Erster Teil

1 Die Botschaft

In der alten kyralischen Dichtung heißt der Mond das Auge. Wenn das Auge weit offen ist, schreckt seine alles durchdringende Aufmerksamkeit vor bösen Taten ab – oder treibt diejenigen, die es gewagt haben, sich unter seinem Blick zu versündigen, in den Wahnsinn. Wenn das Auge so weit geschlossen ist, dass nur noch eine schmale Sichel seine Gegenwart verrät, lässt es zu, dass im Verborgenen begangene Taten – sowohl gute als auch böse – unbemerkt bleiben.

Mit einem schiefen Lächeln blickte Cery zum Mond empor. Es war nur noch eine schmale Sichel des Auges sichtbar, so wie es heimliche Liebhaber bevorzugten, aber zu solcher Art von Stelldichein war er in der Dunkelheit der Stadt nicht unterwegs. Seine Absicht war von finstererer Natur.

Ob seine Taten aber gut waren oder schlecht, war für ihn schwer zu entscheiden. Die Männer, die er verfolgte, verdienten ihr Schicksal, aber Cery hatte den Verdacht, dass der Auftrag, mit dem er betraut war, noch anderen Zwecken diente als nur demjenigen, die Anzahl der Morde zu verringern, die die Stadt in den letzten Jahren heimgesucht hatten. Er wusste nicht alles über das ganze schmutzige Geschäft – so viel stand jedenfalls fest -, aber vermutlich wusste er mehr als jeder andere in der Stadt.

Auf seinem Weg überdachte er noch einmal seine bisherigen Erkenntnisse. Er hatte festgestellt, dass diese Morde nicht von einem einzigen Mann, sondern von einer ganzen Reihe von ihnen begangen worden waren. Außerdem hatte er bemerkt, dass diese Männer alle der gleichen Rasse angehörten – es waren Sachakaner. Und das Wichtigste: Er wusste, dass sie allesamt Magier waren.

Soweit Cery bekannt war, gab es in der Gilde keine Sachakaner.

Wenn die Diebe irgendetwas von dieser ganzen Angelegenheit wussten, dann behielten sie ihr Wissen jedenfalls für sich. Bei einem Treffen der Diebe vor zwei Jahren hatten sich die Führer dieser locker verbündeten Gruppen der Unterwelt über Cerys Vorschlag, den Mörder zu finden und aufzuhalten, lustig gemacht. Diejenigen, die hinterhältig fragten, warum Cery nach so langer Zeit immer noch keinen Erfolg gehabt hatte, mochten angenommen haben, dass es nur einen einzigen Mörder gab, oder sie hatten ihn glauben machen wollen, dass sie so dachten.

Jedes Mal, wenn Cery mit einem der Mörder fertig war, begann ein anderer sein grausiges Werk. Unglücklicherweise musste es den Dieben so vorkommen, als scheitere Cery an seiner Aufgabe. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihre Fragen abzutun und zu hoffen, dass sein Erfolg bei anderen unterweltlichen Aktivitäten es wieder wettmachen würde.

Aus dem dunklen Viereck eines Hauseingangs löste sich die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes. Unter dem Licht einer fernen Laterne erkannte Cery ein grimmiges, vertrautes Gesicht. Gol nickte kurz und schloss sich Cery an.

Sie erreichten einen Platz, an dem fünf Straßen zusammenliefen, und hielten dort auf ein keilförmiges Gebäude zu. Als sie durch die offenen Türen eintraten, nahm Cery den schweren Dunst von Schweiß, Bol und Küchengerüchen wahr. Zu der frühen Abendstunde war das Bolhaus gut besucht. Sie fanden einen Platz an der Theke, und Gol bestellte zwei Krüge Bol und eine Portion gesalzener Bohnen.

Gol hatte bereits die Hälfte der Bohnen verzehrt, bevor er das erste Wort sprach.

»Ganz hinten. Der Mann mit dem protzigen Ring. Was meinst du, Sohn?«

Wenn sie ihre wahre Identität nicht preisgeben wollten – und das wollten sie in diesen Tagen in der Öffentlichkeit nur in den seltensten Fällen -, gaben Cery und Gol sich oft als Vater und Sohn aus. Cery war zwar nur um einige Jahre jünger als Gol, aber dank seiner kleinen Statur und seines jungenhaften Gesichts wurde er oft für viel jünger gehalten, als er war. Nun wartete er einen Moment lang, bevor er den Blick unauffällig über den hinteren Teil des Schankraums schweifen ließ.

Selbst in dem überfüllten Bolhaus war der Mann, den Gol meinte, leicht zu erkennen. Sein charakteristisch breites, braunes Sachakaner-Gesicht war inmitten der blassen Kyralier unübersehbar. Der Mann beobachtete seine Umgebung sorgfältig. Nachdem ein flüchtiger Blick auf die Hand des Mannes Cery einen stumpfen Silberring mit einem roten Funkeln in der Mitte gezeigt hatte, wandte er sich wieder seinem Bolkrug zu.

»Was meinst du?«, murmelte Gol.

Cery nahm seinen Krug und tat so, als trinke er einen guten Schluck Bol. »Für uns zu schwierig, Pa. Soll sich jemand anders um ihn kümmern.«

Gol murmelte etwas in seinen Krug, während er ihn leerte und dann absetzte. Cery folgte ihm hinaus. Ein paar Straßenecken von dem Bolhaus entfernt, griff er in seine Jackentasche, zog drei Kupfermünzen hervor und drückte sie Gol in die Hand. Gol seufzte und machte sich davon.

Cery lächelte schief, bückte sich dann und öffnete ein in eine Mauer eingelassenes Gitter. Einem Fremden würde Gol in jeder Situation vollkommen gleichmütig erscheinen. Aber Cery kannte diesen Seufzer. Gol hatte Angst – und das aus gutem Grund. Solange diese Mörder unter ihnen waren, schwebte jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in den Hüttenvierteln in Gefahr.

Cery schlüpfte in den Gang hinter dem Gitter. Die drei Münzen, die er Gol gegeben hatte, waren die Bezahlung für drei Straßenkinder, um eine Botschaft zu überbringen – drei für den Fall, dass eine Botschaft verloren ging oder erst verspätet überbracht wurde. Die Empfänger der Nachricht waren irgendwelche Handwerker, die die Botschaft über die Stadtwache einem Botenjungen oder einem eigens dafür abgerichteten Tier übergeben würden. Niemand, der diese Nachricht weiterleitete, kannte die Bedeutung ihres Inhalts. Nur der Mann, für den die Botschaft letzten Endes bestimmt war, würde verstehen, was es damit auf sich hatte. Und dann würde die Jagd aufs Neue beginnen.


Nach der Unterrichtsstunde ging Sonea langsam durch das Gedränge und den Lärm des Hauptflurs der Universität. Für gewöhnlich zollte sie den Mätzchen der anderen Novizen kaum Aufmerksamkeit – aber heute war es etwas anderes.

Genau heute vor einem Jahr habe ich Regin in der Arena besiegt, dachte sie. Ein ganzes Jahr ist seit der Herausforderung vergangen, und so viel hat sich seither geändert. Die meisten Novizen waren zu zweit oder in kleinen Gruppen auf dem Weg zum hinteren Treppenhaus und zur Mensa. An der Tür eines Unterrichtsraums steckten ein paar Mädchen tuschelnd die Köpfe zusammen. Am Ende des Gangs kam gerade ein Lehrer aus einem Unterrichtsraum, gefolgt von zwei Novizen, die große Kisten trugen.

Sonea beobachtete die Gesichter der wenigen Novizen, die von ihr Notiz nahmen. Niemand starrte sie an oder sah auf sie herab. Einige Erstsemester konnten den Blick allerdings nicht von dem Incal auf ihrem Ärmel abwenden – dem Symbol, das sie als Schützling des Hohen Lords auswies.

Am Ende des Korridors ging sie die elegante, durch Magie geformte Treppe der Eingangshalle hinab. Die Stufen unter ihren Stiefeln gaben bei jedem Schritt einen weichen, glockenähnlichen Ton von sich. Als noch weitere Schritte die Stufen zum Klingen brachten, hallte das Geläut in der ganzen Halle wider. Sonea blickte auf und sah, dass ihr drei Novizen entgegenkamen, und unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Der Novize in der Mitte des Trios war Regin. Die beiden anderen waren seine engsten Freunde, Kano und Alend. Mit unbewegtem Gesicht setzte sie ihren Weg fort. Als Regin sie sah, erstarb sein Lächeln. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, bevor Regin sich abwandte und an ihr vorüberging.

Mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung sah Sonea ihm nach. Seit der Herausforderung war jede ihrer Begegnungen nach diesem Muster verlaufen. Regin spielte die Rolle des guten Verlierers, und sie gestattete es ihm. Es wäre befriedigender gewesen, ihn seine Niederlage spüren zu lassen, aber sie war davon überzeugt, dass er in diesem Fall irgendwelche Möglichkeiten finden würde, sich insgeheim dafür zu revanchieren. Besser, sie ignorierten einander einfach.

Ihr Sieg über Regin in einem öffentlichen Kampf hatte allerdings mehr bewirkt als nur das Ende seiner Schikanen. Sie schien damit auch den Respekt der anderen Novizen und der meisten Lehrer gewonnen zu haben. Jetzt war sie nicht mehr nur das Hüttenmädchen, dessen Kräfte sich zum ersten Mal in einem Angriff auf die Gilde gezeigt hatten – während der jährlichen Reinigung der Stadt von Herumtreibern und anderen unerwünschten Personen. Die Erinnerung an jenen Tag entlockte ihr unwillkürlich ein Lächeln. Ich war ebenso überrascht, dass ich Magie benutzt hatte, wie sie es waren.

Es hing ihr auch nicht weiter nach, dass sie eine »wilde Magierin« gewesen war, die sich ihrer Gefangennahme durch einen Handel mit den Dieben entzogen hatte. Damals schien das eine gute Idee zu sein, dachte sie. Ich glaubte, dass die Gilde mich töten wollte. Schließlich hatten sie nie zuvor jemanden ausgebildet, der nicht aus einem der Häuser stammte. Für die Diebe war es allerdings ein schlechtes Geschäft. Ich war nicht in der Lage, meine Kräfte so weit zu kontrollieren, dass sie von irgendwelchem Nutzen gewesen wären. Obwohl ihre Zugehörigkeit zur Gilde manchen immer noch ein Dorn im Auge war, wurde sie auch nicht länger als die Außenseiterin betrachtet, die Lord Ferguns Ruin verschuldet hatte. Nun, sie hatte ihn schließlich nicht dazu gezwungen, Cery einzusperren und mit seiner Ermordung zu drohen, um sie zu erpressen, auf seine Pläne einzugehen. Er hatte seinerzeit die Gilde davon überzeugen wollen, dass man Menschen niederer Herkunft keine Magie anvertrauen dürfe, stattdessen aber nur bewiesen, dass auch einige Magier dieser Macht nicht würdig waren. Bei dem Gedanken an die vielen Novizen, die ihr soeben im Flur begegnet waren, musste Sonea lächeln. Nach deren vorsichtiger Neugier zu schließen, schienen sie bei ihrem Anblick in erster Linie daran zu denken, wie leicht sie ihren Herausforderungskampf gewonnen hatte. Sie fragten sich, wie stark sie noch werden würde. Sonea vermutete, dass sogar einige der Lehrer ein wenig Angst vor ihr hatten.

Vom Fuß der Treppe aus ging sie quer durch die Eingangshalle zu den offenen Toren der Universität. Von der Schwelle aus blickte sie zu dem grauen, zweigeschossigen Bau am Rand des Gartens hinüber, und ihr Lächeln verflog.

Ein Jahr ist seit der Herausforderung vergangen, aber einiges hat sich eben nicht geändert.

Obwohl sie den Respekt der Novizen gewonnen hatte, hatte sie immer noch keine wirklichen Freunde, was keineswegs daran lag, dass sie alle Angst vor ihr hatten – oder vor ihrem Mentor. Seit der Herausforderung hatten einige der Studenten durchaus versucht, sie in ihre Gespräche einzubeziehen. Während des Unterrichts oder in den Unterrichtspausen ließ sie sich nur allzu gern darauf ein – aber sie vermied es, irgendwelche Verabredungen für ihre Freizeit zu treffen.

Mit einem Seufzer stieg sie die Stufen vor der Universität hinab. Jeder, mit dem sie sich befreundete, wäre für den Hohen Lord ein weiteres Werkzeug, das er gegen sie einsetzen könnte. Wenn sich jemals die Gelegenheit fand, der Gilde seine Verbrechen zu offenbaren, wären alle Menschen, an denen ihr lag, in Gefahr. Es machte wenig Sinn, Akkarin eine noch größere Auswahl möglicher Opfer zu präsentieren.

Soneas Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der sie zusammen mit ihrem Freund Cery auf das Gelände der Gilde vorgedrungen war. Das lag nun über zweieinhalb Jahre zurück. Obwohl sie damals geglaubt hatte, die Gilde trachte ihr nach dem Leben, war ihr das Risiko vertretbar erschienen. Damals hatte sie ihre magische Kraft noch nicht kontrollieren können, so dass sie für die Diebe nutzlos gewesen war. Cery hatte gehofft, dass sie vielleicht etwas lernen würde, wenn sie die Magier bei deren Ausbildung beobachtete.

Nachdem sie an diesem Abend und in der Nacht bereits Zeugin vieler faszinierender Dinge geworden war, hatte sie sich dem grauen Haus genähert, das etwas abseits von den anderen Gebäuden lag. Dort hatte sie durch einen Lüftungsschacht gesehen, wie in einem Kellerraum ein schwarz gewandeter Magier einen merkwürdigen Ritus vollzog…

Der Magier nahm den funkelnden Dolch und sah den Diener an.

»Der Kampf hat mich geschwächt. Ich brauche deine Kraft.«

Der Diener kniete nieder und streckte den Arm aus. Der Magier ließ die Klinge über die Haut des Mannes gleiten und drückte dann seine Hand auf die Wunde…

…Dann spürte sie eine merkwürdige Empfindung, als ob Insekten in ihren Ohren flatterten.

Die Erinnerung ließ Sonea frösteln. Sie hatte damals die Bedeutung dieser Dinge nicht verstanden, und danach war so viel geschehen, dass sie versucht hatte, es zu vergessen. Ihre Kraft war auf so gefährliche Weise angewachsen, dass die Diebe sie an die Gilde ausgeliefert hatten und sie auf diese Art und Weise herausfand, dass die Magier keineswegs ihren Tod wollten. Sie beschlossen vielmehr, sie in die Gilde aufzunehmen. Dann hatte Lord Fergun Cery gefangen genommen und sie erpresst, mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Die Pläne des Kriegers waren allerdings fehlgeschlagen, da man Cery in seinem Gefängnis unterhalb der Universität entdeckte und Sonea einer Wahrheitslesung durch Administrator Lorlen zustimmte, um so Ferguns Erpressungsversuch zu beweisen. Und erst während dieser Wahrheitslesung war ihre Erinnerung an den schwarz gewandeten Magier in dem Kellerraum wieder zum Vorschein gekommen. Lorlen hatte den Magier als seinen Freund Akkarin erkannt, den Hohen Lord der Gilde, und er hatte sofort gewusst, dass es sich bei dem verbotenen Ritual um schwarze Magie handelte. Aus Lorlens Gedanken hatte Sonea erfahren, wozu ein schwarzer Magier in der Lage war. Durch den Gebrauch dieser verbotenen Kunst musste Akkarin Kräfte weit über seine natürlichen Grenzen hinaus angesammelt haben. Der Hohe Lord war ohnehin schon für seine ungewöhnlich große Kraft bekannt gewesen, und als schwarzer Magier war er, fürchtete Lorlen, so stark, dass es nicht einmal der ganzen Gilde mit ihrer vereinten Kraft möglich sein würde, ihn zu besiegen.

Lorlen war daher zu dem Schluss gekommen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Hohen Lord nicht infrage kam. Sein Verbrechen musste so lange ein Geheimnis bleiben, bis ein Weg gefunden werden konnte, Akkarin mit einiger Sicherheit unschädlich zu machen. Nur Rothen, der Magier, der Soneas Mentor werden sollte, durfte in das Geheimnis eingeweiht werden; wenn er sie unterrichtete, würde er wahrscheinlich in ihrem Gedächtnis auf die Erinnerung an Akkarin stoßen und die Wahrheit auf diese Weise ohnehin erfahren.

Bei dem Gedanken an Rothen wurde sie zuerst traurig, dann zornig. Rothen hatte ihr mehr bedeutet als ein Mentor oder Lehrer; er war wie ein Vater für sie gewesen. Ohne Rothens Unterstützung hätte sie Regins Schikanen vielleicht nicht ertragen. Und als Dank für seine Mühen hatte er die Folgen der von Regin in die Welt gesetzten bösartigen Gerüchte ertragen müssen, dass er sich seine Dienste als Mentor im Bett vergelten ließ.

Und gerade, als diese Verdächtigungen ein Ende gefunden zu haben schienen, war alles anders geworden. Eines Tages war Akkarin in Rothens Gemächern aufgetaucht; er hatte herausgefunden, dass sein Geheimnis offenbar geworden war. Er hatte Lorlens Geist einer Lesung unterzogen und wollte das Gleiche nun bei Rothen und Sonea tun. Da sie wussten, dass Akkarin zu mächtig war, um sich gegen ihn wehren zu können, hatten sie sich gefügt. Danach war Akkarin im Raum auf und ab gegangen.

»Ihr beide würdet mich bloßstellen, wenn ihr könntet«, sagte er. »Ich werde verlangen, dass man mich zu Soneas Mentor bestimmt. Sie wird mir Euer Schweigen garantieren. Solange sie mir gehört, werdet Ihr niemals irgendjemanden wissen lassen, dass ich schwarze Magie praktiziere.« Er blickte zu Sonea hinüber. »Umgekehrt wird Rothens Wohlergehen mir deinen Gehorsam sichern.«

Sonea hatte inzwischen den Pfad zur Residenz des Hohen Lords erreicht. Diese Auseinandersetzung lag schon so lange zurück, dass sie das Gefühl hatte, als sei jemand anders als sie selbst darin verwickelt gewesen, vielleicht sogar nur eine Figur aus einer Geschichte, die sie einmal gehört hatte. Sie war jetzt seit anderthalb Jahren Akkarins Schützling, und das war keineswegs so schlimm gewesen, wie sie anfangs befürchtet hatte. Der Hohe Lord hatte sie weder als Quelle für zusätzliche Kraft missbraucht noch versucht, sie in seine üblen Taten zu verwickeln. Abgesehen von den üppigen Mahlzeiten, die sie jeden Freitagabend mit ihm einnahm, bekam sie ihn kaum zu Gesicht. Und wenn sie miteinander sprachen, dann nur von ihrer Ausbildung an der Universität.

Ausgenommen diesen einen Abend, dachte sie.

Bei der Erinnerung daran hielt sie inne. Vor vielen Monaten hatte sie bei ihrer Rückkehr vom Unterricht aus dem Keller unter der Residenz Lärm und Geschrei gehört. Nachdem sie die Stufen in den Keller hinabgestiegen war, hatte sie mit angesehen, wie Akkarin einen Mann mit schwarzer Magie tötete. Er hatte behauptet, der Mann sei ein sachakanischer Assassine, ein auf ihn angesetzter Meuchelmörder.

»Warum habt Ihr ihn getötet?«, fragte sie. »Warum habt Ihr ihn nicht einfach an die Gilde ausgeliefert?«

»Weil er und seinesgleichen, wie du zweifellos erraten haben wirst, viele Dinge über mich wissen, von denen es mir lieber wäre, dass die Gilde sie nicht erführe. Du fragst dich gewiss, wer diese Leute sind, die meinen Tod wünschen, und welche Gründe sie dafür haben. Ich kann dir nur so viel verraten: Die Sachakaner hassen die Gilde noch immer, aber sie fürchten uns auch. Von Zeit zu Zeit schicken sie mir einen dieser Leute, um mich auf die Probe zu stellen.«

Sonea wusste so viel über Kyralias Nachbarland wie jeder andere Novize in seinem dritten Ausbildungsjahr. Alle Novizen nahmen den Krieg zwischen dem sachakanischen Reich und den kyralischen Magiern durch. Man brachte ihnen bei, dass die Kyralier den Krieg gewonnen hatten, indem sie sich zur Gilde zusammengeschlossen und ihre magischen Kenntnisse vereint hatten. Sieben Jahrhunderte später war das sachakanische Reich immer noch nicht wiedererstanden, und große Teile des Landes lagen nach wie vor verwüstet da.

Angesichts dieser Tatsache, überlegte sie, war es durchaus glaubhaft, dass die Sachakaner die Gilde immer noch hassten. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum Sachaka nicht zu den verbündeten Ländern gehörte. Anders als Kyralia, Elyne, Vin, Lonmar und Lan war Sachaka nicht an die Übereinkunft gebunden, nach der alle Magier nur durch die Gilde unterrichtet und ihrer Beobachtung unterstellt wurden. Möglicherweise gab es in Sachaka wirklich noch Magier, obwohl Sonea bezweifelte, dass sie gut ausgebildet waren.

Wenn diese Magier tatsächlich eine Bedrohung darstellten, müsste die Gilde eigentlich darüber informiert sein. Sonea runzelte die Stirn. Vielleicht wussten einige Magier wirklich davon. Vermutlich handelte es sich um ein Geheimnis, in das die Höheren Magier und der König eingeweiht waren. Dem König konnte nicht daran gelegen sein, dass sich seine Untertanen über die Existenz sachakanischer Magier beunruhigten – zumindest solange die Sachakaner nicht zu einer ernsthaften Bedrohung wurden.

Stellten die Assassinen eine solche Bedrohung dar? Sonea schüttelte den Kopf. Wenn ab und zu ein Meuchelmörder auftauchte, um den Hohen Lord zu töten, war das kein wirklich ernsthaftes Problem, denn Akkarin wurde offensichtlich mühelos mit ihnen fertig.

Sie verlangsamte ihre Schritte. Vielleicht konnte Akkarin sich der Assassinen nur erwehren, weil er sich immer wieder durch schwarze Magie stärkte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das würde heißen, dass die Assassinen über furchterregende Kraft verfügten. Akkarin hatte angedeutet, dass sie von seinem Gebrauch schwarzer Magie wussten. Und sie würden ihn gewiss nicht angreifen, wenn sie nicht glaubten, eine gute Chance gegen ihn zu haben. Bedeutete das, dass sie ebenfalls schwarze Magie benutzten?

Ihr wurde kalt. Und ich schlafe jede Nacht im gleichen Haus wie der Mann, den sie zu töten versuchen.

Vielleicht war das auch der Grund, warum Lorlen angeblich noch keine Möglichkeit gefunden hatte, sich Akkarins zu entledigen. Vielleicht wusste er, dass Akkarin gute Gründe für die Verwendung schwarzer Magie hatte. Vielleicht beabsichtigte er in Wirklichkeit gar nicht, Akkarin bloßzustellen.

Nein, dachte sie. Wenn Akkarins Beweggründe ehrenwert wären, hätte er mich nicht als Geisel genommen. Wenn er beweisen könnte, dass er aus guten Motiven handelte, hätte er versucht, genau das zu tun, statt zuzulassen, dass zwei Magier und eine Novizin ständig nach Mitteln und Wegen suchten, um ihn zu überwältigen.

Und wenn ihm auch nur das Geringste an meinem Wohlergehen liegt, warum behält er mich dann in seiner Residenz, in der die Assassinen vermutlich wieder angreifen werden? Sie war sich sicher, dass es Lorlen um ihr Wohlergehen zu tun war. Er hätte es ihr gesagt, wenn er gewusst hätte, dass Akkarins Beweggründe ehrbar waren. Er hätte sie nicht in dem Glauben belassen, ihre Lage sei schlimmer, als es den Tatsachen entsprach.

Plötzlich fiel ihr der Ring an Lorlens Finger wieder ein. Seit mehr als einem Jahr gingen in der Stadt Gerüchte über einen Mörder um, der einen silbernen Ring mit einem roten Stein trug. Einen Ring wie den, der an Lorlens Finger steckte.

Aber das konnte nur ein Zufall sein. Sie hatte einen gewissen Einblick in Lorlens Geist gehabt und konnte sich nicht vorstellen, dass Lorlen irgendjemanden ermordete.

An der Tür der Residenz angekommen, hielt Sonea kurz inne und holte tief Luft. Und wenn der Mann, den Akkarin getötet hatte, gar kein Assassine gewesen war? Wenn es sich um einen sachakanischen Diplomaten gehandelt hatte, der Akkarins Verbrechen entdeckt hatte? Konnte Akkarin ihn in seine Residenz gelockt haben, um ihn dort umzubringen… und dann herauszufinden, dass der Mann ein Magier war?

Halt! Genug!

Sie schüttelte den Kopf, als könne sie das von diesen fruchtlosen Überlegungen befreien. Schon seit Monaten überdachte sie diese Möglichkeiten, ging wieder und wieder durch, was sie gesehen und was man ihr erzählt hatte. Woche für Woche saß sie Akkarin am Tisch gegenüber und wünschte sich, sie hätte den Mut, ihn zu fragen, warum er schwarze Magie erlernt habe – aber sie blieb stumm. Warum sollte sie sich die Mühe machen zu fragen, solange sie sich nicht sicher sein konnte, dass die Antworten der Wahrheit entsprachen? Sie streckte die Hand aus und tippte den Türgriff kurz mit den Fingern an. Wie immer schwang die Tür auf die leichteste Berührung hin nach innen auf. Sonea trat ein.

Ein hochgewachsener, schwarz gekleideter Mann erhob sich von einem der Sessel im Empfangssaal. Sie spürte den vertrauten Stich der Furcht und drängte die Regung beiseite. Eine einzelne Lichtkugel schwebte über dem Kopf des Hohen Lords, so dass seine Augen im Dunkel blieben. Seine Lippen waren zu einem leicht spöttischen Lächeln verzogen.

»Guten Abend, Sonea.«

Sie verneigte sich. »Hoher Lord.«

Er deutete auf den Treppenaufgang. Sonea legte ihren Bücherkoffer und ihre Papiere ab und stieg die Treppe empor. Akkarin, der ihr folgte, sandte eine Lichtkugel voraus. In der ersten Etage angekommen, ging Sonea den Flur entlang und dann durch die offen stehende Tür in einen Raum, in dem ein großer Tisch mit mehreren Stühlen stand. Ein köstlicher Geruch erfüllte die Luft und entlockte ihrem Magen ein fast lautloses Knurren.

Akkarins Diener, Takan, verneigte sich vor ihr, während sie Platz nahm, und verließ dann den Raum. »Was habt ihr heute durchgenommen, Sonea?«, fragte Akkarin.

»Architektur«, erwiderte sie. »Konstruktionsverfahren.«

Er zog eine Augenbraue leicht in die Höhe. »Das Formen von Steinen mittels Magie?«

»Ja.«

Er blickte sie nachdenklich an. Takan kehrte mit einem großen Tablett zurück, auf dem mehrere kleine Schüsseln standen. Diese stellte er auf den Tisch, bevor er wieder verschwand. Sonea wartete, bis Akkarin seine Auswahl unter den Speisen getroffen hatte, dann bediente auch sie sich.

»Ist dir der Stoff schwierig erschienen?«

Sonea zögerte. »Am Anfang schwierig, aber dann ging es leichter. Es ist… es hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Heilkunst.«

Er sah sie direkt an. »In der Tat. Und inwiefern unterscheidet es sich davon?«

Sie überlegte. »Den Steinen fehlt die natürliche Schranke des Widerstands, den der Körper hat. Die Steine haben keine Haut.«

»Das ist wohl wahr, aber man kann so etwas wie eine Schranke schaffen, wenn…« Er verstummte. Sie sah zu ihm auf und stellte fest, dass er den Blick stirnrunzelnd auf die Wand hinter ihr gerichtet hatte. Dann wandte er sich wieder ihr zu, entspannte sich und deutete auf den Tisch.

»Ich habe heute Abend noch eine Verabredung«, sagte er und schob seinen Stuhl zurück. »Lass dir den Rest des Essens schmecken, Sonea.«

Überrascht sah sie ihm nach, während er zur Tür hinausging. Gelegentlich kam sie zu ihrer allwöchentlichen Mahlzeit und fand nur Takan mit der guten Nachricht, dass der Hohe Lord verhindert sei, im Empfangssalon vor. Aber erst zweimal hatte Akkarin eine Mahlzeit vorzeitig beendet. Sie zuckte die Achseln und aß weiter.

Als sie mit ihrem Mahl fertig war, kam Takan zurück. Während er Teller und Schüsseln auf das Tablett räumte, beobachtete sie ihn aufmerksam und bemerkte eine winzige Falte über seiner Nasenwurzel.

Er wirkt beunruhigt, ging es ihr durch den Kopf.

Sie dachte wieder an die Spekulationen, denen sie sich auf dem Weg zur Residenz hingegeben hatte, und es lief ihr kalt den Rücken herunter. Befürchtete Takan, dass ein weiterer Assassine, der es auf Akkarin abgesehen hatte, in die Residenz eindringen könnte?

Plötzlich hatte sie nur noch den Wunsch, möglichst schnell wieder in die Universität zu gelangen. Sie stand auf und sah den Diener an. »Der Nachtisch ist nicht mehr nötig, Takan.«

Eine kaum merkliche Enttäuschung spiegelte sich in den Zügen des Mannes wider, und Gewissensbisse regten sich in Sonea. Takan mochte Akkarins treu ergebener Diener sein, aber abgesehen davon war er auch ein begnadeter Koch. Hatte er etwas zubereitet, das ihn mit besonderem Stolz erfüllte, und war nun enttäuscht, dass sie beide die Mahlzeit beendeten, ohne es gegessen zu haben?

»Ist es etwas, das… sich vielleicht ein paar Stunden hält?«, fragte sie ihn zögernd.

Er erwiderte flüchtig ihren Blick, und nicht zum ersten Mal blitzte darin eine scharfe Intelligenz auf, die sein respektvolles Betragen nicht vollständig verbergen konnte.

»Ja, das ist es, Mylady. Soll ich es auf Euer Zimmer bringen, wenn Ihr zurückkommt?«

»Ja«, erwiderte sie und nickte. »Danke.«

Takan verneigte sich.

Erleichtert verließ Sonea das Speisezimmer und trottete durch den Flur und die Stufen hinab. Wieder einmal fragte sie sich, welche Rolle Takan bei Akkarins Geheimnissen spielen mochte. Sie hatte gesehen, wie Akkarin von Takan Kraft geschöpft hatte, und zwar offensichtlich, ohne dass dieser dadurch geschädigt worden wäre. Und am Abend des Assassinenanschlags hatte Akkarin ihr erzählt, dass Takan aus Sachaka stamme. Das führte zu einer weiteren Frage: Wenn Sachakaner die Gilde hassten, warum war dann einer von ihnen der Diener des Hohen Lords?

Und warum nannte Takan Akkarin manchmal »Meister« statt »Mylord«?

Während Lorlen eine Bestellung für Baumaterial diktierte, traf ein Bote ein und übergab ihm ein kleines Stück Papier. Lorlen las es und nickte.

»Sag dem Stallmeister, er möge eine Kutsche für mich fertig machen.«

»Ja, Mylord.« Der Bote verbeugte sich und machte sich auf den Weg.

»Wieder ein Besuch bei Hauptmann Barran?«, fragte Osen.

Lorlen antwortete seinem Assistenten mit einem grimmigen Lächeln. »Ich fürchte ja.« Dann blickte er auf den Stift hinab, den Osen weiterhin erwartungsvoll über einen Bogen Papier hielt, und schüttelte den Kopf. »Ich habe den Faden verloren«, fügte er hinzu. »Ich werde den Brief morgen beenden.«

Osen trocknete die Tinte. »Ich hoffe, Barran hat den Mörder diesmal ausfindig machen können.« Dann verließ er zusammen mit Lorlen das Büro. »Guten Abend, Administrator.«

»Guten Abend, Osen.«

Lorlen sah dem jungen Magier, der sich über den Hauptflur der Universität auf den Weg zu den Magierquartieren machte, nachdenklich hinterher. Osen waren Lorlens regelmäßige Besuche bei der Stadtwache schon sehr bald aufgefallen. Der junge Mann war aufmerksam, und Lorlen hatte sich gehütet, Zuflucht bei komplizierten Ausreden zu suchen. Manchmal war die Wahrheit in kluger Dosierung besser als eine ausgemachte Lüge.

Er hatte Osen erklärt, Akkarin habe ihn gebeten, die Anstrengungen der Stadtwache bei der Suche nach dem Mörder zu verfolgen.

»Warum ausgerechnet Ihr?«, hatte Osen ihn gefragt.

Mit dieser Frage hatte Lorlen gerechnet. »Oh, ich brauchte noch irgendeine Beschäftigung in meiner Freizeit«, hatte er gescherzt. »Barran ist ein Freund meiner Familie. Er hat mir ohnehin von diesen Morden erzählt; wir brauchten daher unseren Gesprächen nur einen offiziellen Anstrich zu geben. Ich könnte auch jemand anderen hinschicken, aber ich bekomme die Informationen doch lieber aus erster Hand.«

»Darf ich fragen, aus welchem speziellen Grund die Gilde daran interessiert ist?«, hatte Osen nachgehakt.

»Das dürft Ihr«, hatte Lorlen mit einem Lächeln erwidert. »Aber ich darf Euch keine Antwort darauf geben. Denkt Ihr denn, dass es irgendeinen Grund gibt?«

»Wie ich gehört habe, glauben angeblich einige Leute in der Stadt, bei diesen Morden sei Magie im Spiel.«

»Und deshalb muss die Gilde die Sache im Auge behalten. Die Leute sollten das Gefühl haben, dass wir ihre Sorgen nicht einfach ignorieren. Wir müssen uns allerdings davor hüten, allzu starkes Interesse zu zeigen, sonst werden sie glauben, dass an diesen Gerüchten etwas Wahres sei.«

Osen hatte sich einverstanden erklärt, seine Kenntnis der Besuche Lorlens bei der Stadtwache für sich zu behalten. Wenn der Rest der Gilde erfuhr, dass Lorlen ein Auge auf Hauptmann Barrans Fortschritte bezüglich der Aufklärung der Mordfälle hatte, würde sie sich ebenfalls fragen, ob nicht Magie im Spiel sei.

Lorlen selbst war sich immer noch nicht sicher, ob dem tatsächlich so war. Vor über einem Jahr hatte es einen Fall gegeben, bei dem ein Zeuge vor seinem Tod noch hatte aussagen können, der Mörder habe ihn mithilfe von Magie angegriffen. Die Verbrennungen, die dieses Opfer davongetragen hatte, waren denen, die ein Hitzezauber hinterließ, sehr ähnlich gewesen. Aber seither hatte Barran keine weiteren Hinweise mehr darauf gefunden, dass der Mörder – oder die Mörder – Magie einsetzte.

Barran hatte sich bereit erklärt, Stillschweigen darüber zu bewahren, dass es sich bei dem Mörder möglicherweise um einen wilden Magier handeln könnte. Falls das nämlich bekannt würde, so hatte Lorlen ihm erklärt, würden der König und die Häuser eine Jagd wie damals erwarten, als sie nach Sonea gesucht hatten. Und die damalige Erfahrung hatte sie gelehrt, dass das Ausschwärmen der Gilde über die ganze Stadt einen wilden Magier nur in den Untergrund treiben würde.

Lorlen machte sich auf den Weg in die Eingangshalle. Von dort aus sah er bereits eine Kutsche von den Ställen her auf die Treppe vor der Universität zufahren. Als sie hielt, stieg er die Stufen hinab, nannte dem Kutscher sein Ziel und stieg ein.

Also, was wissen wir eigentlich?, fragte er sich selbst.

Über Wochen, manchmal Monate hinweg waren Opfer gefunden worden, die alle auf die gleiche Weise – nämlich mit einem Ritual, das an schwarze Magie denken ließ – ermordet worden waren. Dann gab es einige Monate lang keine derartigen Todesfälle mehr, bis eine neue Mordserie begann. Auch dabei handelte es sich um Ritualmorde, die sich allerdings in Einzelheiten von der letzten Serie unterschieden.

Barran hatte sich für diesen Wechsel in der Art und Weise, wie die Morde ausgeführt wurden, zwei mögliche Erklärungen zurechtgelegt. Entweder handelte es sich um einen Einzeltäter, der ab und zu seine Gewohnheiten änderte, oder jede Serie von Morden war von einem anderen Täter verübt worden. Ein Einzeltäter mochte seine Gewohnheiten ändern, um seine Entdeckung zu erschweren oder um das Ritual zu perfektionieren; eine Abfolge verschiedener Täter konnte auf irgendeine Bande oder eine Kultgemeinschaft hindeuten, die das Morden als eine Art Initiation oder Probe verlangte.

Lorlen blickte auf den Ring an seiner Hand. Einige Zeugen, die das Glück gehabt hatten, den Mörder zu sehen und trotzdem zu überleben, hatten berichtet, es habe sich um einen Mann gehandelt, der einen Ring mit einem roten Edelstein trug. Ein Ring wie dieser?, fragte er sich. Akkarin hatte den Stein seines Ringes aus Glas und Lorlens eigenem Blut geschaffen – an dem Abend, an dem er entdeckt hatte, dass Lorlen, Sonea und Rothen um sein eigenes Geheimnis wussten. Dieser Ring an Lorlens Hand erlaubte es Akkarin, alles zu sehen und hören, was Lorlen hörte und sah, und mit ihm in ein Gedankengespräch einzutreten, ohne dass andere Magier es bemerken oder daran teilhaben konnten.

Wann immer die Morde einem Ritual der schwarzen Magie ähnelten, konnte Lorlen den Gedanken nicht unterdrücken, dass möglicherweise Akkarin dafür verantwortlich war. Akkarin trug zwar in der Öffentlichkeit keinen solchen Ring, aber er konnte durchaus einen überstreifen, sobald er die Gilde verließ. Aber warum sollte er das tun? Er brauchte ja sich selbst nicht im Auge zu behalten.

Und wenn dieser Ring nun jemand anderem zu sehen gestattet, was der Mörder tut?

Lorlen runzelte die Stirn. Warum sollte Akkarin eine andere Person sehen lassen wollen, was er tat? Es sei denn, er handelte auf Befehl anderer. Das war wirklich ein furchteinflößender Gedanke…

Lorlen seufzte. Manchmal hoffte er, die Wahrheit niemals zu erfahren. Falls Akkarin sich als der Mörder erweisen sollte, würde er, Lorlen, sich zum Teil für den Tod der Opfer verantwortlich fühlen. Er hätte Akkarin schon vor langer Zeit das Handwerk legen sollen – als er durch Sonea erfahren hatte, dass der Hohe Lord schwarze Magie ausübte. Aber damals hatte er befürchtet, dass die Gilde selbst mit vereinter Kraft Akkarin im Kampf nicht würde besiegen können.

Also hatte Lorlen das Verbrechen des Hohen Lords geheim gehalten und Sonea und Rothen überredet, das Gleiche zu tun. Dann hatte Akkarin herausgefunden, dass sein Verbrechen entdeckt worden war, und Sonea als Geisel genommen, um sich Lorlens und Rothens Stillschweigen zu sichern. Und jetzt konnte Lorlen nichts mehr gegen Akkarin unternehmen, ohne das Leben dieser Novizin zu gefährden.

Wenn ich allerdings entdeckte, dass Akkarin der Mörder wäre, und wüsste, dass die Gilde ihn besiegen könnte, würde ich keine Sekunde zögern. Nicht um unserer alten Freundschaft willen, und auch nicht um Soneas willen würde ich zulassen, dass er weitere Verbrechen begeht.

Und diese Einstellung musste Akkarin durch den Ring inzwischen längst bekannt sein.

Natürlich, Akkarin musste nicht unbedingt der Mörder sein. Er hatte Lorlen aufgetragen, Nachforschungen über die Morde anzustellen. Aber was bewies das schon? Vielleicht wollte er auf diese Weise nur erfahren, wie nahe die Stadtwache der Aufklärung seiner Verbrechen war …

Die Kutsche hielt an. Lorlen warf einen Blick aus dem Fenster und rieb sich die Augen, als er draußen das Haus der Stadtwache erkannte. Er war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er den Weg der Kutsche gar nicht verfolgt hatte. Das Gefährt schaukelte ein wenig, als der Kutscher vom Bock kletterte, um ihm den Schlag zu öffnen. Lorlen stieg aus und legte die wenigen Schritte über den Gehsteig zum Eingang des Hauses zurück. In der kleinen Empfangshalle wurde er von Hauptmann Barran begrüßt.

»Guten Abend, Administrator. Vielen Dank, dass Ihr so rasch gekommen seid.«

Obwohl Barran noch jung war, hatten sich bereits tiefe Sorgenfalten auf seiner Stirn eingegraben. Heute schienen sie noch tiefer zu sein als sonst.

»Guten Abend, Hauptmann.«

»Ich habe einige interessante Neuigkeiten und etwas, das ich Euch zeigen möchte. Begleitet mich bitte in mein Arbeitszimmer.«

Lorlen folgte dem Mann durch einen Gang in einen kleinen Raum. Es war sehr still im Haus, obwohl auch am Abend immer einige Wachleute Bereitschaftsdienst hatten. Barran bat Lorlen, Platz zu nehmen, und schloss dann die Tür.

»Erinnert Ihr Euch noch, dass ich sagte, die Diebe hielten vielleicht ebenfalls Ausschau nach dem Mörder?«

»Ja.«

Barran lächelte schief. »Ich habe dafür eine Art Bestätigung bekommen. Es schien unvermeidbar, dass wir uns irgendwann über den Weg laufen würden, wenn die Stadtwache und die Diebe dem Mörder auf die Spur zu kommen versuchen. Jedenfalls hat sich herausgestellt, dass sie hier monatelang ihre Spione hatten.«

»Spione? In der Stadtwache?«

»Ja, selbst ein ehrbarer Mann muss in Versuchung geraten, Geld im Austausch für Informationen anzunehmen, wenn diese Informationen vielleicht zur Verhaftung des Mörders führen – vor allem, solange der Stadtwache in dieser Hinsicht keinerlei Erfolg beschieden ist.« Barran zuckte die Achseln. »Ich kenne noch nicht sämtliche Spione, und im Augenblick belasse ich sie gern, wo sie sind.«

Lorlen konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Wenn Ihr Rat braucht, wie man mit den Dieben verhandelt, hätte ich Euch gern Lord Dannyl geschickt, aber leider ist er zur Zeit als Botschafter der Gilde in Elyne.«

Der Hauptmann zog die Augenbrauen hoch. »Nun ja, eigentlich habe ich nicht vor, mit den Dieben über eine Zusammenarbeit zu verhandeln. Das würden die Häuser niemals gutheißen. Ich habe mit einem ihrer Spione vereinbart, dass er mir alle Informationen zukommen lässt, die er preisgeben darf. Es war bisher noch nichts Brauchbares dabei, aber das kann sich ja noch ändern.« Die Furchen auf seiner Stirn schienen noch tiefer zu werden. »Und jetzt will ich Euch etwas zeigen. Ihr sagtet, Ihr wolltet das nächste Opfer untersuchen. Heute Abend wurde eines gefunden, und ich habe die Leiche hierher bringen lassen.«

Lorlen lief es kalt den Rücken herunter, während Barran auf die Tür deutete.

»Der Tote liegt im Keller. Möchtet Ihr ihn jetzt sehen?«

»Ja.«

Lorlen erhob sich und folgte Barran hinaus in den Korridor. Schweigend gingen sie eine Treppe hinab und durch einen weiteren Flur. Die Luft im Keller war merklich kühler als im Erdgeschoss. Vor einer schweren Holztür machte Barran Halt und schloss dann auf.

Ein starker medizinischer Geruch schlug Lorlen entgegen, der aber einen noch weniger angenehmen Duft nicht ganz verdecken konnte. Der Raum, in den sie eintraten, war mit drei Bänken nur spärlich möbliert. Auf einer davon lag die unbekleidete Leiche eines Mannes, auf einer der beiden anderen säuberlich gefaltete Kleider.

Lorlen trat näher und machte sich widerstrebend an die Untersuchung der Leiche. Wie bei allen Morden in der letzten Zeit war dem Opfer das Herz durchstoßen worden, und ein Schnitt, der kaum tiefer als die Haut ging, zog sich an einer Seite seines Halses hinunter. Dessen ungeachtet war der Gesichtsausdruck des Mannes unerwartet friedlich.

Während Barran den Ort beschrieb, an dem man das Mordopfer gefunden hatte, musste Lorlen an ein Gespräch denken, das er während eines der regelmäßigen Treffen der Gilde im Abendsaal mit angehört hatte. Lord Darlen, ein jüngerer Heiler, hatte dreien seiner Freunde einen Patienten beschrieben.

»Er war schon tot, als er hier eintraf«, hatte Darlen kopfschüttelnd gesagt, »aber seine Frau erwartete von uns irgendwelche Aktivitäten, nur um sicherzugehen, dass wir alles getan hatten, was in unserer Macht stand. Also habe ich ihn untersucht.«

»Und nichts gefunden?«

Darlen hatte das Gesicht verzogen. »Ich fand – wie gewöhnlich bei einem Verstorbenen – noch Lebensenergie in reichem Maße. Sie rührt von den vielen Organismen her, die während der Zersetzung des Körpers aktiv sind. Aber sein Herz stand still, und sein Geist war erloschen. Allerdings konnte ich einen anderen Herzschlag entdecken. Schwach und langsam, aber definitiv ein Herzschlag.«

»Wie war das möglich? Hatte er zwei Herzen?«

»Nein.« Darlens Stimme klang gequält. »Er war… er war an einer Sefli erstickt.«

Zwei seiner Freunde, die ebenfalls Heiler waren, hatten gelacht. Der dritte, ein Alchemist, hatte Darlen ratlos angeschaut. »Wieso hatte er denn eine Sefli-Eidechse im Hals sitzen? Die sind doch giftig. Ist er von irgendjemandem ermordet worden?«

»Nein.« Darlen hatte geseufzt. »Ihr Biss ist giftig, aber ihre Haut enthält eine Substanz, die Euphorie und Visionen hervorruft. Manche lieben diesen Effekt. Sie lutschen an dem Reptil.«

»Sie lutschen an giftigen Reptilien?« Der junge Alchemist hatte es nicht glauben mögen. »Und was habt Ihr getan?«

Darlen wurde rot. »Die Sefli war dem Ersticken nahe, also habe ich sie herausgezogen. Anscheinend war die Frau mit den Gewohnheiten ihres Mannes nicht vertraut. Sie wurde hysterisch. Wollte nicht mehr in ihr Haus zurück, weil sie Angst hatte, es wimmle dort womöglich von diesen Tieren und eins könne ihr nachts in den Hals kriechen.«

Das hatte den beiden älteren Heilern weitere Lachsalven entlockt. Lorlen konnte sich bei dem Gedanken daran ein Lächeln nicht verkneifen. Die Heiler brauchten einen gewissen Sinn für Humor, aber dieser Humor nahm bei ihnen oft seltsame Formen an. Die Erinnerung hatte ihm jedoch eine Idee eingegeben. Eine Leiche war immer noch voller Lebensenergie, aber dem Körper eines Opfers schwarzer Magie sollte alle Lebensenergie entzogen worden sein. Um festzustellen, ob der Mörder sich schwarzer Magie bediente, brauchte Lorlen lediglich eins der Opfer mit seinen heilenden Sinnen zu untersuchen.

Nachdem Barran seine Beschreibung des Fundorts beendet hatte, trat Lorlen an die Bahre heran. Er wappnete sich innerlich, legte dem Toten eine Hand auf den Arm, schloss die Augen und drang mit seinen Sinnen in den leblosen Körper ein.

Es kam ihm überraschend einfach vor, bis ihm wieder einfiel, dass sich die von der Haut eines lebenden Wesens gebildete natürliche Grenze im Moment des Todes auflöste. Er streckte seinen Geist aus und durchsuchte die Leiche, fand aber nur äußerst geringfügige Spuren von Lebensenergie. Der Verwesungsprozess war unterbrochen worden – oder besser gesagt, hinausgezögert -, weil es keinen lebenden Organismus mehr in der Leiche gab, von dem ein solcher Prozess seinen Ausgang hätte nehmen können.

Lorlen öffnete die Augen und ließ den Arm des Toten los. Dann besah er sich den flachen Schnitt auf dem Hals des Mordopfers, der, dessen war er sich jetzt gewiss, den Mann getötet hatte. Der Stich ins Herz war vermutlich erst später erfolgt, um den Ermittlern eine plausible Todesursache vorzutäuschen. Er senkte den Blick auf den Ring an seinem Finger.

Also ist es wahr, überlegte er. Der Mörder bedient sich schwarzer Magie. Aber war dies nun Akkarins Tat, oder macht ein weiterer schwarzer Magier die Stadt unsicher?

2 Die Befehle des Hohen Lords

Rothen nahm die Tasse mit dampfendem Sumi von dem niedrigen Couchtisch und ging hinüber zum Fenster. Nachdem er die papierbespannte Blende zur Seite geschoben hatte, ließ er den Blick über die Gärten schweifen.

Der Frühling hatte dieses Jahr zeitig Einzug gehalten. An Hecken und Bäumen leuchteten kleine Blüten, und ein von seiner Arbeit begeisterter neuer Gärtner hatte entlang der Wege Rabatten mit leuchtend bunten Blumen angelegt. Obwohl der Morgen noch jung war, spazierten bereits Magier und Novizen durch die Blütenpracht.

Rothen hob die Tasse an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck. Der Sumi war frisch und bitter. Seine Gedanken wanderten zum Vorabend zurück, und unwillkürlich verzog er das Gesicht. Einmal in der Woche war er zum Abendessen bei seinem väterlichen Freund Lord Yaldin und dessen Frau, Ezrille, zu Gast. Yaldin war ein Freund von Rothens inzwischen verstorbenem Mentor, Lord Margen, gewesen und betrachtete es immer noch als seine Pflicht, ein Auge auf Rothen zu haben – und just aus diesem Grunde hatte sich Yaldin während der gestrigen Mahlzeit bemüßigt gefühlt, Rothen nahe zu legen, sich keine Sorgen mehr um Sonea zu machen.

»Ich weiß, dass du sie immer noch beobachtest«, hatte der alte Magier gesagt.

Rothen hatte die Achseln gezuckt. »Ich mache mir Sorgen um sie.«

Yaldin schnaubte leise. »Sie ist der Schützling des Hohen Lords. Sie ist nicht länger darauf angewiesen, dass du dich um ihr Wohlergehen sorgst.«

»Das ist sie durchaus«, hatte Rothen erwidert. »Glaubst du, der Hohe Lord gäbe etwas darum, ob sie glücklich ist oder nicht? Er ist lediglich an ihren akademischen Fortschritten interessiert. Aber das Leben besteht nicht nur aus Magie.«

Ezrille lächelte traurig. »Natürlich tut es das nicht, aber…« Sie zögerte und seufzte dann. »Sonea hat, seit der Hohe Lord sich zu ihrem Mentor erklärt hat, kaum noch ein Wort mit dir gesprochen. Glaubst du nicht, sie hätte dich inzwischen einmal besucht, falls sie dich brauchte? Sie ist jetzt bereits über ein Jahr bei ihm. Ganz gleich, wie sehr ihre Studien sie in Anspruch nehmen, sie hätte gewiss die Zeit finden können, dich einmal zu treffen.«

Rothen war unwillkürlich zusammengezuckt. Die mitleidigen Mienen des Ehepaares sprachen eine deutliche Sprache; sie hatten seine Reaktion bemerkt und mussten nun glauben, er sei verletzt, weil Sonea ihn so offensichtlich fallen gelassen hatte.

»Es geht ihr wirklich gut«, hatte Yaldin sanft gesagt. »Und dieser Unfug mit den anderen Novizen ist lange vorbei. Kümmere dich nicht weiter darum, Rothen.«

Rothen hatte Zustimmung geheuchelt. Er konnte seinen Freunden die wahren Gründe dafür, dass er Sonea beobachtete, nicht nennen. Wenn er es täte, würde er mehr als nur Soneas Leben gefährden. Selbst wenn Yaldin und Ezrille sich zum Schweigen verpflichten würden, um Sonea zu schützen – Akkarin hatte befohlen, dass es niemand anders wissen dürfe. Einen Verstoß gegen diesen »Befehl« könnte Akkarin als Vorwand benutzen, um… ja, um was zu tun? Um sich die Gilde mit schwarzer Magie gefügig zu machen? Er war bereits der Hohe Lord. Was sonst sollte er noch wollen?

Vielleicht noch mehr Macht. Vielleicht die Regierungsgewalt, die jetzt dem König zukam. Die Herrschaft über die verbündeten Länder. Die Freiheit, nach Belieben mittels schwarzer Magie seine Kräfte weiter anwachsen zu lassen, bis er mächtiger war als jeder Magier vor ihm.

Aber wenn Akkarin etwas Derartiges hätte tun wollen, dann hätte er es bestimmt schon vor langer Zeit getan. Rothen musste zähneknirschend anerkennen, dass Akkarin seines Wissens nichts unternommen hatte, um Sonea irgendwie zu schaden. Er hatte sie nur ein einziges Mal in Gesellschaft ihres Mentors gesehen, und zwar am Tag der Herausforderung, des großen Kampfes in der Arena.

Yaldin und Ezrille hatten das Thema schließlich fallen lassen. »Wenigstens nimmst du jetzt kein Nemmin mehr«, hatte Ezrille noch gemurmelt, bevor sie sich nach Dorrien, Rothens Sohn, erkundigt hatte.

Bei der Erinnerung daran verspürte Rothen leichte Verärgerung. Er blickte zu Tania, seiner Dienerin, hinüber. Sie war gerade dabei, mit einem Tuch sorgfältig seine Bücherregale abzustauben.

Tania hatte Ezrille und Yaldin aus Sorge um seine Gesundheit erzählt, dass er ein Schlafmittel nahm. Obwohl er wusste, dass er sich normalerweise vollkommen auf die Verschwiegenheit seiner Dienerin verlassen konnte, stieg ein leiser Groll in ihm auf. Aber wie konnte er ihr diese Indiskretion verübeln, da sie doch bereitwillig für ihn die Spionin spielte? Da Tania mit Soneas Dienerin, Viola, befreundet war, konnte sie ihn auf diese Weise über Soneas Gesundheitszustand, ihre Stimmungen und gelegentliche Besuche bei ihrer Tante und ihrem Onkel in den Hüttenvierteln auf dem Laufenden halten.

Dannyl hätte sich über all diese »Spionage« amüsiert. Bei einem weiteren Schluck Sumi dachte Rothen darüber nach, was er über die Aktivitäten seines Freundes im letzten Jahr wusste. Aus Dannyls Briefen ging hervor, dass er sich mit seinem Assistenten, Tayend, eng angefreundet hatte. Die Spekulationen über Tayends sexuelle Neigungen hatten nur wenige Wochen angehalten. Jeder in der Gilde wusste, dass die Elyner zu maßlosem Klatsch und Tratsch neigten, und es gab nur einen einzigen Grund, warum die angebliche Vorliebe Tayends für Liebhaber männlichen Geschlechts bei den Magiern der Gilde überhaupt Aufmerksamkeit gefunden hatte: Dannyl war in seiner Jugend einmal eines ungehörigen Interesses an Männern beschuldigt worden, aber der Vorwurf hatte nie bewiesen werden können. Solange keine neuen Gerüchte über Dannyl oder dessen Assistenten Kyralia erreichten, würde kaum ein Magier einen weiteren Gedanken an das Freundespaar verschwenden.

Mehr Sorgen bereiteten Rothen die Nachforschungen, die anzustellen er Dannyl gebeten hatte. Die Frage, wann Akkarin wohl Gelegenheit gehabt hatte, sich mit schwarzer Magie vertraut zu machen, hatte Rothens Aufmerksamkeit auf die Reise gelenkt, die Akkarin vor vielen Jahren unternommen hatte, um alte Magie zu erforschen. Es schien gut möglich zu sein, dass Akkarin während jener Zeit die verbotene Kunst entdeckt hatte. Und die gleichen Quellen, aus denen er geschöpft hatte, mochten auch Informationen darüber enthalten, welche Schwäche der schwarzen Magie anhaftete und wie man eine solche Schwäche ausnutzen konnte. Deswegen hatte Rothen Dannyl gebeten, für ein »Buch«, das er angeblich schreiben wolle, den Spuren alter Magie nachzugehen.

Unglücklicherweise hatte Dannyl allerdings wenig Brauchbares zutage gefördert. Als er vor über einem Jahr unangemeldet nach Kyralia und in die Gilde zurückgekehrt war, um Akkarin Bericht zu erstatten, hatte Rothen befürchten müssen, sein Plan könne entdeckt worden sein. Dannyl hatte Rothen allerdings nach seinem Treffen mit Akkarin versichert, dass er diesem gesagt habe, er hätte die Nachforschungen aus eigenem Interesse angestellt – und zu Rothens großer Überraschung hatte Akkarin Dannyl ermutigt, damit fortzufahren. Dannyl schickte immer noch alle paar Monate Forschungsberichte, aber mit jedem Mal fielen seine Sendungen kleiner aus. Sein Freund hatte sich enttäuscht gezeigt, dass er bereits alle Quellen, die es in Elyne zur alten Magie gab, ausgeschöpft habe. Trotzdem konnte Rothen, wenn er daran dachte, wie zurückhaltend und ausweichend Dannyl ihm gegenüber bei seinem kurzen Besuch in der Gilde gewesen war, die Frage nicht ganz beiseite schieben, ob sein Freund nicht möglicherweise etwas für sich behielt. Außerdem hatte Dannyl damals erwähnt, dass er einige Dinge mit dem Hohen Lord vertraulich besprochen habe.

Rothen stellte seine leere Tasse zurück auf den niedrigen Tisch. Dannyl war jetzt Botschafter der Gilde, und als solcher wurden ihm auch Informationen anvertraut, die er nicht mit gewöhnlichen Magiern teilen durfte. Bei den vertraulichen Dingen konnte es sich durchaus um etwas Politisches gehandelt haben.

Dennoch konnte er der Sorge nicht ganz Herr werden, dass Dannyl, ohne es zu wissen, Werkzeug irgendeines finsteren, entsetzlichen Plans Akkarins war.

Wie dem auch sein mochte, er war dagegen machtlos. Er konnte nur auf Dannyl, dessen Verstand und Urteilsvermögen vertrauen. Sein Freund würde nicht blindlings jedem Befehl folgen, vor allem dann nicht, wenn er etwas Fragwürdiges oder Böses würde tun sollen.


Jedes Mal, wenn Dannyl die große Bibliothek aufsuchte, erfüllte ihn deren Anblick aufs Neue mit Staunen. In eine hohe Felswand gehauen, waren die übergroßen Türen und Fenster des Bauwerks so gewaltig, dass man sich leicht vorstellen konnte, sie seien von Riesen aus dem Fels geschlagen worden. Die Flure und Räume innerhalb des Gebäudes dagegen entsprachen den Proportionen gewöhnlicher Sterblicher. Als seine Kutsche draußen vor der massiven Tür vorfuhr, öffnete sich in der unteren Ecke derselben eine kleinere Tür, und ein auffällig gekleideter junger Mann trat heraus.

Mit einem warmen Gefühl der Zuneigung stieg Dannyl aus und begrüßte lächelnd seinen Freund und Liebhaber. Tayends Verbeugung ließ Respekt erkennen, aber als er sich wieder aufrichtete, lag ein vertrauliches Grinsen auf seinem Gesicht.

»Du hast eine ganze Weile gebraucht, um herzukommen, Botschafter«, sagte er.

»Gib nicht mir die Schuld. Ihr Elyner hättet Eure Stadt näher an der Bibliothek erbauen sollen.«

»Das ist wirklich eine hervorragende Idee. Ich werde sie dem König unterbreiten, wenn ich das nächste Mal bei Hofe bin.«

»Du bist nie bei Hofe.«

»Das ist richtig.« Tayend lächelte. »Irand möchte dich sprechen.«

Dannyl überlegte. Wusste der Bibliothekar bereits von den Dingen, die in dem Brief standen, den Dannyl gerade bekommen hatte? Hatte er selbst einen ähnlichen Brief erhalten?

»Worüber?«

Tayend zuckte die Achseln. »Ich glaube, er will einfach nur ein wenig plaudern.«

Sie traten durch die kleinere Tür ein, folgten einem Gang und stiegen dann eine Treppe hinauf, die sie in einen langen, schmalen Raum führte. Eine Seite wurde von mehreren Fenstern beherrscht, und über die ganze Länge des Raums verteilt standen Gruppen von Sesseln.

In einem dieser Sessel saß ein älterer Mann. Er machte Anstalten, sich zu erheben, aber Dannyl wehrte mit einer Geste ab.

»Bleibt sitzen, Bibliothekar.« Er ließ sich in einen der anderen Sessel fallen. »Wie geht es Euch?«

Irand zog fast unmerklich die Schultern hoch. »Für einen alten Mann gut genug. Und wie geht es Euch, Botschafter?«

»Gut. In der Botschaft ist im Moment nicht viel zu tun. Einige Überprüfungen von Novizenanwärtern, einige obligatorische Gespräche und ein paar kleine Geselligkeiten. Nichts, was meine Zeit übermäßig in Anspruch nehmen würde.«

»Und Errend?«

Dannyl lächelte. »Der erste Botschafter der Gilde ist so munter wie eh und je«, erwiderte er. »Und sehr erleichtert, mich heute den ganzen Tag aus dem Weg zu haben.«

Irand kicherte. »Tayend erzählte mir, dass Eure Forschungen in eine Sackgasse geraten seien.«

Dannyl seufzte und blickte zu Tayend hinüber. »Bei den Büchern hier in der Bibliothek bestünde die geringe Chance, etwas Neues zu finden, wenn wir sie lesen würden, aber damit wären Hunderte von Assistenten mehrere Leben lang beschäftigt.«

Dannyl hatte auf Lorlens Wunsch hin begonnen, die alte Magie zu erforschen, und inzwischen selbst Interesse an der Sache entwickelt. Akkarin hatte gleiche Forschungen unternommen, lange bevor er zum Hohen Lord der Gilde ernannt worden war; ihn hatte damals die Suche nach den Spuren der alten Magie fünf Jahre lang außer Landes geführt. Er war allerdings mit leeren Händen zurückgekehrt, und Dannyl hatte zunächst vermutet, dass Lorlen ihm den Auftrag erteilt hatte, Akkarins Schritte nachzuverfolgen, um seinen Freund mit Informationen zu versorgen, die er übersehen hatte oder die ihm verloren gegangen waren.

Aber sechs Monate nach dem Beginn seiner Arbeiten und nachdem Dannyl bereits in Lonmar und Vin gewesen war, hatte Lorlen ihn plötzlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass er die gesuchten Informationen nicht mehr benötige. Und zur nämlichen Zeit hatte plötzlich Rothen ein dringendes Interesse für das gleiche Thema entwickelt. Dieser merkwürdige Zufall und Dannyls eigene inzwischen geweckte Neugier, was die Geheimnisse der alten Magie anbelangte, hatten Dannyl und Tayend bewogen, ihre Forschungen fortzusetzen.

Akkarin hatte schließlich von Dannyls Aktivitäten erfahren und ihn nach Hause beordert. Zu Dannyls großer Erleichterung hatte sich der Hohe Lord mit seiner Arbeit zufrieden gezeigt, allerdings angeordnet, dass Dannyl und Tayend ihre merkwürdigste Entdeckung, die Höhle der Höchsten Strafe, geheim halten sollten. Die große Felskammer, die sie unter den Ruinen einer Stadt in den Bergen von Elyne gefunden hatten, wurde von einer edelsteinbesetzten, magisch aufgeladenen Kuppel überwölbt, die Dannyl angegriffen und beinahe getötet hatte.

Wie sie funktionierte, war ein Rätsel. Nachdem Dannyl noch einmal dorthin zurückgekehrt war, um den Eingang der Höhle zu versiegeln, hatte er in der großen Bibliothek nach irgendeinem Hinweis auf diesen sonderbaren Ort gesucht, aber nichts gefunden. Offensichtlich war nur, dass diese Höhle eine Form von Magie nutzte, die der Gilde unbekannt war.

»Vermutlich würde ich mehr herausfinden, wenn ich nach Sachaka ginge«, fügte Dannyl hinzu, »aber der Hohe Lord hat meine Bitte, dorthin reisen zu dürfen, abgelehnt.«

Irand nickte. »Eine weise Entscheidung. Ihr könntet Euch nicht sicher sein, wie Ihr dort empfangen würdet. Es wird dort sicherlich Magier geben. Obwohl sie weniger fähig sein dürften als Ihr und Eure Kollegen, würden sie doch für einen einzelnen Magier der Gilde eine Gefahr darstellen. Schließlich hat die Gilde einen großen Teil Sachakas verwüstet, und das wird man Euch immer noch übel nehmen. Was werdet Ihr denn stattdessen tun?«

Dannyl zog einen zusammengefalteten Brief aus seinen Roben und reichte ihn Irand. »Ich bin mit einer neuen Aufgabe betraut worden.«

Als der Bibliothekar die Reste des Siegels Seiner Hohen Lordschaft erkannte, zögerte er, bevor er den Brief öffnete.

»Worum handelt es sich?«, fragte Tayend.

»Um eine Untersuchung«, erwiderte Dannyl. »Es scheint so, als versuchten einige Adlige dieses Landes eine eigene, ›wilde‹ Gilde zu organisieren.«

Auf der Miene des Gelehrten zeichnete sich zunächst Erstaunen, dann Nachdenklichkeit ab. Irand sog hörbar die Luft ein und blickte Dannyl über den Brief hinweg an.

»Dann weiß er es also.«

Dannyl nickte. »So scheint es.«

»Was weiß er?«, fragte Tayend.

Irand reichte den Brief an Tayend weiter. Der Gelehrte las ihn laut vor.

»Ich beobachte seit einigen Jahren die Anstrengungen einer kleinen Gruppe elynischer Höflinge, ohne die Hilfe oder das Wissen der Gilde Magie zu erlernen. Aber erst vor kurzem war ihnen ein erster Erfolg beschieden. Nachdem es jetzt zumindest einem von ihnen gelungen ist, seine Kräfte freizusetzen, ist die Gilde berechtigt und verpflichtet, sich dieser Angelegenheit anzunehmen. Ich sende Euch mit diesem Schreiben Informationen über die besagte Gruppe. Ihr werdet feststellen, dass Euer Verhältnis zu dem Gelehrten Tayend von Tremmelin sehr dazu beitragen wird, diese Leute davon zu überzeugen, dass Ihr vertrauenswürdig seid.«

Tayend hielt inne und starrte Dannyl an. »Was meint er damit?«, rief er.

Dannyl deutete mit dem Kopf auf den Brief. »Lies weiter.«

»Es ist möglich, dass die Rebellen versuchen werden, diese Information über Eure persönlichen Verhältnisse gegen Euch zu verwenden, wenn Ihr sie in Arrest genommen habt. Ich werde auf jeden Fall klarstellen, dass Ihr den Rebellen auf meinen Wunsch hin Eure Verhältnisse so dargestellt habt, um Euer Ziel zu erreichen.«

Tayend hob den Blick und sah Dannyl an. »Du hast gesagt, er wüsste nichts von uns. Wie ist es möglich, dass er davon weiß? Oder hat er lediglich von den Gerüchten erfahren und es einfach darauf ankommen lassen?«

»Das bezweifle ich«, erwiderte Irand. »Ein Mann wie der Hohe Lord wird dergleichen nur schreiben, wenn er sich seiner Sache vollkommen sicher ist. Wer hat denn sonst noch von Eurem Verhältnis erfahren?«

Tayend schüttelte den Kopf. »Niemand sonst. Es sei denn, jemand hätte uns belauscht…« Er blickte sich um.

»Bevor wir hier nach Spionen suchen, sollten wir eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte Dannyl. Er verzog das Gesicht und rieb sich die Schläfen. »Akkarin verfügt über einige außergewöhnliche Fähigkeiten. Für alle anderen Magier gibt es beim Gedankenlesen klare Grenzen. Wir können es nur bei jemandem, der es uns gestattet, und nur so lange, wie wir diese Person berühren. Akkarin hat einmal die Gedanken eines Verbrechers gelesen, um dessen Schuld zu beweisen. Der Mann hätte eigentlich in der Lage sein sollen, ihn davon abzuhalten, aber irgendwie hat Akkarin den Widerstand seines Geistes gebrochen. Und manche Magier glauben, dass Akkarin sogar in der Lage ist, über weite Entfernung hinweg Gedanken zu lesen.«

»Du vermutest also, dass er deine Gedanken gelesen hat, als du in Kyralia warst?«

»Vielleicht. Vielleicht hat er es aber auch getan, als er mir befahl, in die Gilde zurückzukommen.«

Irand zog die Augenbrauen hoch. »Als Ihr in den Bergen wart? Wenn er über eine solche Entfernung hinweg Gedanken lesen kann, ist das wirklich sehr außergewöhnlich.«

»Ich bezweifle, dass er es gekonnt hätte, wenn ich auf seinen Gedankenruf nicht geantwortet hätte. Nachdem aber die Verbindung erst einmal zustande gekommen war, hat er vielleicht mehr sehen können, als ich ihn sehen lassen wollte.« Dannyl deutete auf den Brief und nickte. »Lies weiter, Tayend. Es fehlt noch ein Absatz.«

Tayend wandte sich wieder dem Brief zu. »Euer Assistent ist diesen Rebellen schon zuvor begegnet. Er sollte in der Lage sein, Euch mit ihnen bekannt zu machen. Und wie ist es möglich, dass er das weiß?«

»Ich hatte gehofft, dass du es mir erklären könntest.«

Stirnrunzelnd blickte der Gelehrte auf den Brief. »Jeder in Elyne hat das eine oder andere Geheimnis. Über manche redet man, andere behält man am besten für sich.« Er blickte abwechselnd Dannyl und Irand an. »Vor einigen Jahren bin ich von einem Mann namens Royend von Marane zu einem Geheimtreffen eingeladen worden. Als ich ablehnte, versicherte er mir, es handele sich nicht um das, was ich glaube – es gehe dabei nicht um die Wollust des Fleisches oder des Geistes. Er sagte, es handele sich um eine gelehrsame Zusammenkunft. Aber dennoch machte er den Eindruck, als habe er etwas zu verbergen, und ich ließ mir das zur Warnung gereichen und nahm an dem Treffen nicht teil.«

»Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht, dass es sich um das Angebot handelte, magische Kenntnisse zu erwerben?«, fragte Irand.

»Nein, aber welche anderen gelehrsamen Ziele würde man wohl geheim halten müssen? Es ist kein Geheimnis, dass mir seinerzeit ein Platz in der Gilde angeboten worden war und dass ich davon keinen Gebrauch gemacht hatte. Und meine speziellen Neigungen sind ebenfalls wohlbekannt.« Er blickte Dannyl an. »Er wusste also, dass ich über magisches Potenzial verfüge, und konnte sich meine Gründe dafür, die Roben der Magier nicht zu nehmen, sehr wohl denken.«

Irand nickte. »Der Hohe Lord weiß das vermutlich auch. Vom Standpunkt dieser Rebellen aus wäre es nur vernünftig, alle anzusprechen, die den Eintritt in die Gilde abgelehnt haben oder von der Gilde zurückgewiesen worden sind.« Er überlegte kurz und sah dann Dannyl an. »Und Akkarin weiß offensichtlich sehr genau über Eure Verhältnisse Bescheid, hat Euch aber dennoch nicht zurückgerufen oder irgendwie beschuldigt. Vielleicht ist er toleranter, als es die meisten Kyralier sind.«

Dannyl lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Nur weil ich ihm nützlich bin. Er mutet mir große Risiken zu, damit ich diese Rebellen finde.«

»Ein Mann in seiner Position darf nicht zögern, diejenigen, die ihm unterstellt sind, zu benutzen«, sagte Irand streng. »Ihr habt Euch dafür entschieden, Botschafter der Gilde zu werden, Dannyl. Jetzt seid Ihr der verlängerte Arm des Hohen Lords. Manchmal muss man große persönliche Risiken eingehen, um seinen Aufgaben gerecht zu werden. Lasst uns hoffen, dass diesmal nur Euer Ruf auf dem Spiel steht und nicht Euer Leben.«

Dannyl seufzte. »Ihr habt Recht. Natürlich ist es so.«

Tayend kicherte. »Irand hat immer Recht, außer wenn es um die Methoden der Katalogisierung geht…« Er grinste, als der Bibliothekar sich abrupt und mit strengem Blick zu ihm umwandte. »Ich vermute also, dass die Rebellen annehmen, Dannyl habe allen Grund, der Gilde zu grollen. In diesem Falle werden sie in ihm ebenfalls einen potenziellen Bündnispartner sehen.«

»Und einen Lehrer«, fügte Irand hinzu.

Dannyl nickte. »Wenn ich mich als unwillig erweisen sollte, werden sie wahrscheinlich denken, sie könnten mein Schweigen erzwingen, indem sie damit drohen, mein Verhältnis zu Tayend bekannt zu machen.«

»Ja. Du musst die Sache allerdings sorgfältig planen«, warnte Tayend.

Sie erwogen verschiedene Möglichkeiten, mit den Rebellen Kontakt aufzunehmen. Nicht zum ersten Mal war Dannyl froh, das Vertrauen des Bibliothekars zu genießen. Tayend hatte einige Monate zuvor darauf bestanden, dass sie seinem Irand ihr Verhältnis offenbarten – er würde dem alten Mann jederzeit sein Leben anvertrauen, hatte er Dannyl versichert. Zu Dannyls Bestürzung hatte Irand sich durchaus nicht überrascht gezeigt.

Soweit Dannyl und Tayend wussten, glaubte man am Hof von Elyne weiterhin, dass Dannyl Tayends Neigung zum gleichen Geschlecht unbekannt sei und er sie auf keinen Fall teile. Rothen hatte Dannyl von ähnlichen Gerüchten berichtet, die in der Gilde die Runde gemacht hätten, aber schnell wieder verstummt seien. Trotz alledem fürchtete Dannyl, dass in der Gilde die Wahrheit bekannt werden, er seiner Stelle enthoben und zurückbeordert werden könnte.

Deswegen hatte ihn auch Akkarins Wunsch, die Rebellen die Wahrheit über ihn und Tayend herausfinden zu lassen, so erschreckt und verärgert. Es war schwer genug, seine Beziehung zu Tayend geheim zu halten. Sich den Rebellen gegenüber zu offenbaren, war ein Risiko, das er nicht eingehen wollte.


Es war schon spät, als es an der Tür klopfte. Sonea blickte von ihrem Tisch auf. Brachte ihre Dienerin ihr noch einen Becher heißen Raka? Sie hob die Hand, hielt dann aber inne. Lord Yikmo, der Krieger, der sie zur Vorbereitung auf den Herausforderungskampf trainiert hatte, hatte immer gesagt, ein Magier solle sich nach Möglichkeit abgewöhnen zu gestikulieren, wenn er Magie übte – denn durch seine Gesten ließ er stets seine Absichten erkennen. Mit unbewegten Händen öffnete sie lediglich mit ihrem Willen die Tür. Takan stand draußen auf dem Flur.

»Mylady«, sagte er. »Der Hohe Lord wünscht Euch in der Bibliothek zu sehen.«

Sie starrte ihn an und spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Was wollte Akkarin zu dieser späten Stunde von ihr?

Takan hielt den Blick unverwandt auf Sonea gerichtet und wartete.

Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging zur Tür. Takan begleitete sie zur Bibliothek. Bevor sie eintrat, spähte sie verstohlen durch die bereits geöffnete Tür.

Die Wände waren ringsum mit Bücherregalen vollgestellt; vor einem stand mit ausreichend Abstand ein großer Tisch. Die einzigen anderen Möbel waren zwei große Sessel mit einem kleinen Tisch mitten im Raum. In einem der Sessel saß Akkarin. Sonea verbeugte sich vor ihm, und er deutete auf den anderen Sessel, vor dem auf dem Tisch ein kleines Buch lag.

»Ich möchte, dass du dieses Buch liest«, sagte er. »Es wird dir bei deinen Studien zur Errichtung von Bauwerken mittels Magie nützlich sein.«

Sonea trat an den Tisch, nahm das kleine, in Leder gebundene und sehr zerlesene Buch zur Hand und schlug es auf. Die Seiten waren mit einer verblichenen Handschrift bedeckt. Sie las die ersten Zeilen und sog scharf die Luft ein. Es war das Tagebuch Lord Corens, desjenigen Architekten, der die meisten der Gebäude der Gilde entworfen hatte und dem man die Entdeckung verdankte, wie man mittels Magie Steine formte.

»Ich glaube, ich brauche dir nicht zu sagen, wie wertvoll dieses Buch ist«, bemerkte Akkarin leise. »Es ist selten, geradezu unersetzlich, und«, seine Stimme wurde etwas energischer, »es darf diesen Raum nicht verlassen.«

Sonea nickte. Sein Gesichtsausdruck war ernst, und er starrte sie durchdringend an.

»Du wirst auch mit niemandem darüber sprechen«, fügte er etwas freundlicher hinzu. »Nur wenige Menschen wissen von seiner Existenz, und ich möchte, dass es so bleibt.«

Sie trat einen Schritt zurück, als er sich erhob und zur Tür ging. Dann bemerkte sie, dass Takan sie mit ungewohnter Direktheit musterte, als wolle er sich ein genaues Bild von ihr machen. Ihre Blicke trafen sich. Er nickte wie zur Bestätigung und wandte sich dann ab. Dann verhallten seine Schritte – wie zuvor die Akkarins – auf dem Flur. Sonea wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Buch zu, das sie in Händen hielt.

Sie setzte sich, schlug den Buchdeckel auf und begann zu lesen:

Ich bin Coren von Emarin aus dem Hause Velan und beginne hiermit die Aufzeichnungen zu meiner Arbeit und meinen Entdeckungen.

Ich bin niemand, der aus Stolz, aus Gewohnheit oder weil er andere mit seinem Leben vertraut machen will über sich selbst schreibt. In meiner Vergangenheit hat es kaum etwas gegeben, das ich nicht mit meinen Freunden oder meiner Schwester hätte besprechen können. Heute allerdings stelle ich fest, dass es notwendig geworden ist, meine Gedanken auf Papier festzuhalten. Ich bin auf etwas gestoßen, das ich als Geheimnis bewahren muss, und spüre doch gleichzeitig den unabweisbaren Drang, davon zu berichten.

Sonea warf kurz einen Blick auf das Datum, das oben auf der Seite vermerkt war. Dank ihrer jüngsten Studien entnahm sie ihm, dass Lord Coren noch jung und rastlos gewesen war, als er sein Tagebuch begonnen hatte. Und er hatte nicht gerade in der Gunst der älteren Magier gestanden, da er übermäßig dem Wein zusprach und merkwürdige, unpraktische Bauten zu entwerfen pflegte.

Ich habe die Truhe heute in meine Räume bringen lassen. Es bedurfte einiger Zeit, sie zu öffnen. Das magische Schloss war bald überwunden, aber der Deckel war festgerostet. Ich wollte kein Risiko eingehen, irgendetwas in der Truhe zu beschädigen, und bin deswegen sehr vorsichtig zu Werke gegangen. Als ich die Truhe schließlich geöffnet hatte, war ich enttäuscht und erfreut zugleich. Sie war voller Schachteln, die auf den ersten Blick sehr vielversprechend aussahen. Ich öffnete eine nach der anderen, fand aber lediglich Bücher darin. Nach der letzten Schachtel war meine Enttäuschung groß. Ich hatte keinen vergrabenen Schatz entdeckt, sondern nur Bücher.

Soweit ich bisher gesehen habe, enthalten sie alle irgendwelche Aufzeichnungen. Ich habe bis spät in die Nacht gelesen und bin von vielem sehr verwirrt. Morgen werde ich weiterlesen.

Sonea musste unwillkürlich lächeln, als sie sich den jungen Magier vorstellte, wie er eingeschlossen in seinem Zimmer saß und las. Die folgenden Eintragungen waren in unregelmäßigen Abständen gemacht, oft mit tagelangen Pausen dazwischen. Dann stieß sie auf eine kurze Eintragung, die mehrfach unterstrichen war.

Jetzt weiß ich, was ich gefunden habe! Dies sind die fehlenden Aufzeichnungen!

Er nannte die Titel einiger der Bücher, aber Sonea kannte keines davon. Diese fehlenden Aufzeichnungen stecken »voller verbotenem Wissen«, und Coren hatte es offensichtlich widerstrebt, ihren Inhalt näher zu beschreiben. Nach einer Lücke von mehreren Wochen folgte eine lange Eintragung mit der Beschreibung eines Experiments, deren Schluss folgendermaßen lautete:

Endlich habe ich doch noch Erfolg gehabt! Es hat so lange gedauert. Ich verspüre sowohl Triumph als auch eine Furcht, die mich besser vorher befallen hätte. Ich bin mir nicht sicher, warum das so ist. Bevor ich herausfand, wie diese Kraft genutzt wird, war ich immer noch irgendwie unschuldig. Jetzt aber kann ich nicht länger leugnen, jemals schwarze Magie geübt zu haben. Ich habe meinen Eid gebrochen. Ich habe mir vorher nicht klar gemacht, was für ein schreckliches Gefühl das sein würde.

Aber es war nicht schrecklich genug gewesen, um ihn aufzuhalten. Sonea gab sich große Mühe zu verstehen, warum dieser junge Mann mit etwas fortfuhr, von dem er deutlich sah, dass es falsch war. Er schien nicht in der Lage gewesen zu sein, damit aufzuhören, ohne genau zu wissen, wohin ihn seine Entdeckung führen würde – selbst wenn es die Offenbarung seines Verbrechens sein sollte.

Aber es hatte ihn zu etwas anderem geführt…

Alle, die mich kennen, wissen, wie sehr ich Stein liebe. Stein ist das schöne Fleisch der Erde. Er hat Risse und Furchen wie die Haut. Er hat Adern und Poren. Stein kann hart sein, weich, spröde oder elastisch. Wenn die Erde ihren geschmolzenen Kern ausspeit, ist der Stein rot wie Blut.

Nachdem ich die schwarze Magie kennen gelernt hatte, erwartete ich eine erstaunliche Menge von Lebensenergie zu verspüren, sobald ich die Hand auf Stein legte. Aber ich wurde enttäuscht. Ich spürte nichts; weniger noch als das Kitzeln von Wasser. Ich hätte mir gewünscht, der Stein wäre voller Leben gewesen. Und in diesem Augenblick geschah es. Wie ein Heiler, der versucht, einen Sterbenden mit seinem Willen wieder gesund zu machen, begann ich, Stein mit Energie zu füllen. Durch meinen Willen wurde er lebendig. Und dann passierte etwas ganz Erstaunliches.

Sonea hielt das kleine Buch fest in Händen und konnte ihren Blick nicht mehr von den Worten darin abwenden. Dies war die Entdeckung, die Coren berühmt gemacht und die Architektur der Gilde für Jahrhunderte bestimmt hatte. Man hielt sie für den größten Fortschritt, den die Magie im Lauf der letzten Jahrhunderte gemacht hatte. Und obwohl das, was Coren getan hatte, keine schwarze Magie war, hatte ihn doch diese verbotene Kunst erst zu seiner Entdeckung geführt.

Sonea schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Lord Larkin, der Lehrer für Architektur, würde all seinen Reichtum für dieses Tagebuch hergeben, aber es würde ihn zutiefst erschüttern, die Wahrheit über sein großes Vorbild zu erfahren. Sie seufzte, wandte den Blick wieder dem Buch zu und las weiter.

3 Alte Freunde, neue Verbündete

Schwungvoll unterzeichnete Cery den Brief und betrachtete dann zufrieden sein Werk. Die Handschrift war sauber und elegant, das Papier von guter Qualität, die Tinte dunkel und schwarz. Abgesehen von den Gossenausdrücken – er hatte sich von Serin nur das Lesen und Schreiben beibringen lassen und nicht die vornehme Ausdrucksweise der Häuser – handelte es sich um einen schönen, gut geschriebenen Brief. Genauer gesagt um die Bitte, einen Mann zu töten, der ihn verraten und sich dann nach Süden abgesetzt hatte.

Er war eines Tages an Faren, den Dieb, der Sonea vor der Gilde versteckt hatte, herangetreten und hatte ihn gebeten, ihm seinen Schreiber für eine Weile zu überlassen, Bei der Erinnerung daran huschte ein Lächeln über seine Züge. Farens Gesichtsausdruck hatte zugleich Widerstreben und Dankbarkeit widergespiegelt. Unter anderen Umständen hätte der Dieb ihm seine Bitte gewiss abgeschlagen, aber er war seinerzeit verzweifelt auf die Stärkung seiner Position angewiesen, die ihm dieses Arrangement eintragen würde.

Farens Stellung bei den Dieben war in dem Jahr, nachdem er Sonea der Gilde ausgeliefert hatte, in steter Gefahr gewesen. Jeder Dieb benötigte ein Netzwerk von Menschen, die bereit waren, für ihn zu arbeiten. Manche taten das für Geld, aber die meisten zogen es vor, »eine Gefälligkeit zu erweisen«, die irgendwann einmal erwidert werden würde. Diese Gefälligkeiten waren in der Unterwelt eine zweite Währung.

Faren hatte viele Gefälligkeiten, die andere ihm schuldeten, einfordern müssen, um Sonea nicht in die Hände der Gilde fallen zu lassen. Das wäre nicht weiter schädlich gewesen, denn alle anderen wussten ja, dass er Sonea versteckte, damit sie im Gegenzug ihre Magie für ihn einsetzte – und diese Abmachung hatte er gebrochen. Die anderen Diebe hatten Faren »gebeten«, Sonea auszuliefern – nach eindringlichen Warnungen der Gilde, Soneas Kräfte würden zu gefährlich werden, wenn man ihr deren Kontrolle nicht beibrachte. Und obwohl er sich der Forderung der anderen Führer der Unterwelt wohl kaum hatte widersetzen können, war doch eine Abmachung gebrochen worden. Die Diebe waren darauf angewiesen, dass man sie für vertragstreu hielt; anderenfalls hätten nur noch die Verzweifelten oder die Dummen sich auf Geschäfte mit ihnen eingelassen. Vor dem völligen Ruin hatte Faren damals allein die Tatsache bewahrt, dass Sonea ihm mit ihrer Magie kein einziges Mal hatte nützlich sein können und so auch ihre Seite des Abkommens unerfüllt geblieben war.

Serin allerdings war ihm treu geblieben. Er hatte Cery während des Schreib- und Leseunterrichts kaum Informationen über Farens Angelegenheiten zukommen lassen – nichts jedenfalls, was Cery nicht ohnehin wusste. Cery hatte schnell gelernt – möglicherweise war ihm dabei zugute gekommen, dass er einige der Unterrichtsstunden Soneas bei dem Schreiber beobachtet hatte.

Indem er als Soneas Freund einen Handel mit Faren eingegangen war, hatte Cery die anderen davon überzeugen können, dass der Dieb immer noch vertrauenswürdig war.

Cery nahm ein aus einem getrockneten Schilfhalm gefertigtes, schlankes Rohr aus seiner Schreibtischschublade, rollte den Brief zusammen und schob ihn hinein. Dann verschloss er die Röhre und versiegelte sie mit Wachs. Mit einem Yerim – einer Art Ahle – ritzte er einen Namen auf die Röhre.

Nachdem er die Röhre beiseite gelegt hatte, wog Cery den Yerim in der Hand und schleuderte ihn dann aus dem Handgelenk heraus durch den Raum. Das Wurfgeschoss blieb mit der Spitze in der Holzvertäfelung der Wand gegenüber stecken. Cery seufzte zufrieden. Er hatte sich Yerims machen lassen, die zum Werfen trefflich ausbalanciert war. Als er sich gerade einen von den drei weiteren, die in seiner Schublade lagen, nehmen wollte, klopfte es an der Tür.

Cery stand auf, lief durch den Raum, um den Yerim aus der Wand zu ziehen, und setzte sich dann wieder, bevor er auf das Klopfen antwortete.

»Herein«, rief er.

Die Tür wurde geöffnet, und Gol trat ein. Die Miene des Mannes ließ Ehrfurcht erkennen. Cery sah ihn prüfend an. In Gols Augen schien noch etwas aufzublitzen – Erwartung vielleicht?

»Eine Frau möchte dich sprechen, Ceryni.«

Cery registrierte mit einem Lächeln, dass Gol seinen vollen Namen benutzte. Es musste sich um eine ungewöhnliche Frau handeln, wenn er Gols Verhalten richtig deutete. Aber in welcher Hinsicht? Würde sie mutig sein, schön oder wichtig?

»Ihr Name?«

»Savara.«

Niemand, den Cery kannte – falls es sich um den echten Namen handelte. Jedenfalls war es kein typisch kyralischer Name, sondern klang eher nach Lonmar.

»Ihre Stellung und Tätigkeit?«

»Das wollte sie nicht sagen.«

Dann heißt sie vielleicht wirklich Savara, überlegte Cery. Falls sie ihren Namen erfunden hatte, hätte sie sich ja genauso gut eine hübsche Geschichte dazu ausdenken können. »Was will sie?«

»Sie sagt, sie könne dir bei der Lösung eines Problems behilflich sein, wollte aber nicht erklären, worum genau es sich handelt.«

Cery wurde nachdenklich. Sie glaubt also, dass ich ein Problem habe. Interessant.

»Dann bring sie herein.«

Gol nickte und ging. Cery schob seine Schreibtischschublade zu und lehnte sich zurück. Nach kurzer Zeit wurde die Tür wieder geöffnet.

Er und die Frau musterten einander überrascht.

Sie hatte das merkwürdigste Gesicht, das er je gesehen hatte. Es verjüngte sich von der breiten Stirn über die hohen Wangenknochen bis hin zu einem sehr feinen Kinn. Das dicke, glatte schwarze Haar hing ihr schwer bis über die Schultern, aber am erstaunlichsten waren ihre Augen. Sie waren groß, zu den Schläfen hin schräg hochgezogen und von dem gleichen hellen Goldbraun wie ihre Haut. Seltsame, exotische Augen… die ihn jetzt mit kaum verborgener Erheiterung musterten.

An diese Reaktion war er gewöhnt. Die meisten seiner Besucher zögerten, wenn sie ihn zum ersten Mal sahen und seine schmächtige Statur bemerkten. Sein Name war der Name eines kleinen Nagetieres, das in den Hüttenvierteln weit verbreitet war. In der Regel besannen sie sich dann allerdings darauf, welche Position er innehatte und welche Konsequenzen es haben könnte, wenn sie laut darüber lachten, wie gut sein Name zu ihm passte.

»Ceryni«, sagte die Frau. »Du bist Ceryni?« Ihre Stimme war voll und wohltönend, und sie sprach mit einem Akzent, den er nicht genau zuordnen konnte. Jedenfalls kam sie nicht aus Lonmar.

»Ja. Und du bist Savara.« Es war keine Frage. Wenn sie einen falschen Namen gebraucht hätte, würde sie jetzt kaum den richtigen nennen, nur weil er sie danach fragte.

»Die bin ich.«

Sie trat einen Schritt auf den Schreibtisch zu und ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen, bevor sie sich wieder Cery zuwandte.

»Du sagst, ich hätte ein Problem, das du lösen könntest«, half er ihr weiter.

Als sich die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht zeigte, verschlug es ihm den Atem. Wenn sie richtig lächelt, ist sie wahrscheinlich eine ungewöhnliche Schönheit. Zweifellos war das auch der Grund für Gols unterdrückte Begeisterung.

»Ja, das habe ich gesagt.« Sie zog die Stirn in Falten. »Du hast ein Problem.« Sie hatte ihm in die Augen gesehen und musterte ihn nun nachdenklich von oben bis unten, um dann wieder seinen Blick zu suchen. »Die anderen Diebe sagen, du seist derjenige, der die Mörder jagt.«

Die Mörder? Cery kniff die Augen zusammen. Dann weiß sie also, dass es mehr als einen gibt.

»Und wie hast du vor, mir zu helfen?«

Sie lächelte, und Cerys Verdacht wurde bestätigt – sie war tatsächlich erstaunlich schön. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, wie viel Herausforderung und Selbstvertrauen ihr Lächeln zeigen würde. Sie wusste anscheinend sehr genau, wie sie ihr Äußeres einzusetzen hatte, um ihren Willen zu bekommen.

»Ich kann dir helfen, sie zu finden, und ich kann sie töten.« Cerys Herzschlag beschleunigte sich. Wenn sie wusste, wer diese Mörder waren, und glaubte, sie töten zu können…

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte er.

Ihr Lächeln verschwand. Sie trat noch einen Schritt näher. »Sie zu finden oder sie zu töten?«

»Beides.«

»Ich werde heute nicht darüber sprechen, wie ich töte. Der schwierigere Teil der Aufgabe wird ohnehin sein, diese Leute aufzuspüren« – sie zog die Augenbrauen leicht zusammen – »auch wenn mir das leichter fallen wird als dir. Ich verfüge über Mittel, sie zu erkennen.«

»Das tue ich ebenfalls«, erklärte Cery. »Warum ist deine Methode besser?«

Sie lächelte erneut. »Ich weiß mehr über sie. Fürs Erste will ich dir verraten, dass der nächste Mörder heute in der Stadt eingetroffen ist. Er wird vermutlich ein oder zwei Tage benötigen, um seinen Mut zusammenzunehmen, und dann wirst du von seinem ersten Opfer hören.«

Cery dachte gründlich über ihre Worte nach. Vielleicht hatte sie vor, den »Beweis« für die Anwesenheit eines der unheimlichen Mörder in der Stadt zu erbringen, indem sie selbst jemanden ermordete. Er besah sie sich näher, und ihm wurde kalt ums Herz, als er begriff, was das breite Gesicht und dieser spezielle goldbraune Hautton zu bedeuten hatten. Wie hatte er das übersehen können? Aber er hatte auch noch nie zuvor eine Frau aus Sachaka gesehen…

Er zweifelte nicht mehr daran, dass sie gefährlich war. Ob sie jedoch eine Gefahr für ihn darstellte oder für die Mörder aus ihrer Heimat, würde sich noch zeigen. Je mehr Informationen er aus ihr herausholen konnte, desto besser.

»Dann habt ihr also Wächter in deiner Heimat«, hakte er nach, »die dir mitteilen, wann ein Mörder nach Kyralia gegangen ist?«

Sie zögerte kurz. »Ja.«

Cery nickte. »Oder«, fuhr er langsam fort, »du wartest ein paar Tage und tötest dann selbst.«

Ihr Blick wurde hart. »Dann setz deine Spione auf mich an. Ich werde in meinem Zimmer bleiben und mir meine Mahlzeiten bringen lassen.«

»Wir müssen beide den Beweis erbringen, dass wir auf der richtigen Seite stehen«, erwiderte er. »Du bist zu mir gekommen, also wirst du diesen Beweis zuerst erbringen müssen. Ich werde einen Wächter für dich bestimmen, und sobald dieser Mann seine Arbeit getan hat, werden wir noch einmal miteinander reden. Einverstanden?«

Sie nickte kurz. »Ja.«

»Warte in dem ersten Raum. Ich werde regeln, was zu regeln ist, und dich dann von einem Freund in dein Quartier zurückbringen lassen.«

Während sie zur Tür ging, beobachtete er sie und prägte sich so viele Einzelheiten ein wie nur möglich. Ihre Kleidung war schlicht, weder schäbig noch teuer. Das dicke Hemd und die Hose ließen auf eine Kyralierin der unteren Stände schließen, aber die Art, wie sie sich bewegte, verriet ihm, dass sie in ihrem Leben nicht viel herumkommandiert worden war. Nein, diese Frau war diejenige, die anderen Befehle gab.

Als die Sachakanerin gegangen war, kam Gol prompt in den Raum zurück, die Züge verkrampft von der Anstrengung, seine Neugier zu verbergen.

»Setz vier Spitzel auf sie an«, befahl Cery ihm. »Ich will über jeden ihrer Schritte informiert werden. Behalte auch jeden im Auge, der ihr etwas bringt, seien es Speisen oder irgendetwas anderes. Sie weiß, dass man sie beobachten wird, also sorg dafür, dass sie zwei der Spitzel zu sehen bekommt.«

Gol nickte. »Willst du wissen, was sie bei sich hatte?«

Er hielt ihm ein Stoffbündel hin. Cery betrachtete es mit leichter Überraschung. Sie hat sich erboten, die Mörder zu töten, überlegte er. Sie wird es wohl kaum mit bloßen Händen tun wollen. Er nickte.

Gol rollte den Stoff vorsichtig auf dem Tisch aus. Cery kicherte, als er die Ansammlung von Messern und Dolchen sah. Er nahm eine Waffe nach der anderen in die Hand und prüfte ihr Gewicht. In einige der Klingen waren ungewöhnliche Muster und Symbole eingeritzt, und an manchen Stellen waren Edelsteine in das Metall eingelassen. Er wurde schlagartig ernst. Sachakanische Waffen höchstwahrscheinlich. Er legte die größte der juwelenbesetzten Klingen beiseite, dann nickte er Gol zu.

»Gib sie ihr zurück.«

Gol nickte, dann rollte er das Bündel wieder zusammen und verließ den Raum. Als die Tür sich hinter ihm schloss, lehnte Cery sich auf seinem Stuhl zurück und dachte über diese eigenartige Frau nach. Wenn sich ihre Worte als wahr erwiesen, konnte sie durchaus so nützlich sein, wie sie es behauptet hatte.

Und wenn sie log? Er runzelte die Stirn. War es möglich, dass einer der Diebe sie geschickt hatte? Sie hatte erwähnt, dass sie mit den »anderen Dieben« gesprochen habe. Ihm fiel jedoch kein einziger guter Grund ein, warum sich einer der Diebe in diese Angelegenheit einmischen sollte. Auf jeden Fall würde er sich Zeit lassen müssen, um über alle Möglichkeiten nachzudenken. Und er würde seine Spione aufs Genaueste befragen.

Soll ich ihm davon erzählen?, dachte Cery. Um mehr als die vereinbarten, kodierten Nachrichten zu übermitteln, würden sie sich treffen müssen, und er würde ein solches Treffen nicht veranlassen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. War dies wichtig genug?

Eine Sachakanerin, die Verbindungsleute in ihrer Heimat hatte. Natürlich war das wichtig.

Aber irgendetwas ließ Cery zögern. Vielleicht sollte er zuerst abwarten, ob sie sich tatsächlich als nützlich erwies. Außerdem musste er sich eingestehen, dass es ihm nicht gefiel, den Rat eines anderen zu suchen, wann immer er seine Taktik geringfügig änderte. Selbst wenn er tief in der Schuld dieser anderen Person stand.

Es wurde Zeit, dass er eigene Strategien entwickelte.


Während Sonea auf den Beginn der Unterrichtsstunde in den Kriegskünsten wartete, schloss sie die Augen, rieb sich die Lider und kämpfte gegen den Drang zu gähnen. Sie hatte bis spät in die Nacht gebraucht, um Corens Tagebuch zu Ende zu lesen, fasziniert von den Erinnerungen des Architekten. Außerdem hatte die leise Furcht an ihr genagt, das Buch könne, wenn sie am nächsten Abend zurückkehrte, verschwunden sein, und sie würde nie erfahren, wie die Geschichte endete.

In den frühen Morgenstunden hatte sie schließlich den letzten Eintrag gelesen:

Ich habe meine Entscheidung getroffen. Wenn die Grundmauern der Universität vollendet sind, werde ich in der Erde darunter die Truhe mit ihrem gesamten Inhalt heimlich vergraben. Zusammen mit diesen schrecklichen Wahrheiten werde ich auch meine eigenen – in Gestalt dieses Buches – verstecken. Vielleicht werde ich durch diese Tat endlich die Schuldgefühle lindern können, die mich bei dem Gedanken an all die Dinge, die ich gelernt und benutzt habe, immer noch quälen. Wenn ich den Mut hätte, würde ich die Truhe und ihren Inhalt zerstören, aber ich befürchte, dass ich damit ein anderes Urteil fällen würde als jene, die sie vor langer Zeit in der Erde verborgen haben. Es waren ganz eindeutig klügere Männer, als ich einer bin.

Die Truhe musste jedoch wiedergefunden worden sein, sonst hätte Sonea Corens Tagebuch nicht in Händen gehalten. Was war aus den übrigen Büchern geworden? Befanden sie sich in Akkarins Besitz?

Oder war das Tagebuch eine Fälschung, geschaffen von Akkarin, um die Gilde davon zu überzeugen, dass schwarze Magie nicht gar so schlecht war, wie man allgemein vermutete? Möglicherweise unterzog er sie auf diese Weise einer Prüfung, um festzustellen, ob das Buch sie überzeugen würde.

Wenn dem so war, hatte Akkarin sich geirrt. Coren hatte geglaubt, dass schwarze Magie falsch sei. Die Lektüre seiner Ausführungen, seien sie nun wahr oder erfunden, würde niemanden vom Gegenteil überzeugen.

Aber wenn das Tagebuch echt war, warum hatte Akkarin es ihr dann gegeben? Sonea blickte stirnrunzelnd auf ihre Notizen hinab. Aus einer Laune heraus hätte er sie niemals von der Existenz dieses Dokuments wissen lassen. Er musste einen guten Grund gehabt haben.

Was hatte er ihr offenbart? Dass Coren schwarze Magie benutzt hatte und dass diese Kenntnisse ihn gelehrt hatten, wie man Stein manipulierte. Coren – ein berühmter Magier – hatte das gleiche Verbrechen begangen wie er. Vielleicht wollte Akkarin ihr zu verstehen geben, dass auch er diese Kenntnisse wider besseres Wissen erlangt hatte. Vielleicht wollte er ihr Mitgefühl und Verständnis.

Coren hatte jedoch keinen Novizen als Geisel gehalten, um seine Verbrechen zu verbergen.

Oder hätte der Architekt das Gleiche getan, wenn ihm die Gefahr gedroht hätte, zur Strafe seine Kräfte, seine Position oder sogar sein Leben zu verlieren? Sonea schüttelte langsam den Kopf.

Das plötzliche Erscheinen Lord Makins unterbrach ihren Gedankengang. Der Lehrer stellte eine große Kiste auf sein Pult, dann wandte er sich der Klasse zu.

»Heute werde ich Euch etwas über Illusionen lehren«, erklärte der Krieger. »Und wie man sie im Kampf benutzt. Das Wichtigste, was man in Bezug auf Illusionen im Gedächtnis behalten muss, ist Folgendes: Es geht ausschließlich um Täuschung. Eine Illusion kann Euch keinen Schaden zufügen, aber sie kann Euch in Gefahr bringen. Ich will Euch das anhand einer Geschichte verdeutlichen.«

Makin setzte sich auf seinen Stuhl und faltete die Hände auf dem Tisch. Hatte man zuvor noch das Scharren von Stiefeln auf dem Boden gehört und das Rascheln von Gewändern, so senkte sich jetzt absolute Stille über das Klassenzimmer. Lord Makins Geschichten waren immer fesselnd.

»Unsere Geschichtsbücher lehren uns, dass vor fünfhundert Jahren zwei Brüder in den Bergen von Elyne lebten. Die beiden Magier, Grind und Lond, waren geschickte und erfahrene Krieger. Eines Tages zog eine Karawane mit Reisenden vorüber, geführt von einem Kaufmann namens Kamaka. Seine Tochter, eine schöne junge Frau, reiste mit ihm. Die beiden Brüder sahen die Karawane und stiegen von ihrem Heim in den Bergen hinab, um Waren zu kaufen. Als sie Kamakas Tochter erblickten, verloren beide Männer sofort ihr Herz an sie.«

Makin seufzte und schüttelte traurig den Kopf, was den Novizen ein Lächeln entlockte. »Es entbrannte ein Streit darüber, welcher von beiden das Mädchen bekommen sollte. Die beiden Brüder konnten ihren Streit nicht mit Worten beilegen, daher kämpften sie gegeneinander. Es heißt, der Kampf habe mehrere Tage gedauert (was unwahrscheinlich ist), und die Brüder stellten schließlich fest, dass sie einander an Stärke und Geschick ebenbürtig waren. Es war Grind, der das Unentschieden brach. Als er seinen Bruder unter einem Felsvorsprung stehen sah, auf dem ein riesiger Steinbrocken lag, kam er auf die Idee, den Felsbrocken auf seinen Bruder stürzen zu lassen, ihm aber die Illusion eines herabfallenden Felsens vorauszuschicken.

Lond bemerkte, dass sein Bruder etwas über seinem Kopf anstarrte. Als er aufblickte, sah er einen Steinbrocken auf sich herabstürzen und begriff sofort, dass es sich um eine Illusion handelte. Den zweiten Steinbrocken, der hinter der Illusion verborgen war, sah er natürlich nicht.

Grind hatte damit gerechnet, dass Lond das Täuschungsmanöver durchschauen würde. Als ihm klar wurde, dass er seinen eigenen Bruder getötet hatte, wurde er von Trauer überwältigt. Die Karawane konnte weiterziehen, und Kamakas Tochter reiste mit ihnen. Ihr seht also«, beendete Makin seine Geschichte, »Illusionen können Euch zwar nicht verletzen, aber wenn Ihr sie nicht als Täuschung durchschaut, könnt Ihr trotzdem Schaden nehmen.«

Der Krieger erhob sich. »Und wie schafft man eine Illusion? Das ist es, was ich Euch heute beibringen will. Wir werden damit anfangen, die Gegenstände, die ich mitgebracht habe, zu kopieren. Seno, komm bitte nach vorn.«

Sonea hörte zu, während der Lehrer verschiedene Möglichkeiten erklärte, wie man mithilfe von Magie ein Abbild von irgendetwas heraufbeschwor. Nachdem Seno die Anweisungen des Lehrers befolgt hatte, kam er auf dem Weg zu seinem eigenen Pult an Sonea vorbei. Er sah sie an und lächelte. Sie erwiderte seinen stummen Gruß. Seit einer Übungsstunde in den Kriegskünsten vor einigen Wochen, in der sie ihm einen Trick gezeigt hatte, den schwächere Magier gegen stärkere einsetzen konnten, war Seno immer besonders freundlich zu ihr.

Während der restlichen Stunde konzentrierte sie sich darauf, die Illusionstechniken zu erlernen. Gerade als es ihr gelungen war, die Illusion einer Pachi-Frucht heraufzubeschwören, tauchte in der Luft vor ihr etwas anderes auf.

Es war eine Blume, deren Blätter von einem leuchtenden, herbstlichen Orangeton waren. Sonea streckte die Hand aus, und ihre Finger glitten durch die eigenartige Blüte hindurch. Sie zerstob zu tausend Lichtfunken, die, bevor sie verschwanden, einen flinken Tanz aufführten.

»Gut gemacht!«, rief Trassia.

»Das war ich nicht.« Als Sonea sich umdrehte, grinste Seno sie an. Auf dem Tisch vor ihm lag ein orangefarbenes Blatt.

Lord Makin, der vor der Klasse stand, räusperte sich vernehmlich. Sonea drehte sich um stellte fest, dass der Lehrer sie mit einem strengen Blick bedachte. Sie zuckte die Achseln, um ihre Unschuld zu beteuern. Er deutete vielsagend mit dem Kopf auf die Frucht vor ihr.

Sie konzentrierte sich, bis eine illusionäre Kopie daneben auftauchte. Sie war von einem dunkleren Rot, als sie hätte sein sollen, und die Beschaffenheit ihrer Haut hatte verdächtige Ähnlichkeit mit der Nervatur eines Blatts. Sonea seufzte. Es wäre einfacher gewesen, hätte ihr nicht die Erinnerung an Herbstblätter so frisch vor Augen gestanden. Sie kämpfte ihren Ärger nieder. Seno hatte nicht die Absicht gehabt, sie abzulenken. Er hatte lediglich angegeben.

Aber warum stellte er seinen Erfolg nur vor ihr zur Schau und vor niemandem sonst? Er versuchte sicher nicht, sie zu beeindrucken.

Oder vielleicht doch?

Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und festzustellen, was er tat. Seno war ein fröhlicher Junge, redselig und liebenswert, und sie war wahrscheinlich das einzige kyralische Mädchen, das ihn nicht überragte …

Worüber denke ich da nach? Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass ihre Illusion sich in einen formlosen, leuchtenden Ball verwandelt hatte. Selbst wenn ich mir nicht Akkarins wegen Sorgen machen müsste, was ist mit Dorrien?

Eine Erinnerung stieg in ihr auf: Rothens Sohn, wie er an der Quelle im Wald hinter der Gilde gestanden und sich vorgebeugt hatte, um sie zu küssen. Sie drängte das Bild beiseite.

Sie hatte Dorrien seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Wann immer ihre Gedanken in seine Richtung wanderten, zwang sie sich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Es war sinnlos, etwas zu bedauern – außerdem wäre es ohnehin eine unmögliche Beziehung gewesen. Sie würde bis zu ihrem Abschluss in der Gilde festsitzen, während er bis auf wenige Wochen im Jahr weit entfernt lebte, in einem Dorf am Fuß der Berge.

Seufzend richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Frucht und machte sich daran, ihre Illusion wieder aufzubauen.


Als Lorlen die Tür seines Büros erreichte, hörte er eine vertraute Stimme seinen Namen rufen. Er drehte sich um und lächelte, als er seinen Assistenten auf sich zukommen sah.

»Guten Abend, Lord Osen.«

Auf seinen Befehl hin löste sich das magische Schloss, und die Tür wurde geöffnet. Lorlen trat beiseite und bedeutete Osen, hereinzukommen, aber sein Assistent zögerte sichtlich, und ein Stirnrunzeln trat an die Stelle der Überraschung in seinen Zügen. Lorlen folgte Osens Blick und sah nun ebenfalls den schwarz gewandeten Mann, der entspannt in einem der bequemen Sessel im Raum saß.

Akkarin hatte die Neigung, in verschlossenen Räumen oder an unerwarteten Orten aufzutauchen, aber das erklärte Osens Zögern nicht. Lorlen sah seinen Assistenten noch einmal an. In den Zügen des jungen Magiers war jetzt nur noch Respekt zu lesen; von der flüchtigen Missbilligung, die Lorlen wahrgenommen hatte, war nichts mehr zu erkennen.

Seine Abneigung gegen Akkarin ist mir noch nie aufgefallen, überlegte Lorlen, während er zu seinem Schreibtisch ging. Wie lange er dieses Gefühl wohl bereits hegen mag?

»Guten Abend, Hoher Lord«, sagte Lorlen.

»Administrator«, erwiderte Akkarin. »Lord Osen.«

»Hoher Lord.« Osen verneigte sich leicht.

Lorlen setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte zu Osen auf. »Gab es irgendetwas…?«

»Ja«, antwortete Osen. »Vor einer halben Stunde habe ich einen Boten an der Tür warten sehen. Hauptmann Barran sagt, er wolle Euch etwas Interessantes zeigen, falls Ihr Zeit hättet.«

Ein weiteres Opfer? Lorlen unterdrückte ein Schaudern. »Dann sollte ich mir besser anhören, was er zu berichten hat – es sei denn, der Hohe Lord verlangt meine Aufmerksamkeit?« Er sah Akkarin an.

Zwischen Akkarins Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Er wirkt ehrlich besorgt, dachte Lorlen. Sehr besorgt.

»Nein«, sagte Akkarin. »Hauptmann Barrans Anliegen ist wichtiger als die Dinge, die ich mit dir besprechen wollte.«

Ein kurzes, verlegenes Schweigen folgte, während Osen vor dem Schreibtisch stand und Akkarin in seinem Sessel sitzen blieb. Lorlen blickte von einem Mann zum anderen, dann erhob er sich.

»Vielen Dank, Osen. Könntet Ihr veranlassen, dass eine Kutsche für mich bereitgestellt wird?«

»Ja, Administrator.« Der junge Magier nickte Akkarin höflich zu, dann verließ er den Raum. Lorlen musterte Akkarin eingehend und fragte sich, ob der Hohe Lord Osens Abneigung gespürt haben mochte.

Was für eine Frage! Natürlich weiß Akkarin Bescheid.

Akkarin hatte Osens Weggang jedoch kaum beachtet. Immer noch stirnrunzelnd erhob er sich und folgte Lorlen zur Tür.

»Damit hast du nicht gerechnet?«, fragte Lorlen, während er in die Eingangshalle trat. Draußen regnete es, daher blieb er an der Tür stehen, um auf die Kutsche zu warten.

Akkarin kniff die Augen zusammen. »Nein.«

»Du könntest mich begleiten.«

»Es ist besser, wenn du dich allein um diese Angelegenheit kümmerst.«

Ich wette, er wird mich beobachten. Lorlen blickte auf den Ring an seinem Finger hinab.

»Dann gute Nacht«, sagte Lorlen.

Akkarins Miene wurde ein wenig weicher. »Gute Nacht. Ich freue mich schon darauf, deine Meinung zu diesem Vorfall zu hören.« Seine Mundwinkel zuckten nach oben, dann wandte er sich ab und ging die Treppe hinunter. Der Regen zischte leise, als er auf den unsichtbaren Schild traf, der Akkarin umgab.

Lorlen schüttelte den Kopf über den kleinen Scherz des anderen Mannes. Kurze Zeit später rollte eine Kutsche aus den Ställen und fuhr vor der Universität vor. Der Fahrer hielt vor der Treppe an und sprang vom Kutschbock, um die Tür zu öffnen. Lorlen lief die Stufen hinunter und stieg ein.

Die Fahrt durch die Stadt bis zum Wachhaus kam ihm länger vor als gewöhnlich. Die nassen Straßen spiegelten das Licht der Lampen wider. Die wenigen Menschen, die um diese Zeit noch unterwegs waren, eilten in ihren Umhängen ihrem Ziel entgegen, die Kapuzen tief über die Stirn gezogen. Nur ein Botenjunge blieb stehen, um der Kutsche nachzusehen.

Schließlich hielt der Wagen vor dem Wachhaus an. Lorlen stieg aus und ging zur Tür. Hauptmann Barran erwartete ihn bereits.

»Es tut mir leid, dass ich Euch an einem so abscheulichen Abend herbitten musste, Administrator«, sagte Barran, als er Lorlen den Flur hinunter zu seinem Büro führte. »Ich habe erwogen, mit meiner Nachricht bis morgen zu warten, aber dann wäre das, was ich Euch zeigen will, noch unangenehmer gewesen.«

Barran schlug nicht den Weg zu seinem Büro ein, sondern ging in denselben Kellerraum hinunter, in den er Lorlen schon einmal geführt hatte. Als sie durch die Tür traten, schlug ihnen ein starker Geruch von Verwesung entgegen. Lorlen sah zu seinem Entsetzen, dass auf einem der Tische unter einem schweren Tuch eine menschliche Gestalt lag.

»Hier.« Der Hauptmann ging mit schnellen Schritten auf einen Schrank zu und nahm einen Krug und zwei Tücher heraus. Dann entkorkte er den Krug, kippte einige Tropfen eines gelben Öls auf die Tücher und gab eins davon an Lorlen weiter. »Drückt Euch das auf die Nase.«

Während Lorlen tat wie geheißen, verdrängte ein scharfer, vertrauter medizinischer Geruch den Gestank im Raum. Barran, der sich das andere Tuch aufs Gesicht drückte, trat an den Tisch.

»Dieser Mann ist gestern aus dem Fluss gefischt worden«, erklärte er mit gedämpfter Stimme. »Er ist seit einigen Tagen tot.« Barran zog das Laken beiseite, das den Leichnam bedeckte, und ein bleiches Gesicht kam darunter zum Vorschein. Jemand hatte dem Toten kleine, quadratische Stoffstücke auf die Augen gelegt. Als Barran nun auch den Rest des Körpers entblößte, zwang sich Lorlen, die Spuren der Verwesung und die kleinen Wunden, wo offensichtlich Fische an dem Leichnam genagt hatten, zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Verletzung über dem Herzen und auf den langen Schnitt an der Kehle des Mannes.

»Ein weiteres Opfer.«

»Nein.« Barran wandte sich zu Lorlen um. »Der Mann ist von zwei Zeugen identifiziert worden. Dies hier scheint der Mörder zu sein.«

Lorlen starrte zuerst Barran und dann den Leichnam an. »Aber er ist auf die gleiche Art und Weise getötet worden.«

»Ja. Vielleicht aus Rache. Seht Euch das an.« Der Hauptmann zeigte auf die linke Hand des Toten. Ein Finger fehlte. »Er hat einen Ring getragen. Wir mussten den Finger abschneiden.« Barran zog das Laken wieder über den Leichnam, dann ging er zu einer Bank, auf der eine zugedeckte Schale stand. Als er den Deckel abnahm, kam darunter ein schmutziger, silberner Ring zum Vorschein.

»Ursprünglich war ein Stein in den Ring eingelassen, aber er ist entfernt worden. Unser Ermittler hat Glasscherben in der Haut gefunden, und die Einfassung ist auf eine Weise verbogen, die vermuten lässt, dass der Ring zerschlagen wurde. Unser Mann glaubt, bei dem Stein habe es sich um Glas gehandelt.«

Lorlen widerstand dem Drang, auf seinen eigenen Ring hinabzublicken. Akkarins Ring. Also muss mein Verdacht, was den Ring des Mörders betrifft, der Wahrheit entsprechen. Ich wüsste nur gern…

Er drehte sich um, um die verhüllte Leiche zu betrachten.

»Seid Ihr Euch sicher, dass dies der Mörder ist?«

»Die Zeugen waren in ihren Aussagen sehr überzeugend.«

Lorlen trat vor den Toten hin und entblößte einen Arm. Dann wappnete er sich gegen das Kommende, legte zwei Finger auf die Haut und sandte seine Sinne aus. Sofort spürte er Energie in dem Körper, und Erleichterung stieg in ihm auf. Irgendetwas war jedoch seltsam. Er forschte weiter und prallte zurück, als ihm klar wurde, was der Grund für diese eigenartige Wahrnehmung war. Das Leben in dem Leichnam konzentrierte sich auf den Magen, die Lunge, die Haut und die Wunden. Der Rest des Körpers war praktisch frei davon.

Natürlich, dachte er. Diese Leiche hat vermutlich einige Tage lang im Fluss getrieben. Zeit genug für kleine Organismen, um einzudringen. Hätten sie den Mann ein oder zwei Tage später gefunden, wäre die wahre Todesursache wahrscheinlich nicht mehr zu ergründen gewesen.

Lorlen zog sich von dem Tisch zurück.

»Habt Ihr genug gesehen?«, fragte Barran.

»Ja.« Lorlen hielt inne, um sich die Hände an dem Tuch abzuwischen, bevor er es Barran zurückgab. Er hielt den Atem an, bis sie wieder im Flur standen und die Tür hinter ihnen fest verschlossen war.

»Was jetzt?«, überlegte Lorlen laut.

Barran seufzte. »Wir warten. Wenn die Morde von Neuem beginnen, werden wir Gewissheit haben, dass wir nach mehreren Personen suchen müssen.«

»Mir wäre es lieber, wenn die Morde jetzt einfach aufhörten«, erwiderte Lorlen.

»Da würden Euch wohl die meisten Imardier Recht geben«, stimmte Barran ihm zu, »aber ich muss immer noch den Mörder des Mörders finden.«

Der Mörder des Mörders. Ein weiterer schwarzer Magier. Akkarin vielleicht? Lorlen blickte auf die Tür, durch die sie soeben gegangen waren. Dieser Leichnam bewies, dass es andere schwarze Magier in der Stadt gab als Akkarin – oder gegeben hatte. War die Stadt vielleicht voll davon? Das war wahrhaftig kein beruhigender Gedanke. Plötzlich hatte Lorlen nur den Wunsch, in die Gilde zurückzukehren, in die Sicherheit seiner eigenen Räume, um sich über die Konsequenzen dieser Entwicklung klar zu werden.

Aber Barran hatte offensichtlich das Bedürfnis, seine Entdeckung noch weiter zu erörtern. Also unterdrückte Lorlen einen Seufzer und folgte dem Hauptmann in dessen Dienstzimmer.

4 Der nächste Schritt

Rothen saß in seinem Lieblingssessel im Abendsaal und beobachtete seine Kollegen. Allwöchentlich kamen die Mitglieder der Gilde in diesen Raum, um zu reden und den neuesten Klatsch auszutauschen. Einige blieben paarweise oder in kleiner Runde beisammen, verbunden durch Freundschaft oder die Zugehörigkeit zu derselben Disziplin. Andere folgten eher familiären Verbindungen und suchten die Gesellschaft von Angehörigen ihres Hauses. Obwohl Magier solche Bindungen mit ihrem Eintritt in die Gilde eigentlich beiseite schieben sollten, neigten viele von ihnen doch dazu, an alten Gewohnheiten festzuhalten.

Am anderen Ende des Saals saßen drei Magier, die dem äußeren Anschein nach in müßiges Geplauder vertieft waren. Lord Balkan, bekleidet mit den roten Roben und der schwarzen Schärpe des Oberhaupts der Krieger, war der Jüngste von ihnen. Lady Vinara, das grün gewandete Oberhaupt der Heiler, war eine strenge Frau in mittleren Jahren. Der weißhaarige Lord Sarrin, das Oberhaupt der Alchemisten, trug wie immer seine purpurfarbenen Roben.

Rothen wünschte, er hätte ihr Gespräch mit anhören können. Die drei diskutierten seit nunmehr einer vollen Stunde. Wann immer die höheren Magier etwas zu besprechen hatten, waren diese drei die wortgewaltigsten und einflussreichsten Sprecher. Balkans klare Logik, Vinaras Mitgefühl und Intuition und Sarrins konservative Ansichten deckten für gewöhnlich die meisten Aspekte eines Themas ab.

Aber Rothen wusste, dass er dem Trio niemals nahe genug kommen konnte, um zu lauschen, ohne dabei beobachtet zu werden. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Magier in seiner unmittelbaren Nähe. Als er eine vertraute Stimme erkannte, setzte sein Herz einen Schlag aus. Administrator Lorlen… Irgendwo hinter seinem Sessel. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Stimme.

»… ich verstehe, dass viele Alchemisten mit langfristigen Projekten beschäftigt sind, von denen sie sich nur widerstrebend abwenden würden«, sagte Lorlen. »Alle werden die Gelegenheit haben, gegen ihre Beteiligung am Bau des neuen Beobachtungsturms zu protestieren, aber sie werden beweisen müssen, dass ihre Arbeit durch die Verzögerung nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden würde.«

»Aber…«

»Ja?«

Es folgte ein Seufzer. »Ich kann einfach nicht begreifen, warum wir die Zeit der Alchemisten für eine solche… eine solche Torheit vergeuden sollten. Ausgerechnet die Überwachung des Wetters! Kann Davin sich nicht eine kleine Hütte auf diesem Hügel bauen? Warum muss es ein Turm sein?« Der Magier, der seine Einwände gegen das Projekt äußerte, war Lord Peakin, der Leiter der alchemistischen Studien. »Und ich sehe nicht ein, warum die Krieger an der ganzen Angelegenheit beteiligt werden müssen. Soll dieses Gebäude nun alchemistischen oder militärischen Zwecken dienen?«

»Beidem«, erwiderte Lorlen. »Der Hohe Lord ist der Meinung, dass es kurzsichtig wäre, ein Gebäude dieser Art zu errichten, ohne sein Verteidigungspotenzial zu berücksichtigen. Außerdem hält er es für unwahrscheinlich, dass der König den Bau billigen würde, wenn er ausschließlich der Überwachung des Wetters diente.«

»Wer wird das Gebäude denn entwerfen?«

»Das muss noch entschieden werden.«

Rothen lächelte. Lord Davin galt seit Jahren als exzentrisch, aber in letzter Zeit hatten seine Studien zur Voraussage des Wetters ein wenig Respekt und Interesse erregt. Lord Peakin waren Davins schwärmerische Begeisterung und seine eigenartige Besessenheit von diesem Thema stets ein Dorn im Auge gewesen.

Das Gespräch über den Turm fand ein Ende, als eine neue Stimme laut wurde.

»Guten Abend, Administrator, Lord Peakin.«

»Rektor Jerrik«, sagte Peakin. »Ich habe gehört, dass Sonea nicht länger an Abendkursen teilnehmen wird. Ist das wahr?«

Die Erwähnung Soneas ließ Rothen sofort aufhorchen. Als Universitätsdirektor führte Jerrik die Aufsicht über alle Angelegenheiten, die die Ausbildung der Novizen betrafen. Aus diesem Gespräch würde Rothen vielleicht etwas über ihre Fortschritte erfahren.

»Ja, es ist wahr«, antwortete Jerrik. »Der Hohe Lord hat gestern mit mir gesprochen. Einige ihrer Lehrer hatten mich darauf aufmerksam gemacht, dass sie müde wirke und leicht abzulenken sei. Akkarin hat das Gleiche beobachtet und zugestimmt, ihr für den Rest des Jahres die Abende freizugeben.«

»Was ist mit den Fächern, mit denen sie bereits begonnen hat?«

»Die wird sie im nächsten Jahr noch einmal belegen müssen, obwohl sie den Stoff, den sie bereits gelernt hat, nicht noch einmal wird wiederholen müssen. Ihre Lehrer werden ihre bisherige Arbeit berücksichtigen.«

Die Stimmen wurden leiser. Rothen widerstand dem Drang, sich umzusehen.

»Wird sie eine bestimmte Disziplin bevorzugen?«, erkundigte sich Peakin. »Durch diese neue Regelung wird es noch wichtiger sein, dass sie sich bald auf eine Richtung festlegt, oder sie wird bis zu ihrem Abschluss in keiner Disziplin über die notwendigen Kenntnisse verfügen.«

»Akkarin hat sich noch nicht entschieden«, antwortete Lorlen.

»Akkarin hat sich nicht entschieden?«, wiederholte Jerrik. »Die Wahl liegt bei Sonea.«

Es folgte eine Pause. »Natürlich«, pflichtete Lorlen ihm bei. »Ich meinte, dass Akkarin mir gegenüber noch keine besonderen Vorlieben seinerseits geäußert hat, daher vermute ich, dass er sich noch nicht entschieden hat, welche Disziplin er Sonea empfehlen wird.«

»Vielleicht will er sie nicht beeinflussen«, sagte Peakin. »Weshalb er… eine gute Grundlage… bevor…«

Die Stimmen verklangen zunehmend. Da Rothen vermutete, dass die Magier weitergegangen waren, seufzte er leise und leerte sein Glas.

Also hatte Sonea die Abende jetzt für sich. Seine Stimmung verdüsterte sich bei dem Gedanken daran, dass sie dadurch in ihrem Zimmer in der Residenz des Hohen Lords festsaß, in unmittelbarer Nähe von Akkarin und dessen abscheulichen Gewohnheiten. Dann fiel ihm wieder ein, dass sie ihre Freizeit stets in der Novizenbibliothek verbracht hatte. Zweifellos würde sie jetzt, da sie keine Kurse mehr besuchen musste, abends einfach dort hingehen.

Rothen, der sich sofort ein wenig besser fühlte, stand auf, reichte sein leeres Glas einem Diener und machte sich dann auf die Suche nach Yaldin.


Seit Irand ihnen ein Arbeitszimmer zugewiesen hatte, hatten Dannyl und Tayend nach und nach Möbelstücke herbeigeschafft, bis der Raum so behaglich war wie das Gästezimmer eines Edelmanns. Neben dem großen Tisch, der früher einmal den Raum beherrscht hatte, fanden sich dort jetzt bequeme Sessel und eine Couch, ein gut bevorrateter Weinschrank und Öllampen zum Lesen. Die Lampen waren außerdem die einzige Wärmequelle, wenn Dannyl nicht da war. Heute jedoch hatte er in einer Nische des Raums eine magische Kugel platziert, und ihre Wärme hatte die Kälte der Steinmauern schnell vergessen lassen.

Bei Dannyls Ankunft in der Bibliothek war Tayend nicht da gewesen. Nachdem Dannyl sich eine Stunde lang mit Irand unterhalten hatte, war er in ihr Arbeitszimmer gegangen, um dort auf seinen Freund zu warten. In der vagen Hoffnung, Hinweise auf alte Magie zu finden, kämpfte er sich gerade durch die Dokumente eines Anwesens am Meer, als Tayend endlich erschien.

Der Gelehrte blieb, leicht schwankend, mitten im Raum stehen. Offensichtlich war er ein wenig betrunken.

»Sieht so aus, als hättest du dich gut amüsiert«, bemerkte Dannyl.

Tayend stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Äh… ja. Es gab guten Wein. Es gab schöne Musik. Es gab sogar einige recht hübsche Akrobaten zu bewundern… aber ich habe mich losgerissen, weil ich wusste, dass ich nur für einige wenige süße Stunden vor der Sklaverei in der Bibliothek – in Diensten meines gnadenlosen Gildenbotschafters – fliehen konnte.«

Dannyl verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Sklaverei, wahrhaftig! Du hast in deinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag ehrenwerter Arbeit geleistet.«

»Aber dafür gab es reichlich Tage, die mit unehrenhafter Arbeit ausgefüllt waren.« Tayend grinste. »Außerdem habe ich bei diesem Fest durchaus eine kleine Arbeit für uns erledigt. Dem Marane war dort – der Mann, der möglicherweise ein Rebell ist.«

»Wirklich?« Dannyl ließ die Arme wieder sinken. »Das ist ja ein Zufall.«

»Eigentlich nicht.« Tayend zuckte die Achseln. »Ich begegne ihm gelegentlich auf Festen, aber seit er sich mir seinerzeit vorgestellt hat, haben wir nicht mehr oft miteinander gesprochen. Wie dem auch sei, ich hielt es für eine gute Idee, ein wenig mit ihm zu plaudern und anzudeuten, dass wir Interesse hätten, an seinen Festen teilzunehmen.«

Ein Stich der Sorge durchzuckte Dannyl. »Was hast du gesagt?«

Tayend winkte ab. »Nichts Genaues. Ich habe nur einfließen lassen, dass ich keine Einladungen mehr erhalten hätte, seit ich begonnen habe, für dich zu arbeiten. Dann habe ich mich zurückhaltend, aber interessiert gegeben.«

»Das hättest du nicht…« Dannyl runzelte die Stirn. »Wie oft hast du solche Einladungen bekommen?«

Der Gelehrte kicherte. »Du klingst eifersüchtig, Dannyl. Nur ein oder zwei Mal im Jahr. Und es sind auch eigentlich keine richtigen Einladungen. Er deutete lediglich an, dass ich bei seinen Festen nach wie vor willkommen sei.«

»Und diese Andeutungen haben aufgehört, seit du in meine Dienste getreten bist?«

»Offensichtlich wirkst du furchtbar einschüchternd auf ihn.«

Dannyl ging im Raum auf und ab. »Du hast angedeutet, dass wir erraten haben, was er und seine Freunde im Schilde führen. Wenn sie tatsächlich so weit in diese Angelegenheit verwickelt sind, wie Akkarin sagt, dann werden sie selbst die leiseste Andeutung von Gefahr ernst nehmen. Sehr ernst.«

Tayends Augen weiteten sich. »Ich habe nur… interessiert geklungen.«

»Das reicht wahrscheinlich, um Marane in Panik zu versetzen. Vermutlich denkt er gerade in diesem Moment darüber nach, was er unsretwegen unternehmen soll.«

»Aber was wird er tun?«

Dannyl seufzte. »Ich bezweifle, dass er abwarten wird, ob die Gilde kommt, um ihn in Arrest zu nehmen. Wahrscheinlich denkt er über verschiedene Möglichkeiten nach, wie er uns zum Schweigen bringen kann. Erpressung. Mord.«

»Mord! Aber… er wüsste doch sicher, dass ich nicht an ihn herangetreten wäre, wenn ich die Absicht hätte, ihn der Gilde auszuliefern? Wenn ich ihn ausliefern wollte, dann würde ich ihn einfach… ausliefern.«

»Bloß aus dem Verdacht heraus, er könne ein Rebell sein?«, fragte Dannyl. »Er wird von uns genau das erwarten, was wir vorhaben – dass wir so tun, als wollten wir ihrem Zirkel beitreten, um unseren Verdacht zu bestätigen. Deshalb hat Akkarin vorgeschlagen, Marane etwas zu liefern, mit dem er uns erpressen könnte.«

Tayend setzte sich und rieb sich die Stirn. »Glaubst du wirklich, dass er versuchen wird, mich zu töten?« Er fluchte. »Ich habe einfach nur eine günstige Gelegenheit gesehen und, und…«

»Nein. Wenn er auch nur halbwegs bei Verstand ist, wird er es nicht riskieren, dich zu töten.« Dannyl lehnte sich an den Tisch. »Er wird so viel wie möglich über uns in Erfahrung bringen und herausfinden, was uns teuer ist. Etwas, dem Schaden zuzufügen er drohen könnte. Familie. Wohlstand. Ehre.«

»Uns?«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er Gerüchte gehört haben sollte, würde er sich nicht darauf verlassen. Er will etwas, dessen er sich sicher sein kann. Wenn wir es so einfädeln könnten, dass unser kleines Geheimnis ihm zu Ohren käme, könnten wir uns darauf verlassen, dass er diese Sache als Druckmittel gegen uns benutzt.«

»Bleibt uns denn noch Zeit dazu?«

Dannyl dachte über die Worte des Gelehrten nach. »Wahrscheinlich – wenn wir schnell genug handeln…«

Das Strahlen in den Augen des Gelehrten war erloschen. Dannyl war sich nicht sicher, welche von beiden Möglichkeiten er bevorzugt hätte: Tayend tröstend in den Arm zu nehmen oder ihn zu schütteln, bis er Vernunft annahm. Wenn die elynischen Höflinge versuchten, auf eigene Faust Magie zu erlernen, brachen sie eins der wichtigsten Gesetze der Verbündeten Länder. Ein solches Vergehen wurde mit lebenslänglicher Einkerkerung oder sogar mit der Hinrichtung bestraft. Wenn den Rebellen Entdeckung drohte, würden sie das gewiss sehr ernst nehmen.

Tayend blickte bestürzt drein; wenn er bisher blind für die Gefahr gewesen war, dann hatte er seinen Irrtum jetzt erkannt. Seufzend durchquerte Dannyl den Raum und legte Tayend die Hände auf die Schultern.

»Keine Sorge, Tayend. Du hast die Dinge ein wenig zu früh in Bewegung gebracht, das ist alles. Lass uns zu Irand gehen und ihm Bescheid geben, dass wir sofort handeln müssen.«

Tayend nickte, dann erhob er sich und folgte Dannyl zur Tür.

Es war schon spät, als Sonea ein Klopfen an der Tür ihres Zimmers hörte. Sie seufzte vor Erleichterung. Ihre Dienerin, Viola, hatte sich verspätet, und Sonea wartete sehnsüchtig auf ihren Schlummertrunk, eine Tasse Raka.

»Herein.« Ohne aufzublicken, sandte sie einen Gedanken zur Tür und gab ihr den Befehl, sich zu öffnen. Als die Dienerin nicht sofort in den Raum trat, drehte Sonea sich um, und das Blut gefror ihr in den Adern.

Akkarin stand in der Tür, ein dunkler Schemen, von dem nur das blasse Gesicht zu erkennen war. Dann bewegte er sich, und Sonea sah, dass er zwei große, schwere Bücher bei sich hatte. Der Einband des einen war fleckig und zerlumpt.

Mit hämmerndem Herzen stand sie auf und ging widerstrebend auf die Tür zu, blieb jedoch einige Schritte vor Akkarin stehen, um sich zu verbeugen.

»Hast du das Tagebuch ausgelesen?«, fragte er.

Sie nickte. »Ja, Hoher Lord.«

»Und was hältst du davon?«

Was sollte sie sagen? »Es… es beantwortet viele Fragen«, erklärte sie ausweichend.

»Was zum Beispiel?«

»Wie es Lord Coren gelungen ist, Stein zu manipulieren.«

»Und weiter?«

Dass er schwarze Magie gelernt hat. Sie wollte den Gedanken nicht laut aussprechen, aber Akkarin erwartete offensichtlich, dass sie diese Tatsache in Worte fasste. Was würde er tun, wenn sie sich weigerte, darüber zu reden? Wahrscheinlich würde er weiter in sie dringen. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wie sie ein solches Gespräch vielleicht vermeiden könnte.

»Er hat schwarze Magie benutzt. Er hat eingesehen, dass es falsch war«, sagte sie knapp. »Er hat damit aufgehört.«

Akkarins Mundwinkel zuckten schwach. »In der Tat. Ich glaube nicht, dass es der Gilde gefallen würde, das herauszufinden. Sie würde es gewiss nicht gern sehen, dass junge Novizen einen solchen Mann verehren, selbst wenn er seinen Irrtum am Ende erkannt hat.« Er hielt ihr die Bücher hin. »Dies hier ist eine erheblich ältere Aufzeichnung. Ich habe dir ein Original sowie eine Kopie mitgebracht. Das Original zerfällt schon beinahe, also benutze es nur, wenn du das Bedürfnis hast, dich davon zu überzeugen, dass die Kopie zuverlässig ist.«

»Warum zeigt Ihr mir diese Bücher?«

Sie hatte die Frage ausgesprochen, bevor sie es verhindern konnte. Die Aufsässigkeit und der Argwohn, die in ihrer Stimme mitgeschwungen hatten, ließen sie zusammenzucken. Akkarin sah ihr bohrend in die Augen, und sie wandte den Blick ab.

»Du willst die Wahrheit wissen«, sagte er. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Er hatte Recht. Sie wollte mehr wissen. Ein Teil von ihr hätte die Bücher gern ignoriert – hätte gern abgelehnt, sie zu lesen, nur weil er wollte, dass sie es tat. Stattdessen trat sie vor und nahm sie ihm ab. Sie sah ihm nicht in die Augen, obwohl sie wusste, dass er sie genau beobachtete.

»Für diese Aufzeichnungen gilt dasselbe wie für das Tagebuch: Du darfst niemandem davon erzählen«, sagte er leise. »Lass nicht einmal deine Dienerin diese Bücher sehen.«

Sie trat einen Schritt zurück und blickte auf den Einband des älteren Buchs. Aufzeichnungen des zweihundertfünfunddreißigsten Jahres stand dort zu lesen. Das Buch war über fünfhundert Jahre alt! Beeindruckt blickte sie zu Akkarin auf. Er nickte kurz, dann wandte er sich ab. Seine Schritte hallten den Flur hinunter, und schließlich hörte sie das leise Klicken, als er die Tür zu seinem Schlafzimmer zuzog.

Die Bücher waren schwer. Mit einem kleinen magischen Impuls schloss sie ihre Tür und ging zu ihrem Schreibpult. Dort schob sie ihre Notizen beiseite und legte die beiden Bücher nebeneinander.

Vorsichtig schlug sie das Original auf und blätterte die ersten Seiten um. Die Schrift war verblasst und an manchen Stellen unleserlich. Als sie die Kopie ebenfalls aufschlug und die elegante Handschrift erkannte, durchlief sie ein eigenartiger Schauder. Es war Akkarins Handschrift.

Nachdem sie einige Zeilen des Originals gelesen hatte, verglich sie sie mit der Kopie und überzeugte sich davon, dass sie miteinander übereinstimmten. Wo der Text verblasst war, hatte Akkarin Notizen gemacht und umrissen, wie die fehlenden Worte seiner Meinung nach vielleicht gelautet haben könnten. Sie blätterte einige Seiten weiter, verglich beide Texte noch einmal miteinander und wiederholte den Vorgang mit einer weiteren Seite in der Mitte des Buches und einer kurz vor dem Ende. Beide Bücher schienen den gleichen Wortlaut zu haben. Später, nahm sie sich vor, würde sie jede Seite und jeden Satz überprüfen.

Sie schob das Original an den Rand ihres Pults, blätterte in der Kopie bis zur ersten Seite zurück und begann zu lesen.

Es handelte sich um die Chronik einer Gilde, die viel jünger und kleiner war als die gegenwärtige. Nach den ersten Seiten entwickelte Sonea eine echte Zuneigung für den Chronisten, der die Menschen, über die er schrieb, offensichtlich bewunderte. Die Gilde, die er kannte, unterschied sich stark von der, die sie selbst erlebte. Die Magier bildeten ihre eigenen Lehrlinge aus und bekamen dafür Geld oder Hilfeleistungen. Als eine Randbemerkung des Verfassers deutlich machte, welcher Art diese Hilfeleistungen waren, hielt Sonea entsetzt inne.

Diese frühen Magier stärkten sich, indem sie Magie von ihren Lehrlingen abzogen. Sie benutzten schwarze Magie.

Sie las den betreffenden Absatz wieder und wieder, aber seine Bedeutung war unmissverständlich. Damals nannten die Magier dieses Tun »höhere Magie«.

Sie betrachtete den Buchrücken und sah, dass sie etwa ein Viertel der Chronik gelesen hatte. Im weiteren Verlauf der Aufzeichnungen stellte sie fest, dass der Verfasser sich mehr und mehr auf die Aktivitäten eines widerspenstigen Lehrlings namens Tagin konzentrierte. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann sich gegen den Wunsch seines Meisters höhere Magie beigebracht hatte. Tagin hatte Kraft von gewöhnlichen Menschen bezogen, was außer in Zeiten großer Not niemals getan wurde. Der Chronist brachte Missbilligung und Ärger zum Ausdruck, bis sein Ton plötzlich Furcht verriet. Tagin hatte höhere Magie benutzt, um seinen Meister zu töten.

Die Situation verschlimmerte sich zusehends. Während die Magier der Gilde Tagin zu bestrafen trachteten, begann dieser wahllos zu töten, um Stärke zu gewinnen und sich ihnen zu widersetzen. Magier berichteten von Männern, Frauen und Kindern, die niedergemetzelt worden waren. Ganze Dörfer wurden praktisch ausgelöscht, und nur einige wenige ihrer Bewohner überlebten, um über die bösartige Natur ihres Angreifers zu berichten.

Ein Klopfen an der Tür ließ Sonea auffahren. Sie klappte die Bücher hastig zu, schob sie mit dem Rücken an die Wand und legte mehrere gewöhnliche Schulbücher darauf. Dann zog sie ihre Notizen zu sich heran und verteilte sie auf dem Pult, als hätte sie für den Unterricht gelernt.

Als sie die Tür aufspringen ließ, kam Takan mit ihrem Raka herein. Sie bedankte sich bei ihm, war aber zu geistesabwesend, um danach zu fragen, wo Viola steckte. Sobald Takan wieder fort war, nahm sie einige Schlucke von dem Getränk und wandte sich dann wieder der Lektüre der Chronik zu:

Es fällt schwer zu glauben, dass irgendein Mensch zu derart sinnloser Gewalttätigkeit fähig sein soll. Der gestrige Versuch, seiner habhaft zu werden, scheint ihn in einen Blutrausch versetzt zu haben. Nach jüngsten Berichten hat er sämtliche Bewohner der Dörfer Tenker und Forei brutal ermordet. Er ist völlig außer Kontrolle geraten, und ich fürchte um uns alle. Es erstaunt mich, dass er sich noch nicht gegen uns gewandt hat – aber vielleicht sind dies seine Vorbereitungen für jenen letzten Schlag.

Sonea lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann blätterte sie zu der vorangegangenen Seite zurück und las den letzten Eintrag noch einmal. Zweiundfünfzig Magier, gestärkt durch die Kraft ihrer Lehrlinge und des Viehs, das verängstigte Nichtmagier zu diesem Zweck gespendet hatten, waren außerstande gewesen, Tagin zu besiegen. Die nächsten Einträge hielten Tagins scheinbar willkürlich gewählten Weg durch Kyralia fest. Dann kamen die Worte, die Sonea gefürchtet hatte:

Meine schlimmsten Ängste sind wahr geworden. Heute hat Tagin Lord Gerin, Lord Dirron, Lord Winnel und Lady Ella getötet. Wird das Morden erst dann ein Ende finden, wenn alle Magier tot sind, oder wird Tagin sich erst zufrieden geben, wenn alles Leben auf der Welt vernichtet ist? Der Anblick, der sich hinter meinem Fenster auftut, ist grauenerregend. Tausende von Gorin, Enka und Reber verwesen auf den Feldern, nachdem sie ihre Kraft zur Verteidigung Kyralias hingegeben haben. Es sind zu viele Tiere, um sie zu essen…

Die Situation verschlimmerte sich weiter, bis über die Hälfte der Magier tot war. Ein Viertel der Gilde hatte bereits seine Habe zusammengerafft und war geflohen. Die übrigen unternahmen einen tapferen Versuch, Bücher und Heilkräuter zu retten.

Was wäre, wenn das Gleiche heute wieder passierte? Die Gilde war größer, aber jeder einzelne Magier konnte nur über einen winzigen Teil der Kraft gebieten, die ihre lange verstorbenen Vorgänger besessen hatten. Wenn Akkarin tat, was Tagin getan hatte… Sie schauderte und las weiter. Der nächste Eintrag war eine Überraschung.

Es ist vorbei. Als Alyk mir die Neuigkeiten überbrachte, wagte ich nicht, es zu glauben, aber vor einer Stunde bin ich die Treppe zum Ausguck hinaufgestiegen und habe die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen. Es stimmt. Tagin ist tot. Nur er kann in seinen letzten Augenblicken eine solche Zerstörung angerichtet haben.

Lord Eland hat uns zusammengerufen und einen Brief von Tagins Schwester, Indria, verlesen. Sie schreibt darin von ihrer Absicht, ihn zu vergiften. Wir können nur vermuten, dass es ihr gelungen ist.

Der Chronist berichtete von einer langsamen Gesundung des Landes. Die Magier, die geflohen waren, kehrten zurück. Die Vorratskammern und Bibliotheken wurden wieder aufgebaut. Sonea brütete über den langen Einträgen, die die Verluste der gewöhnlichen Menschen verzeichneten. Es sah so aus, als sei die Gilde früher einmal wirklich um das Wohlergehen der einfachen Menschen besorgt gewesen.

In Wahrheit wurde die alte Gilde mit Tagin zerstört. Ich habe so manchen sagen hören, dass mit dem heutigen Tag eine neue Gilde geboren sei. Die ersten Veränderungen machten sich heute Morgen bemerkbar, als fünf junge Männer der Gilde beitraten. Sie sind unsere ersten »Novizen«, als Lehrlinge nicht einem einzigen Magier verpflichtet, sondern uns allen. Man wird sie erst in die höhere Magie einführen, wenn sie sich als vertrauenswürdig erwiesen haben. Wenn es nach Lord Karron geht, werden sie diese Form der Magie überhaupt nicht erlernen.

Die Unterstützung für das Verbot dessen, was Lord Karron erstmalig als »schwarze« Magie bezeichnet hatte, wuchs. Sonea blätterte weiter und stieß auf einen letzten Eintrag, dem nur noch leere Seiten folgten.

Ich besitze die Gabe des Hellsehens nicht, und ebenso wenig will ich vorgeben, genug über Menschen und Magie zu wissen, um die Zukunft erahnen zu können, aber nachdem wir unsere Entscheidung getroffen hatten, überkam mich plötzlich die Angst, dass die Sachakaner sich eines Tages wieder gegen uns erheben könnten und die Gilde unvorbereitet träfen. Ich habe vorgeschlagen, einen geheimen Hort des Wissens anzulegen, zu dem nur dann Zutritt gewährt werden dürfe, wenn der Gilde die sichere Zerstörung drohe. Andere Magier unterstützten meinen Vorschlag, denn viele meiner Kollegen hegten insgeheim die gleiche Furcht.

Es wurde beschlossen, dass einzig das Oberhaupt der Krieger in Zukunft von der Existenz einer geheimen Waffe wissen dürfe. Er würde die Natur dieser Waffe nicht kennen, jedoch an seinen Nachfolger weitergeben, wo Informationen dazu zu finden seien. Ich werde diese Chronik hier beenden. Morgen werde ich mit einer neuen beginnen. Ich hoffe aufrichtig, dass niemals jemand dieses Buch aufschlagen und diese Worte lesen wird.

Unter dem letzten Eintrag fand sich noch eine kurze Notiz:

Siebzig Jahre später kam Lord Koril, das Oberhaupt der Krieger, in seinem achtundzwanzigsten Jahr bei einem Übungskampf ums Leben. Es steht zu vermuten, dass er keine Gelegenheit hatte, das Wissen um die geheime »Waffe« weiterzugeben.

Sonea starrte auf Akkarins Nachtrag. Lord Coren hatte eine Truhe voller Bücher entdeckt. War dies der geheime Hort des Wissens gewesen?

Sie seufzte und klappte das Buch zu. Je mehr sie erfuhr, desto mehr Fragen stellten sich ihr. Sie erhob sich taumelnd und begriff erst jetzt, dass sie stundenlang gelesen hatte. Gähnend verbarg sie Akkarins Bücher unter ihren Notizen, dann streifte sie ihr Nachtgewand über, schlüpfte ins Bett und sank in einen Schlaf voller albtraumhafter Szenen, in denen machtbesessene Magier sich über Vieh und Menschen hermachten.

5 Spekulationen

Cery hatte die Nachricht von einem Mord erhalten, der all die Zeichen aufwies, nach denen er Ausschau halten sollte. Dennoch hatte er nach seiner Begegnung mit Savara eine volle Woche verstreichen lassen, bevor er ihr mitteilte, dass sie Recht gehabt habe. Er wollte feststellen, wie lange sie ihre selbstgewählte Einkerkerung in ihrem gemieteten Zimmer ertragen konnte. Als er hörte, dass sie einen Übungskampf mit einem ihrer »Wächter« vorgeschlagen hatte, wusste er, dass sie langsam die Geduld verlor. Und als der Mann zugab, dass er jeden einzelnen Kampf verloren habe, gewann Cerys Neugier schließlich die Oberhand.

Während er auf Savara wartete, ging er unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Seine Nachforschungen hatten nicht viel ergeben. Savaras Wirtin hatte lediglich berichten können, dass Savara ihr Zimmer einige Tage vor ihrem Besuch bei Cery bezogen hatte. Nur zwei der Waffenhändler in der Stadt hatten ihr Messer als sachakanische Waffe erkannt. Auch die Auskünfte der imardischen Hehler waren nicht ergiebiger gewesen: Obwohl Cerys Leute mit Bestechungsgeldern und anderen Mitteln sichergestellt hatten, dass sie die Wahrheit sagten, hatten sie beteuert, dass ihnen eine derartige Waffe noch niemals untergekommen sei. Cery bezweifelte, dass er irgendjemanden in der Stadt finden würde, der ihm mehr sagen konnte.

Kurze Zeit später klopfte es an der Tür, und Cery kehrte zu seinem Stuhl zurück und räusperte sich.

»Herein.«

Savara schenkte ihm ein herzliches Lächeln, als sie eintrat. Oh, sie weiß, dass sie schön ist, und sie versteht sich darauf, diese Schönheit einzusetzen, um zu bekommen, was sie will, dachte er. Er ließ sich jedoch nichts von seinen Überlegungen anmerken.

»Ceryni«, sagte sie.

»Savara. Wie ich höre, hat mein Spitzel dir ein wenig körperliche Ertüchtigung verschafft.«

Eine winzige Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen. »Ja, er war voller Tatendrang, aber er brauchte die Übung dringender als ich.« Sie hielt inne. »Die anderen hätten vielleicht eher eine Herausforderung für mich dargestellt.«

Cery widerstand dem Drang zu lächeln. Sie hatte also mehr als einen Beobachter wahrgenommen. Sehr aufmerksam.

»Jetzt ist es zu spät, das herauszufinden«, erwiderte er achselzuckend. »Ich habe den Männern eine andere Aufgabe zugewiesen.«

Die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. »Was ist mit dem Sklaven? Hat er nicht getötet?«

»›Sklave‹?«, fragte Cery zurück.

»Der Mann, der an die Stelle des letzten Mörders getreten ist.«

»Er hat getötet, genau wie du es vorhergesagt hast«, bestätigte Cery ihr.

Bei dieser Neuigkeit trat ein triumphierendes Blitzen in ihre Augen. »Dann wirst du meine Hilfe also annehmen?«

»Kannst du uns zu ihm führen?«

»Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern.

»Was willst du als Gegenleistung?«

Sie kam näher an seinen Schreibtisch heran. »Dass du deinem Meister nichts von mir erzählst.«

Ein Frösteln überlief ihn. »Meinem Meister?«

»Derjenige, der dir befohlen hat, diese Männer zu töten«, sagte sie sanft.

Sie hätte nichts von ihm wissen dürfen. Sie konnte nicht einmal wissen, dass Cery auf die Befehle eines anderen handelte.

Das änderte alles. Cery verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Savara eingehend. Er hatte es als geringes Risiko erachtet, Nachforschungen über sie anzustellen, ohne sich mit dem Mann zu beraten, der die Jagd veranlasst hatte. Jetzt sah es so aus, als wäre das Risiko größer gewesen, als er vermutet hatte.

Sie wusste zu viel. Er sollte seinen besten Mann auf sie ansetzen, um sich ihrer zu entledigen. Oder er sollte sie selbst töten. Sofort.

Noch während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, wusste er, dass er es nicht tun würde. Und das liegt nicht nur daran, dass sie mich interessiert, sagte er sich. Ich muss herausfinden, aus welcher Quelle sie so viel über das Arrangement erfahren hat. Ich werde abwarten, sie beobachten lassen und feststellen, wohin das führt.

»Hast du ihm von mir erzählt?«, fragte Savara.

»Warum willst du nicht, dass er von dir erfährt?«

Ihre Miene verdüsterte sich. »Aus zwei Gründen. Diese Sklaven denken, dass nur ein Feind Jagd auf sie macht. Es wird leichter für mich sein, dir zu helfen, wenn sie keine Ahnung haben, dass ich hier bin. Und es gibt Menschen in meinem Land, die leiden würden, wenn die Meister der Sklaven erführen, dass ich hier bin.«

»Und du glaubst, dass diese Sklaven von deiner Anwesenheit in Imardin hören würden, wenn mein ›Meister‹, wie du ihn nennst, Bescheid wüsste?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich würde dieses Risiko lieber nicht eingehen.«

»Du kommst erst jetzt mit dieser Bitte. Ich hätte meinem Kunden bereits von dir erzählt haben können.«

»Hast du es getan?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie lächelte, sichtlich erleichtert. »Das habe ich auch nicht angenommen. Du bist dir erst jetzt darüber im Klaren, dass ich tatsächlich tun kann, was ich versprochen habe. Also, sind wir im Geschäft, wie die Diebe sagen?«

Cery öffnete die Schublade seines Schreibtischs und nahm Savaras Messer heraus. Er hörte, wie sie den Atem einsog. Die in den Griff eingelassenen Juwelen funkelten im Licht der Lampe. Er schob die Waffe über den Tisch.

»Heute Nacht wirst du diesen Mann für uns ausspionieren. Das ist alles. Kein Mord. Bevor wir ihn töten, möchte ich sichergehen, dass er tatsächlich ist, was du von ihm behauptest. Als Gegenleistung werde ich, was dich betrifft, den Mund halten. Fürs Erste.«

Sie lächelte, und ihre Augen leuchteten vor Eifer. »Bis es so weit ist, werde ich in mein Zimmer zurückkehren.«

Cery beobachtete, wie sie zur Tür hinüberschlenderte, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Wie viele Männer haben über diesen Gang – oder dieses Lächeln – den Verstand verloren?, fragte er sich. Ah, aber ich möchte wetten, dass einige von ihnen mehr verloren haben als nur den Verstand.

Mir wird das nicht passieren, dachte er. Ich werde sie sehr genau im Auge behalten.


Sonea schloss das Buch, das sie zu lesen versucht hatte, und sah sich in der Bibliothek um. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Akkarin und den Aufzeichnungen.

Es war eine Woche vergangen, seit er ihr die Bücher gegeben hatte, und er war noch nicht wiedergekommen, um sie sich zurückzuholen. Der Gedanke an das, was in ihrem Zimmer auf ihrem Pult lag, versteckt unter einem Stapel Notizen, war wie ein Juckreiz, der sich nicht bezähmen ließ, so sehr man sich auch kratzte. Sie würde erst dann Ruhe finden, wenn Akkarin sie sich zurückgeholt hatte.

Andererseits graute ihr davor, Akkarin wieder gegenüberzustehen. Ihr graute vor dem Gespräch, das diese Begegnung nach sich ziehen musste. Würde er ihr weitere Bücher bringen? Was würden sie enthalten? Bisher hatte er ihr nur Teile von in Vergessenheit geratener Geschichte gezeigt. Er hatte sie nicht gelehrt, wie man schwarze Magie benutzt, aber die Truhe, die der Chronist vergraben hatte – wahrscheinlich dieselbe Truhe, die von dem Architekten Lord Coren entdeckt und abermals vergraben worden war -, musste Informationen über die »geheime Waffe« der schwarzen Magie enthalten. Genug Informationen, um es einem Magier zu ermöglichen, diese verbotene Kunst zu erlernen. Was würde sie tun, wenn Akkarin ihr eins von diesen Büchern zu lesen gäbe?

Allein die Kenntnis schwarzer Magie war ein Verstoß gegen das Gesetz der Gilde. Wenn sie auf Anweisungen über deren Gebrauch stoßen sollte, würde sie auf der Stelle in ihrer Lektüre innehalten und sich weigern, weiterzulesen.

»Sieh mal, da ist Lord Larkin!«

Es war eine weibliche Stimme, und die Sprecherin musste in ihrer unmittelbaren Nähe stehen. Als Sonea sich umsah, bemerkte sie eine Bewegung am Ende eines Bücherregals. Sie konnte gerade noch ein Mädchen erkennen, das an einem der Fenster der Novizenbibliothek stand.

»Der Lehrer für Architektur und Baukunde?«, erwiderte ein anderes Mädchen. »Ich habe ihn noch nie weiter beachtet, aber du hast Recht, er sieht ziemlich gut aus.«

»Und er ist noch unverheiratet.«

»Nach allem, was ich höre, zeigt er allerdings nicht viel Interesse, etwas daran zu ändern.«

Ein Kichern folgte. Sonea beugte sich auf ihrem Stuhl vor. Das erste Mädchen kannte sie; es war eine Novizin aus dem fünften Jahr.

»Oh, und da drüben ist Lord Darlen. Der ist nett.«

Das andere Mädchen schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Ein Jammer, dass er schon verheiratet ist.«

»Hmm«, pflichtete die erste Novizin ihr bei. »Und was hältst du von Lord Vorel?«

»Vorel? Du machst Witze!«

»Starke Krieger sind wohl nicht dein Typ, wie?«

Sonea vermutete, dass die beiden Mädchen Magier beobachteten, die auf dem Weg zum Abendsaal waren. Erheitert hörte sie zu, wie die beiden die Vorzüge vieler der jüngeren Magier erörterten.

»Nein… sieh mal… also, den würde ich nicht abweisen.«

»Oh ja«, stimmte die andere ihr mit gedämpfter Stimme zu. »Ah, jetzt ist er stehen geblieben, um mit Rektor Jerrik zu sprechen.«

»Allerdings ist er ein wenig… kalt.«

»Oh, ich bin davon überzeugt, dass er sich aufwärmen ließe.«

Die beiden Mädchen lachten hinterhältig. Dann stieß eines von ihnen einen sehnsüchtigen Seufzer aus. »Er ist so attraktiv. Ein Jammer, dass er zu alt für uns ist.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte die zweite Novizin. »So alt ist er nun auch wieder nicht. Meine Cousine ist mit einem erheblich älteren Mann verheiratet worden. Man sieht es ihm vielleicht nicht an, aber der Hohe Lord ist höchstens dreiunddreißig oder vierunddreißig Jahre alt.«

Sonea versteifte sich vor Überraschung und Ungläubigkeit. Die beiden sprachen von Akkarin!

Aber dann fasste sie sich wieder. Die beiden konnten nicht wissen, was für ein Mensch er war. Sie sahen nur einen unverheirateten Mann, der rätselhaft und mächtig war und…

»Die Bibliothek wird gleich geschlossen.«

Sonea zuckte zusammen und stellte fest, dass Tya, die Bibliothekarin, durch den Gang zwischen den Bücherregalen auf sie zukam. Im Vorbeigehen warf Tya Sonea ein Lächeln zu. Die Mädchen am Fenster stießen einen letzten Seufzer aus und verließen den Saal.

Sonea erhob sich und räumte ihre Bücher und Notizen zusammen. Als sie sie aufnahm, hielt sie noch einmal inne und blickte zu dem Fenster hinüber. Ob er immer noch dort stand?

Sie trat an die Glasscheibe und spähte hinaus. Und tatsächlich, Akkarin und Jerrik waren noch immer in ein Gespräch vertieft. Akkarins Stirn war gefurcht. Obwohl seine Miene aufmerksam wirkte, verriet sie doch nichts von seinen Gedanken.

Wie können diese Mädchen ihn nur attraktiv finden?, fragte sie sich. Er war hart und anmaßend. Nicht strahlend und warmherzig wie Dorrien oder selbst der auf seine eigene, glatte Art gutaussehende Lord Fergun.

Wären die Mädchen, deren Gespräch sie belauscht hatte, nicht der Gilde beigetreten, hätte man sie zum Wohle der Familie verheiratet. Vielleicht hielten sie aus Gewohnheit oder aufgrund einer sehr langen Tradition immer noch Ausschau nach Macht und Einfluss. Sonea lächelte grimmig.

Wenn sie die Wahrheit wüssten, dachte sie, würden sie ihn ganz und gar nicht attraktiv finden.


Die Dunkelheit um Mitternacht war lastend und undurchdringlich. Eine dreistündige Kutschfahrt trennte sie von den Lichtern Capias. Einzig die Lampen der Kutsche erhellten die Straße vor ihnen. Dannyl, der in die Schwärze hinausstarrte, fragte sich, wie die Kutsche für die Bewohner der unsichtbaren ländlichen Häuser aussehen mochte; wahrscheinlich war sie nur eine bewegliche Ansammlung von Lichtern, die man auf viele Meilen hin erkennen konnte.

Der Wagen erreichte den Gipfel eines kleinen Hügels, und auf der Straße vor ihnen glomm in einiger Entfernung Helligkeit auf. Als sie näher kamen, sah Dannyl, dass es eine Lampe war, deren schwaches Licht die Vorderseite eines Gebäudes erhellte. Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt.

»Wir sind da«, murmelte Dannyl.

Er hörte, wie Tayend sich auf seinem Sitz aufrichtete, um aus dem Fenster zu blicken. Als die Kutsche schwankend vor dem Gebäude zum Stehen kam, gähnte der Gelehrte laut. Auf dem Schild des Ruhehauses stand zu lesen: »Gästehaus am Fluss: Betten, Mahlzeiten & Getränke«.

Leise vor sich hin murmelnd stieg der Fahrer von der Kutschbank, um den Wagenschlag zu öffnen. Dannyl drückte dem Mann eine Münze in die Hand.

»Warte im Haus auf uns«, wies er ihn an. »Wir werden in einer Stunde weiterreisen.«

Der Mann verbeugte sich, dann klopfte er für sie an die Tür. Nach einer kurzen Pause wurde eine Luke in der Mitte der Tür geöffnet. Dannyl konnte ein Keuchen auf der anderen Seite hören.

»Was kann ich für Euch tun, Mylord?«, erklang eine gedämpfte Stimme.

»Wir wollen etwas trinken«, antwortete Dannyl. »Und uns für eine Stunde ausruhen.«

Es kam keine Antwort, aber kurz darauf wurde ein metallisches Klirren laut, dann schwang die Tür nach innen auf. Ein kleiner, runzliger Mann verbeugte sich vor ihnen und führte sie dann in einen großen Raum voller Tische und Stühle. In der Luft hing der schwere, süße Geruch von Bol. Die Erinnerung an seine Suche nach Sonea, die jetzt schon so lange zurücklag, entlockte Dannyl ein sehnsüchtiges Lächeln. Es war lange her, seit er das letzte Mal Bol gekostet hatte.

»Mein Name ist Urrend. Was möchten die Herren denn trinken?«, fragte der Mann.

Dannyl seufzte. »Hast du porrenischen Rumia da?«

Der Mann kicherte. »Ihr habt einen guten Geschmack, was Wein betrifft. Aber nichts anderes hätte ich von zwei hochgeborenen Männern wie Euch erwartet. Oben habe ich ein hübsches Gästezimmer für reiche Leute. Folgt mir.«

Der Kutscher war indessen zu der Theke hinübermarschiert, an der Bol ausgeschenkt wurde. Zu spät fragte sich Dannyl, ob es klug von ihm gewesen war, dem Mann die Münze zu geben – er verspürte keinerlei Verlangen, auf halbem Wege zum Haus von Tayends Schwester in einer umgestürzten Kutsche festzusitzen.

Sie folgten dem Wirt eine schmale Treppe hinauf in einen Flur. Vor einer Tür blieb der Mann stehen.

»Das ist mein bestes Zimmer. Ich hoffe, Ihr werdet Euch dort wohl fühlen.«

Mit diesen Worten stieß er die Tür auf. Dannyl trat langsam hindurch und erfasste mit einem Blick das abgenutzte Mobiliar, die zweite Tür und den Mann, der daneben saß.

»Guten Abend, Botschafter.« Der Mann stand auf und verbeugte sich anmutig. »Ich bin Royend von Marane.«

»Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen«, erwiderte Dannyl. »Ich glaube, Tayend von Tremmelin kennt Ihr bereits?«

Der Mann nickte. »So ist es. Ich habe Wein bestellt. Wollt Ihr ihn mit mir trinken?«

»Ein kleines Glas, vielen Dank«, antwortete Dannyl. »Wir werden in einer Stunde weiterreisen.«

Dannyl und Tayend setzten sich auf zwei der Stühle. Der Dem schlenderte durch den Raum, begutachtete mit offenkundigem Abscheu die Möbel und blieb dann stehen, um aus dem Fenster zu blicken. Er war größer als der durchschnittliche Elyner, und sein Haar war schwarz. Dannyl wusste von Errend, dass Dem Maranes Großmutter Kyralierin gewesen war. Marane selbst war in mittlerem Alter, verheiratet, Vater zweier Söhne und sehr, sehr reich.

»Also, was haltet Ihr von Elyne, Botschafter?«

»Ich habe das Land mehr und mehr zu mögen gelernt«, erwiderte Dannyl.

»Dann hat es Euch zuerst also nicht gefallen?«

»Das Land ist mir zu Anfang weder angenehm noch unangenehm erschienen. Ich habe lediglich ein wenig Zeit gebraucht, um mich an die Unterschiede zu gewöhnen. Einige davon waren reizvoll, andere eigenartig.«

Der Dem zog die Brauen in die Höhe. »Was ist Euch denn eigenartig an uns erschienen?«

Dannyl lachte leise. »Die Elyner sagen, was sie denken, obwohl sie es nicht allzu oft sehr direkt tun.«

Ein Lächeln legte sich über die Züge des Mannes, aber als ein leises Klopfen erklang, wurde er sofort wieder ernst. Er machte Anstalten, den Raum zu durchqueren, um die Tür zu öffnen, aber Dannyl hob die Hand und streckte seinen Willen aus. Die Tür schwang auf. Der Dem hielt inne, und als ihm klar wurde, dass Dannyl Magie benutzt hatte, trat ein Ausdruck von Hunger und unbefriedigtem Verlangen in sein Gesicht. Seine Züge glätteten sich jedoch sofort wieder, als der Wirt mit einer Flasche und drei Weingläsern hereinkam.

Während die Flasche entkorkt und der Wein eingeschenkt wurde, fiel kein einziges Wort. Als der Wirt wieder fort war, griff der Dem nach einem Glas und ließ sich in einen Sessel sinken.

»Also, was erscheint Euch denn nun reizvoll an Elyne?«

»Ihr habt hervorragenden Wein.« Dannyl hob sein Glas und lächelte. »Und Ihr seid aufgeschlossen und tolerant. Hier werden viele Dinge geduldet, die Kyralier schockieren und entrüsten würden.«

Royend sah zu Tayend hinüber. »Ihr habt offensichtlich Kenntnis von diesen schockierenden Dingen, sonst würdet Ihr sie nicht zu den Unterschieden rechnen, die Euch an uns reizvoll erscheinen.«

»Wäre ich für mein Amt als Botschafter geeignet, wenn ich solche Dinge nicht wahrnehmen würde… wie der Hof von Elyne es offenkundig glaubt?«

Der Dem lächelte, aber seine Augen blieben hart. »Ihr habt bereits bewiesen, dass Ihr besser informiert seid, als ich es vermutet hatte. Das wirft einige Fragen auf. Seid Ihr ebenso aufgeschlossen und tolerant wie wir? Oder vertretet Ihr die gleichen starren Ansichten wie andere kyralische Magier?«

Dannyl warf einen Blick auf Tayend. »Ich bin kein typischer kyralischer Magier.« Der Gelehrte lächelte schief und schüttelte den Kopf. »Obwohl ich mich daran gewöhnt habe, mir diesen Anschein zu geben«, fuhr Dannyl fort. »Wenn meine Kollegen mich besser kennen würden, würden sie wohl kaum zu der Auffassung kommen, ich sei ein geeigneter Vertreter der Gilde.«

»Ah«, warf Tayend leise ein. »Aber bedeutet das, dass Ihr nicht geeignet seid für die Gilde oder nicht geeignet für uns?«

Royend reagierte auf diese Bemerkung mit einem Kichern. »Und doch hat man Euch das Amt eines Botschafters übertragen.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Und dieses Amt hat mich hierher geführt. Ich habe mir oft gewünscht, die Gilde hätte sich in einer weniger starren Kultur gebildet. Unterschiedliche Standpunkte regen die Diskussion an, was wiederum für mehr Verständnis sorgt. In letzter Zeit hatte ich erst recht Grund, mir zu wünschen, es verhielte sich so. Tayend verfügt über großes Potenzial. Es ist ein Jammer, dass er es nur deshalb nicht entwickeln kann, weil die Kyralier Männer mit seinen Neigungen nicht dulden. Einige Dinge kann ich ihm beibringen, ohne gegen das Gesetz der Gilde zu verstoßen, aber doch nicht annähernd genug, um seinen Talenten Genüge zu tun.«

Der Blick des Dem wurde schärfer. »Habt Ihr ihn in Magie unterwiesen?«

»Nein.« Dannyl schüttelte den Kopf. »Aber ich hätte nichts dagegen, die Regeln der Gilde um seinetwillen ein klein wenig zu beugen. Einmal habe ich einen Menschen getötet, um Tayends Leben zu retten. Das nächste Mal werde ich vielleicht nicht da sein, um ihm zu helfen. Ich würde ihn gern in der Heilkunst unterweisen, aber damit wäre eine Grenze überschritten, und ich würde ihn vielleicht in noch größere Gefahr bringen.«

»Gefahr durch die Gilde?«

»Ja.«

Der Dem lächelte. »Nur wenn Ihr dabei ertappt würdet. Es ist ein Risiko. Lohnt es sich aber, dieses Risiko einzugehen?«

Dannyl runzelte die Stirn. »Ein solches Risiko würde ich nicht eingehen, ohne zuvor Pläne für den schlimmstmöglichen Fall vorbereitet zu haben. Falls jemals offenbar werden sollte, dass Tayend Magie erlernt hat, muss er imstande sein, sich der Gilde zu entziehen. Er hat niemanden, an den er sich um Hilfe wenden könnte, niemanden als seine Familie und seine Freunde in der Bibliothek – und ich fürchte, sie könnten nur wenig für ihn tun.«

»Was ist mit Euch?«

»Die Gilde fürchtet nichts mehr als einen voll ausgebildeten Magier, der zum Einzelgänger wird. Sie nennen diese Leute ›wilde Magier‹. Sollte ich einfach verschwinden, würde man nur umso entschlossener nach uns beiden suchen. Ich würde in Capia bleiben und alles in meinen Kräften Stehende tun, um Tayend vor der Gilde zu verbergen.«

»Das klingt so, als würdet Ihr andere Menschen brauchen, um ihn zu beschützen. Menschen, die wissen, wie man einen Flüchtling versteckt.«

Dannyl nickte.

»Und was wärt Ihr als Gegenleistung zu bieten bereit?«

Dannyl kniff die Augen zusammen und betrachtete den Mann. »Nichts, was benutzt werden könnte, um anderen Schaden zuzufügen. Nicht einmal der Gilde. Ich kenne Tayend. Ich müsste mir der Absichten anderer ganz sicher sein, bevor ich ihnen so vertraue, wie ich Tayend vertraue.«

Der Dem nickte langsam. »Natürlich.«

»Also«, fuhr Dannyl fort, »was glaubt Ihr, was Tayends Schutz kosten würde?«

Dem Marane griff nach der Flasche und schenkte sich nach. »Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Es ist allerdings eine interessante Frage. Ich müsste einige meiner Gleichgesinnten fragen.«

»Natürlich«, erwiderte Dannyl glatt. Er stand auf und blickte auf den Mann hinab. »Ich freue mich schon darauf, ihre Ansichten zu hören. Jetzt müssen wir leider weiterreisen. Tayends Familie erwartet uns.«

Der Dem erhob sich und machte eine Verbeugung. »Ich habe unser Gespräch sehr genossen, Botschafter Dannyl, Tayend von Tremmelin. Ich hoffe, dass wir in Zukunft noch viele weitere Gelegenheiten haben werden, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.«

Dannyl neigte höflich den Kopf. Dann hielt er kurz inne und strich mit der Hand über Maranes Glas, um den Wein mit ein wenig Magie zu wärmen. Als der Dem scharf die Luft einsog, wandte Dannyl sich ab und ging, gefolgt von Tayend, zur Tür.

Als sie auf den Flur hinaustraten, drehte Dannyl sich noch einmal um. Der Dem, auf dessen Gesicht ein nachdenklicher Ausdruck lag, hielt sein Glas mit beiden Händen umfangen.

6 Der Spion

Wie immer öffnete sich die Tür zur Residenz des Hohen Lords schon auf den leisesten Wink. Als Sonea in den Raum trat, stellte sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Überraschung fest, dass nur Takan auf sie wartete. Der Diener verneigte sich.

»Der Hohe Lord wünscht Euch zu sprechen, Mylady.«

Furcht trat an die Stelle ihrer Erleichterung. Würde er ihr ein weiteres Buch zu lesen geben? Würde dies das Buch sein, vor dem ihr so sehr graute: das Buch, das Informationen über schwarze Magie enthielt?

Sonea holte tief Luft. »Dann bringst du mich am besten gleich zu ihm.«

»Hier entlang, bitte«, sagte er. Er drehte sich um und wandte sich der Treppe auf der rechten Seite zu.

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Diese Treppe führte in den unterirdischen Raum, in dem Akkarin seine geheime, verbotene Magie wirkte. Außerdem gelangte man über die rechte Treppe ebenso wie über die linke in den oberen Stock, in dem die Bibliothek und der Festraum lagen.

Sie folgte Takan zur Tür. Das Treppenhaus war dunkel, und erst als sie eine Lichtkugel geschaffen hatte, konnte sie sehen, welche Richtung Takan eingeschlagen hatte.

Er ging in den unterirdischen Raum hinab.

Mit hämmerndem Herzen blieb sie stehen und sah ihm nach. An der Tür zu dem unteren Raum hielt Takan inne und blickte zu Sonea auf.

»Er wird Euch nichts Böses antun, Mylady«, versicherte er ihr. Dann öffnete er die Tür und bedeutete Sonea einzutreten.

Sie starrte ihn an. Von allen Orten in der Gilde – ja, in der ganzen Stadt – war dies derjenige, den sie am meisten fürchtete. Sie warf einen Blick über die Schulter, dorthin, wo der Salon lag. Ich könnte weglaufen. Es ist nicht weit bis zu der Tür des Salons…

»Komm her, Sonea.« Es war Akkarins Stimme, und sie klang warnend und befehlend zugleich. Sonea dachte an Rothen, an ihre Tante Jonna, ihren Onkel Ranel und deren Kinder; die Sicherheit der Menschen, die sie liebte, hing von ihrer Fügsamkeit ab. Sie zwang sich weiterzugehen.

Als sie die Tür erreichte, trat Takan beiseite. Der unterirdische Raum sah mehr oder weniger genauso aus wie bei ihrem vergangenen Besuch. An der linken Wand standen zwei alte, schwere Tische. Auf dem Tisch, der Sonea am nächsten war, befanden sich eine Laterne und ein dunkles Bündel aus Tuch. Die anderen Wände waren mit Bücherregalen und Schränken gesäumt. Einige waren offenkundig repariert worden, und dieser Umstand erinnerte Sonea an den Schaden, den der »Assassine« angerichtet hatte. In einer Ecke des Raums stand eine alte, zerschrammte Truhe. War dies die Truhe, in der die Bücher über schwarze Magie aufbewahrt worden waren?

»Guten Abend, Sonea.«

Akkarin lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, an einem Tisch. Sonea verbeugte sich. »Hoher L…«

Dann blinzelte sie überrascht, als ihr bewusst wurde, dass er schlichte, grobgewebte Kleidung trug. Seine Hose und sein Mantel waren schäbig und an manchen Stellen sogar fadenscheinig.

»Ich muss dir etwas zeigen«, erklärte er. »In der Stadt.«

Sofort stieg Argwohn in Sonea auf, und sie trat einen Schritt zurück. »Was?«

»Wenn ich es dir erzählte, würdest du mir nicht glauben. Es gibt nur eine Möglichkeit, um dich davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage: Du musst es mit eigenen Augen sehen.«

Sie las eine Herausforderung in Akkarins Blick. Seine einfachen Gewänder beschworen in ihr die Erinnerung an einen Tag herauf, an dem er ähnliche – mit Blut befleckte – Kleider getragen hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Eure Wahrheit sehen will.«

Akkarins Mundwinkel zuckten. »Seit du mich das erste Mal in diesem Raum beobachtet hast, fragst du dich, warum ich tue, was ich tue. Obwohl ich dir das Wie nicht zeigen werde, kann ich dir doch zumindest das Warum veranschaulichen. Und irgendjemand sollte davon wissen, jemand außer Takan und mir selbst.«

»Warum ich?«

»Das wird dir zu gegebener Zeit schon klar werden.« Er griff hinter sich und streckte die Hand nach dem dunklen Bündel auf dem Tisch aus. »Zieh das an.«

Ich sollte mich weigern, mit ihm zu gehen, dachte sie. Aber würde er das zulassen? Sie starrte auf das Bündel in seinen Händen. Und wenn ich ihm folge, erfahre ich vielleicht etwas, das sich später gegen ihn verwenden lässt.

Aber was ist, wenn er mir etwas Verbotenes zeigt? Etwas, das zu meinem Ausschluss aus der Gilde führen könnte?

Wenn es so weit kommen sollte, werde ich ihnen die Wahrheit sagen. Ich bin das Risiko eingegangen, in der Hoffnung, mich selbst und die Gilde retten zu können.

Sie zwang sich, auf Akkarin zuzutreten und das Bündel entgegenzunehmen. Als er es losließ, öffnete es sich, und sie stellte fest, dass sie einen langen, schwarzen Umhang in Händen hielt. Sie umfasste die Schließe und legte sich das Kleidungsstück um die Schultern. »Und sorg dafür, dass deine Roben zu jeder Zeit gut bedeckt sind«, wies er sie an. Dann griff er nach der Laterne und ging auf eine der Wände zu. Ein Teil des Mauerwerks glitt beiseite, und die kühle Luft der unterirdischen Tunnel ergoss sich in den Raum.

Natürlich, dachte sie. Sie erinnerte sich nur allzu gut an die Nächte, in denen sie in den Gängen unter der Gilde auf Erkundungszug gegangen war, bis Akkarin sie entdeckt und ihr befohlen hatte, die Tunnel zu verlassen. Einem dieser Tunnel war sie bis zu diesem Raum gefolgt. Vor Entsetzen darüber, sich auf der Schwelle von Akkarins geheimem Reich wiederzufinden, hatte sie die Flucht ergriffen und war nie mehr zurückgekehrt, um weitere Nachforschungen anzustellen.

Wenn Akkarin die Wahrheit sagt, muss dieser Gang in die Stadt führen.

Akkarin trat durch die Öffnung in der Wand, drehte sich um und winkte Sonea zu sich heran. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, bevor sie ihm in die Dunkelheit folgte.

Der Laternendocht flackerte, und eine Flamme erschien. Einen Moment lang fragte sich Sonea, warum Akkarin sich mit einer gewöhnlichen Lichtquelle abmühte, dann verstand sie. Wenn er keine Roben trug, wollte er, dass man ihn für einen Nichtmagier hielt. Und nur ein Magier würde einer Lichtkugel folgen.

Wenn es wichtig ist, dass niemand ihn erkennt, dann habe ich, wenn nötig, etwas in der Hand, das ich heute Nacht gegen ihn verwenden kann.

Wie erwartet führte er sie nicht zur Universität, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er setzte seinen Weg gut zweihundert Schritte fort, dann blieb er plötzlich stehen. Sie spürte die Vibrationen einer Barriere, die den Gang versperrte. Ein schwaches Licht kräuselte sich quer durch den Tunnel, und die Barriere verschwand. Ohne ein Wort zu sprechen, ging Akkarin weiter.

Er blieb noch dreimal stehen, um Barrieren außer Kraft zu setzen. Nachdem sie die vierte passiert hatten, drehte Akkarin sich um und zog die Schutzschilde der Gilde hinter ihnen wieder hoch. Wenn sie es bei ihren früheren Erkundungszügen gewagt hätte, weiter vorzudringen als bis zu Akkarins Keller, wäre sie auf diese Barrieren gestoßen.

Der Tunnel machte eine leichte Biegung nach rechts. Seitengänge kamen in Sicht. In einen davon bog Akkarin ein, ohne zu zögern, und ihr Weg schlängelte sich durch mehrere verfallene Räume. Als er das nächste Mal innehielt, standen sie vor den Trümmern der eingestürzten Decke. Sie sah ihn fragend an.

Seine Augen funkelten im Lampenlicht. Er blickte durchdringend auf die Blockade. Dann erfüllte ein trockenes Scharren den Tunnel, während die Steine sich zu einer grobbehauenen Treppe formten. An ihrem oberen Ende wurde eine Öffnung sichtbar. Akkarin setzte den Fuß auf die erste Stufe und stieg langsam hinauf.

Sonea folgte ihm. Am oberen Ende der Treppe zweigte ein weiterer Gang ab. Das Licht der Laterne enthüllte grobe Wände, die aus einem Flickwerk kleiner Ziegelsteine von schlechter Qualität gemacht waren. Die Luft roch feucht und vertraut. Dieser Ort erinnerte sie stark an… an…

Die Straße der Diebe.

Sie befanden sich in den Tunneln unter der Stadt, die von der Unterwelt benutzt wurden. Akkarin drehte sich um und blickte die Treppe hinab. Die Stufen schoben sich nach vorn, um das Treppenhaus zu blockieren. Sobald der Weg, der hinter ihnen lag, wieder versperrt war, bog Akkarin in den Tunnel am oberen Ende der Treppe ein.

In Soneas Kopf überschlugen sich die Fragen. Wussten die Diebe, dass der Hohe Lord der Magiergilde ihre Tunnel benutzte und dass es unter der Gilde Tunnel gab, die mit ihren eigenen verbunden waren? Sie wusste, dass die Diebe ihr Reich mit großer Sorgfalt bewachten, daher bezweifelte sie, dass Akkarin ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Hatte er ihre Erlaubnis erwirkt, die Straße zu benutzen? Sonea betrachtete nachdenklich seine primitive Kleidung. Vielleicht hatte er die Erlaubnis der Diebe mit einer falschen Identität erworben.

Nachdem sie abermals mehrere hundert Schritte zurückgelegt hatten, trat ein dünner Mann mit trüben Augen aus einer Nische und nickte Akkarin zu. Er hielt kurz inne, um Sonea anzusehen. Ihre Anwesenheit überraschte ihn offensichtlich, aber er sagte nichts. Schließlich wandte er sich ab und ging voran durch den nächsten Tunnel.

Ihr schweigsamer Führer gab ein schnelles Tempo vor, während er sie durch ein gewundenes, raffiniertes Labyrinth begleitete. Langsam wurde Sonea sich eines Gestanks bewusst, den sie kannte, dem sie aber keinen Namen zu geben vermochte. Der Gestank veränderte sich ebenso wie die Mauern, aber irgendetwas an seiner Wechselhaftigkeit erschien ihr ebenso vertraut. Erst als Akkarin stehen blieb und an eine Tür klopfte, wurde Sonea klar, was sie da roch.

Es waren die Hüttenviertel. Der Geruch war eine Mischung aus menschlichen und tierischen Exkrementen, Schweiß, Kohl, Rauch und Bol. Sonea taumelte leicht, als die Erinnerungen über ihr zusammenschlugen: Hier hatte sie mit ihrer Tante und ihrem Onkel gearbeitet, hierher war sie heimlich gegangen, um sich Cery und seiner Bande von Straßenkindern anzuschließen.

Dann wurde die Tür geöffnet, und Sonea kehrte in die Gegenwart zurück.

Ein hochgewachsener Mann stand in der Öffnung, und sein grobes Hemd spannte sich über einer breiten Brust. Er nickte Akkarin respektvoll zu, doch als er Sonea erblickte, runzelte er die Stirn, als erkenne er ihr Gesicht, wisse aber nicht, warum. Einen Moment später zuckte er die Achseln und trat beiseite.

»Kommt herein.«

Sonea folgte Akkarin in einen winzigen Raum, der kaum groß genug war, um ihr und den beiden Männern sowie einem schmalen Schrank Platz zu bieten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine schwere Tür. Sonea nahm eine Vibration aus dieser Richtung wahr und begriff, dass die Tür durch eine starke magische Barriere gesichert war. Ihre Haut begann zu prickeln. Was gab es in den Hüttenvierteln, das auf so machtvolle Weise verschlossen werden musste?

Der Mann drehte sich zu Akkarin um. Sein Zögern und seine Nervosität verrieten Sonea, dass er wahrscheinlich wusste, wer sein Besucher war – zumindest schien er genug zu wissen, um zu begreifen, dass er einen wichtigen und machtvollen Mann vor sich hatte.

»Er ist wach«, brummte er mit einem ängstlichen Blick auf die Tür.

»Danke, dass du ihn bewacht hast, Morren«, sagte Akkarin freundlich.

»Kein Problem.«

»Hast du einen roten Edelstein bei ihm gefunden?«

»Nein. Und ich hab ihn gründlich durchsucht. Hab nichts gefunden.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Also schön. Bleib hier. Das ist Sonea. Ich werde sie in wenigen Minuten wieder hinausschicken.«

Morren drehte sich ruckartig zu ihr um. »Die Sonea?«

»Ja, die lebende, atmende Legende«, erwiderte Akkarin trocken.

Morren lächelte sie an. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen, Mylady.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Morren«, entgegnete sie, und einen Moment lang überwog ihre Verwunderung ihre Furcht. Die lebende, atmende Legende?

Morren nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche, schob ihn in das Schloss der Tür und drehte ihn um. Dann machte er einen Schritt zur Seite, um Akkarin näher treten zu lassen. Sonea blinzelte, als sie spürte, dass sie von Magie umgeben war. Akkarin hatte einen Schild um sie beide gewoben. Sie spähte, angespannt vor Neugier, über seine Schulter. Langsam schwang die Tür auf.

Der Raum dahinter war sehr klein. Eine steinerne Bank war das einzige Möbelstück. Auf der Bank lag ein Mann, der um Arme und Beine Fesseln trug.

Als der Mann Akkarin sah, trat Entsetzen in seine Augen. Er begann, schwach gegen seine Fesseln zu kämpfen. Sonea starrte ihn erschrocken an. Er war jung, wahrscheinlich nicht viel älter als sie. Sein Gesicht war breit und seine Haut von einem kränklichen Braunton. Seine dünnen Arme waren überzogen von Narben, und über seinen linken Unterarm zog sich eine frische, von getrocknetem Blut umrahmte Schnittwunde. Der Fremde sah nicht so aus, als könnte er irgendjemandem Schaden zufügen.

Akkarin trat neben den Mann, dann legte er ihm eine Hand auf die Stirn. Die Augen des Gefangenen weiteten sich. Sonea schauderte, als ihr klar wurde, dass Akkarin die Gedanken des Mannes las.

Plötzlich machte er eine knappe Handbewegung und packte das Kinn des Gefangenen. Sofort presste der Mann die Kiefer fest zusammen und riss den Kopf zur Seite. Akkarin drückte ihm mit Gewalt den Mund auf. Sonea sah Gold aufblitzen, dann warf Akkarin etwas auf den Boden.

Ein Goldzahn. Sonea trat entsetzt einen Schritt zurück und zuckte im nächsten Moment heftig zusammen, als der Mann zu lachen begann.

»Sie haben deine Frau schon gesehen«, stieß er mit einem schweren Akzent hervor, behindert durch den fehlenden Zahn. »Kariko sagt, sie wird ihm gehören, wenn er dich getötet hat.«

Akkarin lächelte und warf einen kurzen Blick auf Sonea. »Wie schade, dass weder du noch ich erleben werden, wie er das versucht.«

Dann hob er den Fuß und trat auf den Zahn. Zu Soneas Überraschung knirschte der Zahn unter Akkarins Stiefel. Als er beiseite trat, sah sie, dass das Gold geborsten war und winzige, rote Splitter den Boden übersäten.

Stirnrunzelnd betrachtete Sonea den verbogenen Klumpen, der früher einmal ein Zahn gewesen war, und versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte. Wovon hatte der Mann gesprochen? »Sie haben deine Frau gesehen.« Wer waren »sie«? Wie konnten sie sie gesehen haben? Offensichtlich hatte es mit dem Zahn zu tun. Warum sollte jemand ein Juwel in einem Zahn verstecken? Außerdem war es offensichtlich kein Juwel. Der Stein sah so aus, als sei er aus Glas gewesen. Während sie noch die Splitter betrachtete, fiel ihr ein, dass Akkarin Morren gefragt hatte, ob er einen roten Edelstein gefunden habe. Der berüchtigte Mörder trug einen Ring mit einem roten Edelstein. Ebenso wie Lorlen.

Sie sah den Gefangenen an. Er war jetzt vollkommen erschlafft und beobachtete Akkarin voller Angst.

»Sonea.«

Sie wandte sich zu Akkarin um. Sein Blick war kalt und ruhig.

»Ich habe dich hierher gebracht, um einige deiner Fragen zu beantworten«, erklärte er. »Ich weiß, dass du mir nicht glauben wirst, solange du die Wahrheit nicht mit eigenen Augen gesehen hast, deshalb habe ich beschlossen, dich etwas zu lehren, was ich niemals irgendeinen Menschen lehren wollte. Es ist eine Kunst, die sich nur allzu leicht missbrauchen lässt, aber wenn du -«

»Nein!« Sie straffte sich. »Ich werde nicht lernen, wie man -« »Ich spreche nicht von schwarzer Magie.« Akkarins Augen blitzten. »Die würde ich dich nicht lehren, selbst wenn du es wolltest. Ich möchte dich lehren, wie man Gedanken liest.«

»Aber…« Als ihr klar wurde, was er meinte, sog sie scharf die Luft ein. Er war der einzige Magier der Gilde, der die Gedanken eines anderen Menschen lesen konnte, ganz gleich, ob dieser damit einverstanden war oder nicht. Sie hatte seine ungewöhnlichen Fähigkeiten am eigenen Leib erfahren, als er entdeckt hatte, dass sie, Lorlen und Rothen von seinen verbotenen Praktiken wussten.

Und jetzt wollte er sie die Kunst des Gedankenlesens lehren. »Warum?«, stieß sie hervor.

»Wie ich schon sagte, ich möchte, dass du dich selbst von der Wahrheit überzeugst. Wenn ich dir alles nur erzählte, würdest du mir nicht glauben.« Seine Augen wurden schmal. »Ich würde dir dieses Geheimnis nicht anvertrauen, wenn ich nicht wüsste, dass du über ein ausgeprägtes Ehrgefühl und eine starke Moral verfügst. Aber trotzdem musst du schwören, diese Methode des Gedankenlesens niemals gegen den Willen eines Menschen einzusetzen, es sei denn, Kyralia befände sich in großer Gefahr und es gäbe keine andere Möglichkeit.«

Sonea schluckte und erwiderte Akkarins Blick. »Ihr erwartet von mir, dass ich mir Beschränkungen auferlege, die für Euch nicht gelten sollen?«

Seine Augen verdunkelten sich, aber sein Mund verzog sich zu einem freudlosen Lächeln. »Ja. Wirst du den Eid leisten, oder sollen wir zurückkehren?«

Sonea betrachtete den Gefangenen. Akkarin hatte offensichtlich die Absicht, die Gedanken dieses Mannes zu lesen. Er würde sie nicht dasselbe tun lassen, wenn das, was sie auf diese Weise erfahren konnte, eine Gefahr für ihn darstellte. Aber würde sie vielleicht etwas sehen, das sie selbst in Gefahr brachte?

Es war unmöglich, in Gedanken zu lügen. Man konnte vielleicht die Wahrheit verbergen, aber auch das war schwierig – und vollkommen unmöglich bei Akkarins Methode. Wenn er jedoch dafür Sorge getragen hatte, dass dieser Mann gewisse Lügen für die Wahrheit hielt, konnte er sie dennoch täuschen.

Aber wenn sie diese Tatsache im Kopf behielt und sorgfältig abwog, was immer sie erfahren würde …

Es könnte durchaus nützlich sein, wenn sie lernte, Gedanken zu lesen. Selbst wenn sie den Eid leistete, würde sie das nicht daran hindern, diese Fähigkeit im Kampf gegen Akkarin einzusetzen. Kyralia drohte bereits große Gefahr allein durch den Umstand, dass im Herzen der Magiergilde ein schwarzer Magier saß.

Der Gefangene starrte sie an.

»Ich soll schwören, niemals in den Gedanken eines Menschen zu lesen, es sei denn, Kyralia wäre in Gefahr«, sagte sie langsam. »Dennoch wollt Ihr, dass ich die Gedanken dieses Mannes lese. Er stellt wohl kaum eine Bedrohung für Kyralia dar.«

Akkarin lächelte. »Jetzt nicht mehr. Aber er war durchaus eine Gefahr für unser Land. Und seine Behauptung, dass sein Herr dich versklaven wird, nachdem er mich getötet hat, sollte Beweis genug sein, dass eine zukünftige Bedrohung gegeben ist. Woher willst du wissen, ob sein Herr dazu imstande ist oder nicht, wenn du seine Gedanken nicht liest?«

»Mit diesem Argument könnte man es rechtfertigen, die Gedanken eines jeden Menschen zu lesen, der eine Drohung ausspricht.«

Akkarins Lächeln wurde breiter. »Was genau der Grund ist, warum ich dir diesen Schwur abverlange. Du wirst diese Fähigkeit nicht nutzen, es sei denn, du hättest keine andere Wahl.« Seine Miene wurde wieder ernst. »Es gibt keine andere Möglichkeit, um dir die Wahrheit zu zeigen – nicht ohne dein Leben zu gefährden. Wirst du den Schwur leisten?«

Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Schließlich holte sie tief Luft.

»Ich schwöre, niemals die Gedanken eines widerstrebenden Menschen zu lesen, es sei denn, Kyralia befände sich in großer Gefahr und es gäbe keine andere Möglichkeit, diese Gefahr abzuwenden.«

Er nickte. »Gut. Sollte ich je erfahren, dass du diesen Schwur gebrochen hast, werde ich dafür sorgen, dass du es bedauerst.« Er wandte sich zu dem Gefangenen um. Der Mann hatte sie aufmerksam beobachtet.

»Werdet Ihr mich jetzt gehen lassen?«, fragte der Gefangene in flehentlichem Tonfall. »Ihr wisst, dass ich tun musste, was ich getan habe. Sie haben mich dazu gezwungen. Jetzt, da der Stein fort ist, können sie mich nicht mehr finden. Ich werde nicht -«

»Schweig.« Der Mann krümmte sich bei Akkarins scharfem Befehl, dann wimmerte er leise, als der Hohe Lord neben ihm in die Hocke ging.

»Leg die Hand auf seine Stirn.«

Sonea schob ihr Widerstreben beiseite und ließ sich vor dem Gefangenen auf die Knie nieder. Als Akkarin eine Hand über ihre legte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Seine Haut fühlte sich zuerst kühl an, wurde dann aber schnell wärmer.

Ich werde dir zeigen, wie du seinen Geist lesen kannst, aber sobald du es ohne meine Hilfe tun kannst, werde ich dir gestatten, deine Erkundungen nach Belieben fortzusetzen.

Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie seine Gegenwart wahr. Sie schloss die Augen und stellte sich ihren Geist, wie Rothen es sie geleert hatte, als einen Raum vor. Dann trat sie auf die Tür zu, um sie zu öffnen und Akkarin zu begrüßen, und zuckte vor Überraschung zusammen, als Akkarin plötzlich vor ihr in dem Raum stand. Er deutete auf die Wände.

Vergiss das. Vergiss alles, was man dich gelehrt hat. Die Visualisierung verlangsamt und behindert deinen Geist. Wenn du diese Methode anwendest, wirst du nur das begreifen, was du in Bilder übersetzen kannst.

Der Raum um sie herum zerfiel. Das Gleiche geschah mit dem Bild Akkarins. Aber das Gefühl seiner Anwesenheit in ihrem Bewusstsein blieb erhalten. Als er damals ihre Gedanken gelesen hatte, hatte sie kaum etwas von seiner Anwesenheit gespürt. Jetzt konnte sie die Andeutung einer fremden Persönlichkeit wahrnehmen und einer Macht, die stärker war als alles, was ihr je zuvor begegnet war.

Folge mir…

Seine Präsenz entfernte sich. Während sie dieser Präsenz folgte, spürte sie, wie sie sich einem dritten Geist näherte. Von diesem Geist schlug ihr Furcht entgegen, und sie traf auf Widerstand.

Er kann dich nur dann aufhalten, wenn er dich spüren kann. Um zu verhindern, dass er dich spürt, musst du allen Willen und alle Absicht beiseite schieben – bis auf das eine Ziel, in seine Gedanken einzudringen, ohne sie aufzustören. Ich zeige es dir…

Zu ihrem Erstaunen veränderte sich Akkarins Präsenz. Statt mit seinem Willen nach dem Geist des Mannes zu greifen, schien er vielmehr aufzugeben. Nur ein Hauch seiner Präsenz blieb zurück, ein vages Begehren, in die Gedanken eines anderen Menschen einzudringen. Dann wurde seine Präsenz wieder stärker.

Und jetzt du.

Ein ungreifbares Gefühl für das, was er getan hatte, war in ihr zurückgeblieben. Es war einfach erschienen, doch jedes Mal, wenn sie versuchte, es Akkarin gleichzutun, prallte sie von dem Geist des Gefangenen ab. Dann spürte sie, wie Akkarins Gedanken in ihre hineinwehten. Bevor sie darüber erschrecken konnte, sandte er ihr eine Botschaft – einen Hinweis darauf, wie sie vorgehen musste. Statt alle Absichten bis auf eine einzige voneinander zu trennen, sollte sie sich nur auf das eine Vorhaben konzentrieren, das sie wirklich verfolgen wollte.

Plötzlich wusste sie genau, wie sie den Widerstand des Gefangenen überwinden konnte. Binnen eines einzigen Herzschlags war sie in seinen Geist vorgedrungen.

Gut. Halte dich weiter im Hintergrund. Beobachte seine Gedanken. Wenn du eine Erinnerung siehst, die du näher zu erkunden wünschst, strecke deinen Willen nach seinem Geist aus. Das ist etwas schwieriger. Beobachte mich.

Der Mann dachte an den Zahn und fragte sich, ob sein Herr die junge Frau bei ihrem Eintritt in den Kerker gesehen hatte.

Wer bist du?, fragte Akkarin.

Tavaka.

Plötzlich wusste Sonea, dass der Mann bis vor kurzer Zeit ein Sklave gewesen war.

Wer ist dein Herr?

Harikava. Ein mächtiger Ichani. Ein Gesicht, das unverkennbar einem Sachakaner gehörte, blitzte in seinen Gedanken auf. Es war ein grausames Gesicht, hart und klug.

Wer sind die Ichani?

Mächtige Magier.

Warum halten sie Sklaven?

Für Magie.

Eine vielschichtige Erinnerung wehte durch Soneas Gedanken. Sie hatte den Eindruck, als gebe es ungezählte Erinnerungen an ein und dasselbe Ereignis – der leichte Schmerz einer flachen Schnittwunde, das Abziehen von Kraft…

Die Ichani, das begriff sie plötzlich, benutzten schwarze Magie, um Kraft von ihren Sklaven abzuziehen und sich selbst auf diese Weise beständig zu stärken.

Aber jetzt nicht mehr! Ich bin nicht länger ein Sklave. Harikava hat mich freigegeben.

Zeig es mir.

Eine Erinnerung blitzte durch Tavakas Geist. Harikava saß in einem Zelt. Er sagte, dass er Tavaka befreien werde, falls dieser eine gefährliche Mission übernähme. Sonea spürte, dass Akkarin die Kontrolle über die Erinnerung übernahm. Die Mission bestand darin, nach Kyralia zu gehen und festzustellen, ob Karikos Worte der Wahrheit entsprachen. War die Gilde schwach? Hatte sie die Anwendung größerer Magie verschmäht? Viele Sklaven waren gescheitert. Wenn er Erfolg hatte, würden ihn die Ichani in ihre Reihen aufnehmen. Wenn nicht, würden sie Jagd auf ihn machen.

Harikava öffnete eine mit Gold und Juwelen besetzte hölzerne Schachtel. Er nahm etwas Hartes heraus und warf es in die Luft. Dort blieb es hängen und begann, vor Tavakas Augen zu schmelzen. Harikava griff in seinen Gürtel und zog einen kunstvoll geschwungenen Dolch mit einem juwelenbesetzten Griff heraus. Sonea erkannte die Form. Die Klinge ähnelte der, die Akkarin vor so langer Zeit benutzt hatte, um Takan eine Wunde zuzufügen.

Als Nächstes ritzte Harikava sich die Haut seiner Hand auf und ließ Blut über den geschmolzenen Klumpen tropfen, der daraufhin rot wurde und sich verfestigte. Dann zog er einen seiner vielen goldenen Ringe vom Finger und legte ihn um das Juwel, bis davon nur noch ein winziges, rotes Leuchten zu sehen war. Sonea begriff jetzt, wozu dieses Juwel diente. Was immer in das Bewusstsein des Sklaven drang – jedes Bild, jedes Geräusch und jeder Gedanke -, sein Herr würde es auffangen.

Der Mann blickte zu Tavaka auf. Sonea spürte einen Widerhall der Furcht und der Hoffnung des Sklaven. Sein Herr winkte ihn heran und griff mit der blutenden Hand abermals nach seinem Messer.

An dieser Stelle endete die Erinnerung abrupt.

Jetzt versuch du es, Sonea.

Einen Moment lang dachte sie darüber nach, mit welchem Bild sie den Mann aus der Reserve locken konnte. Einem Impuls gehorchend, sandte sie eine Erinnerung an Akkarin in schwarzen Roben aus.

Auf den Hass und die Angst, die den Geist des Mannes überfluteten, war sie nicht gefasst gewesen. Flüchtige Bilder eines magischen Kampfes folgten. Akkarin hatte Tavaka gefunden, bevor dieser genug Kraft hatte sammeln können. Harikava würde enttäuscht und wütend sein. Und nicht nur er, sondern auch Kariko. Das Bild von mehreren Männern und Frauen, die im Kreis um ein Feuer saßen, erschien: eine Erinnerung, die Tavaka vor ihr verbergen wollte. Er drängte sie mit dem Geschick eines Menschen beiseite, der viel Erfahrung darin hatte, Erinnerungen vor dem forschenden Geist eines anderen zu verbergen. Ihr wurde klar, dass sie vergessen hatte, an dem Anknüpfungspunkt der Erinnerung festzuhalten.

Versuch es noch einmal. Du musst die Erinnerung einfangen und sie schützen.

Sie sandte Tavaka ein Bild der im Kreis sitzenden Fremden, so wie sie es im Gedächtnis behalten hatte. Die Gesichter waren falsch, dachte er. Im nächsten Moment tauchte das Gesicht Harikavas in seinen Gedanken auf. Sonea streckte ihren Willen aus, »fing« die Erinnerung auf und blockierte Tavakas Bemühungen, seine Gedanken vor ihr zu verbergen.

So ist es richtig. Jetzt erkunde, was immer du willst.

Sie unterzog die Gesichter einer eingehenden Betrachtung.

Wer sind diese Ichani?

Namen und Gesichter folgten, aber vor allem ein Gesicht und ein Name ragten unter den anderen hervor.

Kariko. Der Mann, der Akkarin tot sehen will.

Warum?

Akkarin hat seinen Bruder getötet. Jeder Sklave, der sich gegen seinen Herrn wendet, muss gejagt und bestraft werden.

Sie hätte um ein Haar die Kontrolle über Tavakas Erinnerung verloren. Akkarin war ein Sklave gewesen! Tavaka musste ihre Überraschung gespürt haben. Sie fing eine Woge wilder Häme auf.

Wegen Akkarin und wegen Karikos Bruder, der ihn gefangen und seine Gedanken gelesen hat, wissen wir, dass die Gilde schwach ist. Kariko sagt, die Gilde verschmähe die größeren magischen Künste. Er sagt, dass wir Kyralia mühelos überfallen und die Gilde bezwingen können. Es wird eine schöne Rache für das sein, was die Gilde uns nach dem Krieg angetan hat.

Sonea gefror das Blut in den Adern. Diese Gruppe unvorstellbar starker Magier hatte die Absicht, Kyralia zu überfallen!

Wann wird diese Invasion sein?, fragte Akkarin plötzlich.

Zweifel traten in das Bewusstsein des Mannes.

Ich weiß es nicht. Andere fürchten die Gilde. Kein Sklave kehrt zurück. Ich werde es auch nicht tun… Ich will nicht sterben!

Mit einem Mal erschien ein kleines, weißes Haus, begleitet von schrecklichen Schuldgefühlen. Eine rundliche Frau – Tavakas Mutter. Ein drahtiger Vater mit ledriger Haut. Ein hübsches Mädchen mit großen Augen – seine Schwester. Der Leichnam seiner Schwester, nachdem Harikava gekommen war und …

Sonea brauchte ihre ganze Kraft, um dem Drang zu widerstehen, aus dem Geist des Mannes zu fliehen. Sie hatte während ihrer Jahre in den Hüttenvierteln die Folgen einiger grausamer Verbrechen mit angesehen. Tavakas Familie war seinetwegen gestorben. Seine Eltern hätten möglicherweise weitere begabte Kinder in die Welt gesetzt. Die Schwester hätte ebenfalls magische Kräfte entwickeln können. Der Ichani hatte nicht die ganze Familie mitnehmen wollen, ebenso wenig wie er potenzielle magische Quellen zurücklassen und riskieren wollte, dass seine Feinde sie fanden und benutzten.

Mitleid und Furcht kämpften in Sonea um die Oberhand. Tavaka hatte ein furchtbares Leben geführt. Aber sie spürte auch seinen Ehrgeiz. Wenn man ihm die Gelegenheit dazu gab, würde er in seine Heimat zurückkehren, um sich diesen monströsen Ichani zuzugesellen.

Was hast du getan, seit du nach Imardin gekommen bist?, fragte Akkarin.

Erinnerungen an ein schäbiges Zimmer in einem Bolhaus folgten, dann der überfüllte Schankraum. Tavaka hatte an einem Platz gesessen, an dem er andere flüchtig berühren und nach magischem Potenzial suchen konnte. Es hatte keinen Sinn, ein Opfer zu verfolgen, solange es nicht über starke, verborgene Kräfte gebot. Wenn er vorsichtig zu Werke ging, konnte er stark genug werden, um Akkarin zu besiegen. Dann würde er nach Sachaka zurückkehren und Kariko helfen, die Ichani um sich zu scharen. Und dann würden sie Kyralia überfallen.

Ein Mann wurde ausgewählt und verfolgt. Ein Messer, ein Geschenk Harikavas, wurde gezückt und…

Zeit zu gehen, Sonea.

Sie spürte, dass Akkarin ihre Hand fester umfing. Als er sie von Tavakas Stirn löste, verlor sie sofort die Kontrolle über die Gedanken des Mannes. Argwohn stieg in ihr auf, und sie sah Akkarin stirnrunzelnd an.

»Warum ich das getan habe?« Er lächelte grimmig. »Du warst gerade im Begriff, etwas zu lernen, was du nicht lernen willst.« Er stand auf und blickte auf Tavaka hinab. Der Atem des Mannes ging in schnellen Stößen.

»Lass uns allein, Sonea.«

Sie starrte Akkarin an. Es war nicht schwer zu erraten, was er vorhatte. Sie wollte protestieren, und doch wusste sie, dass sie ihn nicht aufgehalten hätte, selbst wenn es ihr möglich gewesen wäre. Wenn sie Tavaka verschonten, würden sie einen Mörder freilassen. Er würde weiter unschuldigen Kyraliern auflauern. Mit schwarzer Magie.

Sie zwang sich, sich abzuwenden, die Tür zu öffnen und den Raum zu verlassen. Die Tür schwang hinter ihr zu. Morren blickte auf, und seine Miene wurde weicher. Er hielt ihr einen Becher hin.

Als sie den süßen Duft von Bol erkannte, nahm sie den Becher entgegen und trank einige Schlucke. Wärme durchströmte sie. Sie leerte den Becher und gab ihn Morren zurück.

»Besser?«

Sie nickte.

Hinter ihr wurde die Tür mit einem leisen Klicken geöffnet. Sie drehte sich zu Akkarin um, und sie sahen einander schweigend an. Sie dachte an die Dinge, die er ihr offenbart hatte. Die Ichani. Ihre Pläne, Kyralia zu überfallen. Dass er ein Sklave gewesen war… zu raffiniert, als dass es eine Täuschung hätte sein können. Etwas Derartiges konnte auch Akkarin nicht arrangieren.

»Du musst über vieles nachdenken«, sagte er sanft. »Komm. Wir werden in die Gilde zurückkehren.« Er ging an ihr vorbei. »Ich danke dir, Morren. Entledige dich seiner auf die gewohnte Art.«

»Ja, Mylord. Habt Ihr etwas Nützliches in Erfahrung bringen können?«

»Vielleicht.« Akkarin blickte zu Sonea. »Wir werden sehen.«

»Sie kommen jetzt häufiger?«, fragte Morren.

Sonea nahm ein leichtes Zögern in Akkarins Antwort wahr.

»Ja, aber dein Auftraggeber wird sie nun auch immer schneller entdecken. Richte ihm meinen Dank aus, ja?«

Der Mann nickte und reichte Akkarin seine Laterne. »Das werde ich.«

Akkarin öffnete die Tür und trat hindurch. Sonea, der noch immer der Kopf schwirrte von all den Dingen, die sie erfahren hatte, folgte ihm.

7 Akkarins Geschichte

Das Geräusch von Metall, das auf Metall schlug, hallte durch den Gang, gefolgt von einem gequälten Stöhnen. Cery blieb stehen und drehte sich erschrocken zu Gol um. Der stämmige Mann runzelte die Stirn.

Cery deutete ruckartig mit dem Kopf auf die Tür. Gol zog ein langes Messer aus dem Gürtel und eilte voraus. Als er die Tür erreichte und in den Raum spähte, verschwand der grimmige Blick aus seinen Augen.

Er sah Cery an und grinste. Erleichtert und nun eher neugierig als besorgt, machte auch Cery einen Schritt nach vorn und blickte durch die Tür.

Zwei Menschen verharrten regungslos; einer der beiden hatte ein Messer an der Kehle und wagte nicht, sich zu rühren. Cery erkannte den Verlierer des Kampfes: Es war Krinn, ein ausgesprochen begabter Kämpfer und Mörder, den Cery normalerweise für wichtigere Aufträge in Dienst nahm. Krinn sah mit flackerndem Blick zu Cery hinüber, und Verlegenheit verdrängte die Überraschung aus seinen Zügen.

»Ergibst du dich?«, fragte Savara.

»Ja«, antwortete Krinn mit erstickter Stimme.

Savara ließ mit einer einzigen anmutigen Bewegung das Messer sinken und trat beiseite. Krinn erhob sich und schaute wachsam auf sie hinab. Er war mindestens einen Kopf größer als sie, wie Cery mit einiger Erheiterung feststellte.

»Übst du wieder an meinen Männern, Savara?«

Sie lächelte hinterhältig. »Nur auf spezielle Aufforderung hin, Ceryni.«

Er musterte sie gründlich. Was, wenn er…? Ein gewisses Risiko bestand natürlich, es bestand immer. Er blickte zu Krinn hinüber, der sich unauffällig auf den Ausgang zubewegte.

»Geh nur, Krinn. Und mach die Tür hinter dir zu.« Der Assassine eilte davon. Als die Tür geschlossen war, trat Cery vor Savara hin. »Ich fordere dich auf, deine Kräfte an mir zu erproben.«

Er hörte, wie Gol scharf die Luft einsog.

Savaras Lächeln wurde breiter. »Ich nehme die Herausforderung an.«

Cery zog zwei Dolche aus seinem Mantel. An den Griffen waren lederne Schlaufen befestigt, die verhindern sollten, dass ihm das Messer entglitt. Als er die Schlaufen über die Finger streifte, zog Savara die Augenbrauen in die Höhe.

»Zwei Messer sind kaum je besser als eins«, bemerkte sie.

»Ich weiß«, erwiderte Cery, während er auf sie zuging.

»Aber du siehst aus, als wüsstest du, was du tust«, überlegte sie laut. »Ich nehme an, das dürfte den durchschnittlichen Rüpel einschüchtern.«

»Ja, das tut es.«

Sie trat einige Schritte nach links und kam dabei ein wenig näher. »Ich bin kein durchschnittlicher Rüpel, Ceryni.«

»Nein. Das ist unübersehbar.«

Er lächelte. Wenn sie ihm nur deshalb ihre Hilfe anbot, weil sie sich eine Chance erhoffte, ihn zu töten, dann lieferte er ihr jetzt wahrscheinlich die perfekte Gelegenheit. Sie würde jedoch sterben. Dafür würde Gol sorgen.

Sie sprang auf ihn zu. Er wich ihr aus, dann trat er einen Schritt vor und zielte mit seiner Klinge auf ihre Schulter. Sie wirbelte davon.

So ging es einige Minuten lang weiter; ein jeder erprobte die Reflexe und die Reichweite des anderen. Dann kam sie näher, und er wehrte sie ab und versuchte seinerseits einige schnelle Angriffe. Keinem von ihnen gelang es, den anderen wirklich aus der Deckung zu locken. Schwer atmend traten sie schließlich auseinander.

»Was hast du wegen des Sklaven unternommen?«, wollte sie wissen.

»Er ist tot.«

Während er sprach, beobachtete er sie genau. Sie wirkte nicht überrascht, nur ein wenig verärgert. »Er hat ihn getötet?«

»Natürlich.«

»Ich hätte das für dich erledigen können.«

Cery runzelte die Stirn. Sie klang so selbstbewusst. Zu selbstbewusst.

Im nächsten Moment machte sie einen Vorstoß in seine Richtung, und ihre Klinge blitzte im Lampenlicht auf. Cery schlug ihr mit dem Unterarm die Hand weg. Ein schneller, hektischer Kampf folgte, und er grinste triumphierend, als es ihm gelang, ihren rechten Arm zur Seite zu drehen und sein Messer unter ihre Achsel zu schieben.

Sie erstarrte, ebenfalls grinsend.

»Ergibst du dich?«, fragte sie.

Eine scharfe Spitze drückte sich in seinen Bauch. Als er an sich herabblickte, sah er ein anderes Messer in ihrer linken Hand. In der rechten hielt sie noch immer das erste Messer. Er lächelte, dann drückte er seine Klinge ein wenig fester in ihr Fleisch.

»Da verläuft eine Ader, die direkt zum Herzen führt. Wenn ich sie durchtrenne, verblutest du so schnell, dass du nicht einmal lange genug leben würdest, um zu entscheiden, wie du mich verfluchen willst.«

Zu seiner Befriedigung sah er, wie ihre Augen sich weiteten und ihr Grinsen verschwand. »Also unentschieden?«

Sie waren einander sehr nah. Sie roch wunderbar, eine Mischung aus frischem Schweiß und etwas Würzigem. Ihre Augen blitzten vor Erheiterung, aber ihr Mund war zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

»Unentschieden«, stimmte er zu. Er trat einen Schritt beiseite, so dass sie ihre Klinge sinken lassen musste, bevor er die seine unter ihrer Achsel hervorzog. Sein Herz schlug sehr schnell. Es war kein unangenehmes Gefühl.

»Du weißt, dass diese Sklaven Magier sind?«, fragte er.

»Ja.«

»Wie willst du sie dann töten?«

»Ich habe meine eigenen Methoden.«

Cery lächelte grimmig. »Wenn ich meinem Kunden sage, dass ich ihn nicht brauche, um die Mörder zu erledigen, wird er einige schwierige Fragen stellen. Wie zum Beispiel: Wer tut es dann?«

»Wenn er nicht wüsste, dass du einen Sklaven gefunden hast, brauchte er auch nicht zu erfahren, wer das Töten übernommen hat.«

»Aber er weiß es immer, wenn einer auftaucht. Die Wache berichtet ihm von den Opfern. Wenn sie keine Opfer mehr finden, ohne dass er den Mörder getötet hat, wird er sich fragen, warum.«

Sie zuckte die Achseln. »Das wird keine Rolle spielen. Sie schicken die Sklaven jetzt nicht mehr einen nach dem anderen. Ich kann einige von ihnen töten, ohne dass er etwas davon bemerken wird.«

Das waren Neuigkeiten. Schlechte Neuigkeiten. »Wer sind ›sie‹?«

Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das hat er dir nicht erzählt?«

Cery lächelte, während er sich im Stillen dafür verfluchte, dass er seine Unwissenheit preisgegeben hatte. »Vielleicht hat er es mir erzählt, vielleicht nicht«, antwortete er. »Ich will hören, was du sagst.«

Ihre Miene verdüsterte sich. »Sie sind die Ichani. Ausgestoßene. Der sachakanische König schickt jene, die bei ihm in Ungnade gefallen sind, in die Ödländer.«

»Warum schicken die Ichani ihre Sklaven hierher?«

»Sie versuchen, wieder zu Macht und Ansehen zu kommen, indem sie Sachakas alten Feind vernichten, die Gilde.«

Auch das war eine Neuigkeit. Cery zog sich die Schlingen seiner Messer über die Finger. Wahrscheinlich kein Grund zur Sorge, dachte er. Wir werden mit diesen »Sklaven« ohne weiteres fertig.

»Wirst du mir erlauben, einige der Sklaven zu töten?«, fragte sie.

»Warum musst du das fragen? Wenn du sie finden und töten kannst, gibt es keinen Grund, warum du mit mir zusammenarbeiten solltest.«

»Ah, aber wenn ich es nicht täte, würdest du mich versehentlich für einen von ihnen halten.«

Er kicherte. »Das könnte unange -«

Ein Klopfen unterbrach ihn.

Er warf Gol einen erwartungsvollen Blick zu, woraufhin dieser zur Tür ging. Ein noch massigerer Mann trat ein, und sein Blick huschte nervös von Gol zu Cery und schließlich zu Savara.

»Morren.« Cery runzelte die Stirn. Der Mann hatte in der vergangenen Nacht die gewohnte, nur aus einem einzigen Wort bestehende Nachricht geschickt und damit bestätigt, dass er den Leichnam des Mörders beiseite geschafft hatte. Er durfte Cery nur dann persönlich aufsuchen, wenn er etwas Wichtiges zu berichten hatte.

»Ceryni«, erwiderte Morren. Wieder sah er mit wachsamer Miene zu Savara hinüber.

Cery wandte sich zu der Sachakanerin um. »Danke für die Übungsstunde«, sagte er.

Sie nickte. »Ich habe zu danken, Ceryni. Ich werde dich wissen lassen, wenn ich den Nächsten finde. Es dürfte nicht lange dauern.«

Cery beobachtete, wie sie den Raum verließ. Als sich die Tür hinter ihr schloss, drehte er sich zu Morren um.

»Was ist passiert?«

Der stämmige Mann schnitt eine Grimasse. »Es mag nicht weiter von Bedeutung sein, aber ich dachte, du würdest vielleicht Bescheid wissen wollen. Er hat den Mörder nicht sofort getötet, sondern ihn gefesselt. Dann ist er gegangen. Als er zurückkam, hat er jemanden mitgebracht.«

»Wen?«

»Das Mädchen aus den Hüttenvierteln, das der Gilde beigetreten ist.«

Cery starrte den Mann an. »Sonea?«

»Ja.«

Unerwartete Gewissensbisse stiegen in Cery auf. Er dachte an die Wirkung, die Savara auf ihn hatte, an sein rasendes Herz. Wie konnte er eine fremde Frau bewundern – noch dazu eine, der man wahrscheinlich nicht vertrauen durfte -, obwohl er Sonea immer noch liebte? Aber Sonea war für ihn unerreichbar. Außerdem hatte sie seine Liebe ohnehin nie erwidert. Jedenfalls nicht auf die Art, wie er sie geliebt hatte. Warum sollte er keine andere Frau in Erwägung ziehen?

Dann dämmerte ihm langsam die Bedeutung dessen, was Morren ihm berichtet hatte, und er begann, im Raum auf und ab zu gehen. Sonea war zu dem Mörder geführt worden. Man hatte sie in die Nähe eines höchst gefährlichen Mannes gebracht. Obwohl er wusste, dass sie bei Akkarin wahrscheinlich sicher aufgehoben war, stieg dennoch Ärger in ihm auf und das Verlangen, sie zu beschützen. Er wollte nicht, dass sie in diese Sache verwickelt wurde.

Oder hatte sie die ganze Zeit über von dem geheimen Kampf in den dunkelsten Teilen Imardins gewusst? Wurde sie darauf vorbereitet, selbst eine Rolle in diesem Kampf zu spielen?

Er musste es wissen. Im nächsten Moment hatte er sich bereits auf dem Absatz umgedreht und eilte auf die Tür zu.

»Gol. Schick dem Hohen Lord eine Nachricht. Wir müssen reden.«


Lorlen trat in die Eingangshalle der Universität und blieb stehen, als Akkarin ihm entgegenkam.

»Lorlen«, sagte Akkarin, »hast du zu tun?«

»Ich habe immer zu tun«, antwortete Lorlen.

Akkarins Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Diese Angelegenheit dürfte nur einige wenige Minuten in Anspruch nehmen.«

»Also gut.«

Akkarin deutete auf Lorlens Büro. Es ist also etwas Privates, überlegte Lorlen. Er trat aus der Halle zurück in den Flur, doch wenige Schritte von seinem Büro entfernt erklang eine Stimme.

»Hoher Lord.«

Ein Alchemist stand vor der Tür eines Klassenzimmers weiter unten im Gang.

Akkarin blieb stehen. »Ja, Lord Halvin?«

Der Lehrer eilte herbei. »Sonea ist heute Morgen nicht zum Unterricht erschienen. Ist sie krank?«

Lorlen sah flüchtig einen Ausdruck von Sorge auf Akkarins Zügen, aber er wusste nicht, ob diese Sorge Soneas Wohlergehen galt oder der Tatsache, dass sie nicht dort war, wo sie sein sollte.

»Ihre Dienerin hat mir nichts von einer Krankheit berichtet«, erwiderte Akkarin.

»Es gibt gewiss einen guten Grund dafür. Ich fand es einfach nur ungewöhnlich. Sie ist normalerweise so pünktlich.« Halvin drehte sich zu dem Klassenzimmer um, das er soeben verlassen hatte. »Ich gehe wohl besser wieder hinein, bevor sie sich in wilde Tiere verwandeln.«

»Danke, dass Ihr mich informiert habt«, sagte Akkarin. Halvin nickte abermals, dann eilte er davon. Akkarin wandte sich zu Lorlen um. »Diese andere Angelegenheit wird warten müssen. Ich möchte zuerst herausfinden, was meine Novizin treibt.«

Während Lorlen dem anderen Mann nachsah, konnte er sich nur mit Mühe eines wachsenden Unbehagens erwehren. Wenn Sonea krank war, hätte ihre Dienerin Akkarin doch sicher Bescheid gegeben. Warum sollte das Mädchen mit Absicht dem Unterricht fernbleiben? Sein Blut wurde kalt. Hatten Sonea und Rothen beschlossen, sich gegen Akkarin zu wenden? Wenn sie es getan hätten, hätten sie ihm gewiss vorher Bescheid gegeben. Oder vielleicht nicht?

Er kehrte in die Eingangshalle zurück und blickte die Treppe hinauf. Wenn die beiden gemeinsam etwas planten, würden beide verschwunden sein. Er brauchte nur einen Blick in Rothens Klassenzimmer zu werfen.

Im nächsten Moment hatte er die Treppe erreicht und eilte ins obere Stockwerk.


Die Mittagssonne schien auf den Wald und berührte das leuchtende Grün der frischen Blätter. Der große Felsvorsprung, auf dem Sonea saß, verströmte noch immer die Wärme der Sonne.

In der Ferne erklang ein Gong. Jetzt würden die Novizen ins Freie eilen, um das schöne Wetter des frühen Herbstes zu genießen. Sie sollte zurückkehren und ihr Fehlen im Unterricht auf plötzliche Kopfschmerzen oder eine andere geringfügige Krankheit schieben.

Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, sich zu bewegen.

Sie war am frühen Morgen zu der Quelle hinaufgestiegen, in der Hoffnung, dass der Spaziergang ihr einen klaren Kopf bescheren würde. Aber es hatte nichts geholfen. Die Dinge, die sie in der vergangenen Nacht erfahren hatte, drehten sich in ihren Gedanken wieder und wieder im Kreis. Vielleicht lag es daran, dass sie keine Minute lang geschlafen hatte. Sie war zu müde, um irgendetwas zu begreifen – und zu erschöpft, um die Vorstellung zu ertragen, in den Unterricht zurückkehren und sich so benehmen zu müssen, als habe sich nichts geändert.

Aber alles hat sich geändert. Ich muss mir Zeit nehmen, um über mein neues Wissen nachzudenken, sagte sie sich. Bevor ich Akkarin wieder gegenübertrete, muss ich herausfinden, was all das zu bedeuten hat.

Sie schloss die Augen und beschwor ein wenig heilende Magie herauf, um die Erschöpfung zu vertreiben.

Was habe ich erfahren?

Die Gilde und mit ihr ganz Kyralia wurden von schwarzen Magiern aus Sachaka bedroht.

Warum hatte Akkarin mit niemandem darüber gesprochen? Wenn die Gilde wüsste, dass ihr eine mögliche Invasion bevorstand, könnte sie sich darauf vorbereiten. Wenn sie nichts von der Drohung erfuhr, konnte sie sich auch nicht verteidigen.

Aber wenn Akkarin den anderen davon erzählte, würde er eingestehen müssen, dass er schwarze Magie erlernt hatte. War der Grund für sein Schweigen so einfach und so egoistisch? Vielleicht gab es ja noch andere Gründe.

Sie wusste noch immer nicht, wie er gelernt hatte, schwarze Magie zu benutzen. Tavaka hatte geglaubt, dass einzig die Ichani über dieses Wissen verfügten. Ihn hatte man nur darin unterwiesen, damit er Akkarin töten konnte.

Und Akkarin war ein Sklave gewesen.

Es war unmöglich, sich den herablassenden, würdevollen, mächtigen Hohen Lord ausgerechnet als Sklaven vorzustellen.

Aber er war einer gewesen, so viel stand fest. Irgendwie war er entkommen und nach Kyralia zurückgekehrt. Man hatte ihn zum Hohen Lord gemacht. Jetzt versuchte er heimlich und ganz auf sich gestellt, diese Ichani in Schach zu halten, indem er ihre Spione tötete.

Er war nicht der Mensch, für den sie ihn gehalten hatte.

Möglicherweise war er sogar ein guter Mensch.

Sie runzelte die Stirn. Nicht so vorschnell. Irgendwie hat er schwarze Magie erlernt, und ich bin nach wie vor seine Geisel.

Doch wie hätte er diese Spione ohne schwarze Magie besiegen können? Und wenn es einen guten Grund gab, warum er all das geheim hielt, dann hatte er keine andere Wahl gehabt, als dafür zu sorgen, dass sie, Rothen und Lorlen Stillschweigen bewahrten.

»Sonea.«

Sie zuckte zusammen, dann wandte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Akkarin stand, die Arme vor der Brust verschränkt, im Schatten eines hohen Baums. Sie stand hastig auf und verbeugte sich.

»Hoher Lord.«

Er musterte sie einen Moment lang, dann ließ er die Arme sinken und kam auf sie zu. Als er auf den Felsvorsprung trat, glitt sein Blick zu dem Felsen, an den sie sich gelehnt hatte. Er ging in die Hocke und unterzog die Oberfläche des Steins einer genauen Untersuchung. Sonea hörte das Scharren von Stein auf Stein und blinzelte überrascht, als ein Teil des Felsens sich nach vorn schob und ein ungleichmäßig geformtes Loch preisgab.

»Ah, es ist noch da«, sagte er leise. Er legte den Stein, den er herausgenommen hatte, auf den Boden, griff in die Öffnung und zog eine kleine, zerkratzte Holzkiste hervor. In den Deckel waren mehrere Löcher gebohrt worden, so dass sie ein Gittermuster ergaben. Der Deckel sprang auf. Akkarin neigte das Kästchen so, dass Sonea den Inhalt deutlich sehen konnte.

Darin lagen mehrere Spielsteine, die mit kleinen Stiften versehen waren, so dass man sie in die Löcher des Deckels stecken konnte.

»Lorlen und ich sind früher hierher gekommen, um uns vor Lord Margens Unterrichtsstunden zu drücken.« Er nahm einen der Steine heraus und betrachtete ihn.

Sonea blinzelte überrascht. »Lord Margen? Rothens Mentor?«

»Ja. Er war ein sehr strenger Lehrer. Wir haben ihn ›das Ungeheuer‹ genannt. In dem Jahr nach meinem Abschluss hat Rothen dann Margens Klassen übernommen.«

Sonea konnte sich Akkarin ebenso wenig als jungen Novizen vorstellen wie als Sklaven. Sie wusste, dass er nur wenige Jahre älter war als Dannyl, und doch wirkte Dannyl so viel jünger. Es lag nicht daran, dass Akkarin älter aussah, überlegte sie, es waren einfach seine Ausstrahlung und seine Position, die den Eindruck größerer Reife vermittelten.

Nachdem Akkarin die Spielsteine zurückgelegt hatte, verschloss er die kleine Kiste und legte sie wieder in ihr Versteck. Dann setzte er sich und lehnte sich mit dem Rücken an den Felsbrocken. Sonea verspürte ein eigenartiges Unbehagen. Mit einem Mal war der würdevolle, bedrohliche Hohe Lord verschwunden, der sie Rothens Schutz beraubt hatte, um dafür zu sorgen, dass seine Verbrechen unentdeckt blieben. Sie war sich nicht sicher, wie sie auf diese Lässigkeit reagieren sollte. Schließlich ließ sie sich einige Schritte entfernt auf den Boden sinken, während Akkarin immer noch die Quelle betrachtete, als wolle er sich davon überzeugen, dass sie noch genauso war, wie er sie in Erinnerung hatte.

»Ich war nicht viel älter als du, als ich die Gilde verließ«, sagte er. »Ich war zwanzig, und einem Hunger nach Herausforderung und Aufregung folgend, hatte ich die Disziplin der Krieger gewählt. Aber hier in der Gilde gab es keine Abenteuer zu bestehen. Ich musste diesem Leben für eine Weile entfliehen. Also beschloss ich, ein Buch über alte Magie zu schreiben – als Vorwand, um reisen und die Welt sehen zu können.«

Sie blickte überrascht zu ihm hinüber. In seine Augen war ein träumerischer Ausdruck getreten, als sähe er vor sich eine alte Erinnerung statt der Bäume, die die Quelle umgaben. Anscheinend war er in der Absicht hierher gekommen, ihr seine Geschichte zu erzählen.

»Im Laufe meiner Forschungen stieß ich auf einige seltsame Hinweise auf alte Magie, die mich fesselten. Diese Hinweise führten mich nach Sachaka.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich auf der Hauptstraße geblieben wäre, wäre ich vielleicht in Sicherheit gewesen. Auf der Suche nach exotischen Waren reisen durchaus hier und da kyralische Händler nach Sachaka. Der König schickt in Abständen von einigen Jahren Diplomaten in Begleitung von Magiern über die Grenze. Aber Sachaka ist ein großes Land und eins, das viele Geheimnisse birgt. Die Gilde ist sich darüber im Klaren, dass es dort Magier gibt, aber sie weiß nur wenig über sie.

Ich kam jedoch von Elyne nach Sachaka. Also direkt in die Ödländer, in die Wüste. Ich war einen Monat dort, bevor ich einem der Ichani begegnete. Ich sah Zelte und Tiere und kam auf die Idee, mich diesem wichtigen und wohlhabenden Reisenden vorzustellen. Er hieß mich durchaus freundlich willkommen und stellte sich mir mit Namen Dakova vor. Ich spürte, dass er ein Magier war, und war fasziniert. Er deutete auf meine Roben und fragte mich, ob ich ein Mitglied der Gilde sei, was ich bejahte.«

Akkarin hielt inne. »Da ich einer der stärksten Magier der Gilde war, dachte ich, ich müsse imstande sein, mich gegen alles zu verteidigen. Die Sachakaner, denen ich zuvor begegnet war, waren arme Bauern gewesen, die sich vor Besuchern fürchteten. Ich hätte das als Warnung begreifen sollen. Als Dakova mich angriff, war ich überrascht. Ich fragte ihn, ob ich ihn irgendwie gekränkt hätte, aber er gab mir keine Antwort. Seine Angriffe waren unglaublich stark, und ich hatte kaum Zeit zu begreifen, dass ich diesen Kampf verlieren würde, bevor ich auch schon am Ende meiner Kräfte war. Ich erklärte ihm, dass stärkere Magier nach mir suchen würden, wenn ich nicht in die Gilde zurückkehrte. Das muss ihn beunruhigt haben. Er hielt inne. Ich war so erschöpft, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, und ich dachte, das sei der Grund, warum es ihm gelang, so mühelos in meinen Geist einzudringen. Einige Tage lebte ich in dem Glauben, die Gilde verraten zu haben. Aber als ich später mit Dakovas Sklaven sprach, erfuhr ich, dass die Ichani in der Lage waren, jederzeit die Barrieren eines fremden Geistes zu überwinden.«

Als er einen Moment lang schwieg, hielt Sonea den Atem an. Würde er ihr erzählen, wie es gewesen war, ein Sklave zu sein? Sie verspürte eine Mischung aus Furcht und Erregung.

Akkarin blickte auf den Teich unter ihnen hinab. »Dakova erfuhr aus meinen Gedanken, dass die Gilde schwarze Magie geächtet hatte und viel schwächer war, als die Sachakaner glaubten. Was er in meinem Geist gelesen hatte, erheiterte ihn derart, dass er beschloss, es auch die anderen Ichani sehen zu lassen. Ich war zu erschöpft, um Widerstand zu leisten. Sklaven nahmen mir meine Roben und gaben mir alte Lumpen zum Anziehen. Zuerst konnte ich nicht begreifen, dass diese Menschen Sklaven waren und dass ich jetzt einer von ihnen sein sollte. Als ich dann verstand, wollte ich es nicht akzeptieren. Ich versuchte zu fliehen, aber Dakova fand mich ohne Mühe. Er schien die Jagd zu genießen – und die Strafe, die er anschließend über mich verhängte.«

Akkarins Augen wurden schmal. Er drehte den Kopf ein klein wenig in Soneas Richtung, und sie senkte den Blick, weil sie sich davor fürchtete, ihm in die Augen sehen zu müssen.

»Ich war entsetzt über meine Situation«, fuhr er leise fort. »Dakova nannte mich seinen ›kleinen Gildemagier‹. Ich war eine Trophäe, etwas, das man aufbewahrte, um seine Gäste damit zu amüsieren. Es war jedoch ein Risiko, mich zu behalten. Im Gegensatz zu den anderen Sklaven war ich ein voll ausgebildeter Magier. Also las Dakova jeden Abend meine Gedanken, und um zu verhindern, dass ich zu einer Gefahr werden könnte, nahm er mir bei dieser Gelegenheit auch die Kraft, die ich während des Tages gewonnen hatte.«

Akkarin zog einen Ärmel hoch. Hunderte dünner, glänzender Linien bedeckten seinen Arm. Narben. Ein eisiger Schauer überlief Sonea. Dieser Beweis für seine Vergangenheit war so viele Male zum Greifen nahe gewesen, verborgen nur durch eine dünne Schicht Stoff.

»Die übrigen Sklaven waren jene, die Dakova anderen Ichani abgenommen hatte, nachdem er ihre früheren Herren bekämpft und besiegt hatte. Außerdem waren auch junge Männer und Frauen mit verborgenem magischen Potenzial unter seinen Sklaven, Menschen, die er unter den Bauern und Bergarbeitern in der Region gefunden hatte. Jeden Tag nahm er ihnen ein wenig von ihrer magischen Stärke. Er war mächtig, aber er war auch seltsam isoliert. Irgendwann begriff ich, dass Dakova und die anderen Ichani, die in den Ödländern leben, Ausgestoßene waren. Aus dem einen oder anderen Grund – fehlgegangene Verschwörungen oder das Unvermögen, Bestechungsgelder oder Steuern zu zahlen – waren sie bei dem sachakanischen König in Ungnade gefallen. Er hatte sie in die Ödländer verbannt und anderen verboten, mit ihnen Umgang zu pflegen.

Man sollte glauben, in dieser Situation hätten sie sich zusammengetan, aber dafür hegten sie zu viel Groll gegeneinander und waren zu ehrgeizig. Ständig intrigierten sie gegeneinander in der Hoffnung, ihren Wohlstand und ihre Stärke zu mehren oder Rache für frühere Kränkungen zu nehmen. Oder aber es ging ihnen lediglich darum, Essensvorräte zu stehlen. Ein ausgestoßener Ichani kann nur eine bestimmte Anzahl von Sklaven ernähren. Die Ödländer bringen nur wenig Nahrung hervor, und es steigert die Erträge wohl kaum, wenn man Bauern schikaniert und tötet.«

Akkarin hielt inne, um tief Luft zu holen. »Die Frau, die mir zu Beginn meiner Zeit dort alles erklärte, war eine starke potenzielle Magierin. Sie hätte eine mächtige Heilerin sein können, wäre sie in Kyralia geboren worden. Stattdessen hielt Dakova sie sich als Bettsklavin.« Akkarin schnitt eine Grimasse.

»Eines Tages griff Dakova einen anderen Ichani an und musste erkennen, dass er den Kampf verlieren würde. In seiner Verzweiflung zog er alle Kraft aus jedem seiner Sklaven und tötete sie auf diese Weise. Die stärksten von uns hob er sich bis zuletzt auf, und es gelang ihm, seinen Gegner zu überwältigen, bevor er uns alle getötet hatte. Nur ich selbst und Takan haben überlebt.«

Sonea blinzelte. Takan? Akkarins Diener?

»Dakova war mehrere Wochen sehr verwundbar, während er die verlorene Stärke langsam zurückgewann«, setzte Akkarin seinen Bericht fort. »Es machte ihm weniger Sorgen, dass ein anderer seine Schwäche ausnutzen könnte, als es vielleicht hätte tun sollen. Alle Ichani wussten, dass Dakova einen Bruder hatte, Kariko. Die beiden hatten allgemein bekannt gegeben, dass, falls einer von ihnen getötet werden sollte, der andere seinen Tod rächen würde. Kein Ichani in den Ödländern konnte einen der Brüder besiegen und seine Stärke rechtzeitig zurückgewinnen, um einen Angriff des anderen Bruders zu überleben. Kurz nachdem Dakova diesen letzten Kampf um ein Haar verloren hätte, erschien Kariko und gab seinem Bruder mehrere Sklaven, die ihm helfen sollten, seine Stärke zurückzugewinnen.

Die meisten der Sklaven, denen ich begegnet bin, träumten davon, dass Dakova oder einer seiner Feinde ihre Kräfte entfesseln und sie lehren würde, wie man schwarze Magie benutzte, so dass sie sich befreien konnten. Diese Sklaven blickten stets voller Neid auf mich; ich brauchte nur schwarze Magie zu erlernen, um fliehen zu können. Sie wussten nicht, dass die Gilde schwarze Magie verboten hatte.

Aber als ich mit ansah, wessen Dakova fähig war, scherte ich mich immer weniger darum, was die Gilde erlaubte und was nicht. Er brauchte keine schwarze Magie, um Böses zu tun. Ich habe ihn mit bloßen Händen Dinge tun sehen, die ich niemals vergessen werde.«

Ein gequälter Ausdruck trat in Akkarins Blick. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, waren sie hart und kalt.

»Fünf Jahre lebte ich in Sachaka in Gefangenschaft. Eines Tages dann, nicht lange nachdem Kariko seinem Bruder die neuen Sklaven geschenkt hatte, hörte Dakova, dass ein Ichani, den er zutiefst verachtete, sich in einem Bergwerk versteckte, nachdem er sich in einem Kampf verausgabt hatte. Er beschloss, diesen Ichani zu finden und zu töten.

Als Dakova ankam, schien das Bergwerk verlassen zu sein. Er, ich selbst und die anderen Sklaven drangen in die Tunnel ein, um nach seinem Feind zu suchen. Nach mehreren hundert Schritten stürzte der Boden unter mir ein. Ich spürte, dass ich von Magie aufgefangen und auf eine harte Oberfläche gelegt worden war.«

Akkarin lächelte grimmig. »Ich war von einem anderen Ichani gerettet worden. Ich dachte, er würde mich töten oder mich zu seinem eigenen Sklaven machen. Stattdessen führte er mich durch die Tunnel zu einem kleinen, versteckten Raum. Dort machte er mir ein Angebot. Er würde mich in schwarzer Magie unterweisen, falls ich dann zu Dakova zurückkehrte und ihn tötete.

Mir war klar, dass dieses Arrangement wahrscheinlich mit meinem Tod enden würde. Ich würde scheitern und sterben oder Erfolg haben und von Kariko gejagt werden. Aber damals kümmerte mich mein Leben ebenso wenig wie die Ächtung der schwarzen Magie, die die Gilde verhängt hatte, und ich stimmte zu.

Dakova hatte über viele Wochen hinweg Stärke angesammelt. Ich mochte in das Geheimnis der schwarzen Magie eingeweiht sein, aber mir blieb keine Zeit, um stark zu werden. Dies war dem Mann natürlich klar, und er erklärte mir, was ich zu tun hätte.

Ich befolgte die Anweisungen des Ichani. Als ich zu Dakova zurückkehrte, erzählte ich ihm, ich sei durch den Sturz bewusstlos geworden, hätte aber auf dem Weg zurück ins Freie einen Lagerraum voller Nahrungsmittel und Schätze entdeckt. Dakova ärgerte sich zwar darüber, dass sein Feind ihm entkommen war, aber meine Entdeckung gefiel ihm ungemein. Er überließ es mir und den anderen Sklaven, die Reichtümer aus den Minen in sein Zelt zu transportieren. Ich war erleichtert. Wenn Dakova auch nur den oberflächlichsten Gedanken an Verrat bei mir gespürt hätte, hätte er in meinem Geist gelesen und die Verschwörung entdeckt. Ich schickte einen Sklaven mit einer Kiste elynischem Wein vor. Der Staub, mit dem die Flaschen überzogen waren, überzeugte Dakova davon, dass nichts Unrechtes mit ihnen geschehen war, und er begann zu trinken. Der Wein war mit Myk versetzt, einer Droge, die den Geist verwirrt und die Sinne verzerrt. Als ich das Bergwerk verließ, lag er in einem traumähnlichen Zustand.«

Akkarin verfiel in Schweigen. Er starrte zu den Bäumen hinüber, den Blick auf einen Punkt in weiter Ferne geheftet. Als sich das Schweigen in die Länge zog, machte Sonea sich langsam Sorgen, dass er vielleicht nicht weitersprechen würde. Erzähl es mir, dachte sie. Du kannst jetzt nicht aufhören!

Akkarin holte tief Luft und seufzte. Er blickte mit trostloser Miene auf den steinigen Boden hinab. »Damals habe ich etwas Schreckliches getan. Ich habe sämtliche der neuen Sklaven Dakovas getötet. Ich brauchte ihre Stärke. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, Takan zu töten. Nicht weil wir Freunde gewesen wären, sondern weil er von Anfang an da gewesen war und wir die Gewohnheit entwickelt hatten, einander zu helfen.

Dakova war zu benommen von der Droge und dem Wein, um viel wahrzunehmen. Er erwachte, als ich ihm eine Schnittwunde zufügte, aber wenn das Abfließen der Macht erst einmal beginnt, ist es fast unmöglich, die eigenen Kräfte noch zu benutzen.«

Akkarins Stimme war tief und leise. »Obwohl ich jetzt stärker war, als ich es mir jemals hätte vorstellen können, wusste ich, dass Kariko nicht weit war. Er würde schon bald versuchen, sich mit Dakova in Verbindung zu setzen, und dann würde er herkommen, um nach einer Erklärung für das Schweigen seines Bruders zu forschen. Ich hatte nur den einen Gedanken, nämlich Sachaka zu verlassen. Ich kam nicht einmal auf die Idee, Essen mitzunehmen. Ich habe nicht erwartet zu überleben. Einen Tag später begriff ich, dass Takan mir folgte. Er hatte eine Tasche voller Vorräte gepackt. Ich erklärte ihm, dass er mich verlassen müsse, denn sonst würde Kariko auch ihn finden, aber Takan bestand darauf zu bleiben – und mich wie einen Ichani-Meister zu behandeln. Wir gingen wochenlang weiter, obwohl es in den Bergen bisweilen so aussah, als hätten wir mehr Zeit damit verbracht, zu klettern als zu gehen. Zu guter Letzt fanden wir uns am Fuß des Stahlgurtgebirges. Da wusste ich, dass ich Kariko entkommen war, und machte mich auf den Weg nach Hause.«

Zum ersten Mal blickte Akkarin auf, um ihr in die Augen zu sehen. »Ich hatte nur den Gedanken, in die Sicherheit der Gilde zurückzukehren. Ich wollte alles vergessen und schwor mir, nie wieder schwarze Magie anzuwenden. Takan wollte mich nicht verlassen, aber indem ich ihn zu meinem Diener machte, glaubte ich, ihn so gut wie nur möglich freigegeben zu haben.« Er sah zu den Gildegebäuden hinüber, die hinter den Bäumen versteckt lagen. »Man nahm mich warmherzig und mit großer Freude wieder auf. Als man mich fragte, wo ich gewesen sei, berichtete ich über meine Erfahrungen in den Verbündeten Ländern, dann erfand ich eine Geschichte, nach der ich mich in die Berge zurückgezogen hätte, um dort in aller Abgeschiedenheit meine Studien fortzusetzen.

Kurz nach meiner Rückkehr starb dann der Hohe Lord. Die Sitte verlangt, dass der stärkste Magier diese Position einnehmen muss. Ich hatte es nie in Erwägung gezogen, dass ich ein Kandidat für dieses Amt sein könnte. Ich war schließlich erst fünfundzwanzig. Aber ich hatte Lord Balkan versehentlich meine Stärke spüren lassen. Ich war überrascht, als er den Vorschlag machte, mich als Kandidaten in Erwägung zu ziehen, und es erstaunte mich, wie viel Unterstützung diese Idee unter den anderen Magiern fand. Es ist interessant, was Menschen zu übersehen bereit sind, wenn sie sich verzweifelt wünschen, die Wahl eines Mannes, den sie nicht mögen, zu verhindern.«

Fasziniert öffnete Sonea den Mund, um zu fragen, wessen Wahl hatte verhindert werden sollen, aber Akkarin sprach bereits weiter.

»Balkan war der Meinung, dass meine Reisen mich hätten reifen lassen, und ich hatte Erfahrung im Umgang mit anderen Kulturen.« Akkarin schnaubte leise. »Wenn er die Wahrheit gewusst hätte, wäre er vielleicht nicht gar so beharrlich gewesen. Obwohl mir die Idee zuerst absurd erschien, sah ich doch nach und nach gewisse Möglichkeiten darin. Ich musste mich von den Erinnerungen der vergangenen fünf Jahre ablenken. Und ich machte mir Sorgen wegen der Ichani. Dakova und sein Bruder hatten viele Male davon gesprochen, wie einfach es wäre, Kyralia zu überfallen. Obwohl Kariko jetzt allein war und die anderen Ichani wahrscheinlich niemals dazu würde bewegen können, sich ihm anzuschließen, war eine Invasion nicht unmöglich. Was, wenn er die Gunst des Königs zurückgewann und ihn zu einem Überfall auf Kyralia überredete? Ich beschloss, die Sachakaner im Auge zu behalten, und das würde leichter sein, wenn ich über die Möglichkeiten eines Hohen Lords verfügte. Nachdem ich die Gilde meine Stärke hatte prüfen lassen, war es nicht weiter schwierig, sie dazu zu bringen, mich zu wählen.

Nach einigen Jahren hörte ich von den Morden in der Stadt, die verdächtig nach schwarzer Magie aussahen. Ich ging den Dingen auf den Grund und fand den ersten Spion. Von ihm erfuhr ich, dass Kariko die anderen Ichani mit der Idee, Imardin zu plündern, aufgewiegelt hatte. Sie wollten sich für den Sachakanischen Krieg rächen und hatten ihren König gezwungen, sie wieder aufzunehmen. Zuerst musste Kariko sie davon überzeugen, dass die Gilde keine schwarze Magie benutzte. Ich habe sie seither vom Gegenteil überzeugt.« Er lächelte, dann wandte er sich zu ihr um. »Du bist eine gute Zuhörerin, Sonea. Du hast mich nicht ein einziges Mal unterbrochen, obwohl du inzwischen gewiss einige Fragen haben dürftest.«

Sie nickte langsam. Wo sollte sie anfangen? Ihr schwirrten so viele Dinge im Kopf herum, die sie nicht verstand.

»Warum habt Ihr der Gilde nichts von den Ichani erzählt?«

Akkarin zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du, sie hätten mir geglaubt?«

»Lorlen hätte es vielleicht getan.«

Er wandte den Blick ab. »Dessen bin ich mir nicht sicher.«

Sie dachte an Lorlens Entrüstung, als er ihre Erinnerung an Akkarin, wie er schwarze Magie vollführte, gesehen hatte. Ein Stich des Mitleids für den Hohen Lord durchzuckte sie. Es musste wehgetan haben, einen Freund wegen eines Geheimnisses zu verlieren, das er nicht zu offenbaren wagte.

»Ich denke, Lorlen hätte Euch geglaubt«, sagte sie. »Wenn er es nicht getan hätte, hättet Ihr ihm gestatten können, eine Wahrheitslesung vorzunehmen.« Als ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, zuckte sie zusammen. Nachdem Dakova so oft in seinen Gedanken gelesen hatte, wollte Akkarin wahrscheinlich, dass nie wieder ein anderer Mensch in seine Erinnerungen eindrang.

Er schüttelte den Kopf. »Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Jeder, der meine Gedanken liest, könnte allzu leicht das Geheimnis der schwarzen Magie ergründen. Deshalb habe ich dich gestern Nacht auch nicht weiter in Tavakas Geist eindringen lassen.«

»Dann… dann hätte die Gilde eben mehrere Magier nach Sachaka schicken müssen, um sich Eure Geschichte bestätigen zu lassen.«

»Wenn unsere Magier in großer Zahl nach Sachaka gehen und anfangen würden, gefährliche Fragen zu stellen, würden die Ichani sie als Bedrohung ansehen. Das könnte genau den Konflikt heraufbeschwören, den wir fürchten. Außerdem darfst du eins nicht vergessen: Nach meiner Rückkehr hierher wusste ich, dass keine unmittelbare Gefahr von Sachaka ausging. Ich war nichts als erleichtert, wieder zu Hause zu sein. Und solange es nicht unbedingt sein musste, schien es mir keinen Sinn zu haben, zu offenbaren, dass ich das Magiergelübde gebrochen hatte.«

»Aber jetzt droht Gefahr.«

Sein Blick flackerte. »Nicht, solange es Kariko nicht gelingt, die anderen Ichani hinter sich zu bringen.«

»Aber je eher die Gilde davon erfährt, desto besser wäre sie vorbereitet.«

Akkarins Miene verhärtete sich. »Ich bin der Einzige, der es mit diesen Spionen aufnehmen kann. Glaubst du, die Gilde würde mich in meinem Amt belassen, wenn sie wüsste, dass ich schwarze Magie erlernt habe? Wenn ich es jetzt erzählte, würden sie alles Vertrauen in mich verlieren. Ihre Angst würde sie blind machen gegen die wahre Gefahr. Solange ich keinen Weg gefunden habe, diese Ichani ohne schwarze Magie zu bekämpfen, ist es besser, wenn niemand hier von diesen Dingen erfährt.«

Sie nickte, obwohl sie nicht glauben konnte, dass die Gilde ihn bestrafen würde, wenn die anderen Magier hörten, was er ihr soeben erzählt hatte.

»Gibt es denn eine andere Möglichkeit?«

»Ich habe bisher noch keine gefunden.«

»Was werdet Ihr dann jetzt tun?«

»Weiter Jagd auf die Spione machen. Meine Verbündeten unter den Dieben erweisen sich in dieser Hinsicht als ausgesprochen nützlich. Sie sind bei weitem tüchtiger als die Männer, die ich zuvor mit der Suche nach den Spionen beauftragt hatte.«

»Die Diebe.« Sonea lächelte. »Das dachte ich mir. Wie lange arbeitet Ihr schon mit ihnen zusammen?«

»Seit ungefähr zwei Jahren.«

»Wie viel wissen sie?«

»Nur, dass sie wilde Magier jagen, die die unangenehme Angewohnheit haben, Menschen zu töten. Und natürlich wissen sie, dass diese Einzelgänger zufällig alle aus Sachaka kommen. Sie spüren sie auf, informieren mich und beseitigen die Leichen.«

Die Erinnerung an Tavaka, wie er um sein Leben gefleht hatte, blitzte in ihren Gedanken auf. Er hatte versprochen, niemandem mehr zu schaden, während er gleichzeitig fest entschlossen war, so viele Kyralier wie nur möglich zu töten, damit er nach Sachaka zurückkehren und sich den Ichani anschließen konnte. Wäre Akkarin nicht gewesen, würde Tavaka jetzt weiter morden.

Sie runzelte die Stirn. So viel hing von Akkarin ab. Was, wenn er starb? Wer würde die Spione dann aufhalten? Nur Takan und sie würden wissen, was wirklich vorging, aber keiner von ihnen verstand sich auf schwarze Magie. Keiner von ihnen konnte irgendetwas tun, um den Ichani Einhalt zu gebieten.

Als ihr die Konsequenzen dieser Tatsache bewusst wurden, erstarrte sie zu Eis.

»Warum habt Ihr mir das alles erzählt?«

Er lächelte grimmig. »Weil außer mir und Takan noch jemand Bescheid wissen sollte.«

»Aber warum ich?«

»Du weißt bereits sehr viel.«

Sie hielt inne. »Dann können wir Rothen ebenfalls ins Vertrauen ziehen? Ich weiß, dass er mit niemandem darüber sprechen würde, wenn er die Gefahr versteht.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Nein. Es sei denn, wir müssten der Gilde all diese Dinge offen legen.«

»Aber Rothen glaubt immer noch, dass ich… was ist, wenn er versucht, etwas zu unternehmen? Meinetwegen.«

»Oh, ich behalte Rothen sehr genau im Auge.«

In der Ferne erklang ein Gong. Akkarin erhob sich. Der Saum seiner schwarzen Robe strich über Soneas Hand. Sonea blickte zu ihm auf und verspürte eine seltsame Mischung aus Angst und Respekt. Er hatte viele Male getötet. Er hatte die dunkelste Magie erlernt und benutzt. Dennoch hatte er all das nur getan, um der Sklaverei zu entkommen und um die Sicherheit der Gilde zu gewährleisten. Und niemand außer ihr und Takan wussten davon.

Akkarin verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Geh jetzt in deine Klasse zurück, Sonea. Mein Schützling schwänzt keinen Unterricht.«

Sonea senkte den Blick und nickte.

»Ja, Hoher Lord.«

8 Nachdenken über ein Verbrechen

Die Stimmen der Novizen hallten im Flur der Universität wider. Die beiden, die für Rothen die Kartons mit den Utensilien und Substanzen trugen, die er in der vergangenen Stunde benötigt hatte, führten mit leiser Stimme ein überaus faszinierendes Gespräch. Sie hatten bei den Pferderennen am letzten Freitag ein Mädchen entdeckt, das sie beobachtet hatte, und sie konnten nicht entscheiden, für welchen von ihnen es sich vielleicht interessierte.

Rothen hatte alle Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Aber als oben an der Treppe eine schlanke Gestalt in Sicht kam, verdüsterte sich seine Stimmung. Soneas Miene war angespannt vor Ärger. Mit einem Stapel schwerer Bücher in den Armen bog sie in einen Seitengang ein, der zur Novizenbibliothek führte.

Die Jungen hinter Rothen hatten aufgehört zu reden und schnalzten mitfühlend mit der Zunge.

»Ich schätze, das hat sie wohl herausgefordert«, sagte einer. »Ihren Mut muss man allerdings bewundern. Wenn er mein Mentor wäre, würde ich es nicht wagen, den Unterricht zu schwänzen.«

Rothen drehte sich um.

»Wer hat den Unterricht geschwänzt?«

Als der Junge begriff, dass Rothen seine Bemerkung gehört hatte, errötete er. »Sonea«, antwortete er.

»Der Hohe Lord hat ihr zur Strafe eine Woche Bibliotheksdienst auferlegt«, fügte der andere Junge hinzu.

Rothens Mundwinkel zuckten. »Das wird ihr sicher gefallen.«

»Oh nein. Er hat sie in die Bibliothek der Magier geschickt. Lord Jullen pflegt dafür zu sorgen, dass eine Strafe auch wirklich eine Strafe ist.«

Sonea hatte also tatsächlich den Unterricht geschwänzt, wie Tania es ihm berichtet hatte. Rothen fragte sich, warum sie das getan hatte und wo sie stattdessen hingegangen war. Sie hatte keine Freunde, mit denen sie sich davonschleichen konnte, und keine anderen Hobbys oder Interessen, die sie vielleicht in Versuchung geführt hätten, dem Unterricht fernzubleiben. Sie wusste, dass er und Lorlen sofort Verdacht schöpfen würden, wenn sie fehlte. Wenn sie das Risiko eingegangen war, sie zu beunruhigen, musste ihr Verhalten einen besseren Grund haben als nur eine rebellische Laune.

Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Als die Jungen ihr Gespräch wieder aufnahmen, lauschte er, in der Hoffnung, Näheres zu erfahren.

»Sie wird dir einen Korb geben. Seno hat sie auch schon abgewiesen.«

»Vielleicht hat sie Seno nur deshalb abgewiesen, weil sie ihn nicht mag.«

»Vielleicht. Aber es spielt ohnehin keine Rolle. Die Strafe gilt für eine Woche. Das dürfte den Freitag einschließen. Sie würde ohnehin nicht mit uns kommen können.«

Rothen widerstand dem Drang, sich umzudrehen und die beiden überrascht anzusehen. Sie sprachen immer noch von Sonea. Was bedeutete, dass sie und ein anderer Junge namens Seno erwogen hatten, Sonea zu den Rennen einzuladen. Seine Stimmung hob sich ein wenig. Er hatte gehofft, dass die anderen Novizen sie am Ende akzeptieren würden. Jetzt sah es so aus, als seien sie vielleicht sogar an mehr interessiert als nur an Freundschaft. Dann seufzte Rothen. Sonea hatte diesen Jungen namens Seno abgewiesen, und er wusste, dass sie wahrscheinlich auch alle anderen derartigen Angebote ablehnen würde. Es war eine grausame Ironie, dass sie jetzt, da die Novizen sie langsam akzeptierten, nicht wagte, sich mit einem von ihnen anzufreunden, aus Angst, die Situation mit Akkarin weiter zu komplizieren.


Als die Kutsche vor der Villa anhielt, tauschten Dannyl und Tayend einen zweifelnden Blick.

»Nervös?«, fragte Tayend.

»Nein«, versicherte ihm Dannyl.

Tayend schnaubte. »Lügner.«

Die Tür der Kutsche wurde geöffnet, und der Fahrer verneigte sich, während sie ausstiegen. Wie so viele elynische Villen stand die Vorderseite von Dem Maranes Haus den Elementen offen. Gewölbte Eingänge führten in einen gefliesten, mit Skulpturen und Pflanzen geschmückten Raum.

Dannyl und Tayend traten durch einen dieser Bogengänge und durchquerten die Halle. Eine große Holztür versperrte den Zutritt zu dem abgeschlossenen Teil des Hauses. Tayend zog an einem Seil, das neben der Tür hing. Irgendwo über ihnen erklang ein fernes Läuten.

Kurz darauf hörten sie gedämpfte Schritte im Haus, dann wurde die Tür geöffnet, und Dem Marane begrüßte sie mit einer Verbeugung.

»Botschafter Dannyl, Tayend von Tremmelin. Ihr seid herzlich willkommen in meinem Heim.«

»Wir fühlen uns geehrt von Eurer Einladung, Dem Marane«, erwiderte Dannyl.

Der Dem führte sie durch verschiedene luxuriös möblierte Räume, bis sie in einen offenen Saal gelangten. Durch hohe Bögen konnte man das Meer und die sorgfältig gepflegten Gärten sehen, die in Terrassen zum Strand hin abfielen. An der gegenüberliegenden Wand saßen sechs andere Männer auf gepolsterten Bänken, ihnen gegenüber mitten im Raum auf einem kleinen Sofa eine Frau.

Die Fremden starrten Dannyl an. Sie wirkten angespannt und ängstlich. Er wusste, dass seine Körpergröße in Verbindung mit der Robe ihn ehrfurchtgebietend erscheinen ließ.

»Darf ich euch den zweiten Botschafter der Gilde in Elyne vorstellen, Lord Dannyl«, erklärte Royend. »Seinen Begleiter, Tayend von Tremmelin, kennen einige von euch bereits.«

Einer der Männer stand auf und verneigte sich, worauf die anderen zögernd seinem Beispiel folgten. Dannyl seinerseits nickte höflich. Waren das bereits alle, die zu der Gruppe gehörten? Er bezweifelte es. Einige von ihnen würden sich nicht offenbaren wollen, bevor sie sich davon überzeugt hatten, dass man ihm vertrauen konnte.

Der Dem stellte sie einen nach dem anderen vor. Royend war der Älteste, wie Dannyl vermutete. Alle Anwesenden waren elynische Aristokraten, die aus verschiedenen wohlhabenden Familien stammten. Die Frau war die Gattin des Dem, Kaslie. Als alle miteinander bekannt gemacht waren, lud Kaslie sie ein, Platz zu nehmen, während sie einige Erfrischungen holte. Dannyl entschied sich für eine leere Bank, und Tayend setzte sich dicht neben ihn. Dannyl konnte sich einer gewissen Unruhe nicht erwehren, als er sah, dass die anderen Tayends Verhalten sehr wohl wahrnahmen.

Ein Gespräch über belanglose Themen folgte. Man stellte Dannyl die gewohnten Fragen: Was er von Elyne halte und ob er bestimmte berühmte und wichtige Persönlichkeiten bereits kennen gelernt habe. Einige der Anwesenden befragten ihn nach seinen Reisen nach Lonmar und Vin und verdeutlichten so, dass sie bereits Informationen über ihn eingeholt hatten.

Nach einer Weile kam Kaslie mit einigen Dienern zurück, die Wein und Tabletts mit Speisen brachten. Nachdem alle etwas zu trinken bekommen hatten, schickte der Dem die Diener fort und sah sich im Raum um.

»Es wird Zeit, auf die Angelegenheit zu sprechen zu kommen, die uns hierher geführt hat. Wir sind zusammengekommen, weil wir alle etwas betrauern: Wir trauern um eine versäumte Gelegenheit.« Der Dem sah Tayend an. »Einigen von uns ist diese Gelegenheit angeboten worden, und die Umstände haben uns gezwungen, sie auszuschlagen. Anderen hat man diese Chance niemals gegeben, oder man hat sie ihnen wieder entzogen. Viele wünschen sich eine Chance, die sie nicht an eine Institution kettet, mit deren Prinzipien sie nicht einverstanden sind, in einem Land, in das sie nicht gehören.« Abermals hielt der Dem inne, um sich im Raum umzusehen. »Wir alle wissen, von welcher Chance ich spreche. Von der Chance, Magie zu erlernen.«

Er blickte zu Dannyl hinüber. »Während der vergangenen zwei Jahrhunderte gab es nur eine vom Gesetz erlaubte Möglichkeit, Magie zu erlernen: Man musste der Gilde beitreten. Um außerhalb des Einflussbereichs der Gilde Magie zu erlernen, müssen wir ein Gesetz brechen. Botschafter Dannyl hat sich diesem Gesetz unterworfen, aber auch er beklagt den Verlust an Möglichkeiten. Sein Gefährte, Tayend von Tremmelin, verfügt über magisches Talent. Botschafter Dannyl hat den Wunsch, ihm beizubringen, wie er sich beschützen oder heilen kann. Ein vernünftiger – nein, ein ehrenwerter Wunsch.«

Der Dem sah die anderen an, die nickten. »Aber sollte die Gilde dies jemals erfahren, wird Tayend Menschen brauchen, die ihn verstecken und schützen können. Wir verfügen über die richtigen Beziehungen und Arrangements. Wir können ihm helfen.«

Dann wandte er sich wieder zu Dannyl um. »Also, Botschafter, was bietet Ihr uns als Gegenleistung für den Schutz Eures Freundes?«

Schweigen senkte sich über den Raum. Dannyl lächelte und betrachtete die Gesichter der Elyner.

»Ich kann Euch die Gelegenheiten anbieten, die Ihr versäumt habt. Ich kann Euch ein wenig Magie lehren.«

»Ein wenig?«

»Ja. Es gibt einige Dinge, die ich Euch nicht lehren will, und andere, die ich Euch nicht lehren kann.«

»Wie zum Beispiel?«

»Ich würde niemanden, dem ich nicht vertraue, in den offensiven Kriegskünsten unterweisen. In den falschen Händen sind diese Künste gefährlich. Ich selbst bin Alchemist, daher beschränken sich meine Kenntnisse des Heilens auf die Grundlagen.«

»Das klingt vernünftig.«

»Und bevor ich Euch irgendetwas lehre, werde ich mich davon überzeugen müssen, dass Ihr in der Lage seid, Tayend zu schützen.«

Der Dem lächelte. »Und wir möchten unsererseits natürlich keine Geheimnisse preisgeben, bevor wir nicht sicher sind, dass Ihr Eure Seite des Handels einhalten werdet. Für den Augenblick kann ich nur bei meiner Ehre schwören, dass wir imstande sind, Euren Freund zu schützen. Näheres werdet Ihr von mir noch nicht erfahren. Nicht bevor Ihr uns bewiesen habt, dass man Euch trauen kann.«

»Woher weiß ich, dass man Euch trauen kann?«, fragte Dannyl.

»Das könnt Ihr nicht wissen«, antwortete der Dem schlicht. »Aber ich denke, Ihr seid uns gegenüber heute Abend im Vorteil. Ein Magier, der sich mit dem Gedanken trägt, einen Freund zu unterrichten, geht kein so großes Risiko ein wie eine Gruppe von Nichtmagiern, die zusammenkommt, um diese Kunst zu erlernen. Wir haben uns einem Ziel verschrieben, Ihr habt bisher lediglich mit einem Gedanken gespielt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gilde Euch dafür hinrichten würde, während uns allein aufgrund dieser Zusammenkunft eine solche Strafe drohen könnte.«

Dannyl nickte langsam. »Wenn Ihr so lange vermeiden konntet, die Aufmerksamkeit der Gilde zu erregen, könnt Ihr Tayend vielleicht wirklich vor ihren Magiern schützen. Und Ihr hättet mich nicht hierher eingeladen, wenn Ihr nicht einen Fluchtplan hättet für den Fall, dass ich mich als Spion der Gilde entpuppen sollte.«

Die Augen des Dem blitzten auf. »Genau.«

»Also, was muss ich tun, um Euer Vertrauen zu gewinnen?«, fragte Dannyl.

»Helft uns.«

Es war Kaslie, die gesprochen hatte. Dannyl sah sie überrascht an. Ihre Stimme hatte Sorge und Eile verraten. Sie starrte Dannyl an, und in ihren Augen lag eine verzweifelte Hoffnung.

Ein bestimmter Verdacht beschlich Dannyl. Er erinnerte sich an Akkarins Brief. Erst kürzlich haben sie einen gewissen Erfolg errungen. Jetzt, da es zumindest einem von ihnen gelungen ist, seine Kräfte zu entwickeln, hat die Gilde das Recht und die Pflicht, sich mit ihnen zu befassen.

Der Betreffende hatte seine Kräfte entwickelt, aber nicht gelernt, sie zu kontrollieren. Dannyl überschlug im Kopf schnell die Zahl der Wochen, die vergangen waren, seit er Akkarins Brief erhalten hatte, und fügte noch einmal zwei Wochen für die Dauer seines Transports hinzu. Dann blickte er zu dem Dem empor.

»Wobei soll ich Euch helfen?«

Der Gesichtsausdruck des Mannes war sehr ernst. »Ich werde es Euch zeigen.«

Als Dannyl sich erhob, folgte Tayend seinem Beispiel. Royend schüttelte den Kopf. »Bleibt hier, junger Tremmelin. Um Eurer eigenen Sicherheit willen ist es das Beste, wenn nur der Botschafter mich begleitet.«

Dannyl zögerte kurz, dann nickte er Tayend zu. Der Gelehrte ließ sich stirnrunzelnd wieder auf seinen Platz sinken.

Der Dem bedeutete Dannyl, ihm zu folgen. Sie verließen den Raum und gingen einen Flur hinunter. Am Ende befand sich eine Treppe, die in einen weiteren Flur hinabführte. Vor einer schweren Holztür blieben sie schließlich stehen. Ein schwacher Geruch von Rauch hing in der Luft.

»Er erwartet Euch, aber ich habe keine Ahnung, was er tun wird, wenn er Euch sieht«, warnte ihn der Dem.

Dannyl nickte. Der Dem klopfte an die Tür. Nach einer langen Pause hob er abermals die Hand, um anzuklopfen, hielt dann jedoch inne, als der Griff sich drehte und die Tür nach innen aufschwang.

Ein junger Mann spähte hinaus. Sein Blick wanderte zu Dannyl, und seine Augen weiteten sich.

Aus dem Raum kam ein lautes Krachen. Der junge Mann drehte sich um und fluchte. Als er sich wieder an Dannyl wandte, stand echte Furcht in seinen Zügen.

»Das ist Botschafter Dannyl«, erklärte der Dem dem jungen Mann, dann sah er Dannyl an. »Und das ist der Bruder meiner Frau, Farand von Darellas.«

»Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen«, sagte Dannyl. Farand murmelte eine Antwort.

»Wirst du uns hineinbitten?«, fragte der Dem geduldig.

»Oh. Ja«, erwiderte der junge Mann. »Tretet ein.« Er öffnete die Tür vollends und machte eine unbeholfene Verbeugung.

Dannyl kam in einen großen Raum mit steinernen Wänden. Es mochte früher einmal ein Keller gewesen sein, aber jetzt standen ein Bett und andere Möbel darin, obwohl die ganze Einrichtung so aussah, als sei sie verschiedentlich mit Feuer in Berührung gekommen. Ein Häufchen Holz an der einen Wand sah verdächtig nach den Überresten eines weiteren Möbelstücks aus. Auf dem Fußboden fanden sich Stücke einer großen Vase, die umgeben waren von einer stetig wachsenden Wasserlache. Dannyl vermutete, dass dies die Quelle des Lärms gewesen war, den er kurz zuvor vernommen hatte.

Ein Magier, der seine Kräfte nicht unter Kontrolle hatte, neigte dazu, als Reaktion auf starke Gefühle Magie freizulassen. Für Farand war die Furcht sein größter Feind: Furcht vor der Magie, über die er gebot, und Furcht vor der Gilde. Dannyl musste den Mann beruhigen, bevor er irgendetwas anderes tat.

Er gestattete sich ein schwaches Lächeln. Eine Situation wie diese war so selten, und doch erlebte er sie nun zum zweiten Mal binnen weniger Jahre. Rothen war es gelungen, Sonea trotz ihres tiefen Misstrauens gegenüber der Gilde die Kontrolle über ihre Kräfte zu lehren. Farands Unterweisung konnte nur einfacher werden. Und es würde Farand helfen zu wissen, dass ein anderer die gleiche Situation überlebt hatte.

»Soweit ich sehen kann, sind Eure Kräfte an die Oberfläche getreten, aber Ihr könnt sie nicht kontrollieren«, erklärte Dannyl. »Das ist zwar sehr selten, aber wir haben erst vor einigen Jahren ein Mädchen gefunden, dem es genauso erging wie Euch. Sie hat binnen weniger Wochen die Kontrolle über ihre Magie erlernt und ist jetzt Novizin. Verratet mir eins: Habt Ihr versucht, Eure Kräfte zu entwickeln, oder ist es von allein geschehen?«

Der Mann senkte den Blick. »Ich glaube, ich trage selbst die Verantwortung dafür.«

Dannyl setzte sich auf einen der Stühle. Je harmloser er wirkte, umso besser. »Darf ich fragen, wie Ihr das gemacht habt?«

Farand schluckte und sah in eine andere Richtung. »Ich bin schon immer in der Lage gewesen, die Gedankenrede anderer Magier zu hören. Ich habe jeden Tag gelauscht, in der Hoffnung, herauszufinden, wie man Magie benutzt. Vor einigen Monaten habe ich ein Gespräch mit angehört, in dem es um die Freisetzung von magischem Potenzial ging. Ich habe mehrmals ausprobiert, was diese beiden Magier gesagt haben, aber ich dachte nicht, dass es funktioniert hätte. Dann fing ich plötzlich an, Dinge zu tun, ohne es zu beabsichtigen.«

Dannyl nickte. »Ihr habt Eure Kräfte freigesetzt, aber Ihr wisst nicht, wie man sie kontrolliert. Die Gilde unterrichtet diese beiden Dinge gemeinsam. Ich brauche Euch nicht zu erklären, wie gefährlich es ist, über Magie zu gebieten, die man nicht kontrollieren kann. Ihr habt großes Glück, dass Royend einen Magier gefunden hat, der bereit ist, Euch zu unterrichten.«

»Ihr werdet mich unterrichten?«, flüsterte Farand.

Dannyl lächelte. »Ja.«

Farand lehnte sich erleichtert gegen das Bett. »Ich hatte solche Angst, dass sie mich in die Gilde würden schicken müssen und dass meinetwegen alle anderen in Gefahr gerieten.« Er richtete sich auf und straffte die Schultern. »Wann können wir anfangen?«

»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche, sofort zu beginnen«, erwiderte Dannyl achselzuckend.

Abermals stahl sich ein ängstlicher Ausdruck in die Augen des Mannes. Er schluckte, dann nickte er. »Sagt mir, was ich tun muss.«

Dannyl erhob sich und sah sich um. Er deutete auf den Stuhl. »Setzt Euch.«

Farand betrachtete den Stuhl blinzelnd, dann befolgte er zögernd Dannyls Befehl. Dannyl verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete ihn nachdenklich. Er war sich der Wirkung bewusst, die ihre veränderte Position nach sich ziehen würde – während Farand anfangs ihn überragt hatte, verhielt es sich nunmehr umgekehrt. Nachdem Dannyl sich bereit erklärt hatte zu helfen, musste er Farand das Gefühl geben, dass er wusste, was er tat.

»Schließt die Augen«, befahl Dannyl. »Konzentriert Euch auf Euren Atem.« Mit leiser, gleichmäßiger Stimme führte er Farand durch die gewohnten Atemübungen. Als er glaubte, dass der andere Mann ein gewisses Maß an Ruhe erlangt hatte, trat er hinter den Stuhl und legte Farand sachte die Hände auf die Schläfen. Aber bevor er seine Gedanken aussenden konnte, zuckte Farand zurück.

»Ihr wollt meine Gedanken lesen!«, rief er.

»Nein«, versicherte ihm Dannyl. »Es ist nicht möglich, die Gedanken eines Menschen zu lesen, der damit nicht einverstanden ist. Aber ich muss Euch zu jenem Ort in Eurem Geist führen, an dem Ihr Zugang zu Euren Kräften habt. Das kann ich nur tun, wenn Ihr mich hineinlasst, um Euch den Weg zu zeigen.«

»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte der Dem.

Dannyl sah Royend an. »Nein.«

»Besteht auch nur die geringste Gefahr, dass Ihr Dinge sehen werdet«, fragte Farand, »die ich geheim halten muss?«

Dannyl musterte ihn ernst. Er konnte es nicht leugnen. Sobald er in Farands Geist vorgedrungen war, würden ihm die Geheimnisse des anderen Mannes wahrscheinlich entgegenspringen. Geheimnisse hatten die Neigung, genau das zu tun.

»Es ist möglich«, antwortete Dannyl. »Um ehrlich zu sein, wenn Ihr etwas unbedingt verborgen halten wollt, dann wird es an vorderster Stelle in Euren Gedanken stehen. Deshalb versucht die Gilde, Novizen so jung wie möglich auszubilden. Je jünger man ist, desto weniger Geheimnisse hat man.«

Farand vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein«, stöhnte er. »Niemand kann mich unterrichten. Mein Leben wird für immer so bleiben.«

Die Decken auf dem Bett begannen zu qualmen. Der Dem sog scharf die Luft ein und trat einen Schritt vor. »Vielleicht kann Lord Dannyl schwören, für sich zu behalten, was immer er in deinen Gedanken liest«, schlug er vor.

Farand lachte verbittert auf. »Wie kann ich darauf vertrauen, dass er ein Versprechen halten wird, wenn er im Begriff steht, ein Gesetz zu brechen?«

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte Dannyl trocken. »Ihr habt mein Versprechen, dass ich nichts weitergeben werde, was ich in Euren Gedanken entdecke. Wenn das für Euch nicht akzeptabel ist, schlage ich vor, dass Ihr Eure Angelegenheiten in Ordnung bringt und von hier fortgeht. Legt so viel Abstand wie nur möglich zwischen Euch und jeden Menschen, den Ihr nicht vernichten wollt, denn wenn Eure Kräfte vollends entfesselt werden, werden sie nicht nur Euch verzehren, sondern auch alles in Eurer Nähe.«

Der Mann erbleichte. »Dann gibt es also wirklich keine andere Wahl?«, fragte er mit gepresster Stimme. »Wenn ich das hier nicht tue, werde ich sterben. Ich muss mich also entscheiden zwischen dem Tod und…« Jäher Zorn blitzte in seinen Augen auf, dann holte er tief Luft und straffte sich. »Wenn das die einzige Möglichkeit ist, werde ich einfach darauf vertrauen, dass Ihr mich nicht verratet.«

Erheitert von dieser abrupten Meinungsänderung führte Dannyl Farand abermals durch die beruhigenden Atemübungen. Als er einige Zeit später die Finger auf die Schläfen des Mannes legte, hielt Farand still. Dannyl schloss die Augen und sandte seinen Geist aus.

Novizen werden normalerweise von ihren Lehrern in Kontrolle unterrichtet, und Dannyl war nie Lehrer gewesen. Er besaß zwar nicht Rothens Geschick, aber nach mehreren Versuchen gelang es ihm, Farand dazu zu bewegen, einen Raum zu visualisieren und ihn hineinzubitten. Reizvolle Andeutungen der Geheimnisse des Mannes erschienen, aber Dannyl konzentrierte sich darauf, Farand beizubringen, wie er sie hinter Türen verstecken konnte. Sie fanden die Tür, die zu seiner Kraft führte, verloren sie dann aber wieder, da die Dinge, die Farand zu verbergen trachtete, aus anderen Türen herausdrängen wollten.

Wir beide wissen, dass ich diese Dinge ohnehin erfahren werde. Zeigt sie mir, dann können wir mit dem Kontrollunterricht fortfahren, schlug Dannyl vor.

Farand schien erleichtert zu sein, endlich jemandem davon erzählen zu können. Er zeigte Dannyl Erinnerungen, die ihn quälten: Auf der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend hatte er irgendwann die Fähigkeit entwickelt, die Gedankenrede von Magiern belauschen zu können. Das war zwar ungewöhnlich, kam aber bei Menschen mit magischem Potenzial durchaus vor. Man prüfte Farand auf Magie und erklärte ihm, dass er sich um einen Platz in der Gilde bewerben könne, wenn er älter sei. In der Zwischenzeit erfuhr der elynische König von seiner Fähigkeit, Magier auf diese Weise zu belauschen, und Farand wurde an den Hof gerufen, wo er den König über die Dinge auf dem Laufenden hielt, die er mit angehört hatte.

Eines Tages wurde Farand versehentlich Zeuge einer Unterredung des Königs mit einem der mächtigen Dems seines Landes. In diesem Gespräch trafen die beiden Männer die Vereinbarung, den politischen Rivalen des Dem ermorden zu lassen, und als der König Farands Anwesenheit bemerkte, musste der Junge ihm schwören, Stillschweigen zu bewahren. Als Farand sich später um einen Platz in der Gilde bemühte, wurde er abgelehnt. Erst in den folgenden Jahren erfuhr er den Grund für diese Ablehnung: Der König wusste, dass die geheime Vereinbarung während des Unterrichts im Gedankenlesen offenbar werden würde, und hatte deshalb verhindert, dass der Junge Magier wurde.

Es war eine unglückliche Situation, und sie hatte Farands Träume zunichte gemacht. Dannyl verspürte echtes Mitgefühl mit ihm. Jetzt, da das Geheimnis offenbar geworden war, ließ Farand sich nicht länger ablenken. Ohne große Mühe fand er die Quelle seiner Kraft. Dannyl versuchte einige Male, ihm zu zeigen, wie er seine Magie beeinflussen konnte, dann verließ er den Gedankenraum des anderen Mannes und schlug die Augen auf.

»Das war es?«, fragte Farand. »Kann ich meine Magie jetzt beherrschen?«

»Nein.« Dannyl kicherte und ging um den Stuhl herum, so dass er Farand gegenüberstand. »Das bedarf einiger weiterer Übungsstunden.«

»Wann werden wir es das nächste Mal versuchen?« In Farands Stimme schwang ein panischer Unterton mit.

Dannyl wandte sich zu Dem Marane um. »Ich werde morgen wiederkommen, wenn Euch das recht ist.«

»Das ist es«, erwiderte der Dem.

Dannyl nickte Farand zu. »Trinkt keinen Wein und nehmt keine anderen Dinge zu Euch, die auf den Geist einwirken. Im Allgemeinen erlernen Novizen binnen ein oder zwei Wochen, wie sie ihre Magie kontrollieren können. Wenn Ihr Ruhe bewahrt und Euch bemüht, keine Magie zu benutzen, dürfte Euch keine weitere Gefahr drohen.«

Farand wirkte erleichtert, und in Royends Augen flackerte Erregung auf. Der Dem ging zur Tür hinüber und zog an einer Kette, die von einem kleinen Loch in der Decke herabhing.

»Wollen wir jetzt zu den anderen zurückkehren, Botschafter? Sie werden froh sein, von unseren Fortschritten zu hören.«

»Wenn Ihr wünscht.«

Der Dem führte Dannyl nicht in den Raum zurück, in dem sie zuvor gesessen hatten, sondern in einen anderen Teil des Hauses. Sie kamen in eine kleine Bibliothek, in der Tayend und die anderen Mitglieder der Gruppe in bequemen Sesseln saßen. Royend nickte Kaslie zu, und die Frau schloss die Augen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Tayend war in die Lektüre eines großen und sehr abgenutzten Buches vertieft. Als er zu Dannyl aufblickte, leuchteten seine Augen vor Begeisterung.

»Sieh nur«, sagte er und deutete auf eins der Regale. »Bücher über Magie. Hier werden wir vielleicht etwas finden, das uns bei unseren Nachforschungen weiterhilft.«

Dannyl konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Es ist gut gelaufen. Danke der Nachfrage.«

»Was?« Tayend blickte von dem Buch auf. »Oh, das. Ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst. Was hat er dir gezeigt?« Bevor Dannyl antworten konnte, wandte sich Tayend zu dem Dem um. »Darf ich mir dieses Buch für eine Weile ausborgen?«

Royend lächelte. »Ihr könnt es heute Abend mit nach Hause nehmen, wenn Ihr wollt. Der Botschafter wird uns morgen noch einmal besuchen. Und Ihr seid uns selbstverständlich ebenfalls willkommen.«

»Vielen Dank.« Tayend wandte sich zu der Gattin des Dem um, die neben ihm saß. »Habt Ihr jemals vom König von Chakan gehört?«

Dannyl achtete kaum auf ihre gemurmelte Antwort. Er betrachtete die aufgeregten Gesichter des Dem und seiner Freunde. Noch würden sie ihm nicht vertrauen. Nicht bevor Farand sichtbare Fortschritte in der Beherrschung seiner Magie gemacht hatte. Sobald dies geschah, würde Farand jedoch gefährlich sein. Er würde imstande sein, magische Fähigkeiten bei anderen freizusetzen und sie die Kontrolle darüber zu lehren. Dann würde die Gruppe Dannyl nicht länger benötigen. Möglicherweise würden sie zu dem Schluss kommen, dass es sicherer sei, zu verschwinden, statt weiterhin Umgang mit einem Magier der Gilde zu pflegen.

Er konnte die Lektionen über einige Wochen ausdehnen, aber nicht länger. Sobald Farand seine Kräfte beherrschte, sollte Dannyl ihn und die anderen in Haft nehmen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt würde er vielleicht noch nicht alle Mitglieder der Gruppe kennen. Je länger er in ihrer Gesellschaft blieb, umso mehr Gefangene würde er machen können. Er hätte sich gern mit dem Hohen Lord beraten. Aber Farands Fähigkeit, Gedankenrede zu belauschen, machte das unmöglich, und Dannyl blieb keine Zeit, um schriftlich Kontakt zu Akkarin aufzunehmen.

Dannyl nahm ein frisches Glas Wein an. Als der Dem ihn darüber auszuhorchen begann, welche Dinge er ihnen beizubringen bereit sei, drängte Dannyl jeden Gedanken daran, diese Leute in Haft zu nehmen, beiseite und konzentrierte sich ganz auf seine Rolle als rebellischer Magier der Gilde.


Sonea stand am Fenster ihres Zimmers und sah zu, wie graue Wolkenfetzen über den Nachthimmel jagten. Die Sterne blinkten auf, nur um alsbald wieder hinter weißen Schwaden zu verschwinden, und der Mond war umringt von bleichem Nebel. Die Gärten waren leer und still.

Sie war todmüde. Obwohl sie in der vergangenen Nacht nicht geschlafen und nach dem Unterricht stundenlang Bücher für Lord Jullen geschleppt hatte, fand sie keine Ruhe. Sie hatte noch immer viele Fragen, aber indem sie sie in Gedanken auflistete, so dass sie sie für ihre nächste Begegnung mit Akkarin parat hatte, ließen sie sich nach und nach in den Hintergrund drängen. Eine Frage jedoch kehrte immer wieder mit Macht in ihre Gedanken zurück.

Warum hat er diese Dinge ausgerechnet mir erzählt?

Er hatte gesagt, dass noch jemand Bescheid wissen müsse. Das war eine vernünftige Antwort, aber irgendetwas nagte dennoch an ihr. Akkarin hätte seine Geschichte niederschreiben und an einem Ort verstecken können, an dem Lorlen sie finden würde, falls er jemals getötet werden sollte. Warum also hatte er mit ihr gesprochen, einer bloßen Novizin, die nicht in der Position war, Entscheidungen zu treffen oder an seiner Stelle zu handeln?

Es musste einen Grund geben, doch der einzige Grund, der ihr einfiel, war einer, der sie frösteln ließ.

Er wollte, dass sie den Kampf übernahm, falls er starb. Er wollte, dass sie schwarze Magie erlernte.

Sie wandte sich vom Fenster ab und begann, im Raum auf und ab zu gehen. Er hatte mehrmals gesagt, dass er sie nicht in schwarzer Magie unterweisen würde. Hatte er das nur gesagt, um sie zu beruhigen? Wollte er abwarten, bis sie älter war, vielleicht bis sie ihren Abschluss gemacht hatte und allen anderen klar wäre, dass sie einen solchen Entschluss aus freien Stücken getroffen haben musste?

Sie biss sich auf die Unterlippe. Es wäre schrecklich, etwas Derartiges von irgendjemandem zu verlangen. Etwas zu lernen, das die meisten Magier für grundböse hielten. Gegen ein Gesetz der Gilde zu verstoßen.

Und ein Verstoß gegen dieses Gesetz war keine Kleinigkeit, die ihr irgendeine niedere Arbeit oder den Verlust irgendwelcher Vergünstigungen eintragen würde. Nein, die Strafe dafür würde wahrscheinlich viel, viel schlimmer ausfallen. Die Verstoßung aus der Gilde vielleicht, nachdem man ihre Kräfte gebunden hatte, oder möglicherweise Einkerkerung.

Aber nur, wenn das Verbrechen entdeckt würde.

Akkarin war es gelungen, sein Geheimnis über Jahre verborgen zu halten. Aber er war der Hohe Lord. Das ließ ihm großen Spielraum für rätselhaftes, seltsames Verhalten. Was bedeutete, dass es für sie nicht schwierig sein würde, sich ihm anzuschließen.

Aber was würde geschehen, wenn er starb? Sonea runzelte die Stirn. Lorlen und Rothen würden Akkarins Verbrechen offenbaren, ebenso wie die Tatsache, dass er sich nur deshalb zu ihrem Mentor hatte bestimmen lassen, um ihr Schweigen sicherzustellen. Wenn sie sich keiner Wahrheitslesung unterwarf, gab es keinen Grund, warum irgendjemand herausfinden sollte, dass sie ebenfalls schwarze Magie erlernt hatte. Sie konnte das unglückliche Opfer spielen, ohne Argwohn zu erregen.

Danach würde man ihr keine weitere Beachtung mehr schenken. Wenn sie nicht länger die Novizin des Hohen Lords war, konnte sie sich in ihrer Anonymität verstecken. Sie würde des Nachts in die verborgenen Gänge schlüpfen. Akkarin hatte sich bereits der Hilfe der Diebe versichert. Die Diebe würden die Spione für sie finden …

Sie blieb stehen und setzte sich ans Fußende ihres Bettes.

Ich kann nicht glauben, dass ich darüber nachdenke. Es gibt einen Grund dafür, dass schwarze Magie geächtet ist. Sie ist böse.

Oder vielleicht nicht? Vor einigen Jahren hatte Rothen ihr erklärt, dass Magie weder gut noch böse sei; was zählte, war das, was der Magier damit tat.

Um schwarze Magie zu wirken, musste man Kraft von einem anderen Menschen beziehen. Man brauchte ihn deswegen nicht zu töten. Selbst die Ichani töteten ihre Sklaven nur, wenn ihnen keine andere Wahl blieb. Als Sonea Akkarin das erste Mal schwarze Magie benutzen sah, hatte er Kraft von Takan bezogen. Kraft, die sein Diener ihm offensichtlich bereitwillig gab.

Sie dachte an die Aufzeichnungen zurück, die Akkarin ihr gezeigt hatte. Früher einmal hatte die Gilde ganz selbstverständlich schwarze Magie benutzt. Lehrlinge gaben ihrem Herrn bereitwillig etwas von ihrer Stärke. Sobald sie nach Auffassung ihrer Meister so weit waren, wurden die Lehrlinge in die Geheimnisse der »höheren Magie« eingewiesen und selbst zu Meistern gemacht. Es war ein Arrangement, das Zusammenarbeit und Frieden sicherte. Niemand wurde getötet, niemand wurde versklavt.

Erst ein einzelner Mann mit einer wahnsinnigen Gier nach Macht hatte all das geändert. Und die Ichani benutzten schwarze Magie, um eine Kultur der Sklaverei aufrechtzuerhalten. Wenn Sonea diese Dinge bedachte, verstand sie, warum die Gilde schwarze Magie geächtet hatte. Sie konnte zu leicht missbraucht werden.

Aber Akkarin hatte sie nicht missbraucht. Oder vielleicht doch?

Akkarin hat sie benutzt, um zu töten. Ist das nicht der schlimmste denkbare Missbrauch von Macht?

Akkarin hatte diese Magie benutzt, um sich zu befreien, und er hatte die Spione nur getötet, um Gefahr von Kyralia abzuwenden. Das war kein Missbrauch von Macht. Es war vernünftig zu töten, um sich selbst zu schützen, sich selbst und andere… oder?

Als Kind, das in den Hüttenvierteln überlebt hatte, hatte sie den Entschluss getroffen, dass sie nicht zögern würde zu töten, um sich selbst zu verteidigen. Wenn sie es vermeiden konnte, einem anderen Schaden zuzufügen, würde sie es tun, aber sie würde auch nicht zulassen, dass sie selbst zum Opfer wurde. Diese Entschlossenheit hatte sich einige Jahre später ausgezahlt, als sie einen Angreifer mit ihrem Messer abgewehrt hatte. Sie wusste nicht, ob er überlebt hatte, und sie hatte nicht viel Zeit darauf verwandt, über diese Frage nachzudenken.

Die Krieger lernten, mit Magie zu kämpfen. Die Gilde gab dieses Wissen weiter, für den Fall, dass die Verbündeten Länder jemals angegriffen werden sollten. Sonea hatte Lord Balkan nie Skrupel äußern hören, ob Magie benutzt werden solle, um in Notwehr zu töten.

Sie legte sich auf das Bett. Vielleicht irrte sich Akkarin, was die Gilde betraf. Wenn ihnen keine andere Wahl blieb, würden sie die Benutzung von schwarzer Magie zu Zwecken der Verteidigung vielleicht akzeptieren.

Würden die Magier eine solche Einschränkung respektieren? Sie schauderte bei der Vorstellung, was Lord Fergun mit diesem Wissen vielleicht getan hätte. Aber Fergun war bestraft worden. Im Großen und Ganzen konnte die Gilde ihre Magier wahrscheinlich unter Kontrolle halten.

Dann fiel ihr mit einem Mal die Säuberung wieder ein. Wenn der König nicht davor zurückschreckte, die Gilde zu benutzen, um die Armen aus der Stadt zu treiben, damit die Häuser zufrieden gestellt waren, was würde er dann erst tun, wenn ihm schwarze Magier zur Verfügung standen?

Die Gilde würde, was den Einsatz schwarzer Magie betraf, stets vorsichtig sein. Wenn man Gesetze dafür verfügte, wenn nur jene in dieser Kunst unterrichtet wurden, die als würdig erachtet worden waren – etwas, das man mit einer Wahrheitslesung ermitteln konnte, bei der der Charakter und die moralische Integrität eines Kandidaten geprüft wurden…

Wer bin ich zu denken, ich hätte die Weisheit, die Gilde neu zu gestalten? Bei dieser Art von Auswahl würde man mich wohl nicht einmal als Kandidatin in Betracht ziehen.

Sie war das Hüttenmädchen. Daraus folgte, dass sie eine fragwürdige Moral besaß. Niemand würde sie jemals in Erwägung ziehen.

Ich ziehe mich in Erwägung.

Sie erhob sich und trat wieder ans Fenster.

Die Menschen, die mir etwas bedeuten, sind in Gefahr. Ich muss etwas tun. Die Gilde wird mich schon nicht hinrichten, wenn ich ein Gesetz breche, weil ich sie schützen will. Sie wird mich vielleicht ausstoßen, aber wenn ich im Gegenzug für das Leben jener, die ich liebe, diesen Luxus namens Magie verlieren sollte, dann muss es eben so sein.

Die Richtigkeit dieses Gedankengangs, verbunden mit der Gewissheit, dass dies der einzige Weg war, ließ sie frösteln.

So, es ist entschieden. Ich werde schwarze Magie erlernen.

Sie drehte sich um und betrachtete die Tür ihres Zimmers. Akkarin lag wahrscheinlich bereits im Bett. Sie konnte ihn nicht wecken, nur um ihm das zu sagen. Es konnte bis morgen warten.

Seufzend schlüpfte sie unter die Decken ihres Bettes. Sie schloss die Augen und hoffte, dass sie jetzt, da sie ihre Entscheidung getroffen hatte, endlich Schlaf finden würde.

Oder bin ich einer Täuschung erlegen? Sobald ich schwarze Magie gelernt habe, kann ich es nicht mehr ungeschehen machen.

Sie dachte über die Bücher nach, die Akkarin ihr zu lesen gegeben hatte. Sie wirkten echt, aber ebenso gut hätten es raffinierte Fälschungen sein können. Sie wusste nicht genug über Fälschungen, um sie als solche erkennen zu können.

Der Spion, den Akkarin ihr gezeigt hatte, könnte so manipuliert worden sein, dass er bestimmte Dinge für die Wahrheit hielt, um Sonea zu täuschen, aber sie war davon überzeugt, dass Akkarin unmöglich alles erfunden haben konnte. In Tavakas Geist waren Erinnerungen eines ganzen Lebens gewesen, Erinnerungen an die Ichani und die Sklaverei. Diese Dinge konnte der Hohe Lord nicht beeinflusst haben.

Und Akkarins Geschichte?

Wenn er sie mit einer List dazu bringen wollte, schwarze Magie zu erlernen, damit er sie erpressen und beherrschen konnte, dann hätte er sie nur davon zu überzeugen brauchen, dass der Gilde große Gefahr drohe. Warum hätte er zugeben sollen, dass er ein Sklave gewesen war?

Sie gähnte. Sie brauchte dringend etwas Schlaf – und sie brauchte einen klaren Kopf.

Morgen würde sie eins der strengsten Gesetze der Gilde brechen.

9 Akkarins Gehilfe

Der Raum war zu klein, um darin auf und ab zu gehen. Eine einzelne Lampe hing von der Decke herab und warf gelbes Licht auf die grob behauenen, geziegelten Wände. Cery verschränkte die Arme vor der Brust und verfluchte sich im Stillen. Akkarin hatte ihm erklärt, dass sie sich auf keinen Fall treffen dürften, es sei denn, sie mussten über etwas von großer Wichtigkeit sprechen, das sich nur von Angesicht zu Angesicht regeln ließ.

Soneas Wohlergehen ist von großer Wichtigkeit, überlegte Cery. Und diese Angelegenheit kann tatsächlich nur von Angesicht zu Angesicht geklärt werden.

Aber es war unwahrscheinlich, dass der Hohe Lord zustimmen würde. Ein Stich der Angst durchzuckte Cery. Als Gegenleistung für seine Rettung vor Lord Fergun und für Akkarins Unterstützung dabei, einen hohen Platz unter den Dieben zu erobern, hatte er verschiedene Dinge für den Hohen Lord erledigt und nichts davon bisher bereut. Es war wahrhaftig nicht schwierig, die Mörder aufzuspüren. Sobald man wusste, wonach man Ausschau halten musste, waren sie so leicht zu entdecken wie ein Wachposten in einem Schmugglerversteck. Die Beseitigung der Leichen war eine alltägliche Arbeit, auch wenn sie sie auf keinen Fall länger in den Fluss werfen konnten, jetzt, da die Stadtwache ein Auge darauf hatte.

Aber Sonea in die ganze Angelegenheit hineinzuziehen? Nein, das war einfach zu viel. Nicht dass Cery eine Entscheidung für sie hätte treffen wollen. Aber er wollte Akkarin zumindest mitteilen, dass er diese Idee missbilligte.

Der Hohe Lord brauchte ihn. Dessen war er gewiss. Vielleicht würde er heute erfahren, wie sehr er gebraucht wurde.

Cery zupfte nervös an seinem Ärmel. Falls der Hohe Lord überhaupt kommt. Es gab nur wenige Männer in der Stadt, die es wagen würden, sich zu einem Treffen mit einem Dieb zu verspäten. Genau genommen würde niemand es wagen außer … dem König, den meisten Mitgliedern der Häuser und der gesamten Gilde …

Seufzend dachte Cery noch einmal über die einzige weitere Information nach, die er für den Führer der Gilde hatte: dass ein weiterer Sachakaner in der Stadt gesehen worden war. Vielleicht würde diese kleine Information Akkarin besänftigen, wenn er Cerys wahren Grund für seine Bitte um ein Treffen erfuhr. Nicht zum ersten Mal fragte sich Cery, wie Akkarin reagieren würde, hätte er von der Quelle dieser Information gewusst. Leise kichernd dachte er an Savara. Dieses Lächeln. Die Art, wie sie ging. Ihre Nähe war gewiss nicht ungefährlich.

Aber andererseits galt heutzutage das Gleiche für ihn.

Ein Klopfen holte ihn in die Gegenwart zurück. Er spähte durch ein Guckloch in der Tür. Neben dem massigen Gol stand ein hochgewachsener Mann, dessen Gesicht in der Kapuze seines Umhangs verborgen war. Gol machte das verabredete Zeichen, um zu bestätigen, dass es sich bei dem Besucher um den Hohen Lord handelte.

Cery atmete tief durch, dann öffnete er die Tür. Akkarin kam herein. Sein Umhang teilte sich, und schwarze Roben wurden darunter sichtbar. Ein Schaudern überlief Cery. Wenn Akkarin die Straße der Diebe benutzte, trug er für gewöhnlich einfache Kleidung. War dies eine bewusste Geste, um Cery daran zu erinnern, mit wem er es zu tun hatte?

»Ceryni«, sagte Akkarin und streifte sich mit einer anmutigen Bewegung die Kapuze vom Kopf.

»Hoher Lord.«

»Ich habe nicht viel Zeit. Was gibt es so Dringendes, das du mit mir besprechen musst?«

Cery zögerte. »Ich glaube, wir haben einen weiteren… Mörder in der Stadt.« Er war im Begriff gewesen, das Wort »Sklave« zu benutzen, bekam sich aber gerade rechtzeitig wieder in die Gewalt. Mit diesem Ausdruck hätte er zweifellos offenbart, dass er Kontakt zu jemandem aus Sachaka hatte.

Akkarin runzelte die Stirn, und seine Augen verschwanden beinahe im Schatten seiner Brauen. »Du glaubst es?«

»Ja.« Cery lächelte. »Es ist bisher noch niemand getötet worden, aber der letzte Mörder ist so kurz nach dem vorherigen aufgetaucht, dass ich einen Spion bezahlt habe, den ich normalerweise nicht in Anspruch nehme. Es heißt, diese Sachakanerin sei sehr auffällig. Es sollte nicht weiter schwierig sein, sie zu fangen.«

»Sie?«, wiederholte Akkarin. »Eine Frau. Also… wenn den Dieben diese Information zu Ohren kommt, werden sie wissen, dass es mehr als nur einen Mörder gibt. Wird das ein Problem für dich sein?«

Cery zuckte die Achseln. »Es wird nichts ändern. Vielleicht würden sie mir sogar ein wenig mehr Respekt entgegenbringen. Aber das Beste wäre es, wir würden sie schnell fangen, so dass die Diebe überhaupt nicht davon erfahren müssen.«

Akkarin nickte. »Ist das alles?«

Cery zögerte. Dann straffte er sich und schob seine Zweifel beiseite.

»Beim letzten Mal habt Ihr Sonea mitgenommen.«

Akkarin richtete sich ein wenig höher auf. Das Lampenlicht drang jetzt bis zu seinen Augen vor. Er wirkte erheitert.

»Ja.«

»Warum?«

»Ich hatte meine Gründe.«

»Ich hoffe, es waren gute Gründe«, sagte Cery und zwang sich, Akkarin fest in die Augen zu sehen.

Der Hohe Lord zuckte nicht mit der Wimper. »Ja. Sie war nicht in Gefahr.«

»Werdet Ihr sie in diese Angelegenheit hineinziehen?«

»Ein wenig. Aber nicht auf die Art und Weise, die du befürchtest. Ich brauche jemanden in der Gilde, der über mein Tun Bescheid weiß.«

Cery zwang sich, die nächste Frage auszusprechen. Allein der Gedanke daran weckte widersprüchliche Gefühle in ihm. »Werdet Ihr sie noch einmal mitnehmen?«

»Nein, das habe ich nicht vor.«

Er stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. »Weiß sie… weiß sie über mich Bescheid?«

»Nein.«

Cery verspürte eine wehmütige Enttäuschung. Es wäre ihm durchaus recht gewesen, ein wenig mit seinem Erfolg zu prahlen. Er hatte es in den vergangenen Jahren weit gebracht. Obwohl er wusste, dass sie keine allzu hohe Meinung von den Dieben hatte …

»Ist das alles?«, fragte Akkarin. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Respekt mit.

Cery nickte. »Ja. Vielen Dank.«

Er sah zu, wie der Hohe Lord sich zur Tür umdrehte und sie öffnete. Pass auf sie auf, dachte er. Akkarin wandte sich noch einmal um, nickte kurz und eilte dann, umweht von seinem Umhang, den Flur hinunter.

Nun, das ist besser gelaufen, als ich erwartet hatte, dachte Cery.


Dannyls Räume im Haus der Gilde in Capia waren groß und luxuriös. Er hatte ein Schlafzimmer, ein Büro und ein Gästezimmer für sich, und er brauchte nur eine der vielen kleinen Glocken zu läuten, die überall angebracht waren, um einen Diener herbeizurufen.

Einer von ihnen hatte ihm gerade einen dampfenden Becher Sumi gebracht, als ein anderer in das Büro kam, um ihm mitzuteilen, dass er einen Besucher habe.

»Tayend von Tremmelin wünscht Euch zu sprechen«, eröffnete ihm der Diener.

Dannyl stellte seine Tasse überrascht beiseite. Tayend besuchte ihn nur selten in seinem Quartier. Im Allgemeinen zogen sie die Ungestörtheit der Großen Bibliothek vor, wo sie sich keine Sorgen machen mussten, dass Dienstboten etwas Auffälliges an ihrem Miteinander fanden.

»Schick ihn herein.«

Tayend war geziemend für das Treffen mit einer wichtigen Persönlichkeit gekleidet. Obwohl Dannyl sich zunehmend an die elegante Pracht der elynischen Höflinge gewöhnte, fand er es immer noch erheiternd. Allerdings waren die eng anliegenden Gewänder, die bei älteren Höflingen so lächerlich wirkten, bei Tayend durchaus schmeichelhaft.

»Botschafter Dannyl«, sagte Tayend mit einer anmutigen Verbeugung. »Ich habe Dem Maranes Buch gelesen, und es enthält einige sehr interessante Informationen.«

Dannyl deutete auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte, setz dich. Nur… gib mir einen Moment Zeit.« Tayend hatte ihn an etwas erinnert. Er nahm einen frischen Bogen Papier zur Hand und machte sich daran, einen kurzen Brief zu verfassen.

»Was schreibst du da?«, erkundigte sich Tayend.

»Einen Brief an Dem Marane, in dem ich mein tiefstes Bedauern darüber zum Ausdruck bringe, dass ich heute Abend nicht an seiner Gesellschaft werde teilnehmen können, weil ich eine unerwartete Arbeit dringend erledigen müsse.«

»Was ist mit Farand?«

»Er wird es überleben. Ich habe tatsächlich zu arbeiten, aber außerdem möchte ich sie ein wenig warten lassen. Sobald ich Farand die Kontrolle über seine Magie gelehrt habe, werden sie mich nicht länger benötigen, und wir könnten durchaus entdecken, dass unsere neuen Freunde zu einer unerwarteten Reise in fremde Länder aufgebrochen sind.«

»Dann wären sie Narren. Glauben die etwa, all die Jahre der Ausbildung, die du durchlaufen hast, seien umsonst gewesen?«

»Sie können den Wert dessen, was sie nicht verstehen, wohl kaum zu schätzen wissen.«

»Dann wirst du sie also in Haft nehmen, sobald Farand so weit ist?«

»Keine Ahnung. Ich habe mich noch nicht entschieden. Es könnte sich lohnen, das Risiko einzugehen, dass sie einfach verschwinden. Ich bin mir nicht sicher, ob wir bereits alle Leute kennen, die in die Angelegenheit verwickelt sind. Wenn ich warte, werden sie mich vielleicht noch weiteren Mitgliedern der Gruppe vorstellen.«

»Bist du dir sicher, dass ich dich nicht nach Kyralia begleiten soll, wenn du sie verhaftet hast? Die Gilde wird vielleicht weitere Zeugen hören wollen.«

»Farand wird als Beweis für ihr Tun vollkommen genügen.« Dannyl blickte auf und drohte dem Gelehrten spielerisch mit dem Finger. »Du willst ja nur mitkommen, um dir die Gilde mit eigenen Augen anzusehen. Aber wenn unsere neuen Freunde sich rächen, indem sie Gerüchte über uns ausstreuen, wird es die Dinge nicht besser machen, wenn man uns zusammen sieht.«

»Aber wir wären nicht die ganze Zeit zusammen. Ich brauche nicht in der Gilde zu wohnen, denn ich habe entfernte Verwandte in Imardin. Außerdem hast du gesagt, Akkarin würde allen erzählen, das Ganze sei lediglich eine List gewesen.«

Dannyl seufzte. Er wollte Tayend nicht verlassen. Nicht einmal für einige wenige Wochen. Wenn er sicher gewesen wäre, dass er ohne Gefahr mit dem Gelehrten im Schlepptau in die Gilde zurückkehren könnte, hätte er die entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Möglicherweise würde es sogar die Gerüchte ein und für alle Mal im Keim ersticken, wenn man sah, dass sie »normal« miteinander umgingen. Aber er wusste, dass schon eine kleine Andeutung der Wahrheit in argwöhnischen Geistern Verdacht erregen würde – und solche Geister gab es in der Gilde mehr als genug.

»Ich werde übers Meer nach Kyralia fahren«, rief er Tayend ins Gedächtnis. »Ich hätte gedacht, dass du eine Seereise gern vermeiden würdest.«

Tayends Miene bewölkte sich, aber nur für einen Moment. »Ein wenig Seekrankheit würde ich schon in Kauf nehmen, wenn sie mit angenehmer Gesellschaft verbunden wäre.«

»Nicht diesmal«, erwiderte Dannyl entschlossen. Dann unterschrieb er den Brief und legte ihn beiseite. »Also, was hast du entdeckt?«

»Erinnerst du dich an die Inschrift, die wir auf dem Grab der Frau bei den Gräbern der Weißen Tränen gefunden haben? Dort stand, dass die Frau ›hohe Magie‹ bewirkt habe.«

Dannyl nickte. Die Reise nach Vin, die sie auf der Suche nach Beweisen für alte Magie angetreten hatten, schien so lange zurückzuliegen.

»Die Worte ›hohe Magie‹ wurden mit einem Schriftzeichen geschrieben, das eine Mondsichel und eine Hand enthielt.« Tayend schlug das Buch des Dem auf und schob es über den Tisch zu Dannyl hinüber. »Dies ist die Kopie eines Buches, das vor zweihundert Jahren verfasst wurde, als die Allianz gebildet und das Gesetz geschaffen wurde, nach dem alle Magier von der Gilde unterrichtet und kontrolliert werden sollten. Die meisten Magier außerhalb Kyralias waren Mitglieder der Gilde, aber nicht alle. Dieses Buch gehörte einem Magier, der der Gilde nicht angehörte.«

Dannyl zog das Buch zu sich heran und stellte fest, dass am oberen Rand der Seite die gleiche Glyphe stand, über die sie nun seit einem Jahr rätselten. Er las den Text darunter:

Der Ausdruck »höhere Magie« umfasst verschiedene Künste, die früher einmal in allen Ländern allgemein gebräuchlich waren. Zu den geringeren Künsten zählt die Fähigkeit, »Blutsteine« oder »Blutjuwelen« zu schaffen, die es ihrem Schöpfer erleichtern, aus der Ferne mithilfe der Gedankenrede Kontakt zu einer anderen Person aufzunehmen. Außerdem gibt es »Speichersteine« oder »Speicherjuwelen«, die Magie auf bestimmte Weise binden und freisetzen können.

Die wichtigste Form der höheren Magie ist auf Gewinn gerichtet. Wenn ein Magier über das entsprechende Wissen verfügt, kann er Kraft von lebenden Geschöpfen beziehen, um seinen Vorrat an Stärke zu vergrößern.

Dannyl hielt den Atem an und blickte entsetzt auf die Seite hinab. Hier wurde etwas beschrieben, das Ähnlichkeit hatte mit… Ein kalter Schauer lief über Dannyls Rücken. Als leite ihn ein fremder Wille, wanderten seine Augen weiter durch den Text.

Um dies zu erreichen, muss die Barriere, die das Geschöpf oder die Pflanze schützt, durchbrochen oder geschwächt werden. Dazu braucht man lediglich die Haut tief genug einzuschneiden, um Blut oder anderen Körpersaft zutage treten zu lassen. Andere Möglichkeiten beinhalten das freiwillige oder unfreiwillige Herabsenken der Barriere. Mit ein wenig Übung lässt sich die natürliche Barriere willentlich überwinden. Auf dem Höhepunkt sexueller Freuden neigt die Barriere dazu, zu »schwanken«, so dass sich eine flüchtige Gelegenheit bietet, einer anderen Person Kraft abzuziehen.

Dannyl war es inzwischen bis auf die Knochen kalt geworden. Zur Vorbereitung auf seine Position hatte man ihm Informationen gegeben, die gewöhnlichen Magiern nicht zugänglich waren. Einige dieser Dinge waren politischer Natur, andere drehten sich um Magie. Zu den magischen Warnzeichen, die zu erkennen man ihn gelehrt hatte, zählten auch jene, die auf schwarze Magie hindeuteten.

Und jetzt hielt er ein Buch in Händen, das Anweisungen für deren Benutzung gab. Allein indem er dieses Buch las, brach er ein Gesetz.

»Dannyl? Ist alles in Ordnung mit dir?«

Er sah zu Tayend auf, konnte aber nicht sprechen. Tayend erwiderte seinen Blick mit besorgter Miene.

»Du bist ja schneeweiß. Ich dachte… nun ja… wenn dieses Buch Recht hat, haben wir entdeckt, was höhere Magie ist.«

Dannyl öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und wandte sich erneut dem Buch zu. Er starrte auf die Glyphe, die durch den Halbmond und die Hand gebildet wurde. Allerdings war es keine Mondsichel, das begriff er jetzt. Es war eine Klinge. Höhere Magie war schwarze Magie.

Akkarin hatte Nachforschungen über schwarze Magie angestellt.

Nein. Er kann das hier nicht gewusst haben. So weit ist er nicht gekommen, rief Dannyl sich ins Gedächtnis. Wahrscheinlich hat er immer noch keine Ahnung davon. Anderenfalls hätte er mich nicht dazu ermutigt, meine Nachforschungen fortzusetzen. Er holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus.

»Tayend, ich denke, es ist an der Zeit, Errend von den Rebellen zu erzählen. Möglicherweise werde ich diese Reise früher antreten, als ich gedacht hatte.«


Als sich Sonea der Residenz des Hohen Lords näherte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Den ganzen Tag lang hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Es war ihr schwer gefallen, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, und noch mühsamer war es gewesen, Jullens Versuche zu ertragen, ihre Strafe in der Bibliothek so unerfreulich wie nur möglich zu gestalten.

Das graue Steingebäude ragte in der Dunkelheit über ihr auf. Sie blieb stehen, um tief durchzuatmen und ihren Mut zusammenzunehmen, dann trat sie vor die Tür und strich mit den Fingern über den Griff. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken und schwang nach innen auf.

Wie immer saß Akkarin in einem der Sessel im Salon. In seinen langen Fingern hielt er ein Glas, das mit dunklem, rotem Wein gefüllt war.

»Guten Abend, Sonea. Wie war dein Unterricht heute?«

Ihr Mund war trocken. Sie schluckte, holte noch einmal tief Luft, dann trat sie ein und hörte, wie die Tür hinter ihr zufiel.

»Ich möchte helfen«, erklärte sie.

Akkarin runzelte die Stirn und sah sie durchdringend an. Sie gab sich alle Mühe, seinem Blick standzuhalten, aber es gelang ihr nur für einen kurzen Moment. Stille breitete sich aus, dann erhob er sich und stellte das Glas beiseite.

»Also schön. Komm mit.«

Er ging auf die Tür der Treppe zu, die in den unterirdischen Raum führte. Dann bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Ihre Beine zitterten, aber sie zwang sie, sich zu bewegen.

Als sie Akkarin erreicht hatte, klopfte es an der Haupttür, was sie beide erstarren ließ.

»Geh weiter«, murmelte er ihr zu. »Das ist Lorlen. Ich werde Takan bitten, sich um diese Angelegenheit zu kümmern.«

Eine Sekunde lang fragte sie sich, woher er wusste, dass es Lorlen war. Dann begriff sie plötzlich. Der Ring, den Lorlen trug, enthielt tatsächlich einen Stein wie den, den sie in dem Zahn des Spions entdeckt hatten.

Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie Schritte aus dem Empfangsraum über ihr. Akkarin zog die Tür des Treppenhauses sachte hinter sich zu und folgte ihr nach unten.

Der unterirdische Raum lag im Dunkeln, wurde jedoch im nächsten Moment von zwei Lichtkugeln erhellt. Sonea betrachtete die beiden Tische, die alte Truhe, die Bücherregale und die Schränke. Im Grunde gab es hier unten nichts, was irgendwie bedrohlich wirkte.

Akkarin schien darauf zu warten, dass sie voranging. Sie machte einige Schritte in den Raum hinein, dann drehte sie sich um. Akkarin blickte zur Decke auf und schnitt eine Grimasse.

»Er ist weg. Ich muss ihm etwas mitteilen, aber das kann warten.«

»Wollt Ihr… sollen wir dies hier auf später verschieben?«, fragte sie zaghaft und hoffte halb, dass er zustimmen würde.

Der Blick, den er ihr zuwarf, war so direkt, so raubtierhaft, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Nein«, sagte er. »Das hier ist wichtiger.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, und seine Mundwinkel hoben sich zu der Andeutung eines Lächelns. »Also dann. Wie beabsichtigst du, mir zu helfen?«

»Ich… Ihr…« Sie litt plötzlich unter Atemnot. »Indem ich schwarze Magie lerne«, brachte sie schließlich heraus.

Sein Lächeln erlosch. »Nein.« Er ließ die Arme sinken. »Die kann ich dich nicht lehren, Sonea.«

Sie starrte ihn erstaunt an. »Dann… warum habt Ihr mir dann die Wahrheit gezeigt? Warum habt Ihr mir von den Ichani erzählt, wenn Ihr nicht wolltet, dass ich mich Euch anschließe?«

»Ich hatte nie die Absicht, dich schwarze Magie zu lehren«, erklärte er entschieden. »Ich will nicht, dass du deine Zukunft in der Gilde gefährdest.«

»Dann… wie kann ich Euch dann helfen?«

»Ich hatte die Absicht…« Er zögerte, dann seufzte er und wandte den Blick ab. »Ich hatte die Absicht, dich zu einer willigen Kraftquelle zu machen, geradeso wie Takan eine ist.«

Ein Frösteln überlief sie, doch es war nur eine flüchtige Regung. Natürlich, dachte sie. Das ist es, wohin all diese Dinge führen müssen.

»Die Ichani werden uns vielleicht niemals überfallen«, sagte er. »Wenn du schwarze Magie erlernst, hättest du damit deine Zukunft ganz umsonst aufs Spiel gesetzt.«

»Das ist ein Risiko, das ich einzugehen bereit bin«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang seltsam verloren in dem großen Raum.

Akkarin bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. »So leicht würdest du also dein Gelübde brechen?«

Sie hielt seinem Blick stand. »Wenn es die einzige Möglichkeit wäre, wie ich Kyralia schützen könnte, dann ja.«

Seine Miene verlor ihre Wildheit. Sonea hätte dem, was sie jetzt in seinen Zügen las, keinen Namen geben können.

»Unterrichtet sie, Meister.«

Beim Klang dieser neuen Stimme drehten sie sich beide um. Takan stand in der Tür des Raums und sah Akkarin durchdringend an.

»Unterrichtet sie«, wiederholte er. »Ihr braucht einen Verbündeten.«

»Nein«, antwortete Akkarin. »Welchen Nutzen hätte Sonea für mich, wenn ich das täte? Wenn ich ihre Kraft nehme, wird sie als schwarze Magierin nichts ausrichten können. Wenn sie eine schwarze Magierin wäre, von wem sollte sie dann Kraft beziehen? Von dir? Nein. Die Last, die du trägst, ist jetzt schon zu groß.«

Takan zuckte nicht mit der Wimper. »Es muss noch jemand außer Euch um dieses Geheimnis wissen, Meister. Sonea braucht es nicht anzuwenden; es würde genügen, wenn sie da wäre, um im Falle Eures Todes Euren Platz einzunehmen.«

Akkarin erwiderte den Blick des Dieners. Lange Zeit sahen die beiden Männer einander schweigend an.

»Nein«, sagte Akkarin schließlich. »Aber… falls sie Kyralia überfallen sollten, werde ich noch einmal darüber nachdenken.«

»Bis dahin könnte es zu spät sein«, erwiderte Takan leise. »Sie werden erst angreifen, wenn sie Euch unschädlich gemacht haben.«

»Er hat Recht«, warf Sonea mit zitternder Stimme ein. »Unterrichtet mich und benutzt mich als Kraftquelle. Ich werde keine schwarze Magie anwenden, es sei denn, mir bliebe nichts anderes übrig.«

Er starrte sie kalt an. »Weißt du, welche Strafe auf das Studium und die Anwendung von schwarzer Magie steht?«

Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

»Die Hinrichtung. Kein anderes Verbrechen zieht eine solche Strafe nach sich. Allein das Studium der schwarzen Magie würde zu deinem Ausschluss aus der Gilde führen.«

Ein Frösteln überlief sie. Akkarins Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln.

»Aber du kannst mir von Nutzen sein, ohne ein Verbrechen zu begehen. Es gibt kein Gesetz, das verbietet, einem anderen Magier seine Kraft zur Verfügung zu stellen. Genau genommen hast du das bereits gelernt – in deinen Lektionen in den Kriegskünsten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich die Kraft, die du mir gibst, für einen späteren Zeitpunkt speichern kann.«

Sie blinzelte überrascht. Kein Messer? Kein Aufschneiden der Haut? Aber natürlich – das war gar nicht nötig.

»Nach dem Kampf mit Regin und seinen Gefährten brauchtest du lediglich den Schlaf einer Nacht, um den größten Teil deiner Stärke zurückzugewinnen«, fuhr er fort. »Wir sollten jedoch dafür Sorge tragen, dass du mir nicht allzu viel von deiner Kraft gibst, wenn du am nächsten Tag Unterricht in den Kriegskünsten hast. Und wenn du tatsächlich eines Tages in der Lage sein willst, an meiner Stelle gegen die Spione zu kämpfen, dann sollte ich mich besser persönlich um deine Ausbildung kümmern.«

Ein jähes Schwindelgefühl bemächtigte sich Soneas. Unterricht in den Kriegskünsten? Bei Akkarin?

»Bist du dir sicher, dass du das willst?«, fragte er.

Sie holte abermals tief Luft. »Ja.«

Akkarin runzelte die Stirn und sah sie einen Moment lang an. »Ich werde heute Abend ein wenig von deiner Stärke nehmen. Morgen werden wir dann sehen, ob du mir immer noch helfen willst.«

Er winkte sie zu sich heran. »Reich mir die Hände.«

Sie trat einen Schritt vor und streckte die Hände aus. Als sich seine langen Finger mit ihren verbanden, schauderte sie.

»Sende deine Macht aus, wie du es während des Unterrichts in den Kriegskünsten tust, wenn du einem anderen deine Kraft leihen willst.«

Sonea griff nach ihrer Macht und ließ sie durch ihre Hände hinausströmen. Akkarins Gesichtsausdruck veränderte sich leicht, als er sich der zusätzlichen Energie bewusst wurde und sie in sich aufnahm. Sonea fragte sich, wie er diese Magie aufbewahren mochte. Obwohl sie gelernt hatte, die Kraft anderer Novizen anzunehmen, hatte sie sie doch stets in Angriffe fließen lassen oder sie ihrem Schild hinzugefügt.

»Bewahre dir ein wenig Energie für den Unterricht«, murmelte er.

Sie zuckte die Achseln. »Ich verbrauche kaum Energie. Nicht einmal in den Kriegskünsten.«

»Das wird sich bald ändern.« Akkarins Griff lockerte sich. »Das genügt.«

Sonea hörte auf, ihre Kraft auszusenden. Als er ihre Hände losließ, trat sie einen Schritt zurück. Er sah Takan an, dann nickte er ihr zu.

»Ich danke dir, Sonea. Und jetzt ruh dich ein wenig aus. Gib Takan morgen früh eine Kopie deines Stundenplans, so dass wir dich für deinen Unterricht in den Kriegskünsten nicht allzu sehr schwächen. Wenn du bei deinem Entschluss bleibst, werden wir morgen Abend weitermachen.«

Sonea nickte. Sie durchquerte den Raum und blieb an der Tür noch einmal kurz stehen, um sich zu verneigen.

»Gute Nacht, Hoher Lord.«

Akkarin blickte sie ungerührt an. »Gute Nacht, Sonea.«

Ihr Herz hatte von Neuem zu hämmern begonnen – aber diesmal nicht aus Angst, sondern aus Erregung.

Ich helfe ihm vielleicht nicht so, wie ich es erwartet hatte, dachte sie, aber ich helfe ihm.

Dann stieß sie ein klägliches Lachen aus. Ich werde vielleicht nicht mehr gar so glücklich darüber sein, wenn er erst anfängt, mich persönlich in den Kriegskünsten zu unterrichten!

10 Ein unerwarteter Gegner

Während Rothen auf die Ankunft seiner letzten Schüler wartete, blickte er aus dem Fenster. Längere, wärmere Tage verwandelten die Gärten in ein grünes Labyrinth. Selbst die graue Residenz des Hohen Lords wirkte freundlich in dem hellen Morgenlicht.

Jetzt sah er, wie deren Tür geöffnet wurde, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als Sonea aus dem Gebäude kam. Es war spät für ihre Verhältnisse, stellte er fest. Tania zufolge stand sie noch immer bei Morgengrauen auf.

Dann wurde eine größere Gestalt sichtbar, und Rothens ganzer Körper verkrampfte sich. Akkarins schwarze Roben wirkten beinahe grau in dem hellen Sonnenlicht. Der Hohe Lord drehte sich zu Sonea um und sagte etwas. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Dann machten die beiden sich auf den Weg zur Universität, und ihre Gesichter wurden wieder ernst. Rothen beobachtete sie, bis sie sich seinem Blick entzogen.

Schließlich wandte er sich schaudernd vom Fenster ab. Das Frösteln, das ihn beschlichen hatte, wollte nicht mehr weichen.

Sie hatte Akkarin angelächelt.

Es war kein höfliches, gezwungenes Lächeln gewesen, sondern ein offenes, vorbehaltloses. Außerdem war dieses Lächeln heimlichtuerisch und beinahe verschlagen gewesen.

Nein, sagte er sich. Ich sehe nur das, wovor ich mich am meisten fürchte, weil es das ist, wonach ich schon immer Ausschau gehalten habe. Sie hatte wahrscheinlich nur gelächelt, um Akkarin zu täuschen oder ihn zu besänftigen. Oder aber er hatte eine Bemerkung gemacht, die sie erheitert hatte, und sie hatte sich auf seine Kosten amüsiert…

Aber wenn es nicht so gewesen war? Was, wenn es einen anderen Grund gab?

»Lord Rothen?«

Als er sich umdrehte, sah er, dass seine Klasse vollzählig war und die Schüler geduldig auf den Anfang des Unterrichts warteten. Er brachte ein klägliches Lächeln zustande, dann kehrte er zu seinem Pult zurück.

Er konnte unmöglich aus dem Klassenzimmer stürzen und eine Erklärung von Sonea verlangen. Nein, fürs Erste musste er sie aus seinen Gedanken verbannen und sich auf den Unterricht konzentrieren. Später jedoch würde er noch einmal gründlich darüber nachdenken, was er gesehen hatte.

Und er würde sie genauer beobachten.


Während die Kutsche wieder abfuhr, ging Dannyl mit langen Schritten auf die Tür von Dem Maranes Haus zu und zog an der Glockenschnur.

Er gähnte, dann beschwor er ein wenig Magie herauf, um seine Erschöpfung zu vertreiben. Eine Woche war vergangen, seit Tayend ihm das Buch gezeigt hatte, und es hatte viele geheime Treffen mit Botschafter Errend und anderen elynischen Magiern gegeben, um diesen Abend vorzubereiten. Jetzt würden sie erfahren, ob ihre Pläne Erfolg zeigten.

Schritte näherten sich der Tür, dann wurde sie geöffnet, und der Herr des Hauses verneigte sich anmutig.

»Botschafter Dannyl. Es ist mir ein Vergnügen, Euch wiederzusehen. Bitte, tretet ein.«

»Vielen Dank.« Dannyl folgte der Einladung.

»Wo ist der junge Tremmelin?«, erkundigte sich der Dem.

»Bei seinem Vater«, antwortete Dannyl. »Sie wollten irgendeine Familienangelegenheit besprechen. Er lässt Euch grüßen; außerdem soll ich Euch sagen, dass das Buch sehr aufschlussreich sei und er heute Abend mit der Lektüre fertig werde. Ich weiß, dass er viel lieber mit Euch und Euren Freunden sprechen würde, statt sich um familiäre Belange kümmern zu müssen.«

Royend nickte und lächelte, aber seine Augen verrieten Argwohn. »Ich bedauere, dass er nicht mitkommen konnte.«

»Wie geht es Farand? Keine unbeabsichtigten Zwischenfälle?«, fragte Dannyl und ließ einen Anflug von Sorge in seiner Stimme mitklingen.

»Nein.« Der Dem zögerte. »Einen beabsichtigten Zwischenfall hat es jedoch gegeben. Da er jung und ungeduldig ist, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, etwas auszuprobieren.«

Dannyl machte ein besorgtes Gesicht. »Was ist passiert?«

»Es hat nur einen weiteren kleinen Brand gegeben.« Der Dem lächelte schief. »Ich musste seinem Gastgeber ein neues Bett kaufen.«

»Waren es dieselben Gastgeber wie beim letzten Mal?«

»Nein. Ich habe Farand abermals an einen anderen Ort gebracht. Es erschien mir um unser aller willen klug, ihn aus der Stadt fortzubringen, falls seine kleinen Unfälle so dramatisch werden sollten, dass sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenken.«

Dannyl nickte. »Das war weise, wenn auch wahrscheinlich überflüssig. Ich hoffe, er ist nicht allzu weit entfernt. Ich kann nur einige Stunden bleiben.«

»Nein, nicht allzu weit«, versicherte ihm der Dem.

Inzwischen hatten sie die Tür des nächsten Raums erreicht. Royends Gattin, Kaslie, erhob sich und kam Dannyl entgegen.

»Seid mir gegrüßt, Botschafter. Es ist schön, Euch wiederzusehen. Glaubt Ihr, dass mein Bruder bald die Kontrolle über seine Kräfte erlangen wird?«

»Ja«, erwiderte Dannyl ernst. »Entweder heute Abend oder beim nächsten Mal. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern.«

Sie nickte, offensichtlich erleichtert. »Ich kann Euch gar nicht genug danken für Eure Hilfe.« Sie wandte sich zu Royend um. »Ihr macht Euch dann jetzt am besten auf den Weg.«

In ihrer Stimme schwang ein Anflug von Groll mit. Die Mundwinkel des Dem verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Farand wird schon bald in Sicherheit sein, meine Liebe.«

Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich noch. Dannyl ließ sich nichts von seinen Gedanken anmerken. Tayend meinte, dass Kaslie nur selten glücklich wirke und sich manchmal über ihren Gatten zu ärgern schien. Er vermutete, dass sie Royend für die Situation ihres Bruders verantwortlich machte, weil er den jungen Mann dazu ermutigt hatte, seine Fähigkeiten zu entwickeln.

Der Dem führte Dannyl aus dem Haus und zu einer wartenden Kutsche. Noch bevor sie auf der Bank Platz genommen hatten, setzte sich das Gefährt, dessen Fenster verhängt waren, in Bewegung.

»Zum Schutz von Farands Gastgebern«, erklärte der Dem. »Ich mag bereit sein, Euch meine Identität zu offenbaren, aber andere Mitglieder unserer Gruppe sind weniger vertrauensvoll. Sie nehmen Farand nur unter der Bedingung auf, dass ich diese Vorsichtsmaßnahmen ergreife.« Er hielt inne. »Haltet Ihr mich für einen Narren, weil ich Euch vertraue?«

Dannyl blinzelte überrascht. Er dachte über die Frage nach, dann zuckte er die Achseln. »Ich hätte erwartet, dass Ihr langsamer zu Werke gehen und meine Aufrichtigkeit vielleicht einigen Prüfungen unterziehen würdet. Aber dazu blieb Euch keine Zeit; Farand brauchte Hilfe. Ihr seid ein Risiko eingegangen, aber ich bin davon überzeugt, dass es ein wohlerwogenes war.« Er kicherte. »Gewiss hattet Ihr Pläne für den Fall, dass Ihr hättet fliehen müssen. Wahrscheinlich habt Ihr solche Pläne noch immer.«

»Und Ihr musstet Tayend beschützen.«

»Ja.« Dannyl lächelte gutmütig. »Eines wüsste ich jedoch gern. Wenn ich Farand die Kontrolle über seine Kräfte gelehrt habe, werde ich dann in Eurem Haus nicht länger willkommen sein?«

Der Dem lachte leise. »Das werdet Ihr wohl abwarten müssen.«

»Und ich nehme an, ich brauche Euch nicht an all die wunderbaren Dinge zu erinnern, die ich Farand lehren könnte, sobald er Kontrolle gelernt hat.«

Royends Augen leuchteten. »Ich würde mich sehr freuen, an eben diese Dinge erinnert zu werden.«

Während der nächsten Stunde erörterten sie verschiedene Anwendungsweisen von Magie. Dannyl achtete genau darauf, nur zu beschreiben, was möglich war, und nicht, wie man es anstellte, und der Dem spürte offenkundig, dass er sich mit Absicht vage ausdrückte. Zu guter Letzt verlangsamte sich die Fahrt der Kutsche, und der Wagen blieb stehen.

Der Dem wartete, bis die Tür geöffnet wurde, dann bedeutete er Dannyl, als Erster auszusteigen. Draußen war es dunkel, und Dannyl schuf automatisch eine Lichtkugel. Sie erhellte einen Tunnel, auf dessen geziegelten Mauern Feuchtigkeit glänzte.

»Macht das bitte aus«, bat der Dem.

Dannyl löschte das Licht. »Entschuldigung«, sagte er. »Das ist eine Angewohnheit.«

Nach der Helligkeit der Lichtkugel war jetzt alles stockdunkel. Eine Hand berührte ihn an der Schulter und schob ihn weiter. Dannyl streckte seine Sinne aus und entdeckte eine Öffnung in der Mauer, auf die sie sich zubewegten.

»Vorsicht«, murmelte der Dem. »Dahinter liegt eine Treppe.«

Dannyls Stiefel traf auf eine harte Kante. Bedächtig stieg er eine steile Treppe empor, dann wurde er durch einen Flur mit vielen Biegungen und Seitengängen geführt. Schließlich spürte er einen großen Raum und eine vertraute Präsenz, und die Hand ließ seine Schulter los.

Eine Lampe flackerte auf und beleuchtete mehrere Möbelstücke in einem Raum, der ganz aus dem Felsen gehauen war. Aus einem Riss in einer der Mauern sickerte Wasser in ein Becken und dann weiter durch ein Loch im Fußboden. Die Luft war kalt, und Farand trug einen weiten, pelzbesetzten Mantel.

Der junge Mann verneigte sich. Jetzt, da es nicht mehr lange dauern konnte, bis er sich aus seiner Zwangslage befreit hatte, wirkten seine Bewegungen selbstbewusster.

»Botschafter Dannyl«, sagte er, »willkommen in meinem neuesten Versteck.«

»Es ist etwas kalt hier«, bemerkte Dannyl. Er sandte ein wenig Magie aus, um die Luft zu wärmen. Farand grinste und streifte den Umhang ab. »Ich habe früher davon geträumt, großartige und dramatische Dinge mit Magie tun zu können. Jetzt wäre ich schon überglücklich, wenn ich zu etwas Derartigem imstande wäre.«

Dannyl warf einen vielsagenden Blick auf Royend. Der Dem lächelte und zuckte die Achseln. »Nicht alle teilen diese Meinung, das kann ich Euch versichern. Und Farand möchte gewiss mehr lernen als nur die Grundlagen der Magie.«

Er stand neben einem Seil, das von einem Loch in der Decke herabhing. Das andere Ende war wahrscheinlich an einer Glocke befestigt, vermutete Dannyl. Er fragte sich, wer daneben warten mochte.

»Nun«, sagte Dannyl. »Dann sollten wir am besten gleich anfangen. Es hat keinen Sinn, Euch länger als nötig in kalten Verstecken festzuhalten.«

Farand ging zu einem Stuhl hinüber und setzte sich. Dann holte er tief Luft, schloss die Augen und begann mit der beruhigenden Übung, die Dannyl ihn gelehrt hatte. Als sich die Züge des jungen Mannes entspannten, trat Dannyl näher.

»Dies könnte Eure letzte Lektion sein«, erklärte er mit tiefer, ruhiger Stimme. »Es könnte allerdings auch noch ein wenig länger dauern. Die Kontrolle über die eigene Magie muss eine vertraute Gewohnheit sein, damit sie weder am Tag noch in der Nacht eine Gefahr für Euch darstellen kann. Es ist besser, sie in Eurem eigenen Tempo zu erlernen, statt irgendetwas zu überstürzen.« Er legte die Finger sachte auf Farands Schläfen und schloss die Augen.

Es war unmöglich, in der Gedankenrede wirklich zu lügen, aber man konnte die Wahrheit verbergen. Bisher hatte Dannyl seine Mission und seinen Plan, die Rebellen am Ende zu verraten, für sich behalten können. Doch mit jeder Unterrichtsstunde gewöhnte sich Farand ein wenig mehr an diese Form der Kommunikation. Die Gefahr, dass er etwas von Dannyls geheimen Absichten erfuhr, wuchs.

Und jetzt, da die Zeit gekommen war, um die Rebellen zu verhaften, konnte Dannyl eine gewisse Anspannung nicht länger verbergen. Farand spürte sie und wurde neugierig.

Was ist das für ein Ereignis, mit dem Ihr heute Nacht rechnet? fragte er.

Ihr werdet wahrscheinlich die Kontrolle über Eure Magie erlangen, antwortete Dannyl. Das entsprach der Wahrheit und war Teil dessen, was in den nächsten Stunden geschehen würde. Außerdem war es wichtig genug, um dem jungen Mann Dannyls Erregung zu erklären. Aber Farand wusste, welche Konsequenzen es hatte, Magie auf verbotenem Wege zu erlernen, und er war argwöhnischer als sonst.

Da ist noch mehr. Ihr verbergt etwas vor mir.

Natürlich, antwortete Dannyl. Ich werde vieles vor Euch geheim halten, bis ich weiß, dass Ihr und Eure Freunde nicht verschwinden werdet, sobald Ihr Kontrolle gelernt habt.

Der Dem ist ein ehrenwerter Mann. Er hat versprochen, als Gegenleistung für Eure Hilfe Tayends Schutz zu gewährleisten. Dieses Versprechen wird er nicht brechen.

Einen Moment lang empfand Dannyl Mitgefühl für diesen naiven jungen Mann. Dann drängte er die Regung beiseite und rief sich ins Gedächtnis, dass Farand jung sein mochte, aber sicherlich kein Narr war.

Wir werden sehen. Und nun führt mich zu dem Ort, an dem Eure Kraft liegt.

Farand brauchte weniger Zeit als erwartet, um die feinsten Nuancen der Kontrolle zu begreifen. Während Farand über seine Leistung nachdachte, wappnete sich Dannyl gegen das, was nun kommen musste. Er unterbrach Farands Jubel mit einer Frage.

Wo sind wir?

Das Bild eines Tunnels wurde sichtbar, dann der Raum, in dem sie sich befanden. Farand wusste ebenso wenig wie Dannyl, wo sie waren.

Wer ist Euer Gastgeber?

Wieder konnte Farand diese Frage nicht beantworten.

Andererseits hatte Royend vermutlich erraten, dass Dannyl diese Informationen aus den Gedanken des jungen Mannes würde lesen können, und deshalb hatte er wahrscheinlich dafür Sorge getragen, dass Farand nichts Näheres erfuhr.

Farand hatte genug von Dannyls Überlegungen aufgefangen, um misstrauisch zu werden.

Was habt Ihr…?

Dannyl nahm die Hände von Farands Schläfen und unterbrach die Verbindung. Gleichzeitig schuf er einen schwachen Schild für den Fall, dass Farand versuchen sollte, seine Magie zu benutzen. Der junge Mann starrte ihn an.

»Es war eine List«, stieß Farand hervor. »Das Ganze war eine List.« Er drehte sich zu Royend um. »Er will uns verraten.«

Royend starrte Dannyl an, und seine Miene verhärtete sich. Als der Dem nach dem Glockenzug greifen wollte, streckte Dannyl seinen Willen aus. Der Mann riss die Hand zurück; er hatte sich an einer Barriere verbrannt.

Dannyl konzentrierte sich auf jemanden, der sich außerhalb des Raums befand.

Errend?

Farands Augen weiteten sich, als er das Gespräch auffing.

Dannyl. Habt Ihr den Einzelgänger?

Ja.

Sofort erhob sich ein Summen in Dannyls Bewusstsein, als die Gespräche von einem Dutzend Magiern in seinen Sinnen aufbrandeten. Farand sah sich mit panischem Blick in seinem Versteck um, während er gleichfalls lauschte.

»Sie verhaften die anderen«, sagte er. »Nein! Das ist alles meine Schuld!«

»Nein, das ist es nicht«, entgegnete Dannyl. »Es ist die Schuld Eures Königs, der die Fähigkeiten eines potenziellen Magiers missbraucht hat, und Eures Schwagers, der die Situation ausgenutzt hat, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Ich nehme an, Eure Schwester wusste davon, obwohl ich nicht glaube, dass sie einen von Euch verraten hätte.«

Farand sah Royend an, und der Blick in den Augen des jungen Mannes sagte Dannyl, dass er Recht hatte.

»Versucht nicht, uns gegeneinander auszuspielen, Botschafter«, erklärte Royend. »Das wird nicht funktionieren.«

Wo seid Ihr?, fragte Errend.

Ich weiß es nicht genau. Eine einstündige Kutschfahrt von der Stadt entfernt. Er sandte ein Bild des Tunnels. Kommt Euch das bekannt vor?

Nein.

Farand sah zuerst Dannyl an, dann wieder Royend. »Er weiß immer noch nicht, wo wir sind«, sagte er hoffnungsvoll.

»Es wird nicht schwierig sein, das herauszufinden«, versicherte ihm Dannyl. »Und Ihr solltet bereits wissen, Farand, dass es unter Magiern als unhöflich gilt, die Gespräche anderer zu belauschen.«

»Wir befolgen Eure Regeln nicht«, blaffte Royend.

Dannyl drehte sich zu dem Dem um. »Das habe ich bemerkt.«

Der Blick des Mannes wurde unsicher, dann straffte er die Schultern. »Sie werden uns dafür hinrichten lassen. Könnt Ihr damit leben?«

Dannyl hielt dem Blick des Dem stand. »Ihr habt zu jeder Zeit gewusst, welches Risiko Ihr eingegangen seid. Wenn all Eure Pläne einzig dem Bedürfnis entsprangen, Farand zu schützen und ihn zu retten, wird man Euch vielleicht vergeben. Ich glaube allerdings nicht, dass Eure Motive derart ehrenwert waren.«

»Nein«, murmelte der Dem heiser. »Es ging nicht nur um Farand. Es ging um die Ungerechtigkeit des Ganzen. Warum sollte die Gilde entscheiden, wer Magie benutzen und lehren darf? Es gibt so viele Menschen, deren Potenzial vergeudet wird, und die -«

»Die Gilde entscheidet nicht darüber, wer Magie erlernen darf und wer nicht«, korrigierte ihn Dannyl. »In Kyralia ist es jeder einzelnen Familie überlassen, zu entscheiden, ob ihre Söhne oder Töchter der Gilde beitreten sollen. In Elyne befindet der König darüber. Jedes Land hat sein eigenes System zur Auswahl von Kandidaten. Wir weisen nur jene ab, deren Geist labil ist oder die Verbrechen begangen haben.«

In Royends Augen blitzte Zorn auf. »Aber was ist, wenn Farand oder irgendjemand sonst nicht von der Gilde lernen will? Warum darf er dann nicht andernorts nach Wissen suchen?«

»Wo? In Eurer eigenen Gilde?«

»Ja.«

»Und wem würdet Ihr Rechenschaft schulden?«

Der Dem öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, ohne etwas zu sagen. Er sah Farand an und seufzte.

»Ich bin kein Ungeheuer«, erklärte er. »Ich habe Farand tatsächlich ermutigt, aber ich hätte es nicht getan, wenn ich gewusst hätte, wie gefährlich es ist.« Er wandte sich Dannyl zu. »Euch ist doch klar, dass der König ihn vielleicht eher töten würde, als zuzulassen, dass die Gilde erfährt, was er weiß – was immer das sein mag?«

»Dann wird Euer König mich ebenfalls töten müssen«, erwiderte Dannyl. »Und ich glaube nicht, dass er es wagen wird, das zu versuchen. Es bedürfte nur einer kurzen gedanklichen Information an alle Magier in den Verbündeten Ländern, um sein kleines Geheimnis bekannt zu machen. Und jetzt, da Farand Kontrolle gelernt hat, ist er ein Magier, und wenn der König versuchte, ihm zu schaden, würde er damit das Abkommen der Verbündeten Länder brechen. Farand fällt jetzt unter die Rechtsprechung der Gilde. Sobald er dort ist, sollte er vor Anschlägen aller Art sicher sein.«

»Die Gilde«, sagte Farand mit gepresster Stimme. »Ich werde die Gilde sehen.«

Royend beachtete ihn nicht. »Und was dann?«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich möchte Euch keine falschen Hoffnungen machen, indem ich Spekulationen über den Ausgang dieser Angelegenheit anstelle.«

Royend runzelte die Stirn. »Natürlich nicht.«

»Also. Werdet Ihr Euch ergeben? Oder muss ich Euch beide mit Gewalt hinter mir herschleifen, während ich mir den Weg ins Freie suche?«

Ein rebellisches Glänzen trat in die Augen des Dem. Dannyl lächelte über den Gesichtsausdruck des Mannes, denn er erriet die Gedanken, die dahintersteckten.

Errend?

Dannyl.

Habt Ihr die anderen in Haft genommen?

Alle. Könnt Ihr uns bereits mitteilen, wo Ihr Euch aufhaltet?

Nein, aber es wird jetzt nicht mehr lange dauern.

Dannyl blickte zu Royend auf. »Eine Verzögerung wird Euren Freunden keine Zeit für eine Flucht verschaffen. Farand kann Euch bestätigen, dass das die Wahrheit ist.«

Der junge Mann wandte den Blick ab und nickte. »Er hat Recht.« Seine Augen wanderten zu dem Glockenzug. Dannyl sah zur Decke auf und fragte sich, wer dort bereitstehen mochte. Es war zweifellos Farands Gastgeber, der über irgendeine Möglichkeit verfügte, andere Mitglieder der Gruppe zu warnen. Würden sie diesen Rebellen ebenfalls in Haft nehmen können? Wahrscheinlich nicht. Errend hatte Dannyl zugestimmt, dass es vordringlich sei, Farand und Dem Marane zu fassen. Wenn er noch irgendjemanden sonst zu verhaften versuchte, dann durfte er dabei auf keinen Fall das Risiko eingehen, den Einzelgänger zu verlieren.

Royend folgte Dannyls Blick, dann straffte er die Schultern. »Also schön. Ich werde Euch hinausführen.«


Der Tag war sonnig und warm gewesen, aber die Dunkelheit hatte eine Kälte mit sich gebracht, die Sonea nicht zu vertreiben vermochte, nicht einmal, indem sie die Luft in ihrem Zimmer mit Magie erwärmte. Sie hatte nicht gut geschlafen, und sie konnte sich nicht erklären, warum.

Vielleicht lag es daran, dass Akkarin den ganzen Abend über nicht da gewesen war. Takan hatte sie nach ihrer Rückkehr vom Unterricht an der Tür empfangen, um ihr mitzuteilen, dass der Hohe Lord verhindert sei. Sie hatte ihr Essen allein eingenommen.

Wahrscheinlich musste Akkarin offiziellen Pflichten bei Hofe nachkommen. Dennoch führte Soneas Fantasie ihn immer wieder in dunklere Teile der Stadt, wo er seine heimlichen Vereinbarungen mit den Dieben traf oder einem weiteren Spion gegenüberstand.

Sonea hielt vor ihrem Schreibpult inne und blickte auf ihre Bücher hinab. Wenn ich nicht schlafen kann, überlegte sie, kann ich ebenso gut lernen. Auf diese Weise lenke ich mich zumindest ab.

Dann hörte sie ein Geräusch außerhalb ihres Zimmers.

Sie schlich sich zur Tür hinüber und öffnete sie einen Spaltbreit. Im Treppenaufgang am anderen Ende des Flurs erklangen leise Schritte, die langsam lauter wurden. Dann hielten die Schritte inne, und sie hörte das Klicken eines Türriegels.

Er ist zurück.

Etwas löste sich in ihr, und sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Um ein Haar hätte sie laut aufgelacht. Ich kann mir unmöglich Sorgen um Akkarin machen.

Aber war das wirklich so seltsam? Er war alles, was zwischen den Ichani und Kyralia stand. In diesem Licht betrachtet, war es durchaus vernünftig, sich um ihn zu sorgen.

Sie wollte ihre Tür gerade wieder schließen, als neue Schritte durch den Gang hallten.

»Meister?«

Takan klang überrascht und erschrocken. Sonea fröstelte plötzlich.

»Takan.« Akkarins Stimme war kaum hörbar. »Warte, dann kannst du dies hier für mich fortschaffen.«

»Was ist geschehen?«

Die Furcht in der Stimme des Dieners war offenkundig. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, zog Sonea ihre Tür auf und trat in den Flur hinaus. Takan stand im Eingang zu Akkarins Schlafzimmer. Als sie näher kam, drehte er sich mit unsicherer Miene zu ihr um.

»Sonea.« Akkarins Stimme klang tief und ruhig.

Eine winzige, schwache Lichtkugel erhellte sein Schlafzimmer. Er saß am Ende eines großen Bettes. In dem fahlen Licht schienen seine Roben mit der Dunkelheit zu verschmelzen, so dass nur sein Gesicht und seine Hände zu sehen waren… und ein Unterarm.

Sonea sog scharf die Luft ein. Der rechte Ärmel seiner Robe hing schlaff herunter, und sie sah, dass er aufgeschlitzt worden war. Eine rote Wunde erstreckte sich vom Ellbogen bis zum Handgelenk. Auf seiner bleichen Haut leuchteten Blutflecken.

»Was ist passiert?«, flüsterte sie und fügte dann hinzu: »Hoher Lord?«

Akkarin blickte zwischen ihr und Takan hin und her und schnaubte leise. »Wie ich sehe, werde ich keine Ruhe finden, bevor ich euch alles erzählt habe. Kommt herein und setzt euch.«

Takan trat in den Raum. Sonea zögerte, dann folgte sie ihm. Sie war noch nie in Akkarins Schlafzimmer gewesen. Noch vor einer Woche hätte sie allein der Gedanke, es zu betreten, in panische Angst versetzt. Als sie sich jetzt umsah, verspürte sie eine seltsame Enttäuschung. Die Einrichtung ähnelte der ihres eigenen Zimmers. Die Papierblenden, mit denen Akkarins Fenster bespannt waren, waren dunkelblau, ebenso wie die Einfassung eines Teppichs, der den größten Teil des Fußbodens bedeckte. Die Tür zu seinem Schrank stand offen. Er enthielt lediglich Roben, einige Umhänge und einen Langmantel.

Als sie sich wieder zu Akkarin umwandte, stellte sie fest, dass er sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen beobachtete. Er deutete auf einen Stuhl.

Takan hatte einen Wasserkrug von einer Truhe neben dem Bett geholt. Er zog ein Tuch aus seiner Uniform hervor, befeuchtete es und griff nach Akkarins Arm. Der Hohe Lord nahm ihm das Tuch aus der Hand.

»Wir haben einen weiteren Spion in der Stadt«, sagte er, während er sich das Blut vom Arm wischte. »Aber sie ist kein gewöhnlicher Spion, denke ich.«

»Sie?«, unterbrach ihn Sonea.

»Ja. Eine Frau.« Akkarin gab Takan das Tuch zurück. »Das ist allerdings nicht der einzige Unterschied zwischen ihr und den früheren Spionen. Sie ist ungewöhnlich stark für eine ehemalige Sklavin. Sie ist noch nicht lange hier und kann unmöglich so stark geworden sein, indem sie Imardier getötet hat. Außerdem hätten wir davon erfahren, wenn es weitere Morde gegeben hätte.«

»Sie haben diese Frau vielleicht vorbereitet«, sagte Takan. Er hielt das blutbefleckte Tuch fest umklammert. »Möglicherweise haben sie ihr erlaubt, vor ihrer Abreise aus Sachaka Stärke von ihren Sklaven zu beziehen.«

»Mag sein. Aus welchem Grund auch immer, sie war jedenfalls gewappnet für den Kampf. Sie hat mich glauben gemacht, sie sei erschöpft, und als ich dann in ihre Nähe kam, hat sie mir diese Schnittwunde zugefügt. Sie war allerdings nicht schnell genug, um meinen Arm festzuhalten und mir Kraft abzuziehen. Danach hat sie dann versucht, Aufmerksamkeit auf unseren Kampf zu lenken.«

»Also habt Ihr sie entkommen lassen«, schlussfolgerte Takan.

»Ja. Sie muss geglaubt haben, dass ich sie eher laufen lassen würde, als das Leben anderer zu gefährden.«

»Oder sie weiß, dass es Euch lieber wäre, wenn die Gilde nichts von magischen Kämpfen in den Hüttenvierteln erführe.« Takans Lippen wurden schmal. »Sie wird töten, um sich wieder zu stärken.«

Akkarin lächelte grimmig. »Daran hege ich keinen Zweifel.«

»Und Ihr seid jetzt schwächer. Ihr hattet nach dem letzten Kampf nur wenig Zeit, Euch zu stärken.«

»Das wird kein Problem sein.« Er sah Sonea an. »Ich habe eine der stärksten Magierinnen der Gilde, die mir hilft.«

Sonea wandte sich ab und spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Takan schüttelte den Kopf.

»Das Ganze passt für mich nicht richtig zusammen. Sie unterscheidet sich zu sehr von den früheren Spionen. Eine Frau. Kein Ichani würde einen weiblichen Sklaven befreien. Und sie ist stark. Raffiniert. Das klingt ganz und gar nicht nach einer Sklavin.«

Akkarin sah seinen Diener forschend an. »Du glaubst, sie ist eine Ichani?«

»Möglicherweise. Ihr solltet Euch so vorbereiten, als wäre sie eine. Ihr solltet…« Er blickte zu Sonea hinüber. »Ihr solltet Euch einen Verbündeten suchen.«

Sonea blinzelte überrascht. Meinte Takan, dass sie Akkarin begleiten sollte, wenn er dieser Frau das nächste Mal gegenübertrat?

»Darüber haben wir bereits gesprochen«, begann Akkarin.

»Und Ihr habt gesagt, Ihr würdet es Euch noch einmal überlegen, wenn sie Kyralia angreifen«, entgegnete Takan. »Wenn diese Frau tatsächlich eine Ichani ist, dann sind sie bereits hier. Was passiert, wenn sie zu stark für Euch ist? Ihr dürft das Risiko nicht eingehen, Euer Leben zu verlieren und die Gilde ohne Schutz zu lassen.«

Sonea spürte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte. »Und zwei Augenpaare sind besser als eins«, warf sie hastig ein. »Wenn ich Euch heute Nacht begleitet hätte -«

»Du wärst vielleicht im Weg gewesen.«

Das schmerzte. Ärger flackerte in Sonea auf. »Das glaubt Ihr tatsächlich, ja? Ich bin nur eine verhätschelte Novizin wie die anderen. Ich kenne mich nicht in den Hüttenvierteln aus, und ich weiß auch nicht, wie man sich vor Magiern versteckt.«

Er starrte sie an, dann ließ er die Schultern sinken und begann leise zu lachen.

»Was soll ich tun?«, fragte er. »Ihr seid beide fest entschlossen, in dieser Angelegenheit euren Willen durchzusetzen.«

Geistesabwesend rieb er sich den Arm. Sonea blickte hinab und blinzelte überrascht. Die roten Wunden waren jetzt nur noch rosafarben. Er hatte sich, noch während er sprach, geheilt.

»Ich werde Sonea nur dann unterrichten, wenn diese Frau eine Ichani ist. Dann werden wir wissen, dass sie zu einer echten Bedrohung geworden sind.«

»Wenn sie eine Ichani ist, werdet Ihr vielleicht sterben«, erklärte Takan unumwunden. »Seid gerüstet, Meister.«

Akkarin wandte sich zu Sonea um. Seine Augen lagen im Dunkeln, und seine Miene war nachdenklich. »Was sagst du dazu, Sonea? Dies ist keine Entscheidung, die du treffen solltest, ohne vorher das Für und Wider gründlich abgewogen zu haben.«

Sie holte tief Luft. »Ich habe das Für und Wider abgewogen. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann gehe ich das Risiko ein und erlerne schwarze Magie. Welchen Sinn hätte es schließlich, eine brave, gesetzesfürchtige Novizin zu sein, wenn es keine Gilde mehr gäbe? Wenn Ihr sterbt, werden wir übrigen wahrscheinlich ebenfalls den Tod finden.«

Akkarin nickte langsam. »Also gut. Es gefällt mir nicht. Wenn es einen anderen Weg gäbe, würde ich ihn vorziehen.« Er seufzte. »Aber es gibt keinen anderen Weg. Wir werden morgen Abend beginnen.«

11 Verbotenes Wissen

Drei Yerim blieben zitternd mit dem Dorn voran in der Tür von Cerys Raum stecken. Er stand auf, zog die Schreibutensilien wieder heraus und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Dann starrte er die Tür an und warf die Yerim noch einmal, einen nach dem anderen.

Sie landeten genau dort, wo er es beabsichtigt hatte, an den Ecken eines imaginären Dreiecks. Schließlich erhob er sich ein weiteres Mal, schlenderte durch den Raum und holte sie sich zurück. Als er an den Kaufmann dachte, der hinter dieser Tür wartete, lächelte Cery. Was mochte der Mann sich für einen Reim auf dieses regelmäßige Hämmern an der Tür des Diebes machen?

Dann seufzte er. Er sollte den Kaufmann endlich hereinbitten und die Sache hinter sich bringen, aber er war nicht in besonders großzügiger Stimmung, und dieser Mann kam für gewöhnlich nur, um mehr Zeit für die Begleichung seiner Schulden zu erbetteln. Cery war sich nicht sicher, ob der Kaufmann den neuesten, jüngsten Dieb testen und herausfinden wollte, wie weit er gehen konnte. Eine langsam beglichene Schuld war besser als eine, die überhaupt nicht beglichen wurde, aber ein Dieb, dem man endlose Geduld nachsagte, war ein Dieb ohne Ansehen und Respekt.

Manchmal musste er beweisen, dass er durchaus willens war, eine feste Hand zu zeigen.

Cery betrachtete die Yerim, deren Spitzen sich tief in die Maserung der Tür eingegraben hatten. Er musste es sich eingestehen. Der Kaufmann war nicht der wahre Grund für seine schlechte Laune.

»Sie ist davongekommen«, hatte Morren gemeldet. »Er hat sie laufen lassen.«

Als Cery Genaueres erfahren wollte, hatte Morren einen wilden Kampf beschrieben. Diese Frau war offensichtlich stärker gewesen, als Akkarin erwartet hatte. Er war nicht imstande gewesen, ihre Magie zu bezähmen. Sie hatte das Zimmer in dem Bolhaus, in dem sie wohnte, vollkommen verwüstet. Einige andere Gäste hatten mehr von dem Ganzen mitbekommen, als es eigentlich hätte der Fall sein dürfen – obwohl Cery in weiser Voraussicht dafür Sorge getragen hatte, dass die meisten von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits betrunken waren; er hatte einige Männer in die Bolschänke geschickt, die beträchtliche »Gewinne« von den Rennen mit anderen teilen wollten. Jene, die nicht betrunken gewesen waren oder sich außerhalb des Bolhauses aufgehalten hatten, waren für ihr Stillschweigen bezahlt worden – obwohl das den Gerüchten vermutlich nicht lange vorzubeugen vermochte. Nicht, wenn diese Gerüchte sich um eine Frau drehten, die aus einem Fenster im dritten Stock zu Boden geschwebt war.

Es ist keine Katastrophe, sagte sich Cery zum hundertsten Mal. Wir werden sie wiederfinden. Akkarin wird dafür sorgen, dass er beim nächsten Mal besser vorbereitet ist. Er kehrte zu seinem Pult zurück und setzte sich, dann zog er die Schublade auf und warf die Yerim hinein.

Wie erwartet folgte nach einigen Minuten der Stille ein zaghaftes Klopfen an der Tür.

»Komm rein, Gol«, rief Cery. Er blickte an sich hinab und strich seine Kleider glatt, als die Tür geöffnet wurde und der stämmige Mann eintrat. »Am besten, du schickst mir Hem herein.« Er sah auf. »Damit ich es hinter mich bringen kann … Was ist los mit dir?«

Gol stellte ein breites Grinsen zur Schau. »Savara ist hier.«

Cery spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte. Wie viel wusste sie? Wie viel durfte er ihr anvertrauen? Er straffte die Schultern. »Schick sie herein.«

Gol zog sich zurück. Als die Tür das nächste Mal geöffnet wurde, trat Savara ein. Mit selbstgefälliger Miene stolzierte sie zu dem Schreibpult hinüber.

»Ich höre, Euer Hoher Lord ist gestern Nacht auf einen ebenbürtigen Gegner getroffen.«

»Woher weißt du das?«, fragte Cery.

Sie zuckte die Achseln. »Die Leute neigen dazu, mir gewisse Dinge zu erzählen, wenn ich freundlich frage.«

»Das bezweifle ich nicht«, erwiderte Cery. »Was hast du sonst noch erfahren?«

»Sie ist entkommen. Was nicht passiert wäre, wenn du mir erlaubt hättest, mich um sie zu kümmern.«

Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Als ob du es besser gemacht hättest!«

Ihre Augen blitzten. »Oh, das hätte ich.«

»Wie?«

»Ich habe meine Methoden.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde diese Frau gern töten, aber jetzt, da Akkarin über sie Bescheid weiß, kann ich es nicht tun. Ich wünschte, du hättest ihm nichts von ihrer Existenz gesagt.« Sie warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Wann wirst du mir endlich vertrauen?«

»Dir vertrauen?« Er kicherte. »Niemals. Ob ich dich einen dieser Mörder werde töten lassen?« Er schürzte die Lippen, als müsse er darüber nachdenken. »Beim nächsten Mal.«

Sie starrte ihn an. »Habe ich dein Wort darauf?«

Er hielt ihrem Blick stand und nickte. »Ja, du hast mein Wort. Finde diese Frau, und gib mir keinen Grund, meine Meinung zu ändern, dann wirst du den nächsten Sklaven töten.«

Savara runzelte die Stirn, erhob aber keinen Protest. »Abgemacht. Wenn er diese Frau doch noch töten sollte, werde ich dabei sein, ob es dir gefällt oder nicht. Ich möchte ihren Tod zumindest miterleben.«

»Was hat sie dir getan?«

»Ich habe dieser Frau vor langer Zeit einmal geholfen, und ihr Verhalten hat mich dazu gebracht, das zu bedauern.« Sie betrachtete ihn ernst. »Du glaubst, du seist hart und gnadenlos, Dieb. Wenn du grausam bist, dann nur, um Ordnung zu wahren und den Respekt anderer nicht zu verlieren. Für die Ichani sind Mord und Grausamkeit ein Spiel.«

Cery runzelte die Stirn. »Was hat sie getan?«

Savara zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Mehr kann ich dir nicht sagen.«

»Aber es steckt noch mehr dahinter, nicht wahr?« Cery seufzte. »Und du verlangst von mir, dass ich dir vertrauen soll?«

Sie lächelte. »Du hast mich nicht in die Einzelheiten deines Abkommens mit dem Hohen Lord eingeweiht, und doch erwartest du von mir, darauf zu vertrauen, dass du meine Existenz geheim halten wirst.«

»Also musst du mir vertrauen, wenn ich sage, ob du einen dieser Mörder – oder eine dieser Mörderinnen – töten wirst oder nicht.« Cery gestattete sich ein Lächeln. »Aber wenn du den Kampf unbedingt mitansehen willst, dann sollte ich ebenfalls dort sein. Es ist mir unangenehm, dass mir der eigentliche Höhepunkt unseres Tuns immer vorenthalten bleibt.«

Sie lächelte und nickte. »Das ist fair.« Sie hielt inne, dann trat sie einen Schritt zurück. »Ich sollte mich auf die Suche nach der Frau machen.«

»Das denke ich auch.«

Sie wandte sich ab und ging durch den Raum zur Tür hinüber. Als sie fort war, verspürte Cery eine vage Enttäuschung, und er begann, darüber nachzudenken, wie er es anstellen konnte, sie ein wenig länger in seiner Nähe zu behalten. Dann wurde die Tür abermals geöffnet, aber es war nur Gol.

»Bist du jetzt bereit, Hem zu empfangen?«

Cery schnitt eine Grimasse. »Schick ihn rein.«

Er zog die Schublade auf und nahm einen der Yerim und einen Wetzstein heraus. Als der Kaufmann vorsichtig eintrat, machte Cery sich daran, die Spitze der Schreibfeder zu schärfen.

»Also, Hem, sag mir, warum ich nicht feststellen sollte, wie viele Löcher ich machen muss, bevor du anfängst, Geld auszuspucken.«


Vom Dach der Universität aus konnte man gerade noch den Sockel des alten, halb abgebauten Ausgucks sehen. Irgendwo hinter den Bäumen wurden von Gorin-Gespannen neue Steine über die lange, gewundene Straße bis zum Gipfel hinauftransportiert.

»Der Bau wird vielleicht bis nach der Sommerpause warten müssen«, erklärte Lord Sarrin.

»Der Bau des Ausgucks soll verzögert werden?« Lorlen drehte sich zu dem Magier an seiner Seite um. »Ich hatte gehofft, dieses Projekt würde sich nicht über mehr als drei Monate hinziehen. Ich bin es jetzt schon müde, Klagen über verzögerte Projekte und den Mangel an freier Zeit zu hören.«

»Da würden viele Euch gewiss Recht geben«, erwiderte Lord Sarrin. »Trotzdem können wir nicht allen Beteiligten sagen, dass sie in diesem Jahr ihre Familien nicht besuchen können. Das Problem bei magisch verstärkten Gebäuden besteht darin, dass sie nicht stabil sind, bis der letzte Stein verbaut ist und die Steine miteinander verschmolzen werden. Bis es so weit ist, halten wir alles mit unserem Willen zusammen. Deshalb sollte es während des Baus keinerlei Verzögerungen geben.«

Im Gegensatz zu Lord Peakin hatte Lord Sarrin während der Debatte über den neuen Ausguck nur wenig beizusteuern gehabt. Lorlen war sich nicht sicher, ob das daran lag, dass das alte Oberhaupt der Alchemisten keine dezidierte eigene Meinung in der Angelegenheit hatte oder ob er nur abgewartet hatte, welche der beiden Seiten die Oberhand gewinnen würde, bis er sein Schweigen brach. Vielleicht war jetzt ein guter Zeitpunkt, ihn danach zu fragen.

»Was haltet Ihr wirklich von diesem Projekt, Sarrin?«

Der alte Magier zuckte die Achseln. »Ich stimme darin zu, dass die Gilde ab und zu einmal etwas Großartiges tun und sich einer Herausforderung stellen sollte, aber ich frage mich, ob es nicht vielleicht etwas anderes sein könnte, als wieder einmal ein Gebäude zu errichten.«

»Ich höre, Peakin wollte einen von Lord Corens unbenutzten Entwürfen verwenden.«

»Lord Coren!« Sarrin verdrehte die Augen. »Wie müde ich es bin, diesen Namen zu hören! Einige der Dinge, die der Architekt zu seiner Zeit entworfen hat, gefallen mir durchaus, aber wir haben heute lebende Magier, die genauso gut imstande sind, ansprechende und funktionale Gebäude zu entwerfen, wie er es war.«

»Ja«, pflichtete Lorlen ihm bei. »Wie ich höre, hat Balkan beinahe einen Anfall bekommen, als er Corens Pläne sah.«

»Er hat sie als ›einen Albtraum an Frivolität‹ bezeichnet.«

Lorlen seufzte. »Ich glaube nicht, dass es nur die Sommerpause ist, die dieses Projekt verzögern wird.«

Sarrin schürzte die Lippen. »Ein klein wenig Druck von außen könnte die Dinge beschleunigen. Hat der König es vielleicht eilig?«

»Hat der König es jemals nicht eilig?«

Sarrin kicherte.

»Ich werde Akkarin bitten, für uns nachzufragen«, sagte Lorlen. »Ich bin davon überzeugt…«

»Administrator?«, erklang eine Stimme.

Lorlen drehte sich um. Osen kam über das Dach auf ihn zugelaufen.

»Ja?«

»Hauptmann Barran von der Wache ist hier und möchte Euch sprechen.«

Lorlen wandte sich zu Sarrin um. »Dann kümmere ich mich wohl am besten um diese Angelegenheit.«

»Natürlich.« Sarrin nickte zum Abschied.

Lorlen wandte sich zu Osen um und fragte: »Hat der Hauptmann gesagt, warum er hier ist?«

»Nein«, antwortete Osen, während er sich mit dem Administrator auf den Weg zur Universität machte. Vor der Tür von Lorlens Dienstraum wartete der Hauptmann bereits auf ihn.

Bei Lorlens Anblick wirkte Barran sehr erleichtert.

»Guten Abend, Hauptmann«, begrüßte Lorlen ihn.

Barran verneigte sich. »Administrator.«

»Kommt mit hinein.« Lorlen hielt Barran und Osen die Tür auf, dann geleitete er seinen Gast zu einem Stuhl. Er selbst setzte sich hinter seinen Schreibtisch und betrachtete den Hauptmann ernst.

»Also, was führt Euch zu mir? Ich hoffe, es handelt sich nicht um einen weiteren Mord.«

»Ich fürchte, genauso ist es. Und nicht nur ein einziger Mord.« Barrans Stimme klang angespannt. »Das, was geschehen ist, kann ich nur als Massaker bezeichnen.«

Lorlen gefror das Blut in den Adern. »Sprecht weiter.«

»Vierzehn Opfer, alle auf die gleiche Weise getötet, wurden gestern Nacht in den Vierteln nördlich der Stadt gefunden. Die meisten lagen auf der Straße, einige wenige in Häusern.« Barran schüttelte den Kopf. »Es sieht so aus, als streife irgendein Wahnsinniger durch die Hüttenviertel und töte jeden, der ihm begegnet.«

»In diesem Fall muss es doch gewiss Zeugen geben.«

Barran schüttelte den Kopf. »Nichts, was uns weiterhilft. Einige Leute meinten, sie hätten eine Frau gesehen, andere sagten, es sei ein Mann gewesen. Keiner hat das Gesicht des Mörders gesehen. Es war zu dunkel.«

»Und wie sind sie getötet worden?«, zwang Lorlen sich zu fragen.

»Flache Schnittwunden. Keine davon hätte tödlich sein sollen. Keine Spuren von Gift. Fingerabdrücke an den Wunden – deshalb bin ich gleich zu Euch gekommen. Das ist die einzige Parallele zu den früheren Fällen.« Er hielt inne. »Eine andere Angelegenheit wäre da auch noch.«

»Ja?«

»Der Ehemann eines Opfers hat einem meiner Leute erzählt, es seien Geschichten über einen Kampf in einem Bolhaus in Umlauf, der in der vergangenen Nacht stattgefunden haben soll. Einem Kampf zwischen Magiern.«

Lorlen gelang es, zweifelnd dreinzublicken. »Magier?«

»Ja. Einer ist anscheinend von einem Fenster im dritten Stock zu Boden geschwebt. Ich hielt es zuerst für eine Ausgeburt der Fantasie eines Einzelnen, eine Einbildung, die die Dunkelheit hervorgebracht hat. Aber die Tatorte aller Morde von gestern befinden sich auf einer geraden Linie, die direkt zu diesem Bolhaus führt. Oder von ihm fort.«

»Und Ihr habt in dem Bolhaus Nachforschungen angestellt?«

»Ja. Eins der Zimmer war ziemlich übel zugerichtet, so dass in der vergangenen Nacht dort tatsächlich etwas vorgefallen sein muss. Ob es Magie war…« Er zuckte die Achseln. »Wer kann das feststellen?«

»Wir können es feststellen«, sagte Osen.

Lorlen blickte zu seinem Assistenten auf. Osen hatte Recht; jemand von der Gilde sollte das Bolhaus untersuchen. Akkarin wird wollen, dass ich es tue, dachte Lorlen.

»Ich würde dieses Zimmer gern einmal sehen.«

Barran nickte. »Ich kann Euch sofort dorthin führen. Ich habe einen Wachtrupp draußen in der Kutsche sitzen.«

»Ich könnte Euch diesen Gang abnehmen«, erbot sich Osen.

»Nein«, erwiderte Lorlen. »Ich werde es tun. Ich weiß mehr über diese Fälle als Ihr. Bleibt hier und haltet ein Auge auf die Dinge.«

»Diese Geschichte könnte auch anderen Magiern zu Ohren kommen«, bemerkte Osen. »Sie werden besorgt sein. Was soll ich ihnen erzählen?«

»Nur, dass es eine beunruhigende Serie weiterer Morde gegeben hat und dass die Bolhausgeschichte wahrscheinlich eine Übertreibung ist. Wir wollen nicht, dass die Leute voreilige Schlüsse ziehen oder gar eine Panik verursachen.« Er stand auf, und Barran folgte seinem Beispiel.

»Und wenn Ihr Beweise für Magie findet?«, fügte Osen hinzu.

»Darum werden wir uns kümmern, wenn dieser Fall tatsächlich eintritt.«

Während Lorlen und Barran zur Tür gingen, blieb Osen am Schreibtisch stehen. Als Lorlen sich noch einmal umdrehte, sah er, dass sein Assistent besorgt die Stirn runzelte.

»Macht Euch keine Gedanken«, sagte Lorlen. Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Diese Angelegenheit ist wahrscheinlich nicht finsterer als all die anderen Mordfälle.«

Osen lächelte dünn und nickte.

Nachdem Lorlen die Tür zu seinem Büro geschlossen hatte, ging er in die Eingangshalle und dann weiter durch die Türen der Universität ins Freie.

Du solltest in Zukunft besser allein mit Hauptmann Barran sprechen, mein Freund.

Lorlen blickte zu der Residenz des Hohen Lords hinüber.

Osen ist ein vernünftiger Mann.

Vernünftige Männer können ziemlich unvernünftig werden, wenn ihr Argwohn die Oberhand über ihren Verstand gewinnt.

Sollte er denn argwöhnisch sein? Was ist gestern Nacht passiert?

Eine Menge betrunkener Gäste hat einen gescheiterten Versuch der Diebe beobachtet, einen Mörder zu fangen.

Ist das wirklich alles, was passiert ist?

»Administrator?«

Lorlen blinzelte, dann wurde ihm bewusst, dass er vor der offenen Tür der Kutsche stand. Barran sah ihn fragend an.

»Entschuldigung.« Lorlen lächelte. »Ich habe mich nur schnell mit einem Kollegen beraten.«

Barrans Augen weiteten sich leicht, als er begriff, was Lorlen meinte. »Das muss eine sehr praktische Fähigkeit sein.«

»Das ist es«, stimmte Lorlen ihm zu. Er stieg in die Kutsche. »Aber auch diese Fähigkeit hat ihre Grenzen.«

Oder zumindest sollte sie Grenzen haben, fügte er im Stillen hinzu.


Soneas Magen krampfte sich zusammen, als sie den unterirdischen Raum betrat; so war es ihr ergangen, wann immer sie an die bevorstehende Lektion in schwarzer Magie gedacht hatte – also alle paar Minuten. Zweifel hatten sich in ihre Gedanken gemischt, und einige Male hatte sie beinahe den Entschluss gefasst, Akkarin zu sagen, dass sie ihre Meinung geändert habe. Aber wenn sie sich ruhig hinsetzte und alles genau durchdachte, blieb ihre Entscheidung unverrückbar. Das Studium der schwarzen Magie war eine Gefahr für sie, aber die einzige Alternative wäre gewesen, die Gilde und Kyralia in noch größere Gefahr zu bringen.

Als Akkarin sich zu ihr umdrehte, verneigte sie sich.

»Setz dich, Sonea.«

»Ja, Hoher Lord.«

Sie nahm Platz und besah sich dann, was auf dem Tisch lag. Es war eine seltsame Ansammlung von Dingen: eine Schale mit Wasser, eine gewöhnliche Pflanze in einem kleinen Topf, ein Käfig mit einem Harrel, das sein Gefängnis beschnupperte, kleine Handtücher, Bücher und eine polierte, schmucklose hölzerne Schachtel. Akkarin las in einem der Bücher.

»Wozu dienen all diese Dinge?«, wollte sie wissen.

»Deiner Ausbildung«, antwortete er und klappte das Buch zu. »Ich habe noch niemanden gelehrt, was ich dich heute Abend lehren werde. Mein eigenes Wissen habe ich nicht durch Erklärungen erworben. Ich habe mehr erfahren, als ich die alten Bücher fand, die Lord Coren wieder unter der Gilde vergraben hatte.«

Sie nickte. »Wie habt Ihr diese Bücher gefunden?«

»Coren wusste, dass die Magier, die die Truhe zum ersten Mal vergraben hatten, recht daran getan hatten, das Wissen über schwarze Magie zu bewahren, für den Fall, dass die Gilde sich eines Tages einem stärkeren Feind gegenübersehen sollte. Aber dieses Wissen wäre nicht von Nutzen gewesen, wenn man es nicht hätte wiederfinden können. Also schrieb Coren einen Brief an den Hohen Lord, der diesem erst nach dem Tod des Architekten ausgehändigt werden sollte. In diesem Dokument erklärte Coren, dass er einen geheimen Hort an Wissen unter der Universität vergraben habe, der die Gilde retten könnte, falls sie einem schrecklichen Feind gegenüberstehen sollte.« Akkarin sah zur Decke empor. »Als die Bibliothek des Hohen Lords nach der Renovierung der Residenz hierher verlegt wurde, habe ich den Brief zwischen den Seiten einer Chronik gefunden. Corens Anweisungen für die Suche nach diesem Geheimnis waren so undurchsichtig, dass meine Vorgänger nicht die Geduld aufgebracht hatten, sie zu entschlüsseln. Irgendwann geriet der Brief dann in Vergessenheit. Ich erriet jedoch, was Corens Geheimnis war.«

»Und Ihr habt seine Anweisungen entschlüsselt?«

»Nein.« Akkarin kicherte. »Fünf Monate lang verbrachte ich jede Nacht mit der Erkundung der unterirdischen Gänge, bis ich die Truhe fand.«

Sonea lächelte. »Die Gilde hätte also ein Problem gehabt, wenn Sie sich tatsächlich einem schrecklichen Feind gegenübergesehen hätte.« Dann wurde sie schlagartig wieder ernst. »Nun, jetzt ist dieser Fall eingetreten.«

Akkarin betrachtete die Dinge auf dem Tisch. »Vieles von dem, was ich dir erzählen werde, weißt du bereits. Man hat dich gelehrt, dass alle lebenden Dinge über Energie verfügen und dass jeder von uns eine Barriere in Gestalt der Haut hat, die uns vor äußeren magischen Einflüssen schützt. Wäre es anders, könnte ein Magier dich aus der Entfernung töten, indem er mit seinem Geist in deinen Körper eindränge und dein Herz zerquetschte. Diese Barriere ist aber für gewisse Arten von Magie durchlässig, wie zum Beispiel heilende Magie, aber auch das ist nur durch Kontakt von Haut auf Haut möglich.«

Er entfernte sich von dem Tisch und kam einen Schritt näher. »Wenn du die Haut aufbrichst, brichst du die Barriere auf. Es kann ein sehr langsamer Prozess sein, Energie durch diese Fläche zu ziehen. Im Alchemieunterricht wirst du gelernt haben, dass Magie schneller durch Wasser reist als durch Luft oder Stein. In den Lektionen in Heilkunst hast du gelernt, dass der Blutkreislauf jeden Teil des Körpers erreicht. Wenn du die Haut so tief aufschneidest, dass Blut fließt, kannst du ziemlich schnell Energie aus allen Teilen des Körpers ziehen.

Es ist nicht schwer, diese Fähigkeit zu erlernen«, fuhr Akkarin fort. »Ich könnte dir das alles erklären, wie es in diesen Büchern beschrieben steht, und dich dann an Tieren experimentieren lassen, aber es würde viele Tage dauern, ja, sogar Wochen, bis du diese Fertigkeit einigermaßen kontrolliert beherrschen würdest.« Er lächelte. »Außerdem könnte es recht mühsam sein, all die Tiere hereinzuschmuggeln.«

Er wurde wieder ernst. »Aber es gibt noch einen weiteren Grund. In der Nacht, in der du beobachtet hast, wie ich von Takan Kraft abzog, hast du etwas gespürt. Ich habe gelesen, dass die Anwendung von schwarzer Magie ebenso wie gewöhnliche Magie von anderen Magiern gespürt werden kann, vor allem wenn sie sich in der Nähe aufhalten. Wie im Falle der gewöhnlichen Magie kann man diese Wirkung verbergen. Erst als ich deine Gedanken las, wurde mir klar, dass man mein Tun wahrnehmen konnte. Danach habe ich experimentiert, bis ich sicher war, dass ich diese Gefahr abgestellt hatte. Ich werde dich sehr schnell lehren, wie das funktioniert, um die Gefahr einer Entdeckung zu verringern.«

Wieder blickte er zur Decke auf. »Ich werde dich im Geiste führen, und wir werden Takan als unsere erste Kraftquelle benutzen. Wenn er bei uns ist, gib Acht, wovon du sprichst. Er möchte diese Dinge nicht lernen, aus Gründen, die zu kompliziert und zu persönlich sind, als dass ich sie dir erklären könnte.«

Aus dem Treppenaufgang erklangen gedämpfte Schritte, dann wurde die Tür geöffnet, und Takan trat ein. Er verneigte sich.

»Ihr habt gerufen, Meister?«

»Es wird Zeit, Sonea schwarze Magie zu lehren«, erklärte Akkarin.

Takan nickte. Er ging zu dem Tisch hinüber und öffnete die Schachtel. Darin lag, eingehüllt in ein Futteral aus feinem, schwarzem Tuch, das Messer, mit dem Akkarin den sachakanischen Spion getötet hatte. Takan nahm es vorsichtig und mit sichtlicher Ehrfurcht heraus.

Dann legte Takan die Klinge mit einer flüssigen, geübten Bewegung auf seine Handgelenke und trat mit gesenktem Kopf auf Sonea zu. Akkarins Augen wurden schmal.

»Genug davon, Takan – und untersteh dich, niederzuknien.« Akkarin schüttelte den Kopf. »Wir sind zivilisierte Menschen. Wir versklaven einander nicht.«

Ein schwaches Lächeln umspielte Takans Mundwinkel. Mit leuchtenden Augen sah er zu Akkarin auf. Akkarin prustete leise, dann nickte er Sonea zu.

»Dies ist eine sachakanische Klinge, wie sie nur von Magiern getragen wird«, sagte er. »Ihre Messer werden mit Magie geschmiedet und geschärft. Diese Waffe ist viele Jahrhunderte alt und wurde vom Vater an den Sohn weitergereicht. Ihr letzter Besitzer war Dakova. Ich hätte die Klinge zurückgelassen, aber Takan hat sie gestohlen und mitgebracht. Nimm das Messer, Sonea.«

Sonea nahm die Klinge mit spitzen Fingern in Empfang. Wie viele Menschen waren durch dieses Messer gestorben? Hunderte? Tausende? Sie schauderte.

»Takan wird auch diesen Stuhl benötigen.«

Sie erhob sich. Takan nahm ihren Platz ein und rollte sich den Ärmel auf.

»Mach einen flachen Schnitt. Drück die Klinge nur ganz sachte auf. Sie ist sehr scharf.«

Sie blickte auf den Diener hinab, und ihr Mund wurde trocken. Der Diener lächelte sie an und hob den Arm. Seine Haut war kreuz und quer von Narben durchzogen. Wie die von Akkarin.

»Seht Ihr«, sagte Takan, »ich habe das schon öfter getan.«

Die Klinge zitterte ein wenig, als Sonea sie auf Takans Haut drückte. Als sie sie wieder hochnahm, sah sie, wie sich entlang der Schnittwunde Blutstropfen bildeten. Sie schluckte. Ich tue es also wirklich. Dann hob sie den Kopf und stellte fest, dass Akkarin sie forschend betrachtete.

»Du brauchst es nicht zu lernen, Sonea«, sagte er, während er die Klinge von ihr entgegennahm.

Sie holte tief Luft. »Doch, ich muss es lernen«, erwiderte sie. »Was jetzt?«

»Leg die Hand über die Wunde.«

Takan lächelte. Sonea drückte die Hand sacht auf den Schnitt. Akkarin trat zu ihnen und legte ihr die Finger auf die Schläfen.

Konzentriere dich, wie du es getan hast, als du die Kontrolle über deine Magie erlernt hast. Am Anfang wird dir eine Visualisierung helfen. Zeige mir den Raum deines Geistes.

Sie schloss die Augen, beschwor ein Bild des Raums herauf und begab sich selbst dort hinein. Die Wände waren bedeckt mit Gemälden von vertrauten Gesichtern und Szenen, aber sie beachtete sie nicht.

Öffne die Tür zu deiner Kraft.

Sofort dehnte sich eins der Bilder zu der Form einer Tür aus, an der sich im gleichen Moment ein Knauf bildete. Sonea griff danach und öffnete; die Tür schwang nach außen auf und verschwand. Ein Abgrund schwarzer Dunkelheit breitete sich vor ihr aus, und in dieser Dunkelheit hing die Lichtkugel, die ihre Kraft war.

Jetzt tritt ein, hinein in deine Kraft.

Sonea erstarrte. Sie sollte in den Abgrund treten?

Du musst in deine Kraft gehen. Tritt in ihren Mittelpunkt.

Aber sie ist so weit weg! So weit kann ich nicht gehen.

Natürlich kannst du das. Es ist deine Kraft. Sie ist so weit entfernt, wie du es wünschst, und du kannst so weit gehen, wie du zu gehen wünscht.

Aber was ist, wenn sie mich verbrennt?

Das wird nicht geschehen. Es ist deine Kraft.

Sonea blieb zaudernd am Rand der Tür stehen, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat hindurch.

Es war ein Gefühl, als dehne sie sich aus, dann schwoll die weiße Kugel an, und eine Woge der Erregung durchflutete Sonea, als sie hineintrat. Plötzlich war sie schwerelos, schwebte in einem weißen Nebel aus Licht. Energie strömte durch sie hindurch.

Verstehst du?

Ich verstehe. Es ist wunderbar. Warum hat Rothen mir das nicht gezeigt?

Du wirst bald wissen, warum. Ich möchte, dass du dich ausdehnst. Greife aus und spüre all die Kraft, die dir gehört. Die Visualisierung ist ein nützliches Instrument, aber jetzt musst du darüber hinausgehen. Du musst deine Kraft mit allen Sinnen kennen lernen.

Sonea gehorchte, bevor Akkarin seine Erklärung beendet hatte. Es war einfach, ihre Sinne auszustrecken, wenn sie von nichts als weißem Licht umgeben war.

Während sie sich ihrer Kraft zunehmend bewusst wurde, mischte sich auch eine stärkere Wahrnehmung ihres Körpers hinein. Zuerst befürchtete sie, dass ihre Konzentration nachlassen würde, wenn ihr die körperliche Welt bewusst wurde. Dann begriff sie, dass ihre Kraft ihr Körper war. Diese Kraft existierte nicht in irgendeinem Abgrund in ihrem Geist. Sie strömte durch alle Gliedmaßen, Knochen und Adern in ihr.

Ja. Jetzt konzentriere dich auf deine rechte Hand und auf das, was dahinter liegt.

Zuerst sah sie es nicht, aber dann erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Es war eine Öffnung, ein flüchtiger Blick auf etwas, das jenseits ihrer selbst lag. Sie konzentrierte sich darauf und spürte, dass dahinter etwas Fremdartiges lag.

Konzentriere dich auf dieses Fremde, und dann tust du das.

Er sandte ihr einen Gedanken, der zu eigenartig für Worte war. Es war, als träte sie in Takans Körper ein, nur dass sie sich immer noch in ihrem eigenen befand. Sie war sich beider Körper bewusst.

Nimm die Energie in seinem Körper wahr. Ziehe ein wenig davon in deinen eigenen Körper hinein.

Mit einem Mal begriff sie, dass Takan über eine große Quelle von Kraft verfügte. Er war stark, stellte sie fest, beinahe so stark wie sie selbst. Doch sein Geist schien nicht mit dieser Energie verbunden zu sein, als sei er sich der eigenen Kraft nicht bewusst.

Aber sie war sich dieser Kraft bewusst. Und durch die Öffnung in seiner Haut hatte sie eine Verbindung zu dieser Kraft. Es war einfach, sie aus seinem Körper in ihren eigenen zu leiten. Sie spürte, dass sie ein wenig stärker wurde.

Plötzlich verstand sie.

Jetzt hör auf.

Sie ließ ihren Willen schwinden und spürte, wie das Rinnsal von Energie verebbte.

Beginne von Neuem.

Wieder zog sie Kraft durch die Öffnung. Nur ein träges Rinnsal von Magie. Sie fragte sich, wie es wäre, wenn sie sich Takans gesamte Kraft einverleibt und ihre eigene Stärke verdoppelt hätte. Erregend vielleicht.

Aber was würde sie damit tun? Gewiss brauchte sie nicht doppelt so stark zu sein, wie sie es ohnehin war. Während des Unterrichts in der Universität erschöpfte sie nicht einmal ihre eigene Kraft.

Halt.

Sonea gehorchte. Als Akkarin die Hände von ihren Schläfen sinken ließ, schlug sie die Augen wieder auf.

»Gut«, sagte er. »Du kannst Takan jetzt heilen.«

Sonea blickte auf Takans Arm hinab, dann konzentrierte sie sich. Die Schnittwunde verheilte schnell, und ihr Bewusstsein seines Körpers und seiner Macht verblasste. Der Diener schnitt eine Grimasse, und Soneas Herz setzte einen Schlag aus.

»Geht es dir gut?«

Er lächelte breit. »Ja, Lady Sonea. Ihr seid sehr sanft. Es ist nur so, dass das Heilen juckt.« Er sah zu Akkarin auf und wurde wieder ernst. »Sie wird eine würdige Verbündete sein, Meister.«

Akkarin antwortete nicht. Als Sonea sich umdrehte, sah sie, dass er sich dem Bücherschrank zugewandt hatte und mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn dastand. Als er ihren Blick spürte, drehte er sich zu ihr um. Seine Miene war undeutbar.

»Ich gratuliere dir, Sonea«, sagte er sanft. »Du bist jetzt eine schwarze Magierin.«

Sie blinzelte überrascht. »Das ist alles? So einfach ist das?«

Er nickte. »Ja. Das Wissen, wie man binnen eines Augenblicks tötet, gelehrt binnen eines Augenblicks. Von heute an darfst du niemals wieder einen anderen in deinen Geist einlassen. Ein einziger unkontrollierter Gedanke würde genügen, um dieses Geheimnis einem anderen Magier zu offenbaren.«

Sie blickte auf den winzigen Blutfleck auf ihrer Hand, und ein Frösteln überlief sie.

Ich habe soeben schwarze Magie praktiziert, dachte sie. Es gibt kein Zurück. Jetzt nicht. Nie mehr.

Takan musterte sie eingehend. »Bedauert Ihr irgendetwas, Lady Sonea?«

Sie holte tief Luft, dann atmete sie langsam aus. »Mein Bedauern ist nicht annähernd so groß, wie es wäre, sollte die Gilde vernichtet werden, obwohl ich das hätte verhindern können. Aber ich… ich hoffe, dass ich diese Magie niemals werde benutzen müssen.« Sie lächelte schief und sah Akkarin an. »Das würde bedeuten, dass der Hohe Lord den Tod gefunden hätte, und ich habe erst vor kurzem aufgehört, mir zu wünschen, dass das geschehen möge.«

Akkarin zog die Augenbrauen hoch. Dann brach Takan in lautes Gelächter aus.

»Das Mädchen gefällt mir, Meister«, sagte er. »Ihr habt eine gute Wahl getroffen, als Ihr sie zu Eurem Schützling gemacht habt.«

Akkarin prustete leise und ließ die Arme sinken. »Du weißt sehr wohl, dass ich überhaupt keine Wahl getroffen habe, Takan.«

Er trat auf den Tisch zu und betrachtete die Dinge, die darauf lagen.

»Also, Sonea, ich möchte, dass du ein jedes dieser lebenden Dinge auf dem Tisch untersuchst und feststellst, wie sich die Kunst, die ich dich gerade gelehrt habe, darauf anwenden ließe. Und dann solltest du noch einige weitere Bücher lesen.«

12 Der Preis tödlicher Geheimnisse

Rothen stand auf, schob eine der Fensterblenden beiseite und seufzte. Der Himmel zeigte in Richtung Sonnenaufgang bereits das erste, schwache Licht. Die Dämmerung hatte noch nicht wirklich begonnen, und er war bereits hellwach.

Er blickte zur Residenz des Hohen Lords am Waldrand hinüber. Schon bald würde Sonea aufstehen und sich auf den Weg zu den Bädern machen.

Während der vergangenen Woche hatte er sie genau beobachtet. Obwohl er sie nicht noch einmal mit Akkarin gesehen hatte, war doch unzweifelhaft, dass sich in ihrem Verhalten etwas geändert hatte.

Ihr Schritt verkündete neues Selbstbewusstsein. In der Mittagspause saß sie im Garten und lernte, was Rothen die Möglichkeit gab, sie von den Fenstern der Universität aus zu beobachten. Während der letzten Woche war sie leicht abzulenken gewesen. Häufig blieb sie stehen und sah sich mit einem besorgten Stirnrunzeln um. Gelegentlich starrte sie ins Leere, und in solchen Momenten war ihre Miene grimmig. Wenn das geschah, wirkte sie so erwachsen, dass Rothen sie kaum wiedererkannte.

Aber den größten Grund zur Sorge lieferte sie Rothen, wenn sie zur Residenz des Hohen Lords hinüberschaute. Dann lag stets ein nachdenklicher Ausdruck auf ihrem Gesicht, aber am meisten erschreckte ihn das, was in ihren Zügen fehlte: Die alte Abneigung und die Furcht waren verschwunden.

Er schauderte. Wie konnte sie Akkarins Haus betrachten, ohne zumindest ein gewisses Unbehagen zu verraten? Früher war es so gewesen. Warum jetzt nicht mehr?

Rothen trommelte mit den Fingern auf das Fenstersims. Anderthalb Jahre hatte er Akkarins Befehl gehorcht und sich von Sonea fern gehalten. Er hatte nur in Situationen mit ihr gesprochen, in denen es aufgrund der Anwesenheit anderer seltsam erschienen wäre, wenn er es nicht getan hätte.

Ich habe mich so lange an seine Anweisungen gehalten. Gewiss würde er ihr nichts antun, wenn ich versuchen würde, nur ein einziges Mal allein mit ihr zu sprechen.

Es war inzwischen ein wenig heller geworden, und die Gärten zeichneten sich in dem ersten Licht bereits deutlich ab. Er brauchte nur dort hinunterzugehen und sie auf dem Weg zu den Bädern abzufangen.

Er wandte sich vom Fenster ab und begann sich anzukleiden. Erst als er an der Tür stand, hielt er noch einmal inne und dachte nach. Einige wenige Fragen, überlegte er. Das ist alles. Er wird uns wahrscheinlich nicht einmal bemerken.

Der Flur im Magierquartier lag noch still und verlassen da, und das Klacken von Rothens Stiefeln auf dem gefliesten Boden schien im ganzen Gebäude widerzuhallen. Er eilte die Treppe hinunter auf den Eingang zu. Draußen wandte er sich in Richtung der Gärten.

Er beschloss, in einem der kleinen Pavillons dicht am Hauptweg zu warten. Von der Residenz des Hohen Lords aus war er dort nicht zu sehen. Zwar konnte man aus dem obersten Stockwerk der Universität den größten Teil des Gartens beobachten, aber zu dieser frühen Stunde würde dort noch niemand sein.

Eine halbe Stunde später hörte er leichte Schritte näher kommen. Durch die Bäume erkannte er Sonea und seufzte vor Erleichterung. Sie war spät dran, aber sie hielt sich noch immer an ihren gewohnten Tagesablauf. Dann begann sein Herz schneller zu schlagen. Was, wenn sie sich weigerte, mit ihm zu reden? Er erhob sich und ging ihr entgegen.

»Sonea.«

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte.

»Rothen!«, flüsterte sie. »Was tut Ihr so früh am Morgen hier draußen?«

»Ich habe natürlich versucht, dich abzufangen.«

Sie lächelte beinahe, dann kehrte eine vertraute Wachsamkeit in ihre Züge zurück, und sie blickte zur Universität hinauf.

»Warum?«

»Ich will wissen, wie es dir geht.«

Sie zog die Schultern hoch. »Ganz gut. Es ist so viel Zeit vergangen. Ich habe mich daran gewöhnt – und ich habe einiges Geschick darin entwickelt, ihm aus dem Weg zu gehen.«

»Du verbringst jetzt jeden Abend in seiner Residenz.«

Ihr Blick wurde unstet. »Ja.« Sie zögerte, dann lächelte sie schwach. »Es ist gut zu wissen, dass Ihr mich im Auge behaltet, Rothen.«

»Nicht so genau, wie ich es gern täte.« Rothen holte tief Luft. »Ich muss dich etwas fragen. Versucht er… hat er dich dazu gezwungen, etwas zu tun, das du nicht tun willst, Sonea?«

Sie blinzelte, dann runzelte sie die Stirn und senkte den Blick. »Nein. Abgesehen davon, dass er mich zu seiner Novizin gemacht hat und ich so hart arbeiten muss.«

Er wartete, bis sie wieder aufsah. Etwas an der Art, wie sie die Lippen bewegte, kam ihm vertraut vor. Es war so lange her, aber es erinnerte ihn daran, wie sie…

…wie sie beinahe lächelt, wenn sie die Wahrheit sagt, obwohl sie weiß, dass es nicht die ganze Wahrheit ist!

Hastig dachte er noch einmal über seine Frage nach. »Hat er dich gebeten, etwas zu tun, von dem ich nicht wollen würde, dass du es tust?«

Wieder zuckten ihre Mundwinkel. »Nein, Rothen. Er hat nichts dergleichen getan.«

Rothen nickte, obwohl ihre Antwort ihn nicht beruhigt hatte. Er konnte seine Frage nicht wieder und wieder neu formulieren. Vielleicht hat Ezrille ja Recht, dachte er. Vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen.

Sonea lächelte traurig. »Ich warte auch die ganze Zeit darauf, dass etwas Schlimmes passiert«, sagte sie, »aber ich lerne jeden Tag ein wenig mehr. Falls es jemals zu einem Kampf kommen sollte, wird es nicht gar so leicht sein, mich zu besiegen.« Sie schaute zur Residenz des Hohen Lords hinüber, dann trat sie einen Schritt zurück. »Aber wir sollten niemandem Grund geben, jetzt schon einen Kampf anzuzetteln.«

»Nein«, pflichtete er ihr bei. »Pass auf dich auf, Sonea.«

»Das tue ich.« Sie wandte sich zum Gehen, zögerte dann jedoch und blickte über ihre Schulter. »Und Ihr gebt Acht auf Euch, Rothen. Macht Euch keine Sorgen um mich. Nun ja, macht Euch jedenfalls keine zu großen Sorgen.«

Er brachte ein Lächeln zustande. Während er ihr nachsah, schüttelte er den Kopf und seufzte. Sie verlangte das Unmögliche.


Als Sonea in die Arena trat, bemerkte sie, wie tief die Sonne bereits stand. Es war ein langer Tag gewesen, aber der Unterricht würde bald vorbei sein. Sie brauchte nur noch diese letzte Runde durchzustehen.

Während die Novizen, die Balkan ausgewählt hatte, ihre Plätze einnahmen, wartete sie. Ein Ring von zwölf Jungen und Mädchen bildete sich um sie herum, alle ihr zugewandt. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und sah jedem ihrer Schulkameraden der Reihe nach in die Augen. Ein jeder erwiderte ihren Blick voller Zuversicht, zweifellos beruhigt durch die Tatsache, dass sie so viele waren. Sonea wünschte, sie hätte die gleiche Zuversicht empfunden. Ihre Gegner kamen alle aus dem vierten und fünften Jahrgang, und die meisten von ihnen bevorzugten die Disziplin der Kriegskünste.

»Beginnt«, rief Balkan.

Alle zwölf Novizen griffen gleichzeitig an. Sonea riss einen starken Schild hoch und sandte ihrerseits einen Regen von Kraftzaubern aus. Die Novizen verschmolzen ihre Schilde zu einem einzigen.

Das würden sie nicht tun, wenn sie Ichani wären. Sonea runzelte die Stirn und dachte an Akkarins Lektionen zurück.

»Die Ichani verstehen sich nicht gut darauf, zusammen zu kämpfen. Sie waren jahrelang Gegner und haben einander misstraut. Nur wenige wissen, wie man einem anderen seine Kraft leiht, um mit der Energie mehrerer Magier eine Barriere zu errichten oder mit vereinten Kräften zu kämpfen.«

Hoffentlich würde sie niemals gegen Ichani kämpfen müssen. Sie brauchte sich nur ihren Spionen zu stellen und auch das nur dann, wenn Akkarin starb. Es sei denn, dieser letzte Spion – die Frau – war tatsächlich eine Ichani. Aber Akkarin würde sich um sie kümmern.

»Diese Spione haben eine tief verwurzelte Angst vor den Magiern der Gilde, trotz allem, was Kariko ihnen erzählt. Wenn sie töten, dann folgen sie einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan und führen die Tat so aus, dass sie damit nicht die Aufmerksamkeit der Gilde erregen. Sie mehren ihre Stärke nur langsam. Wenn du einem von ihnen gegenüberstehst und gut vorbereitet bist, solltest du in der Lage sein, deinen Gegner schnell und ohne Aufhebens zu besiegen.«

Die Novizen verstärkten ihre Angriffe und zwangen Sonea, sich wieder auf den Kampf zu konzentrieren. Sie setzte sich entsprechend zur Wehr. Jeder einzelne von ihnen wäre ihr unterlegen gewesen. Gemeinsam würden sie sie zu guter Letzt besiegen können. Aber sie brauchte nur den inneren Schild eines einzelnen Novizen zu treffen, um diese Runde zu gewinnen.

Es stand viel mehr auf dem Spiel als ihr Stolz. Sie musste siegen, und zwar schnell, um ihre Kraft zu schonen.

Während der vergangenen Woche hatte sie Akkarin jeden Abend den größten Teil ihrer Stärke gegeben. In der Stadt sprach man jetzt überall von den Morden, da jeden Tag neue Opfer gefunden wurden. Es war schwer zu sagen, wie viel Stärke die Sachakanerin in dieser Zeit gesammelt hatte. Akkarin dagegen hatte nur Sonea und Takan, die ihm allabendlich Energie spendeten.

Sie durfte sich in diesem Kampf nicht erschöpfen.

Das würde allerdings nicht einfach werden. Ihre Gegner hatten offensichtlich viel Übung darin, einen gemeinsamen Schild zu bilden. Sonea dachte an die ersten Versuche, die ihre eigene Klasse in dieser Art des Kämpfens gemacht hatte. Bevor sie nicht alle die richtigen Reaktionen auf verschiedene Arten von Angriffen gelernt hatten und sich darauf verstanden, gemeinsam zu handeln, geriet man leicht in Verwirrung.

Also sollte ich etwas Unerwartetes tun. Etwas, das ihnen noch nie zuvor begegnet ist.

Wie zum Beispiel das, was sie an dem Abend vor so langer Zeit getan hatte, als Regin und seine Freunde sie im Wald angriffen. Tagsüber konnte sie diese Novizen jedoch nicht ebenso gründlich mit einem hellen Licht blenden. Aber wenn sie etwas Ähnliches tat, so dass die anderen nicht wussten, wo sie war, und sie sich hinter einen von ihnen schleichen konnte und …

Sie unterdrückte ein Lächeln. Ihr Schild musste nicht durchsichtig sein.

Es bedurfte nur eines knappen Befehls, und ihr Schild verwandelte sich in eine Kugel aus weißem Licht. Der Nachteil davon war, wie Sonea verspätet erkannte, dass sie die anderen ebenfalls nicht sehen konnte.

Und jetzt zu der Täuschung. Nachdem sie noch mehrere Schilde wie ihren ersten geschaffen hatte, sandte sie sie in verschiedene Richtungen aus. Gleichzeitig setzte sie sich in Bewegung und nahm einen Schild mit.

Sie spürte, wie der Angriff der Novizen zusammenbrach, und musste sich eine Hand auf den Mund legen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen, während sie sich vorstellte, welchen Anblick die Arena wohl bieten mochte, mit lauter großen, weißen Blasen, die umherschwebten. Sonea konnte jedoch nicht zurückschlagen, sonst hätten die anderen erfahren, in welchem Schild sie sich befand.

Als sich die Schilde ihren Gegnern näherten, spürte sie, wie sie auf die Barriere der anderen Novizen trafen. Sie hielt inne und ließ alle Schilde bis auf einen ein wenig zurückfallen. Die Novizen begannen, den einen Schild, der sich ihnen weiter näherte, anzugreifen. Als Nächstes ließ sie einen der unbeweglichen Schilde flackern und verschwinden: eine weitere Ablenkung.

Nachdem sie den Schild um sich herum wieder durchsichtig hatte werden lassen, fand sie sich in der Nähe dreier Novizen wieder. Sie griff nach ihrer Magie und attackierte einen von ihnen mit einer wilden Salve von Kraftzaubern. Der Junge zuckte zusammen, und seine Nachbarn fuhren zu Sonea herum, aber die übrigen Novizen waren immer noch zu abgelenkt durch die anderen Schilde, um zu begreifen, dass ihre Gefährten Hilfe brauchten.

Der gemeinsame Schild ihrer Gegner geriet ins Wanken und brach vollends zusammen.

»Halt!«

Sonea wandte sich zu Balkan um. Sie blinzelte überrascht, als sie sah, dass er lächelte.

»Eine interessante Strategie, Sonea«, sagte er. »Wahrscheinlich keine, die wir in einem echten Kampf benutzen würden, aber gewiss sehr wirksam in der Arena. Die Runde geht an dich.«

Sonea verneigte sich. Sie wusste, dass ihr multipler Schild ihr in seiner nächsten Unterrichtsstunde nicht mehr das Geringste nützen würde. Der Gong der Universität signalisierte das Ende der Stunde, und Sonea hörte einige der Novizen seufzen. Sie lächelte, aber weniger über die offenkundige Erleichterung ihrer Gefährten als vor Dankbarkeit darüber, dass sie die Runde hatte beenden können, ohne zu viel Kraft zu verbrauchen.

»Der Unterricht ist vorbei«, erklärte Balkan. »Ihr dürft jetzt gehen.«

Die Novizen verneigten sich und verließen die Arena. Sonea sah zwei Magier hinter dem Ausgang stehen. Als sie die beiden erkannte, beschleunigte sich ihre Atmung ein wenig: Akkarin und Lorlen.

Sie folgte den anderen Novizen aus der Arena. Die älteren Schüler verneigten sich, als sie an den höheren Magiern vorüberkamen. Akkarin beachtete sie nicht, sondern winkte Sonea zu sich heran.

»Hoher Lord.« Sie verneigte sich. »Administrator.«

»Du hast deine Sache gut gemacht, Sonea«, sagte Akkarin. »Du hast die Kraft deiner Gegner abgeschätzt, ihre Schwächen erkannt und dir einen originellen Plan zurechtgelegt.«

Sie blinzelte überrascht, dann spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Vielen Dank.«

»Und ich würde Balkans Bemerkung nicht zu ernst nehmen«, fügte er hinzu. »In einem echten Kampf benutzt ein Magier jede Strategie, die funktioniert.«

Lorlen warf Akkarin einen durchdringenden Blick zu. Er sah so aus, als wünschte er sich verzweifelt, eine Frage zu stellen, wagte es jedoch nicht. Oder vielleicht sind es eher ein Dutzend Fragen, überlegte Sonea. Mitgefühl für den Administrator durchzuckte sie, bis ihr der Ring wieder einfiel, den er trug.

Dieser Ring ermöglichte es Akkarin, alles wahrzunehmen, was Lorlen sah, fühlte und dachte. War Lorlen sich der Macht des Rings bewusst? Wenn ja, musste er das Gefühl haben, von seinem Freund verraten worden zu sein. Sonea schauderte. Wenn Akkarin Lorlen doch nur die Wahrheit hätte sagen können.

Aber wenn er es täte, würde er Lorlen dann auch verraten, dass sie freiwillig schwarze Magie erlernte? Bei diesem Gedanken wurde ihr sehr unbehaglich zumute.

Akkarin ging auf die Universität zu. Sonea und Lorlen folgten ihm.

»Sobald Botschafter Dannyl mit dem wilden Magier hier eintrifft, wird die Gilde das Interesse an den Morden verlieren, Lorlen«, erklärte Akkarin.

Sonea hatte von den Rebellen gehört, die Dannyl gefangen genommen hatten. Die Nachricht von dem gesetzlosen Magier, den er in die Gilde bringen wollte, hatte sich unter den Novizen schneller verbreitet als der Winterhusten.

»Mag sein«, erwiderte Lorlen, »aber unsere Magier werden sie nicht vergessen. Niemand vergisst eine Mordserie wie diese. Es würde mich nicht überraschen, wenn irgendjemand verlangte, dass die Gilde etwas dagegen unternehmen solle.«

Akkarin seufzte. »Als würde der Besitz von Magie es uns leichter machen, in einer Stadt mit vielen tausend Menschen eine einzelne Person zu finden.«

Lorlen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann blickte er zu Sonea hinüber und schien sich eines Besseren zu besinnen. Er schwieg, bis sie die Treppe der Universität erreichten, dann wünschte er ihnen eine gute Nacht und eilte davon. Akkarin machte sich auf den Weg zur Residenz.

»Dann haben die Diebe die Spionin also noch nicht gefunden?«, fragte Sonea leise.

Akkarin schüttelte den Kopf.

»Dauert das immer so lange?«

Er drehte sich zu ihr um und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du brennst also darauf, uns kämpfen zu sehen, ja?«

»Ob ich darauf brenne?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht. Ich muss nur immer daran denken, dass sie, je länger sie dort draußen ist, umso mehr Menschen töten wird.« Sie hielt inne. »Meine Familie lebt nördlich der Mauer.«

Akkarins Miene wurde ein wenig weicher. »Ja. Allerdings leben in den Hüttenvierteln viele tausend Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen deiner Verwandten töten wird, ist gering, vor allem, wenn sie nachts im Haus bleiben.«

»Das tun sie.« Sonea seufzte. »Aber ich mache mir Sorgen um Cery und meine alten Freunde.«

»Ich bin davon überzeugt, dass dein Freund auf sich aufpassen kann.«

Sie nickte. »Da habt Ihr wahrscheinlich Recht.« Als sie an den Gärten vorbeikamen, dachte Sonea an ihre morgendliche Begegnung mit Rothen. Gewissensbisse durchzuckten sie. Sie hatte ihn nicht direkt angelogen. Akkarin hatte sie niemals gebeten, schwarze Magie zu erlernen.

Aber sie fühlte sich schrecklich, wenn sie daran dachte, was Rothen empfinden würde, wenn er die Wahrheit erführe. Er hatte so viel für sie getan, und manchmal schien es, als hätte sie ihm nur Ärger eingetragen. Vielleicht war es gut, dass sie getrennt worden waren.

Und sie musste widerstrebend zugeben, dass Akkarin mehr für ihre Ausbildung getan hatte, als Rothen es je vermocht hätte. Wenn Akkarin sie nicht immer wieder angetrieben hätte, wäre sie niemals zu solchen Leistungen in den Kriegskünsten fähig gewesen. Jetzt sah es so aus, als würde sie diese Fähigkeiten einsetzen müssen, um gegen die Spione zu kämpfen.

Als sie die Residenz erreichten und die Tür aufschwang, hielt Akkarin inne und blickte auf. »Ich glaube, Takan wartet auf uns.« Er trat ein und ging auf den Weinschrank zu. »Geh du schon nach oben voraus.«

Als sie die Treppe hinaufeilte, dachte sie noch einmal an Akkarins Bemerkung in der Arena. Hatte da ein Anflug von Stolz in seiner Stimme gelegen? War er mit ihr als Novizin vielleicht sogar zufrieden? Die Vorstellung hatte einen eigenartigen Reiz. Vielleicht hatte sie sich den Titel tatsächlich verdient: der Schützling des Hohen Lords.

Sie. Das Hüttenmädchen.

Sie verlangsamte ihren Schritt. Wenn sie sich vergangene Gespräche ins Gedächtnis rief, konnte sie sich nicht daran erinnern, dass er jemals Abscheu oder Verachtung über ihre Herkunft zum Ausdruck gebracht hatte. Er war bedrohlich und grausam gewesen, er hatte sie manipuliert, aber nicht ein einziges Mal hatte er sie daran erinnert, dass sie aus dem ärmsten Teil der Stadt kam.

Aber wie hätte ausgerechnet er auch auf einen anderen Menschen herabblicken können?, dachte sie plötzlich. Er selbst war schließlich einmal ein Sklave gewesen.


Das Schiff gehörte zur Flotte des elynischen Königs und war größer als die Vindo-Schiffe, auf denen Dannyl früher gereist war. Da die Schiffe weniger für den Frachttransport als dafür gedacht waren, wichtige Persönlichkeiten zu befördern, verfügten sie über einige zwar kleine, aber luxuriöse Kabinen.

Obwohl es Dannyl gelungen war, den größten Teil des Tages zu schlafen, musste er immer wieder gähnen, als er sich nun anzog. Der Diener hatte ihm einen Teller mit gebratenem Harrel und einigen raffiniert zubereiteten Gemüsesorten gebracht. Nach dem Essen fühlte sich Dannyl besser, und eine Tasse Sumi half ihm, endgültig wach zu werden.

Durch die kleinen Fenster seiner Kabine konnte er die Segel anderer Schiffe sehen, die im Licht der hereinbrechenden Abenddämmerung orangefarben leuchteten. Er verließ sein Quartier und ging durch einen langen Flur zu Farands Zelle hinüber.

Es war im Grunde gar keine Zelle. Obwohl es der kleinste und schlichteste Raum im Schiff war, war die Kabine dennoch behaglich möbliert. Dannyl klopfte an die Tür. Ein kleiner Magier mit einem runden Gesicht begrüßte ihn.

»Dann seid Ihr jetzt an der Reihe, Botschafter«, sagte Lord Barene, offenkundig erleichtert darüber, dass seine Schicht vorbei war. Er sah Dannyl an, dann schüttelte er den Kopf und murmelte etwas Unverständliches, bevor er seiner Wege ging.

Farand lag auf dem Bett. Als er Dannyl sah, lächelte er schwach. Auf einem kleinen Tisch standen zwei Teller. Aus den Harrel-Knochen, die darauf lagen, schloss Dannyl, dass die Gefangenen die gleiche Mahlzeit bekommen hatten wie er.

»Wie fühlt Ihr Euch, Farand?«

Der junge Mann gähnte. »Müde.«

Dannyl setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle. Er wusste, dass Farand nicht allzu gut schlief. Das würde ich auch nicht tun, dachte er, wenn ich befürchten müsste, dass ich in einer Woche vielleicht dem Tod ins Auge blicken muss.

Er glaubte nicht, dass die Gilde Farand hinrichten würde. Es war jedoch seit über hundert Jahren kein wilder Magier mehr entdeckt worden, und Dannyl musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, was geschehen würde. Er hätte Farand gern beruhigt, aber das kam nicht in Frage. Es wäre grausam, wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass er sich geirrt hatte.

»Womit habt Ihr Euch beschäftigt?«

»Ich habe mit Barene geredet. Oder vielmehr hat er mit mir geredet. Über Euch.«

»Ach ja?«

Farand seufzte. »Royend erzählt allen Leuten von Euch und Eurem Geliebten.«

Dannyl fröstelte. Es hatte also begonnen.

»Es tut mir leid«, fügte Farand hinzu.

Dannyl blinzelte überrascht. »Das muss es nicht, Farand. Es war Teil der Täuschung. Eine Möglichkeit, Euren Schwager dazu zu bringen, uns zu vertrauen.«

Farand runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht.«

»Nein?« Dannyl zwang sich zu einem Lächeln. »Wenn wir nach Kyralia kommen, wird der Hohe Lord es bestätigen. Es war seine Idee, dass wir uns benehmen sollten wie Liebende, damit die Rebellen glaubten, sie hätten etwas in der Hand, mit dem sie uns erpressen können.«

»Aber es ist wahr, was er erzählt«, sagte Farand leise. »Als ich Euch beide zusammen gesehen habe, war es unverkennbar. Macht Euch jedoch keine Sorgen deswegen. Ich habe allen anderen gegenüber meine Meinung zu dieser Sache für mich behalten.« Wieder gähnte er. »Und das werde ich auch weiterhin tun. Aber ich denke trotzdem, dass Ihr Euch irrt, was die Gilde betrifft.«

»Inwiefern?«

»Ihr sagt mir immer wieder, dass die Gilde stets gerecht und vernünftig sei. Aber wenn ich mir ansehe, wie die anderen Magier auf diese Neuigkeiten über Euch reagieren, bezweifle ich das zunehmend. Und es war nicht gerecht von Eurem Hohen Lord, Euch dazu zu bringen, etwas Derartiges zu offenbaren, obwohl er genau wusste, wie die anderen Magier das aufnehmen würden.« Farands Lider flatterten, und er senkte sie für einen Moment. »Ich bin so müde. Außerdem fühle ich mich nicht besonders gut.«

»Dann ruht Euch ein wenig aus.«

Der junge Mann schloss die Augen. Seine Atmung verlangsamte sich sofort, und Dannyl vermutete, dass er eingeschlafen war. Keine Gespräche heute Nacht, dachte er. Es wird eine lange Nacht werden.

Er blickte durch das Fenster zu den anderen Schiffen hinüber. Royend übte also Rache. Es spielt keine Rolle, wenn Farand glaubt, es sei die Wahrheit, sagte er sich. Wenn Akkarin bestätigt, dass das Ganze nur ein Täuschungsmanöver war, wird niemand dem Dem Glauben schenken.

Aber stimmte es, was Farand sagte? War es Unrecht von Akkarin, dass er ihn und Tayend auf solche Weise benutzt hatte? Dannyl konnte nicht länger so tun, als wüsste er nichts von Tayends wahrer Natur. Würde man von ihm erwarten, dass er Tayend in Zukunft aus dem Weg ging? Was würden die Leute sagen, wenn er es nicht tat?

Er seufzte. Er hasste es, mit dieser Furcht zu leben. Er hasste es, so tun zu müssen, als sei Tayend für ihn lediglich ein nützlicher Assistent und mehr nicht. Er gab sich jedoch keinen Illusionen hin, dass er kühn die Wahrheit eingestehen und die Einstellung der Kyralier irgendwie verändern könnte. Außerdem vermisste er Tayend schon jetzt, als hätte er einen Teil seiner selbst in Elyne zurückgelassen.

Denk an etwas anderes, befahl er sich.

Ihm kam das Buch in den Sinn, das Tayend sich von dem Dem »ausgeborgt« hatte und das jetzt in Dannyls Gepäck verstaut war. Er hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Errend. Obwohl ihm die Entdeckung des Buches bei seiner Entscheidung geholfen hatte, dass es an der Zeit sei, die Rebellen zu verhaften, war es nicht notwendig gewesen, seine Existenz zu offenbaren. Und er wollte es auch nicht tun. Indem er diese Seiten gelesen hatte, hatte er bereits das Gesetz gegen das Studium schwarzer Magie gebrochen. Er hatte die Worte über die Herstellung der »Blutsteine« oder »Blutjuwelen« noch immer im Gedächtnis …

Er dachte an den exzentrischen Dem, den er und Tayend vor einem Jahr, während ihrer zweiten Reise auf der Suche nach Informationen über die alte Magie, in den Bergen besucht hatten. In Dem Ladeiris beeindruckender Sammlung von Büchern und Artefakten hatte sich ein Ring befunden, und in die Einfassung des »Juwels« aus rotem Glas war das Symbol für hohe Magie eingeritzt gewesen. Dieser Ring ermöglichte es seinem Träger dem Dem zufolge, mit einem anderen Magier in Verbindung zu treten, ohne dass das Gespräch belauscht werden konnte. War der Stein in dem Ring einer jener Blutjuwelen?

Dannyl schauderte. Hatte er einen Gegenstand schwarzer Magie in Händen gehalten? Der Gedanke ließ ihn frösteln. Er hatte diesen Ring sogar übergestreift. Oder war es gar einer der »Speichersteine« oder »Speicherjuwelen«, die Magie auf spezielle Art binden und freisetzen konnten?

Er und Tayend hatten eine alte Ruinenstadt in den Bergen über Ladeiris Haus aufgesucht. Dort hatten sie einen verborgenen Tunnel gefunden, in dessen Wand die Worte »Höhle der Höchsten Strafe« eingemeißelt waren. Dannyl war dem Tunnel gefolgt und in eine große Höhle gelangt, in dessen Deckengewölbe unzählige Steine geglitzert hatten. Diese Steine hatten ihn mit Magie angegriffen, und er hatte nur mit knapper Not überlebt.

Seine Haut begann zu kribbeln. Waren die in die Decke jener Kuppel eingelassenen Edelsteine solche Speicherjuwelen? War es das, was Akkarin meinte, als er gesagt hatte, es gebe politische Gründe, um die Existenz der Kammer geheim zu halten? Sie war ein Raum voller Artefakte schwarzer Magie.

Akkarin hatte auch etwas darüber gesagt, dass die Höhle an Kraft verlöre. Offenkundig war ihm klar, worum es sich handelte. Es war die Aufgabe des Hohen Lords, derartige Magie zu erkennen und alles Notwendige zu veranlassen. Was ein Grund mehr war, warum das Buch fürs Erste geheim bleiben musste. Dannyl würde es Akkarin übergeben, sobald er in Imardin ankam.

Farand stieß im Schlaf ein leises Stöhnen aus. Dannyl blickte auf und runzelte die Stirn. Der junge Mann war bleich und wirkte krank. Die Strapazen und Ängste seiner Gefangenschaft forderten ihren Tribut. Dann sah Dannyl näher hin. Farands Lippen war dunkler geworden. Sie waren fast blau …

Dannyl trat an das Bett, packte Farand an der Schulter und schüttelte ihn. Der Mann öffnete die Lider, aber sein Blick blieb leer.

Dannyl legte ihm eine Hand auf die Stirn, schloss die Augen und streckte seinen Geist aus. Als er das Chaos im Körper des anderen spürte, sog er scharf die Luft ein.

Jemand hatte ihn vergiftet.

Dannyl griff nach seiner Magie und sandte heilende Energie aus, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Zuerst kümmerte er sich um die Organe, die am schwersten betroffen waren. Aber während das Gift sich langsam weiter im Körper ausbreitete, dauerte der Verfall an.

Das geht über meine Kraft, dachte Dannyl verzweifelt. Ich brauche einen Heiler.

Er dachte an die beiden anderen Magier auf dem Schiff. Keiner von ihnen war Heiler. Sie waren beide Elyner. Mit einem Mal kam ihm Dem Maranes Warnung in den Sinn, dass der König ihn eher töten lassen würde als zuzulassen, dass durch ihn die Gilde von seinen, des Königs, Geheimnissen erfuhr.

Barene war hier gewesen, als die Diener das Essen gebracht hatten. Hatte er Farand das Gift gegeben? Er beschloss, nicht nach ihm zu rufen, für den Fall, dass es sich tatsächlich so verhielt. Der andere Magier, Lord Hemend, stand dem elynischen König sehr nahe. Dannyl vertraute keinem der beiden Männer.

Er hatte keine andere Wahl. Er schloss die Augen.

Vinara!

Dannyl?

Ich brauche Eure Hilfe. Jemand hat den »Wilden« vergiftet.

Die beiden anderen Magier würden dieses Gespräch mitanhören, aber das ließ sich nicht verhindern. Dannyl belegte die Tür mit einem magischen Schloss. Obwohl dieses Hindernis einen Magier nicht lange aufhalten würde, brauchte er auf diese Weise keine Überraschungen oder Störungen durch Nichtmagier zu befürchten.

Das Gefühl von Lady Vinaras Persönlichkeit wurde stärker, und Dannyl nahm Sorge und Eile wahr.

Beschreibt mir die Symptome.

Dannyl zeigte ihr ein Bild Farands, dessen Haut jetzt schneeweiß war und dessen Atem in gequälten Stößen ging. Dann sandte er seinen Geist wieder in den Körper des Mannes und übermittelte Vinara seine Eindrücke.

Ihr müsst zuerst das Gift austreiben, bevor Ihr Euch um die Schäden kümmert, die es bereits angerichtet hat.

Dannyl befolgte ihre Anweisungen und begann einen quälend komplizierten Prozess. Zuerst brachte er Farand dazu, sich zu übergeben. Dann griff er nach einem der Essmesser, säuberte es und schärfte es mit Magie, bevor er eine Ader in Farands Arm aufschnitt. Vinara erklärte ihm, was er tun musste, damit die versagenden Organe des Mannes weiterarbeiteten. Dann kämpfte er gegen die Wirkung des Giftes an und ermutigte den Körper des Kranken, rasch frisches Blut zu produzieren, während das alte, giftverseuchte langsam abfloss.

Es war eine große Strapaze für Farands Körper. Heilende Magie konnte die Nährstoffe nicht ersetzen, die vonnöten waren, um Blut und Gewebe zu bilden. Dazu musste er Fettreserven und Muskelgewebe angreifen. Wenn Farand erwachte – falls er erwachte -, würde er kaum kräftig genug sein, um zu atmen.

Als Dannyl alles in seiner Macht Stehende getan hatte, öffnete er die Augen, und als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde, stellte er fest, dass jemand gegen die Tür hämmerte.

Wisst Ihr, wer das getan hat?, fragte Vinara.

Nein. Aber ich habe eine Ahnung, warum. Ich könnte Nachforschungen anstellen…

Überlasst die Nachforschungen den anderen. Ihr müsst bei dem Patienten bleiben und ihn bewachen.

Ich vertraue ihnen nicht. Da. Er hatte es ausgesprochen.

Trotzdem tragt Ihr jetzt vor allem die Verantwortung für Farand. Ihr könnt ihn nicht gleichzeitig beschützen und nach dem Schuldigen suchen. Seid wachsam, Dannyl.

Sie hatte natürlich Recht. Dannyl erhob sich von dem Bett, straffte die Schultern und bereitete sich auf das Gespräch mit demjenigen vor, der draußen an die Tür klopfte – wer immer es sein mochte.

13 Die Mörderin

Als Sonea den unterirdischen Raum betrat, fielen ihr auf dem Tisch verschiedene Gegenstände auf. Eine Schale enthielt einige Stücke zerbrochenen Glases. Daneben fanden sich eine verbogene silberne Gabel, eine Schüssel und ein Tuch. Außerdem stand auf dem Tisch das Holzkistchen mit Akkarins Messer.

Seit zwei Wochen praktizierte sie nun schwarze Magie. Sie hatte an Geschicklichkeit gewonnen und konnte jetzt sehr schnell eine große Menge Kraft aufnehmen oder nur ein klein wenig Kraft durch den winzigsten Nadelstich.

Sie hatte Energie von kleinen Tieren, Pflanzen und sogar von Wasser bezogen. Die Gegenstände auf dem Tisch waren heute Abend andere, und sie fragte sich, was Akkarin ihr als Nächstes beizubringen beabsichtigte.

»Guten Abend, Sonea.«

Sie blickte auf. Akkarin beugte sich über die Truhe. Sie stand offen, und Sonea konnte mehrere alte Bücher darin erkennen. Mit einem von ihnen beschäftigte sich Akkarin gerade. Sonea verbeugte sich.

»Guten Abend, Hoher Lord.«

Er schloss das Buch, dann durchquerte er den Raum und legte es neben die anderen Dinge auf den Tisch.

»Hast du die Chroniken über den Sachakanischen Krieg zu Ende gelesen?«

»Fast. Es ist schwer zu glauben, dass der Gilde ein so großer Teil ihrer Geschichte unzugänglich werden konnte.«

»Diese Dinge sind ihr nicht unzugänglich geworden«, korrigierte er sie. »Sie hat sie ausgemerzt. Jene Geschichtsbücher, die nicht vernichtet wurden, wurden umgeschrieben, so dass sich kein Hinweis auf höhere Magie mehr darin fand.«

Sonea schüttelte den Kopf. Wenn sie sich vor Augen führte, wie viel Mühe die Gilde einst darauf verwandt hatte, alle Hinweise auf schwarze Magie zu tilgen, begriff sie, warum Akkarin es nicht riskieren wollte, der gegenwärtigen Gilde die Wahrheit über seine Vergangenheit zu sagen. Trotzdem konnte sie sich noch immer nicht vorstellen, dass Lorlen und die höheren Magier so blind auf schwarze Magie reagieren würden, wenn sie wüssten, warum Akkarin sie erlernt hatte, oder wenn sie die Gefahr verstünden, die ihnen durch die Ichani drohte.

Ich bin diejenige, die sie verdammen würden, dachte sie plötzlich, denn ich habe die schwarze Magie freiwillig gelernt.

»Heute Abend werde ich dir zeigen, wie man Blutjuwelen macht«, erklärte Akkarin.

Blutjuwelen? Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie begriff, wovon er sprach. Sie würde ein Juwel machen wie das aus dem Zahn des Spions.

»Ein Blutjuwel gestattet es einem Magier, wahrzunehmen, was immer der Träger sieht und hört – und denkt«, fuhr Akkarin fort. »Wenn der Träger nichts sehen kann, kann der Schöpfer des Rings ebenfalls nichts sehen. Außerdem leitet das Juwel die Gedankenrede ausschließlich zu seinem Schöpfer, so dass niemand Gespräche zwischen dem Schöpfer des Rings und seinem Träger belauschen kann.

Das Ganze hat jedoch seine Grenzen«, warnte er sie. »Der Schöpfer ist ständig mit dem Juwel verbunden. Ein Teil seines Geistes empfängt jederzeit Bilder und Gedanken von dem Träger, und das kann ziemlich irritierend sein. Nach einer Weile lernt man allerdings, diese Dinge auszublenden. Wenn ein solcher Ring erst gefertigt wurde, kann die Verbindung zu seinem Schöpfer nur noch durch die Zerstörung des Juwels unterbrochen werden. Wenn der Träger des Rings den Stein also verliert und ein anderer ihn findet und überstreift, wird der Schöpfer sich mit der Irritation eines unerwünschten Geistes in seinem eigenen abfinden müssen.« Er lächelte schwach. »Takan hat mir einmal die Geschichte eines Ichani erzählt, der einen Sklaven an einen Pfahl gebunden hatte, damit er von einem wilden Limek gefressen wurde. Er hatte dem Mann ein Blutjuwel übergestreift, damit er das Geschehen beobachten konnte. Eins der Tiere hat das Juwel gefressen – seine Gedanken haben den Ichani mehrere Tage lang verfolgt und schier in den Wahnsinn getrieben.«

Dann verblasste sein Lächeln, und ein geistesabwesender Ausdruck trat in seine Züge. »Aber die Ichani verstehen sich darauf, Magie zu grausamen Zwecken zu benutzen. Dakova hat einmal aus dem Blut eines Mannes ein Juwel gemacht und diesen Mann dann gezwungen, zuzusehen, wie sein Bruder gefoltert wurde.« Er schnitt eine Grimasse. »Glücklicherweise sind Blutjuwelen aus Glas leicht zu zerstören. Es gelang dem Bruder, das Juwel zu zerschmettern.«

Er massierte sich die Schläfen und runzelte die Stirn. »Da diese Verbindung mit einem anderen Geist irritierend sein kann, ist es keine gute Idee, allzu viele Blutjuwelen zu machen. Ich habe zur Zeit drei. Weißt du, wer sie trägt?«

Sonea nickte. »Lorlen.«

»Ja.«

»Und… Takan?« Sie runzelte die Stirn. »Aber er trägt keinen Ring.«

»Das stimmt. Takans Juwel ist verborgen.«

»Und wer hat das dritte?«

»Ein Freund an einem nützlichen Ort.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass ich das jemals erraten könnte. Warum Lorlen?«

Bei dieser Frage zog Akkarin die Brauen in die Höhe. »Ich musste ihn im Auge behalten. Rothen hätte niemals etwas getan, das dir geschadet hätte. Lorlen dagegen würde dich opfern, wenn er auf diese Weise die Gilde retten könnte.«

Mich opfern? Aber natürlich würde er das tun. Sie schauderte. Ich würde wahrscheinlich das Gleiche tun, wenn ich an seiner Stelle wäre. Da sie dies nun wusste, wünschte sie umso mehr, Akkarin könnte Lorlen die Wahrheit sagen.

»Er hat sich allerdings als sehr nützlich erwiesen«, sprach Akkarin weiter. »Er steht in Verbindung mit dem Hauptmann der Wache, der Nachforschungen über die Morde anstellt. Aufgrund der Anzahl der gefundenen Leichen konnte ich abschätzen, wie stark ein jeder dieser Spione war.«

»Weiß er, was der Stein ist?«

»Er weiß, was der Stein tut.«

Armer Lorlen, dachte sie. Er glaubt, sein Freund habe sich böser Magie zugewandt, und er weiß, dass Akkarin jeden einzelnen seiner Gedanken lesen kann. Sie runzelte die Stirn. Aber wie hart muss es erst für Akkarin sein, stets zu spüren, dass sein Freund ihn fürchtet und missbilligt?

Akkarin wandte sich dem Tisch zu. »Komm her.«

Als sie auf die andere Seite des Tisches trat, ließ Akkarin den Deckel der Kiste aufspringen. Er nahm das Messer heraus und reichte es ihr.

»Als ich Dakova das erste Mal ein Blutjuwel machen sah, dachte ich, es müsse etwas Magisches im Blut sein. Erst Jahre später entdeckte ich, dass es sich nicht so verhält. Das Blut prägt dem Glas lediglich die Identität des Schöpfers auf.«

»Ihr habt aus den Büchern gelernt, wie man solche Ringe macht?«

»Nein. Einen großen Teil der Magie habe ich durch das Studium eines sehr alten Exemplars erlernt, das ich im ersten Jahr meiner Nachforschungen entdeckt habe. Damals wusste ich noch nicht, was es war, aber später habe ich mir den Ring für eine Weile ausgeborgt, um ihn zu studieren. Obwohl sein Schöpfer schon lange tot war und der Ring nicht mehr funktionierte, war das Glas noch immer mit genug Magie behaftet, um mir eine Ahnung von seiner Funktionsweise zu vermitteln.«

»Habt Ihr diesen Stein noch?«

»Nein, ich habe ihn seinem Besitzer zurückgegeben. Unglücklicherweise ist er kurze Zeit später gestorben, und ich weiß nicht, was aus seiner Sammlung alter Juwelen geworden ist.«

Sie nickte und blickte auf die Dinge auf dem Tisch hinab.

»Jeder lebende Teil deines Körpers kann benutzt werden«, erklärte Akkarin. »Haare funktionieren, aber nicht ganz so gut, weil sie größtenteils tot sind. Es gibt ein sachakanisches Volksmärchen, nach dem auch Tränen benutzt werden können, aber ich nehme an, das ist nur eine romantische Fantasie. Du könntest ein Stück aus deinem Fleisch herausschneiden, aber das wäre weder angenehm noch zweckmäßig. Blut ist das Einfachste.« Er klopfte gegen die Schale. »Du wirst nur wenige Tropfen benötigen.«

Sonea sah erst die Schale an, dann die Klinge. Akkarin beobachtete sie schweigend. Sie hob ihren linken Arm. Wo sollte sie den Schnitt machen? Als sie die Hand umdrehte, fiel ihr eine alte, verblasste Narbe in der Handfläche auf, wo sie sich als Kind an einem Abflussrohr geschnitten hatte. Sie drückte die Spitze des Messers auf diese Stelle. Zu ihrer Überraschung tat es nicht weh, als die Klinge ihre Haut aufritzte.

Dann quoll Blut aus der Schnittwunde, und sie wurde sich eines scharfen Schmerzes bewusst. Sie ließ einige Blutstropfen in die Schale fallen.

»Jetzt heile dich«, wies Akkarin sie an. »Du musst dich immer ohne Aufschub heilen. Selbst halb geheilte Schnittwunden stellen eine Öffnung in deiner Barriere dar.«

Sie konzentrierte sich auf die Wunde. Das Blut hörte auf zu fließen, und langsam versiegelten sich die Kanten des Schnitts. Akkarin reichte ihr das Tuch, und sie wischte sich das Blut von der Hand.

Anschließend gab er ihr ein Stück Glas. »Halt das hoch und schmelze es. Es wird seine Form leichter beibehalten, wenn du es sich in der Luft drehen lässt.«

Sonea konzentrierte ihren Willen auf den Glassplitter und ließ ihn hochsteigen. Sie umgab ihn mit Wärme, dann befahl sie ihm, sich zu drehen. Er begann an den Rändern zu leuchten und schrumpfte dann langsam zu einer Kugel zusammen.

»Endlich!«, zischte Akkarin.

Erschrocken verlor sie den Zugriff auf die Kugel. Sie fiel auf den Tisch, wo sie eine kleine Brandstelle hinterließ.

»Hoppla.«

Akkarin hatte es jedoch nicht bemerkt. Seine Augen waren auf etwas weit außerhalb dieses Raums gerichtet. Schließlich schärfte sich sein Blick wieder, er lächelte grimmig und griff dann nach dem Messer.

»Takan hat mir soeben eine Nachricht geschickt. Die Diebe haben die Spionin gefunden.«

Sonea stockte der Atem.

»Deine Lektion wird warten müssen, bis wir zurückkommen.« Akkarin ging zu einem Schrank hinüber und nahm den Ledergürtel mit der Messerscheide heraus, der Sonea in jener Nacht vor so langer Zeit aufgefallen war, als sie Akkarin zufällig beobachtet hatte. Er wischte jetzt die Klinge des Messers an dem Tuch ab und schob es in die Scheide. Sonea blinzelte überrascht, als er anschließend die Schärpe seiner Roben öffnete und das äußere Kleidungsstück abstreifte. Darunter trug er eine schwarze Jacke.

Er schnallte sich den Gürtel um die Taille, ging zu einem anderen Schrank hinüber und nahm einen langen, abgetragenen Umhang für sich selbst und einen für Sonea sowie eine Laterne heraus.

»Sorg dafür, dass deine Roben gut bedeckt sind«, sagte er, als sie den Umhang umlegte. Auf die Vorderseite waren viele kleine Knöpfe genäht, und an den Seiten boten ihr zwei Schlitze Platz für ihre Hände.

Akkarin hielt kurz inne, um sie zu betrachten, dann runzelte er die Stirn.

»Ich würde dich nicht mitnehmen, wenn es sich vermeiden ließe, aber wenn ich dich auf den Kampf mit diesen Spionen vorbereiten soll, muss ich dir zeigen, wie du es machen kannst. Du musst genau das tun, was ich dir befehle.«

Sie nickte. »Ja, Hoher Lord.«

Akkarin trat auf die Wand zu, und die verborgene Tür zu den geheimen Gängen öffnete sich. Sonea folgte ihm hindurch. Die Laterne erwachte flackernd zum Leben.

»Diese Frau darf dich auf keinen Fall sehen«, erklärte er ihr, während er den Gang hinuntereilte. »Tavakas Meister hat dich wahrscheinlich durch sein Juwel gesehen, bevor ich es zerstört habe. Sollte einer der Ichani dich noch einmal bei mir sehen, werden sie erraten, dass ich dich ausbilde. Sie werden versuchen, dich zu töten, solange du noch zu schwach und zu unerfahren bist, um dich zu verteidigen.«

Als sie auf die erste Barriere trafen, verfiel er in Schweigen und begann erst wieder zu sprechen, als sie das Labyrinth der Gänge hinter sich hatten und den blockierten Tunnel erreichten. Akkarin deutete auf den Schutt.

»Sieh dich mit deinem Geist genau um, dann forme aus diesen Trümmern die Treppe.«

Sonea dehnte ihre Sinne und untersuchte die Steine. Zuerst schien es sich nur um ein wahllos aufgetürmtes Durcheinander zu handeln, dann begann sie langsam, ein Muster zu erkennen. Es war wie eine große Version der Holzpuzzles, die auf den Märkten feilgeboten wurden. Man brauchte nur auf eine bestimmte Stelle zu drücken, und die einzelnen Teile des Puzzles schoben sich auf eine Weise zusammen, dass sie eine neue Form annahmen – oder auseinander fielen. Sie griff nach ein wenig Magie und begann, das Geröll zu ordnen. Das Geräusch von Stein auf Stein erfüllte den Gang, während die Treppe Gestalt annahm.

»Gut gemacht«, murmelte Akkarin. Er ging voran und nahm immer zwei Stufen gleichzeitig. Sonea folgte ihm. Oben angekommen, drehte sie sich um und gab den Felsplatten den Befehl, ihre frühere Position wieder einzunehmen.

Das Licht der Laterne erhellte die vertrauten Ziegelmauern der Straße der Diebe. Akkarin ging voran. Nach einigen hundert Schritten erreichten sie den Ort, an dem der Führer sie schon einmal erwartet hatte. Jetzt trat ein kleinerer Schatten auf sie zu, um sie zu begrüßen.

Der Junge war ungefähr zwölf, vermutete Sonea. Seine Augen waren jedoch hart und wachsam – die Augen eines viel älteren Menschen. Er starrte sie beide an, dann blickte er auf Akkarins Stiefel hinab und nickte. Ohne ein einziges Wort bedeutete er ihnen, ihm zu folgen, und machte sich auf den Weg durch die Gänge.

Obwohl ihr Weg von Zeit zu Zeit eine Biegung machte, brachte er sie doch in eine bestimmte Richtung. Zu guter Letzt blieb ihr Führer neben einer Leiter stehen und zeigte nach oben auf eine Falltür. Akkarin blendete seine Lampe ab, und Dunkelheit legte sich über den Tunnel. Sonea hörte, wie er seine Stiefel auf die Sprossen der Leiter setzte und mit dem Aufstieg begann. Als er die Falltür vorsichtig anhob und hinausspähte, drang schwaches Licht in den Gang. Schließlich gab Akkarin ihr ein Zeichen, und sie stieg ebenfalls die Leiter hinauf, öffnete die Falltür zur Gänze und kletterte hindurch.

Kurz darauf fand Sonea sich in einer Gasse wieder. Die Häuser um sie herum waren aus allen möglichen gestohlenen Materialien grob zusammengezimmert. Ein überwältigender Geruch nach Kohl und Abwässern erfüllte die Luft. Ein lang vergessenes Mitgefühl, gepaart mit Wachsamkeit, stieg in Sonea auf. Sie befanden sich hier am äußeren Rand der Hüttenviertel, wo die Ärmsten der Armen ihr Dasein fristeten. Es war ein trauriger und gefährlicher Ort.

Aus einem Häusereingang in der Nähe trat ein massiger Mann und kam auf sie zugeschlendert. Sonea stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, als sie ihn erkannte. Es war der Mann, der den letzten Spion bewacht hatte. Er starrte Sonea an, dann wandte er sich zu Akkarin um.

»Sie ist gerade aufgebrochen«, erklärte der Mann. »Wir haben sie zwei Stunden lang bespitzelt. Die Bewohner dieser Straße sagen, sie habe sich während der letzten beiden Nächte dort unten aufgehalten.« Er zeigte auf eine Tür in der Nähe.

»Woher weißt du, dass sie heute Nacht zurückkommen wird?«, fragte Akkarin.

»Ich habe mir den Raum angesehen, nachdem sie fort war. Sie hat einige kostbare Sachen dort gelassen. Sie wird zurückkommen.«

»Der Rest des Hauses steht leer?«

»Eine Hand voll Bettler und Huren benutzen es, aber wir haben ihnen gesagt, dass sie sich für diese Nacht eine Beschäftigung suchen sollen.«

Akkarin nickte. »Wir werden hineinschauen und feststellen müssen, ob es ein günstiger Platz für einen Hinterhalt ist. Sorg dafür, dass niemand hereinkommt.«

Der Mann nickte. »Ihr Zimmer ist das letzte auf der rechten Seite.«

Sonea folgte Akkarin zu der Tür, die protestierend quietschte, als er sie aufzog. Dann gingen sie eine halb zerfallene Treppe aus festgetretenem Lehm hinunter, die von verrottenden Holzbalken gestützt wurde, und gelangten schließlich in einen Flur.

Es war dunkel dort, und der Lehmboden war uneben. Akkarin öffnete die Blende seiner Lampe gerade weit genug, um ihren Weg zu erhellen. In den Öffnungen vor den Räumen gab es keine Türen. Einige waren mit grobem Sackleinen verhängt. Die Wände hatte man mit Holzbrettern verkleidet, aber hier und da hatten sich einige davon gelöst. Der Lehm, der aus den Lücken gebröckelt war, bildete kleine Hügel auf dem Boden.

Die meisten der Räume standen leer. Vor dem letzten Eingang auf der rechten Seite hing Sackleinen. Akkarin musterte es aufmerksam, schob es dann beiseite und öffnete die Blende seiner Lampe.

Der Raum dahinter war überraschend groß. Einige hölzerne Kisten und ein verzogenes Brett dienten als Tisch. In eine Wand war ein Regal gehöhlt worden, und in einer Ecke lagen eine dünne Matratze und einige Decken.

Akkarin ging im Raum umher und unterzog alle Dinge einer genauen Musterung. Er durchsuchte das Bettzeug, dann schüttelte er den Kopf.

»Morren hat von kostbaren Dingen gesprochen. Das hier kann er wohl kaum gemeint haben.«

Sonea unterdrückte ein Lächeln. Sie ging zu einer der Wände hinüber und machte sich daran, jedes einzelne Brett abzutasten. Akkarin beobachtete sie, bis sie in der Nähe des Betts auf eine verräterisch weiche Stelle stieß.

Die Bretter ließen sich mühelos entfernen. Das Sackleinen dahinter war verkrustet von getrocknetem Schlamm, aber hier und da schimmerte ein Faden hindurch. Vorsichtig hob sie eine Ecke an. Dahinter befand sich eine Nische, die gerade so groß war, dass ein Kind darin sitzen konnte. In der Mitte lag ein kleines Stoffbündel.

Akkarin trat neben sie und kicherte. »Sehr schön. Du hast dich tatsächlich als nützlich erwiesen.«

Sonea zuckte die Achseln. »Ich habe einmal an einem Ort wie diesem gelebt. Die Hüttenleute nennen diese Nischen Löcher.«

Er hielt inne. »Wie lange hast du dort gelebt?«

Als sie aufblickte, sah sie, dass er sie abschätzend betrachtete.

»Einen Winter. Es ist lange her, und damals war ich noch sehr klein.« Sie drehte sich wieder zu der Nische um. »Ich erinnere mich daran, dass der Raum sehr überfüllt war und kalt.«

»Aber jetzt leben hier nur noch wenige Menschen. Woran liegt das?«

»An der Säuberung. Sie findet erst nach dem ersten Schnee des Jahres statt. All die Menschen, die die Gilde aus der Stadt treibt, leben dann an Orten wie diesem. Die Menschen, von denen die Häuser behaupten, sie seien gefährliche Diebe. In Wahrheit wollen die vornehmen Herrschaften nur die hässlichen Bettler und Krüppel loswerden, die die Stadt ›verunstalten‹. Für die echten Diebe ist die Säuberung kein Problem, nicht einmal eine Unannehmlichkeit…«

Hinter ihnen erklang das schwache, ferne Knarren einer Tür. Akkarin fuhr herum.

»Das ist sie.«

»Woher wisst Ihr -«

»Jeden anderen hätte Morren aufgehalten.« Er schloss die Blende der Lampe fast zur Gänze und sah sich hastig im Raum um. »Einen anderen Weg hinaus gibt es nicht«, murmelte er. Dann hob er eine Ecke des Sackleinens an, das die Nische bedeckte. »Passt du dort hinein?«

Sie machte sich nicht die Mühe zu antworten. Stattdessen drehte sie sich wortlos um, setzte sich auf den Rand der Nische und zwängte sich hinein. Als sie die Beine in dem kleinen Raum angezogen hatte, ließ Akkarin das Leinen fallen und schob die Bretter wieder vor.

Vollständige Dunkelheit hüllte sie ein. Das Hämmern ihres Herzens klang sehr laut in der Stille, die sie umgab.

»Du schon wieder«, sagte die Frau mit einem merkwürdigen Akzent. »Ich habe mich schon gefragt, wann du mir eine neue Gelegenheit bieten würdest, dich zu töten.«

Hinter dem Sackleinen wurde es heller, und Sonea spürte die Vibrationen von Magie. Sie beugte sich vor und hoffte, dass sie durch das Tuch etwas würde sehen können.

»Du hast dich auf diesen Kampf vorbereitet«, bemerkte die Frau.

»Natürlich«, erwiderte Akkarin.

»Das Gleiche habe ich getan«, sagte sie. »Deine schmutzige Stadt ist jetzt ein wenig kleiner. Und deine Gilde wird bald um einen Mann ärmer sein.«

An einer Stelle, wo der getrocknete Schlamm auf dem Sackleinen dünn und bröckelig war, konnte Sonea die Umrisse von Gestalten sehen, die sich bewegten.

»Was wird deine Gilde denken, wenn man ihren Herrscher tot auffindet? Werden sie dahinterkommen, was ihn getötet hat? Ich glaube nicht.«

Sonea, die inzwischen etwas von dem verkrusteten Schlamm auf dem Sackleinen abgekratzt hatte, konnte jetzt ein wenig besser sehen. Auf einer Seite des Raums stand eine Frau in Kleidern von trüber Farbe. Akkarin konnte Sonea jedoch nicht erkennen. Sie fuhr fort, das Sackleinen zu bearbeiten. Wie sollte sie etwas über den Kampf gegen diese Spione lernen, wenn sie ihn nicht mit ansehen konnte?

»Deine Gefährten werden nicht wissen, was sie jagt«, sprach die Sachakanerin weiter. »Ich hatte überlegt, ob ich einfach in die Gilde spaziere und sie alle gleichzeitig erledige, aber jetzt denke ich, dass es mehr Spaß machen wird, sie herauszulocken und einen nach dem anderen zu töten.«

»Ich empfehle Letzteres«, erwiderte Akkarin. »Andernfalls wirst du nicht weit kommen.«

Die Frau lachte. »Ach nein?«, höhnte sie. »Aber ich weiß, dass Kariko Recht hat. Deine Gilde versteht sich nicht auf höhere Magie. Ihre Magier sind schwach und dumm – so dumm, dass du dein Wissen vor ihnen verborgen halten musst… sonst würden sie dich töten.«

Licht flammte auf, als magische Angriffe auf den Schild der Frau prasselten. Die Frau erwiderte den Angriff. Von der Decke kam ein Knarren. Sonea sah, wie die Frau aufblickte und dann beiseite trat, auf die Nische zu.

»Nur weil wir unsere Kenntnisse der Magie nicht missbrauchen, heißt das nicht, dass wir unwissend wären«, sagte Akkarin gelassen. Er trat in Soneas Gesichtsfeld.

»Aber ich habe in den Gedanken deiner Leute die Wahrheit gelesen«, entgegnete die Frau. »Ich weiß, dass das der Grund ist, warum du nicht zulassen kannst, dass sie uns kämpfen sehen. Dann lass sie dies hier sehen.«

Plötzlich war der Raum erfüllt von dem ohrenbetäubenden Krachen berstenden Holzes. Deckenbalken und Steine stürzten herab und erfüllten die Luft mit Staub. Die Frau lachte und rückte näher an die Nische und Sonea heran.

Im nächsten Moment versperrten ihr weitere Trümmer, die von der Decke fielen, den Weg. Plötzlich wurde die Sachakanerin an die Wand geschleudert. Sonea spürte die Wucht von Akkarins Kraftzauber durch den Boden der Nische, und Lehmbrocken rieselten ihr auf den Rücken.

Die Frau stieß sich von der Wand ab, fauchte etwas und ging dann mit langen Schritten auf die Trümmer zu… und durch sie hindurch. Sonea blinzelte überrascht, als ihr klar wurde, dass das Ganze eine Illusion gewesen war, dann setzte ihr Herz einen Schlag aus: Die Frau kam direkt auf sie zu.

Akkarin zwang die Sachakanerin mit einem neuerlichen Angriff, vor Soneas Versteck stehen zu bleiben, und Sonea zog hastig einen starken Schild um sich herum hoch.

Der Raum erzitterte unter dem Kampf der beiden Magier. Immer mehr Lehmbrocken prasselten auf Sonea herab. Als sie die Hände hob, spürte sie, dass die Balken, die die Decke der Nische hielten, barsten und nachzugeben drohten. Erschrocken dehnte sie ihren Schild aus, um sie zu stärken.

Ein Lachen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Raum vor ihr. Sie sah, dass Akkarin rückwärts ging. Seine Angriffe schienen schwächer zu werden. Er machte einen Schritt zur Seite, auf die Tür zu.

Er verliert Kraft, begriff sie plötzlich. Als er sich weiter zur Tür hinüberschob, krampfte sich Soneas Magen zusammen.

»Diesmal wirst du mir nicht entkommen«, sagte die Frau.

Eine Barriere spannte sich über die Tür. Akkarins Miene verfinsterte sich. Die Frau schien mit einem Mal größer zu werden. Statt auf ihn zuzugehen, machte sie einige Schritte rückwärts und drehte sich dann zu Sonea um.

Auf Akkarins Zügen zeichneten sich jetzt Entsetzen und Furcht ab. Die Frau streckte die Hand nach der Nische aus, hielt jedoch inne, als er ihr einen mächtigen Zauber entgegenschleuderte.

Es war nur eine List, dachte Sonea plötzlich. Er hat versucht, sie von mir abzulenken. Aber statt ihm zu folgen, trat die Frau auf die Nische zu. Warum? Weiß sie, dass ich hier bin? Oder ist es etwas anderes?

Sonea tastete ihre Umgebung ab und stieß auf das Stoffbündel. Selbst in der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass das Material von guter Qualität war.

Sie schuf eine winzige, schwache Lichtkugel und wickelte das Bündel auf. Es war der Umhang einer Frau. Als sie das Kleidungsstück anhob, fiel ein kleiner Gegenstand heraus. Ein silberner Ring.

Sonea hob ihn auf. Es war ein Männerring, von der Art, wie sie die Ältesten der Häuser trugen, um ihren Rang zu verdeutlichen. Eine kleine quadratische Fläche auf der einen Seite trug das Incal des Hauses Saril.

Dann war es, als explodiere ein Sturm von Lehm und Lärm in der Nische.

Sonea wurde zurückgeschleudert. Nachdem sie sich zu einem Ball zusammengerollt hatte, konzentrierte sie sich ganz darauf, ihren Schild aufrechtzuerhalten. Das Gewicht, das auf ihr lastete, nahm ständig zu, bis der Druck schließlich gleichbleibend war.

Dann war alles still. Sonea öffnete die Augen und schuf eine weitere winzige Lichtkugel. Überall um sie herum war Erde. Ihr Schild, der einen runden Hohlraum um sie herum bildete, hielt das Erdreich zurück. Sonea rollte sich zur Seite, ging in die Hocke und überdachte ihre Situation.

Sie war begraben. Obwohl sie den Schild für einige Zeit aufrechterhalten konnte, würde die Luft darin nicht lange ausreichen. Es würde nicht schwer sein, sich einen Weg ins Freie zu bahnen. Sobald sie das jedoch tat, wäre sie nicht länger versteckt.

Also sollte ich so lange wie möglich hier bleiben, befand sie. Ich werde zwar nichts mehr von dem Kampf mitbekommen, aber das lässt sich nun einmal nicht ändern.

Sie dachte noch einmal über die Dinge nach, die sie mit angesehen hatte, und schüttelte den Kopf. Der Kampf entsprach in keiner Weise dem, was Akkarin vorausgesagt hatte. Die Frau war stärker als die anderen Spione. Ihre ganze Einstellung war nicht die eines Sklaven, und sie hatte von den Ichani als »wir« gesprochen, nicht als »meine Meister«, wie es der letzte Spion getan hatte. Außerdem war sie eine geübte Kämpferin. Die früheren Sklaven, die nach Kyralia geschickt worden waren, hatten keine Zeit gehabt, derartige Fähigkeiten zu erwerben.

Wenn diese Frau keine Sklavin war, dann konnte sie nur eins sein…

Eine Ichani.

Bei dieser Erkenntnis krampfte sich Soneas Magen zusammen. Akkarin kämpfte gegen eine Ichani. Sie konzentrierte sich und stellte fest, dass sie irgendwo ganz in ihrer Nähe die Vibration der Magie der beiden spüren konnte. Der Kampf tobte noch immer.

Langsam ließ der Druck auf ihren Schild ein wenig nach. Als sie aufblickte, sah sie, dass dort, wo die Erde über ihren Schild rutschte, ein kleines Loch auftauchte. Während immer mehr von dem Erdreich zu Boden fiel, vergrößerte sich die Öffnung.

Dann konnte sie wieder erkennen, was in dem Raum vorging. Sie drückte die Schultern durch und schnappte entsetzt nach Luft. Die Sachakanerin stand nur wenige Schritte von ihr entfernt.

Erschrocken verringerte Sonea die Größe ihres Schilds, aber dadurch rutschte das Erdreich nur umso schneller herab. Und nun kam auch Akkarin in Sicht. Seine Augen flackerten einmal in ihre Richtung, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er ging auf seine Gegnerin zu.

Sonea kauerte in ihrem Schild und beobachtete hilflos die Sachakanerin, die ihr den Rücken zukehrte. Immer mehr Erdreich fiel jetzt herab. Sonea wagte es nicht, sich zu bewegen, um nicht die Aufmerksamkeit der Frau auf sich zu lenken. Als Akkarin näher kam, machte die Sachakanerin einen Schritt rückwärts. Ihr Körper war steif vor Konzentration.

Sonea spürte, wie Akkarins Magie über ihren Schild strich, als er die Frau mit einer Barriere umgab und versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Aber seine Gegnerin konnte sich befreien und machte noch einen Schritt rückwärts. Als ihr Schild näher kam, zog Sonea ihren eigenen Schild nach innen, um eine Berührung zu vermeiden. Der summende Schild der Frau war jetzt nur noch eine Handspanne von Sonea entfernt. Wenn die Sachakanerin noch einen Schritt tat, würde sie sie entdecken.

Wenn sie mich wahrnimmt, dachte Sonea. Wenn ich den Schild sinken lasse, wird ihr Schild vielleicht über mich hinweggleiten, ohne dass sie mich bemerkt.

Der Schild der Frau war eine Kugel – die Form, die sich am leichtesten aufrechterhalten ließ. Ein kugelförmiger Schild schützte die Füße eines Magiers, indem er ein Stück weit in den Boden hinunterreichte. Um ihn aber vor Angriffen von unten zu schützen, konnte dieser Schild im unterirdischen Bereich nicht stark genug sein. Wäre er dort stärker gewesen, könnte er nicht mehr das Erdreich durchdringen, als wäre es Luft.

Wenn diese Frau es ebenso gemacht hatte, würde sie, wenn sie sich wieder bewegte, Sonea vielleicht einfach für ein Hindernis halten und ihren Schild über sie hinweggleiten lassen.

Aber sie wird mich bemerken. Sie wird meine Gegenwart spüren.

Sonea hielt den Atem an. Aber ich werde in ihrem Schild sein! Bevor sie begreift, was geschehen ist, wird sie einen Moment lang schutzlos sein. Ich brauche nur etwas, womit ich…

Sonea blickte zu Boden. Ein Holzsplitter ragte ganz in ihrer Nähe aus dem Erdreich heraus. Als sie erneut über ihren Plan nachdachte, begann ihr Herz noch heftiger zu schlagen. Sie holte tief und lautlos Luft, dann wartete sie darauf, dass die Frau abermals einen Schritt zurücktrat. Sie brauchte nicht lange zu warten.

Als der Schild über sie hinwegglitt, packte Sonea das Holzstück, richtete sich auf und schlitzte damit die Haut im Nacken der Frau auf. Die Sachakanerin machte Anstalten, sich umzudrehen, aber Sonea hatte das vorausgesehen. Sie drückte die freie Hand auf die Wunde und konzentrierte ihre gesamte Willenskraft darauf, so schnell wie möglich Energie in sich hineinzuziehen.

Die Frau begriff, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ihr Schild löste sich auf, und die Knie gaben unter ihr nach. Als sie Soneas Griff zu entgleiten drohte, schlang diese ihr hastig einen Arm um die Taille. Die Sachakanerin war jedoch zu schwer, und Sonea ließ die Frau zu Boden sinken.

Eine Woge der Kraft strömte in Soneas Bewusstsein und verebbte dann plötzlich wieder. Sie zog die Hand weg, und die Frau fiel auf den Rücken. Die Augen der Sachakanerin starrten ausdruckslos ins Leere.

Tot. Unendliche Erleichterung erfüllte Sonea. Es hat funktioniert, dachte sie. Es hat wirklich funktioniert.

Dann blickte sie auf ihre Hand hinab. Im Mondlicht, das durch das zerstörte Dach fiel, sah das Blut auf ihren Fingern schwarz aus. Kaltes Grauen packte sie. Schwankend erhob sie sich auf die Füße.

Ich habe soeben mit schwarzer Magie getötet.

Von einem jähen Schwindel erfasst, taumelte sie rückwärts. Sie wusste, dass sie zu schnell atmete, konnte aber nichts dagegen tun. Hände packten sie an den Schultern und verhinderten, dass sie zu Boden stürzte.

»Sonea«, erklang eine Stimme, »hol tief Luft. Halt die Luft an und atme dann langsam wieder aus.«

Akkarin. Sie versuchte zu tun, was er gesagt hatte. Schließlich förderte er von irgendwoher ein Tuch zutage und wischte ihr die Hand ab.

»Es ist nicht angenehm, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das sollte es auch nicht sein.«

Sie sah ihn nur stumm an, während ihr widersprüchliche Gedanken durch den Kopf gingen.

Sie hätte mich getötet, wenn ich ihr nicht zuvorgekommen wäre. Sie hat gewiss schon viele andere getötet. Warum also fühlt es sich so grauenhaft an zu wissen, dass ich das getan habe?

Vielleicht weil ich ihnen dadurch ein wenig ähnlicher werde.

Was ist, wenn es keine Spione zu töten gibt und Takan nicht genug ist, so dass ich nach anderen Möglichkeiten suchen muss, um mich für den Kampf gegen die Ichani zu stärken? Werde ich durch die Straßen irren und Räuber und andere Unholde töten? Werde ich die Verteidigung Kyralias als Vorwand missbrauchen, um Unschuldige zu überfallen?

Sonea stand dem Ansturm verwirrender Gefühle hilflos gegenüber. Noch nie zuvor hatte sie solche Zweifel gekannt.

»Sieh mich an, Sonea.«

Er drehte sie zu sich um. Widerstrebend blickte sie ihm in die Augen. Er streckte die Hand aus, und sie spürte, wie er vorsichtig etwas aus ihrem Haar zog. Ein Stück Sackleinen fiel aus seinen Fingern zu Boden.

»Es ist keine einfache Entscheidung, die du getroffen hast«, sagte er, »aber du wirst lernen, dir selbst zu vertrauen.« Er sah auf. Als sie seinem Blick folgte, stellte sie fest, dass der Vollmond direkt über dem klaffendem Loch im Dach hing.

Das Auge, dachte Sonea. Es ist geöffnet. Entweder hat es mir dies zu tun gestattet, weil es nicht böse war, oder ich werde dem Wahnsinn anheim fallen.

Aber ich gebe nichts auf törichten Aberglauben, rief sie sich ins Gedächtnis.

»Wir müssen so schnell wie möglich von hier fort«, sagte Akkarin. »Die Diebe werden sich um den Leichnam kümmern.«

Sonea nickte. Als Akkarin sich abwandte, hob sie die Hand, um sich übers Haar zu streichen. Ihre Kopfhaut kribbelte, wo er sie berührt hatte. Dann folgte sie ihm aus dem Raum, wobei sie sorgfältig Acht gab, nicht noch einmal zu der toten Ichani hinüberzuschauen.

14 Die Zeugin

Etwas drückte sachte gegen Cerys Rücken. Etwas Warmes. Eine Hand.

Savaras Hand, begriff er.

Ihre Berührung holte ihn in die Gegenwart zurück. Ihm wurde klar, dass er sich in einem tranceartigen Zustand befunden hatte. In dem Moment, in dem Sonea die Sachakanerin getötet hatte, hatte die Welt sich zur Seite geneigt und begonnen, sich um ihn herum zu drehen. Seither hatte er nichts anderes mehr wahrgenommen als den Gedanken an das, was sie getan hatte.

Nun ja, fast nichts. Savara hatte etwas gesagt. Er runzelte die Stirn. Etwas darüber, dass Akkarin einen Lehrling hatte. Er drehte sich um und sah die Frau an seiner Seite an.

Sie lächelte schief. »Willst du dich nicht bei mir bedanken?«

Er blickte hinab. Sie saßen auf dem Teil des Daches, der unversehrt geblieben war. Der obere Teil des »Lochs« war ihm als ein guter Platz erschienen, um den Kampf zu beobachten. Das Dach war aus einzelnen Holzstücken gefertigt und hier und da mit angeschlagenen Steinfliesen versehen, so dass zahlreiche kleine Öffnungen entstanden waren. Solange sie auf den Balken saßen, waren sie ziemlich sicher.

Bedauerlicherweise hatten weder Cery noch Savara bedacht, dass die Kämpfer die Tribüne unter ihnen zertrümmern könnten.

Als das Dach eingestürzt war, hatte jedoch irgendetwas verhindert, dass Cery zu Boden fiel. Bevor er begreifen konnte, wie es möglich war, dass er und Savara in der Luft schwebten, waren sie auch schon auf dem unbeschädigten Teil des Daches gelandet, wo man sie von unten nicht sehen konnte.

Plötzlich ergab alles, was Savara betraf, einen Sinn: woher sie wusste, wann ein neuer Mörder in der Stadt ankam, woher sie so viel über die Menschen wusste, gegen die der Hohe Lord kämpfte, und warum sie so zuversichtlich war, dass sie diese Mörder eigenhändig würde töten können.

»Also, wann wolltest du es mir erzählen?«, fragte er.

Sie zuckte die Achseln. »Sobald ich dein volles Vertrauen gehabt hätte. Wenn ich dich von Anfang an eingeweiht hätte, hätte ich genauso enden können wie sie.« Sie blickte auf die tote Frau hinab, die Gol und seine Helfer gerade fortschafften.

»Das könnte dir immer noch passieren«, erwiderte er. »Es ist tatsächlich schwer, einen Sachakaner vom anderen zu unterscheiden.«

Ärger blitzte in ihren Augen auf, aber ihre Stimme war vollkommen ruhig, als sie antwortete. »Nicht alle Magier in meinem Land sind wie die Ichani, Dieb. Unsere Gesellschaft kennt viele Gruppen… Fraktionen…« Sie schüttelte ungehalten den Kopf. »Ihr habt kein Wort, das wirklich auf die Situation passt. Die Ichani sind Ausgestoßene, die man zur Strafe ins Ödland geschickt hat. Sie sind das Schlimmste, was meine Heimat hervorgebracht hat. Beurteile uns nicht nach ihnen. Meine eigenen Leute haben stets befürchtet, dass die Ichani sich eines Tages zusammenrotten könnten, aber wir haben keinen Einfluss auf den König und können ihn nicht dazu bewegen, mit der Tradition, Verbrecher zur Strafe in die Wüsten zu verbannen, zu brechen. Wir beobachten die Ichani seit vielen Jahrhunderten und haben jene unter ihnen getötet, die am ehesten geeignet gewesen wären, die Herrschaft über die anderen zu erringen. Wir haben zu verhindern versucht, was jetzt in Kyralia geschieht, aber wir dürfen uns nicht zu erkennen geben, da viele Sachakaner nur einen kleinen Vorwand benötigen würden, um uns anzugreifen.«

»Was genau geschieht denn hier?«

Sie zögerte. »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.« Zu Cerys Erheiterung begann sie, an der Unterlippe zu nagen wie ein Kind, das von seinen Eltern ins Verhör genommen wird. Als er leise kicherte, blickte sie stirnrunzelnd zu ihm hinüber. »Was ist los?«

»Du scheinst mir nicht die Art Mensch zu sein, die nach der Pfeife anderer tanzt.«

Sie sah ihn gelassen an, dann senkte sie den Kopf. Cery, der ihrem Blick folgte, bemerkte, dass Gol und der Leichnam verschwunden waren.

»Du hast nicht damit gerechnet, sie hier zu sehen, nicht wahr?«, fragte Savara leise. »Macht es dir sehr zu schaffen, deine verlorene Liebe einen anderen Menschen töten zu sehen?«

Ein jähes Unbehagen stieg in ihm auf. »Woher hast du das gewusst?«

Sie lächelte. »Es steht dir ins Gesicht geschrieben, wenn du sie siehst oder von ihr sprichst.«

Er blickte in den Raum hinunter. Ein Bild von Sonea, wie sie sich auf die Frau stürzte, zuckte in seinen Gedanken auf. Ihr Gesicht war starr vor Entschlossenheit gewesen. Das unsichere junge Mädchen, das so entsetzt über die Entdeckung seiner magischen Fähigkeiten gewesen war, hatte wahrhaftig einen weiten Weg zurückgelegt.

Dann fiel ihm wieder ein, wie sich ihr Gesichtsausdruck verändert hatte, als Akkarin ihr etwas aus dem Haar zog.

»Es war eine kindliche Schwärmerei«, erklärte er Savara. »Ich habe schon lange gewusst, dass sie nicht für mich bestimmt ist.«

»Nein, das hast du nicht«, widersprach sie, und das Dach knarrte vernehmlich, als sie ihr Gewicht verlagerte. »Du hast es erst heute Nacht erfahren.«

Er drehte sich wieder zu ihr um. »Wie kannst du -«

Zu seiner Überraschung war sie näher an ihn herangerückt. Jetzt legte sie ihm eine Hand in den Nacken, zog ihn zu sich heran und küsste ihn.

Ihre Lippen waren warm und stark. Hitze durchflutete seinen Körper. Er streckte die Hand aus, um sie fester an sich zu ziehen, aber das Holzstück, auf dem er saß, glitt zur Seite, und er drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Lippen lösten sich voneinander, als er fiel.

Etwas hielt ihn fest. Er erkannte die Berührung von Magie. Savara lächelte schelmisch, beugte sich vor und packte ihn am Hemd. Dann legte sie sich auf das Dach und zog ihn über sich; als sie von dem beschädigten Bereich wegrollten, gaben die Balken unter ihnen ein erschreckendes Knarren von sich. Dann lag sie über ihm. Sie lächelte – dieses atemberaubend sinnliche Lächeln, das seinen Puls rasen ließ.

»Hm«, sagte er. »Das ist schön.«

Sie lachte leise, dann beugte sie sich vor, um ihn abermals zu küssen. Er zögerte nur einen Moment, als sich ein Gefühl, einer Vorahnung gleich, in seine Gedanken drängte.

Seit dem Tag, an dem Sonea ihre Magie entdeckt hat, gehört sie in eine andere Welt. Auch Savara gebietet über Magie. Und sie gehört ebenfalls in eine andere Welt…

Aber das war jetzt nicht wichtig.

Lorlen runzelte die Stirn und öffnete blinzelnd die Augen. Sein Schlafzimmer lag fast zur Gänze im Dunkeln. Die Papierblenden vor seinen Fenstern leuchteten schwach im Licht des Vollmonds, so dass die goldfarbenen Symbole der Gilde sich wie schwarze Schemen auf dem feinen Papier abzeichneten.

Dann wurde ihm klar, warum er aufgewacht war. Jemand hämmerte an seine Tür.

Wie spät ist es? Er richtete sich auf und massierte sich die Augen, um die Schläfrigkeit zu vertreiben. Das Hämmern dauerte an. Er seufzte, stand auf und taumelte aus seinem Schlafzimmer zur Haupttür seines Quartiers.

Lord Osen stand draußen, und er wirkte vollkommen aufgelöst und verzweifelt.

»Administrator«, flüsterte er. »Lord Jolen und seine Familie sind ermordet worden.«

Lorlen starrte seinen Assistenten an. Lord Jolen. Einer der Heiler. Ein junger Mann, der kürzlich geheiratet hatte. Ermordet?

»Lord Balkan hat nach den höheren Magiern geschickt«, fügte Osen drängend hinzu. »Ihr solltet mit den anderen in den Tagessaal kommen. Soll ich, während Ihr Euch anzieht, den anderen Bescheid sagen, dass Ihr unterwegs seid?«

Lorlen blickte an sich hinab. »Natürlich.«

Osen nickte, dann eilte er davon. Lorlen schloss die Tür und kehrte in sein Schlafzimmer zurück. Dort nahm er eine blaue Robe aus dem Schrank und begann sich anzukleiden.

Jolen war tot. Und seine Familie ebenfalls. Ermordet, so hatte es Osen berichtet. Lorlens Gedanken überschlugen sich. Wie war das möglich? Es war nicht leicht, Magier zu töten. Der Mörder musste entweder kenntnisreich und klug sein, oder aber er war ebenfalls ein Magier. Oder noch schlimmer, schoss es ihm durch den Kopf. Ein schwarzer Magier. Furchtbare Möglichkeiten taten sich in ihm auf, und er blickte auf seinen Ring hinab.

Nein, sagte er sich. Warte, bis du die Einzelheiten erfährst.

Er gürtete die Schärpe seiner Robe, dann verließ er seine Räume. Sobald er das Magierquartier hinter sich gelassen hatte, eilte er durch den Innenhof auf das Gebäude zu, das die Sieben Bogen genannt wurde. Im linken Teil davon lag der Abendsaal, in dem die allwöchentliche gesellige Zusammenkunft der Magier stattfand. Der Raum in der Mitte war der Bankettsaal. Auf der rechten Seite des Gebäudes befand sich der Tagessaal, in dem wichtige Gäste empfangen und bewirtet wurden.

Als Lorlen eintrat, war er einen Moment lang geblendet von der plötzlichen Helligkeit. Der Tagessaal war im Gegensatz zum Abendsaal, wo Dunkelblau und Silber vorherrschten, ganz in Weiß und Gold gehalten und wurde jetzt von mehreren Lichtkugeln erhellt. Die Wirkung war unangenehm grell.

Sieben Männer standen in der Mitte des Raums. Lord Balkan und Lord Sarrin nickten Lorlen zu. Rektor Jerrik unterhielt sich mit den beiden Studienleitern Peakin und Telano. Lord Osen stand neben dem einzigen Mann, der keine Roben trug.

Als Lorlen Hauptmann Barran erkannte, schnürte sich ihm die Kehle zu. Ein Magier war tot, und der Hauptmann, der die seltsamen Mordfälle in der Stadt untersuchte, befand sich in der Gilde. Vielleicht war die Situation tatsächlich so schlimm, wie er befürchtete.

Balkan trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. »Administrator.«

»Lord Balkan«, erwiderte Lorlen. »Ihr wollt gewiss, dass ich mit meinen Fragen warte, bis Lady Vinara, Administrator Kito und der Hohe Lord hier sind.«

Balkan zögerte. »Ja. Aber den Hohen Lord habe ich nicht hergebeten. Ich werde Euch meine Gründe dafür in Kürze darlegen.«

Lorlen gab sich alle Mühe, überrascht dreinzublicken. »Akkarin kommt nicht?«

»Noch nicht.«

Als die Tür geöffnet wurde, drehten sie sich um. Kito, ein Magier aus Vin, trat ein. Kitos Rolle als Auslandsadministrator führte dazu, dass er sich die meiste Zeit außerhalb der Gilde und Kyralias aufhielt. Er war erst vor wenigen Tagen aus Vin zurückgekehrt, um sich mit dem wilden Magier zu beschäftigen, den Dannyl zur Verhandlung herbrachte.

Lorlen dachte an Akkarins Prophezeiung: Die Gilde wird das Interesse an dem Mörder verlieren, sobald Botschafter Dannyl mit dem wilden Magier eintrifft, Lorlen.

Wenn dies hier so schlimm ist, wie ich befürchte, ging es Lorlen durch den Kopf, dürfte eher genau das Gegenteil eintreten.

Während Balkan Kito begrüßte, trat Hauptmann Barran auf Lorlen zu. Der junge Wachmann brachte ein grimmiges Lächeln zustande.

»Guten Abend, Administrator. Dies ist das erste Mal, dass die Gilde mich auf einen Mord aufmerksam gemacht hat, statt umgekehrt.«

»Wirklich?«, erwiderte Lorlen. »Wer hat Euch Bescheid gegeben?«

»Lord Balkan. Es sieht so aus, als sei es Lord Jolen vor seinem Tod gelungen, noch kurz Verbindung mit ihm aufzunehmen.«

Lorlen stockte der Atem. Wusste Balkan also, wer der Mörder war? Als er sich zu dem Krieger umwandte, wurde die Tür des Tagessaals abermals geöffnet, und Lady Vinara trat ein.

Sie sah sich im Raum um, stellte fest, wer zugegen war, und nickte dann. »Ihr seid alle hier. Gut. Vielleicht sollten wir uns setzen. Wir stehen vor einer ernsten, erschreckenden Situation.«

Stühle schwebten von den Seiten des Raums heran. Auf den Zügen Hauptmann Barrans spiegelte sich eine Mischung aus Faszination und Ehrfurcht, während er beobachtete, wie sich die Stühle zu einem Kreis formierten. Sobald alle Platz genommen hatten, wandte Vinara sich Balkan zu.

»Ich denke, Lord Balkan sollte beginnen«, sagte sie, »da er der Erste war, der von den Morden erfahren hat.«

Balkan nickte zustimmend. »Vor zwei Stunden«, erklärte er, »hat Lord Jolen mittels Gedankenrede nach mir gerufen. Seine Stimme war sehr schwach, aber ich habe meinen Namen gehört und große Angst wahrgenommen. Als ich mich jedoch auf den Ruf konzentrierte, konnte ich nur die Identität des Sprechers feststellen und das Gefühl, dass er – mit Magie – von einem anderen verletzt wurde, bevor die Verbindung abrupt abbrach. Ich versuchte, den Kontakt zu Lord Jolen wiederherzustellen, bekam aber keine Antwort.

Ich habe dann Lady Vinara von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt und von ihr erfahren, dass Lord Jolen sich mit seiner Familie in der Stadt aufhielt. Sie konnte ihn ebenfalls nicht erreichen, also beschloss ich, das Haus seiner Familie aufzusuchen. Als ich dort erschien, kam kein Diener herbei, um mich zu empfangen. Ich öffnete das Schloss der Tür, und dahinter bot sich mir ein furchtbarer Anblick.«

Balkans Miene verfinsterte sich. »Alle Mitglieder des Haushalts waren getötet worden: Bei der Durchsuchung des Gebäudes stieß ich auf die Leichen von Jolens Familie und seinen Dienern. Ich habe die Opfer untersucht, konnte aber nicht mehr als Kratzer und Prellungen entdecken. Dann fand ich Jolens Leichnam.«

Er hielt inne, denn Lord Telano hatte einen Laut der Verwirrung ausgestoßen.

»Seinen Leichnam? Wie ist das möglich? Hat er sich nicht erschöpft?«

Lorlen sah, dass Vinara auf den Boden starrte und den Kopf schüttelte.

»Daraufhin habe ich Verbindung zu Vinara aufgenommen und sie gebeten, in Jolens Haus zu kommen, um die Opfer ihrerseits zu untersuchen«, fuhr Balkan fort. »Als sie erschien, bin ich zur Stadtwache geeilt, um zu hören, ob irgendwelche eigenartigen Geschehnisse in diesem Gebiet vorgefallen waren. Hauptmann Barran war anwesend; er hatte soeben eine Zeugin befragt.« Balkan hielt inne. »Hauptmann, ich denke, Ihr solltet uns die Geschichte der Zeugin erzählen.«

Der junge Wachmann blickte in die Runde, dann räusperte er sich.

»Ja, meine Herren – und meine Dame.« Er legte die Hände zusammen. »Aufgrund der zunehmenden Zahl der Morde habe ich in letzter Zeit viele Zeugen verhört, aber nur wenige von ihnen hatten etwas Nützliches gesehen. Einige Leute kamen in der Hoffnung, dass eine ihrer Beobachtungen – zum Beispiel von einem Fremden, der des Nachts durch ihre Straßen streifte – von Belang sein könnte. Die Geschichte dieser Frau unterschied sich nicht von den anderen – bis auf einen einzigen bemerkenswerten Vorfall.

Sie war am späten Abend auf dem Heimweg, nachdem sie Obst und Gemüse in eins der Häuser im Inneren Ring geliefert hatte. Unterwegs hörte sie Schreie aus einem Haus – dem Wohnort von Lord Jolens Familie. Sie beschloss, weiterzueilen, aber als sie das nächste Haus erreichte, hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie bekam es mit der Angst und versteckte sich in der Dunkelheit eines Tors. Von dort aus beobachtete sie, wie ein Mann aus dem Dienstboteneingang des Hauses trat, an dem sie soeben vorbeigekommen war.« Barran hielt einen Moment. »Die Zeugin sagte, dieser Mann habe Magierroben getragen. Schwarze Magierroben.«

Die höheren Magier tauschten beunruhigte Blicke. Alle bis auf Balkan und Osen schienen Zweifel zu haben, wie Lorlen bemerkte. Vinara dagegen wirkte nicht überrascht.

»War die Zeugin sich sicher, dass die Roben schwarz waren?«, fragte Sarrin. »In der Dunkelheit könnte jede Farbe schwarz erscheinen.«

Barran nickte. »Ich habe ihr die gleiche Frage gestellt. Sie war sich vollkommen sicher. Der Mann ist an dem Tor vorbeigekommen, in dem sie sich versteckt hatte. Sie hat schwarze Roben beschrieben, mit einem Incal am Ärmel.«

An die Stelle der Skepsis in den Gesichtern der Magier trat jetzt Erschrecken. Lorlen starrte Barran an. Er konnte kaum noch atmen.

»Aber es war gewiss -«, begann Sarrin, verfiel jedoch sofort in Schweigen, als Balkan ihm bedeutete zu warten.

»Sprecht weiter, Hauptmann«, sagte Balkan leise, »erzählt ihnen auch den Rest.«

Barran nickte. »Sie sagte, seine Hände seien blutverschmiert gewesen, und er habe ein Messer dabeigehabt. Sie hat das Messer genau beschrieben. Eine gewölbte Klinge mit einem juwelenbesetzten Griff.«

Ein langes Schweigen folgte, dann holte Sarrin tief Luft. »Wie verlässlich ist diese Zeugin? Könnt Ihr sie herbringen?«

Barran zuckte die Achseln. »Ich habe mir ihren Namen und ihren Arbeitsplatz nennen lassen und beides notiert. Um die Wahrheit zu sagen, schenkte ich ihrer Geschichte keinerlei Glauben, bis ich hörte, was Lord Balkan in dem Haus entdeckt hatte. Jetzt wünschte ich, ich hätte ihr mehr Fragen gestellt oder sie länger auf der Wache behalten.«

Balkan nickte. »Wir werden sie gewiss wiederfinden. Und nun…« Er drehte sich zu Vinara um. »Vielleicht ist es jetzt an der Zeit zu hören, was Lady Vinara herausgefunden hat.«

Die Heilerin straffte sich. »Lord Jolen lebte bei seiner Familie, damit er sich um seine Schwester kümmern konnte, die eine schwierige Schwangerschaft durchmachte. Ich habe seinen Leichnam zuerst untersucht und dabei zwei beunruhigende Entdeckungen gemacht. Die erste…«, sie griff in ihre Robe und holte einen Fetzen schwarzen Tuchs hervor, der mit Goldfaden bestickt war, »war dies hier, das er mit der rechten Hand umklammert hielt.«

Als sie den Stofffetzen in die Höhe hielt, wurde Lorlen kalt bis auf die Knochen. Die Stickerei zeigte den Teil eines Symbols, das ihm nur allzu vertraut war: das Incal des Hohen Lords. Vinaras Blick wanderte in seine Richtung, und sie runzelte besorgt und mitfühlend die Stirn.

»Worin bestand die zweite Entdeckung?«, fragte Balkan mit gedämpfter Stimme.

Vinara zögerte, dann holte sie tief Luft. »Der Grund dafür, dass Lord Jolens Körper noch existiert, ist folgender: Es waren nicht die geringsten Überreste von Energie mehr darin vorhanden. Die einzige Wunde an seinem Körper war ein flacher Schnitt an seinem Hals. Die anderen Leichen zeigten die gleichen Spuren. Meine Vorgängerin hat mich gelehrt, diese Spuren zu erkennen.« Vinara hielt inne und blickte in die Runde. »Lord Jolen, seine Familie und ihre Diener wurden durch schwarze Magie getötet.«

Entsetzte Ausrufe folgten, dann breitete sich Schweigen aus, während die Anwesenden langsam begriffen, was das bedeutete. Lorlen konnte beinahe hören, wie seine Gefährten über Akkarins Stärke nachsannen – und abwogen, welche Chancen die Gilde hatte, ihn im Kampf zu besiegen. Er sah Furcht und Panik in ihren Gesichtern.

Es selbst fühlte sich eigenartig ruhig und… erleichtert. Seit mehr als zwei Jahren belastete ihn nun das Geheimnis von Akkarins Verbrechen. Ob zum Guten oder zum Schlechten, jetzt hatte die Gilde dieses Geheimnis selbst entdeckt. Er sah die höheren Magier an. Sollte er eingestehen, dass er von Akkarins Verbrechen gewusst hatte? Nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt, dachte er.

Aber was sollte er dann tun? Die Gilde war nicht stärker geworden, und Akkarin – falls er dieses Verbrechens schuldig war – gewiss nicht schwächer. Die vertraute Angst vertrieb seine Erleichterung.

Um die Gilde zu schützen, sollte ich alles in meinen Kräften Stehende tun, um eine Konfrontation zwischen ihr und Akkarin zu verhindern. Aber wenn Akkarin dies getan hat… Nein, es wäre möglich, dass er es nicht getan hat. Ich weiß, dass andere schwarze Magier in Kyralia getötet haben.

»Was sollen wir tun?«, fragte Telano kleinlaut.

Alle drehten sich nun zu Balkan um. Lorlen verspürte einen leisen Unwillen darüber. War nicht er nach Akkarin der Führer der Gilde? Dann sah Balkan ihn erwartungsvoll an, und er spürte ein schiefes Bedauern, als die vertraute Last seiner Position ihn abermals niederdrückte.

»Was schlagt Ihr vor, Administrator? Ihr kennt ihn am besten.«

Lorlen zwang sich, sich ein wenig höher aufzurichten. Er hatte sich so viele Male zurechtgelegt, was er ihnen in dieser Situation sagen würde.

»Wir müssen vorsichtig sein«, warnte er sie. »Wenn Akkarin der Mörder ist, wird er jetzt noch stärker sein. Ich schlage vor, dass wir dies sehr gründlich bedenken, bevor wir ihn zur Rede stellen.«

»Wie stark ist er?«, fragte Telano.

»Als wir ihn für die Position des Hohen Lords prüften, konnte er mühelos zwanzig unserer stärksten Magier überwältigen«, erwiderte Balkan. »Bei schwarzer Magie lässt sich unmöglich sagen, wie stark ein Magier ist.«

»Wie lange praktiziert er diese Magie schon, das wüsste ich gern?«, sagte Vinara. Dann sah sie Lorlen an. »Ist Euch jemals etwas Seltsames an Akkarin aufgefallen, Administrator?«

Lorlen brauchte sich nicht zu verstellen, um diese Frage mit einiger Erheiterung aufzunehmen. »Seltsam? Akkarin? Er ist schon immer rätselhaft und heimlichtuerisch gewesen, sogar mir gegenüber.«

»Er könnte seit Jahren schwarze Magie praktizieren«, murmelte Sarrin. »Wie stark würde er dann jetzt sein?«

»Was mir Sorgen macht, ist die Frage, wie er in den Besitz dieser Kenntnisse kommen konnte«, fügte Kito leise hinzu. »Ist er während seiner Reisen damit in Berührung gekommen?«

Lorlen seufzte, als sie die verschiedenen Möglichkeiten abwogen, die auch ihn beschäftigt hatten, seit er die Wahrheit entdeckt hatte. Er ließ ihnen ein wenig Zeit, doch dann, gerade als er das Gespräch unterbrechen wollte, ergriff Balkan das Wort.

»Für den Augenblick spielt es keine Rolle, wie oder wo er schwarze Magie gelernt hat. Was zählt, ist die Frage, ob wir ihn in einem Kampf besiegen können.«

Lorlen nickte. »Ich habe Zweifel, was unsere Chancen betrifft. Ich denke, wir sollten dies vielleicht für uns behalten -«

»Wollt Ihr damit vorschlagen, dass wir den Vorfall ignorieren?«, rief Peakin. »Und einen schwarzen Magier an der Spitze unserer Gilde belassen?«

»Nein.« Lorlen schüttelte den Kopf. »Aber wir brauchen Zeit, um einen Weg zu finden, wie wir ihn gefahrlos überwältigen können, falls er tatsächlich der Mörder ist.«

»Wir werden nicht stärker«, gab Vinara zu bedenken. »Er dagegen kann seine Stärke von Tag zu Tag mehren.«

»Lorlen hat Recht. Wir müssen unser Vorgehen sorgfältig planen«, sagte Balkan. »Mein Vorgänger hat mich gelehrt, wie man gegen einen schwarzen Magier kämpfen kann. Es ist nicht einfach, aber es ist auch nicht unmöglich.«

Interesse und Hoffnung regten sich in Lorlen. Wenn er sich doch nur mit dem Krieger hätte beraten können, bevor Akkarin erfahren hatte, dass Lorlen sein Geheimnis kannte. Vielleicht hatten sie ja doch eine Chance, Akkarin unschädlich zu machen.

Er hielt inne. Wollte er Akkarin wirklich tot sehen? Aber was ist, wenn er tatsächlich Jolen und mit ihm alle anderen Menschen in dessen Haus getötet hatte? Verdiente er es nicht, dafür bestraft zu werden?

Ja, aber wir sollten uns sehr sicher sein, dass er der Schuldige ist.

»Wir sollten auch in Erwägung ziehen, dass er vielleicht nicht der Mörder ist«, sagte Lorlen. Er sah Balkan an. »Wir haben lediglich die Aussage einer Zeugin und einen Fetzen Stoff. Könnte ein anderer Magier sich so gekleidet haben, wie Akkarin es tut? Könnte er Jolen diesen Stofffetzen in die Hand gegeben haben?« Lorlen kam ein Gedanke. »Ich möchte ihn mir noch einmal ansehen.«

Vinara gab ihm das Stück Tuch. Während Lorlen es untersuchte, nickte er langsam. »Seht euch das an, es ist abgeschnitten worden, nicht abgerissen. Wenn Jolen das getan hat, muss er irgendeine Klinge gehabt haben. Warum hat er seinen Angreifer dann nicht stattdessen erdolcht? Und wäre es nicht seltsam, wenn der Mörder nicht bemerkt hätte, dass ein Stück von seinem Ärmel abgeschnitten wurde? Ein kluger Mann hätte einen solchen Beweis nicht zurückgelassen – ebenso wenig, wie er mit der Waffe, die er benutzt hat, auf die Straße hinausgegangen wäre.«

»Ihr denkt also, es könnte ein anderer Magier aus der Gilde gewesen sein, der uns Glauben machen wollte, Akkarin sei der Schuldige?«, fragte Vinara stirnrunzelnd. »Ich nehme an, das wäre möglich.«

»Es könnte auch ein Magier gewesen sein, der nicht der Gilde angehört«, fügte Lorlen hinzu. »Wenn Dannyl in Elyne einen wilden Magier, einen sogenannten Einzelgänger, finden konnte, wäre es möglich, dass noch andere existieren.«

»Nichts deutet auf einen weiteren wilden Magier in Kyralia hin«, wandte Sarrin ein. »Und Einzelgänger sind im Allgemeinen unwissend, weil sie nie ausgebildet wurden. Wie sollte ein wilder Magier schwarze Magie erlernen?«

Lorlen zuckte die Achseln. »Wie würde irgendein Magier schwarze Magie erlernen? Im Geheimen natürlich. Der Gedanke mag uns zwar nicht gefallen, aber ob es sich bei dem Mörder nun um Akkarin oder jemand anderen handelt, der Betreffende hat irgendwie schwarze Magie erlernt.«

Die anderen schwiegen, um über diese Bemerkung nachzudenken.

»Dann ist Akkarin vielleicht doch nicht der Mörder«, sagte Sarrin. »Wenn er es nicht ist, weiß er, dass wir den Fall auf die gewohnte Art untersuchen müssen, und er wird uns dabei unterstützen.«

»Aber wenn er es doch ist, könnte er sich gegen uns wenden«, ergänzte Peakin.

»Also, was sollen wir tun?«

Balkan erhob sich und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Sarrin hat Recht. Wenn er unschuldig ist, wird er kooperieren. Wenn er jedoch schuldig ist, dann sollten wir jetzt handeln. Die Zahl der Morde heute Nacht und die Tatsache, dass der Täter sich nicht die Mühe gemacht hat, die Beweise zu verbergen, deuten auf die Vorbereitungen eines schwarzen Magiers hin, der sich zum Kampf rüstet. Wir müssen Akkarin sofort zur Rede stellen, oder es könnte zu spät sein.«

Lorlens Herz setzte einen Schlag aus. »Aber Ihr habt gesagt, Ihr würdet Zeit brauchen, um das Ganze zu planen.«

Balkan lächelte grimmig. »Ich habe gesagt, sorgfältige Planung sei unerlässlich. Es gehört zu meinen Pflichten als Oberhaupt der Krieger, sicherzustellen, dass wir jederzeit bereit sind, es mit einer solchen Gefahr aufzunehmen. Der Schlüssel zum Erfolg besteht nach Auffassung meines Vorgängers darin, den Feind zu überraschen, solange er von seinen Verbündeten isoliert ist. Mein Diener hat mich informiert, dass sich nachts nur drei Personen in der Residenz des Hohen Lords aufhalten. Akkarin, sein Diener und Sonea.«

»Sonea!«, entfuhr es Vinara. »Welche Rolle spielt sie bei alldem?«

»Sie hat eine Abneigung gegen Akkarin«, meldete sich Osen zu Wort. »Ich würde sogar sagen, dass sie ihn hasst.«

Lorlen sah seinen Assistenten überrascht an.

»Wie das?«, fragte Vinara.

Osen zuckte die Achseln. »Eine Beobachtung, die ich gemacht habe, als er zu ihrem Mentor wurde. Noch heute hält sie sich nur ungern in seiner Gesellschaft auf.«

Vinara blickte nachdenklich drein. »Ich frage mich, ob sie irgendetwas weiß. Sie könnte eine wertvolle Zeugin sein.«

»Und eine Verbündete«, fügte Balkan hinzu. »Solange er sie nicht wegen ihrer Stärke tötet.«

Vinara schauderte. »Also, wie wollen wir die beiden voneinander trennen?«

Balkan lächelte. »Ich habe einen Plan.«


Ihr Führer für die Rückkehr durch die unterirdischen Tunnel war derselbe Junge mit den harten Augen, der sie auf dem Hinweg begleitet hatte. Während sie ihm folgten, wich der Aufruhr in Soneas Gedanken langsam vernünftiger Ruhe. Als ihr Führer sie schließlich allein ließ, war sie voller neuer Fragen.

»Die Frau war eine Ichani, nicht wahr?«

Akkarin sah sie an. »Ja, eine der schwächeren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Kariko sie überredet hat, hierher zu kommen. Eine Bestechung vielleicht oder Erpressung.«

»Werden sie weitere Ichani nach Kyralia schicken?«

Er dachte nach. »Vielleicht. Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit gehabt, ihre Gedanken zu lesen.«

»Das tut mir leid.«

Seine Mundwinkel zuckten schwach. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mir ist es lieber, dass du lebst.«

Sie lächelte. Während des Rückwegs war Akkarin unnahbar und nachdenklich gewesen. Jetzt konnte er es offensichtlich kaum erwarten, nach Hause zurückzukehren. Sie folgte ihm durch den Tunnel bis zu der mit Steinen gefüllten Nische. Unter Akkarins Blick formten die Steine sich wieder zu Treppen. Mit ihrer nächsten Frage wartete Sonea, bis das Kratzen von Stein auf Stein verklungen war.

»Warum hatte sie in der Nische einen Ring des Hauses Saril und einen teuren Umhang?«

Auf halbem Weg die Treppe hinunter blieb Akkarin stehen und drehte sich um, um Sonea anzustarren. »Was sagst du da? Ich…«

Plötzlich wanderte sein Blick zu einem Punkt hinter ihr. Der nachdenkliche Gesichtsausdruck, den er während der vergangenen Stunde gezeigt hatte, kehrte zurück. Dann verdunkelte sich seine Miene.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann sog er scharf die Luft ein, und seine Augen weiteten sich. Im nächsten Moment stieß er einen Fluch aus, von dem sie gedacht hatte, dass er nur den Hüttenleuten bekannt sei.

»Was ist passiert?«, wiederholte sie.

»Die höheren Magier sind in meiner Residenz. In dem unterirdischen Raum.«

Sonea stockte der Atem, und eine Welle von Kälte durchlief ihren Körper.

»Warum?«

Akkarins Blick war auf eine Stelle irgendwo jenseits der Tunnelmauern gerichtet.

»Lorlen…«

Sonea spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Lorlen konnte doch unmöglich beschlossen haben, die Gilde gegen Akkarin aufzuwiegeln.

Etwas in Akkarins Miene verbot ihr alle weiteren Fragen. Er dachte konzentriert nach, vermutete sie. Und traf schwierige Entscheidungen. Nach langem Schweigen holte er schließlich tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus.

»Das verändert alles«, erklärte er und sah zu ihr auf. »Du musst tun, was immer ich sage, ganz gleich, wie schwer es dir fallen wird.«

Seine Stimme klang ruhig und angespannt. Sonea nickte und versuchte, ihre wachsende Angst zu bezähmen.

Akkarin ging die Treppe wieder hinauf, bis sie einander gegenüberstanden. »Lord Jolen ist heute Nacht ermordet worden, zusammen mit seiner Familie und seinen Dienern, wahrscheinlich von der Frau, die du gerade getötet hast. Das erklärt den Umhang und den Ring des Hauses Saril in ihrem Besitz – Trophäen, vermute ich. Vinara hat in Jolens Hand einen Fetzen Stoff von meinen Roben gefunden – zweifellos hat die Inchani ihn während unseres ersten Kampfes abgeschnitten -, und sie hat erkannt, dass die Morde mit schwarzer Magie ausgeführt wurden. Eine Zeugin hat jemanden, der genauso gekleidet war wie ich, das Haus mit einem Messer verlassen sehen.« Er wandte den Blick ab. »Ich frage mich, woher die Ichani die Roben hatte und wo sie sie angelegt haben mag…«

Sonea starrte ihn an. »Dann glaubt die Gilde jetzt also, Ihr wärt der Mörder.«

»Sie ziehen diese Möglichkeit in Erwägung, ja. Balkan hat zu Recht erklärt, dass ich, wenn ich unschuldig sei, kooperieren werde, und dass man mich, wenn ich schuldig bin, ohne Verzug stellen müsse. Ich habe bereits darüber nachgedacht, was ich in einem solchen Fall tun würde und wie du dich verhalten solltest. Jetzt jedoch hat sich die Situation vollkommen verändert.«

Er hielt inne und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Balkan hat klugerweise geplant, mich von dir und Takan zu isolieren. Er hat einen Boten mit der Nachricht von Jolens Tod zu den höheren Magiern geschickt und sie gleichzeitig zusammengerufen. Als er hörte, dass ich nicht in der Residenz sei, hat er nach dir schicken lassen. Er hatte mit den anderen nicht besprochen, was er tun sollte, wenn du ebenfalls nicht dort wärst, daher habe ich angenommen, dass er das als Nächstes tun würde, so dass ich durch Lorlen von seinen Absichten erfahren hätte. Aber er muss bereits einen Plan gehabt haben.« Akkarin runzelte die Stirn. »Natürlich hatte er das.«

Sonea schüttelte den Kopf. »Das alles ist passiert, während wir auf dem Rückweg waren, nicht wahr?«

Akkarin nickte. »Ich konnte nichts sagen, solange unser Führer da war.«

»Also, was hat Balkan getan?«

»Er ist in die Residenz zurückgekehrt und hat sie durchsucht.«

Sonea fröstelte bei dem Gedanken an die Bücher und die anderen Gegenstände, die Balkan in dem unterirdischen Raum finden würde. »Oh.«

»Ja. Oh. Zuerst sind sie nicht in den unterirdischen Raum eingebrochen. Aber nachdem sie Bücher über schwarze Magie in deinem Zimmer gefunden hatten, wuchs ihre Entschlossenheit, jeden Winkel des Hauses abzusuchen.«

Sonea gefror das Blut in den Adern. Bücher über schwarze Magie. In ihrem Zimmer.

Sie wissen Bescheid.

Die Zukunft, die sie sich ausgemalt hatte, blitzte vor ihren Augen auf. Noch zwei Jahre Studium, Abschluss, die Wahl einer Disziplin, die Möglichkeit, die Heiler vielleicht dazu zu bringen, dass sie den Armen halfen. Vielleicht hätte sie sogar den König dazu bewegen können, die Säuberungen einzustellen.

Nichts von dem würde geschehen. Niemals.

Die Gilde wusste, dass sie Wissen über schwarze Magie erworben hatte. Die Strafe für dieses Verbrechen war der Ausschluss aus der Gilde. Wenn außerdem bekannt wurde, dass sie schwarze Magie erlernt und sie benutzt hatte, um zu töten…

Aber sie hatte ihre Zukunft aus einem guten Grund aufs Spiel gesetzt. Wenn die Ichani Kyralia überfielen, würde es ohnehin niemals dazu kommen, dass sie ihren Abschluss machte oder den Säuberungen Einhalt gebot.

Rothen wird diese Sache furchtbar treffen.

Sie drängte den Gedanken mit aller Macht beiseite. Sie brauchte einen klaren Kopf, um Pläne zu machen. Was sollten sie tun, jetzt, da die Gilde Bescheid wusste? Wie würden sie und Akkarin den Kampf gegen die Ichani fortsetzen können?

Es lag auf der Hand, dass sie nicht in die Gilde zurückkehren konnten. Sie würden sich in der Stadt verstecken müssen. Die Notwendigkeit, einer Entdeckung durch die Gilde entgehen zu müssen, machte alles schwieriger, aber nicht unmöglich. Akkarin kannte die Diebe. Auch sie hatte einige nützliche Verbindungen. Sie sah Akkarin an.

»Was tun wir jetzt?«

Er blickte die Treppe hinunter. »Wir kehren zurück.«

Sie starrte ihn an. »In die Gilde?«

»Ja. Wir erzählen ihnen von den Ichani.«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Ihr habt gesagt, dass sie Euch Eurer Meinung nach nicht glauben werden.«

»Das werden sie vermutlich auch nicht. Trotzdem muss ich ihnen zumindest die Chance geben.«

»Aber was ist, wenn sie Euch nicht glauben?«

Akkarins Blick wurde unstet. Er sah zu Boden. »Es tut mir leid, dass ich dich in diese Geschichte hineingezogen habe, Sonea. Wenn ich irgend kann, werde ich dich vor den schlimmsten Konsequenzen schützen.«

Sie schnappte nach Luft, dann verfluchte sie sich leise. »Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen«, erklärte sie bestimmt. »Es war meine Entscheidung. Ich kannte die Risiken. Sagt mir, was ich tun muss, und ich werde es tun.«

Seine Augen weiteten sich leicht. Er öffnete den Mund, dann trat wieder dieser geistesabwesende Ausdruck in seine Augen.

»Sie bringen Takan weg. Wir müssen uns beeilen.«

Er eilte die Treppe hinunter. Sonea lief ihm nach. Als er das Labyrinth der Tunnel betrat, drehte sie sich noch einmal um.

»Die Treppe?«

»Kümmere dich nicht darum.«

Sie begann zu rennen und holte ihn ein. Es war schwierig, mit seinen langen Schritten mitzuhalten, und sie verkniff sich eine Bemerkung darüber, dass er ein wenig mehr Rücksicht auf Menschen mit kürzeren Beinen nehmen könnte.

»Zwei Menschen müssen in dieser ganzen Angelegenheit dringend geschützt werden«, sagte er. »Takan und Lorlen. Erwähne auf keinen Fall Lorlens Ring oder die Tatsache, dass er schon früher Kenntnis von diesen Dingen gehabt hat. Wir werden ihn in der Zukunft vielleicht noch brauchen.«

Allzu bald verlangsamte er sein Tempo und blieb vor der Tür zu dem unterirdischen Raum stehen. Er zog seinen Mantel aus, faltete ihn zusammen und legte ihn neben die Tür. Dann öffnete er den Messergürtel und warf ihn auf das Kleidungsstück. Über ihren Köpfen flammte eine Lichtkugel auf. Akkarin blendete die Lampe ab und stellte sie neben den Mantel.

Lange Zeit stand er einfach nur da und betrachtete die Tür zu dem unterirdischen Raum, die nackten Arme über seinem schwarzen Wams verschränkt. Sonea wartete schweigend an seiner Seite.

Es war schwer zu glauben, dass dies wirklich geschehen war. Morgen hätte sie eigentlich lernen sollen, wie man gebrochene Rippen heilte. In einigen Wochen würden die Sommerprüfungen beginnen. Ein eigenartiger Sog ging von der Tür aus, ein seltsames Gefühl, dass sie nur den Weg zu ihrem Bett finden musste, dann würde sie am nächsten Morgen aufwachen und feststellen, dass alles so weiterging wie immer.

Aber in dem Raum jenseits dieser Tür warteten wahrscheinlich etliche Magier auf Akkarins Rückkehr. Sie wussten, dass Sonea schwarze Magie studiert hatte. Sie argwöhnten, dass Akkarin Lord Jolen getötet hatte. Sie würden gerüstet sein für einen Kampf.

Aber Akkarin stand immer noch reglos da. Langsam fragte sie sich, ob er vielleicht seine Meinung geändert hatte, als er sich schließlich zu ihr umdrehte.

»Bleib hier, bis ich nach dir rufe.«

Dann sah er die Tür mit zusammengekniffenen Augen an, worauf diese lautlos aufschwang.

Zwei Magier standen mit dem Rücken zu ihnen und blockierten den Weg in den Raum. Hinter den beiden konnte Sonea Lord Balkan sehen, der langsam im Zimmer auf und ab ging. Lord Sarrin saß am Tisch und betrachtete mit verwirrter Miene die Dinge, die dort lagen.

Sie bemerkten nicht, dass die Tür geöffnet worden war. Dann schauderte einer der Magier, der vor der Tür gestanden hatte, und blickte über die Schulter. Als er Akkarin sah, sog er scharf den Atem ein und machte einen Schritt zurück, wobei er seinen Gefährten mit sich zog.

Alle Köpfe wandten sich Akkarin zu, als dieser in den Raum trat. Selbst ohne den äußeren Umhang seiner schwarzen Tracht wirkte er ehrfurchtgebietend.

»Meine Güte, so viele Besucher«, sagte er. »Was führt euch alle so spät in der Nacht in meine Residenz?«

Balkan zog die Augenbrauen hoch. Er blickte zur Treppe hinüber. Hastige Schritte waren zu hören, dann kam Lorlen in Sicht. Der Administrator drehte sich zu Akkarin um, und seine Züge waren unerwartet gefasst.

»Lord Jolen und alle Mitglieder seines Haushalts sind heute Nacht ermordet worden.« Lorlens Stimme klang ruhig und beherrscht. »Man hat Beweise gefunden, die uns Grund zu der Vermutung geben, du könntest der Mörder sein.«

»Ich verstehe«, sagte Akkarin leise. »Dies ist eine ernste Angelegenheit. Ich habe Lord Jolen nicht getötet, aber das werdet ihr selbst herausfinden müssen.« Er hielt inne. »Wirst du mir erklären, wie Jolen gestorben ist?«

»Durch schwarze Magie«, antwortete Lorlen. »Und da wir soeben Bücher über schwarze Magie in deinem Haus gefunden haben – sogar in Soneas Zimmer -, haben wir umso mehr Grund, dich zu verdächtigen.«

Akkarin nickte langsam. »Das kann ich mir vorstellen.« Seine Mundwinkel zuckten. »Und diese Entdeckung muss euch alle vor Angst schier um den Verstand gebracht haben. Aber dazu besteht kein Anlass. Ich werde mein Verhalten erklären.«

»Du wirst dich uns nicht widersetzen?«, fragte Lorlen.

»Natürlich nicht.«

Die Erleichterung stand den anderen Magiern deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Aber ich habe eine Bedingung«, fügte Akkarin hinzu.

»Und die wäre?«, fragte Lorlen wachsam. Balkan blickte zu ihm hinüber.

»Mein Diener«, antwortete Akkarin. »Ich habe ihm einmal das Versprechen gegeben, dass man ihm nie wieder seine Freiheit rauben würde. Bringt ihn hierher.«

»Und wenn wir das nicht tun?«, fragte Lorlen.

Akkarin machte einen Schritt zur Seite. »Dann wird Sonea seinen Platz einnehmen.«

Jetzt erst bemerkten die Magier, dass Sonea hinter Akkarin im Flur stand, und sie fragten sich schaudernd, was die Novizin wohl denken mochte. Hatte sie schwarze Magie studiert? War sie gefährlich? Nur Lorlen würde vielleicht hoffen, dass sie gegen Akkarin aufbegehren würde; die anderen ahnten nichts von den Gründen, warum der Hohe Lord sie zu seiner Novizin gemacht hatte.

»Wenn ihr ihn herbringt, wird er zwei Verbündete an seiner Seite haben«, warnte Sarrin die anderen.

»Takan ist kein Magier«, sagte Balkan leise. »Solange wir ihn von Akkarin fern halten, stellt er keine Gefahr für uns da.« Er sah die anderen höheren Magier an. »Die Frage ist die: Wollt Ihr lieber Sonea in Gewahrsam nehmen oder den Diener?«

»Sonea«, erwiderte Vinara, ohne zu zögern. Die anderen nickten.

»Also gut«, sagte Lorlen. Sein Blick flackerte kurz und wurde dann wieder klar. »Ich habe den Befehl gegeben, ihn herzubringen.«

Ein langes, angespanntes Schweigen folgte. Schließlich konnte man Schritte die Treppe herunterkommen hören. Takan erschien in der Tür, begleitet von einem Krieger, der ihn an beiden Armen festhielt. Der Sachakaner war bleich und verängstigt.

»Verzeiht mir, Meister«, erklärte er. »Ich konnte sie nicht aufhalten.«

»Das weiß ich«, erwiderte Akkarin. »Du hättest es besser wissen und gar nicht erst versuchen sollen, mein Freund.« Er entfernte sich mehrere Schritte vom Eingang des Flurs. »Die Barrieren sind außer Kraft gesetzt, und ich habe die Treppe offen gelassen. Direkt vor der Tür wirst du alles finden, was du brauchst.«

Takan nickte. Die beiden Männer sahen einander an, dann nickte der Diener abermals. Akkarin wandte sich zu Sonea um.

»Komm herein, Sonea. Wenn Takan frei ist, geh zu Lorlen.«

Sonea holte tief Luft und trat in den Raum. Sie blickte zuerst den Krieger an, der Takan festhielt, dann Lorlen. Der Administrator nickte.

»Lasst ihn gehen.«

Als Takan sich von seinem Wächter entfernte, machte Sonea einen Schritt auf Lorlen zu. Als sie und Takan auf gleicher Höhe waren, hielt der Diener inne und verneigte sich.

»Gebt Acht auf meinen Meister, Lady Sonea.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach sie.

Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Als sie Lorlen erreichte, drehte sie sich noch einmal um, um dem Diener nachzusehen. Er verneigte sich vor Akkarin, dann trat er in den Flur hinaus. Als er in der Dunkelheit verschwunden war, schloss sich das Paneel hinter ihm.

Akkarin sah kurz zu Lorlen hinüber, dann blickte er auf den Tisch und die Stühle neben ihm. Der obere Teil seiner Roben hing noch immer über der Rückenlehne eines Stuhls. Er griff nach dem schwarzen Kleidungsstück und streifte es über. »Also, Administrator, wie können Sonea und ich euch bei euren Nachforschungen helfen?«

15 Schlechte Neuigkeiten

Rothen hatte soeben frische Roben angelegt, als er hörte, wie die Tür zu seinen Räumen geöffnet wurde.

»Lord Rothen?«, rief Tania.

Als er den drängenden Unterton in der Stimme seiner Dienerin wahrnahm, eilte er mit schnellen Schritten zur Schlafzimmertür. Tania stand mitten im Raum und rang die Hände.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Sie wandte sich zu ihm um, und ihre Miene wirkte gequält. »Gestern Nacht wurden der Hohe Lord und Sonea in Haft genommen.«

Er holte tief Luft, und eine Mischung aus Hoffnung und Erleichterung durchströmte ihn. Akkarin verhaftet! Endlich! Die Gilde musste sein Verbrechen entdeckt – ihn damit konfrontiert – und gesiegt haben!

Aber warum sollte die Gilde auch Sonea in Haft nehmen?

Ja, warum? Die freudige Erregung erlosch, und an ihre Stelle trat eine vertraute, nagende Furcht.

»Weswegen hat man sie verhaftet?«, zwang er sich zu fragen.

Tania zögerte. »Ich habe es nur aus vierter oder fünfter Hand erfahren, Rothen. Vielleicht stimmt es gar nicht.«

»Weswegen?«, wiederholte er.

Sie schnitt eine Grimasse. »Der Hohe Lord wurde wegen Mordes an Lord Jolen und allen Mitgliedern seines Haushalts verhaftet und weil er irgendeine Art von Magie erlernt hat. Schwarze Magie, denke ich. Was ist das?«

»Die verderbteste und böseste aller magischen Künste«, antwortete Rothen mutlos. »Aber was ist mit Sonea? Weshalb wurde sie verhaftet?«

Tania breitete die Hände aus. »Ich bin mir nicht sicher. Als seine Komplizin vielleicht.«

Rothen setzte sich in einen der Sessel im Empfangsraum. Dann holte er tief Luft. Natürlich musste die Gilde die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Sonea in die Angelegenheit verwickelt war. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie schuldig war.

»Ich habe nichts zu frühstücken mitgebracht«, sagte Tania entschuldigend. »Ich wusste, dass Ihr das sobald wie möglich würdet erfahren wollen.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte er. »Es sieht ohnehin nicht so aus, als würde ich heute Morgen Zeit zum Essen haben.« Er stand auf und trat einen Schritt auf die Tür zu. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich mal ein wenig mit Sonea unterhalte.«

Tanias Lächeln war angespannt. »Ich dachte mir, dass Ihr das würdet tun wollen. Lasst mich wissen, was sie sagt.«

Der junge Mann, der Dannyl in der Kutsche gegenübersaß, war geradezu schmerzlich abgemagert. Obwohl Farand sich in der Woche seit seiner Vergiftung hinreichend erholt hatte, um wieder gehen zu können, würde es eine Weile dauern, bis er wieder ganz bei Kräften war. Aber er lebte, und dafür war er sehr dankbar.

Dannyl hatte während der Seereise Tag und Nacht über den jungen Mann gewacht. Es war nicht schwierig gewesen, Schlaf und Erschöpfung mit seiner heilenden Magie zurückzuhalten, aber etwas Derartiges forderte immer seinen Tribut. Nach einer Woche fühlte Dannyl sich ungefähr so schlecht, wie Farand aussah.

Die Kutsche durchfuhr jetzt die Tore der Gilde. Als die Universität in Sicht kam, sog Farand scharf die Luft ein.

»Sie ist wunderschön«, flüsterte er.

»Ja.« Dannyl lächelte und blickte aus dem Fenster. Drei Magier standen auf den untersten Stufen der Treppe: Administrator Lorlen, Auslandsadministrator Kito und Lady Vinara.

Ein kleiner Stich der Furcht und der Enttäuschung durchzuckte Dannyl. Er hatte gehofft, dass der Hohe Lord ihn begrüßen würde. Aber wahrscheinlich wird er diese Dinge unter vier Augen besprechen wollen.

Die Kutsche hielt vor der Treppe, und Dannyl stieg aus. Als Farand ihm folgte, betrachteten ihn die drei höheren Magier mit einem Ausdruck wachsamer Neugier.

»Botschafter Dannyl«, sagte Lorlen. »Willkommen daheim.«

»Vielen Dank, Administrator Lorlen. Administrator Kito, Lady Vinara«, erwiderte Dannyl und neigte den Kopf. »Dies ist Farand von Darellas.«

»Willkommen, junger Darellas«, sagte Lorlen. »Ich fürchte, wir werden während der nächsten Tage mit einer anderen Angelegenheit beschäftigt sein, so dass wir nicht viel Zeit für Euch haben werden. Trotzdem werden wir dafür sorgen, dass Ihr es so behaglich wie möglich habt, und sobald diese andere Angelegenheit geregelt ist, werden wir uns mit Eurer einzigartigen Situation befassen.«

»Vielen Dank, Administrator«, erwiderte Farand unsicher.

Lorlen nickte, dann wandte er sich ab und ging die Treppe hinauf. Dannyl runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht mit Lorlen. Er wirkte angespannter als gewöhnlich.

»Kommt mit mir, Farand«, sagte Vinara zu dem jungen Mann. Dann sah sie Dannyl an, und ihre Miene wurde grimmig. »Sorgt dafür, dass Ihr ein wenig Ruhe findet, Botschafter. Ihr müsst den Schlaf nachholen, den Ihr versäumt habt.«

»Ja, Lady Vinara«, stimmte Dannyl ihr zu. Als sie mit Farand in der Universität verschwand, sah er Kito fragend an.

»Was ist das für eine andere Angelegenheit, von der Administrator Lorlen gesprochen hat?«

Kito stieß einen tiefen Seufzer aus. »Lord Jolen ist in der vergangenen Nacht ermordet worden.«

»Ermordet?« Dannyl starrte ihn an. »Wie?«

Der Magier schnitt eine Grimasse. »Mit schwarzer Magie.«

Dannyl spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Er blickte zu der Kutsche hinüber, in der das Buch in seinem Reisegepäck lag.

»Mit schwarzer Magie? Wer…?«

»Der Hohe Lord ist in Haft genommen worden«, fügte Kito hinzu.

»Akkarin!« Ein Frösteln überlief Dannyl. »Nicht er!«

»Ich fürchte, so ist es. Die Beweise sind vernichtend. Er hat sich bereit erklärt, uns bei unseren Nachforschungen zu unterstützen. Morgen wird es eine Anhörung geben.«

Dannyl hörte ihm kaum zu. Viele seltsame Zufälle und Ereignisse fügten sich in seinen Gedanken zu einem neuen Bild zusammen. Er dachte an die Nachforschungen, um die Lorlen ihn gebeten hatte und die er dann wieder einstellen sollte. Er erinnerte sich auch an Rothens plötzliches Interesse an denselben Informationen – kurz nachdem Sonea zu Akkarins Novizin gemacht worden war. Und dann waren da noch die Dinge, die das Buch des Dem offenbart hatte. Alte Magie – höhere Magie – war schwarze Magie.

Er hatte vermutet, dass Akkarins Reisen in diesem Punkt erfolglos geblieben waren.

Wie es aussah, hatte er sich geirrt.

Hatte Lorlen das vermutet? Oder Rothen? War das der Grund für die Nachforschungen gewesen?

Und ich wollte dieses Buch Akkarin überlassen.

»Wir werden uns erst nach der Anhörung mit dem Einzelgänger beschäftigen«, sagte Kito.

Dannyl blinzelte kurz, dann nickte er. »Natürlich. Nun, ich sollte wohl besser zuerst Lady Vinaras Befehle ausführen.«

Der Magier aus Vin lächelte. »Dann schlaft gut.«

Dannyl neigte den Kopf und machte sich auf den Weg zum Magierquartier. Schlafen? Wie konnte er schlafen, nachdem er das gehört hatte?

Ich habe diese Nachforschungen mit Akkarins Segen fortgesetzt, und ich habe ein Buch über schwarze Magie in meinem Gepäck. Wird das genügen, um mich des gleichen Verbrechens für schuldig zu befinden? Ich könnte das Buch verstecken. Akkarin werde ich es jedenfalls nicht übergeben… Genauso wenig wie ich irgendetwas mit ihm besprechen werde.

Als er begriff, was das für ihn persönlich bedeutete, stockte ihm für einen Moment der Atem. Wer würde Akkarin jetzt noch glauben, wenn er erklärte, dass Dannyls Beziehung zu Tayend lediglich eine List gewesen sei, um die Rebellen in die Falle zu locken?


Das letzte Mal war Sonea während ihrer Vorbereitung auf die Herausforderung im Dom gewesen. Das Gebäude war eine riesige, steinerne Kuppel und hatte früher einmal den Kriegern als Übungsraum gedient. Nach der Erbauung der Arena hatte die Gilde die Kuppel kaum noch benutzt, aber Sonea hatte hier für den Kampf gegen Regin trainiert, damit er und seine Gefolgsleute sie nicht beobachten konnten. Akkarin hatte die Mauern mit Magie verstärkt, um sicherzustellen, dass Sonea ihnen keinen Schaden zufügte. Ironischerweise half seine Magie jetzt, sie hier einzukerkern.

Nicht dass sie beabsichtigt hätte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Sie hatte Akkarin versprochen, dass sie tun würde, was immer er befahl. Er hatte lediglich davon gesprochen, dass sie Takan und Lorlen schützen müssten. Dann hatte er sie gegen Takan ausgetauscht. Also wollte er, dass sie hier war.

Oder aber er war bereit, sie zu opfern, um das Versprechen zu halten, dass er seinem Diener gegeben hatte.

Nein, dachte sie, er braucht mich zur Bestätigung seiner Geschichte. Takan stand Akkarin zu nahe. Niemand würde ihm glauben.

Sonea ging im Dom auf und ab. Die dicke Tür stand offen, um Luft einzulassen. Dahinter standen zwei Magier, die Sonea beobachteten, wann immer sie allein war.

Aber sie war nicht viel allein gewesen. Vinara, Balkan und Sarrin hatten ihr nacheinander Fragen nach Akkarins Tun gestellt. Sie wollte das Risiko nicht eingehen, irgendetwas preiszugeben, bevor Akkarin dazu bereit war. Daher hatte sie sich geweigert zu antworten. Zu guter Letzt hatten sie aufgegeben.

Jetzt, da sie endlich allein war, stellte sie fest, dass ihr auch das nicht gefiel. Sie fragte sich immer wieder, wo Akkarin sein mochte und ob ihr Schweigen seinen Wünschen entsprach. Es war unmöglich, die genaue Tagesstunde festzustellen, aber sie vermutete, dass die Dämmerung inzwischen dem hellen Tageslicht gewichen war. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, bezweifelte jedoch, dass es ihr gelungen wäre, selbst wenn sie statt des sandigen Fußbodens ein weiches Bett gehabt hätte.

Eine Bewegung jenseits der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie aufblickte, zog ihr Herz sich schmerzhaft zusammen.

Rothen.

Mit vor Sorge gefurchtem Gesicht betrat er den Dom. Als sie ihn ansah, versuchte er zu lächeln, und ihr wurde beinahe übel, so schuldig fühlte sie sich.

»Sonea«, sagte er, »wie geht es dir?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist eine törichte Frage, Rothen.«

Er schaute sich in der Kuppel um und nickte. »Ja. Damit hast du wahrscheinlich Recht.« Seufzend wandte er sich wieder Sonea zu. »Sie haben noch nicht entschieden, was sie mit dir machen wollen. Von Lorlen weiß ich, dass sie Bücher über schwarze Magie in deinem Zimmer gefunden haben. Hat Akkarin oder sein Diener diese Bücher dort hineingeschmuggelt?«

Sie seufzte. »Nein. Ich habe darin gelesen.«

»Warum?«

»Um meinen Feind besser zu verstehen.«

Er runzelte die Stirn. »Du weißt, dass es schon ein Verbrechen ist, wenn man nur über schwarze Magie liest.«

»Ja, ich weiß.«

»Trotzdem hast du diese Bücher gelesen?«

Sie sah ihm fest in die Augen. »Es gibt Risiken, die es lohnt einzugehen.«

»In der Hoffnung, dass wir diese Informationen benutzen könnten, um Akkarin zu besiegen?«

Sie senkte den Blick. »Nicht direkt.«

Er hielt inne. »Warum hast du es dann getan, Sonea?«

»Das kann ich Euch nicht sagen. Noch nicht.«

Rothen kam einen Schritt näher. »Warum nicht? Was hat er dir erzählt, um dich zu seiner Komplizin zu machen? Wir haben deine Tante und deinen Onkel gefunden. Sie und ihre Kinder sind in Sicherheit. Dorrien ist gesund und munter. Gibt es noch jemanden, den du beschützt?«

Sie seufzte. Ganz Kyralia.

»Ich kann nicht darüber sprechen, Rothen. Noch nicht. Ich weiß nicht, was Akkarin erzählt hat, aber er will nicht, dass ich irgendetwas offenbare, bevor er so weit ist. Es wird bis nach der Anhörung warten müssen.«

Zorn blitzte in Rothens Augen auf. »Seit wann interessiert es dich, was er will?«

Sie hielt seinem Blick stand. »Seit ich seine Beweggründe kenne. Aber das ist seine Geschichte, nicht meine. Wenn er sie erzählt, werdet Ihr mich verstehen.«

Er musterte sie zweifelnd. »Es fällt mir schwer, das zu glauben. Aber ich werde es versuchen. Gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann?«

Sie schüttelte den Kopf, dann zögerte sie. Rothen wusste, dass Lorlen sich seit über zwei Jahren über Akkarins Verbrechen im Klaren war. Was würde geschehen, wenn er der Gilde das offenbarte? Sie blickte zu ihm auf.

»Ja«, sagte sie leise. »Beschützt Lorlen.«


Savara strich mit der Hand über die Laken und lächelte.

»Schön.«

Cery kicherte. »Ein Dieb muss seinen Gästen das Gefühl geben, willkommen zu sein.«

»Du bist nicht wie die anderen Diebe«, bemerkte sie. »Er steckt hinter alldem, nicht wahr?«

»Wer?«

»Der Hohe Lord.«

Cery stieß einen Laut der Entrüstung aus. »Nicht hinter allem.«

»Nein?«

»Zum Teil ging es auch um Sonea. Faren hat sich damals bereit erklärt, sie vor der Gilde zu verstecken, aber die anderen Diebe haben ihn gezwungen, sie auszuliefern. Manche Leute sind der Meinung, dass Faren seine Seite des Handels nicht eingehalten hat.«

»Und was heißt das?«

»Wenn ich bereit bin, mit Faren zusammenzuarbeiten, werden andere nachziehen. Faren hat mir einige Male aus der Klemme geholfen.«

»Also hatte Akkarin nichts damit zu tun?«

»Nun, ein wenig schon«, gestand Cery. »Wenn er mich nicht gedrängt hätte, hätte ich vielleicht nicht den Mut dazu gehabt. Außerdem hat er mir die richtigen Informationen über jeden der Diebe gegeben. Es ist schwer, jemandem etwas abzuschlagen, der zu viele deiner Geheimnisse kennt.«

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das klingt so, als hätte er das von langer Hand geplant.«

»Genau das habe ich auch gedacht.« Cery zuckte die Achseln. »Als der Mörder die anderen Diebe zunehmend beunruhigt hat, habe ich mich erboten, ihn zu finden. Das hat den Dieben gefallen. Sie wussten nicht, dass ich schon seit Monaten nach ihm gesucht hatte. Jetzt tun sie allerdings so, als sei es eigenartig, dass ich ihn noch nicht gefunden habe – obwohl sie selbst bisher auch noch keinen Schritt weitergekommen sind.«

»Aber du findest die Mörder.«

»Die Diebe glauben, es gebe nur einen einzigen.«

»Ah.«

»Zumindest denke ich, dass sie das geglaubt haben«, fügte er hinzu.

»Und jetzt wissen sie Bescheid, denn zumindest einer davon war eine Frau.«

»Wahrscheinlich.«

Er betrachtete die Möbel im Raum. Sie waren nicht luxuriös, aber von guter Qualität. Es gefiel ihm gar nicht zu denken, dass das alles Akkarins Hilfe zu verdanken war.

»Ich habe versucht, mir auch anderweitig etwas aufzubauen«, sagte er. »Wenn es für die Suche nach Mördern im Auftrag der Magier keine Nachfrage mehr gibt, möchte ich gern im Geschäft bleiben – und am Leben.«

Sie lächelte verschlagen und strich ihm mit dem Finger langsam über die Brust. »Mir ist es auf jeden Fall lieber, wenn du im Geschäft bleibst – und am Leben.«

Er hielt ihre Hand fest und zog sie näher zu sich heran. »Ach ja? Welche Art von Geschäft betreibst du eigentlich?«

»Ich stelle Verbindungen zu potenziellen Verbündeten her«, sagte sie und legte einen Arm um ihn. »Vorzugsweise sehr enge Verbindungen zu einem ganz bestimmten Verbündeten.«

Ihre Küsse waren entschlossen und verlockend. Cerys Herz begann von Neuem zu rasen.

Dann klopfte jemand an die Tür. Er löste sich von Savara und zuckte entschuldigend die Achseln. »Ich muss aufmachen.«

Sie zog einen Schmollmund. »Musst du wirklich?«

Er nickte. »Gol würde nicht klopfen, wenn es nicht um etwas Wichtiges ginge.«

»Ich würde ihm auch nicht raten, uns wegen einer Nichtigkeit zu stören.«

Er stand auf, streifte Hemd und Hose über und schlüpfte aus dem Raum. Gol ging in Cerys Empfangszimmer auf und ab, und seine Miene war weit entfernt von dem törichten Grinsen, das Cery erwartet hatte.

»Die Gilde hat den Hohen Lord verhaftet«, sagte Gol. »Und Sonea.«

Cery starrte seinen zweiten Mann an. »Warum?«

»Gestern Nacht ist ein Magier der Gilde getötet worden. Und mit ihm alle Menschen, die sich in seinem Haus aufgehalten hatten. Die Gilde denkt, der Hohe Lord sei der Täter. Die ganze Stadt weiß darüber Bescheid.«

Cery setzte sich auf den nächstbesten Stuhl. Akkarin verhaftet? Wegen Mordes? Und Sonea ebenfalls? Er hörte, wie die Tür zu seinem Schlafzimmer geöffnet wurde. Savara, die inzwischen voll bekleidet war, spähte hinaus. Als sie seinem Blick begegnete, runzelte sie die Stirn.

»Darfst du es mir erzählen?«

Er lächelte kurz, erheitert von ihrer Frage. »Der Hohe Lord ist verhaftet worden. Die Gilde glaubt, er habe gestern Nacht einen Magier aus ihren Reihen getötet.«

Savaras Augen weiteten sich, und sie trat in den Raum. »Wann?«

Gol zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Alle anderen Menschen im Haus dieses Magiers wurden ebenfalls getötet. Mit irgendeiner Art von böser Magie. Schwarze Magie. Ja, das war es.«

Sie sog scharf die Luft ein. »Dann ist es also wahr.«

»Was ist wahr?«, fragte Cery.

»Einige der Ichani behaupten, die Gilde verstehe sich nicht auf hohe Magie und halte sie für verdammenswert. Akkarin benutzt sie, daher dachten wir, das könne nicht wahr sein.« Sie hielt inne. »Deshalb arbeitet er also im Geheimen. Ich dachte, er wollte auf diese Weise vor den anderen verborgen halten, dass seine früheren Taten zu dieser Situation beigetragen haben.«

Cery blinzelte. »Welche früheren Taten?«

Savara lächelte. »Oh, hinter deinem Hohen Lord steckt mehr, als du ahnst.«

»Inwiefern?«

»Es ist nicht an mir, dir das zu erzählen«, erwiderte sie. »Aber ich kann dir sagen, dass -«

Ein Klopfen an der Wand ließ sie verstummen. Cery nickte Gol zu. Der stämmige Mann trat näher an die Wand heran, schaute in das Guckloch und schob dann ein Gemälde beiseite. Einer der Jungen, die Cery für Gelegenheitsarbeiten einsetzte, spähte herein.

»Da ist ein Mann, der dich sprechen will, Ceryni. Er hat eine große Geheimlosung genannt und sagt, er habe schlechte Neuigkeiten über eine Freundin von dir. Er meint, es sei dringend.«

Cery nickte, dann wandte er sich zu Savara um. »Ich muss mich um diese Angelegenheit kümmern.«

Sie zuckte die Achseln und kehrte ins Schlafzimmer zurück. »Dann werde ich in der Zwischenzeit ein Bad nehmen.«

Als Cery sich umdrehte, stellte er fest, dass Gol ihn angrinste.

»Untersteh dich, mich so anzusehen«, warnte ihn Cery.

»Ja, Ceryni«, erwiderte der Mann unterwürfig, hörte aber nicht auf zu grinsen, als er in den Flur voranging.

Cerys Büro war nicht weit entfernt. Es gab mehrere Möglichkeiten, in den Raum zu gelangen. Gol entschied sich für den gebräuchlichsten Weg und gab Cery auf diese Weise einen Moment Zeit, sich den Besucher im Warteraum durch ein Guckloch anzusehen.

Der Mann war Sachakaner, wie Cery entsetzt feststellte. Dann erkannte er den Mantel, und ihm stockte der Atem.

Warum trug dieser Mann den Mantel, den Akkarin in der Nacht zuvor getragen hatte?

Als der Mann sich umdrehte, teilte sich der Mantel, und die Uniform eines Dienstboten der Gilde wurde sichtbar.

»Ich glaube, ich weiß, wer das ist«, flüsterte Cery und trat auf die Tür seines Büros zu. »Schick ihn herein, sobald ich mich hingesetzt habe.«

Kurz darauf saß Cery an seinem Schreibtisch. Die Tür zu seinem Büro wurde geöffnet, und der Mann kam herein.

»Also«, begann Cery, »du sagst, du hättest schlechte Nachrichten über eine Freundin von mir.«

»Ja«, erwiderte der Mann. »Ich bin Takan, Diener des Hohen Lords. Er ist wegen Mordes an einem Magier der Gilde verhaftet worden. Er hat mich hergeschickt, damit ich dir helfe.«

»Du sollst mir helfen? Wie?«

»Ich kann durch Gedankenrede mit ihm in Kontakt treten«, erklärte Takan und tippte sich dabei an die Stirn.

»Du bist ein Magier?«

Takan schüttelte den Kopf. »Wir haben eine Verbindung, die er vor langer Zeit geschaffen hat.«

Cery nickte. »Dann erzähl mir etwas, das nur Akkarin und ich wissen.«

Ein seltsam leerer Blick trat in Takans Augen. »Als ihr euch das letzte Mal getroffen habt, hat er gesagt, dass er Sonea nicht wieder mitnehmen würde.«

»Das ist richtig.«

»Er bedauert, dass er dieses Versprechen nicht einhalten konnte.«

»Ich schätze, Sonea bedauert es ebenfalls. Weshalb ist sie verhaftet worden?«

Takan seufzte. »Weil sie schwarze Magie erlernt hat. Man hat Bücher in ihrem Zimmer gefunden.«

»Diese schwarze Magie ist…?«

»Verboten«, sagte Takan. »Sonea muss damit rechnen, dass man sie aus der Gilde ausstößt.«

»Und der Hohe Lord?«

Takan wirkte aufrichtig besorgt. »Man hat ihn des Mordes und der Benutzung von schwarzer Magie angeklagt. Wenn man ihn für eines dieser Verbrechen für schuldig befindet, wird er hingerichtet.«

Cery nickte langsam. »Wann wird die Gilde sich entscheiden?«

»Morgen wird eine Anhörung stattfinden, um die Beweise zu begutachten und darüber zu befinden, ob er schuldig ist oder nicht.«

»Ist er schuldig?«

Takan blickte auf, und seine Augen blitzten vor Zorn. »Er hat Lord Jolen nicht ermordet.«

»Was ist mit dieser Anklage wegen schwarzer Magie?«

Der Diener nickte. »Ja, in diesem Punkt ist er schuldig. Wenn er keine schwarze Magie benutzt hätte, hätte er die Mörder nicht besiegen können.«

»Und Sonea. Ist sie schuldig?«

Takan nickte abermals. »Die Gilde hat sie nur des Studiums der schwarzen Magie angeklagt. Deshalb droht ihr eine geringere Strafe. Wenn die Wahrheit bekannt wäre, würde sie sich der gleichen Anklage wie Akkarin gegenübersehen.«

»Sie hat schwarze Magie benutzt, um die Frau zu töten, nicht wahr?«

Takan wirkte überrascht. »Ja. Woher wusstest du das?«

»Eine reine Vermutung. Soll ich als Zeuge zu dieser Anhörung gehen?«

Der Mann zögerte, und wieder richtete sich sein Blick ins Leere. »Nein. Aber er lässt dir für das Angebot danken. Du sollst deine Beteiligung an dieser Angelegenheit nicht offenbaren. Wenn alles gut geht, wird er in der Zukunft vielleicht wieder deine Hilfe benötigen. Fürs Erste bittet er dich nur um eines.«

»Ja?«

»Du sollst dafür sorgen, dass die Wache den Leichnam der Mörderin findet. Und dass man auch ihr Messer bei ihr findet.«

Cery lächelte. »Das kann ich tun.«


Durch das Fenster seines Büros sah Lorlen, dass Akkarin noch immer in derselben Haltung verharrte wie zuvor. Er schüttelte den Kopf. Irgendwie brachte Akkarin es immer noch fertig, würdevoll und selbstbewusst zu wirken, obwohl er, an einen der hohen Masten gelehnt, auf dem Boden der Arena saß und zwanzig Magier um ihn herum standen und ihn beobachteten.

Lorlen drehte sich um und ließ den Blick durch sein Büro wandern. Balkan ging in der Mitte des Raums auf und ab. Lorlen hatte den Krieger noch nie so erregt gesehen. Einige Zeit zuvor hatte Balkan etwas von Verrat gesagt. Das war verständlich. Lorlen wusste, dass der Krieger stets große Achtung vor Akkarin gehabt hatte.

Sarrin saß auf einem der Stühle und blätterte in einem der Bücher aus Akkarins Truhe. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass einem von ihnen gestattet werden sollte, die Bücher zu lesen, obwohl das allein schon ein Verbrechen war. Sarrins Gesicht spiegelte eine Mischung aus Grauen und Faszination wider. Gelegentlich murmelte er leise vor sich hin.

Vinara stand schweigend vor den Regalen. Sie hatte Akkarin zuvor als Ungeheuer bezeichnet. Balkan hatte ihr daraufhin ins Gedächtnis gerufen, dass sie noch nicht mit Sicherheit wussten, ob Akkarin etwas Schlimmeres getan hatte, als Bücher über schwarze Magie zu lesen. Er hatte Vinara nicht überzeugen können.

Als die Rede jedoch auf Sonea kam, wirkte sie bekümmert und unsicher.

Lorlen betrachtete die Dinge auf seinem Schreibtisch: Splitter zerbrochenen Glases, eine halb geschmolzene silberne Gabel und eine Schale, die mit getrocknetem Blut überzogen war. Die anderen waren immer noch verwirrt über diese Ansammlung von Gegenständen. Die kleine Kugel aus Glas, die sie auf dem Tisch gefunden hatten, hatte Lorlens Vermutung bestätigt. Hatte Akkarin einen weiteren Ring wie den Lorlens geschaffen, oder hatte er Sonea gelehrt, wie man diese Ringe fertigte?

Wie Sonea hatte sich Akkarin geweigert, irgendwelche Fragen zu beantworten. Er wollte warten, bis die gesamte Gilde sich zu der Anhörung versammelte, bevor er eine Erklärung abgab. So viel zu seinem Versprechen, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Das ist ungerecht, ging es Lorlen durch den Kopf. Er dachte über den Ring in seiner Tasche nach. Akkarin hatte Lorlen angewiesen, ihn vom Finger zu nehmen, ihn jedoch stets bei sich zu tragen. Wenn Sarrin seine Lektüre fortsetzte, würde er von diesen Ringen erfahren und erkennen, was Lorlen am Finger getragen hatte. Lorlen hatte es erwogen, sich des Rings vollends zu entledigen, aber er war sich der Vorteile bewusst, die es hatte, diese Verbindung zu Akkarin aufrechtzuerhalten. Sein ehemaliger Freund schien geneigt, sich ihm anzuvertrauen. Der einzige Nachteil seiner Entscheidung war der, dass Akkarin Lorlens Gespräche belauschen konnte, wenn dieser den Ring trug, aber das stellte nur noch ein minderes Problem dar. Lorlen konnte Akkarin aus jedem Gespräch ausschließen, indem er den Ring einfach abnahm.

Akkarin wollte geheim halten, dass Lorlen schon früher von seinem Interesse an schwarzer Magie gewusst hatte.

Die Gilde braucht einen Führer, dem sie vertrauen kann, hatte Akkarin gesandt. Zu große Veränderungen und Unsicherheit würden sie schwächen.

Rothen und Sonea waren neben Akkarin die Einzigen, die Bescheid wussten. Sonea hatte Stillschweigen bewahrt, und Rothen hatte sich einverstanden erklärt, Lorlens Beteiligung an dem Ganzen für sich zu behalten, solange dadurch kein weiterer Schaden entstand. Im Gegenzug hatte Lorlen dem anderen Magier gestattet, Sonea zu besuchen.

Jetzt erklang ein höfliches Klopfen, und alle blickten auf. Lorlen gab der Tür den Befehl, sich zu öffnen, und Hauptmann Barran trat ein, gefolgt von Lord Osen. Der Wachmann verneigte sich zu einer förmlichen Begrüßung, dann wandte er sich an Lorlen.

»Ich habe den Laden aufgesucht, in dem die Zeugin arbeitet«, erklärte er. »Ihre Arbeitgeber sagen, sie sei heute Morgen nicht erschienen. Daraufhin sind wir zu ihr nach Hause gefahren, und ihre Familie hat uns mitgeteilt, dass sie am vergangenen Abend nicht heimgekommen sei.«

Die Oberhäupter der Disziplinen tauschten einen Blick.

»Vielen Dank, Hauptmann«, sagte Lorlen. »Gibt es sonst noch etwas?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Falls ich keine weiteren Informationen finden sollte, werde ich mich, wie vereinbart, morgen früh wieder hier einfinden.«

»Vielen Dank. Ihr dürft gehen.«

Als sich die Tür hinter ihm schloss, seufzte Vinara. »Die Wache wird in den nächsten Tagen zweifellos den Leichnam der Zeugin finden. Er war gestern Nacht gewiss nicht untätig.«

Balkan schüttelte den Kopf. »Aber das ergibt keinen Sinn. Woher wusste er von dieser Frau? Wenn er gespürt hätte, dass sie ihn beobachtete, wäre sie gewiss nicht bis zum Wachhaus gekommen.«

Sarrin zuckte die Achseln. »Es sei denn, er hätte sie nicht rechtzeitig einholen können. Dann hätte er anschließend dafür gesorgt, dass sie nicht noch einmal gegen ihn würde aussagen können.«

Balkan seufzte. »Das ist nicht das Verhalten, das ich von einem schwarzen Magier erwarten würde. Wenn er sich die Mühe gemacht hat, Beweise zu verbergen, warum hätte er dann in der vergangenen Nacht so unvorsichtig sein sollen? Warum hat er seine Identität nicht verborgen? Warum -«

Ein neuerliches Klopfen ließ ihn innehalten. Lorlen seufzte und gab der Tür erneut den Befehl, sich zu öffnen. Zu seiner Überraschung trat Dannyl in sein Büro. Unter den Augen des Botschafters lagen dunkle Ringe.

»Administrator«, sagte Dannyl. »Könnte ich kurz mit Euch sprechen? Unter vier Augen?«

Lorlen runzelte verärgert die Stirn. »Geht es um den wilden Magier aus Elyne, Botschafter?«

»Zum Teil.« Dannyl sah die anderen Magier an und wählte seine Worte mit Bedacht. »Aber nicht ausschließlich. Ich wäre nicht zu Euch gekommen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass es wichtig ist.«

Vinara erhob sich. »Ich bin die Spekulationen ohnehin gründlich leid«, erklärte sie. Dann warf sie Sarrin und Balkan einen vielsagenden Blick zu. »Wenn Ihr uns braucht, Administrator, ruft einfach nach uns.«

Als die drei Magier den Raum verließen, trat Dannyl beiseite und neigte höflich den Kopf. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ging Lorlen zu seinem Schreibtisch hinüber und setzte sich.

»Also, was ist so wichtig, dass Ihr unbedingt mit mir sprechen müsst?«

Dannyl trat auf den Schreibtisch zu. »Ich bin mir nicht sicher, wo ich anfangen soll, Administrator. Ich befinde mich in einer sehr heiklen Situation. In zwei heiklen Situationen, wenn das möglich ist.« Er hielt inne. »Obwohl Ihr mir mitgeteilt habt, dass meine Hilfe nicht länger vonnöten sei, habe ich aus eigenem Interesse meine Nachforschungen über alte Magie fortgesetzt. Als der Hohe Lord davon erfuhr, hat er mich ermutigt weiterzumachen, aber andererseits gab es in Elyne nicht mehr viel zu entdecken. Zumindest dachte ich das damals.«

Lorlen runzelte die Stirn. Akkarin hatte Dannyl ermutigt weiterzumachen?

»Während mein Assistent und ich damit beschäftigt waren, das Vertrauen der Rebellen zu gewinnen, sind wir auf ein Buch gestoßen, das sich in Dem Maranes Besitz befand.« Dannyl griff in seine Robe und zog ein altes Buch hervor. Er legte es auf Lorlens Schreibtisch. »Es beantwortet viele unserer Fragen bezüglich alter Magie. Wie es aussieht, ist die Form alter Magie, die als höhere Magie bezeichnet wurde, in Wirklichkeit schwarze Magie. Dieses Buch enthält Anweisungen zu ihrer Benutzung.«

Lorlen starrte das Buch an. War dies ein Zufall, oder hatte Akkarin gewusst, dass die Rebellen das Buch besaßen? Oder hatte er mit den Rebellen zusammengearbeitet? Er holte tief Luft. Hatte Akkarin auf diesem Wege schwarze Magie studiert?

Und wenn ja, warum hatte er dann dafür gesorgt, dass die Rebellen an die Gilde ausgeliefert wurden?

»Ihr seht also«, fuhr Dannyl fort, »ich befinde mich in einer unglücklichen Lage. Manch einer könnte zu dem Schluss kommen, dass ich mit Erlaubnis des Hohen Lords Nachforschungen über schwarze Magie angestellt habe und dass Akkarin die Gefangennahme der Rebellen angeordnet hat, um weiteres Wissen zu erwerben.« Er verzog das Gesicht. »Ja, ich habe einen Teil dieses Buches gelesen, was bedeutet, dass ich das Gesetz gegen das Studium schwarzer Magie gebrochen habe. Aber bevor ich mit meiner Lektüre begann, wusste ich nicht, was ich in diesen Schriften finden würde.«

Lorlen schüttelte den Kopf. Kein Wunder, dass Dannyl beunruhigt war. »Ich verstehe Eure Sorge. Ihr konntet nicht wissen, wohin Eure Nachforschungen führen würden. Ich wusste nicht, wohin sie führen würden. Sollte irgendjemand Verdacht gegen Euch schöpfen, müsste derjenige mich ebenfalls verdächtigen.«

»Soll ich diese Dinge bei der Anhörung erklären?«

»Ich werde mit den höheren Magiern darüber sprechen, aber ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird«, antwortete Lorlen.

Dannyl wirkte erleichtert. »Dann wäre da noch etwas«, fügte er leise hinzu.

Noch mehr? Lorlen unterdrückte ein Stöhnen. »Ja?«

Dannyl blickte zu Boden. »Als der Hohe Lord mich darum bat, die Rebellen ausfindig zu machen, hat er vorgeschlagen, dass mein Assistent und ich ihnen etwas in die Hand geben sollten, mit dem sie uns erpressen konnten. Akkarin wollte die Gilde später wissen lassen, dass diese Information lediglich eine Täuschung war, um das Vertrauen der Rebellen zu gewinnen.« Dannyl sah auf. »Aber Akkarin ist offenkundig nicht mehr in der Lage, das zu tun.«

Plötzlich erinnerte sich Lorlen an ein Gespräch mit Akkarin vor der Arena, als sie Sonea bei einem Kampf beobachtet hatten.

»Die Gilde wird das Interesse an dem Mörder verlieren, sobald Dannyl mit dem wilden Magier eintrifft.«

Hatte er auf mehr als nur die Rebellen angespielt? Was war das für eine Information, mit der Dannyl ihr Vertrauen gewonnen hatte?

Er sah Dannyl an; der Mann wandte, sichtlich verlegen, den Blick ab. Langsam fügte Lorlen verschiedene Gerüchte zusammen, die ihm zu Ohren gekommen waren, bis er erriet, was Dannyl die Rebellen glauben gemacht hatte.

Interessant, dachte er. Und ein tollkühner Schritt, wenn man die Probleme bedenkt, die Dannyl als Novize hatte.

Was sollte er tun? Lorlen rieb sich die Schläfen. Akkarin hatte sich so viel besser auf dergleichen Dinge verstanden.

»Ihr befürchtet also, dass niemand glauben wird, was Akkarin über Euch zu sagen hat, weil seine Glaubwürdigkeit in Frage steht.«

»Ja.«

»Nun, wenn Ihr befürchtet, dass niemand Akkarin glauben wird, dann stellt es so dar, als sei das Ganze Eure eigene Idee gewesen.«

Dannyls Augen weiteten sich. Er straffte die Schultern und nickte. »Natürlich. Vielen Dank, Administrator.«

Lorlen zuckte die Achseln, dann musterte er Dannyl ein wenig gründlicher. »Ihr seht so aus, als hättet Ihr eine Woche lang nicht geschlafen.«

»Das habe ich auch nicht. Ich hatte Farand das Leben gerettet und wollte nicht, dass jemand all diese harte Arbeit wieder zunichte macht.«

Lorlen runzelte die Stirn. »Dann geht Ihr jetzt am besten in Euer Quartier und ruht Euch aus. Wir werden Euch morgen vielleicht benötigen.«

Der junge Magier brachte ein müdes Lächeln zustande. Er deutete mit dem Kopf auf das Buch auf Lorlens Schreibtisch. »Nachdem ich mir das da jetzt vom Hals geschafft habe, dürfte das Schlafen kein Problem mehr sein. Nochmals vielen Dank, Administrator.«

Als er gegangen war, seufzte Lorlen. Zumindest wird irgendjemand heute ein wenig Schlaf finden.

16 Die Anhörung

Als sie erwachte, war Soneas erster Gedanke, dass Viola nicht gekommen war, um sie zu wecken, und dass sie zu spät zum Unterricht kommen würde. Blinzelnd kämpfte sie gegen die Trägheit des Schlafs. Dann spürte sie Sand zwischen den Fingern und sah die schwach beleuchtete steinerne Mauer des Doms um sich herum, und die Erinnerung kehrte zurück.

Dass sie überhaupt geschlafen hatte, erstaunte sie. In der vergangenen Nacht hatte sie in der Dunkelheit lange wach gelegen, und die Gedanken an das Geschehene hatten sich in ihrem Kopf im Kreis gedreht. Es hatte all ihrer Willenskraft bedurft, nicht mittels Gedankenrede nach Akkarin zu rufen, um ihn zu fragen, ob sie der Gilde jetzt schon etwas offenbaren sollte; außerdem hätte sie einfach gern gewusst, wo er war, ob man ihn gut behandelte… oder ob er überhaupt noch lebte.

In den schlimmsten Augenblicken des Zweifels konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass die Gilde vielleicht bereits ihr Urteil über ihn gesprochen hatte, ohne sie selbst darüber zu informieren. Die Gilde der Vergangenheit war erschreckend gründlich in ihren Bemühungen gewesen, die Verbündeten Länder von schwarzer Magie zu befreien. Jene lang verstorbenen Magier hätten Akkarin ohne Verzug hingerichtet.

Und mich auch, dachte sie schaudernd.

Noch einmal wünschte sie, sie hätte mit Akkarin reden können. Er hatte gesagt, dass er der Gilde von den Ichani erzählen wolle. Hatte er die Absicht, außerdem einzugestehen, dass er schwarze Magie studiert hatte? Wollte er die anderen Magier wissen lassen, dass Sonea das Gleiche getan hatte?

Oder würde er bestreiten, schwarze Magie benutzt zu haben? Oder es für seine Person zugeben, aber behaupten, Sonea habe nichts Unrechtes getan?

Aber sie hatte es getan. Das unerwünschte Bild der toten Ichani zuckte in ihren Gedanken auf. Und mit dem Bild kamen intensive, aber widersprüchliche Gefühle.

Du bist eine Mörderin, klagte sie eine Stimme in ihren Gedanken an.

Ich musste es tun, gab sie sich selbst zur Antwort. Es gab keine andere Wahl. Die Ichani hätte mich getötet.

Aber du hättest es auch getan, erwiderte ihr Gewissen, wenn du eine Wahl gehabt hättest.

Ja. Um die Gilde zu schützen. Um Kyralia zu schützen. Dann runzelte sie die Stirn. Seit wann habe ich überhaupt solche Skrupel, was das Töten betrifft? Wenn ich in den Hüttenvierteln angegriffen worden wäre, hätte ich, ohne zu zögern, getötet. Tatsächlich habe ich möglicherweise bereits getötet. Ich weiß nicht, ob dieser Strolch, der mich von der Straße gezerrt hat, meinen Messerstich überlebt hat.

Das hier ist etwas anderes. Damals hattest du noch keine Magie zur Verfügung, bemerkte ihr Gewissen.

Sie seufzte. Ihre magischen Fähigkeiten gaben ihr so viele Vorteile, dass sie sich eines bestimmten Gedankens nicht erwehren konnte: Sie sollte in der Lage sein, es zu vermeiden, überhaupt jemanden zu töten. Aber die Ichani hatte ebenfalls über Magie verfügt.

Die Ichani musste aufgehalten werden. Ich war zufällig in der Position, das zu tun. Ich bereue nicht, sie getötet zu haben, sondern nur, dass es überhaupt notwendig war.

Ihr Gewissen schwieg jetzt.

Du darfst mir ruhig weiter zusetzen, sagte sie ihrem Gewissen. Das ist mir immer noch lieber, als zu töten und keine Skrupel deswegen zu haben.

Immer noch nichts.

Wunderbar. Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht ist an diesem alten Aberglauben, was das »Auge« betrifft doch etwas Wahres. Ich führe nicht nur Selbstgespräche, jetzt weigere ich mich auch noch, mit mir zu reden. Das muss wohl das erste Anzeichen von Wahnsinn sein.

Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung. Sie richtete sich auf und sah, wie die Wachen beiseite traten, als Lord Osen in der Tür stehen blieb. Eine Lichtkugel flackerte über seinem Kopf und füllte die runde Kuppel mit Licht.

»Die Anhörung wird gleich beginnen, Sonea. Ich bin hier, um dich in die Gildehalle zu eskortieren.«

Plötzlich raste ihr Herz. Sie stand auf, klopfte sich den Sand von den Roben und ging zur Tür. Osen trat zurück, um ihr Platz zu machen.

Eine kurze Treppenflucht führte zu einer weiteren offenen Tür. Sonea hielt inne, als sie den Kreis von Magiern sah, die dahinter warteten. Ihre Eskorte bestand aus Heilern und Alchemisten. Die Krieger und die stärkeren Magier der Gilde würden wohl Akkarin bewachen, vermutete sie.

Als Sonea in die Mitte des Kreises trat, sahen die anderen sie eindringlich an. Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, als sie den Argwohn und die Missbilligung in ihren Gesichtern las.

Schließlich drehte sie sich um und sah, dass ihre beiden Wachen den Kreis vervollständigt hatten. Die Barriere, mit der sie Sonea umgeben hatten, öffnete sich gerade lange genug, um Osen hindurchtreten zu lassen.

»Sonea«, begann er. »Dein Mentor ist des Mordes und der Ausübung von schwarzer Magie angeklagt. Als seine Novizin wirst du über deine Kenntnis dieser Angelegenheiten befragt werden. Hast du das verstanden?«

Sie schluckte, um ihre Kehle zu befeuchten. »Ja, Mylord.«

Er hielt inne. »Aufgrund der Entdeckung von Büchern über schwarze Magie in deinem Zimmer wird man dich außerdem anklagen, schwarze Magie studiert zu haben.«

Also würde auch sie verurteilt werden.

»Ich verstehe«, erwiderte sie.

Osen nickte. Er wandte sich den Gärten neben der Universität zu und wies die Eskorte an. »Zur Gildehalle.«

Das ganze Gelände der Gilde schien bis auf ihre Schar verlassen, und über allem lag eine unheimliche Stille. Einzig ihre Schritte und das gelegentliche Zwitschern eines Vogels durchbrachen das Schweigen. Sonea dachte an die Familien der Magier und an die Diener, die hier lebten. Hatte man sie fortgeschickt, für den Fall, dass Akkarin versuchte, die Gilde zu unterwerfen?

Als die Eskorte die Universität beinahe erreicht hatte, blieb Osen plötzlich stehen. Die Magier um sie herum tauschten besorgte Blicke. Sonea begriff, dass sie einer Gedankenrede lauschten, und konzentrierte ebenfalls ihre Sinne.

-… sagt, er werde nicht eintreten, bevor Sonea hier ist. Das war Lorlen.

Was sollen wir tun?, fragte Osen.

Warte. Wir werden eine Entscheidung treffen.

Sonea wurde ein wenig leichter ums Herz. Akkarin weigerte sich, die Gildehalle ohne sie zu betreten. Er wollte sie bei sich haben. Osen und die Eskorte waren jedoch angespannt vor Angst; offensichtlich fürchteten sie sich davor, was Akkarin tun könnte, falls Lorlen seine Bitte ausschlug. Sie hatten keine Ahnung, wie stark Akkarin war.

Sonea wurde schlagartig nüchtern. Und ich weiß es auch nicht.

Während sie warteten, versuchte Sonea, Akkarins Stärke abzuschätzen. Während der zwei Wochen vor dem Kampf mit der Ichani hatte er von ihr selbst und von Takan Energie genommen. Sonea konnte nicht sagen, wie stark er zuvor gewesen war, aber der Kampf musste seinen Vorrat an Magie beträchtlich verringert haben. Er mochte immer noch die Stärke von mehreren Magiern zusammen haben, aber sie bezweifelte, dass er im Augenblick mächtig genug war, um gegen die ganze Gilde zu kämpfen. Und ich?

Seit sie die Energie der Ichani genommen hatte, war sie sich eines großen Zuwachses an Stärke bewusst, aber sie konnte nicht abschätzen, wie viel mehr an Kraft sie dadurch gewonnen hatte. Vermutlich war sie nicht so stark wie Akkarin. Er hatte den Kampf mit der Ichani gewonnen, bevor Sonea eingeschritten war, so dass die Ichani zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich schwächer gewesen sein musste. Akkarin hatte gewiss mehr Magie von dieser Frau abgezogen als Sonea.

Es sei denn, die Ichani hätte aus irgendeinem Grund den Anschein erweckt, schwächer zu sein, als sie es in Wirklichkeit war …

Bringt sie her.

Lorlen klang nicht allzu glücklich. Osen stieß ein angewidertes Knurren aus, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Die Eskorte folgte. Als sie sich der Universität näherten, begann Soneas Herz wieder zu rasen.

Vor dem Gebäude hatte sich eine große Zahl von Magiern eingefunden. Als Soneas Eskorte in Sicht kam, drehten sie sich um und traten dann auseinander, um den Weg zur Treppe freizugeben.

Akkarin stand mitten in der Eingangshalle. Bei seinem Anblick durchströmte sie ein Gefühl der Wärme. Als er sie entdeckte, spielte das vertraute, schwache Lächeln um seine Mundwinkel. Sie hätte beinahe ebenfalls gelächelt, zügelte sich jedoch, als sie die angespannten Gesichter der Magier um ihn herum sah.

Es herrschte großes Gedränge. Akkarins Eskorte bestand aus über fünfzig Magiern, die meisten von ihnen Krieger. Fast alle höheren Magier waren anwesend, und sie wirkten nervös und aufgebracht. Lord Balkans Miene war düster.

Jetzt trat Lorlen vor, um Akkarin zu betrachten.

»Ihr dürft gemeinsam hereinkommen«, sagte er in einem unüberhörbar warnenden Tonfall, »aber Ihr müsst so viel Abstand halten, dass Ihr einander nicht berühren könnt.«

Akkarin nickte, dann bedeutete er Sonea, näher zu kommen. Sie blinzelte überrascht, als ihre Eskorte zurücktrat, um ihr Platz zu machen.

Ein Raunen ging durch die Eingangshalle, als sie auf den Kreis der Magier zuging, die Akkarin umringten. Sie blieb neben ihm stehen, wählte ihre Position jedoch so, dass sie einander nicht die Hände hätten reichen können. Akkarin blickte zu Lorlen auf und lächelte.

»Also, Administrator, lasst uns feststellen, ob wir dieses Missverständnis ausräumen können.«

Er drehte sich um und setzte seinen Weg zur Gildehalle fort.

Rothen hatte sich noch nie so erbärmlich gefühlt. Der letzte Tag war der längste in seinem Leben gewesen. Er hatte die Anhörung gefürchtet, sah ihr jedoch gleichzeitig mit Ungeduld entgegen. Er wollte unbedingt Akkarins Entschuldigungen hören, und er wollte wissen, was Sonea dazu veranlasst hatte, ein Gesetz zu brechen. Außerdem wollte er Akkarin bestraft sehen für das, was er Sonea angetan hatte. Gleichzeitig fürchtete er den Augenblick, in dem Soneas Strafe verkündet werden würde.

Zwei lange Reihen von Magiern hatten sich quer durch die Gildehalle aufgestellt. Hinter ihnen standen, ebenfalls in zwei Reihen, die Novizen, bereit, ihren Lehrern wenn nötig ihre Stärke zur Verfügung zu stellen. Leises Stimmengewirr erfüllte den Raum, während alle Anwesenden darauf warteten, dass die Anhörung begann.

»Da kommen sie«, murmelte Dannyl.

Zwei Menschen traten in die Halle. Der eine trug schwarze Roben, der andere das Braun eines Novizen. Akkarin bewegte sich mit derselben Zuversicht wie immer. Sonea… ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Rothen, als er sah, dass sie den Blick zu Boden gerichtet hielt, während ihr Gesicht Furcht und Verlegenheit widerspiegelte.

Die höheren Magier folgten mit grimmiger Miene. Als Akkarin und Sonea das Ende der Halle erreicht hatten, blieben sie stehen. Rothen stellte zufrieden fest, dass Sonea reichlich Abstand zu dem Hohen Lord hielt. Die höheren Magier gingen um die beiden herum und bildeten vor ihren Plätzen im vorderen Teil der Halle eine Reihe. Die übrigen Magier, die Akkarin und Sonea begleitet hatten, stellten sich im Kreis um die beiden Angeklagten auf.

Die anderen Magier und Novizen nahmen jetzt ihre Plätze zu beiden Seiten des Raums ein, und Rothen und Dannyl folgten ihrem Beispiel. Als alle saßen, schlug Lorlen auf einen kleinen Gong.

»Wir beugen die Knie vor König Merin, dem Herrscher von Kyralia«, rief er mit volltönender Stimme.

Sonea sah überrascht auf. Sie blickte zu der obersten der stufenförmig angelegten Sitzreihen hinauf, wo jetzt in Begleitung zweier Magier der König erschien. Er trug einen leuchtend orangefarbenen Umhang aus schimmerndem Tuch, das über und über in Gold mit dem Symbol des königlichen Mullook bestickt war. Über der Brust hatte er eine riesige, goldene Mondsichel hängen, das Abzeichen des Königs.

Als sich sämtliche Mitglieder der Gilde auf ein Knie niederließen, behielt Rothen Sonea genau im Auge. Sie blickte zu Akkarin hinüber, und als sie sah, dass er ebenfalls niederkniete, folgte sie seinem Beispiel. Dann blickte sie wieder zum König auf.

Rothen erriet, was sie dachte. Dies war der Mann, der alljährlich die Säuberung befahl, der Mann, der vor zweieinhalb Jahren ihre Familie und ihre Nachbarn aus ihren Häusern hatte vertreiben lassen.

Der König ließ den Blick durch den Raum wandern, dann starrte er mit undeutbarer Miene auf Akkarin hinab. Einen Moment lang sah er zu Sonea hinüber, und sie senkte den Kopf. Solchermaßen zufrieden gestellt, trat er zurück und setzte sich auf seinen Stuhl.

Nach einer kurzen Pause erhoben sich die Magier wieder. Die höheren Magier nahmen ihre Plätze in den vorderen Sitzreihen ein. Akkarin erhob sich erst, als wieder Ruhe eingekehrt war.

Lorlen sah sich in der Halle um, dann nickte er. »Wir haben heute diese Anhörung einberufen, um ein Urteil über Akkarin, den Hohen Lord der Magiergilde, und Sonea, seine Novizin, zu fällen. Akkarin aus der Familie Delvon, Haus Velan, wird des Mordes an Lord Jolen aus dem Hause Saril beschuldigt sowie an dessen Familie und Dienern. Außerdem ist er angeklagt, schwarze Magie studiert und ausgeübt zu haben. Sonea ist angeklagt, sich Kenntnisse der schwarzen Magie angeeignet zu haben. Diese Verbrechen sind von äußerst schwerwiegender Art. Die Beweise, die die Anklage stützen, werden uns im Laufe der Anhörung vorgelegt werden. Ich rufe als ersten Sprecher Lord Balkan auf, das Oberhaupt der Krieger.«

Balkan erhob sich von seinem Platz und ging nach unten. Dann wandte er sich dem König zu und ließ sich auf ein Knie sinken.

»Ich schwöre, dass alles, was ich bei dieser Anhörung vorbringe, der Wahrheit entsprechen wird.«

Der König hörte mit ausdrucksloser Miene zu und reagierte mit keiner Geste auf Balkans Worte.

Der Krieger straffte sich und sah jetzt die versammelten Magier an.

»Vorgestern Nacht fing ich einen schwachen Ruf von Lord Jolen auf. Es war offenkundig, dass er sich in irgendwelchen Schwierigkeiten befand. Als ich keine Verbindung zu ihm herstellen konnte, habe ich das Haus seiner Familie aufgesucht.

Bei meiner Ankunft fand ich Lord Jolen und alle Mitglieder seines Haushalts tot vor. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, ob Familie oder Dienstboten, war ums Leben gekommen. Bei näherer Untersuchung fand ich Beweise dafür, dass der Mörder durch das Fenster in Lord Jolens Arbeitsraum eingedrungen war, möglicherweise in der Absicht, Lord Jolen zu seinem ersten Opfer zu machen.

Ich habe die Leichen nicht untersucht, um die Todesursache zu ermitteln, sondern diese Aufgabe Lady Vinara überlassen. Als sie eintraf, habe ich mich zur Stadtwache begeben, Dort erfuhr ich, dass Hauptmann Barran, der die jüngste Mordserie in der Stadt untersucht, soeben eine Zeugin des Verbrechens befragt hatte.«

Balkan hielt inne und blickte zu Lorlen auf. »Aber bevor ich Hauptmann Barran aufrufe, empfehle ich, Lady Vinara Gelegenheit zu geben, uns von den Ergebnissen ihrer Untersuchung zu berichten.«

Lorlen nickte. »Ich rufe Lady Vinara auf, das Oberhaupt der Heiler.«

Lady Vinara erhob sich und stieg anmutig die Treppe zwischen den Sitzreihen hinunter. Auch sie kniete vor dem König nieder und schwor, die Wahrheit zu sagen. Dann erhob sie sich und wandte sich mit ernster Miene an das Publikum.

»Nach meiner Ankunft in Lord Jolens Haus untersuchte ich die Leichen von neunundzwanzig Opfern. Sie alle wiesen keine anderen Verletzungen auf als einige wenige Kratzer und Prellungen am Hals. Sie waren weder erwürgt noch erstickt oder vergiftet worden. Lord Jolens Körper war unversehrt geblieben, das erste Zeichen, das mich auf die Todesursache hinwies. Bei meiner Untersuchung fand ich keinerlei Energie in seinem Körper, was mich zu der Schlussfolgerung führte, dass Lord Jolen entweder bei seinem Tod all seine Kraft verausgabt hatte oder sie ihm genommen worden war. Die Untersuchung der anderen Leichen bekräftigte, dass Letzteres der Fall gewesen sein musste. Alle Mitglieder seines Haushalts waren ihrer gesamten Lebensenergie beraubt worden, und da keiner von ihnen außer Lord Jolen sich vorsätzlich derart erschöpft haben konnte, blieb mir nur eine einzige Erklärung dafür.« Sie hielt inne, und ein grimmiger Ausdruck trat in ihre Augen. »Lord Jolen, seine Familie und die Diener sind durch schwarze Magie getötet worden.«

Bei dieser Enthüllung ging ein Raunen durch die Halle. Rothen schauderte. Es war nur allzu leicht, sich vorzustellen, wie Akkarin in das Haus schlüpfte, seinen Opfern auflauerte und sie tötete. Er blickte auf den Hohen Lord hinab, der Vinara mit ernster Miene betrachtete.

»Eine nähere Untersuchung von Lord Jolens Leichnam hat schwache blutige Fingerabdrücke am Hals ergeben«, fuhr die Heilerin fort. Sie sah zu Akkarin hinüber. »Außerdem habe ich dabei festgestellt, dass Lord Jolen etwas in der Hand hielt.«

Vinara wandte sich zur Seite und gab ein Zeichen. Ein Magier trat mit einer Schachtel herbei. Sie öffnete den Deckel und nahm ein Stück schwarzen Tuchs heraus.

Eine goldene Stickerei glänzte im Licht. Von dem Incal war noch genug übrig geblieben, um es als das des Hohen Lords zu erkennen. Das Knarren von Holz und das Rascheln von Roben füllte die Halle, als die Magier auf ihren Sitzen herumrutschten, und das Summen der Stimmen wurde lauter.

Vinara legte das Fetzchen Stoff auf den Deckel der Schachtel und übergab dann beides ihrem Assistenten. Der Mann kehrte zu seinem Platz am Rand der Halle zurück. Vinara wandte sich zu Akkarin um, der jetzt die Stirn runzelte, blickte dann über die Schulter und nickte Lorlen zu.

»Ich rufe Hauptmann Barran auf, den Kommandanten der Stadtwache«, sagte Lorlen.

Wieder senkte sich Stille über den Saal, als ein Mann in der Uniform der Wache hereinkam, vor dem König niederkniete und den Eid sprach. Rothen schätzte, dass der Mann etwa Mitte zwanzig sein musste. Der Rang eines Hauptmanns war sehr hoch für sein Alter, aber andererseits gab man auch den jüngeren Männern der Häuser bisweilen derartige Positionen, wenn sie sich als begabt und fleißig erwiesen.

Der Hauptmann räusperte sich. »Eine halbe Stunde vor Lord Balkans Eintreffen auf der Wache war eine junge Frau zu mir gekommen, die behauptete, den Mörder gesehen zu haben, der während der vergangenen Wochen in Imardin gewütet hat. Sie war, wie sie mir erzählte, auf dem Heimweg, nachdem sie eins der Häuser im Inneren Ring mit Obst und Gemüse beliefert hatte. Sie hatte noch den leeren Korb und eine Zutrittserlaubnis für diesen Teil der Stadt bei sich. Als sie an Lord Jolens Haus vorbeiging, hörte sie Schreie, die von dort kamen. Dann brachen die Schreie ab, und sie eilte weiter. Aber als sie bereits das nächste Haus erreicht hatte, hörte sie, wie hinter ihr eine Tür geöffnet wurde. Sie versteckte sich im Hauseingang und beobachtete von dort aus einen Mann, der aus dem Dienstboteneingang von Lord Jolens Haus trat. Dieser Mann trug schwarze Magierroben mit einem Incal am Ärmel. Seine Hände waren blutverschmiert, und er hatte eine geschwungene Klinge bei sich, deren Griff mit Edelsteinen besetzt war.«

Laute Rufe hallten durch den Raum, als die Magier der Gilde ihr Entsetzen zum Ausdruck brachten. Rothen nickte. Sonea hatte ihm das Messer beschrieben, das Akkarin benutzt hatte, als sie ihn vor so langer Zeit ausspioniert hatte. Lorlen hob die Hand, und der Lärm legte sich langsam.

»Was habt Ihr als Nächstes unternommen?«

»Ich habe mir ihren Namen nennen lassen und mir außerdem die Adresse des Lieferanten auf ihrem Zutrittsausweis notiert. Auf Eure Bitte hin habe ich am nächsten Tag nach der Zeugin gesucht. Ihr Dienstherr teilte mir mit, dass sie an jenem Morgen nicht zur Arbeit gekommen sei, und gab mir die Adresse der Familie. Ihre Familie war sehr besorgt, da die Frau in der vergangenen Nacht nicht nach Hause zurückgekehrt war.

Ich befürchtete, dass die Zeugin ermordet worden war«, fuhr Barran fort. »Später am Tag haben wir dann tatsächlich ihre Leiche gefunden. Ebenso wie Lord Jolen und viele der anderen Mordopfer, die ich während der letzten Wochen untersucht habe, wies sie bis auf eine flache Schnittwunde keine Verletzungen auf.«

Er hielt inne, und sein Blick irrte einen Moment lang zu Akkarin hinüber, der äußerlich ruhig und unbewegt geblieben war.

»Obwohl ich sie als die Zeugin identifizieren konnte, ließen wir zur Bestätigung ihre Familie ins Wachhaus kommen. Die Eltern erklärten, diese Frau sei nicht ihre Tochter, bestätigten jedoch, dass sie die Kleidung ihrer Tochter trug. Zu ihrem großen Kummer mussten sie feststellen, dass es sich bei einer anderen toten jungen Frau, die wir nackt und offenkundig erwürgt aufgefunden hatten, tatsächlich um ihre Tochter handelte. Außerdem haben wir eine weitere verwirrende Entdeckung gemacht: Die Zeugin trug ein Messer bei sich, das in allen Punkten ihrer Beschreibung der Waffe des Mörders entsprach. Unnötig zu sagen, dass all das gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin aufkommen lässt.«

Wieder wurde gedämpftes Murmeln in der Halle laut. Der Hauptmann blickte zu Lorlen auf. »Das ist alles, was ich Euch zu diesem Zeitpunkt berichten kann.«

Der Administrator erhob sich. »Wir werden eine Pause machen, in der Ihr Gelegenheit haben werdet, die Beweise zu untersuchen und Eure Meinung dazu zu äußern. Lady Vinara, Lord Balkan und Lord Sarrin werden mir Eure Ansichten mitteilen.«

Lautes Stimmengewirr folgte, als die Magier sich zu Gruppen zusammenfanden, um zu diskutieren. Yaldin wandte sich an Dannyl und Rothen.

»Das Messer wurde der Zeugin untergeschoben, nachdem sie getötet worden war.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Mag sein, aber warum sollte sie lügen, was ihre Identität betraf? Warum hat sie die Kleider einer anderen Frau getragen? Ist sie bestochen worden, den Platz jener anderen Frau einzunehmen, ohne zu ahnen, dass sie getötet werden sollte? Aber das würde bedeuten, dass das Ganze sorgfältig arrangiert worden ist.«

»Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte Akkarin dafür sorgen, dass eine Zeugin ihn identifizieren konnte?«, fragte Yaldin.

Dannyl holte hastig Luft. »Für den Fall, dass es noch andere Zeugen gab. Wenn die Geschichte dieser einen Zeugin widerlegt werden konnte, würden alle anderen ebenfalls in Zweifel gezogen werden.«

Yaldin kicherte. »Entweder das, oder da draußen läuft ein schwarzer Magier herum, der versucht, Akkarin die Schuld an seinen Verbrechen zuzuschieben. Akkarin könnte unschuldig sein.«

Rothen schüttelte den Kopf.

»Du bist anderer Meinung?«, fragte Dannyl.

»Akkarin benutzt schwarze Magie«, erklärte Rothen.

»Das kannst du nicht wissen. Man hat Bücher über schwarze Magie in seinem Quartier gefunden«, erwiderte Dannyl, »aber das beweist noch nicht, dass er sie tatsächlich benutzt.«

Rothen runzelte die Stirn. Aber ich weiß, dass er genau das tut. Ich habe Beweise… ich… ich kann nur mit niemandem darüber reden. Lorlen hat mich gebeten, unsere Verwicklung in die ganze Angelegenheit geheim zu halten, und Sonea will, dass ich Lorlen helfe.

Anfangs hatte Rothen vermutet, dass der Administrator versuchte, sie beide zu schützen. Erst später war ihm klar geworden, dass es Lorlens Position in der Gilde schwächen würde, wenn er offenbarte, dass er schon seit Jahren über Akkarins Verbrechen Bescheid wusste. Wenn die Gilde den Verdacht schöpfte, Lorlen könnte Akkarins Komplize sein, würde sie das Vertrauen in den Administrator verlieren.

Es sei denn… hoffte Lorlen noch immer, einer Auseinandersetzung mit Akkarin ausweichen zu können, indem er diesem ermöglichte, seine Unschuld zu beweisen? Rothen runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Ein Verbrechen war ohne jeden Zweifel bewiesen worden: Akkarin und Sonea hatten beide verbotene Bücher in ihrem Besitz gehabt. Das allein genügte, um sie aus der Gilde auszustoßen. Und das konnte Lorlen nicht verhindern.

Rothens Magen krampfte sich zusammen. Wann immer er daran dachte, dass Sonea ausgestoßen werden würde, schmerzte ihn das zutiefst. Sie hatte so viel durchgemacht, und jetzt würde sie alles verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatte.

Er holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf die Frage nach Lorlens Absichten. Vielleicht hoffte Lorlen, dass Akkarin den Ausschluss aus der Gilde akzeptieren und fortgehen würde. Wenn Akkarin jedoch die Hinrichtung drohte, würde er sich vielleicht nicht so kooperativ zeigen. Und wenn ihn die Drohung einer Hinrichtung dazu trieb, gegen die Gilde zu kämpfen, würde Sonea ihn wahrscheinlich unterstützen. In diesem Kampf konnte sie durchaus den Tod finden. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn die Gilde sie beide verstieß.

Aber wenn die Gilde Akkarin ausschloss, würde sie zuerst seine Kräfte blockieren müssen. Rothen bezweifelte, dass Akkarin sich damit einverstanden erklären würde. Gab es irgendeine Möglichkeit, diese Angelegenheit zu regeln, ohne dass es zu einem Kampf kam?

Rothen nahm nur am Rande wahr, dass Dannyl sich abgewandt hatte, um mit Lord Sarrin zu sprechen. Yaldin hatte offenkundig bemerkt, dass Rothen tief in Gedanken versunken war, und hatte ihn ebenfalls allein gelassen. Nach einigen Minuten hallte Lorlens Stimme durch den Raum.

»Bitte, nehmt Eure Plätze wieder ein.«

Dannyl kehrte mit selbstgefälliger Miene zurück. »Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie sehr ich es liebe, Botschafter zu sein?«

Rothen nickte. »Viele Male.«

»Die Leute hören jetzt auf mich.«

Als die Magier erneut ihre Plätze einnahmen, wurde es wieder still in der Halle. Lorlen blickte auf das Oberhaupt der Krieger hinab.

»Ich möchte Lord Balkan bitten, fortzufahren.«

Der Krieger straffte sich. »Nachdem wir vorgestern Nacht von den Morden erfahren, Vinaras Schlussfolgerungen gehört und die Beweise sowie die Geschichte der Zeugin näher untersucht hatten, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass der Hohe Lord befragt werden müsse. Ich erfuhr schon bald, dass sich bis auf den Diener des Hohen Lords niemand in der Residenz aufhielt, daher habe ich eine Durchsuchung des Hauses befohlen.«

Er sah Sonea an. »Die erste beunruhigende Entdeckung, die wir machten, waren drei Bücher über schwarze Magie, die wir in Soneas Zimmer fanden. Zwischen den Seiten eines der Bücher steckten lose Blätter mit Notizen in ihrer eigenen Handschrift.«

Er hielt inne, und ein missbilligendes Raunen folgte. Rothen zwang sich, Sonea anzusehen. Sie starrte zu Boden und hatte die Zähne entschlossen zusammengebissen. Er dachte an ihre Entschuldigung: »Um meinen Feind zu verstehen.«

»Als wir unsere Suche fortsetzten, stellten wir fest, dass alle Türen bis auf eine unverschlossen waren. Diese Tür war durch eine mächtige Magie versiegelt und schien in einen unterirdischen Raum zu führen. Der Diener des Hohen Lords behauptete, es handle sich um einen Lagerraum, zu dem er keinen Zutritt habe. Lord Garrel befahl dem Diener, den Griff zu drehen, da er erraten hatte, dass der Mann log. Als der Diener den Gehorsam verweigerte, drückte Lord Garrel die Hand des Mannes auf den Griff.

Die Tür öffnete sich, und wir traten in einen großen Raum. Darin fanden wir eine Truhe mit weiteren Büchern über schwarze Magie, von denen viele ziemlich alt waren. Einige dieser Bücher hatte der Hohe Lord kopiert. Eins enthielt seine eigenen Aufzeichnungen über seine Experimente und die Ausübung von schwarzer Magie. Auf dem Tisch…« Balkan hielt inne, da entrüstete Schreie seine Worte übertönten.

Dannyl drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Rothen um.

»Ausübung schwarzer Magie«, wiederholte er. »Du weißt, was das bedeutet.«

Rothen nickte. Er konnte kaum atmen. Dem Gesetz zufolge musste die Gilde Akkarin hinrichten. Jetzt würde Lorlen eine Konfrontation nicht mehr vermeiden können.

Und ich habe nichts zu verlieren, wenn ich zu vermeiden versuche, dass man Sonea ausstößt.


Von seinem Platz aus konnte Lorlen sehen, dass viele der Anwesenden den Kopf schüttelten oder wild gestikulierten. Einige Magier standen jedoch nur stumm und reglos da, offensichtlich vollkommen benommen von dieser Enthüllung.

Akkarin verfolgte das Ganze mit unbewegter Miene.

Lorlen ging im Geiste noch einmal durch, was die Anhörung bisher zutage gefördert hatte. Wie erwartet hatte Hauptmann Barrans Aussage die Magier gezwungen, die Beweise und die Möglichkeit, dass Akkarin der Mörder war, in Frage zu stellen. Einige von ihnen hatten gefragt, warum der Hohe Lord, nachdem er ein Verbrechen begangen hatte, so tollkühn durch die Straßen hätte gehen sollen. Andere waren der Meinung gewesen, dass Akkarin hinter der Angelegenheit mit der Zeugin steckte: Ihrer Meinung nach hatte er auf diese Weise dafür sorgen wollen, dass mögliche andere Zeugen später für unglaubwürdig befunden würden. Mehr als ein Magier hatte die sauber abgeschnittenen Ränder des Stofffetzens bemerkt. Es wäre Akkarin gewiss aufgefallen, wenn Jolen ein Stück von seiner Robe abgeschnitten hätte. Einen so vernichtenden Beweis hätte er sicher nicht zurückgelassen.

Lorlen glaubte nicht, dass man Akkarin des Mordes für schuldig befinden würde, wären nicht die Bücher über schwarze Magie in seinem Haus gefunden worden. Aber jetzt, da die Gilde Akkarins Geheimnis kannte, würde sie ihm alles zutrauen. Die Mordanklage war unerheblich. Wenn die Gilde das Gesetz befolgte, würde sie für Akkarins Hinrichtung stimmen.

Lorlen trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Stuhls. In Akkarins Notizbüchern gab es höchst interessante Hinweise auf eine Gruppe von Magiern, die schwarze Magie benutzte. Lord Sarrin machte sich Sorgen, dass eine solche Gruppe noch immer existieren könnte. Akkarin hatte gesagt, es habe gute Gründe für sein Verhalten gegeben.

Jetzt konnte Lorlen endlich danach fragen, welche Gründe dies waren.

Er stand auf und hob die Hände. Der Lärm erstarb überraschend schnell. Lorlen vermutete, dass die Magier ungeduldig auf die Befragung Akkarins warteten.

»Hat irgendjemand weitere Beweise, die er bei dieser Anhörung vorlegen möchte?«

Ein Moment der Stille folgte, dann erklang eine Stimme von der rechten Seite des Raums.

»Ich, Administrator.«

Rothens Stimme war ruhig und sehr deutlich. Alle Köpfe in der Halle wandten sich zu dem Alchemisten um. Lorlen starrte ihn entsetzt an.

»Lord Rothen«, zwang er sich zu sagen. »Bitte, tretet näher.«

Rothen kam die Treppe herunter und blieb neben Balkan stehen. Er starrte Akkarin an, und der Zorn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Lorlen sah, dass Akkarin zu ihm aufblickte. Er schob die Hand in seine Tasche und ertastete das glatte Metall des Rings.

Ich habe ihn gebeten zu schweigen, sagte Lorlen.

Vielleicht hast du nicht nett genug gefragt.

Rothen ließ sich auf ein Knie nieder und legte den Schwur ab, die Wahrheit zu sagen. Als er sich wieder erhob, blickte er zu den höheren Magiern auf.

»Sonea hat mir vor mehr als zwei Jahren erzählt, dass der Hohe Lord schwarze Magie praktiziere.«

Sofort begannen die Magier, miteinander zu tuscheln.

»Sie hatte beobachtet, wie er Kraft von seinem Diener bezog. Im Gegensatz zu ihr verstand ich, was sie gesehen hatte. Ich…« Er senkte den Blick. »Ich hatte viel von der Stärke des Hohen Lords gehört und fürchtete mich vor dem, was er hätte tun können, falls die Gilde ihn herausforderte. Deshalb zögerte ich, mein Wissen bekannt zu geben. Bevor ich mich entscheiden konnte, was zu tun sei, erfuhr der Hohe Lord, dass wir sein Geheimnis entdeckt hatten. Er ließ sich zu Soneas Mentor bestimmen und nahm sie als Geisel, um sicherzustellen, dass ich sein Verbrechen nicht offenbaren würde.«

Laute Ausrufe der Entrüstung erfüllten die Halle. Lorlen seufzte erleichtert. Rothen hatte Lorlens Anteil an alledem verschwiegen, und er hatte nichts riskiert, indem er seine eigene Mitwisserschaft bekannt hatte. Dann begriff er, warum Rothen gesprochen hatte. Indem er offenbarte, dass Sonea Akkarins Opfer gewesen war, hatte er ihre Chancen bei dieser Anhörung vielleicht verbessert.

Lorlen schaute sich in der Halle um und las Erschrecken und Sorge in den Gesichtern der Magier. Er bemerkte, dass Dannyl Rothen mit offenem Mund anstarrte. Außerdem fiel ihm auf, dass die Novizen Sonea jetzt mit Mitgefühl und sogar mit Bewunderung betrachteten. Lange Zeit hatten sie geglaubt, ihr sei eine ungerechte Bevorzugung durch den Hohen Lord zuteil geworden. Stattdessen war sie seine Gefangene gewesen.

Ist sie es immer noch?, fragte Lorlen sich.

Nein.

Lorlen blickte von Akkarin zu Sonea. Er hatte nicht vergessen, dass sie Akkarin aufs Wort gehorcht hatte, als sie in dem unterirdischen Raum verhaftet worden waren. Er erinnerte sich auch an ihren Gesichtsausdruck, als sie in der Eingangshalle neben Akkarin getreten war. Irgendetwas hatte sie veranlasst, ihre Meinung über Akkarin zu ändern. Ein Stich der Ungeduld durchzuckte ihn.

Schließlich hob Lorlen abermals die Hand. Die Magier verstummten widerstrebend. Er sah Rothen an.

»Habt Ihr uns noch mehr mitzuteilen, Lord Rothen?«

»Nein, Administrator.«

Lorlen wandte sich wieder an die anderen Magier. »Wünscht noch jemand, bei dieser Anhörung weitere Beweise vorzulegen?« Als keine Antwort kam, blickte er auf Akkarin hinab. »Akkarin aus dem Hause Velan, werdet Ihr unsere Fragen wahrheitsgemäß beantworten?«

Akkarins Mundwinkel zuckten. »Das werde ich.«

»Dann schwört es.«

Akkarin ließ sich auf ein Knie sinken. »Ich schwöre, dass alles, was ich in dieser Anhörung vorbringe, die Wahrheit sein wird.«

In der Gildehalle herrschte absolutes Schweigen. Als Akkarin sich wieder erhob, wandte Lorlen sich zu Sonea um.

»Sonea, wirst du unsere Fragen wahrheitsgemäß beantworten?«

Ihre Augen weiteten sich. »Das werde ich.«

Sie ließ sich auf ein Knie nieder und sprach den Eid. Als sie wieder stand, dachte Lorlen über die Fragen nach, die er stellen wollte. Am besten, ich beginne mit den Anklagen, befand er.

»Akkarin«, richtete er sich nun an seinen ehemaligen Freund. »Habt Ihr Lord Jolen getötet?«

»Nein.«

»Habt Ihr schwarze Magie studiert und praktiziert?«

»Ja.«

Das Gemurmel, das sich in der Halle erhob, legte sich wieder, kaum dass es erklungen war.

»Wie lange habt Ihr schwarze Magie studiert und ausgeübt?«

Akkarin runzelte leicht die Stirn. »Das erste Mal… vor acht Jahren, bevor ich in die Gilde zurückkehrte.«

Dieser Enthüllung folgte ein kurzes Schweigen, dann erfüllte summendes Stimmengewirr die Halle.

»Habt Ihr aus Büchern gelernt, oder hat ein anderer Euch unterrichtet?«

»Ich habe von einem anderen Magier gelernt.«

»Wer war dieser Magier?«

»Ich habe seinen Namen nicht erfahren. Ich weiß nur, dass er Sachakaner war.«

»Er gehörte also nicht der Gilde an.«

»Nein.«

Ein Sachakaner? Lorlen schluckte, als eine böse Ahnung in ihm aufstieg.

»Erklärt uns, wie es dazu gekommen ist, dass Ihr von einem sachakanischen Magier schwarze Magie erlernen konntet.«

Akkarin lächelte. »Ich hatte schon befürchtet, dass du diese Frage niemals stellen würdest.«

17 Die schreckliche Wahrheit

Sonea schloss die Augen, als Akkarin mit seiner Geschichte begann. Er sprach kurz von seinem Bemühen, Wissen über alte Magie zu erlangen, und davon, dass das Ergebnis seiner Arbeit ihn nach Sachaka geführt habe. In seiner Stimme schwang ein selbstironischer Unterton mit, als hielte er den jungen Mann, der er gewesen war, für einen Narren.

Dann beschrieb er seine Begegnung mit dem Ichani Dakova. Sonea hatte diese Dinge zwar schon einmal von ihm gehört, aber damals war ihr der Anflug von Grauen in seiner Stimme entgangen. Dann wieder war Verbitterung aus seinen Worten zu spüren, als er von den Jahren seiner Versklavung berichtete und von den grausamen Sitten der Ichani.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie wahrscheinlich die Erste war, der er jemals von diesen Dingen erzählt hatte. Bis zu ihrem Gespräch an jenem Morgen an der Quelle hatte er diesen Teil seines Lebens verborgen gehalten, und er hatte nicht nur geschwiegen, um zu verbergen, dass er schwarze Magie erlernt und benutzt hatte. Es schmerzte und demütigte ihn, davon zu berichten, was er ertragen hatte.

Als Sonea die Augen wieder öffnete, erwartete sie beinahe, etwas von diesem Schmerz in Akkarins Gesicht zu sehen, aber obwohl seine Miene ernst war, ließ er sich nichts von seinen Gefühlen anmerken.

Auf die Magier in der Halle wirkte er gelassen und selbstbeherrscht. Die Anspannung in seiner Stimme bemerkten sie wahrscheinlich gar nicht. Ebenso wenig wie Sonea es noch vor einigen Monaten getan hätte. Irgendwie war sie so vertraut mit ihm geworden, dass sie ein wenig von dem sehen konnte, was unter der Oberfläche lag.

Sie hörte Bedauern in seiner Stimme, als er von dem Ichani erzählte, der ihn in schwarzer Magie unterwiesen hatte, damit er seinen Herrn ermorden konnte. Er erklärte, dass er nicht erwartet habe zu überleben. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, Dakova zu töten, sprach er weiter, habe er damit gerechnet, dass der Bruder des Ichani, Kariko, ihn aufspüren und sich rächen werde. Er berichtete davon, dass er mit kalter Berechnung die anderen Sklaven und Dakova ermordet habe. Dann schilderte er mit wenigen kurzen Sätzen seine lange Heimreise.

Seine Stimme wurde ein wenig weicher, als er von seiner Rückkehr in die Gilde sprach und davon, dass er nur den einen Wunsch gehabt habe, Sachaka und die schwarze Magie zu vergessen. Er erzählte, dass er die Ernennung zum Hohen Lord angenommen habe, weil es ihm auf diese Weise leichter fiel, die Ichani im Auge zu behalten. An dieser Stelle seines Berichts hielt er inne, und in der Halle herrschte vollkommenes Schweigen.

»Zwei Jahre nach meiner Wahl kamen mir Gerüchte über eigenartige rituelle Morde in der Stadt zu Ohren«, fuhr er fort. »Die Wache berichtete, dass die Opfer bestimmte Merkmale aufwiesen, die den Schluss nahe legten, dass sie durch die Diebe bestraft worden seien. Ich wusste es besser.

Ich habe meine Roben unter gewöhnlichen Kleidern verborgen, so dass ich in die Hüttenviertel gehen konnte, in denen die Morde begangen worden waren, und dort habe ich Fragen gestellt und zugehört. Als ich den Mörder fand, war er genau das, was ich vermutet hatte: ein schwarzer Magier aus Sachaka.

Glücklicherweise war er schwach und leicht zu besiegen. Aus seinen Gedanken erfuhr ich, dass er ein Sklave gewesen war, den man als Gegenleistung für die Ausführung einer gefährlichen Mission befreit und in schwarzer Magie unterwiesen hatte. Kariko hatte ihn geschickt, um die Stärke der Gilde zu ermitteln und, falls sich die Gelegenheit bieten sollte, mich zu töten.

Dakova hatte Kariko vieles von dem erzählt, was er von mir erfahren hatte, einschließlich der Tatsache, dass die Gilde schwarze Magie ächtete und erheblich schwächer war als in vergangenen Zeiten. Aber Kariko wagte nicht, die Gilde allein anzugreifen. Er musste die anderen dazu bewegen, sich ihm anzuschließen. Wenn er beweisen konnte, dass die Gilde tatsächlich so schwach war, wie sein Bruder behauptet hatte, würde er unter den Ichani mühelos Verbündete finden.«

Akkarin blickte zum König auf. Der Monarch beobachtete ihn aufmerksam. Sonea schöpfte Hoffnung. Selbst wenn der König Akkarins Geschichte nicht zur Gänze glaubte, würde er es doch gewiss für klug halten, diese Dinge zu überprüfen. Vielleicht würde er Akkarin nicht hinrichten lassen, sondern ihm gestatten, in der Gilde zu bleiben, bis …

Plötzlich wanderte der Blick des Königs zu ihr herüber, und sie sah in ein Paar unbewegter grüner Augen. Sie schluckte und zwang sich, diesem Blick standzuhalten. Es ist wahr, dachte sie und versuchte, ihn zu erreichen. Glaub ihm.

»Was habt Ihr mit diesem Sklaven gemacht, den Ihr in der Stadt gefunden habt?«, fragte Lorlen.

Sonea sah kurz zu dem Administrator, dann konzentrierte sie sich wieder auf Akkarin.

»Ich konnte ihn nicht freilassen, denn in diesem Fall hätte er weiter gemordet«, antwortete Akkarin. »Ebenso wenig konnte ich ihn in die Gilde bringen. Er hätte Kariko alles berichtet, was er in Imardin gesehen hat, einschließlich unserer Schwächen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu töten.«

Lorlen zog die Augenbrauen in die Höhe. Bevor er weitere Fragen stellen konnte, fuhr Akkarin fort, und in seiner Stimme schwang ein düsterer Ton der Warnung mit.

»Während der letzten fünf Jahre habe ich neun dieser Spione aufgespürt und getötet. In ihren Gedanken habe ich gesehen, dass Karikos Versuche, die Ichani zu einen, zweimal gescheitert waren. Diesmal, fürchte ich, wird er Erfolg haben.« Akkarins Augen wurden schmal. »Der letzte Spion, den er hergeschickt hat, war kein Sklave. Es war eine Frau – eine Ichani -, und sie hat zweifellos Lord Jolens Gedanken gelesen und all die Dinge in Erfahrung gebracht, die ich vor den Sachakanern geheim zu halten gehofft hatte. Wenn sie Lord Jolens Tod den Anstrich eines natürlichen Ablebens gegeben und seine Familie und seine Diener verschont hätte, wäre keiner von uns auf die Idee gekommen, weitere Nachforschungen dazu anzustellen, und ich hätte vielleicht nicht bemerkt, dass die Ichani jetzt die Wahrheit über die Gilde kennen. Stattdessen hat sie bewusst den Eindruck erweckt, als hätte ich diese Morde begangen. Auf diese Weise hat sie mich dazu gezwungen, Euch die Existenz der Ichani zu offenbaren.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nur den Wunsch, dass Ihr dies zu Eurem Vorteil nutzen werdet.«

»Dann glaubt Ihr also, dass diese Ichani Lord Jolen getötet hat?«

»Ja.«

»Und diese Spione sind der Grund, warum Ihr wieder begonnen habt, schwarze Magie zu benutzen?«

»Ja.«

»Warum habt Ihr uns das nicht bereits vor fünf Jahren erzählt?«

»Die Gefahr war damals nicht allzu groß. Ich hatte gehofft, dass ich, wenn ich die Spione töte, die Ichani am Ende davon würde überzeugen können, dass die Gilde nicht so schwach ist, wie Kariko es behauptet hat. Vielleicht hätte Kariko zu guter Letzt den Versuch aufgegeben, ihre Unterstützung zu gewinnen. Möglicherweise hätten die Ichani ihn auch getötet; schließlich war sein Bruder nicht mehr da, um ihn zu schützen.«

»Ihr hättet es uns überlassen sollen, das zu entscheiden.«

»Das war ein zu großes Risiko«, erwiderte Akkarin. »Wenn ich öffentlich der Benutzung schwarzer Magie angeklagt worden wäre, hätten die Ichani davon erfahren und gewusst, dass Kariko die Wahrheit sagte. Wenn es mir gelungen wäre, Euch von der Wahrheit zu überzeugen, wärt Ihr vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass es nur eine Möglichkeit gab, Kyralia zu schützen: nämlich selbst die schwarze Magie zu erlernen. Diese Schuld wollte ich nicht auf mein Gewissen laden.«

Die höheren Magier tauschten fragende Blicke. Lorlen wirkte nachdenklich.

»Ihr habt schwarze Magie benutzt, um Euch zu stärken, damit Ihr gegen die Spione und schließlich gegen diese Ichani kämpfen konntet«, sagte er langsam.

»Ja.« Akkarin nickte. »Aber die Stärke, die ich benutzt habe, wurde freiwillig gegeben, von meinem Diener und in letzter Zeit von Sonea.«

Sonea hörte, wie jemand scharf die Luft einsog. »Ihr habt an Sonea schwarze Magie praktiziert?«, stieß Lady Vinara hervor.

»Nein.« Akkarin lächelte. »Das war nicht notwendig. Sie ist eine Magierin und kann ihre Stärke auf herkömmliche Weise einem anderen zur Verfügung stellen.«

Lorlen runzelte die Stirn und warf Sonea einen Blick zu. »Wie viel hat Sonea vor dem heutigen Tag von diesen Dingen gewusst?«

»Alles«, antwortete Akkarin. »Sie hatte, wie Lord Rothen bereits bemerkte, zufällig mehr erfahren, als sie hätte wissen dürfen, und ich musste dafür sorgen, dass sie und ihr ehemaliger Mentor Stillschweigen bewahrten. Vor kurzem habe ich dann beschlossen, ihr die Wahrheit anzuvertrauen.«

»Warum?«

»Weil mir klar wurde, dass außer mir noch jemand über die Bedrohung durch die Ichani Bescheid wissen sollte.«

Lorlens Augen wurden schmal. »Und Ihr habt eine Novizin ausgewählt? Statt eines Magiers?«

»Ja. Sie ist sehr stark, und ihre Kenntnis der Hüttenviertel hat sich als nützlich erwiesen.«

»Wie habt Ihr sie überzeugt?«

»Ich habe sie zu einem der Spione geführt und ihr dann gezeigt, wie sie seine Gedanken lesen konnte. Dort hat sie mehr als genug gesehen, um zu wissen, dass das, was ich ihr von meinen Jahren in Sachaka erzählt hatte, der Wahrheit entsprach.«

Unruhe machte sich breit, als die Menschen im Raum begriffen, was das bedeutete. Die höheren Magier sahen zu Sonea hinüber. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss, und wandte den Blick ab.

»Du hast mir gesagt, dass du diese Fähigkeit des Gedankenlesens einem anderen nicht beibringen könntest«, sagte Lorlen leise. »Du hast gelogen.«

»Nein, ich habe nicht gelogen.« Akkarin lächelte. »Zu dieser Zeit konnte ich es keinem anderen beibringen, ohne offenbaren zu müssen, wo ich es gelernt hatte.«

Lorlen runzelte die Stirn. »Was hast du Sonea sonst noch gelehrt?«

Bei dieser Frage gefror Sonea das Blut in den Adern.

Akkarin zögerte. »Ich habe ihr gewisse Bücher zu lesen gegeben, damit sie unseren Feind besser verstehen konnte.«

»Die Bücher aus der Truhe? Wo hast du diese Bücher gefunden?«

»In den Gängen unter der Universität. Nachdem die Gilde schwarze Magie geächtet hatte, hatte sie sie dort versteckt, für den Fall, dass dieses Wissen eines Tages wieder benötigt werden sollte. Du hast sicher genug in diesen Büchern gelesen, um zu wissen, dass das die Wahrheit ist.«

Lorlen warf Lord Sarrin einen Blick zu.

Der alte Alchemist nickte. »Den Unterlagen zufolge, die ich in der Truhe gefunden habe, entspricht das der Wahrheit. Ich habe die Schriften sorgfältig studiert, und sie scheinen echt zu sein. Daraus geht hervor, dass die Benutzung schwarzer Magie allgemein gebräuchlich war, bevor die Gilde sie vor fünfhundert Jahren ächtete. Magier hatten damals Lehrlinge, die ihnen als Gegenleistung für Wissen ihre Kraft zur Verfügung stellten. Einer dieser Lehrlinge hat seinen Herrn getötet und später Tausende von Menschen ermordet, um die Herrschaft über das Land an sich zu reißen. Nach seinem Tod hat die Gilde schwarze Magie geächtet.«

Tumult brach in der Halle aus, und Sonea, die aufmerksam zuhörte, fing Bruchstücke einiger Gespräche auf.

»Woher sollen wir wissen, ob seine Geschichte wahr ist?«

»Warum haben wir noch nie von diesen Ichani gehört?«

Lorlen hob beide Arme und rief die Versammlung zur Ordnung. Der Lärm erstarb.

»Haben die höheren Magier irgendwelche Fragen an Akkarin?«

»Ja«, brummte Balkan. »Wie viele dieser ausgestoßenen Magier gibt es?«

»Zwischen zehn und zwanzig«, antwortete Akkarin. Gelächter folgte seinen Worten. »Sie beziehen jeden Tag neue Stärke von ihren Sklaven, deren magisches Potenzial dem eines jeden von uns gleichkommt. Stellt Euch einen schwarzen Magier mit zehn Sklaven vor. Wenn er im Abstand einiger Tage auch nur von der Hälfte dieser Sklaven Kraft bezöge, wäre er damit binnen Wochen hundert Mal stärker als ein Magier der Gilde.«

Schweigen folgte seinen Worten.

»Aber diese Stärke verringert sich, wenn sie benutzt wird«, wandte Balkan ein. »Nach jedem Kampf ist ein schwarzer Magier schwächer als zuvor.«

»Ja«, antwortete Akkarin.

Balkan wirkte nachdenklich. »Ein kluger Angreifer würde zuerst die Sklaven töten.«

»Warum haben wir noch nie von diesen Ichani gehört?«, hallte Administrator Kitos Stimme durch den Raum. »Jedes Jahr reisen Kaufleute nach Sachaka. Sie haben gelegentlich davon berichtet, dass sich Magier in Arvice trafen, aber es war nie die Rede von schwarzen Magiern.«

»Die Ichani sind Ausgestoßene. Sie leben in den Ödländern, und in Arvice wird niemals öffentlich von ihnen gesprochen«, erwiderte Akkarin. »Der Hof von Arvice ist ein gefährliches politisches Schlachtfeld. Sachakanische Magier geben anderen keinen Einblick in die Grenzen ihrer Fähigkeiten und ihrer Macht. Sie gestatten kyralischen Händlern und Botschaftern nicht, Dinge zu erfahren, die sie vor ihren eigenen Landsleuten verborgen halten.«

»Warum wollen diese Ichani Kyralia überfallen?«, fragte Balkan.

Akkarin zuckte die Achseln. »Dafür gibt es viele Gründe. Vor allem, nehme ich an, wollen sie den Ödländern entfliehen und in Arvice wieder zu Macht und Ansehen gelangen, aber ich weiß, dass einige von ihnen sich auch für den Sachakanischen Krieg rächen wollen.«

Balkan runzelte die Stirn. »Eine Expedition nach Arvice würde bestätigen, ob dies die Wahrheit ist oder nicht.«

»Jeder, der als Magier der Gilde zu erkennen wäre, würde getötet werden, wenn er sich in die Nähe der Ichani wagte«, warnte Akkarin. »Und ich nehme an, dass in Arvice nur wenige Menschen Kenntnis von Karikos Plänen haben.«

»Wie sonst sollen wir dann die Wahrheit herausfinden?«, fragte Vinara. »Werdet Ihr Euch einer Wahrheitslesung unterwerfen?«

»Nein.«

»Das wirft kein gutes Licht auf Euch.«

»Wer immer die Wahrheitslesung durchführen würde, könnte aus meinen Gedanken das Geheimnis schwarzer Magie erfahren«, erklärte Akkarin. »Dieses Risiko werde ich nicht eingehen.«

Vinaras Augen wurden schmal. Sie sah Sonea an. »Und was ist mit Sonea?«

»Nein.«

»Sie hat ebenfalls schwarze Magie erlernt?«

»Nein«, entgegnete er. »Aber ich habe ihr Informationen anvertraut, die nicht weitergegeben werden sollten, es sei denn, im äußersten Notfall.«

Soneas Herz hämmerte. Sie senkte den Blick. Akkarin hatte gelogen, was sie betraf.

»Ist Rothens Geschichte wahr?«, fragte Vinara weiter.

»Ja.«

»Ihr gebt also zu, dass Ihr Euch nur deshalb zu Soneas Mentor habt bestimmen lassen, um Rothens und Soneas Stillschweigen zu erzwingen?«

»Nein, ich habe es auch deshalb getan, weil Sonea großes Potenzial besitzt, das schändlich vernachlässigt wurde. Als ich Sonea kennen lernte, habe ich festgestellt, dass sie grundehrlich, sehr fleißig und außerordentlich begabt ist.«

Sonea sah ihn überrascht an. Sie verspürte ein verrücktes Verlangen zu grinsen, schafft es aber, sich zu beherrschen.

Dann wurde ihr plötzlich sehr kalt, als sie begriff, was er da tat.

Er wollte die anderen Magier überreden, sie in der Gilde zu behalten, indem er ihnen erklärte, dass sie über Fähigkeiten und Informationen verfügte, die sie vielleicht noch benötigen würden. Selbst wenn sie ihm nicht glaubten, würden sie vielleicht Mitleid mit ihr haben. Sie war seine Geisel gewesen. Er hatte sie mit einer List dazu gebracht, ihm zu helfen. Die Gilde würde ihr vielleicht sogar verzeihen. Sie hatte schließlich nur einige Bücher gelesen, und das auch nur auf Veranlassung Akkarins.

Sie runzelte die Stirn. Akkarin stand durch dieses Verhalten nur umso schlechter da. Und er ermutigte die Gilde, das genauso zu sehen. Seit sie zum ersten Mal von den Ichani gehört hatte, hatte sie die Hoffnung gehegt, dass die Gilde, wenn sie die Wahrheit erführe, Akkarin verzeihen würde. Aber jetzt fragte sie sich, ob Akkarin diese Möglichkeit überhaupt je in Betracht gezogen hatte.

Wenn er nicht auf Vergebung hoffte, was hatte er dann vor? Er wollte sich doch gewiss nicht hinrichten lassen?

Nein, wenn es so weit käme, würde er kämpfen und fliehen. Aber würde er es schaffen?

Wieder fragte sie sich, wie viel von seiner Kraft er bei dem Kampf gegen die Ichani verbraucht haben mochte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als ihr klar wurde, dass er durchaus zu schwach sein könnte, um der Gilde zu entkommen.

Es sei denn, sie gäbe ihm all ihre Kraft, einschließlich der Energie, die sie von der Ichani genommen hatte.

Sie brauchte ihn lediglich zu berühren und ihm die Energie zu schicken. Die Krieger, die sie umringten, würden versuchen, sie aufzuhalten. Sie würde gegen sie kämpfen müssen.

Aber dann würden sie erkennen, dass sie mehr Kraft benutzte, als sie hätte besitzen dürfen.

Und wenn das geschah, würden sie keinesfalls geneigt sein, ihr zu vergeben.

Ihr blieb also nur eine einzige Möglichkeit, um Akkarin zu retten. Sie musste bekennen, dass sie ebenfalls schwarze Magie praktiziert hatte.

»Sonea.«

Als sie aufblickte, stellte sie fest, dass Lorlen sie aufmerksam beobachtete.

»Ja, Administrator.«

Er kniff die Augen zusammen. »Hat Akkarin dir beigebracht, wie man in einem widerstrebenden Geist lesen kann?«

»Ja.«

»Und du bist dir sicher, dass das, was du in den Gedanken des Spions gesehen hast, der Wahrheit entsprach?«

»Ich bin mir sicher.«

»Wo warst du in der Nacht, als Lord Jolen gestorben ist?«

»Ich war mit dem Hohen Lord zusammen.«

Lorlen runzelte die Stirn. »Was hast du getan?«

Sonea zögerte. Dies war der Moment, in dem sie sich hätte offenbaren müssen. Aber Akkarin würde das möglicherweise nicht wollen.

Er will, das jemand, der die Wahrheit kennt, in der Gilde bleibt. Aber welchen Nutzen werde ich haben, wenn er tot ist? Besser, wir fliehen gemeinsam. Wenn die Gilde unsere Hilfe braucht, kann sie über Lorlens Blutring mit uns in Verbindung treten.

»Sonea?«

Eines weiß ich mit Gewissheit. Ich kann nicht zulassen, dass sie Akkarin töten.

Sie holte tief Luft, dann sah sie Lorlen direkt in die Augen.

»Er hat mich in schwarzer Magie unterwiesen.«

Ein Aufkeuchen ging durch die Halle. Am Rand ihres Gesichtsfelds nahm sie wahr, dass Akkarin sie anstarrte, aber sie hielt den Blick auf Lorlen gerichtet. Ihr Herz hämmerte, und ihr war übel, aber sie zwang sich, weiterzusprechen. »Ich habe ihn gebeten, mich zu unterrichten. Anfangs hat er es abgelehnt. Erst nachdem die Spionin der Ichani ihn verletzt hatte, konnte ich -«

»Du hast freiwillig schwarze Magie erlernt?«, rief Vinara.

Sonea nickte. »Ja, Mylady. Als der Hohe Lord verletzt wurde, ist mir bewusst geworden, dass niemand den Kampf gegen die Ichani würde fortsetzen können, falls er stürbe.«

Lorlen sah zu Akkarin hinüber. »Jetzt wird es tatsächlich niemanden mehr geben.«

Bei seinen Worten überlief Sonea ein Frösteln. Offensichtlich hatte Lorlen Akkarins Strategie durchschaut. Die Erkenntnis, dass ihre Vermutungen richtig gewesen waren, erfüllte sie mit bitterer Befriedigung.

Als sie Akkarin ansah, erschrak sie über den Zorn in seinen Zügen. Hastig wandte sie den Blick ab. Ich habe versprochen, mich an seine Anweisungen zu halten. Zweifel stiegen in ihr auf. Habe ich mich geirrt? Habe ich soeben einen Plan zunichte gemacht, den zu durchschauen ich nicht klug genug war?

Akkarin wollte sich selbst opfern, damit sie in der Gilde bleiben konnte, das wusste sie. Aber ihm musste doch klar sein, dass sie sich möglicherweise weigern würde, ihn im Stich zu lassen.

»Sonea.«

Mit immer noch hämmerndem Herzen zwang sie sich, Lorlen anzusehen.

»Hat Akkarin Lord Jolen getötet?«

»Nein.«

»Hat er die Zeugin getötet?«

Bei dieser Frage krampfte sich ihr Magen zusammen. »Das weiß ich nicht. Ich habe diese Zeugin nicht gesehen, daher kann ich darüber keine Auskunft geben. Ich kann nur sagen, dass ich ihn niemals eine Frau habe töten sehen.«

Lorlen nickte und wandte sich zu den höheren Magiern um. »Gibt es noch weitere Fragen?«

»Ja«, meldete sich Balkan zu Wort. »Als wir in Akkarins Residenz kamen, war keiner von euch beiden dort, weder du noch Akkarin. Ihr seid kurz darauf gemeinsam erschienen. Wo seid ihr gewesen?«

»Wir waren in der Stadt.«

»Warum?«

»Um gegen die sachakanische Spionin zu kämpfen.«

»Hat Akkarin diese Spionin getötet?«

»Nein.«

Balkan runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr. Lorlen sah die höheren Magier an, dann richtete er den Blick auf die anderen Anwesenden in der Halle.

»Hat irgendjemand noch weitere Fragen?«

Stille folgte. Sonea stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Lorlen nickte.

»Wir werden jetzt darüber sprechen, was wir -«

»Wartet!«

Lorlen hielt inne. »Ja, Lord Balkan.«

»Ich habe noch eine Frage. An Sonea.«

Sie zwang sich, Balkan in die Augen zu sehen.

»Hast du diese Ichani getötet?«

Kälte breitete sich in ihrem Körper aus. Sie blickte zu Akkarin hinüber. Er starrte mit harter, resignierter Miene zu Boden.

Was spielt es jetzt noch für eine Rolle, wenn ich es ihnen sage?, dachte sie. Ich kann damit zumindest unter Beweis stellen, dass ich Akkarin glaube. Sie reckte das Kinn und erwiderte Balkans Blick.

»Ja.«

Eine Woge der Erregung lief durch die Halle. Balkan seufzte und rieb sich die Schläfen.

»Ich habe Euch doch gesagt, dass die beiden nicht nebeneinander stehen dürfen«, murmelte er.

18 Das Urteil der Gilde

Bei der nächsten Unterbrechung, die Lorlen verfügte, eilte Dannyl an Rothens Seite. Sein Freund hatte auf Soneas Geständnis reagiert, als habe er einen körperlichen Schlag erhalten. Jetzt stand Rothen wie erstarrt da.

Dannyl trat neben seinen Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ihr zwei werdet niemals aufhören, mich zu überraschen«, sagte Dannyl sanft. »Warum hast du mir nicht den wahren Grund dafür genannt, dass man Akkarin zu Soneas Mentor bestimmt hat?«

Rothen schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht.« Er sah zu Sonea hinüber, dann seufzte er. »Das alles ist meine Schuld. Ich habe sie überhaupt erst dazu gebracht, sich der Gilde anzuschließen.«

»Nein, es ist nicht deine Schuld. Du konntest unmöglich wissen, dass so etwas geschehen würde.«

»Aber ich habe sie damals dazu gebracht, ihre Ansichten in Frage zu stellen. Ich habe sie gelehrt, darüber hinauszublicken, damit sie ihren Platz in unseren Reihen akzeptieren konnte. Jetzt hat sie wahrscheinlich das Gleiche wieder getan, diesmal für… für…«

»Was ist, wenn das alles der Wahrheit entspricht? Dann hätte sie gute Gründe für ihr Tun gehabt.«

Rothen blickte mit trostloser Miene auf. »Spielt das eine Rolle? Sie hat soeben ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet.«

Dannyl schaute sich im Raum um und betrachtete zuerst die höheren Magier, dann den König. Sie wirkten wachsam und ängstlich. Dann blickte er zu Sonea und Akkarin hinüber. Sonea stand sehr aufrecht und entschlossen da, obwohl er nicht sagen konnte, wie viel davon erzwungen war. Der Gesichtsausdruck des Hohen Lords war… beherrscht. Als Dannyl genauer hinschaute, stellte er fest, dass Akkarin die Zähne zusammenbiss, als sei er zornig.

Er wollte nicht, dass Sonea so viel offenbart, dachte Dannyl.

Aber trotzdem standen er und Sonea jetzt näher beieinander, nur noch durch wenige Schritte getrennt. Dannyl nickte vor sich hin.

»Ich weiß nicht, ob das tatsächlich ihr Todesurteil war, Rothen.«


Sobald die höheren Magier ihre Plätze wieder eingenommen hatten, berichteten sie darüber, was die Mitglieder ihrer jeweiligen Disziplinen zu der Angelegenheit gesagt hatten. Lorlen hörte aufmerksam zu.

»Vielen von uns fällt es schwer, seine Geschichte zu glauben«, bemerkte Vinara, »aber einige meiner Kollegen haben auf einen Umstand hingewiesen: Wenn Akkarin seine Taten mit einer erlogenen Geschichte hätte untermauern wollen, wäre ihm sicher etwas Überzeugenderes eingefallen.«

»Meine Krieger sind ebenfalls sehr beunruhigt«, ergänzte Balkan. »Ihrer Meinung nach dürfen wir auf keinen Fall die Möglichkeit außer Acht lassen, dass er die Wahrheit sagt und wir mit einem Angriff seitens Sachakas rechnen müssen. Wir müssen weitere Nachforschungen anstellen.«

Sarrin nickte. »Ja, meine Fakultät schließt sich dieser Auffassung an. Man fragt sich, ob die Bücher Informationen enthalten, die wir benutzen könnten, um uns im Falle eines Angriffs zu verteidigen. Ich fürchte, dass dies nicht der Fall ist. Wenn Akkarin die Wahrheit sagt, werden wir ihn brauchen.«

»Auch ich würde Akkarin gern weitere Fragen stellen«, warf Balkan ein. »Normalerweise würde ich verlangen, dass er in Haft bleibt, bis seine Behauptungen bewiesen sind.«

»Wir können ihn nicht auf Dauer gefangen halten«, rief Vinara ihm ins Gedächtnis.

»Nein.« Balkan schürzte die Lippen, dann blickte er zu Lorlen auf. »Glaubt ihr, dass er mit uns zusammenarbeiten würde?«

Lorlen zuckte die Achseln. »Bisher hat er es jedenfalls getan.«

»Das bedeutet nicht, dass es so bleiben wird«, sagte Vinara. »Bisher haben wir vermutlich genau das getan, was er von uns wollte. Wenn wir einen anderen Weg wählen würden, könnte er äußerst unangenehm werden.«

Sarrin runzelte die Stirn. »Wenn er mit Gewalt die Herrschaft über uns hätte an sich reißen wollen, hätte er das bereits versucht.«

»Das ist offensichtlich nicht das, was er will«, stimmte Balkan zu. »Obwohl diese ganze Geschichte über sachakanische Magier durchaus dazu bestimmt sein könnte, uns zu verwirren.«

»Aber wir können ihn nicht gehen lassen«, erklärte Vinara entschieden. »Akkarin hat aus freien Stücken gestanden, schwarze Magie praktiziert zu haben. Ob er die Morde begangen hat oder nicht, wir können nicht dulden, dass ein Mann in seiner Position eins unserer wichtigsten Gesetze bricht. Akkarin muss bestraft werden.«

»Die geziemende Strafe für dieses Vergehen ist die Hinrichtung«, erinnerte Sarrin sie. »Würdet Ihr eine Untersuchung unterstützen, wenn Ihr wüsstet, dass dies Eure Strafe sein wird?«

»Zweifellos würde er uns auch nicht gestatten, seine Kräfte zu binden.« Vinara seufzte. »Wie stark ist er, Balkan?«

Der Krieger dachte nach. »Das kommt darauf an. Sagt er die Wahrheit? Er hat erklärt, dass ein Magier mit zehn Sklaven binnen weniger Wochen die Stärke von hundert Magiern der Gilde erlangen könne. Er ist seit acht Jahren wieder zurück, obwohl er behauptet, dass er bis vor fünf Jahren keine schwarze Magie benutzt hat. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, um sich zu stärken, selbst wenn ihm dafür nur eine einzige Person zur Verfügung stand – bis vor kurzem.«

»Er hat in letzter Zeit gegen neun Sklaven gekämpft«, fügte Sarrin hinzu. »Das muss ihn geschwächt haben.«

Balkan nickte. »Er ist möglicherweise nicht so stark, wie wir befürchten. Wenn er jedoch nicht die Wahrheit sagt, könnte er vielleicht viel stärker sein, als wir vermuten. Er könnte sich über einen längeren Zeitraum hinweg mit zusätzlicher Kraft versorgt haben. Er könnte Menschen in der Stadt getötet haben. Und dann wären da noch Lord Jolen und sein Haushalt.« Balkan seufzte. »Selbst wenn ich mir ein klares Urteil über seine Aufrichtigkeit und seine Stärke bilden könnte, gibt es noch einen weiteren Faktor, der es unmöglich macht, vorauszusagen, was geschehen wird, wenn wir versuchen sollten, Gewalt anzuwenden.«

»Welcher Faktor soll das sein?«, fragte Vinara.

Balkan drehte sich nach links. »Seht Euch Sonea genau an. Spürt Ihr es?«

Sie blickten zu der Novizin hinüber.

»Kraft«, sagte Sarrin.

»Ja«, pflichtete Balkan ihm bei. »Viel Kraft. Sie hat noch nicht gelernt, ihre Kraft so zu verbergen, wie er es tut.« Er hielt inne. »Sie hat gesagt, dass er sie in der vorletzten Nacht in die schwarze Magie eingeführt habe. Ich weiß nicht, wie lange eine solche Ausbildung normalerweise dauert, aber er behauptet, das Wesentliche in einer einzigen Unterrichtsstunde gelernt zu haben. Als Sonea vor einer Woche in der Arena trainiert hat, hat sie diese Aura von Energie noch nicht besessen – anderenfalls hätte ich es mit Gewissheit gespürt. Ich denke, diese Frau, deren Ermordung Sonea gestanden hat, war die Quelle ihres plötzlichen Zuwachses an Kraft. Wenn sie eine gewöhnliche Frau getötet hätte, hätte Sonea unmöglich binnen einer einzigen Nacht so viel magische Energie dazugewinnen können.«

Nachdenklich musterten sie die Novizin.

»Warum hat Akkarin versucht, Soneas Beteiligung an dem Ganzen zu verbergen?«, überlegte Sarrin laut.

»Und warum hat sie beschlossen, ihre Beteiligung zu offenbaren?«, ergänzte Vinara.

»Vielleicht wollte er sicherstellen, dass jemand mit der Fähigkeit, gegen die Sachakaner zu kämpfen, überlebte«, sagte Sarrin. Er runzelte die Stirn. »Das lässt den Schluss zu, dass die Bücher allein nicht genügen würden, uns das Wesentliche zu lehren.«

»Vielleicht wollte er sie einfach schützen«, meinte Vinara.

»Lord Balkan«, erklang jetzt eine neue Stimme.

Der Krieger blickte überrascht auf. »Ja, Euer Majestät?«

Alle Köpfe wandten sich zum König um. Er beugte sich über die Rückenlehne von Akkarins leerem Stuhl, und seine grünen Augen glänzten durchdringend.

»Glaubt Ihr, dass die Gilde imstande ist, Akkarin aus den Verbündeten Ländern zu vertreiben?«

Balkan zögerte. »Diese Frage kann ich nicht beantworten, Euer Majestät. Selbst wenn es uns gelänge, würde es die meisten unserer Magier erschöpfen. Sollten diese sachakanischen Magier tatsächlich existieren, könnten sie darin die bestmögliche Gelegenheit für einen Angriff sehen.«

Der junge König dachte über Balkans Worte nach.

»Administrator Lorlen, glaubt Ihr, dass er sich fügen würde, wenn wir ihm den Befehl gäben, die Verbündeten Länder zu verlassen?«

Lorlen blinzelte überrascht. »Ihr meint… Verbannung?«

»Ja.«

Die höheren Magier sahen einander nachdenklich an.

»Das uns am nächsten gelegene Land, das nicht zum Bündnis gehört, ist Sachaka«, bemerkte Balkan. »Wenn Akkarins Geschichte wahr ist…«

Lorlen runzelte die Stirn, dann schob er die Hände in die Taschen. Seine Finger berührten den Ring.

Akkarin?

Ja?

Würdest du eine Verbannung akzeptieren?

Statt mich hier herauskämpfen zu müssen? Lorlen fing eine schwache Erheiterung auf. Ich hatte auf etwas Besseres gehofft.

Schweigen folgte.

Akkarin? Du weißt, wo sie dich hinschicken werden.

Ja.

Soll ich versuchen, sie dazu zu bewegen, dich woanders hinzuschicken?

Nein. Alle anderen möglichen Ziele sind zu weit von Kyralia entfernt. Die Gilde wird die Magier, die sie mir als Eskorte mitgeben würde, zur Verteidigung Kyralias benötigen, falls die Ichani angreifen sollten.

Wieder verfiel er in Schweigen. Lorlen betrachtete die anderen Magier. Sie beobachteten ihn erwartungsvoll.

Akkarin? Der König wartet auf eine Antwort.

Also gut. Sieh zu, ob du sie dazu überreden kannst, Sonea hier zu behalten.

Ich werde tun, was ich kann.

»Wir können wahrscheinlich nur versuchen, ihn dazu zu bewegen, ohne Gegenwehr fortzugehen«, erklärte Lorlen.

Der König nickte. »Es wäre töricht, einen Mann einzukerkern, den man nicht kontrollieren kann, und, wie Lady Vinara sagte, die Öffentlichkeit muss sehen, dass er bestraft wird. Allerdings müssen wir dieser Bedrohung durch Sachaka nachgehen. Falls sich herausstellen sollte, dass der Hohe Lord aufrichtig und vertrauenswürdig ist, könnte sich für uns die Notwendigkeit ergeben, ihn zu finden und uns mit ihm zu beraten.«

Balkan runzelte die Stirn. »Ich würde Akkarin gern weitere Fragen stellen.«

»Das könnt Ihr auf dem Weg zur Grenze tun.« Die Augen des Königs waren hart.

Die anderen tauschten besorgte Blicke, aber niemand wagte zu protestieren.

»Darf ich mir erlauben zu sprechen, Euer Majestät?«

Alle Anwesenden drehten sich zu Rothen um, der am Fuß der Treppe stand.

»Ihr dürft«, antwortete der König.

»Vielen Dank.« Rothen neigte kurz den Kopf, dann sah er die höheren Magier eindringlich an. »Ich bitte Euch, Soneas Jugend und Leichtgläubigkeit zu berücksichtigen, wenn Ihr das Urteil über sie fällt. Sie war für einige Zeit seine Gefangene. Ich weiß nicht, wie er sie dazu überredet hat, sich ihm anzuschließen. Sie ist dickköpfig und gutmütig, aber als ich sie davon überzeugt habe, der Gilde beizutreten, habe ich sie ermutigt, ihr Misstrauen gegen Magier in Frage zu stellen. Damit habe ich sie womöglich dazu gebracht, auch ihr Misstrauen gegenüber Akkarin über Bord zu werfen.« Er lächelte schwach. »Wenn sie erst einmal begriffen hat, dass sie getäuscht wurde, wird sie sich selbst wahrscheinlich gründlicher bestrafen, als wir es jemals könnten.«

Lorlen wandte sich zum König um. Er nickte.

»Ich werde Eure Worte bedenken, Lord…?«

»Rothen.«

»Ich danke Euch, Lord Rothen.«

Rothen ließ sich auf ein Knie sinken, dann erhob er sich wieder und ging davon. Der Herrscher sah ihm nach und trommelte mit den Fingern auf die Rückenlehne von Akkarins Stuhl.

»Was glaubt Ihr, wie die Novizin des Hohen Lords reagieren wird, wenn wir ihren Mentor in die Verbannung schicken?«


Sonea stand in tiefem Schweigen da.

Die Krieger, die sie und Akkarin umringten, hatten sie in einer Barriere eingeschlossen, die alle Geräusche in der Halle ausblendete. Sie hatte beobachtet, wie die Magier sich zusammenfanden, um zu diskutieren. Nach einer langen Unterbrechung waren die höheren Magier auf ihre Plätze zurückgekehrt und hatten eine leidenschaftliche Debatte begonnen.

Akkarin kam einen Schritt näher, sah sie jedoch nicht an. »Du hast dir einen ungünstigen Zeitpunkt für deinen Ungehorsam ausgesucht, Sonea.«

Der Zorn in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. »Glaubt Ihr wirklich, ich würde zulassen, dass sie Euch hinrichten?«

Es entstand eine lange Pause, bevor er antwortete.

»Ich brauche dich hier, damit du den Kampf an meiner Stelle fortsetzt.«

»Wie könnte ich das tun, wenn mich die Gilde in Zukunft auf Schritt und Tritt beobachten würde?«

»Geringe Chancen sind besser als gar keine. Zumindest würden sie dich, wenn alles andere scheitert, um Rat fragen können.«

»Wenn sie sich meiner sicher wären, hätten sie es niemals auch nur in Betracht gezogen, Euch weiterleben zu lassen«, gab sie zurück. »Ich werde nicht zulassen, dass sie mich als Vorwand benutzen, um Euch zu töten.«

Er machte Anstalten, sich ihr zuzuwenden, hielt jedoch inne, als plötzlich wieder Geräusche durch die Barriere drangen. Lorlen stand auf und schlug einen Gong.

»Es wird Zeit, darüber zu urteilen, ob Akkarin aus der Familie Delvon, Haus Velan, Hoher Lord der Magiergilde, und Sonea, seine Novizin, der Verbrechen schuldig sind, deren sie angeklagt wurden.«

Er streckte eine Hand aus. Darüber erschien eine Lichtkugel, die sogleich zur Decke emporschwebte. Die anderen höheren Magier folgten seinem Beispiel, und schließlich sandten die übrigen Magier Hunderte von Lichtkugeln empor, und strahlende Helligkeit durchflutete die Gildehalle.

»Lautet Euer Urteil, dass Akkarin aus der Familie Delvon, Haus Velan, über jeden Zweifel erhaben schuldig ist an der Ermordung Lord Jolens, seiner Familie und seiner Diener?«

Mehrere Lichtkugeln färbten sich langsam rot, aber die meisten blieben weiß. Die höheren Magier starrten lange Zeit zur Decke hinauf, und Sonea begriff, dass sie die Lichtkugeln zählten. Als sie wieder zu Lorlen hinabblickten, schüttelte jeder von ihnen einmal den Kopf.

»Die Mehrheit entscheidet sich für Nein«, erklärte Lorlen. »Lautet Euer Urteil, dass Akkarin aus der Familie Delvon, Haus Velan, schuldig ist, Wissen über schwarze Magie erstrebt, schwarze Magie erlernt und praktiziert sowie über die vorherigen Anklagepunkte hinaus mit schwarzer Magie getötet zu haben?«

Urplötzlich färbten sich alle Kugeln rot. Lorlen wartete nicht, bis die höheren Magier die Kugeln zählten.

»Die Mehrheit hat auf schuldig erkannt«, rief Lorlen. »Seid Ihr zu dem Urteil gekommen, dass Sonea, die Novizin des Hohen Lords, schuldig ist, Wissen über alte Magie angestrebt und erworben sowie über diese Anklage hinaus schwarze Magie praktiziert und zum Töten benutzt zu haben?«

Die Lichtkugeln blieben rot. Lorlen nickte langsam.

»Die Mehrheit hat sich diesem Urteil angeschlossen. Die vom Gesetz vorgesehene Strafe für diese Verbrechen ist die Hinrichtung. Wir, die höheren Magier, haben über die Angemessenheit dieser Strafe im Lichte der Gründe debattiert, die für das Verbrechen genannt wurden. Wir würden es vorziehen, die Urteilsverkündung aufzuschieben, bis die Stichhaltigkeit dieser Gründe festgestellt ist, aber aufgrund der Natur des Verbrechens sind wir der Meinung, dass unverzüglich Schritte unternommen werden müssen.« Er hielt inne. »Wir haben beschlossen, Akkarin mit Verbannung aus Kyralia und allen Verbündeten Ländern zu bestrafen.«

Ein Raunen lief durch die Halle, als die Magier diese Neuigkeit bedachten. Sonea hörte einige schwache Proteste, aber kein Magier erhob die Stimme, um zu widersprechen.

»Akkarin aus der Familie Delvon, Haus Velan, Ihr seid nicht länger willkommen in den Verbündeten Ländern. Eine Eskorte wird Euch in das nächstgelegene Land, das nicht zum Bündnis gehört, begleiten. Akzeptiert Ihr dieses Urteil?«

Akkarin blickte zum König auf, dann ließ er sich auf ein Knie nieder. »Wenn es der Wille des Königs ist.«

Der Herrscher zog die Augenbrauen in die Höhe. »Es ist mein Wille«, bekräftigte er.

»Dann werde ich fortgehen.«

Stille legte sich über die Halle, als Akkarin sich wieder erhob. Lorlens Seufzer der Erleichterung war deutlich zu hören. Er wandte sich zu Sonea um.

»Sonea. Wir, die höheren Magier, haben entschieden, dir eine zweite Chance zu bieten. Du wirst unter folgenden Bedingungen bei uns bleiben: Du musst ein Gelübde ablegen, dass du nie wieder schwarze Magie benutzen wirst, es wird dir von diesem Tag an nicht länger gestattet sein, das Gelände der Gilde zu verlassen, und du wirst niemals andere unterrichten. Akzeptierst du dieses Urteil?«

Sonea starrte Lorlen ungläubig an. Die Gilde hatte Akkarin in die Verbannung geschickt, ihr jedoch verziehen – obwohl sie beide sich desselben Verbrechens schuldig gemacht hatten.

Aber es war nicht das Gleiche. Akkarin war ihr Anführer, und sein Verbrechen wog schwerer, weil er eigentlich für die Werte der Gilde hätte einstehen müssen. Sonea war dagegen lediglich eine leichtgläubige junge Frau. Das Hüttenmädchen. Leicht zu beeinflussen. Sie glaubten, dass sie in die Irre geführt worden sei und dass Akkarin willentlich mit schwarzer Magie gearbeitet habe. In Wahrheit hatte sie aus freien Stücken schwarze Magie gelernt, und er war dazu gezwungen gewesen.

Also würden sie ihr erlauben, weiter in der vorübergehenden Sicherheit der Gilde zu verbleiben und deren Annehmlichkeiten in Anspruch zu nehmen, während Akkarin aus den Verbündeten Ländern in das nächstgelegene Land außerhalb des Bundes geschickt werden sollte. Und dieses Land war… sie hielt die Luft an.

Sachaka.

Plötzlich konnte sie nicht mehr atmen. Sie würden Akkarin in die Hände seiner Feinde schicken. Sie mussten wissen, dass er, wenn seine Geschichte wahr war, in Sachaka sterben würde.

Aber auf diese Weise brauchten sie nicht das Risiko eines Kampfes einzugehen, den sie vielleicht verlieren würden.

»Sonea«, wiederholte Lorlen. »Akzeptierst du dieses Urteil?«

»Nein.«

Sie war selbst überrascht über den Zorn in ihrer Stimme. Lorlen starrte sie entsetzt an, dann blickte er zu Akkarin hinüber.

»Bleib«, befahl Akkarin ihr. »Es hat keinen Sinn, wenn wir beide fortgehen.«

Doch, dachte sie. Zusammen haben wir vielleicht eine Chance zu überleben. Sie konnte ihm helfen, zu größerer Kraft zu kommen. Allein würde er immer schwächer werden. An diese winzige Hoffnung klammerte sie sich und drehte sich zu ihm um.

»Ich habe Takan versprochen, auf Euch Acht zu geben. Ich habe die Absicht, dieses Versprechen zu halten.«

Er kniff die Augen zusammen. »Sonea -«

»Erzählt mir nicht, dass ich Euch nur im Weg wäre«, sagte sie leise, denn sie war sich der vielen Zeugen bewusst. »Das hat mich früher nicht aufgehalten, und es wird mich jetzt nicht aufhalten. Ich weiß, wohin man Euch schicken wird. Ich werde Euch begleiten, ob es Euch nun gefällt oder nicht.« Dann wandte sie sich wieder den vorderen Reihen der Halle zu und hob die Stimme, so dass alle sie hören konnten.

»Wenn Ihr den Hohen Lord Akkarin in die Verbannung schickt, müsst Ihr mich ebenfalls fortschicken. Und wenn Ihr dann zur Vernunft kommt, wird er vielleicht noch leben und in der Lage sein, Euch zu helfen.«

Stille herrschte in der Halle. Lorlen starrte Sonea an, dann wandte er sich zu den höheren Magiern um. Sonea konnte Niederlage und Frustration in ihren Gesichtern lesen.

»Nein, Sonea! Bleib hier.«

Beim Klang dieser Stimme krampfte Soneas Magen sich zusammen. Sie zwang sich, Rothen auf der anderen Seite des Raums anzusehen.

»Es tut mir leid, Rothen«, sagte sie. »Aber ich werde nicht bleiben.«

Lorlen holte tief Luft. »Sonea, ich kann dir nur eine einzige weitere Chance geben. Nimmst du dieses Urteil an?«

»Nein.«

»Dann lasst überall in den Verbündeten Ländern bekannt machen, dass Akkarin aus der Familie Delvon, Haus Velan, ehemaliger Hoher Lord der Magiergilde, und Sonea, ehemals Novizin des Hohen Lords, aufgrund der Verbrechen des Studiums und der Ausübung schwarzer Magie sowie des Tötens durch schwarze Magie aus allen Verbündeten Ländern verbannt sind.«

Er drehte sich zu Lord Balkan um und sagte etwas, das jedoch zu leise war, um es verstehen zu können. Dann stieg er von seinem Platz nach unten, trat in den Kreis der Krieger und blieb einige Schritte entfernt von Akkarin stehen. Er hob die Arme und umfasste die schwarze Robe mit beiden Händen. Sonea hörte den Stoff reißen.

»Ich stoße dich aus, Akkarin. Es ist dir verboten, jemals wieder deinen Fuß in mein Land zu setzen.«

Akkarin starrte Lorlen an, sagte jedoch nichts. Der Administrator wandte sich ab und trat vor Sonea. Einen Moment lang sah er ihr in die Augen, dann senkte er den Blick, griff nach ihrem Ärmel und zerriss ihn.

»Ich stoße dich aus, Sonea. Es ist dir verboten, jemals wieder deinen Fuß in mein Land zu setzen.«

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und schritt davon. Sonea blickte auf den Riss in ihrem Ärmel hinab. Er war klein, nur fingerlang. Eine winzige Geste, aber so endgültig.

Die höheren Magier erhoben sich und gingen zwischen den Sitzreihen hindurch nach unten. Sonea ließ mutlos die Schultern sinken, als Balkan in den Kreis trat und auf Akkarin zuging. Als er die schwarzen Roben zerriss und die rituellen Worte sprach, bildeten die übrigen höheren Magier eine Reihe hinter ihm, und Sonea begriff, dass sie darauf warteten, es Lorlen und Balkan gleichzutun.

Als Balkan auf sie zukam, zwang sie sich, mit anzusehen, wie der Krieger ihre Robe zerriss und die rituellen Worte sprach. Es bedurfte all ihrer Entschlossenheit, aber sie brachte es fertig, seinem Blick standzuhalten, ebenso wie sie den Blicken eines jeden der Magier standhielt, die nun folgten.

Als alle höheren Magier das Ritual vollführt hatten, stieß Sonea einen Seufzer der Erleichterung aus. Die restlichen Mitglieder der Gilde erhoben sich von ihren Plätzen. Statt jedoch durch die Türen der Gildehalle hinauszugehen, traten sie einer nach dem anderen auf Akkarin zu.

Es sah so aus, als würde sie diese Zeremonie der Verstoßung noch viele, viele weitere Male ertragen müssen.

Vollkommen reglos ließ sie über sich ergehen, dass Magier, die sie unterrichtet hatten, vor sie hintraten, um ihre Roben zu zerreißen, während ihre Gesichter Missbilligung oder Enttäuschung ausdrückten. Lady Tyas rituelle Worte waren kaum hörbar, und sie eilte hastig davon. Lord Yikmo musterte sie forschend, dann schüttelte er traurig den Kopf. Schließlich waren nur noch wenige Magier übrig. Als diese in den Kreis traten, blickte Sonea auf, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Rothen und Dannyl.

Ihr ehemaliger Mentor ging langsam auf Akkarin zu, und seine Augen brannten vor Zorn, dann bewegten sich Akkarins Lippen. Sonea konnte nicht ganz verstehen, was er sagte, aber das Feuer in Rothens Augen erlosch. Rothen murmelte eine Antwort, und Akkarin nickte kurz. Dann streckte Rothen stirnrunzelnd die Hand aus, um Akkarins Robe zu zerreißen. Er sprach die rituellen Worte und machte dann, ohne aufzublicken, die wenigen Schritte bis zu ihr.

Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Rothens Gesicht wirkte ausgezehrt und gefurcht. Schließlich sah er zu ihr auf, und seine blassblauen Augen schimmerten, als sich Tränen darin sammelten.

»Warum, Sonea?«, flüsterte er heiser.

Auch ihre Augen wurden feucht. Sie presste die Lider fest zusammen und schluckte.

»Sie schicken ihn in den Tod.«

»Und du?«

»Zwei können vielleicht überleben, wo einer scheitern würde. Die Gilde muss die Wahrheit selbst herausfinden. Wenn es so weit ist, werden wir zurückkehren.«

Er holte tief Luft, dann trat er vor und umarmte sie. »Pass auf dich auf, Sonea.«

»Das werde ich tun, Rothen.«

Ihre Stimme versagte, als sie seinen Namen nannte. Er wandte sich ab, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er ihre Robe nicht zerrissen hatte. Eine Träne lief ihr über die Wange, und sie wischte sie hastig fort, als Dannyl vor sie hintrat.

»Sonea.«

Sie zwang sich, zu ihm aufzusehen. Dannyl begegnete ihrem Blick vollkommen ruhig.

»Sachakaner, wie?«

Sie nickte nur, da sie ihrer Stimme nicht traute.

Er schürzte die Lippen. »Wir werden der Sache nachgehen.« Dann klopfte er ihr auf die Schulter und drehte sich um. Sie sah ihm nach, während er zu Rothen hinüberging.

Dann wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, als die Krieger, die sie und Akkarin umringten, einer nach dem anderen herbeikamen, um das Ritual auszuführen. Als sie fertig waren, sah Sonea sich um und stellte fest, dass die Magier zwei Reihen gebildet hatten, die zu den Türen der Gildehalle führten. Hinter ihnen standen die Novizen. Sonea war zutiefst erleichtert darüber, dass sie nicht in das Ritual eingeschlossen worden waren. Regin in dieser Situation gegenüberzustehen, wäre… interessant gewesen.

Die höheren Magier bildeten, angeführt von Lorlen, einen zweiten Kreis um die Kriegereskorte. Als der Administrator auf die Türen der Gildehalle zuging, folgte ihm diese doppelte Eskorte vorbei an den beiden Reihen von Magiern bis zum Eingang der Universität.

Vor dem Gebäude stand ein Kreis von Pferden, die von Stallburschen festgehalten wurden. Akkarin ging auf die beiden Pferde in der Mitte zu, und Sonea folgte ihm. Als er sich in den Sattel des einen Tieres schwang, zögerte sie und betrachtete skeptisch das andere Pferd.

»Zweifelst du an deiner Entscheidung?«

Sonea wandte sich um; Lord Osen stand neben ihr, die Zügel seines Reittiers in der Hand.

Sonea schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nur… ich bin noch nie zuvor geritten.«

Er drehte sich zu den Magiern um, die jetzt durch die Türen hinter ihr strömten, dann wendete er sein Pferd, so dass die anderen Sonea nicht beobachten konnten.

»Du musst die Hand vorn auf den Sattel legen und dann den linken Stiefel hier hineinschieben.« Er griff nach dem Steigbügel ihres Pferdes und hielt ihn fest. Sonea tat wie geheißen, und mit Hilfe weiterer Anweisungen gelang es ihr irgendwie, in den Sattel zu kommen.

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, das Pferd zu führen«, erklärte er ihr. »Es wird den anderen folgen.«

»Vielen Dank, Lord Osen.«

Er blickte zu ihr auf und nickte kurz, dann wandte er sich ab und schwang sich auf sein eigenes Reittier.

Aus ihrer neuen Perspektive konnte sie sehen, dass die Magier sich inzwischen draußen vor der Gilde versammelt hatten. Die höheren Magier standen nebeneinander auf der untersten Stufe der Universitätstreppe, bis auf Lord Balkan, der wie die übrigen Krieger ihrer Eskorte bereits auf seinem Pferd saß. Sonea hielt Ausschau nach dem König, der jedoch nirgends zu sehen war.

Schließlich trat Lorlen vor und ging langsam auf Akkarin zu. Er sah zu ihm auf und schüttelte dann den Kopf.

»Dir wird eine Art zweiter Anfang geboten, Akkarin. Nutze diese Möglichkeit wohl.«

Akkarin schaute ihn einen Moment lang an. »Und du solltest das Gleiche tun, mein Freund, obwohl ich befürchte, dass dir schlimmere Übel bevorstehen als mir. Wir werden in Kontakt bleiben.«

Lorlen lächelte schief. »Das werden wir gewiss.«

Er wandte sich ab und nahm wieder seinen Platz unter den höheren Magiern ein, bevor er Balkan ein Zeichen gab. Der Krieger trieb sein Pferd an, und der Rest der Eskorte folgte seinem Beispiel.

Als Soneas Pferd sich in Bewegung setzte, klammerte sie sich am Knauf ihres Sattels fest. Sie sah zu Akkarin hinüber, der jedoch den Blick fest auf die Tore der Gilde gerichtet hielt. Als sie sie passiert hatten, drehte Sonea sich vorsichtig um, um einen letzten Blick auf die Universität zu werfen.

Zu ihrer Überraschung verspürte sie einen Stich der Trauer und des Bedauerns.

Mir war gar nicht bewusst, wie sehr ich mich hier zu Hause gefühlt habe, dachte sie. Werde ich überleben und die Gilde eines Tages wiedersehen?

Oder, fügte eine dunklere Stimme hinzu, werde ich dann nur noch einen Trümmerhaufen vorfinden?

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