keinen Grund mehr hat, sein Verbrechen zu verbergen, könnte er wahllos jeden töten, der sich ihm in den Weg stellt. Die ganze Stadt wäre in Gefahr.

Entsetzt über das, was sie hörte, schauderte Sonea.

-Hab keine Angst, Sonea, beschwichtigte Lorlen sie. Ich werde es nicht zulassen. Wir dürfen ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, bevor wir wissen, dass wir ihn besiegen können. Bis dahin darf niemand etwas von der Sache erfahren. Wir müssen unsere Vorbereitungen im Geheimen treffen. Das bedeutet, dass du niemals mit irgendjemandem über diesen Vorfall reden darfst. Hast du mich verstanden?

-Ja. Aber… müsst Ihr denn wirklich zulassen, dass er weiterhin der Anführer der Gilde bleibt?

-Bedauerlicherweise ja. Sobald ich weiß, dass wir stark genug sind, werde ich alle Magier um mich scharen. Ich werde sehr schnell handeln müssen und ohne Vorwarnung. Bis dahin darf außer dir und mir niemand etwas davon erfahren.

-Ich verstehe.

-Ich weiß, dass du zu den Hütten zurückkehren möchtest, Sonea, und es würde mich nicht überraschen, wenn diese Entdeckung dich in deinem Entschluss noch bestärkte, aber ich muss dich bitten zu bleiben. Wenn es zum Kampf kommt, werden wir alle Unterstützung brauchen, die wir bekommen können. Und obwohl mir der Gedanke nicht gefällt, befürchte ich, dass du ein verlockendes Opfer für ihn sein könntest. Er weiß, dass du sehr stark bist. Du wärst eine mächtige magische Quelle. Wenn man deine Kräfte blockiert und du nicht mehr in der Nähe jener lebst, die den Tod durch schwarze Magie erkennen können, wärst du das perfekte Opfer. Ich bitte dich um deinetwillen und um unseretwillen, bei uns zu bleiben.

Ihr wollt, dass ich hier lebe, direkt unter seiner Nase?

Ja. Du wirst in der Gilde sicherer sein.

Wenn Ihr mich nicht ohne die Hilfe der Diebe finden konntet, wie sollte es dann ihm gelingen?

Akkarin hat feinere Sinne als wir Übrigen. Als du angefangen hast, deine Kräfte zu benutzen, war er der Erste, der es wusste. Ich fürchte, dass er dich nur allzu leicht finden würde.

Sonea spürte, dass Lorlen ernsthafte Sorge um ihre Sicherheit hatte. Wie konnte sie dem Administrator der Gilde widersprechen? Wenn er glaubte, dass sie in Gefahr war, dann hatte er vermutlich Recht damit.

Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste bleiben. Zu ihrer Überraschung verspürte sie weder Zorn noch Enttäuschung darüber, nur Erleichterung. Cery hatte gesagt, dass sie sich nicht als Verräterin fühlen müsse, wenn sie Magierin wurde. Sie würde lernen, ihre Magie zu benutzen, würde sich die Künste der Heiler aneignen, und eines Tages würde sie mit ihrem Wissen vielleicht den Menschen helfen können, die sie verlassen hatte.

Außerdem stellte sie es sich ungemein befriedigend vor, die Pläne jener Magier zu vereiteln, die wie Fergun glaubten, dass Hüttenleute nicht in die Gilde aufgenommen werden sollten.

Ja, antwortete sie. Ich werde bleiben.

Ich danke dir, Sonea. Dann gibt es noch eine Person, die wir in unser Geheimnis einweihen müssen. Als dein Mentor könnte Rothen Grund haben, abermals in deinen Geist einzutreten, vor allem wenn die Zeit kommt, dich in der Heilkunst zu unterweisen. Er könnte dann ebenfalls sehen, was du mir heute gezeigt hast. Du musst Rothen von Akkarin erzählen und von all dem, was ich heute zu dir gesagt habe. Ich weiß, dass man sich auf sein Stillschweigen verlassen kann.

Ich werde es tun.

Gut. Jetzt werde ich dich loslassen und Ferguns Verbrechen bestätigen. Versuche, Akkarin gegenüber keine Angst zu zeigen. Wenn es dir hilft, dann sieh einfach nicht in seine Richtung – und sorge dafür, dass deine Gedanken tief in dir verborgen bleiben.

Lorlen nahm die Hände von Soneas Schläfen, und sie öffnete die Augen. Der Administrator warf ihr einen eindringlichen Blick zu, dann verschwand jeder Ausdruck aus seinen Zügen, und er wandte sich zu den Höheren Magiern um.

»Sie sagt die Wahrheit«, erklärte er.

Schockiertes Schweigen folgte Lorlens Worten, dann hallten plötzlich laute Rufe und Fragen durch den Raum. Lorlen hob die Hand, und die anderen Magier verstummten.

»Lord Fergun hat diesen jungen Mann«, er deutete auf Cery, »gefangen gehalten, nachdem er mir erzählt hatte, er wolle ihn zu den Toren begleiten. Er hat ihn in ein unterirdisches Verlies gesperrt und Sonea gedroht, dass er ihren Freund töten würde, wenn sie seine Geschichte bei dieser Anhörung nicht bestätigen würde. Später wollte er dann seinen Einfluss als ihr Mentor geltend machen, um sie dazu zu zwingen, eine unserer Regeln zu brechen, so dass man sie öffentlich ausgestoßen hätte.«

»Warum?«, zischte Lady Vinara.

»Soweit Sonea es verstanden hat«, antwortete Lorlen, »wollte er auf diese Weise dafür sorgen, dass die Gilde niemals wieder einem Mitglied des einfachen Volkes einen Platz in ihren Reihen anbietet.«

»Sie wollte ohnehin gehen.«

Aller Augen richteten sich auf Fergun. Er starrte die Höheren Magier abweisend an.

»Ich gebe zu, dass ich ein wenig übereifrig war«, sagte er, »aber ich wollte die Gilde lediglich vor ihrem eigenen Tun retten. Ihr hättet Diebe und Bettler in der Gilde willkommen geheißen, ohne zu fragen, ob wir, die Häuser, und der König, dem wir dienen, damit einverstanden sind. Es mag so aussehen, als sei es nur eine Kleinigkeit, ein Bettlermädchen in der Gilde aufzunehmen, aber wohin wird das führen?« Seine Stimme wurde lauter. »Werden wir mehr von diesen Leuten bei uns aufnehmen? Werden wir uns zu einer Gilde der Diebe entwickeln?«

Ein leises Murmeln erhob sich im Raum, und Sonea sah, dass mehrere der Magier zu beiden Seiten der Sitzreihen den Kopf schüttelten.

Fergun lächelte sie an. »Sie wollte, dass man ihre Kräfte blockiert, damit sie nach Hause zurückkehren konnte. Fragt Lord Rothen, er wird es nicht abstreiten. Fragt Administrator Lorlen. Ich habe nichts von ihr verlangt, was sie nicht ohnehin tun wollte.«

Sonea ballte die Fäuste. »Nichts, was ich nicht ohnehin wollte?«, stieß sie wütend hervor. »Ich wollte nicht das Novizengelübde ablegen, um es dann zu brechen. Ich wollte nicht lügen. Ihr habt meinen Freund eingekerkert. Ihr habt gedroht, ihn zu töten. Ihr seid…« Sie brach ab, denn ihr war plötzlich bewusst geworden, dass sie im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand. Sie holte tief Luft und trat einen Schritt auf die Höheren Magier zu. »Als ich hierher kam, habe ich lange gebraucht, um zu begreifen, dass Ihr nicht…« Abermals brach sie ab, denn es widerstrebte ihr, hier in der Gildehalle zu stehen und die Magier zu beleidigen. Stattdessen zeigte sie mit dem Finger auf Fergun. »Aber er verkörpert alles, was man mich in den Hüttenvierteln über die Magier zu denken gelehrt hat.«

Stille folgte ihren Worten. Lorlen sah sie ernst an, dann nickte er und wandte sich zu Fergun um.

»Ihr habt Euch zahlreicher Verbrechen schuldig gemacht, Lord Fergun«, sagte er. »Einige davon sind äußerst schwerwiegend. Ich werde in drei Tagen eine Anhörung einberufen, bei der über Eure Taten gesprochen und eine Strafe festgelegt werden wird. Bis dahin möchte ich Euch vorschlagen, bei unseren Nachforschungen mit uns zusammenzuarbeiten.«

Er ging an Osen vorbei und nahm seinen Platz zwischen den Höheren Magiern wieder ein. Der Hohe Lord beobachtete ihn, und der Anflug eines Lächelns zuckte um seine Lippen. Sonea fröstelte, als sie sich die widersprüchlichen Gefühle ausmalte, die Lorlen unter seinem Blick empfinden musste.

»Die Frage, zu deren Erörterung wir uns heute zusammengefunden haben, ist damit hinfällig geworden«, verkündete Lorlen. »Hiermit bestimme ich Lord Rothen zu Soneas Mentor und erkläre diese Anhörung für beendet.«

Stimmen und das Donnern schwerer Stiefel hallten durch den Raum, als sich die Magier von ihren Plätzen erhoben. Sonea schloss die Augen und seufzte. Es ist vorbei!

Dann fiel ihr Akkarin wieder ein. Nein, es ist noch nicht vorbei, rief sie sich ins Gedächtnis. Aber für den Augenblick bin nicht ich diejenige, die sich darüber den Kopf zerbrechen muss.

»Du hättest es mir erzählen sollen, Sonea.«

Als sie die Augen öffnete, stand Rothen vor ihr, mit Cery an seiner Seite. Sie senkte den Blick.

»Es tut mir Leid.«

Zu ihrer Überraschung zog Rothen sie kurz an sich. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte er. »Du musstest einen Freund beschützen.« Er wandte sich an Cery. »Ich möchte mich im Namen der Gilde bei dir entschuldigen.«

Cery lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gebt mir meine Sachen zurück, und ich werde die ganze Angelegenheit vergessen.«

Rothen runzelte die Stirn. »Was vermisst du denn?«

»Zwei Dolche, einige Messer und meine Werkzeuge.«

»Werkzeuge?«, wiederholte Rothen.

»Dietriche.«

Rothen sah Sonea mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Er macht keinen Witz, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich werde feststellen, was sich da tun lässt.« Rothen seufzte, dann blickte er über Soneas Schulter. »Ah! Hier kommt ein Mann, der sich besser mit den Gepflogenheiten der Diebe auskennt als ich – Lord Dannyl.«

Als Sonea sich umdrehte, legte der hochgewachsene Magier ihr die Hand auf die Schulter und lächelte sie an.

»Gut gemacht!«, sagte er. »Du hast mir und dem Rest der Gilde einen großen Dienst erwiesen.«

Rothen grinste. »Du scheinst heute besonders gut gelaunt zu sein, Dannyl.«

Dannyl sah seinen Freund herablassend an. »Wer hatte nun Recht, was Fergun betrifft?«

Rothen nickte seufzend. »Du hattest Recht.«

»Jetzt verstehst du endlich, warum ich ihn so verabscheut habe?« Als Dannyls Blick auf Cery fiel, wurde seine Miene plötzlich nachdenklich. »Ich glaube, die Diebe suchen nach dir. Sie haben mir eine Nachricht geschickt, in der sie sich danach erkundigt haben, ob ich wüsste, wo ein bestimmter Freund von Sonea abgeblieben sei. Sie klangen ziemlich besorgt.«

»Wer hat die Nachricht geschickt?«, wollte Cery wissen.

»Ein Mann namens Gorin.«

Sonea legte die Stirn in Falten. »Also war Gorin derjenige, der mich an die Gilde verraten hat, nicht Faren.«

Cery starrte sie an. »Sie haben dich verraten?«

Sie zuckte die Achseln. »Sie hatten keine andere Wahl. Genau genommen war es gut, dass sie das getan haben.«

»Darum geht es nicht.« Ein Funkeln war in Cerys Augen getreten. Sonea, die erriet, was er dachte, lächelte.

Und ich liebe ihn doch, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Aber fürs Erste ist es die Liebe, die man für einen Freund empfindet. Doch wenn sie ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten, abseits all der Probleme der vergangenen Monate, würde aus diesem Gefühl vielleicht mehr werden. Aber sie machte sich nichts vor. Jetzt, da sie der Gilde beitrat und er höchstwahrscheinlich zu den Dieben zurückkehren würde, war eine solche Möglichkeit ausgeschlossen. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie bei diesem Gedanken, aber sie schob die Regung hastig beiseite.

Sie sah sich in der Halle um und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie sich inzwischen beinahe geleert hatte. Fergun stand immer noch in einiger Entfernung, umgeben von einer Gruppe von Magiern. Als sie in seine Richtung schaute, fing er ihren Blick auf und grinste höhnisch.

»Was für ein Paar«, sagte er. »Der eine treibt sich mit Bettlern herum, der andere mit Dieben.« Seine Gefährten lachten.

»Sollte man ihn nicht einsperren oder irgendetwas?«, überlegte sie laut.

Rothen, Dannyl und Cery drehten sich zu dem Magier um.

»Nein«, erwiderte Rothen. »Man wird ihn beobachten, aber er weiß, dass er eine gewisse Chance hat, nicht aus der Gilde ausgestoßen zu werden, sofern er sich reuig zeigt. Höchstwahrscheinlich wird man ihm eine Aufgabe zuweisen, die niemand haben will und die ihn für mehrere Jahre an einen entlegenen Ort verschlagen wird.«

Fergun machte ein finsteres Gesicht, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging, gefolgt von seinen Gefährten, zur Tür hinüber. Dannyls Lächeln wurde breiter, aber Rothen schüttelte traurig den Kopf. Cery zuckte die Achseln und wandte sich wieder zu Sonea um.

»Was ist mit dir?«, fragte er.

»Sonea steht es frei zu gehen«, erwiderte Rothen. »Sie wird jedoch noch ein oder zwei Tage in der Gilde bleiben müssen. Das Gesetz verlangt, dass wir ihre Kräfte blockieren, bevor sie ins Hüttenviertel zurückkehrt.«

Cery sah sie besorgt an. »Blockieren? Sie werden deine Magie blockieren?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Nein.«

Rothen runzelte die Stirn, dann musterte er sie forschend. »Nein?«

»Natürlich nicht. Das würde es schwer machen, mich zu unterrichten, nicht wahr?«

Er blinzelte. »Dann willst du also wirklich bleiben?«

»Ja.« Sie lächelte. »Ich bleibe.«

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