Fünfzehn

Die Lincoln ging mit mir durch, was ich am Telefon zu Mrs. Devorac sagen sollte. Ich prägte es mir ein, suchte die Nummer aus dem Telefonbuch heraus und wählte.

Kurz darauf hatte ich die wohlklingende Stimme einer Frau mittleren Alters im Ohr: »Ja?«

»Bitte verzeihen Sie die Störung, Mrs. Devorac. Ich interessiere mich für Green Peach Hat beziehungsweise Ihr Vorhaben, die Siedlung abreißen zu lassen. Mein Name ist Louis Rosen. Ich komme aus Ontario, Oregon.«

»Ich hatte keine Vorstellung, dass unser Komitee so weit weg Beachtung findet.«

»Ich wollte fragen, ob ich einmal kurz mit meinem Anwalt bei Ihnen vorbeischauen und mit Ihnen reden kann.«

»Mit Ihrem Anwalt? Stimmt denn irgendetwas nicht?«

»Es stimmt tatsächlich etwas nicht, aber das betrifft nicht Ihr Komitee. Es betrifft…« Ich sah zur Lincoln, die aufmunternd nickte. »Es betrifft Sam K. Barrows.«

»Ich verstehe.«

»Ich kenne Mr. Barrows aufgrund einer unglückseligen geschäftlichen Verbindung, die ich mit ihm in Ontario hatte. Und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht behilflich sein.«

»Sie haben einen Anwalt, wie Sie sagen. Ich weiß nicht, was ich für Sie tun könnte, das er nicht ebenfalls kann. Aber Sie können gerne vorbeikommen, wenn wir es auf, sagen wir, eine halbe Stunde beschränken können. Ich erwarte um acht Gäste.«

Ich dankte ihr und legte auf.

»Das ist Ihnen durchaus gelungen, Mr. Rosen«, sagte die Lincoln und erhob sich. »Wir sollten uns sofort auf den Weg machen.« Sie ging zur Tür.

»Warten Sie.«

Sie sah mich an.

»Ich kann das nicht.«

»Na gut. Dann lassen Sie uns stattdessen einen Spaziergang machen.« Die Lincoln öffnete die Tür. »Genießen wir die Nachtluft, sie duftet nach den Bergen.«

Wir spazierten den dunklen Bürgersteig entlang.

»Was, meinen Sie, wird aus Pris werden?«, fragte die Lincoln nach einer Weile.

»Es wird ihr gut gehen. Barrows wird ihr alles geben, was sie sich vom Leben erwartet.«

Die Lincoln blieb vor einer Telefonzelle stehen. »Sie werden Mrs. Devorac noch einmal anrufen müssen, damit sie Bescheid weiß.«

Ich ging in die Zelle und wählte Mrs. Devoracs Nummer. Ich fühlte mich noch schlechter als vorher; ich bekam kaum die Finger in die richtigen Löcher der Wählscheibe.

»Ja?«

»Louis Rosen noch einmal. Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich habe meine Fakten noch nicht ausreichend geordnet, Mrs. Devorac.«

»Und Sie möchten das Treffen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben?«

»Ja.«

»Das ist absolut kein Problem. Wann immer es Ihnen passt. Aber bevor Sie auflegen, Mr. Rosen – sind Sie je in Green Peach Hat gewesen?«

»Nein.«

»Es ist sehr schlimm dort.«

»Das überrascht mich nicht.«

»Bitte sehen Sie es sich bei Gelegenheit einmal an.«

»Ja, mach ich.«

Sie legte auf. Ich stand da, mit dem Hörer in der Hand. Schließlich verließ ich die Telefonzelle wieder.

Die Lincoln war nirgends zu sehen. Ist sie abgehauen?, fragte ich mich. Bin ich jetzt allein auf mich gestellt? Ich spähte in die Dunkelheit.

Sie saß in einer Tankstelle einige Meter entfernt dem Tankwart gegenüber, wippte mit dem Stuhl hin und her und plauderte. Ich öffnete die Tür. »Gehen wir!«

Die Lincoln sagte dem Tankwart gute Nacht, und wir spazierten weiter. Nach einer Weile sah sie mich an. »Warum nicht Pris einen Besuch abstatten?«

»Bloß nicht«, erwiderte ich entsetzt. »Vielleicht geht heute Nacht noch eine Maschine nach Boise. Wenn ja, sollten wir sie nehmen.«

»Sie macht Ihnen Angst. Aber ich glaube, wir würden sie und Mr. Barrows ohnehin nicht zu Hause antreffen. Sie sind bestimmt ausgegangen und amüsieren sich. Der Bursche in der Auftankstelle hat mir erzählt, dass regelmäßig berühmte Unterhaltungskünstler, manche sogar aus Europa, in Seattle auftreten. Ich glaube, er sagte, dass Earl Grant gerade hier gastiert. Wird er geschätzt?«

»Sehr.«

»Der Junge sagte auch, dass die Künstler in der Regel nur an einem Abend auftreten. Und da Mr. Grant heute Abend hier ist, werden sich Mr. Barrows und Pris vielleicht seine Vorstellung ansehen.«

»Er ist Sänger, ein sehr guter.«

»Haben wir genug Geld dafür?«

»Ja.«

»Nun, warum gehen wir dann nicht hin?«

»Ich will nicht.«

»Ich bin eine weite Strecke gereist, um Ihnen behilflich zu sein, Mr. Rosen. Ich finde, im Gegenzug könnten Sie mir einen Gefallen tun. Ich würde es genießen, Mr. Grant zu hören, wie er die aktuellen Lieder vorträgt. Wären Sie so entgegenkommend, mich zu begleiten?«

»Sie wollen mich nur in Schwierigkeiten bringen.«

»Ich möchte, dass Sie den Ort aufsuchen, wo Sie höchstwahrscheinlich Mr. Barrows und Pris begegnen werden. Was ist so schlimm daran?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Na schön.« Mit einem flauen Gefühl im Magen hielt ich nach einem Taxi Ausschau.

Etliche Leute waren gekommen, um den berühmten Earl Grant zu hören; wir konnten uns gerade noch hineinzwängen. Von Pris und Barrows war allerdings nichts zu sehen. Wir setzten uns an die Bar, bestellten Getränke und sahen von dort aus zu. Sie kommen vermutlich gar nicht, sagte ich mir. Es ging mir ein wenig besser.

»Er singt wunderschön«, sagte die Lincoln zwischen zwei Stücken.

»Ja.«

»Der Neger hat die Musik im Blut.«

Ich warf ihr einen Blick zu. War sie sarkastisch? Offenbar nicht, ihr Gesicht war ernst. Vielleicht hatte die Bemerkung einfach zu ihrer Zeit eine andere Bedeutung gehabt als heute.

»Ich erinnere mich noch an meine Reise nach New Orleans als Junge. Dort erlebte ich zum ersten Mal den Neger und seine bemitleidenswerte Lage. Das war, glaube ich, 1826. Der spanische Charakter der Stadt verblüffte mich. Sie war ganz anders als das Amerika, in dem ich aufgewachsen war.«

»Das war, als Denton Offcutt Sie engagiert hatte, nicht wahr?«

»Sie sind mit meinen Anfangsjahren offenbar sehr vertraut.«

»Ich hab’s nachgeschlagen. 1835 starb dann Ann Rutledge, und 1841…« Ich brach ab. Warum hatte ich das nur erwähnt? Ich hätte mir am liebsten selbst in den Hintern getreten. Sogar im schummrigen Licht der Bar war die tiefe Erschütterung auf dem Gesicht der Lincoln zu erkennen. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte ich.

Gott sei Dank hatte Grant inzwischen mit einem weiteren Stück begonnen. Ein leiser, trauriger Blues. Ich winkte dem Barmann und bestellte mir einen doppelten Scotch.

Die Lincoln saß vornübergebeugt da und brütete vor sich hin. Sie hatte die Füße auf die Querstäbe des Barhockers gestellt. Als das Lied zu Ende war, rührte sie sich nicht. Offenbar nahm sie ihre Umgebung gar nicht mehr richtig wahr. Ihr Gesicht war leer.

Ich machte mir richtig Sorgen. »Tut mir leid, wenn ich Sie deprimiert habe.«

»Es ist nicht Ihre Schuld. Diese Stimmungen überkommen mich zuweilen. Ich bin, falls Sie das noch nicht wussten, extrem abergläubisch. Ist das ein Fehler? Auf jeden Fall kann ich es nicht abstellen, es ist ein Teil meines Wesens.« Die Worte kamen stockend, als ob sie kaum die Kraft aufbrachte, zu sprechen.

»Trinken Sie noch was«, sagte ich und bemerkte dann, dass sie noch nicht einmal ihren ersten Drink angerührt hatte.

Die Lincoln schüttelte stumm den Kopf.

»Dann lassen Sie uns von hier verschwinden und die Rakete zurück nach Boise nehmen.« Ich sprang von meinem Hocker. »Kommen Sie.«

Das Simulacrum blieb, wo es war.

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht so runterziehen. Ach, es hätte mir klar sein müssen – Bluesgesang hat immer diese Wirkung.«

»Nein, am Gesang des Farbigen liegt es nicht. Es liegt an mir. Geben Sie nicht ihm die Schuld, und auch nicht sich selbst. Auf dem Flug hierher sah ich auf die Wälder hinunter und dachte an meine frühen Jahre und an den Tod meiner Mutter und unsere Reise nach Illinois mit dem Ochsenkarren.«

»Herrgott, lassen Sie uns ein Taxi zum Flughafen nehmen und…« Ich brach ab.

Pris und Barrows hatten den Raum betreten; eine Kellnerin geleitete sie zu ihrem reservierten Tisch.

Als die Lincoln die beiden erblickte, lächelte sie. »Ich hätte auf Sie hören sollen, Mr. Rosen. Nun ist es zu spät, fürchte ich.«

Ich stand bewegungslos neben dem Barhocker.

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