Die dritte Furie stellte Nico neben mir ab. Dann ließen sich alle drei oben auf den Knochenthron nieder. Ich unterdrückte den Wunsch, Nico zu erwürgen. Sie würden mich ja doch daran hindern. Ich musste auf meine Rache warten.
Ich starrte die leeren Thronsessel an und wartete darauf, dass etwas geschah. Dann schimmerte die Luft. Drei Gestalten erschienen – Hades und Persephone und eine ältere Frau, die zwischen ihnen stand. Die drei schienen sich gerade zu streiten.
»Ich habe doch gesagt, der Kerl taugt nichts!«, schimpfte die ältere Frau.
»Mutter!«, sagte Persephone.
»Wir haben Besuch!«, kläffte Hades. »Bitte!«
Hades, einer von den Göttern, die ich am wenigsten mochte, strich seine schwarzen Gewänder glatt, die mit den entsetzten Gesichtern der Verdammten bedeckt waren. Er hatte sehr bleiche Haut und die stechenden Augen eines Irren.
»Percy Jackson«, sagte er zufrieden. »Endlich.«
Persephone musterte mich neugierig. Ich hatte sie im Winter einmal gesehen, aber jetzt im Sommer sah sie aus wie eine ganz andere Göttin. Sie hatte glänzende schwarze Haare und warme braune Augen. Ihr Kleid funkelte in vielen Farben. Die Blumenmuster im Stoff wuchsen und blühten – Rosen, Tulpen, Klee.
Die Frau, die zwischen ihnen stand, war eindeutig Persephones Mutter. Sie hatte die gleichen Haare und Augen, sah jedoch älter und strenger aus. Ihr Kleid war golden, in der Farbe eines Weizenfeldes. Sie hatte es mit getrockneten Gräsern umwickelt und ich musste an einen geflochtenen Korb denken. Ich konnte mir vorstellen, dass sie ganz schönen Ärger haben würde, wenn jemand neben ihr ein Streichholz anzündete.
»Hmmmph«, sagte die ältere Frau. »Halbgötter. Die haben uns gerade noch gefehlt.«
Neben mir fiel Nico auf die Knie. Ich sehnte mich nach meinem Schwert, um ihm seinen blöden Kopf abzuhacken. Leider war Springflut noch immer irgendwo draußen in den Feldern.
»Vater«, sagte Nico. »Ich habe deinen Wunsch erfüllt.«
»Hast ja auch lange genug dafür gebraucht«, grummelte Hades. »Deine Schwester hätte bessere Arbeit geleistet.«
Nico ließ den Kopf sinken. Wenn ich nicht so wütend auf ihn gewesen wäre, hätte er mir leidgetan.
Ich starrte den Gott der Toten wütend an. »Was wollt Ihr, Hades?«
»Reden natürlich.« Der Gott verzog seinen Mund zu einem grausamen Lächeln. »Hat Nico dir das nicht gesagt?«
»Der ganze Einsatz war also eine Lüge. Nico hat mich hergelockt, damit ich umgebracht werden kann.«
»Aber nicht doch«, sagte Hades. »Ich fürchte, Nico war es ganz ernst damit, dass er dir helfen wollte. Dieser Knabe ist so ehrlich, wie er blöd ist. Ich habe ihn einfach überredet, einen kleinen Umweg einzulegen und dich vorher herzubringen.«
»Vater«, sagte Nico. »Du hast mir versprochen, dass Percy nichts passiert. Du hast gesagt, wenn ich ihn herbringe, dann erzählst du mir von meiner Vergangenheit – von meiner Mutter.«
Persephone seufzte dramatisch. »Können wir bitte in meiner Anwesenheit nicht über diese Frau sprechen?«
»Tut mir leid, Liebste«, sagte Hades. »Ich musste dem Jungen doch irgendwas versprechen.«
Die ältere Dame schnaubte. »Ich habe dich gewarnt, Tochter. Dieser Hallodri von Hades taugt nichts. Du hättest den Gott der Ärzte oder den Gott der Rechtsanwälte heiraten können, aber neiiiiiiin. Du musstest ja den Granatapfel essen.«
»Mutter …«
»Und in der Unterwelt hängen bleiben!«
»Mutter, bitte …«
»Und jetzt ist schon August, aber kommst du nach Hause wie verabredet? Denkst du denn überhaupt je an deine arme einsame Mutter?«
»DEMETER!«, brüllte Hades. »Das reicht jetzt. Du bist immerhin ein Gast in meinem Haus.«
»Ach, in deinem Haus, ja? Du nennst dieses Loch ein Haus? Lässt meine Tochter in diesem dunklen, feuchten …«
»Ich hab es dir doch gesagt«, sagte Hades und knirschte mit den Zähnen. »In der Welt oben herrscht Krieg. Hier bei mir seid ihr immerhin sicher.«
»Verzeihung«, schaltete ich mich ein. »Wenn Ihr mich sowieso umbringen wollt, könnten wir es dann nicht einfach hinter uns bringen?«
Alle drei Gottheiten starrten mich an.
»Na, der hat ja Schneid«, meinte Demeter.
»Allerdings«, sagte Hades zustimmend. »Ich würde ihn gern umbringen.«
»Vater!«, sagte Nico. »Du hast versprochen …«
»Mein Gatte, wir haben doch darüber geredet«, sagte Persephone tadelnd. »Du kannst nicht jeden Helden einäschern. Außerdem hat er Mut. Das gefällt mir.«
Hades verdrehte die Augen. »Dieser Orpheus hat dir auch gefallen, und sieh dir an, was dabei rausgekommen ist. Lass mich ihn umbringen, nur ein kleines bisschen.«
»Vater, du hast es versprochen«, sagte Nico. »Du hast gesagt, du wolltest nur mit ihm reden. Und wenn ich ihn herholte, würdest du alles erklären.«
Hades schaute düster drein und strich die Falten seiner Gewänder glatt. »Und das werde ich auch. Deine Mutter – was soll ich dir sagen? Sie war eine wunderbare Frau.« Er schaute verlegen zu Persephone hinüber. »Verzeih mir, meine Liebe. Ich meine, für eine Sterbliche natürlich. Ihr Name war Maria di Angelo. Sie kam aus Venedig, aber ihr Vater lebte als Diplomat in Washington. Dort bin ich ihr begegnet. Als du und deine Schwester klein wart, war es nicht so gut, ein Kind des Hades zu sein. Der Zweite Weltkrieg tobte. Einige von meinen, äh, anderen Kindern führten die Verliererseite an. Und da fand ich es besser, euch aus der Gefahrenzone herauszuholen.«
»Und deshalb hast du uns im Lotos Hotel versteckt?«
Hades zuckte mit den Schultern. »Ihr seid nicht gealtert. Euch war nicht klar, dass die Zeit verging. Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, um euch dort herauszuholen.«
»Aber was ist aus unserer Mutter geworden? Warum kann ich mich nicht an sie erinnern?«
»Spielt keine Rolle«, fauchte Hades.
»Was? Natürlich spielt das eine Rolle. Und wenn du noch andere Kinder hattest – warum hast du nur uns weggeschafft? Und wer war der Anwalt, der uns aus dem Kasino geholt hat?«
Hades knirschte abermals mit den Zähnen. »Es wäre zu deinem Besten, mehr zuzuhören und weniger zu reden, Knabe. Und was den Anwalt angeht …«
Hades schnippte mit den Fingern. Oben auf seinem Thron fing die Furie Alekto an, sich zu verwandeln, bis sie zu einem Mann mittleren Alters mit Nadelstreifenanzug und Aktentasche geworden war. Sie – der Anwalt – sah seltsam aus, weil er noch immer auf Hades’ Schulter hockte.
»Du!«, sagte Nico.
Die Furie kicherte schrill. »Anwälte und Lehrerinnen sind meine Stärke.«
Nico zitterte. »Aber warum hast du uns aus dem Kasino befreit?«
»Das ist doch wohl klar«, sagte Hades. »Dieser idiotische Poseidon-Spross darf ja wohl nicht das Kind aus der Weissagung sein.«
Ich pflückte einen Rubin von der nächsten Pflanze und bewarf Hades damit. »Ihr solltet dem Olymp helfen!«, sagte ich. »Alle anderen Götter kämpfen gegen Typhon und Ihr hängt nur hier herum und …«
»Und sitzt alles aus«, beendete Hades meinen Satz. »Ja, das stimmt. Aber wann hat der Olymp mir denn je geholfen, Halbblut? Wann wurde je eins von meinen Kindern als Held willkommen geheißen? Pah! Warum sollte ich losstürzen, um ihnen zu helfen? Ich bleibe hier, mit meinem ungeschmälerten Heer.«
»Und wenn Kronos Euch angreift?«
»Soll er es doch versuchen. Er wird geschwächt sein. Und mein Sohn hier, Nico …« Hades schaute herablassend zu Nico hinüber. »Na, er macht nicht viel her, das gebe ich ja zu. Es wäre besser, wenn Bianca am Leben geblieben wäre. Aber lass ihn noch vier Jahre trainieren. So lange können wir sicher durchhalten. Nico wird sechzehn werden, wie es in der Weissagung heißt, und dann wird er den Entschluss treffen, der die Welt rettet. Und ich werde der König der Götter sein.«
»Ihr seid doch verrückt«, sagte ich. »Kronos wird Euch zerschmettern, sobald er den Olymp zu Klump gehauen hat.«
Hades machte eine unbestimmte Handbewegung. »Na, du wirst es ja erleben, Halbblut. Denn du wirst diesen Krieg in meinen Kerkern aussitzen.«
»Nein!«, rief Nico. »Vater, das hatten wir nicht abgemacht. Und du hast mir noch nicht alles gesagt.«
»Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst«, sagte Hades. »Und was unsere Abmachung angeht, ich habe mit Jackson gesprochen. Ich habe ihm nichts getan. Du hast deine Information bekommen. Wenn du ein besseres Geschäft gewollt hättest, hättest du mich beim Styx schwören lassen müssen. Und jetzt geh auf dein Zimmer!« Er winkte kurz und Nico war verschwunden.
»Dieser Junge muss mehr essen«, knurrte Demeter. »Er ist zu mager. Er braucht mehr Müsli.«
Persephone verdrehte die Augen. »Mutter, hör auf mit deinem Müsli. Mein Hades, bist du sicher, dass wir diesen kleinen Helden nicht einfach laufen lassen können? Er ist so ungeheuer tapfer.«
»Nein, meine Liebe. Ich habe ihn am Leben gelassen. Das reicht.«
Ich war sicher, dass sie sich weiter für mich einsetzen würde. Die tapfere schöne Persephone würde mich retten.
Doch sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Von mir aus. Was gibt es zum Frühstück? Ich bin kurz vor dem Verhungern.«
»Müsli«, sagte Demeter.
»Mutter!« Die beiden Frauen verschwanden in einem Wirbel aus Blumen und Weizen.
»Mach dir nichts draus, Percy Jackson«, sagte Hades. »Meine Geister halten mich über Kronos’ Pläne auf dem Laufenden. Ich kann dir versichern, dass du keine Chance gehabt hättest, ihn rechtzeitig aufzuhalten. Heute Nacht wird es für deinen kostbaren Olymp zu spät sein. Dann wird die Falle zuschnappen.«
»Welche Falle?«, fragte ich. »Wenn Ihr Bescheid wisst, müsst Ihr etwas unternehmen! Lasst mich wenigstens den anderen Göttern Bescheid sagen!«
Hades lächelte. »Du hast wirklich Mut, das muss ich dir lassen. Amüsier dich in meinen Kerkern. Wir werden in, sagen wir, fünfzig oder sechzig Jahren nach dir sehen.«
Ich nehme das schlimmste Bad aller Zeiten
Mein Schwert war wieder in meiner Tasche.
Tolles Timing. Jetzt konnte ich nach Herzenslust die Wände angreifen. Meine Zelle hatte keine Gitter, keine Fenster, nicht einmal eine Tür. Die Skelettwachen schoben mich einfach durch eine Mauer, und die wurde hinter mir wieder fest. Ich war nicht sicher, ob überhaupt irgendwo Luft in die Zelle kam. Vermutlich nicht. Hades’ Kerker waren für Tote bestimmt, und Tote atmen nicht. Also konnte ich das mit den fünfzig oder sechzig Jahren auch vergessen; ich würde in fünfzig oder sechzig Minuten tot sein. Und wenn Hades nicht gelogen hatte, würde in New York gegen Abend eine riesige Falle zuschnappen, und es gab rein gar nichts, was ich dagegen tun könnte.
Ich setzte mich auf den kalten Steinboden und fühlte mich einfach elend.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich eingenickt bin, aber es war schließlich schon gegen sieben Uhr morgens, Sterblichenzeit, und ich hatte ganz schön was durchgemacht.
Ich träumte, dass ich auf der Veranda von Rachels Strandhaus in St. Thomas saß. Die Sonne ging über der Karibik auf. Das Meer war von Dutzenden von bewaldeten Inseln betupft und weiße Segel durchschnitten das Wasser. Als ich die salzige Luft roch, fragte ich mich, ob ich den Ozean wohl jemals wiedersehen würde.
Rachels Eltern saßen am Tisch, während ihr persönlicher Koch ihnen Omelettes zubereitete. Mr Dare trug einen weißen Leinenanzug und las das Wall Street Journal. Die Dame ihm gegenüber war vermutlich Mrs Dare, aber von ihr konnte ich nur schockrosa Fingernägel und den Umschlag ihres exklusiven Reisemagazins sehen. Warum sie über Urlaub las, während sie Urlaub machte, wusste ich nicht.
Rachel stand am Verandageländer und seufzte. Sie trug Bermudashorts und ihr Van-Gogh-T-Shirt. (Klar, Rachel hatte versucht, mir so allerlei über Kunst beizubringen, aber ihr braucht gar nicht erst beeindruckt zu tun. Ich konnte mich nur an den Namen dieses Typen erinnern, weil er sich das Ohr abgeschnitten hatte.)
Ich fragte mich, ob sie wohl an mich dachte und ob sie es sehr schade fand, dass ich nicht mitgekommen war. Ich weiß, dass zumindest ich das sehr schade fand.
Dann änderte sich die Szene. Ich war in St. Louis und stand unten in der Stadt unter dem Brückenbogen. Ich war schon einmal dort gewesen. Genauer gesagt war ich dort mal fast zu Tode gestürzt.
Über der Stadt tobte ein Gewitter – ich sah eine Wand aus tiefem Schwarz mit Blitzen, die den Himmel zerfetzten. Einige Blocks weiter sammelten sich jede Menge Feuerwehrwagen mit blinkendem Blaulicht. Eine Staubsäule stieg von einem Schutthaufen auf, in dem ich einen eingestürzten Wolkenkratzer erkannte.
Eine Reporterin, die in meiner Nähe stand, schrie in ihr Mikrofon: »Von Behördenseite wird das als Statikproblem bezeichnet, Dan, aber niemand scheint zu wissen, ob der Sturm etwas damit zu tun hat.«
Wind riss an ihren Haaren. Die Temperatur sank rasch, um mindestens zehn Grad, nur seit ich hier stand.
»Zum Glück war das Gebäude leer und sollte abgerissen werden«, sagte sie. »Die Polizei hat alle Häuser in der Nähe evakuiert, aus Angst, der Einsturz könnte zu weiteren …«
Sie kam ins Stocken, als ein gewaltiges Knurren den Himmel zu zerreißen schien. Ein greller Blitz traf den Mittelpunkt der Finsternis und die gesamte Stadt bebte. Die Luft glühte und jedes Haar an meinem Körper sträubte sich. Der Blitzschlag war so mächtig gewesen, dass es nur eine Erklärung gab: Es war Zeus’ Herrscherblitz. Er hätte sein Ziel eigentlich zu Staub zerfallen lassen müssen, aber die dunkle Wolke zog sich nur zuckend zurück. Eine von Rauch umwaberte Faust tauchte aus den Wolken auf. Sie zerschlug noch einen Turm und das Ding fiel in sich zusammen wie etwas, das Kinder mit einem Baukasten errichtet haben.
Die Reporterin schrie auf. Menschen rannten durch die Straßen. Blaulicht flackerte. Ich sah einen silbernen Streifen am Himmel – ein von Rentieren gezogener Wagen, aber der wurde nicht vom Weihnachtsmann gelenkt, sondern von Artemis, die auf dem Sturm ritt und Mondlichtpfeile in die Dunkelheit abgab. Ein feuriger goldener Komet kreuzte ihren Weg … vielleicht ihr Bruder Apollo.
Eins stand fest: Typhon hatte den Mississippi erreicht. Er hatte die halben USA durchkreuzt und eine Schneise der Zerstörung geschlagen, und die Götter konnten seinen Vormarsch höchstens verlangsamen.
Der Berg aus Finsternis ragte über mir auf. Gerade drohte mich ein Fuß von der Größe des Yankee-Stadions zu zertreten, als eine Stimme zischte: »Percy!«
Ich schlug blindlings zu. Noch ehe ich richtig zu mir gekommen war, presste ich Nico schon mit der Schwertspitze an der Kehle auf den Zellenboden.
»Will … dich … retten«, würgte er heraus.
Vor Wut war ich ganz schnell wach. »Ach ja? Und warum sollte ich dir vertrauen?«
»Keine … Wahl?«, presste er hervor.
Ich wünschte, er hätte nicht so etwas absolut Logisches gesagt. Ich ließ ihn los.
Nico rollte sich zu einem Ball zusammen und würgte lauthals, während sein Hals sich erholte. Endlich stand er auf und musterte misstrauisch mein Schwert. Seine eigene Klinge steckte in der Scheide. Ich nahm an, wenn er mich hätte umbringen wollen, hätte er das erledigen können, als ich noch schlief. Aber ich hatte trotzdem kein Vertrauen zu ihm.
»Wir müssen raus hier«, sagte er.
»Warum?«, fragte ich. »Möchte dein Dad noch mal mit mir reden?«
Er wand sich. »Percy, ich schwöre beim Styx, ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte.«
»Du kennst doch deinen Dad!«
»Er hat mich ausgetrickst. Er hatte versprochen …« Nico hob die Hände. »Hör mal … zuerst müssen wir weg hier. Ich hab den Wachen ein Schlafmittel gegeben, aber die Wirkung wird nicht von Dauer sein.«
Wieder hätte ich ihn gern erwürgt. Leider hatte er Recht. Wir hatten keine Zeit, um uns zu streiten, und allein konnte ich nicht entkommen. Er zeigte auf die Wand. Ein Teil verschwand und legte einen Gang frei.
»Na los.« Nico ging vor mir her.
Ich wünschte mir Annabeths Tarnkappe herbei, aber ich hätte sie gar nicht gebraucht. Immer wenn wir zu einem Skelettposten kamen, zeigte Nico einfach auf ihn und die glühenden Augen wurden trübe. Leider schien Nico immer müder zu werden, je häufiger er das machte. Wir gingen durch ein Labyrinth aus Gängen, in denen es von Wachen nur so wimmelte. Als wir eine Küche voller Skelettköche und -küchenhilfen erreichten, musste ich Nico fast schon tragen. Er schaffte es, alle Toten einschlafen zu lassen, aber er wurde dabei selbst fast ohnmächtig. Ich zog ihn durch den Dienstboteneingang hinaus auf den Asphodeliengrund.
Ich war fast schon erleichtert, aber dann hörte ich oben in der Burg Bronzegongs hallen.
»Alarm«, murmelte Nico schläfrig.
»Und was machen wir jetzt?«
Er gähnte und runzelte dann die Stirn, als ob er versuchte, sich zu erinnern. »Wie wäre es mit … rennen?«
Mit einem verpennten Hadeskind wegzurennen kam mir vor wie ein Dreibeinlauf mit einer Puppe, die so groß war wie ich. Ich zerrte ihn hinter mir her und hielt das Schwert gezückt vor mich. Die Geister der Toten wichen aus, als wäre die himmlische Bronze ein loderndes Feuer.
Die Gongs dröhnten über die Felder. Vor uns ragten die Mauern von Erebos auf, aber je länger wir unterwegs waren, desto weiter schienen sie entfernt zu sein. Ich brach fast vor Erschöpfung zusammen, als ich ein vertrautes »WUFF« hörte.
Mrs O’Leary kam aus dem Nirgendwo angesprungen, drehte Kreise um uns und wollte unbedingt spielen.
»Braves Mädchen«, sagte ich. »Kannst du uns zum Styx tragen?«
Das Wort »Styx« versetzte sie in Aufregung. Vermutlich dachte sie, das sei etwas Essbares. Sie sprang einige Male in die Höhe und jagte ihren Schwanz, nur um ihm zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, aber dann beruhigte sie sich so weit, dass ich Nico auf ihren Rücken schieben konnte. Ich kletterte hinterher und sie rannte auf die Tore zu. Sie sprang ganz einfach über die DIREKTER-TOD-Schlange und die Wachen liefen auseinander. Neuer Alarm dröhnte los. Zerberus bellte, aber er hörte sich eher aufgeregt als wütend an, als wollte er sagen: »Darf ich mitspielen?«
Glücklicherweise lief er aber nicht hinter uns her und Mrs. O’Leary rannte immer weiter. Sie blieb erst stehen, als sie weit den Fluss hochgelaufen war und die Feuer von Erebos im Zwielicht verschwunden waren.
Nico ließ sich von Mrs O’Learys Rücken gleiten und fiel wie ein Sack auf den schwarzen Sand.
Ich zog ein Stück Ambrosia hervor – das gehörte zu der Notration, die ich immer bei mir habe. Es war ein wenig zerbröselt, aber Nico zerkaute es.
»Ah«, murmelte er. »Besser.«
»Deine Kräfte zehren dich aus«, sagte ich.
Er nickte verschlafen. »Auf große Kraft … folgt ein großes Bedürfnis nach Schlaf. Weck mich später.«
»Nichts da, du Zombietrottel.« Ich packte ihn, ehe er wieder einschlafen konnte. »Wir sind am Fluss. Du musst mir sagen, was ich tun soll.«
Ich fütterte ihn mit meinem restlichen Ambrosia, was nicht ganz ungefährlich war. Dieses Zeug kann Halbgötter heilen, aber es kann uns auch zu Asche verbrennen, wenn wir zu viel davon essen. Zum Glück schien es zu helfen. Nico schüttelte einige Male den Kopf und kam mühsam auf die Beine.
»Mein Vater wird bald hier sein«, sagte er. »Wir sollten uns beeilen.«
Im reißenden Styx wirbelten seltsame Dinge herum – zerbrochenes Spielzeug, zerrissene Uni-Zeugnisse, verwelkte Blumensträuße –, die Träume, die Menschen beim Übergang vom Leben in den Tod weggeworfen hatten. Als ich das schwarze Wasser ansah, fielen mir an die drei Millionen Orte ein, wo ich lieber baden gegangen wäre.
»Also … springe ich einfach rein?«
»Du musst dich erst vorbereiten«, sagte Nico. »Sonst zerstört der Fluss dich. Er brennt dir Körper und Seele weg.«
»Klingt ja nett«, murmelte ich.
»Das ist kein Witz«, warnte Nico. »Es gibt nur eine Möglichkeit, dich in deinem sterblichen Leben zu verankern. Du musst …«
Er schaute an mir vorbei und seine Augen weiteten sich. Ich fuhr herum und stand einem griechischen Krieger von Angesicht zu Angesicht gegenüber
Eine Sekunde lang hielt ich ihn für Ares, denn er sah genauso aus wie der Kriegsgott – groß und grobschlächtig, mit einem grausamen Narbengesicht und kurz geschorenen schwarzen Haaren. Er trug eine weiße Tunika und eine Bronzerüstung, unter dem Arm hielt er einen Kriegshelm mit Rosshaarkamm. Aber seine Augen waren menschlich – hellgrün wie seichtes Meer –, und ein blutiger Pfeil ragte gleich oberhalb des Knöchels aus seinem linken Bein.
»Achilles«, sagte ich.
Der Geist nicke. »Ich habe den anderen davor gewarnt, meinem Beispiel zu folgen. Jetzt warne ich dich.«
»Luke? Du hast mit Luke gesprochen?«
»Tu das hier nicht«, sagte er. »Es wird dich mächtig machen. Aber es wird dich auch schwach machen. Deine Fähigkeiten in der Schlacht werden die aller anderen Sterblichen übertreffen, aber auch deine Schwächen, deine Unzulänglichkeiten werden größer.«
»Du meinst, ich werde eine empfindliche Ferse haben?«, fragte ich. »Könnte ich nicht, na ja, einfach etwas anderes tragen als Sandalen? Ist nicht böse gemeint.«
Er starrte seinen blutigen Fuß an. »Die Ferse ist nur meine physische Schwäche, Halbgott. Meine Mutter, Thetis, hat mich daran festgehalten, als sie mich in den Styx getaucht hat. Aber was mich eigentlich umgebracht hat, war meine Arroganz. Hüte dich! Kehr um!«
Er meinte es ernst. Ich konnte Bedauern und Bitterkeit in seiner Stimme hören. Er versuchte wirklich, mich vor einem entsetzlichen Schicksal zu bewahren.
Aber Luke war auch hier gewesen und er hatte nicht kehrtgemacht.
Nur deshalb hatte Luke den Geist des Kronos in sich aufnehmen können, ohne dass sein Körper zerfallen war. So hatte er sich vorbereitet und deshalb hatte er unverletzlich gewirkt. Er hatte im Styx gebadet und die Macht des größten sterblichen Helden, Achilles, übernommen. Er war unbesiegbar.
»Ich muss«, sagte ich. »Sonst habe ich keine Chance.«
Achilles senkte den Kopf. »Die Götter sind meine Zeugen, dass ich es versucht habe. Heros, wenn du das tun musst, dann konzentriere dich auf deinen sterblichen Punkt. Stell dir eine Stelle an deinem Körper vor, die verletzlich bleiben wird. Das ist die Stelle, wo deine Seele deinen Körper in der Welt verankern wird. Sie wird deine größte Schwäche sein, aber auch deine einzige Hoffnung. Kein Mensch kann ganz und gar unverletzlich sein. Wenn du das aus dem Blick verlierst, was dich sterblich bleiben lässt, dann wird der Styx dich zu Asche verbrennen. Du wirst nicht mehr existieren.«
»Ich nehme nicht an, dass du mir Lukes sterblichen Punkt verraten könntest?«
Er runzelte verärgert die Stirn. »Mach dich bereit, törichter Knabe. Ob du das hier überlebst oder nicht, du hast dein Schicksal besiegelt!.«
Mit dieser freudigen Nachricht verschwand er.
»Percy«, sagte Nico. »Vielleicht hat er Recht.«
»Das hier war deine Idee.«
»Ich weiß, aber jetzt, wo wir hier sind …«
»Warte einfach am Ufer. Wenn mir etwas passiert … Na ja, vielleicht erfüllt sich dann Hades’ Wunsch und du bist doch das Kind aus der Weissagung.«
Diese Vorstellung schien ihm gar nicht zu gefallen, aber das war mir egal.
Ehe ich mir die Sache anders überlegen konnte, konzentrierte ich mich auf meinen Rücken – auf eine winzige Stelle genau meinem Nabel gegenüber. Sie war gut geschützt, wenn ich Rüstung trug. Es würde schwer sein, sie zufällig zu treffen, und nur wenige Feinde würden bewusst darauf zielen. Keine Stelle war perfekt, aber diese kam mir richtig vor und viel würdevoller als zum Beispiel meine Achselhöhle oder so etwas.
Ich stellte mir ein Seil vor, ein Bungeeseil, das die Stelle an meinem Rücken mit der Welt verband. Und dann stieg ich in den Fluss.
Stellt euch vor, ihr springt in einen See voller kochender Säure und multipliziert diesen Schmerz mit fünfzig. Dann habt ihr noch immer nur eine ganz vage Vorstellung davon, wie sich so ein Bad im Styx anfühlt. Ich wollte langsam und mutig hineinschreiten, wie ein wahrer Held. Aber sowie das Wasser meine Beine berührte, wurden meine Muskeln zu Wackelpudding und ich fiel kopfüber in die Strömung.
Ich tauchte ganz und gar unter. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich unter Wasser nicht schwimmen. Endlich begriff ich die Panik, die beim Ertrinken ausgelöst wird. Jeder Nerv in meinem Körper brannte. Ich sah Gesichter – Rachel, Grover, Tyson, meine Mutter –, aber sie verschwanden wieder, kaum dass sie aufgetaucht waren.
»Percy«, sagte meine Mom. »Ich gebe dir meinen Segen.«
»Pass auf dich auf, Bruder!«, bat Tyson.
»Enchiladas«, sagte Grover. Ich war nicht sicher, was das heißen sollte, aber eine große Hilfe schien es nicht zu sein.
Ich hatte den Kampf schon fast verloren. Es tat einfach zu weh. Meine Hände und meine Füße schmolzen im Wasser, meine Seele wurde aus meinem Körper gerissen. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Die Schmerzen, die Kronos’ Sense verursachte, waren nichts im Vergleich zu dem hier.
Das Seil, sagte eine vertraute Stimme. Denk an deine Rettungsleine, du Blödmann!
Plötzlich wurde an meinem Kreuz gerissen. Die Strömung zog an mir, trug mich aber nicht mehr mit sich. Ich stellte mir vor, wie das Seil in meinem Rücken mich am Ufer verankerte.
»Durchhalten, Algenhirn.« Es war Annabeths Stimme, und jetzt war sie viel klarer. »So leicht entkommst du mir nicht.«
Das Seil wurde stärker.
Jetzt konnte ich Annabeth sehen – sie stand barfuß über mir auf dem Steg des Kanusees. Ich war aus meinem Kanu gefallen. Das war es. Sie streckte die Hand aus, um mich hochzuziehen, und versuchte, nicht zu lachen. Sie trug ihr oranges Camp-T-Shirt und Jeans und hatte die Haare unter ihre Yankees-Mütze gesteckt – das war allerdings seltsam, denn dann musste sie doch unsichtbar sein.
»Was bist du manchmal für ein Idiot«. Sie lächelte. »Na los. Nimm meine Hand.«
Erinnerungen strömten auf mich ein – schärfer und bunter. Ich hörte auf, mich aufzulösen. Ich hieß Percy Jackson. Ich griff nach Annabeths Hand.
Plötzlich war ich nicht mehr im Wasser. Ich fiel in den Sand und Nico fuhr verdutzt zurück.
»Geht es dir gut?«, stammelte er. »Deine Haut. Bei den Göttern! Du bist verletzt!«
Meine Arme waren leuchtend rot und ich hatte das Gefühl, dass jeder Zentimeter meines Körpers auf kleiner Flamme gekocht worden war.
Ich hielt Ausschau nach Annabeth, obwohl ich wusste, dass sie nicht da war. Es war mir so wirklich vorgekommen.
»Mir geht’s gut … glaube ich.« Meine Haut nahm wieder ihre normale Farbe an. Der Schmerz ließ nach. Mrs O’Leary kam angelaufen und beschnüffelte mich hingebungsvoll. Offenbar roch ich überaus interessant.
»Fühlst du dich stärker?«, fragte Nico.
Noch ehe ich entscheiden konnte, wie ich mich fühlte, dröhnte eine Stimme: »DA!«
Eine Armee aus Toten marschierte auf uns zu. Hundert römische Skelettlegionäre mit Schilden und Speeren führten sie an. Hinter ihnen folgten ebenso viele britische Rotröcke mit aufgepflanzten Bajonetten. In der Mitte des Heeres fuhr Hades in einem schwarz-goldenen Wagen, gezogen von Albtraumpferden, deren Augen und Mähnen glühend schwelten.
»Diesmal entkommst du mir nicht, Percy Jackson!«, brüllte Hades. »Vernichtet ihn!«
»Vater, nein!«, schrie Nico, aber es war zu spät. Die erste Reihe römischer Zombies senkte die Speere und rückte vor.
Mrs O’Leary knurrte und machte sich sprungbereit, und vielleicht gab das für mich den Ausschlag. Ich wollte nicht, dass sie meinen Hund verletzten. Und ich hatte es satt, wie Hades hier herumprotzte. Wenn ich schon sterben musste, dann doch lieber im Kampf.
Ich stieß einen Schrei aus und der Styx explodierte. Eine schwarze Flutwelle ergoss sich über die Legionäre. Speere und Schilde flogen überall herum. Römische Zombies lösten sich auf und Rauch quoll aus ihren Bronzehelmen.
Die Rotröcke senkten die Bajonette, aber ich wartete nicht auf sie. Ich griff an.
Es war das Blödeste, was ich je getan habe. Hundert Musketen wurden auf mich abgeschossen. Alle verfehlten mich. Ich brach in ihre Reihe ein und hackte mit Springflut um mich. Bajonette stachen zu, Schwerter hieben drauflos. Gewehre wurden abermals geladen und abgefeuert. Nichts davon konnte mir etwas anhaben.
Ich wirbelte durch die Reihen der Feinde und ließ einen Rotrock nach dem anderen zu Staub zerfallen. Meine Gedanken schalteten auf Autopilot um: stechen, ducken, hacken, abwehren, wegwälzen. Springflut war kein Schwert mehr. Es war ein Lichtbogen aus reiner Zerstörung.
Ich durchbrach die feindlichen Linien und sprang auf den schwarzen Wagen. Hades hob seinen Stab. Ein Blitz aus düsterer Energie schoss mir entgegen, aber ich wehrte ihn mit der Klinge ab und warf mich auf Hades. Der Gott und ich kippten beide aus dem Wagen.
Als Nächstes merkte ich, dass mein Knie sich in Hades’ Brust bohrte. Ich hatte den Kragen seines Königsgewandes mit der Faust gepackt und meine Schwertspitze zielte auf sein Gesicht.
Stille. Die Armee unternahm keinen Versuch, ihren Herrn zu retten. Ich schaute mich um und begriff den Grund: Von der Armee war nichts mehr übrig, außer Waffen im Sand und Haufen aus rauchenden leeren Uniformen. Ich hatte sie alle vernichtet.
Hades schluckte. »Also, Jackson, hör mal …«
Er war unsterblich. Ich würde ihn niemals töten können, aber Götter können verwundet werden. Das wusste ich aus eigener Erfahrung und ging davon aus, dass ein Schwert im Gesicht kein angenehmes Gefühl sein würde.
»Nur weil ich so ein netter Kerl bin«, fauchte ich, »lass ich dich laufen. Aber erzähl mir erst von dieser Falle.«
Hades löste sich in nichts auf und ich hielt leere schwarze Gewänder in der Hand.
Ich fluchte und kam keuchend auf die Füße. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, merkte ich erst, wie erschöpft ich war. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzte. Ich schaute an mir herunter. Meine Kleider waren in Fetzen geschnitten und voller Einschusslöcher, aber ich war unversehrt. Es war nicht eine Schramme zu sehen.
Nico klappte den Kiefer herunter. »Du hast einfach … nur mit einem Schwert … ganz einfach …«
»Ich glaube, die Sache mit dem Fluss hat gewirkt«, sagte ich.
»Ach nein«, sagte er sarkastisch. »Glaubst du wirklich?«
Mrs O’Leary bellte glücklich und wedelte mit dem Schwanz. Sie sprang umher, schnüffelte an leeren Uniformen und machte Jagd auf Knochen. Ich hob Hades’ Gewänder hoch. Im Gewebe konnte ich noch immer die gequälten Gesichter ahnen.
Ich ging zum Ufer. »Seid frei.«
Ich warf das Gewand ins Wasser und sah zu, wie es davontrieb und sich in der Strömung auflöste.
»Geh zurück zu deinem Vater«, sagte ich zu Nico. »Sag ihm, dass er mir einen Gefallen schuldet, weil ich ihn verschont habe. Finde heraus, was mit dem Olymp passieren soll, und überrede ihn zu helfen.«
Nico starrte mich an. »Ich … ich kann nicht. Jetzt wird er mich hassen. Ich meine … noch mehr.«
»Du musst«, sagte ich. »Du stehst auch in meiner Schuld.«
Seine Augen wurden rot. »Percy, ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut. Bitte … lass mich mit dir kommen. Ich will kämpfen.«
»Hier unten bist du von größerem Nutzen.«
»Du meinst, du hast kein Vertrauen mehr zu mir«, sagte er verzweifelt.
Ich gab keine Antwort. Ich wusste nicht, was ich meinte. Ich war zu überwältigt davon, was ich eben in der Schlacht geleistet hatte, um klar denken zu können.
»Geh du zurück zu deinem Vater«, sagte ich und versuchte, nicht zu hart zu klingen. »Bearbeite ihn. Du bist der Einzige, dem er vielleicht zuhört.«
»Was für eine deprimierende Vorstellung«, seufzte Nico. »Na gut. Ich werde mein Bestes tun. Außerdem hat er mir noch nicht alles über meine Mutter erzählt. Vielleicht kann ich noch mehr herausfinden.«
»Viel Glück. Und jetzt müssen Mrs O’Leary und ich gehen.«
»Wohin?«, fragte Nico.
Ich schaute den Höhleneingang an und dachte an den langen Aufstieg in die Welt der Lebenden. »Der Krieg beginnt. Es wird Zeit, Luke zu finden.«
Zwei Schlangen retten mir das Leben
Ich liebe New York. Man kann im Central Park aus der Unterwelt hüpfen, sich ein Taxi schnappen und die Fifth Avenue runterfahren, während ein riesiger Höllenhund hinterherspringt, und niemand schaut einen auch nur komisch an.
Natürlich war der Nebel eine Hilfe. Die Leute konnten Mrs O’Leary vermutlich gar nicht sehen, und wenn doch, dann hielten sie sie einfach für einen großen, lauten und sehr freundlichen LKW.
Ich ging das Risiko ein, mit dem Handy meiner Mutter ein zweites Mal Annabeth anzurufen. Ich hatte es im Tunnel schon versucht, hatte aber nur den Anrufbeantworter erreicht. Dafür, dass ich im mythologischen Zentrum der Welt war und so, hatte ich eine überraschend gute Verbindung gehabt, aber ich wollte lieber nicht wissen, was auf der Rechnung meiner Mom stehen würde.
Diesmal meldete sich Annabeth.
»He«, sagte ich. »Hast du meine Nachricht gehört?«
»Percy, wo warst du denn bloß? Und deine Nachricht war ziemlich nichtssagend! Wir sind fast krank vor Sorge!«
»Ich erzähl das alles später«, sagte ich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das schaffen sollte. »Wo bist du jetzt?«
»Wir sind unterwegs, wie du gesagt hast, und haben fast den Queens-Midtown-Tunnel erreicht. Aber, Percy, was hast du vor? Das Camp ist jetzt fast schutzlos, und nie im Leben können die Götter …«
»Verlass dich auf mich«, sagte ich. »Bis dann.«
Ich legte auf. Meine Hände zitterten. Ich wusste nicht so recht, ob das eine späte Reaktion auf mein Bad im Styx war oder eine Vorahnung dessen, was ich jetzt tun würde. Wenn das hier nicht klappte, würde meine Unverwundbarkeit mich nicht davor bewahren, in Fetzen gerissen zu werden.
Es war schon später Nachmittag, als das Taxi mich vor dem Empire State Building absetzte. Mrs O’Leary sprang auf der Fifth Avenue auf und ab, leckte an Taxis und beschnüffelte Würstchenbuden. Niemand schien sie zu bemerken, obwohl manche Leute sich umdrehten und verwirrte Gesichter machten, wenn sie ihnen zu nahe kam.
Ich pfiff sie heran, als drei weiße Lieferwagen an den Straßenrand fuhren. Darauf stand »Erdbeerhof Delphi«, was der Deckname für Camp Half-Blood war. Ich hatte noch nie alle drei Lieferwagen gleichzeitig an einem Ort gesehen, obwohl ich wusste, dass sie unsere Produkte in die Stadt brachten.
Der erste Wagen wurde von Argus gefahren, unserem vieläugigen Sicherheitschef. Am Steuer der anderen beiden saßen Harpyien, das sind im Grunde ewig übellaunige dämonische Mischungen zwischen Mensch und Huhn. Wir benutzten die Harpyien meistens für Putzarbeiten im Lager, aber auch im dichten Stadtverkehr machten sie sich ganz gut.
Die Türen glitten auf. Eine Gruppe von Campern stieg aus und einige sahen ein wenig grün aus nach der langen Fahrt. Ich war froh, dass so viele gekommen waren: Pollux, Silena Beauregard, die Stoll-Brüder, Michael Yew, Jake Mason, Katie Gardner und Annabeth mit den meisten ihrer Geschwister. Chiron stieg als Letzter aus. Seine Pferdehälfte war in seinen magischen Rollstuhl gefaltet, deshalb benutzte er den Lift für Behinderte. Die Ares-Hütte war nicht dabei, aber ich versuchte, nicht zu sauer zu sein. Clarisse war ein blöder Sturkopf. Ende der Durchsage.
Ich zählte sie durch: insgesamt vierzig Leute aus dem Lager.
Nicht sehr viele, um einen Krieg auszufechten, aber es war doch die größte Gruppe von Halbbluten, die ich jemals irgendwo außerhalb des Camps gesehen hatte. Alle sahen nervös aus, und das konnte ich verstehen. Wir strahlten vermutlich so viel Halbgott-Aura aus, dass jedes Monster im Nordosten der USA jetzt wusste, wo wir waren.
Als ich ihnen ins Gesicht schaute – all diesen Campern, die ich seit so vielen Jahren kannte –, flüsterte eine höhnische Stimme in mir: Einer von ihnen ist ein Spion!
Aber darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Sie waren meine Freunde und ich brauchte sie.
Dann fiel mir Kronos’ fieses Lächeln ein. Auf Freunde ist kein Verlass. Die lassen einen immer im Stich.
Annabeth kam zu mir. Sie trug einen schwarzen Tarnanzug, hatte sich ihr Messer aus himmlischer Bronze an den Arm geschnallt und ihre Laptoptasche über die Schulter geworfen – bereit, zuzustechen oder im Internet zu surfen, ganz nach Bedarf.
Sie runzelte die Stirn. »Was ist los?«
»Wieso los?«, fragte ich.
»Du schaust mich so komisch an.«
Mir wurde klar, dass ich an meine seltsame Vision dachte, in der Annabeth mich aus dem Styx gezogen hatte. »Äh, nichts.« Ich wandte mich der restlichen Gruppe zu. »Danke, dass ihr alle gekommen seid. Chiron, nach Ihnen.«
Mein alter Mentor schüttelte den Kopf. »Ich bin nur gekommen, um dir alles Gute zu wünschen, mein Junge. Ich suche den Olymp niemals auf, wenn ich nicht hinbestellt worden bin.«
»Aber Sie sind unser Anführer.«
Er lächelte. »Ich bin euer Trainer, euer Lehrer. Ich werde jetzt alle Verbündeten zusammenrufen, die ich nur finden kann. Es ist vielleicht noch nicht zu spät, um meine Zentaurenbrüder um Hilfe zu bitten. Aber du hast die Campbewohner hergerufen, Percy. Du bist der Anführer.«
Ich wollte widersprechen, aber alle sahen mich erwartungsvoll an, sogar Annabeth.
Ich holte tief Luft. »Na gut, wie ich Annabeth am Telefon schon gesagt habe, wird heute Nacht irgendetwas Übles passieren. Irgendeine Falle soll zuschnappen. Wir brauchen eine Audienz bei Zeus und müssen ihn überreden, die Stadt zu verteidigen. Denkt daran, ein Nein können wir nicht akzeptieren.«
Ich bat Argus, auf Mrs O’Leary aufzupassen, und beide schienen das nicht gerade toll zu finden.
Chiron schüttelte mir die Hand. »Du wirst das schon machen, Percy. Denk einfach an deine Stärken und sei dir deiner Schwächen bewusst.«
Das klang verdächtig nach dem, was Achilles mir schon gesagt hatte. Dann fiel mir ein, dass Chiron der Lehrer des Achilles gewesen war. Das war nicht gerade eine Beruhigung, aber ich nickte und versuchte, ihn zuversichtlich anzulächeln.
»Also los«, sagte ich zu den anderen.
An der Rezeption im Foyer saß ein Sicherheitswächter und las ein dickes schwarzes Buch mit einer Blume auf dem Einband. Er schaute auf, als wir mit klirrenden Waffen und Rüstungen hereinströmten. »Schulklasse? Wir machen gleich dicht.«
»Nein«, sagte ich. »Stockwerk sechshundert.«
Er musterte uns forschend. Seine Augen waren blassblau und sein Kopf restlos kahl. Ich wusste nicht, ob er ein Mensch war oder nicht, aber er schien unsere Waffen zu sehen, also wurde er nicht vom Nebel getäuscht.
»Es gibt kein Stockwerk sechshundert, junger Mann.« Er sagte es wie eine vorgeschriebene Phrase, an die er nicht glaubte. »Also trollt euch.«
Ich beugte mich über den Tresen. »Vierzig Halbgötter locken ganz schön viele Monster an. Wollen Sie wirklich, dass wir hier in Ihrem Foyer herumhängen?«
Er überlegte. Dann drückte er auf einen Knopf und die Tür öffnete sich. »Aber beeilt euch.«
»Sie wollen uns doch bestimmt nicht an den Metalldetektoren vorbeischicken«, fügte ich hinzu.
»Äh, nein«, sagte er zustimmend. »Fahrstuhl rechts. Du kennst den Weg ja anscheinend.«
Ich warf ihm eine goldene Drachme zu und wir marschierten durch die Sperre.
Wir beschlossen, in zwei Gruppen mit dem Fahrstuhl hochzufahren. Ich war in der ersten. Seit meinem letzten Besuch hatten sie die Fahrstuhlmusik gewechselt – jetzt lief dieses alte Discostück »Stayin’ alive«. Ein schreckliches Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf: Apollo in Schlaghosen und einem hautengen Seidenhemd.
Ich war froh, als sich die Fahrstuhltüren endlich öffneten. Vor uns führte ein Weg aus schwebenden Steinplatten durch die Wolken zum Olymp, der zweitausend Meter über Manhattan hing.
Ich war schon mehrere Male auf dem Olymp gewesen, aber der Anblick verschlug mir noch immer den Atem. Die Häuser funkelten golden und weiß am Berghang. Gärten blühten auf hundert Terrassen. Duftender Rauch stieg aus den Kohlenpfannen auf, die die kurvenreichen Straßen säumten. Und ganz oben auf dem verschneiten Gipfel ragte der Hauptpalast der Götter auf. Er sah so majestätisch aus wie immer, aber irgendwas schien nicht zu stimmen. Dann merkte ich, dass der Berg stumm war – keine Musik, keine Stimmen, kein Lachen.
Annabeth musterte mich. »Du siehst so … anders aus«, sagte sie dann. »Wo warst du denn eigentlich?«
»Sag ich dir später«, sagte ich. »Weiter.«
Wir liefen über die Himmelsbrücke zu den Straßen des Olymps. Die Läden waren geschlossen. Die Parks waren leer. Zwei Musen saßen auf einer Bank und zupften auf flammenden Leiern, aber sie schienen nicht mit dem Herzen dabei zu sein. Ein einsamer Zyklop fegte mit einer ausgerissenen Eiche die Straße. Ein zweitrangiger Gott entdeckte uns von einem Balkon aus, wich zurück und schlug seine Fensterläden zu.
Wir gingen unter einem riesigen Marmorbogen mit Statuen von Zeus und Hera auf beiden Seiten hindurch. Annabeth schnitt vor der Herrscherin der Götter eine Grimasse.
»Ich hasse sie«, murmelte sie.
»Hat sie dich verflucht oder so?«, fragte ich. Im vergangenen Jahr war Annabeth mit Hera aneinandergeraten, hatte sie aber seither kaum erwähnt.
»Bisher nur Kleinkram«, sagte sie. »Ihr heiliges Tier ist die Kuh, weißt du noch?«
»Richtig.«
»Also schickt sie mir Kühe auf den Hals.«
Ich versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. »Kühe? Nach San Francisco?«
»Genau. Meistens sehe ich sie nicht, aber die Kühe hinterlassen überall kleine Geschenke für mich – in unserem Garten, auf dem Bürgersteig, in der Schule. Ich muss bei jedem Schritt aufpassen!«
»Seht mal«, rief Pollux und zeigte auf den Horizont. »Was ist das denn?«
Wir erstarrten. Blaue Lichter jagten wie winzige Kometen über den Abendhimmel auf den Olymp zu. Sie schienen aus der ganzen Stadt zu kommen und steuerten geradewegs den Berg an. Im Näherkommen erloschen sie zischend. Wir sahen ihnen einige Minuten lang zu und sie schienen keinen Schaden anzurichten, aber seltsam war es trotzdem.
»Wie Infrarotstrahlen«, murmelte Michael Yew. »Die zielen auf uns.«
»Gehen wir in den Palast«, sagte ich.
Die Halle der Götter war unbewacht. Die goldenen und silbernen Türen standen weit offen. Unsere Schritte hallten laut wider, als wir den Thronsaal betraten.
Natürlich ist »Saal« nicht ganz das richtige Wort. Das Ding war so groß wie der Madison Square Garden. Hoch droben an der blauen Decke funkelten Sternbilder. Zwölf riesige leere Throne standen im Halbkreis um eine Feuerstätte. In einer Ecke schwebte ein hausgroßes Wasserbecken in der Luft, und darin schwamm mein alter Freund, der Ophiotaurus, halb Kuh, halb Schlange.
»Muuuh!«, sagte er glücklich und drehte sich um sich selbst.
Trotz aller Probleme musste ich lächeln. Zwei Jahre zuvor hatten wir viel Zeit mit dem Versuch verbracht, den Ophiotaurus vor den Titanen zu retten, und ich hatte ihn dabei sehr ins Herz geschlossen. Auch er schien mich zu mögen, obwohl ich ihn anfangs für ein Mädchen gehalten und Bessie getauft hatte.
»He, Mann«, sagte ich. »Behandeln sie dich gut?«
»Muuuh«, antwortete Bessie.
Wir gingen auf die Thronsessel zu und eine Frauenstimme sagte: »So sehen wir uns wieder, Percy Jackson. Du und deine Freunde seid willkommen.«
An der Feuerstätte stand Hestia und stocherte mit einem Stock in den Flammen. Sie trug dasselbe schlichte braune Kleid wie beim ersten Mal, aber jetzt war sie eine erwachsene Frau.
Ich verbeugte mich. »Göttin Hestia.«
Die anderen folgten meinem Beispiel.
Hestia musterte mich mit ihren rot glühenden Augen. »Ich sehe, du hast deinen Plan ausgeführt. Du trägst den Fluch des Achilles.«
Die anderen fingen an zu murmeln: »Was hat sie da gesagt? Was hat das mit Achilles zu tun?«
»Du musst vorsichtig sein«, sagte Hestia mahnend zu mir. »Du hast auf deiner Reise viel gewonnen. Aber für die wichtigste Wahrheit bist du noch immer blind. Vielleicht ist dir ein kurzer Blick darauf gestattet.«
Annabeth stieß mich an. »Äh … wovon redet sie da?«
Ich starrte in Hestias Augen und mir schoss ein Bild durch den Kopf. Ich sah eine dunkle Gasse zwischen Lagerhäusern aus rotem Klinker. Über einer Tür las ich auf einem Schild EISENWERKE RICHMOND.
Zwei Halbblute kauerten im Schatten, ein Junge von vielleicht vierzehn und ein Mädchen von zwölf. Ich zuckte zusammen, als ich Luke erkannte. Das Mädchen war Thalia, Tochter des Zeus. Ich sah eine Szene aus ihrer Zeit auf der Flucht, ehe Grover sie gefunden hatte.
Luke hielt ein Bronzemesser in der Hand. Thalia umklammerte ihren Speer und ihren Terrorschild Aigis. Beide sahen hungrig und abgehetzt aus, mit wilden Tieraugen, als wären sie an Angriffe gewöhnt.
»Bist du sicher?«, fragte Thalia.
Luke nickte. »Irgendwo hier unten. Das spüre ich.«
Ein Grollen ertönte aus der Gasse, als hätte jemand auf eine Metallplatte geschlagen. Die Halbblute krochen weiter.
Alte Holzkästen waren auf einer Laderampe aufgetürmt. Thalia und Luke näherten sich mit erhobenen Waffen. Ein Vorhang aus rostigem Wellblech bebte, als ob sich dahinter etwas versteckte.
Thalia schaute zu Luke hinüber. Er zählte lautlos: »Eins, zwei, drei!«, dann riss er das Blech weg und ein kleines Mädchen griff ihn mit einem Hammer an.
»Hey!«, sagte Luke.
Das Mädchen hatte verfilzte blonde Haare und trug einen Flanellschlafanzug. Sie konnte nicht älter als sieben sein, aber sie hätte Luke den Schädel eingeschlagen, wenn er nicht so schnell reagiert hätte.
Er packte ihr Handgelenk und der Hammer flog über den Zement.
Die Kleine wehrte sich und trat um sich. »Keine Monster mehr! Geh weg!«
»Ist schon gut.« Luke gab sich alle Mühe, sie festzuhalten. »Thalia, weg mit dem Schild. Du machst ihr Angst.«
Thalia tippte Aigis an und der Schild schrumpfte zu einem Silberarmband zusammen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Wir tun dir nichts. Ich bin Thalia. Das ist Luke.«
»Monster!«
»Nein«, versicherte Luke. »Aber mit Monstern kennen wir uns aus. Wir kämpfen doch auch gegen sie.«
Langsam hörte die Kleine auf zu treten. Sie musterte Luke und Thalia mit großen, intelligenten grauen Augen.
»Ihr seid wie ich?«, fragte sie misstrauisch.
»Ja«, sagte Luke. »Wir … na ja, das ist schwer zu erklären, aber wir kämpfen gegen Monster. Wo ist deine Familie?«
»Meine Familie hasst mich«, sagte die Kleine. »Sie wollen mich nicht. Ich bin weggelaufen.«
Thalia und Luke wechselten einen Blick. Ich wusste, dass sie genau verstanden, was das Kind meinte.
»Und wie heißt du?«, fragte Thalia.
»Annabeth.«
Luke lächelte. »Schöner Name. Ich sag dir eins, Annabeth. Du schlägst ganz schön gut zu. Eine Kämpferin wie dich könnten wir brauchen.«
Annabeth machte große Augen. »Echt?«
»Aber klar.« Luke drehte sein Messer um und hielt ihr den Griff hin. »Was würdest du zu einer echten Monstermordwaffe sagen? Das hier ist himmlische Bronze. Viel besser als ein Hammer.«
In den meisten Fällen wäre es wohl keine gute Idee, einem Kind von sieben Jahren ein Messer anzubieten, aber bei einem Halbblut kann man die üblichen Benimmregeln getrost über Bord werfen.
Annabeth griff zu.
»Messer sind nur für die tapfersten und schnellsten Kämpfer geeignet«, erklärte Luke. »Sie sind nicht so gefährlich wie ein Schwert und haben nicht so eine große Reichweite, aber sie sind leicht zu verstecken und können Schwachstellen in der Rüstung der Feinde finden. Nur kluge Kriegerinnen können mit Messern umgehen. Und ich habe das Gefühl, dass du ganz schön klug bist.«
Annabeth starrte ihn voller Bewunderung an. »Das bin ich!«
Thalia grinste. »Wir sollten gehen, Annabeth. Wir haben ein Versteck am James River. Da haben wir Kleider und Essen für dich.«
»Ihr … ihr bringt mich nicht zu meiner Familie zurück?«, fragte Annabeth. »Versprochen?«
Luke legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du gehörst jetzt zu unserer Familie. Ich verspreche, ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand oder irgendetwas dir wehtut. Ich werde dich nicht im Stich lassen, wie unsere Familien das mit uns gemacht haben. Abgemacht?«
»Abgemacht.« Annabeth lächelte glücklich.
»Los jetzt«, sagte Thalia. »Wir dürfen nicht so lange an einem Ort bleiben.«
Die Szene wechselte. Die drei Halbgötter rannten durch einen Wald. Es musste einige Tage später sein, vielleicht sogar Wochen. Alle sahen ziemlich fertig aus, als ob mehrere Schlachten hinter ihnen lägen. Annabeth trug jetzt andere Kleider – Jeans und eine überdimensionierte Armeejacke.
»Nur noch ein kleines Stück«, sagte Luke. Annabeth stolperte und er nahm ihre Hand. Thalia bildete die Nachhut und schwenkte ihren Schild, als ob sie irgendwelche Verfolger zurückdrängte. Sie hinkte auf dem linken Bein.
Die drei kletterten auf eine Felskante und schauten auf der anderen Seite auf ein weißes Haus im Kolonialstil hinab – das von May Castellan.
»Alles klar«, sagte Luke keuchend. »Ich schleich mich nur kurz rein und hole Essen und Medizin. Wartet hier.«
»Luke, bist du sicher?«, fragte Thalia. »Du hast geschworen, niemals zurückzukehren. Wenn sie dich erwischt …«
»Wir haben keine Wahl«, knurrte er. »Sie haben unser Versteck abgefackelt. Und du musst die Wunde an deinem Bein behandeln.«
»Hier bist du zu Hause?«, fragte Annabeth überrascht.
»Das war nie ein Zuhause«, murmelte Luke. »Glaub mir, wenn das kein Notfall wäre …«
»Ist deine Mom wirklich so schrecklich?«, fragte Annabeth. »Können wir sie sehen?«
»Nein«, fauchte Luke.
Annabeth wich zurück, als ob seine Wut sie überrascht hätte.
»Ich … tut mir leid«, sagte er. »Wartet einfach hier. Ich verspreche, dass alles in Ordnung kommt. Dir passiert nichts. Ich bin gleich wieder da.«
Im Wald leuchtete ein goldener Blitz auf. Die Halbgötter fuhren zusammen und eine Männerstimme dröhnte: »Du hättest nicht nach Hause kommen dürfen!«
Die Vision war zu Ende.
Meine Knie gaben nach, aber Annabeth packte mich. »Percy! Was ist passiert?«
»Hast … hast du das gesehen?«, fragte ich.
»Was denn gesehen?«
Ich schaute zu Hestia hinüber, aber das Gesicht der Göttin war ausdruckslos. Mir fiel ein, was sie im Wald zu mir gesagt hatte. Wenn ihr euren Feind Luke verstehen wollt, müsst ihr seine Familie verstehen. Aber warum hatte sie mir diese Szenen gezeigt?
»Wie lange war ich weg?«, murmelte ich.
Annabeth runzelte die Stirn. »Percy, du warst überhaupt nicht weg. Du hast Hestia angesehen und dann bist du zusammengebrochen.«
Ich konnte die Blicke der anderen spüren. Ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Was immer diese Visionen bedeuteten, ich musste mich auf unsere Aufgabe konzentrieren.
»Göttin Hestia«, sagte ich. »Wir haben wenig Zeit. Wir müssen zu …«
»Ich weiß, was ihr müsst«, sagte eine Männerstimme. Mir schauderte, vielleicht, weil es dieselbe Stimme war wie in meiner Vision.
Neben Hestia tauchte schimmernd ein Gott auf. Er sah aus wie fünfundzwanzig und hatte grau melierte Locken und elfenhafte Züge. Er trug einen Fliegeranzug, schwarze Lederstiefel und einen Helm, an dem winzige Vogelflügel flatterten. Im Arm hielt er einen langen Stab, an dem sich zwei lebende Schlangen miteinander verknoten.
»Ich lasse euch jetzt allein«, sagte Hestia. Sie verneigte sich vor dem Flieger und löste sich in Rauch auf. Ich verstand sehr gut, dass sie lieber wegwollte. Hermes, der Götterbote, sah gar nicht glücklich aus.
»Hallo, Percy.« Er runzelte die Stirn, als ob er sich über mich ärgerte, und ich fragte mich, ob er aus irgendeinem Grund von meiner Vision wusste. Ich hätte gern gefragt, was er in jener Nacht in May Castellans Haus gemacht hatte und was passiert war, nachdem er Luke erwischt hatte. Mir fiel ein, wie ich Luke im Camp Half-Blood kennengelernt hatte. Ich hatte gefragt, ob er jemals seinem Vater begegnet sei, und er hatte mich mit bitterer Miene angeblickt und gesagt: »Einmal.« Aber ich konnte Hermes’ Gesicht ansehen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für solche Fragen war.
Ich machte eine ungeschickte Verbeugung. »Hoher Herr Hermes.«
Ja klar, sagte eine Schlange in meinem Kopf. Uns brauchst du nicht zu begrüßen. Wir sind ja nur Reptilien.
George, mahnte die andere Schlange. Sei höflich.
»Hallo, George«, sagte ich. »Hallo, Martha.«
Hast du uns eine Ratte mitgebracht?, fragte George.
George, hör auf, sagte Martha. Er hat zu tun.
Zu viel zu tun, um sich um Ratten zu kümmern?, fragte George. Das klingt aber trist.
Ich beschloss, mich nicht weiter mit George zu befassen. »Äh, Hermes«, sagte ich. »Wir müssen mit Zeus reden. Es ist wichtig.«
Hermes’ Augen waren von stählerner Kälte. »Ich bin sein Bote. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
Hinter mir traten die anderen Halbgötter unruhig von einem Fuß auf den anderen. Das hier lief gar nicht so wie geplant. Vielleicht, wenn ich versuchte, unter vier Augen mit Hermes zu reden …
»Leute«, sagte ich. »Warum seht ihr euch nicht mal die Stadt an? Überprüft die Abwehr. Findet raus, wer noch so auf dem Olymp ist. Und Annabeth und ich treffen euch dann in einer halben Stunde wieder hier.«
Silena runzelte die Stirn. »Aber …«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Annabeth. »Connor und Travis, ihr leitet die Sache.«
Dass ihnen vor den Augen ihres Dads eine wichtige Aufgabe übertragen wurde, schien den Stolls zu gefallen. Sie durften sonst höchstens mal eine Schnitzeljagd anführen. »Wird gemacht!«, sagte Travis. Sie scheuchten die anderen aus dem Thronsaal und ließen Annabeth und mich mit Hermes allein.
»Hoher Herr«, sagte Annabeth. »Kronos wird New York angreifen. Ihr habt das sicher schon geahnt. Meine Mutter muss es vorausgesehen haben.«
»Deine Mutter«, knurrte Hermes. Er kratzte sich mit seinem Caduceus im Rücken und George und Martha murmelten au, au, au. »Komm mir hier ja nicht mit deiner Mutter, junge Dame. Nur ihretwegen bin ich schließlich überhaupt hier. Zeus wollte nicht, dass irgendwer von uns die Frontlinie verlässt. Aber deine Mutter hat ihm keine Ruhe gelassen: ›Das ist eine Falle, das ist eine Ablenkung, bla, bla, bla.‹ Sie wäre ja selbst zurückgekommen, aber Zeus wollte seine beste Strategin im Kampf gegen Typhon nicht von seiner Seite lassen. Also hat er mich geschickt, um mit dir zu reden.«
»Aber es ist wirklich eine Falle«, beharrte Annabeth. »Ist Zeus denn blind?«
Donner grollte am Himmel.
»Hüte deine Zunge, Mädchen«, warnte Hermes. »Zeus ist weder blind noch taub. Und er hat den Olymp auch nicht ganz ohne Abwehr zurückgelassen.«
»Aber diese blauen Lichter …«
»Jaja, die habe ich auch gesehen. Irgendein Unfug dieser unerträglichen Göttin des Zaubers, Hekate, schätze ich, aber dir ist wohl aufgefallen, dass das keinen Schaden anrichtet. Der Olymp hat starke magische Abwehrkräfte. Außerdem hat Aeolus, der Gott der Winde, uns seine mächtigsten Gefolgsleute geschickt, um die Zitadelle zu bewachen. Niemand außer den Göttern kann sich dem Olymp auf dem Luftweg nähern. Wer es versucht, wird aus dem Himmel geworfen.«
Ich hob die Hand. »Äh … und was ist mit dieser Nummer, bei der ihr euch materialisiert oder teleportiert oder so?«
»Das ist auch eine Art der Luftreise, Jackson. Sehr schnell, aber die Windgötter sind schneller. Nein, wenn Kronos den Olymp will, dann muss er mit seiner Armee durch die gesamte Stadt marschieren und den Fahrstuhl nehmen. Kannst du dir vorstellen, dass er das macht?«
Aus seinem Mund klang das reichlich albern – Horden von Monstern, die zu jeweils zwanzig mit dem Fahrstuhl fahren und sich dabei »Stayin’ alive« anhören. Trotzdem war ich noch nicht beruhigt.
»Vielleicht könnten ein paar von euch zurückkommen«, schlug ich vor.
Hermes schüttelte ungeduldig den Kopf. »Percy Jackson, du verstehst das nicht. Typhon ist unser ärgster Feind.«
»Ich dachte, das wäre Kronos.«
Die Augen des Gottes glühten. »Nein, Percy. In alten Zeiten wurde der Olymp von Typhon fast gestürzt. Er ist der Mann der Echidna …«
»Ich bin ihr auf dem Brückenbogen von St. Louis über den Weg gelaufen«, murmelte ich. »Nicht gerade nett.«
»… und der Vater aller Monster. Wir dürfen niemals vergessen, dass er uns fast zerstört hätte und wie er uns gedemütigt hat. In den alten Zeiten waren wir mächtiger. Jetzt können wir von Poseidon keine Hilfe erwarten, weil der seinen eigenen Krieg führt. Hades sitzt in seinem Reich und dreht Däumchen, und Demeter und Persephone folgen seinem Beispiel. Wir werden all unsere verbleibende Kraft brauchen, um dem Sturmriesen zu widerstehen. Wir dürfen unsere Truppen nicht teilen und auch nicht warten, bis er New York erreicht. Wir müssen ihn jetzt bekämpfen. Und wir machen Fortschritte.«
»Fortschritte?«, frage ich. »Er hat St. Louis fast zerstört.«
»Ja«, gab Hermes zu. »Aber er hat nur halb Kentucky zerstört. Er wird langsamer. Seine Kräfte schwinden.«
Ich wollte nicht widersprechen, aber es hörte sich an, als ob Hermes versuchte, sich selbst zu überzeugen.
In der Ecke muhte der Ophiotaurus traurig.
»Bitte, Hermes«, sagte Annabeth. »Ihr habt gesagt, dass meine Mutter kommen wollte. Habt Ihr keine Nachricht für uns?«
»Nachricht«, murmelte er. »Dein Job ist eine Supersache, haben sie mir gesagt. Nicht viel zu tun. Jede Menge Anbeter. Hmpf. Niemand interessiert sich dafür, was ich zu sagen habe. Immer geht es um die Nachrichten anderer Leute.«
Nagetiere, sagte George nachdenklich. Mir geht es um die Nagetiere.
Pst, schimpfte Martha. Uns interessiert doch, was Hermes zu sagen hat, oder nicht, George?
Aber sicher doch. Können wir jetzt zurück in die Schlacht? Ich möchte wieder in den Lasermodus. Das war witzig.
»Klappe halten, alle beide«, knurrte Hermes.
Der Gott sah Annabeth an, die ihre Flehende-graue-Augen-Nummer abzog.
»Pah«, sagte Hermes. »Deine Mutter sagt, ich soll dir klarmachen, dass ihr auf euch gestellt seid. Ihr müsst Manhattan ohne Hilfe der Götter halten. Als ob ich das nicht gewusst hätte. Keine Ahnung, warum sie dafür bezahlt wird, die Göttin der Weisheit zu sein.«
»Sonst noch was?«, fragte Annabeth.
»Sie hat gesagt, du sollst Plan 23 probieren. Sie meinte, du würdest wissen, was das bedeutet.«
Annabeth erbleichte. Offenbar wusste sie das nur zu gut, und es gefiel ihr gar nicht. »Weiter.«
»Eine Sache noch.« Hermes sah mich an. »Ich soll Percy sagen: Denk an die Flüsse. Und äh, irgendetwas mit ›die Hände von ihrer Tochter lassen‹.«
Ich wusste nicht, wessen Gesicht röter war, Annabeths oder meins.
»Danke, Hermes«, sagte Annabeth. »Und ich … ich wollte sagen … Das mit Luke tut mir leid.«
Die Miene des Gottes verhärtete sich, als ob er sich in Marmor verwandelt hätte. »Dieses Thema solltest du besser auf sich beruhen lassen.«
Annabeth trat nervös einen Schritt zurück. »Entschuldigung?«
»Eine ENTSCHULDIGUNG ändert überhaupt nichts!«
George und Martha ringelten sich um den Caduceus, der schimmerte und sich in etwas verwandelte, das verdächtig aussah wie ein Viehtreibestock mit hoher Voltzahl.
»Du hättest ihn retten müssen, als das noch möglich war«, knurrte Hermes Annabeth an. »Nur du hättest das gekonnt.«
Ich versuchte, mich einzuschalten. »Wovon redet Ihr eigentlich? Annabeth hat gar nicht …«
»Verteidige sie ja nicht, Jackson!« Hermes richtete seinen Viehtreiber auf mich. »Sie weiß genau, wovon ich rede!«
»Vielleicht solltet Ihr Euch mal an die eigene Nase fassen!« Ich hätte den Mund halten sollen, aber ich konnte an nichts anderes denken, als dass ich ihn von Annabeth ablenken wollte. Er war in dieser ganzen Zeit gar nicht auf mich wütend gewesen. Sondern auf sie. »Wer weiß, was passiert wäre, wenn Ihr Luke und seine Mutter nicht im Stich gelassen hättet!«
Hermes hob seinen Viehtreiber und fing an zu wachsen, bis er drei Meter groß war. Ich dachte, okay, das war’s jetzt.
Aber als er losschlagen wollte, ringelten George und Martha sich zu ihm und flüsterten ihm etwas ins Ohr.
Hermes presste die Zähne aufeinander. Er ließ den Viehtreiber sinken und der wurde wieder zu einem Stab.
»Percy Jackson«, sagte er. »Weil du den Fluch des Achilles auf dich genommen hast, muss ich dich verschonen. Du bist jetzt in den Händen der Moiren. Aber sprich nie wieder so zu mir. Du weißt ja gar nicht, wie viel ich geopfert habe, wie viel …«
Seine Stimme versagte und er schrumpfte wieder auf Menschengröße. »Mein Sohn, mein größter Stolz … meine arme May …«
Er klang so verzweifelt, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Eben noch hatte er uns zu Staub zerschmettern wollen, aber jetzt sah er aus, als ob ihn dringend mal jemand in den Arm nehmen müsste.
»Bitte, Hermes«, sagte ich. »Es tut mir leid, aber ich muss das wissen. Was ist mit May passiert? Sie hat etwas über Lukes Schicksal gesagt, und ihre Augen …«
Hermes funkelte mich an und meine Stimme versagte. Sein Gesicht zeigte aber keinen Zorn, sondern Schmerz. Tiefen, unbeschreiblichen Schmerz.
»Ich verlasse euch jetzt«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich habe einen Krieg zu führen.«
Er fing an zu schimmern. Ich wandte mich ab und passte auf, dass Annabeth das auch tat, denn sie war noch immer vor Schock erstarrt.
Viel Glück, Percy, flüsterte die Schlange Martha.
Hermes glühte mit der Kraft einer Supernova. Dann war er verschwunden.
Annabeth saß vor dem Thron ihrer Mutter und weinte. Ich hätte sie gern getröstet, wusste aber nicht, wie.
»Annabeth«, sagte ich. »Es ist nicht deine Schuld. Ich habe Hermes noch nie so erlebt. Ich nehme an … ich weiß nicht … vermutlich hat er wegen Luke ein schlechtes Gewissen. Und jetzt sucht er einen Sündenbock. Ich weiß nicht, warum er dich so angemacht hat. Das hast du wirklich nicht verdient.«
Annabeth rieb sich die Augen. Sie starrte die Feuerstätte an wie ihr eigenes Totenfeuer.
Ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Das hast du doch nicht, oder?«
Sie gab keine Antwort. Ihr Messer aus himmlischer Bronze war an ihren Arm geschnallt – das Messer, das ich in Hestias Vision gesehen hatte. All die vielen Jahre hatte ich nicht gewusst, dass es ein Geschenk von Luke gewesen war. Ich hatte sie oft gefragt, warum sie lieber mit einem Messer kämpfte als mit einem Schwert, und sie hatte mir nie eine Antwort gegeben. Jetzt wusste ich es.
»Percy«, sagte sie. »Was hast du da über Lukes Mutter gesagt? Bist du ihr begegnet?«
Ich nickte widerstrebend. »Nico und ich haben sie besucht. Sie war ein wenig … anders.« Ich beschrieb May Castellan und den seltsamen Moment, als ihre Augen geglüht und sie über das Schicksal ihres Sohnes gesprochen hatte.
Annabeth runzelte die Stirn. »Das ergibt doch keinen Sinn. Aber warum habt ihr sie …?« Ihre Augen weiteten sich. »Hermes hat gesagt, dass du den Fluch des Achilles trägst. Und das hat auch Hestia gesagt. Hast du … hast du im Styx gebadet?«
»Wechsel hier nicht das Thema!«
»Percy! Hast du, oder hast du nicht?«
»Äh … ein bisschen vielleicht.«
Ich erzählte ihr vom Hades und von Nico und wie ich eine Armee aus Toten besiegt hatte. Aber die Vision, in der Annabeth mich aus dem Fluss gezogen hatte, ließ ich aus. Ich begriff sie noch immer nicht so ganz und beim bloßen Gedanken daran wurde ich verlegen.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie gefährlich das war?«
»Ich hatte keine Wahl«, sagte ich. »Nur so kann ich es mit Luke aufnehmen.«
»Du meinst … di immortales, natürlich! Deshalb ist Luke nicht gestorben. Er ist zum Styx gegangen und … oh nein, Luke. Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Du machst dir also mal wieder Sorgen um Luke«, knurrte ich.
Sie starrte mich an, als ob ich soeben aus dem Weltall gefallen wäre. »Was?«
»Vergiss es«, murmelte ich. Ich fragte mich, was Hermes damit gemeint hatte, dass Annabeth Luke nicht gerettet hatte, als das noch möglich gewesen wäre. Sie verschwieg mir etwas. Aber im Moment hatte ich keine Lust zu fragen. Das Letzte, was ich wollte, war, noch mehr über ihre Geschichte mit Luke zu hören.
»Das Entscheidende ist, dass er im Styx nicht gestorben ist«, sagte ich. »Und ich auch nicht. Jetzt muss ich ihm gegenübertreten. Wir müssen den Olymp verteidigen.«
Annabeth sah mir noch immer ins Gesicht, als ob sie nach Veränderungen suchte, die mein Bad im Styx verursacht hatte. »Du hast Recht. Meine Mutter hat gesagt …«
»Plan 23.«
Sie wühlte in ihrem Rucksack und zog Dädalus’ Laptop heraus. Das blaue Delta leuchtete auf, als sie ihn hochfuhr. Sie öffnete einige Dateien und fing an zu lesen.
»Hier ist es«, sagte sie. »Bei den Göttern, das ist aber eine Menge Arbeit.«
»Eine von Dädalus’ Erfindungen?«
»Eine Menge Erfindungen … gefährliche. Wenn meine Mutter will, dass ich diesen Plan umsetze, dann muss sie die Lage für ganz schön übel halten.« Sie sah mich an. »Und ihre Nachricht an dich? Denk an die Flüsse. Was bedeutet das?«
Ich schüttelte den Kopf. Wie so oft hatte ich keine Ahnung, was die Götter mir sagen wollten. An welche Flüsse sollte ich denken? Den Styx? Den Mississippi?
In diesem Moment kamen die Stoll-Brüder in den Thronsaal gestürzt.
»Das müsst ihr sehen«, rief Connor. »Schnell!«
Die blauen Lichter am Himmel waren verschwunden, deshalb begriff ich nicht sofort, was er meinte.
Die anderen aus dem Camp hatten sich in einem kleinen Park am Berghang versammelt. Sie drängten sich am Geländer und schauten hinab auf Manhattan. Auf das Geländer waren Ferngläser montiert, in die man eine goldene Drachme einwerfen konnte, um sich die Stadt anzusehen. Im Moment waren alle belegt.
Ich schaute auf die Stadt hinunter. Von hier aus konnte ich fast alles sehen – den East River und den Hudson, die die Umrisse von Manhattan bildeten, das Gitter aus Straßen, die Lichter der Wolkenkratzer, den dunklen Streifen des Central Park im Norden. Alles sah normal aus, aber irgendwas stimmte nicht. Ich spürte es in meinen Knochen, ehe ich begriff, was es war.
»Ich … ich höre nichts«, sagte Annabeth.
Da war das Problem.
Sogar aus dieser Höhe hätte man den Lärm der Stadt hören müssen: Millionen von Menschen, die herumeilten, Tausende von Autos und Maschinen – das Summen einer riesigen Metropole. Man denkt nicht darüber nach, wenn man in New York lebt, aber es ist immer da. Sogar mitten in der Nacht. New York schweigt nie.
Aber jetzt tat es das.
Ich fühlte mich, als wäre mein bester Freund plötzlich tot umgefallen.
»Was haben sie getan?« Meine Stimme klang gepresst und wütend. »Was haben sie meiner Stadt angetan?«
Ich stieß Michael Yew von seinem Fernglas weg und schaute hindurch.
In den Straßen unter mir war der Verkehr zum Stillstand gekommen. Fußgänger lagen auf dem Bürgersteig oder rollten sich in Hauseingängen zusammen. Es gab keine Anzeichen von Gewalt, keine Autowracks, nichts. Die gesamte Bevölkerung von New York schien plötzlich einfach beschlossen zu haben, alles stehen und liegen zu lassen und in Ohnmacht zu fallen.
»Sind sie tot?«, fragte Silena verblüfft.
Mein Magen wurde zu Eis. Eine Zeile aus der Weissagung hallte in meinen Ohren wider: »In endlosem Schlaf sieht der Heros die Welt.« Mir fiel ein, wie Grover im Central Park dem Gott Morpheus begegnet war. Du hast Glück, dass ich meine Energie für die Hauptoffensive aufspare.
»Sie sind nicht tot«, sagte ich. »Morpheus hat die gesamte Insel Manhattan einschlafen lassen. Die Invasion hat begonnen.«
Ich kaufe zwei neue Freunde
Mrs O’Leary war die Einzige, die sich über die schlafende Stadt freute.
Wir ertappten sie dabei, wie sie einen umgekippten Würstchenstand plünderte, dessen Besitzer mit dem Daumen im Mund zusammengerollt auf dem Bürgersteig lag.
Argus erwartete uns und hatte seine hundert Augen weit geöffnet. Er sagte nichts. Das tut er nie. Angeblich liegt es daran, dass er auch auf der Zunge ein Auge hat. Aber sein Gesicht zeigte deutlich, dass er kurz vor dem Durchdrehen war.
Ich erzählte ihm, was wir auf dem Olymp erfahren hatten und dass die Götter uns nicht zu Hilfe kommen würden. Argus verdrehte genervt die Augen, was ganz schön irre aussah, weil dadurch sein ganzer Körper zu wirbeln schien.
»Fahren Sie lieber ins Camp zurück«, sagte ich. »Bewachen Sie es, so gut Sie können.«
Er zeigte auf mich und hob fragend die Augenbrauen.
»Ich bleibe hier«, sagte ich.
Argus nickte, als sei er zufrieden mit dieser Antwort. Er sah Annabeth an und zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft.
»Ja«, sagte Annabeth zustimmend. »Ich glaube, es ist so weit.«
»Wofür?«, fragte ich.
Argus wühlte hinten in seinem Wagen herum. Er zog einen Bronzeschild hervor und reichte ihn Annabeth. Der Schild sah ziemlich durchschnittlich aus – die Art von rundem Schild, die wir immer beim Erobern der Flagge benutzten. Aber als Annabeth ihn auf den Boden stellte, zeigte das polierte Metall nicht mehr den Himmel und die Gebäude in unserer Nähe, sondern die Freiheitsstatue – die kein bisschen in der Nähe war.
»Cool«, sagte ich. »Ein Videoschild.«
»Eine Idee von Dädalus«, sagte Annabeth. »Beckendorf hat ihn für mich gemacht, bevor …« Sie schaute zu Silena hinüber. »Na ja, der Schild bricht Sonnen-oder Mondlicht von irgendwo in der Welt, um ein Spiegelbild zu ergeben. Man kann theoretisch jedes Ziel unter der Sonne oder dem Mond sehen, solange es von natürlichem Licht berührt wird. Schau her.«
Wir drängten uns um sie, während Annabeth sich konzentrierte. Das Bild drehte sich zuerst so schnell um sich selbst, dass mir vom bloßen Zuschauen schon schlecht wurde. Wir waren im Central Park Zoo, dann jagten wir die East 60th Street entlang, vorbei an Bloomingdale’s, und bogen in die Third Avenue ab.
»Meine Fresse«, sagte Connor Stoll. »Da. Zoom da mal rein.«
»Was?«, fragte Annabeth nervös. »Siehst du Invasoren?«
»Nein, gleich dahinten – Dylans Süßigkeitenladen.« Connor grinste seinen Bruder an. »Mann, der ist offen. Und alle Welt schläft. Denkst du dasselbe wie ich?«
»Connor!«, schimpfte Katie Gardner. Sie hörte sich an wie ihre Mutter Demeter. »Das hier ist ernst. Du wirst doch nicht mitten in einem Krieg einen Süßigkeitenladen plündern!«
»’tschuldigung«, murmelte Connor, klang aber nicht gerade reumütig.
Annabeth bewegte ihre Hand vor dem Schild und eine andere Szene tauchte auf. Der Blick von FDR Drive über den Fluss zum Lighthouse Park.
»Damit können wir sehen, was sich am anderen Ende der Stadt abspielt«, sagte sie. »Danke, Argus. Hoffentlich sehen wir uns im Camp wieder … irgendwann.«
Argus grunzte. Dann musterte er mich mit einem Blick, der eindeutig Viel Glück, du wirst es brauchen besagte, und stieg in seinen Wagen. Er und die beiden Harpyien fuhren los und kurvten um die stehenden Autos, die überall auf der Straße herumstanden.
Ich pfiff nach Mrs O’Leary und sie kam angesprungen.
»He, altes Mädchen«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch an Grover? Den Satyrn, der uns im Park begegnet ist?«
»WUFF!«
Ich hoffte, das bedeutete: Aber sicher doch, und nicht: Gibt es noch mehr Hotdogs?
»Du musst ihn finden«, sagte ich. »Und sorg dafür, dass er wach bleibt. Wir werden seine Hilfe brauchen. Hast du das verstanden? Hol Grover.«
Mrs O’Leary verpasste mir einen feuchten Schmatz, was mir irgendwie überflüssig vorkam. Dann jagte sie nach Norden.
Pollux hockte neben einem schlafenden Polizisten. »Ich begreife das nicht. Warum sind wir nicht auch eingeschlafen? Warum nur die Sterblichen?«
»Das ist ein sehr großflächiger Zauber«, sagte Silena Beauregard. »Und je größer der Zauber, desto leichter kann man ihm widerstehen. Wenn man Millionen von Sterblichen einschlafen lassen will, muss man eine sehr dünne Magieschicht auswerfen. Bei Halbgöttern braucht man viel mehr.«
Ich starrte sie an. »Woher weißt du so viel über Magie?«
Silena wurde rot. »Ich verbringe schließlich nicht meine gesamte Zeit vor dem Spiegel.«
»Percy!«, rief Annabeth. Sie sah noch immer den Schild an. »Schau mal her.«
Das Bronzebild zeigte den Long Island Sound bei La Guardia. Eine Flotte aus einem Dutzend Schnellbooten jagte durch das dunkle Wasser auf Manhattan zu. Jedes Boot war vollbesetzt mit Halbgöttern in kompletter griechischer Rüstung. Hinten am ersten Boot wehte ein lila Banner mit einer schwarzen Sense im Fahrtwind. Ich hatte es noch nie gesehen, aber es war nicht schwer zu erkennen: die Kriegsflagge des Kronos.
»Sieh dir mal die Ufer von Manhattan an«, sagte ich. »Schnell.«
Annabeth ließ sich den Süden des Hafens zeigen. Eine Staten-Island-Fähre durchpflügte bei Ellis Island die Wellen. An Deck drängten sich Dracaenae und eine ganze Meute von Höllenhunden. Vor dem Schiff schwammen Tiere, die ich zuerst für Delphine hielt. Dann sah ich ihre Hundegesichter und die Schwerter an ihren Bäuchen und begriff, dass es Telchinen waren – Seedämonen.
Wieder änderte sich das Bild: die Küste von New Jersey, gleich beim Eingang zum Lincoln Tunnel. Hundert Monster aller Art marschierten an dem zum Stillstand gekommenen Verkehr vorbei: Riesen mit Keulen, schurkige Zyklopen, feuerspeiende Drachen und zu allem Überfluss ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Sherman, der die Autos einfach beiseiteschob, als er in den Tunnel dröhnte.
»Was ist mit den Sterblichen außerhalb von Manhattan?«, fragte ich. »Schläft der ganze Bundesstaat?«
Annabeth runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, aber es ist irgendwie seltsam. Wenn diese Bilder stimmen, schläft ganz Manhattan. Dann kommt eine Zone mit einem Radius von etwa siebzig Kilometern um die Halbinsel, in der die Zeit sehr, sehr langsam vergeht. Je näher du Manhattan kommst, umso langsamer wird sie.«
Sie zeigte mir ein anderes Bild – eine Autobahn in New Jersey. Es war Samstagabend, deshalb war der Verkehr nicht so schlimm wie an einem Werktag. Die Fahrer schienen wach zu sein, aber die Wagen bewegten sich mit einem Kilometer pro Stunde. Über ihnen flogen Vögel in Zeitlupe.
»Kronos«, sagte ich. »Er macht die Zeit langsamer.«
»Kann sein, dass Hekate ihm hilft«, sagte Katie Gardner. »Seht euch mal an, wie die Wagen von den Ausfahrten nach Manhattan zurückweichen, als ob ihnen unbewusst mitgeteilt wird, sie sollten kehrtmachen.«
»Ich verstehe das nicht.« Annabeth klang wirklich frustriert. Sie fand es schrecklich, keine Ahnung zu haben. »Aber auf irgendeine Weise haben sie Manhattan in verschiedene Schichten aus Magie gewickelt. Die Außenwelt bemerkt wahrscheinlich nicht einmal, dass etwas nicht stimmt. Alle Sterblichen, die nach Manhattan kommen, werden so langsam, dass sie nicht begreifen, was vor sich geht.«
»Wie Fliegen in Bernstein«, murmelte Jake Mason.
Annabeth nickte. »Wir können nicht mit Hilfe von außen rechnen.«
Ich drehte mich zu meinen Freunden um. Sie sahen verwirrt und ängstlich aus, und ich konnte ihnen da keinen Vorwurf machen. Der Schild hatte uns mindestens dreihundert Feinde gezeigt, die zu uns unterwegs waren. Und wir waren allein.
»Na gut«, sagte ich. »Wir werden Manhattan halten.«
Silena zerrte an ihrer Rüstung herum. »Äh, Percy, Manhattan ist groß.«
»Aber wir werden es halten«, sagte ich. »Das müssen wir.«
»Er hat Recht«, sagte Annabeth. »Die Götter des Windes halten Kronos in der Luft vom Olymp fern, deshalb wird er einen Bodenangriff versuchen. Wir müssen die Zugänge zur Insel abschneiden.«
»Sie haben Boote«, sagte Michael Yew.
Ein elektrisches Prickeln lief mir über den Rücken. Plötzlich begriff ich Athenes Mahnung: Denk an die Flüsse.
»Um die Boote kümmere ich mich«, sagte ich.
Michael runzelte die Stirn. »Wie denn?«
»Überlass das mal mir«, sagte ich. »Wir müssen die Brücken und Tunnel bewachen. Ich nehme an, sie versuchen es in der Mitte der Stadt oder im Süden, jedenfalls beim ersten Angriff. Das ist der direkteste Weg zum Empire State Building. Michael, geh mit der Apollo-Hütte zur Williamsburg Bridge. Katie, Demeters Hütte übernimmt den Brooklyn–Battery Tunnel. Lasst im Tunnel Dornbüsche und Giftefeu wachsen. Macht, was immer nötig ist, aber lasst sie nicht rein! Connor, nimm die halbe Hermes-Hütte und bewacht die Manhattan Bridge. Travis, du gehst mit der anderen Hälfte zur Brooklyn Bridge. Und keine Pause zum Plündern oder so.«
»Ooooh!«, beschwerte sich die gesamte Hermes-Hütte.
»Silena, geh mit der Aphrodite-Truppe zum Queens–Midtown Tunnel.«
»Bei den Göttern«, sagte eine ihrer Schwestern. »Die Fifth Avenue ist genau auf dem Weg. Wir können Accessoires shoppen. Und Monster hassen den Geruch von Givenchy!«
»Keine Verzögerungen«, sagte ich. »Na ja, für die Parfümsache vielleicht schon, wenn ihr meint, es wirkt.«
Sechs Aphrodite-Mädchen küssten mich begeistert auf die Wange.
»Okay, alles klar!« Ich schloss die Augen und überlegte, was ich vergessen haben könnte. »Der Holland Tunnel! Jake, den übernimmst du mit der Hephaistos-Hütte. Nehmt griechisches Feuer mit, stellt Fallen auf. Was immer.«
Er grinste. »Mit Vergnügen. Wir haben noch eine Rechnung zu begleichen. Für Beckendorf!« Die ganze Hütte brüllte zustimmend.
»Die Queensboro Bridge«, sagte ich. »Clarisse …«
Ich geriet ins Stocken. Clarisse war nicht da. Die gesamte Ares-Hütte, das verdammte Pack, saß noch im Camp.
»Die übernehmen wir«, schaltete sich Annabeth ein und rettete mich vor einem peinlichen Schweigen. Sie wandte sich an ihre Geschwister. »Malcolm, nimm die Athene-Hütte mit und aktiviere unterwegs Plan 23, wie ich es dir gezeigt habe. Haltet die Position.«
»Alles klar.«
»Ich bleibe bei Percy«, sagte sie. »Wir kommen nach oder gehen dahin, wo wir gerade gebraucht werden.«
Irgendwer hinten in der Gruppe sagte: »Nicht trödeln, ihr zwei.«
Es kam ein kurzes Kichern, aber ich ließ es durchgehen.
»Alles klar«, sagte ich. »Wir bleiben über Handy in Verbindung.«
»Wir haben keine Handys«, protestierte Silena.
Ich bückte mich, hob den Blackberry einer schlafenden Dame auf und warf ihn Silena zu. »Jetzt schon. Ihr kennt ja alle Annabeths Nummer, oder? Wenn ihr uns braucht, schnappt euch das nächste Telefon und ruft uns an. Benutzt es einmal, lasst es liegen und nehmt euch ein neues, wenn ihr es braucht. Das müsste es den Monstern schwerer machen, euch anzupeilen.«
Alle grinsten, als ob ihnen diese Vorstellung gefiel.
Travis räusperte sich. »Öh, und wenn wir ein besonders schönes Handy finden …«
»Nein, auch das dürft ihr nicht behalten«, sagte ich.
»Och, Mann.«
»Moment noch, Percy«, sagte Jack Mason. »Du hast den Lincoln Tunnel vergessen.«
Ich verkniff mir einen Fluch. Er hatte Recht. Diesen Tunnel durchquerten gerade ein Sherman-Panzer und hundert Monster, und ich hatte unsere Truppen anderswo aufgestellt.
Dann rief eine Mädchenstimme quer über die Straße: »Wie wär’s, den uns zu überlassen?«
Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich gewesen, jemanden zu hören. Eine Gruppe von dreißig jungen Mädchen überquerte die Fifth Avenue. Sie trugen weiße Hemden, silbrige Tarnhosen und Kampfstiefel. Alle hatten Schwerter umgeschnallt, Köcher auf dem Rücken und Bögen in der Hand. Eine Meute von weißen Grauwölfen drängte sich um ihre Beine und viele der Mädchen hatten Jagdfalken auf dem Arm sitzen.
Die Anführerin hatte schwarze Stachelhaare und trug eine schwarze Lederjacke. Sie hatte einen Silberreif auf dem Kopf, wie das Diadem einer Prinzessin, aber der Reif passte weder zu ihren Totenkopfohrringen noch zu ihrem Nieder mit Barbie-T-Shirt, das eine kleine Barbiepuppe mit einem Pfeil im Kopf zeigte.
»Thalia!«, rief Annabeth.
Die Tochter des Zeus grinste. »Die Jägerinnen der Artemis melden sich zum Dienst.«
Es hagelte Begrüßungen und Umarmungen – zumindest was Thalia anging. Die anderen Jägerinnen waren nicht gern mit Leuten aus dem Camp zusammen, schon gar nicht mit Jungen, aber sie schossen auf keinen von uns, und das war für ihre Verhältnisse schon eine ziemlich herzliche Begrüßung.
»Wo hast du dich denn im letzten Jahr rumgetrieben?«, fragte ich Thalia. »Du hast jetzt fast doppelt so viele Jägerinnen!«
Sie lachte. »Das ist eine sehr lange Geschichte. Ich wette, meine Abenteuer waren gefährlicher als deine, Jackson.«
»Total gelogen«, sagte ich.
»Das werden wir ja sehen«, versprach sie. »Wenn das hier vorbei ist: du, Annabeth und ich bei Cheeseburger und Pommes in diesem Hotel in der West 57th Street.«
»Le Parker Meridien«, sagte ich. »Abgemacht. Und danke, Thalia.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Diese Monster werden nicht mal kapieren, wer da über sie reinbricht. Vorwärts, Jägerinnen!«
Sie tippte auf ihr Silberarmband und der Schild Aigis schnellte zu seiner vollen Größe auseinander. Der goldene Medusenkopf in seiner Mitte war so entsetzlich, dass alle Camper zurückwichen. Die Jägerinnen marschierten die Straße hinab, gefolgt von ihren Wölfen und Falken, und ich hatte das Gefühl, dass der Lincoln Tunnel fürs Erste gesichert sein würde.
»Den Göttern sei Dank«, sagte Annabeth. »Aber wenn wir die Flüsse nicht von diesen Booten frei halten, hilft es auch nichts, die Brücken und Tunnel zu bewachen.«
»Da hast du Recht«, sagte ich.
Ich sah die Camper an, und alle sahen düster und entschlossen aus. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal alle zusammen sah.
»Ihr seid die größten Heldinnen und Helden dieses Jahrtausends«, sagte ich zu ihnen. »Es spielt keine Rolle, wie viele Monster euch angreifen. Kämpft mit aller Kraft, dann werden wir siegen!« Ich hob Springflut und brüllte: »FÜR DEN OLYMP!«
Sie brüllten zurück und unsere vierzig Stimmen hallten von den Gebäuden wider. Für einen Moment hörte es sich mutig an, verebbte dann aber sehr schnell im Schweigen von zehn Millionen schlafenden New Yorkern.
Annabeth und ich hätten bei den Autos freie Auswahl gehabt, aber sie waren alle Stoßstange an Stoßstange im Verkehrschaos eingeklemmt. Kein Motor lief, was ich seltsam fand. Offenbar hatten die Fahrer noch genug Zeit gehabt, den Motor auszuschalten, ehe sie eingeschlafen waren. Oder vielleicht besaß Morpheus auch die Macht, Motoren einschlafen zu lassen. Die meisten Fahrer hatten anscheinend versucht, an den Straßenrand zu fahren, als sie die Ohnmacht kommen spürten, aber trotzdem waren die Straßen vollkommen verstopft.
Endlich fanden wir einen bewusstlosen Kurier, der an einer Klinkerwand lehnte und noch immer rittlings auf seiner roten Vespa saß. Wir zogen ihn vom Sitz und legten ihn auf den Bürgersteig.
»Tut mir leid, Kumpel«, sagte ich. Wenn ich Glück hätte, würde ich ihm seine Vespa zurückbringen können. Wenn nicht, würde es auch keine Rolle spielen, denn die Stadt würde zerstört werden.
Ich fuhr und Annabeth saß hinter mir und hielt sich an mir fest. Wir fuhren im Zickzack den Broadway entlang und unser Motor brummte laut in der gespenstischen Stille. Das Einzige, was wir hörten, war ab und zu ein klingelndes Handy – sie schienen sich gegenseitig anzurufen, als ob New York in einen riesigen elektronischen Vogelpark verwandelt worden wäre.
Wir kamen nur langsam vorwärts. Immer wieder stießen wir auf Fußgänger, die direkt vor einem Auto eingeschlafen waren, und wir brachten sie sicherheitshalber auf den Bürgersteig. Einmal hielten wir an, um ein Feuer in einer Brezelbude zu löschen, und einige Minuten darauf mussten wir einen Kinderwagen retten, der ziellos die Straße hinunterrollte. Es stellte sich heraus, dass kein Baby darin lag, sondern ein schlafender Pudel. Im Ernst. Wir stellten den Kinderwagen in einen Hauseingang und fuhren weiter.
Wir kamen gerade am Madison Square Park vorbei, als Annabeth sagte: »Fahr mal an den Straßenrand.«
Ich hielt in der Mitte der East 23rd Street. Annabeth sprang ab und rannte auf den Park zu. Als ich sie eingeholt hatte, starrte sie eine Bronzestatue auf einem roten Marmorsockel an. Ich war vermutlich schon eine Million Mal an ihr vorbeigekommen, hatte sie mir aber nie richtig angesehen.
Der Typ saß in einem Sessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Er trug einen altmodischen Anzug – wie Abraham Lincoln oder so, mit einer Halsbinde und langen Rockschößen. Unter seinem Sessel waren etliche Bronzebücher aufgetürmt. In der einen Hand hielt er eine Schreibfeder und in der anderen einen großen metallenen Pergamentbogen.
»Was interessiert uns …« Ich las mit zusammengekniffenen Augen den Namen auf dem Sockel. »… William H. Steward?«
»Seward«, korrigierte Annabeth. »Er war mal Gouverneur von New York. Ein zweitrangiger Halbgott – Sohn der Hebe, glaube ich. Aber das spielt keine Rolle. Mir geht es um die Statue.«
Sie kletterte auf eine Parkbank und musterte den unteren Teil der Statue.
»Behaupte ja nicht, der ist ein Automaton«, sagte ich.
Annabeth lächelte. »Wie ich mittlerweile weiß, sind die meisten Statuen hier in der Stadt welche. Dädalus hat sie aufgestellt, für den Fall, dass er mal eine Armee braucht.«
»Um den Olymp anzugreifen oder um ihn zu verteidigen?«
Annabeth zuckte mit den Schultern. »Egal was. Das war Plan 23. Man braucht nur eine Statue zu aktivieren, die dann ihre Brüder in der ganzen Stadt aufweckt, bis die Armee vollständig ist. Es ist aber gefährlich. Du weißt ja, wie unberechenbar so ein Automaton sein kann.«
»Oh ja«, sagte ich. Damit hatten wir schon allerlei schlechte Erfahrungen gemacht. »Du hast wirklich vor, den zu aktivieren?«
»Ich habe Dädalus’ Notizen«, sagte sie. »Ich glaube, ich kann … Ah, hier ist es.«
Sie drückte auf Sewards Stiefelspitze und die Statue erhob sich, Feder und Pergament noch immer in der Hand.
»Was hat er vor?«, murmelte ich. »Notizen machen?«
»Pst«, sagte Annabeth. »Hallo, William.«
»Bill«, schlug ich vor.
»Bill … ach, halt die Klappe«, sagte Annabeth zu mir. Die Statue legte den Kopf schräg und sah uns mit blanken Metallaugen an.
Annabeth räusperte sich. »Hallo, äh, Gouverneur Seward. Befehlsfolge: Dädalus 23. Manhattan verteidigen. Aktivierung starten.«
Seward sprang von seinem Sockel. Er prallte so hart auf den Boden auf, dass der Bürgersteig unter seinen Stiefeln zersplitterte. Dann stolzierte er mit hallenden Schritten in Richtung Osten davon.
»Vermutlich wird er Konfuzius aufwecken«, tippte Annabeth.
»Was?«, fragte ich.
»Noch eine Statue, auf der Division Street. Jetzt wecken sie sich nach und nach gegenseitig auf, bis alle aktiviert sind.«
»Und dann?«
»Dann verteidigen sie hoffentlich Manhattan.«
»Wissen sie, dass nicht wir der Feind sind?«
»Ich glaube schon.«
»Wie beruhigend.« Ich dachte an die vielen Bronzestatuen in den Parks, auf den Plätzen und in den Gebäuden von New York. Es mussten Hunderte sein oder sogar Tausende.
Dann explodierte am Abendhimmel eine Kugel aus grünem Licht. Griechisches Feuer, irgendwo über dem East River.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich. Und wir rannten zurück zur Vespa.
Wir hielten vor dem Battery Park, am unteren Ende von Manhattan, wo Hudson und East River zusammenfließen und in die Bucht münden.
»Warte hier«, sagte ich zu Annabeth.
»Percy, du solltest nicht allein gehen.«
»Okay, wenn du unter Wasser atmen kannst …«
Sie seufzte. »Manchmal nervst du ganz schön.«
»Wenn ich Recht habe, meinst du? Mir passiert schon nichts. Auf mir liegt jetzt der Fluch des Achilles. Ich bin unbesiegbar und so.«
Annabeth wirkte nicht überzeugt. »Sei trotzdem vorsichtig. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Ich meine, weil wir dich in der Schlacht brauchen.«
Ich grinste. »Bin gleich wieder da.«
Ich kletterte zum Ufer hinab und watete in das Wasser.
Nur zur Info für euch Nicht-Meeresgott-Leute – geht im Hafen von New York lieber nicht schwimmen. Er ist vielleicht nicht mehr so verdreckt, wie als meine Mom jung war, aber das Wasser würde euch vermutlich immer noch ein drittes Auge oder spätere Mutantenkinder verpassen.
Ich tauchte in den Schlamm, ließ mich auf den Boden sinken und versuchte die Stelle zu finden, wo die Strömung von beiden Flüssen gleich stark war – wo sie sich trafen, um die Bucht zu bilden. Es schien mir logisch, dass ich dort ihre Aufmerksamkeit am besten erregen könnte. »HE!«, rief ich mit meiner besten Unterwasserstimme. »Ich hab gehört, ihr seid so verdreckt, dass es euch peinlich ist, eure Gesichter zu zeigen. Stimmt das?«
Eine kalte Strömung wogte durch die Bucht und wirbelte dabei Wolken aus Abfällen und Schlamm auf.
»Ich habe gehört, dass der East River giftiger ist«, sagte ich dann. »Aber dass der Hudson mehr stinkt. Oder ist es umgekehrt?«
Das Wasser schimmerte. Etwas Mächtiges und Wütendes beobachtete mich jetzt. Ich konnte seine Anwesenheit spüren … oder vielleicht waren es auch zwei Anwesenheiten.
Ich hatte Angst, mich mit den Beleidigungen vergaloppiert zu haben. Was, wenn sie mich einfach hochgehen ließen, ohne sich zu zeigen? Andererseits waren es New Yorker Flussgottheiten. Ich ging davon aus, dass es eher ihrer Natur entsprach zurückzumotzen.
Und richtig, vor mir erhoben sich zwei riesige Gestalten. Auf den ersten Blick waren es einfach zwei dunkelbraune Schlammsäulen, dichter als das Wasser, das sie umgab. Dann wuchsen ihnen Beine, Arme und verärgerte Gesichter.
Das Wesen auf der linken Seite sah einem Telchinen beunruhigend ähnlich. Es hatte ein Wolfsgesicht und sein Körper war ein wenig seehundshaft – glatt und schwarz mit Flossenhänden und -füßen. Seine Augen glühten in einem verstrahlten Grün.
Der Typ rechts sah eher menschlich aus. Er trug Lumpen und Seetang und ein Kettenhemd aus Kronkorken und alten Sechserpackhaltern aus Kunststoff. Sein Gesicht war voller blasiger Algen und sein Bart wucherte in alle Richtungen. Seine tiefblauen Augen loderten vor Zorn.
Der Seehund, der der Gott des East River sein musste, fragte: »Bist du eigentlich lebensmüde, Kleiner? Oder einfach nur strohdoof?«
Der bärtige Geist des Hudson schnaubte: »Mit strohdoof kennst du dich ja aus, East.«
»Sieh dich vor, Hudson«, knurrte East. »Bleib auf deiner Seite der Insel und kümmere dich um deinen eigenen Kram.«
»Oder was? Schmeißt du mir sonst wieder ein Müllboot in die Fresse?«
Sie schwammen aufeinander zu, bereit zum Kampf.
»Aufhören!«, rief ich. »Wir haben ein größeres Problem!«
»Der Kleine hat Recht«, fauchte East. »Bringen wir ihn zusammen um, danach kämpfen wir gegeneinander.«
»Klingt gut«, sagte Hudson.
Ehe ich protestieren konnte, schoss der gesamte Müll vom Boden hoch und flog aus allen Richtungen auf mich zu: Glasscherben, Schutt, Konservendosen, Reifen.
Aber damit hatte ich gerechnet. Das Wasser vor mir verdichtete sich zu einem Schild und der Müll prallte davon ab. Nur ein Stück kam durch – eine riesige Glasscherbe, die meine Brust traf und mich eigentlich hätte umbringen müssen, aber sie zerbrach an meiner Haut.
Die beiden Flussgötter starrten mich an.
»Sohn des Poseidon?«, fragte East.
Ich nickte.
»Kleines Bad im Styx genommen?«, fragte Hudson.
»Genau.«
Beide stöhnten angewidert.
»Na, das ist ja toll«, sagte East. »Wie sollen wir ihn denn dann umbringen?«
»Wir könnten ihm einen Elektroschock versetzen«, sagte Hudson nachdenklich. »Wenn ich nur ein paar Kabel finden könnte …«
»Jetzt hört mir zu!«, sagte ich. »Die Armee des Kronos versucht, Manhattan zu erobern.«
»Meinst du, das wüssten wir nicht?«, fragte East. »Ich kann seine Boote spüren. Sie sind schon fast drüben.«
»Ja«, stimmt Hudson zu. »Und ein paar fiese Monster überqueren meine Gewässer.«
»Dann haltet sie auf«, sagte ich. »Ertränkt sie. Versenkt ihre Boote.«
»Warum sollten wir?«, knurrte Hudson. »Sollen sie doch den Olymp besetzen. Kann uns echt egal sein.«
»Aber ich kann euch bezahlen.« Ich zog den Sanddollar hervor, den mein Vater mir zum Geburtstag geschenkt hatte.
Die Flussgötter machten große Augen.
»Der gehört mir!«, sagte East. »Gib ihn mir, Kleiner, und ich verspreche dir, keiner von Kronos’ Abschaum wird den East River überqueren.«
»Vergiss es«, sagte Hudson. »Der Sanddollar gehört mir, es sei denn, ich soll diese ganzen Schiffe den Hudson überqueren lassen.«
»Wir teilen.« Ich zerbrach den Sanddollar. Aus der Bruchstelle rieselte sauberes Süßwasser, als ob die Verschmutzung in der Bucht dadurch aufgelöst würde.
»Ihr kriegt jeder die Hälfte«, sagte ich. »Und im Gegenzug haltet ihr Kronos’ gesamte Armee aus Manhattan heraus.«
»Oh Mann«, jammerte Hudson und streckte die Hand nach dem Sanddollar aus. »Ich war schon so lange nicht mehr sauber.«
»Die Macht des Poseidon«, murmelte East River. »Er ist ein Mistkerl, aber wie man Verschmutzung wegkriegt, das weiß er.«
Sie wechselten einen Blick, dann sagten sie wie aus einem Munde: »Abgemacht.«
Ich reichte jedem einen halben Sanddollar, den sie ehrfurchtsvoll entgegennahmen.
»Äh, die Invasoren«, erinnerte ich sie vorsichtig.
East winkte mit der Hand. »Schon versenkt.«
Hudson schnippte mit den Fingern. »Meute von Höllenhunden soeben untergegangen.«
»Danke«, sagte ich. »Bleibt sauber.«
Als ich zur Oberfläche aufstieg, rief East: »He, Kleiner, wenn du mal wieder einen Sanddollar auszugeben hast, dann komm zurück. Falls du überlebst.«
»Fluch des Achilles«, schnaubte Hudson. »Die bilden sich immer ein, der könnte sie retten, stimmt’s?«
»Wenn der wüsste«, sagte East zustimmend. Beide lachten und lösten sich dann im Wasser auf.
Annabeth telefonierte am Ufer, hörte aber auf, sowie sie mich sah. Sie wirkte ziemlich erschüttert.
»Es hat geklappt«, sagte ich. »Die Flüsse sind sauber.«
»Gut«, sagte sie. »Denn wir haben ein neues Problem. Michael Yew hat gerade angerufen. Eine ganze Armee marschiert über die Williamsburg Bridge. Die Apollo-Hütte braucht Hilfe. Und Percy, das Monster, das den Feind anführt … das ist der Minotaurus.«
Wir zerstören eine Brücke
Zum Glück hatte Blackjack gerade Dienst.
Ich stieß meinen besten Taxipfiff aus, und innerhalb weniger Minuten kreiselten zwei dunkle Gestalten aus dem Himmel zu uns herab. Zuerst sahen sie aus wie Habichte, aber als sie näher kamen, konnte ich die langen galoppierenden Pegasusbeine erkennen.
Yo, Boss. Blackjack landete und trabte aus, dicht gefolgt von seinem Freund Porkpie. Mann, hatte schon gedacht, die Windgötter würden uns nach Pennsylvania blasen, aber dann haben wir gesagt, dass wir zu dir wollen.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, antwortete ich. »Sag mal, warum galoppieren Pegasi eigentlich beim Fliegen?«
Blackjack wieherte. Warum schwenken Menschen beim Gehen die Arme? Keine Ahnung, Boss. Fühlt sich einfach richtig an. Wohin soll’s gehen?
»Wir müssen zur Williamsburg Bridge«, sagte ich.
Blackjack senkte den Kopf. Gute Entscheidung, Boss. Da sind wir auf dem Weg hierher vorbeigeflogen und es sieht gar nicht gut aus. Spring auf!
Auf dem Weg zur Brücke krampfte sich mein Magen zusammen. Der Minotaurus war eines der ersten Monster, die ich je besiegt hatte. Vor vier Jahren hatte er auf dem Half-Blood Hill fast meine Mutter umgebracht. Ich hatte immer noch Albträume davon.
Ich hatte gehofft, er würde für einige Jahrhunderte tot bleiben, aber ich hätte eigentlich wissen müssen, dass mein Glück nicht so lange währen würde.
Wir sahen die Schlacht schon, ehe wir nahe genug herangekommen waren, um einzelne Kämpfer zu erkennen. Es war inzwischen nach Mitternacht, aber die Brücke war hell erleuchtet. Wagen brannten, und lodernde Speere und Pfeile malten Feuerbögen in die Luft.
Wir drehten noch eine Runde und ich sah, dass die Apollo-Leute auf dem Rückzug waren. Sie versteckten sich hinter Autos und schossen von dort auf die näher rückende Armee, benutzten Explosionspfeile und ließen Krähenfüße auf die Straße fallen; sie bauten, wo sie nur konnten, brennende Barrikaden auf und zogen schlafende Fahrer aus den Autos, um sie aus der Gefahrenzone zu holen. Aber der Feind rückte immer weiter vor. Eine ganze Phalanx aus Dracaenae marschierte vorweg, die Schilde miteinander verhakt, während darüber Speerspitzen funkelten. Ab und zu wurde ein Schlangenleib, ein Hals oder eine Spalte in ihren Rüstungen von einem Pfeil getroffen und die unselige Schlangenfrau löste sich auf, aber die meisten Apollo-Pfeile prallten wirkungslos von der Schildwand ab. An die hundert weitere Monster folgten ihnen.
Etliche Höllenhunde sprangen vor ihnen her. Die meisten wurden von Pfeilen zerstört, aber einer erwischte einen Apollo-Kämpfer und zerrte ihn davon. Ich konnte nicht sehen, was dann mit ihm geschah, und wollte es auch nicht wissen.
»Da!«, rief Annabeth vom Rücken ihres Pegasus.
Und wirklich, mitten in der Invasionsarmee sah ich den alten Stierkopf persönlich.
Als ich den Minotaurus zuletzt gesehen hatte, war er nur mit einer weißen Feinripp-Unterhose bekleidet gewesen. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht war er aus dem Bett geworfen worden, um mich zu jagen. Aber diesmal war er auf die Schlacht vorbereitet.
Von der Hüfte abwärts trug er die übliche griechische Schlachtrüstung – einen kiltartigen Schurz aus Leder und Metallstreifen, metallene Beinschützer und eng gebundene Ledersandalen. Von den Schultern aufwärts war er Stier – Fell und Muskeln und ein so großer Kopf, dass allein das Gewicht seiner Hörner ihn hätte umwerfen müssen. Er kam mir größer vor als bei unserer letzten Begegnung – mindestens drei Meter hoch. Eine doppelseitige Axt war auf seinen Rücken geschnallt, aber er war zu ungeduldig, um sie zu benutzen. Sowie er sah, dass ich über ihm kreiste (oder mich witterte, da sein Sehvermögen sehr schlecht war), brüllte er auf und schnappte sich eine weiße Limousine.
»Runter, Blackjack!«, rief ich.
Was?, fragte der Pegasus. Der könnte doch nie … heiliges Pferdefutter!
Wir waren mindestens dreißig Meter hoch, aber die Limousine kam genau auf uns zugesegelt und rotierte dabei um sich selbst wie ein zwei Tonnen schwerer Bumerang. Annabeth und Porkpie drehten in einem waghalsigen Manöver nach links ab, während Blackjack die Flügel anlegte und sich fallen ließ. Die Limousine segelte über meinen Kopf und verfehlte mich höchstens um zwei Fingerbreit. Sie flog an der Brückenaufhängung vorbei und fiel in den East River.
Monster spotteten und brüllten und der Minotaurus schnappte sich noch einen Wagen.
»Lass uns hinter der Front bei den Apollo-Leuten runter«, sagte ich zu Blackjack. »Bleib in Hörweite, aber bring dich nicht in Gefahr.«
Da will ich nicht widersprechen, Boss!
Blackjack jagte hinter einem umgekippten Schulbus, hinter dem sich zwei Camper versteckt hatten, zur Erde hinunter. Annabeth und ich sprangen ab, sowie die Hufe unserer Pegasi den Boden berührten, und Blackjack und Porkpie schossen wieder in den Nachthimmel hinaus.
Michael Yew kam auf uns zugerannt. Er war eindeutig der kleinste Kommandant, den ich je gesehen hatte. An seinem Arm hatte er einen verbundenen Schnitt. Sein Frettchengesicht war mit Ruß verschmiert und sein Köcher war fast leer, aber er strahlte, als ob er sich köstlich amüsierte.
»Schön, dass ihr da seid«, sagte er. »Wer kommt noch zur Verstärkung?«
»Für den Moment war’s das«, sagte ich.
»Dann sind wir tot«, sagte er.
»Hast du noch immer deinen fliegenden Wagen?«, fragte Annabeth.
»Nö«, sagte Michael. »Hab ich im Camp gelassen. Ich habe Clarisse gesagt, sie könnte ihn haben. Ist doch jetzt sowieso egal. Lohnt sich nicht mehr, darum zu kämpfen. Aber sie hat gesagt, es sei zu spät; wir hätten ihre Ehre zum letzten Mal gekränkt oder so einen Blödsinn.«
»Immerhin hast du es versucht«, sagte ich.
Michael zuckte mit den Schultern. »Na ja, ich hab ziemlich Klartext geredet, als sie gesagt hat, dass sie trotzdem nicht kämpfen will. Ich glaube, das hat nicht gerade geholfen. Achtung, Monster!«
Er zog einen Pfeil hervor und schoss ihn ab. Der Pfeil machte beim Fliegen ein kreischendes Geräusch und der Aufprall klang wie ein vom größten Lautsprecher der Welt verstärkter Powerakkord auf einer elektrischen Gitarre. Monster ließen ihre Waffen fallen und hielten sich mit schmerzverzerrten Gesichtern die Ohren zu; andere rannten weg oder lösten sich auf der Stelle auf.
»Das war mein letzter akustischer Pfeil«, sagte Michael.
»Geschenk von deinem Dad?«, fragte ich. »Dem Gott der Musik?«
Michael grinste verschlagen. »Laute Musik kann ungesund sein. Aber leider nicht immer tödlich.«
Und wirklich schlossen einige Monster sich wieder zusammen und schüttelten ihre Verwirrung ab.
»Wir müssen uns zurückziehen«, sagte Michael. »Ich habe Kayla und Austin weiter hinten auf der Brücke Fallen aufstellen lassen.«
»Nein«, sagte ich. »Bring deine Leute hier vorne in Position und warte auf mein Zeichen. Ich lenke die Monster ab. Ihr sammelt euch hier. Schafft die schlafenden Sterblichen beiseite. Dann könnte ihr die Monster einzeln erledigen, während ich dafür sorge, dass sie sich auf mich konzentrieren. Wenn irgendwer das schafft, dann ihr.«
Michael schnaubte. »Vielen Dank.«
Ich schaute Annabeth an.
Sie nickte widerstrebend. »Na gut. Los geht’s.«
Ehe mich der Mut verlassen konnte, fragte ich: »Kriege ich keinen Kuss als Glücksbringer? Das ist doch so eine Art Tradition, oder?«
Ich dachte schon, sie würde mir eine reinhauen. Stattdessen zog sie ihr Messer und starrte die Armee an, die auf uns zumarschierte. »Komm lebend zurück, Algenhirn. Dann werden wir ja sehen.«
Ich ging davon aus, dass das das beste Angebot war, das ich kriegen würde, deshalb trat ich hinter dem Schulbus hervor und ging ohne jede Deckung über die Brücke, direkt auf den Feind zu.
Als der Minotaurus mich entdeckte, loderten seine Augen vor Hass auf. Er brüllte – ein Klang irgendwo zwischen einem Schrei, einem Muhen und einem sehr lauten Räuspern.
»He, du Hacksteak«, brüllte ich zurück. »Hab ich dich nicht schon mal umgebracht?«
Er hämmerte mit der Faust auf die Motorhaube eines Lexus und der Wagen wickelte sich auf wie Alufolie.
Einige Dracaenae warfen lodernde Speere nach mir. Ich stieß sie beiseite. Ein Höllenhund setzte zum Angriff an und ich wich aus. Ich hätte ihn erstechen können, zögerte aber.
Das ist nicht Mrs O’Leary, schärfte ich mir ein. Das ist ein ungezähmtes Monster. Es will mich und alle meine Freunde umbringen.
Wieder griff der Höllenhund an. Diesmal schwang ich Springflut in einem tödlichen Bogen. Der Höllenhund zerfiel zu Staub und Fell.
Weitere Monster drängten vorwärts – Schlangen und Riesen und Telchinen –, aber der Minotaurus brüllte sie an und sie wichen zurück.
»Einer gegen einen?«, rief ich. »Genau wie in den alten Zeiten?«
Die Nasenlöcher des Minotaurus bebten. Er hätte dringend eine Packung Papiertaschentücher in seiner Rüstungstasche haben müssen, denn seine Nase war feucht und rot und einfach widerlich. Er band seine Axt los und schwenkte sie.
Die Axt war schön – auf so eine Ich-werde-dich-aufschlitzen-wie-einen-Fisch-Art. Die beiden Klingen der Axt waren wie ein Omega geformt: Ω, der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets. Vielleicht, weil die Axt das Letzte war, was seine Opfer jemals sahen. Der Schaft war ungefähr so lang wie der Minotaurus groß und bestand aus mit Leder umwickelter Bronze. Unten um beide Klingen waren jede Menge Perlenketten gewickelt. Ich erkannte darin Camp-Half-Blood-Ketten – von besiegten Halbgöttern geraubt.
Ich war so wütend, dass meine Augen bestimmt mindestens so glühten wie die des Minotaurus. Die Monsterarmee feuerte den Minotaurus an, aber alles verstummte, als ich seinem ersten Hieb auswich und die Axt in zwei Hälften schlug, genau zwischen den Griffen.
»Muuh?«, grunzte er.
»HAA!« Ich fuhr herum und trat ihn in die Schnauze. Er taumelte rückwärts und versuchte, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, dann senkte er den Kopf zum Angriff.
Dazu kam er aber nicht mehr. Mein Schwert leuchtete auf – und schnitt ein Horn ab, dann das andere. Er versuchte, mich zu packen. Ich rollte mich weg und hob die Hälfte der zerbrochenen Axt auf. Die anderen Monster wichen in verdutztem Schweigen zurück und bildeten einen Kreis um uns.
Der Minotaurus brüllte vor Wut. Er war ohnehin nicht gerade der Schlauste, aber jetzt ließ die Wut ihn alle Vorsicht vergessen. Er griff mich an und ich rannte zum Rand der Brücke, wobei ich eine Reihe Dracaenae durchbrach.
Der Minotaurus witterte sicher schon den Sieg: Er glaubte, ich wollte fliehen. Seine Leute jubelten. Am Rand der Brücke drehte ich mich um und stemmte die Axt gegen das Geländer, um seinen Angriff aufzufangen. Der Minotaurus wurde nicht einmal langsamer.
KNIRSCH!
Er schaute überrascht den Axtgriff an, der aus seinem Brustpanzer hervorschaute.
»Danke fürs Mitspielen«, sagte ich zu ihm.
Ich hob ihn an den Beinen hoch und schob ihn über das Geländer. Schon im Sturz löste er sich zu Staub auf, während seine Essenz in den Tartarus zurückkehrte.
Ich drehte mich zu seiner Armee um. Wir waren jetzt etwa hundertneunundneunzig gegen einen. Ich wählte die nächstliegende Lösung. Ich griff an.
Ihr fragt euch jetzt sicher, wie diese Unbesiegbarkeitsgeschichte funktionierte: ob ich auf magische Weise jeder Waffe auswich oder ob die Waffen mich trafen und mich nur nicht verletzten. Ehrlich, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich nicht vorhatte, diese Monster meine Heimatstadt einnehmen zu lassen.
Ich durchschnitt Rüstungen, als ob sie aus Papier wären. Schlangenfrauen explodierten. Höllenhunde schmolzen zu Schatten. Ich hieb und stach und wirbelte um mich selbst und vielleicht habe ich sogar ein-oder zweimal gelacht – ein irres Lachen, das mir selbst genauso viel Angst machte wie meinen Feinden. Ich registrierte, dass die Apollo-Leute hinter mir Pfeile abschossen und jeden Versuch der Monster, sich zusammenzuschließen, vereitelten. Endlich machten unsere Feinde kehrt und flohen – höchstens zwanzig von den zweihundert lebten noch.
Ich lief hinterher, dicht gefolgt von den Apollo-Leuten.
»Ja!«, rief Michael Yew. »Genau das habe ich gemeint!«
Wir trieben sie zurück nach Brooklyn, auf die andere Seite der Brücke. Im Osten wurde der Himmel jetzt heller. Vor uns konnte ich die Zollhäuschen sehen.
»Percy!«, schrie Annabeth. »Du hast sie doch besiegt. Komm zurück! Wir müssen zusammenbleiben!«
Ein Teil von mir wusste, dass sie Recht hatte, aber da ich schon so weit gekommen war, wollte ich sie bis zum letzten Monster vernichten.
Dann sah ich die Menge am Ende der Brücke. Die fliehenden Monster rannten ihrer Verstärkung entgegen. Es war eine kleine Gruppe, vielleicht dreißig oder vierzig zum Kampf gekleidete Halbgötter auf Skelettpferden. Einer trug ein lila Banner mit der schwarzen Sense.
Der Anführer ließ sein Pferd vortreten. Er nahm den Helm ab und ich erkannte Kronos, mit Augen wie geschmolzenes Gold.
Annabeth und die Apollo-Leute blieben stehen. Die von uns verfolgten Monster erreichten die Frontlinie der Titanen und wurden in die neue Truppe aufgenommen. Kronos starrte zu uns herüber. Er war zwar hundert Meter entfernt, aber ich schwöre, ich konnte ihn lächeln sehen.
»Jetzt«, sagte ich, »ziehen wir uns zurück.«
Die Truppe des Titanenherrschers zog die Schwerter und griff an. Die Hufe ihrer Skelettpferde donnerten über das Pflaster. Unsere Bogenschützen gaben eine Salve ab und holten mehrere Feinde aus dem Sattel, aber die übrigen ritten einfach weiter.
»Zurück!«, rief ich meinen Freunden zu. »Ich halte sie auf!«
In Sekundenschnelle hatten sie mich erreicht.
Michael und seine Bogenschützen liefen zurück, aber Annabeth blieb neben mir und kämpfte mit ihrem Messer und dem Spiegelschild, während wir uns langsam rückwärts über die Brücke zurückzogen.
Die Kavallerie des Kronos umgab uns, schlug um sich und brüllte Beleidigungen. Der Titan selbst rückte gemächlich vor, als ob er alle Zeit der Welt hätte. Als Herr der Zeit hatte er das wahrscheinlich auch.
Ich versuchte, seine Leute zu verwunden, nicht zu töten. Das machte mich langsamer, aber es waren schließlich keine Monster; es waren Halbgötter, die unter den Bann des Kronos geraten waren. Ich konnte ihre Gesichter unter den Kampfhelmen nicht sehen, aber einige von ihnen waren vermutlich mal meine Freunde gewesen. Ich kappte die Beine ihrer Reittiere, worauf die Skelettpferde sich auflösten. Nachdem die ersten Halbgötter zu Boden gegangen waren, hielt der Rest es für besser, abzusteigen und mich zu Fuß anzugreifen.
Annabeth und ich standen Schulter an Schulter und schauten in unterschiedliche Richtungen. Eine dunkle Gestalt flog über mich hinweg und ich wagte einen Blick nach oben. Blackjack und Porkpie jagten herbei und traten unseren Feinden die Helme ein, dann schossen sie davon wie übergroße Kamikaze-Tauben.
Wir hatten fast die Mitte der Brücke erreicht, als etwas Seltsames passierte. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter – wie in der alten Redensart, wenn jemand über dein Grab läuft. Hinter mir stieß Annabeth einen Schmerzensschrei aus.
»Annabeth!« Ich fuhr herum und konnte sie gerade noch fallen sehen, während sie sich an den Arm griff. Ein Halbgott mit blutigem Messer stand über ihr.
Sofort wusste ich, was passiert war. Er hatte versucht, mich zu erstechen, und so, wie er die Klinge hielt, hätte er mich – vielleicht aus purem Glück – ins Kreuz getroffen, in meinen einzigen verletzlichen Punkt.
Annabeth hatte die Klinge mit ihrem eigenen Körper aufgefangen.
Aber warum? Sie wusste nichts von meiner verletzlichen Stelle. Das wusste niemand.
Ich fing den Blick des feindlichen Halbgottes auf. Er trug eine Augenklappe unter seinem Kampfhelm – Ethan Nakamura, der Sohn der Nemesis. Irgendwie musste er die Explosion auf der Prinzessin Andromeda überlebt haben. Ich knallte ihm meinen Schwertgriff mit so viel Wucht ins Gesicht, dass ich seinen Helm verbeulte.
»Zurück!« Ich zerschnitt die Luft in einem weiten Bogen und trieb die anderen Halbgötter von Annabeth weg. »Niemand rührt sie an!«
»Interessant«, sagte Kronos.
Er ragte auf seinem Skelettpferd über mir auf, die Sense in der Hand. Er sah sich alles aus zusammengekniffenen Augen an, als spüre er, dass ich dem Tod nah gewesen war, so, wie ein Wolf die Angst seines Opfers wittert.
»Tapfer gekämpft, Percy Jackson«, sagte er. »Aber jetzt ist es Zeit, dich zu ergeben … oder das Mädchen stirbt.«
»Percy, nicht!« Annabeth stöhnte. Ihr Hemd war von Blut durchtränkt. Ich musste sie hier herausholen. »Blackjack!«, rief ich.
Blitzschnell kam der Pegasus herabgeschossen und schlug die Zähne um die Riemen von Annabeths Rüstung. Sie jagten über den Fluss davon, ehe irgendjemand reagieren konnte.
Kronos fauchte. »Bald, sehr bald, werde ich mir eine Pegasussuppe kochen. Aber vorerst …« Er stieg ab und seine Sense funkelte im Licht der Morgendämmerung. »Vorerst werde ich mich mit einem weiteren toten Halbgott zufriedengeben.«
Ich fing seinen ersten Hieb mit Springflut ab. Die Wucht erschütterte die ganze Brücke, aber ich hielt ihm stand. Kronos’ Lächeln wurde unsicher.
Mit einem Schrei trat ich ihm die Beine weg. Die Sense klapperte über den Boden. Ich stach nach unten, aber er rollte sich zur Seite und kam wieder hoch. Seine Sense flog zurück in seine Hände.
»Aha.« Er musterte mich und lächelte leicht irritiert. »Du hast also den Mut gehabt, den Styx zu besuchen. Ich musste Luke ganz schön unter Druck setzen, um ihn zu überreden. Wenn du mir stattdessen meinen Wirtskörper geliefert hättest … aber lassen wir das. Ich bin trotzdem noch stärker als du. Ich bin ein TITAN!«
Er stampfte mit dem Sensengriff auf die Brücke auf und eine Welle purer Macht schleuderte mich rückwärts. Autos drehten sich um sich selbst; Halbgötter – sogar Lukes eigene Leute – wurden von der Brücke gefegt. Die Brückenkabel bebten und ich rutschte ein ganzes Stück auf Manhattan zu.
Unsicher kam ich auf die Füße. Die restlichen Apollo-Leute hatten das Ende der Brücke erreicht, außer Michael Yew, der auf einem Brückenkabel hockte, nur wenige Meter von mir entfernt. Sein letzter Pfeil lag an der Bogensehne.
»Hau ab, Michael«, schrie ich.
»Percy, die Brücke!«, rief er. »Sie gibt schon nach!«
Zuerst verstand ich nicht, was er meinte. Dann schaute ich nach unten und sah Risse im Boden. Teile der Straße schmolzen im griechischen Feuer. Die Brücke war vom Stoß des Kronos und von den explodierenden Pfeilen übel zugerichtet.
»Zerstöre sie«, schrie Michael. »Nutze deine Macht!«
Es war eine durchgeknallte Idee – das konnte eigentlich nicht funktionieren –, aber trotzdem bohrte ich Springflut in die Brücke. Die magische Klinge versank bis zum Griff im Asphalt. Salzwasser schoss aus dem Riss, als ob ich einen Geysir getroffen hätte. Ich zog die Klinge heraus und der Spalt wurde größer. Die Brücke bebte und fing an, zu zerfallen. Stücke von Hausgröße fielen in den East River. Kronos’ Halbgötter schrien entsetzt auf und wichen zurück; einige wurden umgeworfen. Innerhalb weniger Sekunden klaffte zwischen Kronos und mir ein fast zwanzig Meter breiter Spalt in der Williamsburg Bridge.
Die Schwingungen verebbten. Kronos’ Leute krochen zum Rand des Spalts und schauten die über vierzig Meter hinab in den Fluss.
Aber wir waren noch nicht sicher. Die Brückenkabel waren unversehrt. Kronos’ Leute könnten sich daran entlanghangeln, wenn sie mutig genug waren. Und vielleicht kannte Kronos ja einen magischen Trick, um den Abgrund zu überbrücken.
Der Titanenherrscher sah sich die Sache an. Er schaute zur aufgehenden Sonne hoch, dann lächelte er über den Abgrund hinweg. Er hob die Sense zu einem spöttischen Gruß. »Bis heute Abend, Jackson.« Er schwang sich auf ein Pferd, wirbelte herum und galoppierte zurück nach Brooklyn, gefolgt von seinen Kriegern.
Ich drehte mich um, um Michael Yew zu danken, aber meine Worte blieben mir in der Kehle stecken. Ein Stück von mir entfernt lag ein Bogen auf der Straße. Sein Besitzer war nirgendwo zu sehen.
»Nein!« Ich durchsuchte die Trümmer auf meiner Seite der Brücke und starrte in den Fluss hinab. Nichts.
Ich schrie vor Zorn und Trauer. Mein Schrei hallte in der morgendlichen Stille über die ganze Stadt. Ich wollte gerade Blackjack herbeipfeifen, damit er mir bei der Suche helfen könnte, als das Handy meiner Mom klingelte. Das Display meldete einen Anruf von Finklestein & Co – vermutlich ein Halbgott, der mit einem geliehenen Telefon anrief.
Ich drückte auf die grüne Taste und hoffte auf gute Nachrichten. Aber natürlich lag ich da falsch.
»Percy?« Silena Beauregard schien geweint zu haben. »Plaza Hotel. Komm schnell her und bring einen Heiler aus der Apollo-Hütte mit. Es geht um … es geht um Annabeth.«
Rachel macht ein schlechtes Geschäft
Ich schnappte mir Will Solace aus der Apollo-Hütte und befahl seinen restlichen Geschwistern, weiter nach Michael Yew zu suchen. Wir borgten uns von einem schlafenden Motorradfahrer eine Yamaha FZI aus und fuhren in einem Tempo, das meiner Mom einen Herzanfall beschert hätte, zum Plaza Hotel. Ich war noch nie Motorrad gefahren, aber es war auch nicht schwieriger, als einen Pegasus zu reiten.
Unterwegs fielen mir jede Menge leere Sockel auf, auf denen sonst Statuen standen. Plan 23 schien zu funktionieren. Ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
Wir brauchten nur fünf Minuten zum Plaza – einem altmodischen weißen Steinhaus mit blauem Giebeldach an der Südostecke des Central Park.
Taktisch gesehen war das Plaza nicht das optimale Hauptquartier. Es war nicht das höchste Gebäude in der Stadt und lag auch nicht sonderlich zentral. Aber es hatte einen gewissen altmodischen Charme und im Laufe der Jahre hatte es eine Menge berühmter Halbgötter beherbergt, wie die Beatles und Alfred Hitchcock, also fühlte ich mich irgendwie in guter Gesellschaft.
Ich brauste mit der Yamaha an den Kantstein und hielt am Springbrunnen vor dem Hotel.
Will und ich sprangen ab. Die Statue oben auf dem Springbrunnen rief: »Na, super. Auf euer Motorrad soll ich wohl auch noch aufpassen?« Die menschengroße Bronzefigur trug nur eine Bronzedecke um die Beine und hielt einen Korb voller Metallfrüchte in der Hand. Ich hatte noch nie auf sie geachtet, aber sie hatte ja auch noch nie mit mir gesprochen.
»Sollst du Demeter darstellen?«, fragte ich. Ein Bronzeapfel segelte über meinen Kopf.
»Immer halten mich alle für Demeter!«, beschwerte sie sich. »Ich bin Pomona, die römische Obstgöttin, aber das interessiert dich wahrscheinlich nicht mal! Niemand interessiert sich für die B-Götter. Wenn die B-Götter dich interessieren würden, hättest du in diesem Krieg bessere Karten! Dreimal hoch auf Morpheus und Hekate, sage ich!«
»Pass auf die Karre auf«, sagte ich zu ihr.
Pomona fluchte auf Latein und warf weiter mit Obst, während Will und ich auf das Hotel zurannten.
Ich war noch nie im Plaza gewesen. Das Foyer war beeindruckend, voll mit riesigen Kronleuchtern aus Metall und ohnmächtigen Reichen, aber ich achtete nicht weiter darauf. Zwei Jägerinnen zeigten uns den Weg zu den Fahrstühlen und wir fuhren zu den Penthousesuiten hoch.
Die oberen Stockwerke waren vollständig von Halbgöttern belegt. Camper und Jägerinnen waren auf den Sofas eingeschlafen, wuschen sich in den Badezimmern, zerrissen Seidenvorhänge, um ihre Wunden zu verbinden, und stopften sich mit Snacks und Limo aus der Minibar voll. Zwei Grauwölfe tranken aus den Toiletten. Ich war erleichtert, zu sehen, dass so viele von meinen Freunden die Nacht überlebt hatten, aber alle wirkten total erschlagen.
»Percy!« Jake Mason klopfte mir auf die Schulter. »Wir haben Berichte über …«
»Später«, sagte ich. »Wo ist Annabeth?«
»Auf der Terrasse. Sie lebt noch, Mann, aber …«
Ich schob mich an ihm vorbei.
Unter anderen Umständen wäre ich von dem Ausblick der Terrasse begeistert gewesen. Ich schaute genau auf den Central Park hinab. Es war ein klarer, sonniger Morgen, perfekt für ein Picknick oder einen Spaziergang oder eigentlich für so gut wie alles, außer gegen Monster zu kämpfen.
Annabeth lag in einem Ruhesessel. Ihr Gesicht war bleich und schweißüberströmt. Obwohl sie in mehrere Decken gehüllt war, zitterte sie. Silena Beauregard tupfte ihre Stirn mit einem feuchten Lappen ab.
Will und ich drängten uns durch die Athene-Leute. Will wickelte Annabeths Verbände ab, um sich die Wunde anzusehen, und ich wäre gern in Ohnmacht gefallen. Es blutete nicht mehr, aber der Schnitt sah tief aus. Die Haut an den Wundrändern hatte einen grauenhaften Grünton angenommen.
»Annabeth …«, würgte ich hervor. Sie hatte für mich das Messer abgefangen. Wie hatte ich das zulassen können?
»Gift am Dolch«, murmelte sie. »Ganz schön blöd von mir, was?«
Will Solace atmete erleichtert auf. »Das ist nicht so schlimm, Annabeth. Noch ein paar Minuten, und wir hätten ziemliche Probleme gekriegt, aber das Gift ist noch nicht an deiner Schulter vorbei. Bleib einfach ganz still liegen. Hat irgendwer ein wenig Nektar für mich?«
Ich griff nach einer Feldflasche. Will reinigte die Wunde mit dem Göttertrank, während ich Annabeths Hand hielt.
»Au«, sagte sie. »Au, au!« Sie packte meine Finger so fest, dass sie sich lila färbten, aber sie hielt still, wie Will gesagt hatte. Silena murmelte Ermutigungen. Will strich eine silberne Paste auf die Wunde und summte auf Altgriechisch vor sich hin – eine Hymne an Apollo. Dann legte er einen frischen Verband auf und erhob sich mit wackeligen Beinen.
Die Heilung musste ihn sehr viel Energie gekostet haben. Er sah fast so blass aus wie Annabeth.
»Das müsste reichen«, sagte er. »Aber wir brauchen sterbliche Medikamente.«
Er nahm einen Bogen Hotelbriefpapier, kritzelte etwas darauf und reichte ihn einem der Athene-Jungs. »Auf der Fifth Avenue gibt es eine Apotheke. Ich würde ja eigentlich niemals stehlen …«
»Ich schon«, bot Travis an.
Will starrte ihn wütend an. »Leg Geld oder Drachmen hin, was immer du hast, aber das hier ist ein Notfall. Ich habe das Gefühl, dass wir bald noch viel mehr Leute behandeln müssen.«
Niemand widersprach. Es gab wohl kaum einen Halbgott hier, der nicht schon verwundet worden war – außer mir.
»Na los, Leute«, sagte Travis Stoll. »Gönnen wir Annabeth ein bisschen Ruhe. Wir haben Medikamente zu klauen … ich meine, zu kaufen.«
Die Halbgötter gingen zurück ins Haus. Jake Mason packte im Hinausgehen meine Schulter. »Wir reden nachher weiter, aber die Sache ist unter Kontrolle. Ich nehme Annabeths Schild, um ein Auge auf die Lage zu haben. Der Feind hat sich bei Sonnenaufgang zurückgezogen, keine Ahnung, warum. Wir haben an jeder Brücke und jedem Tunnel einen Späher postiert.«
»Danke, Mann«, sagte ich. Er nickte. »Lass dir nur Zeit.«
Er schloss die Terrassentüren hinter sich und Silena, Annabeth und ich waren allein.
Silena drückte Annabeth einen kühlen Lappen auf die Stirn. »Das ist alles meine Schuld.«
»Nein«, sagte Annabeth mit schwacher Stimme. »Silena, wieso soll das deine Schuld sein?«
»Ich war nie gut in irgendwas«, murmelte Silena. »Nicht wie du oder Percy. Wenn ich eine bessere Kämpferin wäre …«
Ihre Lippen zitterten. Seit Beckendorfs Tod ging es ihr immer schlechter, und immer, wenn ich sie ansah, war ich wieder wütend über seinen Tod. Ihr Gesicht erinnerte mich an Glas, das jeden Moment zerbrechen könnte. Ich schwor mir, wenn ich je den Spion fände, der ihren Freund das Leben gekostet hatte, dann würde ich ihn Mrs O’Leary als Kauknochen schenken.
»Du bist großartig«, sagte ich zu Silena. »Du bist die beste Pegasusreiterin, die wir haben. Und du kommst gut mit Leuten zurecht. Glaub mir, wer sich mit Clarisse anfreunden kann, muss echt begabt sein.«
Sie starrte mich an, als ob ich sie auf eine Idee gebracht hätte. »Das ist es! Wir brauchen die Ares-Hütte. Ich rede mit Clarisse. Ich bin sicher, ich kann sie überreden, uns zu helfen!«
»Ich weiß nicht, Silena. Selbst, wenn du aus Manhattan rauskämst – Clarisse ist ganz schön stur. Wenn sie erst einmal sauer ist …«
»Bitte«, sagte Silena. »Ich kann einen Pegasus nehmen. Ich weiß, ich schaffe es zurück ins Lager. Lass es mich versuchen.«
Ich wechselte einen Blick mit Annabeth. Sie nickte kurz.
Mir gefiel diese Idee gar nicht. Ich glaubte nicht, dass Silena auch nur die geringste Chance hätte, Clarisse zum Kämpfen zu überreden. Andererseits war Silena im Moment so verwirrt, dass sie sich im Kampf nur in Gefahr bringen würde. Vielleicht würde es sie auf andere Gedanken bringen, wenn wir sie zurück ins Camp schickten.
»Na gut«, sagte ich zu ihr. »Ich kann mir keine Bessere vorstellen, um es zu versuchen.«
Silena fiel mir um den Hals. Dann wich sie verlegen zurück und starrte Annabeth an. »Äh, ’tschuldigung. Danke, Percy. Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Sobald sie fort war, kniete ich mich neben Annabeth und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war noch immer glühend heiß.
»Du bist süß, wenn du dir Sorgen machst«, murmelte sie. »Deine Augenbrauen ziehen sich total zusammen.«
»Du wirst auf keinen Fall sterben, solange ich dir einen Gefallen schulde«, sagte ich. »Warum hast du das Messer abgefangen?«
»Das hättest du für mich auch getan.«
Das stimmte. Und ich glaube, wir wussten das beide. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mir jemand einen kalten Metallstab ins Herz bohrte. »Woher hast du es gewusst?«
»Was denn gewusst?«
Ich schaute mich um, um sicherzugehen, dass wir allein waren. Dann beugte ich mich über sie und flüsterte: »Meine Achillesstelle. Wenn du das Messer nicht abgefangen hättest, dann wäre ich jetzt tot.«
Ihre Augen schienen in weite Ferne zu blicken. Ihr Atem roch nach Trauben, vielleicht vom Nektar. »Ich weiß nicht, Percy. Ich hatte einfach das Gefühl, dass du in Gefahr warst. Wo … wo ist diese Stelle?«
Eigentlich durfte ich das niemandem verraten. Aber das hier war Annabeth. Wenn ich ihr nicht vertrauen konnte, dann konnte ich niemandem vertrauen.
»Unten in meinem Kreuz.«
Sie hob die Hand. »Wo? Hier?«
Sie legte mir die Hand auf den Rücken und meine Haut prickelte. Sie ließ ihre Finger zu der Stelle wandern, die mich in meinem sterblichen Leben verwurzelte. Tausend Volt schienen durch meinen Leib zu jagen.
»Du hast mich gerettet«, sagte ich. »Danke.«
Sie nahm die Hand weg, aber ich hielt sie fest.
»Dann bist du mir also einen Gefallen schuldig«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Gibt es sonst noch was Neues?«
Wir sahen zu, wie über der Stadt die Sonne aufging. Es hätte jetzt dichter Verkehr herrschen müssen, aber kein Auto hupte, keine Menschenmengen eilten über die Bürgersteige.
In der Ferne hörte ich einen Autoalarm durch die Straßen hallen. Irgendwo über Harlem stieg eine schwarze Rauchsäule in den Himmel. Ich fragte mich, wie viele Herde wohl eingeschaltet gewesen waren, als Morpheus mit seinem Fluch zugeschlagen hatte; wie viele Leute wohl beim Kochen eingeschlafen waren. Sehr bald würde es weitere Feuer geben. Alle in New York waren in Gefahr – und alle diese Leben waren auf uns angewiesen.
»Du hast mich gefragt, warum Hermes wütend auf mich ist«, sagte Annabeth.
»He, du brauchst Ruhe …«
»Nein, ich möchte es dir sagen. Es macht mir schon lange zu schaffen.« Sie bewegte ihre Schulter und ächzte. »Voriges Jahr hat Luke mich in San Francisco besucht.«
»Persönlich?« Ich hatte das Gefühl, als ob sie mich gerade mit einem Hammer getroffen hätte. »Er war bei dir zu Hause?«
»Das war, ehe wir ins Labyrinth gegangen sind, bevor …« Sie zögerte, aber ich wusste, was sie meinte: bevor er sich in Kronos verwandelt hat. »Er kam mit einer weißen Flagge. Er bat um nur fünf Minuten, um zu reden. Er sah verängstigt aus, Percy. Er sagte mir, Kronos wolle ihn benutzen, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Er sagte, er wolle weglaufen, wie in den alten Zeiten. Er wollte, dass ich mit ihm ging.«
»Aber du hattest kein Vertrauen zu ihm.«
»Natürlich nicht. Ich hielt das für einen Trick. Außerdem … na ja, seit den alten Zeiten hat sich ganz schön viel geändert. Ich sagte Luke, das sei unmöglich. Er war wütend. Er sagte … er sagte, dann könne ich genauso gut gleich mit ihm kämpfen, denn das sei meine letzte Chance.«
Wieder brach ihr auf der Stirn der Schweiß aus. Die Geschichte kostete sie zu viel Energie.
»Ist schon gut«, sagte ich. »Versuch jetzt, dich ein bisschen auszuruhen.«
»Du verstehst das nicht, Percy. Hermes hatte Recht. Wenn ich mit ihm gegangen wäre, hätte ich ihn vielleicht umstimmen können. Oder … oder … ich hatte ein Messer. Luke war unbewaffnet. Ich hätte …«
»Ihn umbringen können?«, fragte ich. »Du weißt, dass das nicht richtig gewesen wäre.«
Sie kniff die Augen zu. »Luke sagte, Kronos werde ihn als Sprungbrett benutzen. Genau so hat er es ausgedrückt. Kronos würde ihn benutzen und noch mächtiger werden.«
»Das hat er auch getan«, sagte ich. »Er hat Lukes Körper übernommen.«
»Aber was, wenn Lukes Körper nur ein Übergang ist? Was, wenn Kronos sogar noch mächtiger werden will? Ich hätte ihn aufhalten können. Ich bin schuld an diesem Krieg.«
Ich kam mir vor, als wäre ich wieder im Styx und löste mich langsam auf. Ich dachte an den vergangenen Sommer, als der zweiköpfige Gott Janus Annabeth geweissagt hatte, dass sie eine wichtige Entscheidung würde treffen müssen – und das war geschehen, nachdem Luke sie aufgesucht hatte. Auch Pan hatte etwas zu ihr gesagt: Du wirst eine wichtige Rolle spielen, auch wenn es vielleicht nicht die Rolle ist, die du dir vorgestellt hast.
Ich hätte sie gern nach der Vision gefragt, die Hestia mir gezeigt hatte, über ihre Zeit damals mit Luke und Thalia. Ich wusste, dass sie irgendwie mit meiner Weissagung zusammenhing, aber ich verstand nicht, wie.
Ehe ich den Mut dazu fassen konnte, wurde die Tür geöffnet und Connor Stoll trat auf die Terrasse.
»Percy.« Er schaute zu Annabeth hinüber, als wolle er vor ihr nichts Schlimmes sagen, und ich konnte ihm ansehen, dass er schlechte Nachrichten brachte.
»Mrs O’Leary ist gerade mit Grover zurückgekommen. Ich glaube, du solltest mit ihm reden.«
Grover nahm im Wohnzimmer einen Imbiss ein. Er war für die Schlacht gekleidet, in einen Brustpanzer aus Baumrinde und geflochtenen Zweigen, und seine Holzkeule und seine Rohrflöte hingen an seinem Gürtel.
Die Demeter-Hütte hatte in der Hotelküche ein richtiges Büfett zustande gebracht – alles von Pizza bis zu Ananaseis. Leider verzehrte Grover stattdessen die Möbel. Er hatte bereits das ganze Polster eines eleganten Sessels abgeknabbert und machte sich jetzt über die Armlehne her.
»Lass das, du Dussel«, sagte ich. »Wir haben dieses Zimmer nur geliehen.«
»Mä-hä-hä.« Sein ganzes Gesicht war voller Polsterkrümel. »Tut mir leid, Percy. Es ist nur … Louis-Seize-Möbel. Einfach köstlich. Und ich esse immer Möbel, wenn ich …«
»Wenn du nervös bist«, sagte ich. »Ja, weiß ich. Also, was ist los?«
Er ließ sich auf die Hufe fallen. »Ich habe das mit Annabeth gehört. Wird sie …?«
»Sie wird wieder gesund. Sie ruht sich nur noch aus.«
Grover holte tief Luft. »Das ist gut. Ich habe die meisten Naturgeister in der Stadt mobilisiert – na ja, zumindest die, die mir überhaupt zuhören.« Er rieb sich die Stirn. »Ich hatte keine Ahnung, dass Eicheln so wehtun. Jedenfalls helfen wir, so gut wir können.«
Er erzählte mir von den Scharmützeln, die sie erlebt hatten. Die meiste Zeit hatten sie sich im Norden der Stadt versteckt, wo wir nicht genug Halbgötter postiert hatten. An den seltsamsten Stellen waren Höllenhunde gesichtet worden, sie waren per Schattenreise hinter unseren Linien gelandet, und die Dryaden und Satyrn hatten sie vertrieben. Ein junger Drache war in Harlem aufgetaucht und ein Dutzend Waldnymphen war umgekommen, ehe das Monster endlich besiegt worden war.
Während Grover noch redete, kam Thalia mit zwei ihrer Adjutantinnen herein. Sie nickte mir düster zu, ging hinaus, um nach Annabeth zu sehen, und kam wieder herein. Sie hörte zu, während Grover seinen Bericht beendete – und die Einzelheiten wurden immer schlimmer.
»Wir haben zwanzig Satyrn verloren, als wir bei Fort Washington auf Riesen gestoßen sind«, sagte er mit zitternder Stimme. »Fast die Hälfte waren Verwandte von mir. Die Flussgeister haben die Riesen am Ende ertränkt, aber …«
Thalia schulterte ihren Bogen. »Percy, Kronos’ Truppen sammeln sich noch immer an allen Brücken und Tunneln. Und Kronos ist nicht der einzige Titan. Eine meiner Jägerinnen hat einen Riesen in goldener Rüstung gesehen, der auf dem Jersey-Ufer eine Armee antreten ließ. Ich bin nicht sicher, wer er ist, aber er strahlt eine Macht aus, wie es nur ein Titan oder Gott kann.«
Ich dachte an den goldenen Titanen aus meinem Traum – der Titan, der auf dem Berg Othrys in Flammen aufgegangen war.
»Spitze«, sagte ich. »Sonst noch gute Nachrichten?«
Thalia zuckte mit den Schultern. »Wir haben die U-Bahn-Tunnel nach Manhattan abgeriegelt. Meine besten Trapperinnen haben das übernommen. Offenbar wartet der Feind mit dem Angriff auf heute Nacht. Ich glaube, Luke …« Sie ertappte sich bei dem Versprecher. »Ich meine, Kronos braucht nach jedem Kampf Zeit zum Regenerieren. Er fühlt sich noch immer nicht so ganz wohl in seiner neuen Form. Es zehrt sehr an seiner Kraft, die Zeit hier in der Stadt zu verlangsamen.«
Grover nickte. »Außerdem sind die meisten von seinen Kämpfern nachts stärker. Nach Sonnenuntergang sind sie wieder da.«
Ich versuchte, klar zu denken. »Okay. Irgendwas Neues von den Göttern?«
Thalia schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Artemis wäre hier, wenn sie könnte. Und Athene ebenfalls. Aber Zeus hat ihnen befohlen, bei ihm zu bleiben. Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass Typhon das Flusstal von Ohio verwüstet. So gegen Mittag müsste er die Appalachen erreicht haben.«
»Dann bleiben uns bestenfalls zwei Tage, ehe er hier sein wird«, sagte ich.
James Mason räusperte sich. Er hatte so still dagestanden, dass ich seine Anwesenheit im Zimmer fast vergessen hatte.
»Percy, noch etwas«, sagte er. »Kronos ist auf der Williamsburg Bridge auftgetaucht, als ob er genau wüsste, dass du da sein würdest. Und er hat seine Truppen auf unsere schwächsten Punkte angesetzt. Sobald wir die verstärkt haben, hat er seine Taktik geändert. Er hat den Lincoln Tunnel, wo die Jägerinnen so zahlreich vertreten waren, kaum mehr beachtet. Er hat nur unsere schwächsten Stellen angegriffen, als ob er Bescheid wüsste.«
»Als ob er Insiderinfos hätte«, sagte ich. »Der Spion.«
»Was für ein Spion?«, wollte Thalia wissen.
Ich erzählte ihr von dem Silberanhänger, den Kronos mir gezeigt hatte, dem Kommunikationsgerät.
»Das ist übel«, sagte sie. »Sehr übel.«
»Es könnte jeder sein«, sagte Jake. »Wir waren alle dabei, als Percy die Befehle erteilt hat.«
»Aber was sollen wir machen?«, fragte Grover. »Jeden Halbgott filzen, bis wir den Sensenanhänger gefunden haben?«
Alle sahen mich an und warteten auf eine Entscheidung. Ich durfte ihnen meine Panik nicht zeigen, obwohl alles so hoffnungslos wirkte.
»Wir kämpfen weiter«, sagte ich. »Wir können uns nicht zu sehr mit diesem Spion aufhalten. Wenn wir uns gegenseitig misstrauen, zerfleischen wir uns nur. Ihr wart letzte Nacht umwerfend. Ich könnte mir keine tapferere Armee wünschen. Lasst uns einen Wachplan aufstellen und ruht euch aus, wann immer ihr könnt. Vor uns liegt eine lange Nacht.«
Die Halbgötter murmelten zustimmend. Sie verteilten sich in der Suite, um zu schlafen oder zu essen oder ihre Waffen zu reparieren.
»Percy, du auch«, sagte Thalia. »Wir behalten alles im Auge. Leg dich hin. Du musst heute Nacht gut in Form sein.«
Ich widersprach nicht allzu sehr, suchte mir das nächstgelegene Schlafzimmer und fiel in das Himmelbett. Ich dachte, ich wäre zu aufgedreht, um zu schlafen, aber mir fielen sofort die Augen zu.
In meinem Traum sah ich Nico di Angelo allein in den Gärten des Hades. Er hackte gerade ein Loch in eins von Persephones Blumenbeeten, und ich ging nicht davon aus, dass die Göttin sich darüber freuen würde.
Er goss einen Becher Wein ins Loch und stimmte einen Sprechgesang an: »Mögen die Toten wieder kosten. Mögen sie sich erheben und dieses Opfer annehmen. Maria di Angelo, zeige dich!«
Weißer Dampf stieg auf. Eine menschliche Gestalt nahm Form an, aber es war nicht Nicos Mutter. Es war ein Mädchen mit dunklen Haaren, olivbrauner Haut und der silberfarbenen Tracht einer Jägerin.
»Bianca«, sagte Nico. »Aber …«
Ruf unsere Mutter nicht herbei, Nico, mahnte sie. Sie ist der einzige Geist, den du nicht sehen darfst.
»Warum?«, fragte er. »Was hat unser Vater zu verbergen?«
Schmerz, sagte Bianca. Hass. Einen Fluch, der bis zur Großen Weissagung zurückreicht.
»Was soll das heißen?«, fragte Nico. »Ich muss es wissen.«
Das Wissen würde dir nur wehtun. Denk daran, was ich gesagt habe: Groll zu hegen ist ein großer Fehler für ein Kind des Hades.
»Das weiß ich«, sagte Nico. »Aber ich bin nicht mehr so wie früher, Bianca. Hör auf, mich zu beschützen!«
Bruder, du verstehst nicht …
Nico fuhr mit der Hand durch den Nebel und Biancas Bild löste sich auf.
»Maria di Angelo«, sagte er noch einmal. »Sprich zu mir!«
Ein anderes Bild nahm Gestalt an. Es war eine ganze Szene, kein einzelner Geist. Im Nebel sah ich Nico und Bianca als Kinder, wie sie in der Lobby eines eleganten Hotels spielten und einander um Marmorsäulen jagten.
Daneben saß auf einem Sofa eine Frau. Sie trug ein schwarzes Kleid, Handschuhe und einen schwarzen Hut mit einem Schleier, wie ein Star aus einem Film der vierziger Jahre. Sie hatte Biancas Lächeln und Nicos Augen.
Neben ihr in einem Sessel saß ein kräftiger Mann mit Pomade in den Haaren und einem schwarzen Nadelstreifenanzug. Ich erschrak, als ich Hades erkannte. Er beugte sich zu der Frau vor und gestikulierte mit den Händen, als ob er erregt sei.
»Bitte, meine Liebe«, sagte er. »Du musst unbedingt mit mir in die Unterwelt kommen. Es ist mir egal, was Persephone sagt. Dort kann ich für deine Sicherheit sorgen!«
»Nein, mein Liebster.« Sie sprach mit italienischem Akzent. »Unsere Kinder im Land der Toten aufziehen? Das will ich nicht.«
»Maria, hör mir zu. Der Krieg in Europa hat die anderen Götter gegen mich aufgebracht. Es gibt eine neue Weissagung. Meine Kinder sind nicht mehr sicher. Poseidon und Zeus haben mir ein Abkommen aufgezwungen. Keiner von uns darf je wieder ein Halbgottkind haben.«
»Aber Nico und Bianca sind doch schon da. Bestimmt …«
»Nein! Die Weissagung warnt vor einem Kind, das sechzehn wird. Zeus hat verfügt, dass die Kinder, die ich bereits habe, zur angemessenen Ausbildung ins Camp Half-Blood gebracht werden müssen, aber ich weiß, was er vorhat. Bestenfalls werden sie dort überwacht, eingesperrt, gegen ihren Vater aufgestachelt. Aber wahrscheinlicher ist, dass er kein Risiko eingeht. Er wird nicht zulassen, dass meine Kinder sechzehn werden. Er wird eine Möglichkeit finden, sie zu vernichten, und das will ich nicht riskieren.«
»Certamente«, sagte Maria. »Wir bleiben zusammen. Zeus ist un imbecile.«
Ich musste ihren Mut einfach bewundern, Hades dagegen schaute nervös zur Decke hoch. »Maria, bitte. Ich habe dir doch gesagt, dass Zeus mir bis zur letzten Woche Zeit gelassen hatte, die Kinder auszuhändigen. Sein Zorn wird entsetzlich sein, und ich kann euch nicht für immer verstecken. Solange du bei den Kindern bist, schwebst auch du in Gefahr.«
Maria lächelte und wieder fand ich die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter unheimlich. »Du bist ein Gott, mein Liebster. Du wirst uns beschützen. Aber ich werde nicht mit Nico und Bianca in die Unterwelt gehen.«
Hades rang die Hände. »Es gibt noch eine Möglichkeit. Ich kenne einen Ort in der Wüste, wo die Zeit stillsteht. Ich könnte die Kinder dorthin schicken, nur für einige Zeit, zur ihrer eigenen Sicherheit, und wir könnten zusammenbleiben. Ich kann dir am Styx einen goldenen Palast bauen.«
Maria di Angelo lachte leise. »Du bist ein guter Mann, mein Liebster. Ein großzügiger Mann. Die anderen Götter sollten dich so kennen, wie ich dich kenne, dann würden sie dich nicht mehr so fürchten. Aber Nico und Bianca brauchen ihre Mutter. Und sie sind doch nur Kinder. Die Götter würden ihnen schon nichts Böses tun.«
»Du kennst meine Familie nicht«, sagte Hades düster. »Bitte, Maria. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«
Sie berührte seine Lippen mit den Fingern. »Du wirst mich nicht verlieren. Warte hier, ich hole nur schnell meine Handtasche. Pass auf die Kinder auf.«
Sie küsste den Herrn der Toten und stand vom Sofa auf. Hades sah zu, wie sie die Treppe hochging, und jeder ihrer Schritte schien ihm wehzutun.
Gleich darauf erstarrte er. Die Kinder hörten auf zu spielen, als ob auch sie etwas gespürt hätten.
»Nein!«, sagte Hades. Aber sogar seine göttlichen Kräfte waren zu langsam. Er konnte gerade noch eine Wand aus schwarzer Energie um die Kinder errichten, dann flog das Hotel auch schon in die Luft.
Die Explosion hatte eine solche Wucht, dass das Nebelbild sich auflöste. Als ich wieder klar sehen konnte, kniete Hades in den Trümmern und hielt die verstümmelte Maria di Angelo in den Armen. Noch immer loderten überall um ihn herum die Feuer. Blitze jagten über den Himmel und der Donner grollte.
Der kleine Nico und die kleine Bianca starrten ihre Mutter fassungslos an. Hinter ihnen tauchte die Furie Alekto auf, sie zischte und schlug mit ihren Lederflügeln. Die Kinder schienen sie nicht zu bemerken.
»Zeus!« Hades drohte dem Himmel mit der Faust. »Dafür werde ich dich zerschmettern! Ich werde sie zurückholen!«
»Hoher Herr, das könnt Ihr nicht«, warnte Alekto. »Gerade Ihr unter allen Unsterblichen müsst die Gesetze des Todes achten!«
Hades glühte vor Zorn. Ich glaubte schon, er würde seine wahre Gestalt annehmen und seine eigenen Kinder zu Staub zerfallen lassen, aber in letzter Sekunde schien er sich wieder unter Kontrolle zu haben.
»Nimm sie mit«, sagte er zu Alekto und unterdrückte ein Schluchzen. »Spüle ihnen im Lethe ihre Erinnerungen ab und bring sie ins Lotos Hotel. Da wird Zeus ihnen nichts tun.«
»Wie Ihr wollt, Herr«, sagte Alekto. »Und der Körper der Dame?«
»Nimm sie ebenfalls mit«, sagt er bitter. »Vollziehe an ihr die uralten Riten.«
Alekto, die Kinder und Marias Leichnam lösten sich in Schatten auf und Hades stand allein zwischen den Trümmern.
»Ich hatte dich ja gewarnt«, sagte eine Stimme.
Hades fuhr herum. Ein Mädchen in einem knallbunten Kleid stand neben den rauchenden Überresten des Sofas. Sie hatte kurze schwarze Haare und traurige Augen und sie war höchstens zwölf Jahre alt. Ich kannte sie nicht, aber sie wirkte auf seltsame Weise vertraut.
»Du traust dich hierher?«, knurrte Hades. »Ich sollte dich zu Staub zerfallen lassen.«
»Das kannst du nicht«, sagte das Mädchen. »Die Macht von Delphi schützt mich.«
Mir lief ein Schauer über den Rücken, als mir aufging, dass sie das Orakel von Delphi war, lebendig und jung. Sie so zu sehen war irgendwie noch unheimlicher, als sie als Mumie vor mir zu haben.
»Du hast die Frau umgebracht, die ich liebe!«, brüllte Hades. »Deine Weissagung ist schuld!«
Er ragte hoch über dem Mädchen auf, aber sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Zeus hat die Explosion angeordnet, um die Kinder zu vernichten«, sagte er. »Weil du seinem Willen getrotzt hast. Ich hatte nichts damit zu tun. Und ich hatte dir geraten, sie rechtzeitig zu verstecken.«
»Das konnte ich nicht. Maria hat es nicht zugelassen! Außerdem sind sie unschuldig.«
»Aber sie sind deine Kinder und damit gefährlich. Wenn du sie im Lotos Hotel versteckst, verschiebst du das Problem damit nur. Nico und Bianca werden nie in die Welt zurückkehren können, denn dann könnten sie ja sechzehn werden.«
»Wegen deiner sogenannten Großen Weissagung. Und du hast mir den Eid aufgezwungen, keine weiteren Kinder mehr zu haben. Jetzt habe ich nichts!«
»Ich sehe die Zukunft nur voraus«, sagte das Mädchen. »Ich kann sie nicht ändern.«
Schwarzes Feuer loderte in den Augen des Gottes auf und ich wusste, dass etwas Schlimmes bevorstand. Ich wollte dem Mädchen zuschreien, sie solle in Deckung gehen oder fliehen.
»Dann, Orakel, höre die Worte des Hades«, knurrte er. »Vielleicht kann ich Maria nicht zurückbringen. Und ich kann dir auch keinen frühen Tod bescheren. Aber deine Seele ist sterblich und ich kann dich verfluchen.«
Die Augen des Mädchens weiteten sich. »Du würdest doch nicht …«
»Ich schwöre«, sagte Hades. »Solange meine Kinder ausgestoßen sind und solange ich unter dem Fluch deiner Großen Weissagung leide, wird das Orakel von Delphi kein anderes sterbliches Medium finden. Du wirst niemals in Frieden ruhen. Keine andere wird deinen Platz einnehmen. Dein Leib wird verwelken und sterben, und noch immer wird der Geist des Orakels in dir eingeschlossen sein. Du wirst deine bitteren Weissagungen machen, bis du zu nichts zerfällst. Das Orakel wird mit dir vergehen!«
Das Mädchen schrie auf und das Nebelbild wurde in Fetzen gerissen. Nico fiel in Persephones Garten auf die Knie und sein Gesicht war weiß vor Schreck. Vor ihm stand der echte Hades, er ragte in seinen schwarzen Gewändern hoch über Nico auf und starrte wütend auf seinen Sohn herunter.
»Und was genau«, fragte er, »sollte das hier werden?«
Eine schwarze Explosion füllte meinen Traum. Dann wechselte das Bild.
Rachel Elizabeth Dare ging einen weißen Sandstrand entlang. Sie trug einen Badeanzug und hatte sich ein T-Shirt um die Taille gebunden. Ihre Schultern und ihr Gesicht waren von der Sonne verbrannt.
Sie kniete sich hin und fing an, mit ihrem Finger in der Brandung zu schreiben. Ich versuchte, die Buchstaben zu erkennen. Ich dachte, meine Legasthenie mache sich mal wieder bemerkbar, bis mir aufging, dass sie Altgriechisch schrieb.
Das war unmöglich. Der Traum konnte nicht echt sein.
Rachel hörte nach wenigen Wörtern auf zu schreiben und murmelte: »Was um alles in der Welt …?« Ich kann Griechisch lesen, aber ich konnte nur ein Wort erkennen, ehe das Meer alles wegspülte: Περσεύς. Das war mein Name: Perseus.
Rachel sprang auf und wich vor der Brandung zurück.
»Oh, Götter«, sagte sie. »Das bedeutete es also.«
Sie sprintete los und wirbelte mit jedem Schritt Sand auf, als sie zur Villa ihrer Familie zurückrannte.
Keuchend stürzte sie die Verandatreppe hoch. Ihr Vater schaute von seinem Wall Street Journal auf.
»Dad.« Rachel marschierte auf ihn zu. »Wir müssen zurück.«
Der Mund ihres Dads zuckte, als versuchte er sich zu erinnern, wie lächeln geht. »Zurück? Wir sind doch gerade erst angekommen.«
»In New York gibt es Ärger. Percy ist in Gefahr.«
»Hat er dich angerufen?«
»Nein … das nicht direkt. Ich weiß es einfach. Ich habe es im Gefühl.«
Mr Dare faltete seine Zeitung zusammen. »Deine Mutter und ich haben uns sehr lange auf diesen Urlaub gefreut.«
»Nein, habt ihr nicht! Ihr hasst den Strand beide! Ihr seid nur zu starrköpfig, um das zuzugeben.«
»Bitte, Rachel …«
»Ich sage dir, in New York stimmt etwas nicht! Die ganze Stadt … ich weiß nicht genau, was los ist, aber die Stadt wird angegriffen.«
Ihr Vater seufzte. »Ich glaube, das hätten sie ja wohl in den Nachrichten gebracht.«
»Nein«, widersprach Rachel. »Nicht diese Art von Angriff. Hat irgendwer angerufen, seit wir hergekommen sind?«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Nein … aber es ist Wochenende und mitten im Sommer.«
»Du kriegst immer Anrufe«, sagte Rachel. »Du musst schon zugeben, dass das seltsam ist.«
Ihr Vater zögerte. »Wir können nicht einfach abreisen. Wir haben sehr viel Geld für den Urlaub ausgegeben.«
»Hör mal«, sagte Rachel. »Daddy … Percy braucht mich. Ich muss ihm eine Nachricht überbringen. Es geht um Leben und Tod.«
»Was für eine Nachricht? Wovon redest du da eigentlich?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Dann musst du hierbleiben.«
Rachel schloss die Augen, als ob sie all ihren Mut zusammennahm. »Dad … lass mich hinfahren und ich schlage dir ein Geschäft vor.«
Mr Dare beugte sich vor. Mit Geschäften kannte er sich aus. »Ich bin ganz Ohr.«
»Die Clarion Ladies Academy. Ich … ich werde im Herbst hingehen. Ich werde mich nicht einmal mehr darüber beschweren. Aber du musst mich jetzt sofort nach New York zurückschaffen.«
Er schwieg sehr lange. Dann klappte er sein Telefon auf und gab eine Nummer ein. »Douglas? Machen Sie das Flugzeug bereit. Wir müssen nach New York. Ja … sofort.«
Rachel schlug die Arme um ihn und ihr Vater schien überrascht, als ob sie ihn noch nie umarmt hätte.
Er lächelte, aber seine Miene blieb kühl. Er musterte sie, als ob er nicht seine Tochter sähe, sondern nur die junge Dame, die er sich wünschte, wenn die Clarion Academy erst mit ihr fertig wäre.
»Abgemacht, Rachel«, sagte er zustimmend. »Dir wird nichts anderes übrig bleiben.«
Die Szene verblasste. Im Schlaf murmelte ich: »Rachel, nein!«
Ich warf mich noch immer von einer Seite auf die andere, als Thalia mich wach schüttelte.
»Percy«, sagte sie. »Komm jetzt. Es ist später Nachmittag. Wir haben Besuch.«
Ich setzte mich verwirrt auf. Das Bett war zu gemütlich und ich hasste es, am helllichten Tag zu schlafen.
»Besuch?«, fragte ich.
Thalia nickte düster. »Ein Titan möchte dich sprechen, als Unterhändler. Er bringt eine Nachricht von Kronos.«
Ein Titan bringt mir ein Geschenk
Wir konnten die weiße Fahne schon von weitem sehen. Sie war groß wie ein Fußballplatz und wurde von einem zehn Meter großen Riesen mit hellblauer Haut und eisgrauen Haaren getragen.
»Ein Hyperboreer«, sagte Thalia. »Ein Riese des Nordens. Es ist ein schlechtes Zeichen, dass sie zu Kronos halten. Sonst sind sie eher friedlich.«
»Du bist ihnen schon begegnet?«
»Mmm. Sie haben eine große Kolonie in Alberta. Mit diesen Typen solltest du lieber keine Schneeballschlacht machen.«
Als der Riese näher kam, konnte ich drei menschengroße Begleiter erkennen: ein Halbblut in Rüstung, eine Empusa mit schwarzem Kleid und flammenden Haaren und einen hochgewachsenen Mann in einem Smoking. Die Empusa hatte sich bei dem Smokingtypen eingehakt und sie sahen aus wie ein Paar, das zu einer Vorstellung am Broadway unterwegs ist oder so – abgesehen von ihren flammenden Haaren und den Klauen.
Die vier kamen gemächlich auf den Spielplatz am Rande des Central Park zu. Die Schaukeln und die Ballplätze waren leer. Nur der Springbrunnen am Umpire Rock war zu hören.
Ich nickte Grover zu. »Der Typ im Smoking ist der Titan?«
Er nickte nervös. »Er sieht aus wie ein Zauberer. Ich hasse Zauberer. Meistens haben die Kaninchen bei sich.«
Ich starrte ihn an. »Du hast Schiss vor Kaninchen?«
»Mäh-hä-hä! Die sind furchtbar gemein. Immer klauen sie wehrlosen Satyrn ihren Sellerie.«
Thalia hüstelte.
»Was ist los?«, fragte Grover.
»Um deine Kaninchenphobie kümmern wir uns später«, sagte ich. »Sie sind da.«
Der Mann im Smoking trat vor. Er war größer als die meisten Menschen – an die zwei Meter. Seine schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine dunkle Sonnenbrille bedeckte seine Augen, aber das Auffälligste an ihm war die Haut in seinem Gesicht. Sie war vollkommen zerkratzt, als ob er von einem kleinen Tier angegriffen worden wäre, einem wirklich stocksauren Hamster vielleicht.
»Percy Jackson«, sagte er mit honigsüßer Stimme. »Es ist mir eine große Ehre.«
Seine Freundin, die Empusa, fauchte mich an. Sie hatte sicher gehört, dass ich im vergangenen Sommer zwei ihrer Schwestern vernichtet hatte.
»Meine Liebe«, sagte Herr Smoking zu ihr. »Mach es dir doch kurz da drüben gemütlich, ja?«
Sie ließ seinen Arm los und schwebte zu einer Parkbank hinüber.
Ich warf einen Blick auf den bewaffneten Halbgott hinter dem Smokingtypen. Ich hatte ihn mit seinem neuen Helm nicht erkannt, aber es war mein alter Kumpel Ethan Nakamura, der Verräter. Seine Nase sah nach unserem Kampf auf der Williamsburg Bridge aus wie eine zermatschte Tomate. Das besserte meine Stimmung.
»Hallo, Ethan«, sagte ich. »Gut siehst du aus.«
Ethan starrte mich wütend an.
»Kommen wir zur Sache.« Der Smokingtyp streckte die Hand aus. »Ich bin Prometheus.«
Ich war zu überrascht, um ihm die Hand zu schütteln. »Der Feuerklauer? Der Typ, der an den Felsen gekettet war, mit den Geiern?«
Prometheus schnitt eine Grimasse. Er berührte die Schrammen in seinem Gesicht. »Bitte, erwähne die Geier nicht. Aber es stimmt, ich habe den Göttern das Feuer gestohlen und es deinen Vorfahren gegeben. Im Gegenzug ließ der allgütige Zeus mich an einen Felsen schmieden und in alle Ewigkeit foltern.«
»Aber …«
»Wie ich befreit worden bin? Das hat Herkules erledigt, schon vor Äonen. Du siehst also, warum ich eine Schwäche für Helden habe. Einige von euch können durchaus zivilisiert sein.«
»Anders als deine derzeitige Gesellschaft«, sagte ich.
Ich sah Ethan an, aber Prometheus glaubte offenbar, ich hätte die Empusa gemeint.
»Ach, Dämonen sind gar nicht so schlimm«, sagte er. »Sie dürfen nur keinen Hunger bekommen. Aber jetzt, Percy Jackson, wollen wir verhandeln.«
Er winkte mich zu einem Picknicktisch und wir nahmen Platz. Thalia und Grover standen hinter mir.
Der blaue Riese lehnte seine weiße Fahne gegen einen Baum und begann halbherzig, den Spielplatz zu erkunden. Er trat auf das Klettergestell und zerbrach die Stangen, aber er schien nicht wütend zu sein. Er runzelte nur die Stirn und sagte: »Oha.« Dann trat er in den Springbrunnen und zerbrach das Betonbecken. »Oha.« Das Wasser gefror, wo sein Fuß es berührte. Allerlei ausgestopfte Tiere hingen an seinem Gürtel – so riesige, wie man sie an Schießbuden gewinnen kann. Er erinnerte mich an Tyson, und die Vorstellung, gegen ihn kämpfen zu müssen, machte mich traurig.
Prometheus beugte sich vor und faltete die Hände. Er sah ernst, gütig und weise drein. »Percy, deine Position ist geschwächt. Noch einem Angriff kannst du nicht standhalten, das weißt du.«
»Das werden wir ja sehen.«
Prometheus sah gequält aus, als ob ihm mein Schicksal wirklich wichtig wäre. »Percy, ich bin der Titan der Voraussicht. Ich weiß, was passieren wird.«
»Und außerdem der Titan des listigen Ratschlags«, warf Grover ein. »Betonung auf listig.«
Prometheus zuckte mit den Schultern. »Wohl wahr, Satyr. Aber ich habe im letzten Krieg zu den Göttern gehalten. Ich habe zu Kronos gesagt: Du hast nicht die Kraft. Du wirst verlieren. Und ich hatte Recht. Du siehst also, ich suche mir immer den Sieger aus. Und diesmal unterstütze ich Kronos.«
»Weil Zeus dich an einen Felsen geschmiedet hat«, sagte ich.
»Zum Teil, ja. Ich will Rache, das streite ich gar nicht ab. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich zu Kronos halte. Es ist die klügere Wahl. Ich bin hier, weil ich dachte, dass du der Vernunft vielleicht zugänglich bist.«
Er zeichnete mit dem Finger eine Karte auf den Tisch. Dort, wo er den Beton berührte, tauchten goldene Linien auf und leuchteten. »Das hier ist Manhattan. Wir haben hier, hier, hier und hier Armeen stehen. Wir wissen, wie viele ihr seid. Wir sind zwanzigmal mehr.«
»Euer Spion hält euch auf dem Laufenden«, sagte ich.
Prometheus lächelte verlegen. »Jedenfalls werden unsere Truppen jeden Tag mehr. Heute Nacht wird Kronos angreifen. Ihr werdet überwältigt werden. Ihr habt tapfer gekämpft, aber ganz Manhattan könnt ihr einfach nicht halten. Ihr werdet euch ins Empire State Building zurückziehen müssen. Dort werdet ihr vernichtet. Ich habe es gesehen. Es wird wirklich passieren.«
Ich dachte an das Bild, das Rachel in meinem Traum gezeichnet hatte – eine Armee unten vor dem Empire State Building. Ich erinnerte mich an die Worte des jungen Orakels in meinem Traum: Ich sehe die Zukunft nur voraus. Ich kann sie nicht ändern. Prometheus hörte sich dermaßen überzeugend an, dass es schwer war, ihm nicht zu glauben.
»Das werde ich nicht zulassen«, sagte ich.
Prometheus wischte sich einen Fussel von seinem Smoking. »Mach dir eins klar, Percy. Du kämpfst hier noch einmal den Trojanischen Krieg. In der Geschichte wiederholen sich die Muster. Sie tauchen wieder auf, genau wie Monster. Eine große Belagerung. Zwei Armeen. Der einzige Unterschied ist, dass ihr diesmal die Verteidiger seid. Ihr seid Troja. Und du weißt, wie es den Trojanern ergangen ist, oder?«
»Ihr wollt also ein hölzernes Pferd in den Fahrstuhl des Empire State Building quetschen?«, fragte ich. »Viel Glück.«
Prometheus lächelte. »Troja wurde vollständig zerstört, Percy. Das willst du hier doch nicht erleben. Ergebt euch, und New York wird verschont werden. Deinen Leuten wird Amnestie gewährt. Ich garantiere persönlich für deine Sicherheit. Soll Kronos doch den Olymp einnehmen. Wen interessiert das schon? Typhon wird die Götter sowieso vernichten.«
»Klar, sicher«, sagte ich. »Und ich soll glauben, dass Kronos die Stadt verschonen würde.«
»Er will nur den Olymp«, beteuerte Prometheus. »Die Macht der Götter ist an ihre Thronsitze gebunden. Du hast ja gesehen, was aus Poseidon geworden ist, als sein Unterseepalast angegriffen wurde.«
Mein Magen zog sich zusammen, als ich daran dachte, wie alt und hinfällig mein Vater ausgesehen hatte.
»Ja«, sagte Prometheus traurig. »Ich weiß, das war hart für dich. Wenn Kronos den Olymp zerstört, dann werden die Götter dahinwelken. Sie werden so schwach werden, dass sie leicht zu schlagen sind. Kronos würde das lieber erledigen, während Typhon die Olympier im Westen ablenkt. Ist viel leichter. Weniger Tote. Aber mach dir nichts vor, du kannst uns bestenfalls ein wenig aufhalten. Übermorgen wird Typhon in New York eintreffen, und du wirst nicht die geringste Chance haben. Spätestens dann werden die Götter und der Olymp vernichtet werden, aber es wird viel unappetitlicher sein. Und viel, viel schlimmer für dich und deine Stadt. Und egal wie, am Ende werden die Titanen herrschen.«
Thalia schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich diene Artemis. Die Jägerinnen werden bis zum letzten Atemzug kämpfen. Percy, du nimmst diesen Schleimer doch wohl nicht ernst, oder?«
Ich dachte, Prometheus würde sich auf sie stürzen, aber er lächelte nur. »Dein Mut ehrt dich, Thalia Grace.«
Thalia erstarrte. »Das ist der Nachname meiner Mutter. Ich benutze ihn nicht.«
»Wie du willst«, sagte Prometheus lässig, aber ich konnte sehen, dass er sie getroffen hatte. Ich hatte noch nie Thalias Nachnamen gehört. Irgendwie ließ sie das fast normal wirken. Weniger geheimnisvoll und mächtig.
»Jedenfalls«, sagte der Titan, »müssen wir keine Feinde sein. Ich habe der Menschheit immer schon geholfen.«
»Das ist doch nichts als Minotaurusdung«, sagte Thalia. »Als die Menschheit den Göttern die ersten Opfer gebracht hat, hast du sie dazu überredet, dir den größten Teil zu geben. Du hast uns das Feuer gebracht, um den Göttern eins auszuwischen, und nicht, weil wir dir wichtig waren.«
Prometheus schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht. Ich habe geholfen, euer Wesen zu formen.«
Ein zappelnder Tonklumpen tauchte in seinen Händen auf. Er knetete daraus ein Männlein mit Beinen und Armen. Das Männlein hatte keine Augen, kroch aber auf dem Tisch herum und stolperte über Prometheus’ Finger. »Ich flüstere den Menschen auch seit Anbeginn eurer Existenz ins Ohr. Ich stehe für eure Neugier, euren Entdeckergeist, euren Erfindungsreichtum. Hilf mir, euch zu retten, Percy. Tu es, und ich werde der Menschheit ein neues Geschenk machen. Eine neue Offenbarung, die euch so weit voranbringen wird wie damals das Feuer. Einen solchen Fortschritt könnt ihr mit den Göttern nicht machen. Sie würden es niemals erlauben. Das hier könnte für euch ein neues Goldenes Zeitalter werden. Oder …« Er ballte die Faust und zermatschte den Tonmann zu einem Pfannkuchen.
Der blaue Riese knurrte: »Oha.« Auf der Parkbank bleckte die Empusa ihre Hauzähne zu einem Lächeln.
»Percy, du weißt, dass die Titanen und ihre Nachkommen nicht alle schlecht sind«, sagte Prometheus. »Du hast Kalypso kennengelernt.«
Mein Gesicht glühte. »Das ist etwas anderes.«
»Wieso? Wie ich hatte sie nichts verbrochen, und doch wurde sie für immer in die Verbannung geschickt, einfach, weil sie die Tochter des Atlas ist. Wir sind nicht deine Feinde. Lass es nicht zum Schlimmsten kommen«, bat er. »Wir bieten euch Frieden.«
Ich sah Ethan Nakamura an. »Du musst das hier doch schrecklich finden.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Wenn wir uns auf diesen Handel einlassen, dann kriegst du keine Rache. Du kannst uns nicht alle umbringen. Und das willst du doch, oder?«
Sein Auge loderte auf. »Ich will Respekt, Jackson, sonst nichts. Von den Göttern habe ich den nie bekommen. Und du willst, dass ich in euer blödes Camp komme und meine Zeit im Gedränge in der Hermes-Hütte vergeude, weil ich nicht wichtig bin. Nicht einmal anerkannt!«
Er hörte sich genau an wie Luke, als er vier Jahre zuvor versucht hatte, mich im Wald beim Camp umzubringen. Bei dieser Erinnerung tat meine Hand weh, dort, wo der Skorpion mich gestochen hatte.
»Deine Mom ist die Göttin der Rache«, sagte ich zu Ethan. »Und das sollten wir respektieren?«
»Nemesis steht für Gleichgewicht. Wenn jemand zu viel Glück hat, macht sie ihn eine Nummer kleiner.«
»Und deshalb hat sie dir das Auge genommen?«
»Das war Bezahlung«, knurrte er. »Im Gegenzug hat sie mir geschworen, dass ich eines Tages das Gleichgewicht der Macht ändern werde. Ich werde den zweitrangigen Göttern größere Achtung verschaffen. Ein Auge war da ein niedriger Preis.«
»Tolle Mom.«
»Immerhin hält sie Wort, anders als die Olympier. Sie bezahlt immer ihre Schulden – im Guten wie im Bösen.«
»Klar«, sagte ich. »Ich habe dir das Leben gerettet, und als Lohn dafür hast du Kronos bei der Auferstehung geholfen. Total gerecht.«
Ethan griff nach seinem Schwert, aber Prometheus hielt ihn zurück.
»Aber, aber«, sagte der Titan. »Wir sind in diplomatischer Mission hier.«
Prometheus musterte mich, wie im Versuch, meinen Zorn zu verstehen. Dann nickte er, als ob er soeben einen Gedanken aus meinem Gehirn gefischt hätte.
»Das, was mit Luke passiert ist, macht dir zu schaffen«, sagt er. »Hestia hat dir nicht die ganze Geschichte gezeigt. Wenn du mehr wüsstest …«
Der Titan streckte die Hand aus.
Thalia stieß einen Warnschrei aus, aber ehe ich reagieren konnte, berührte Prometheus’ Zeigefinger meine Stirn.
Plötzlich stand ich wieder in May Castellans Wohnzimmer. Kerzen flackerten auf dem Kaminsims und wurden von den Spiegeln an den Wänden reflektiert. Durch die Küchentür konnte ich Thalia am Tisch sitzen sehen, während Ms Castellan ihr das verletzte Bein verband. Die sieben Jahre alte Annabeth saß neben ihr und spielte mit einer kleinen Knautschmedusa.
Hermes und Luke standen im Wohnzimmer.
Das Gesicht des Gottes verschwamm im Kerzenlicht, als könne er sich nicht entscheiden, welche Form er ihm geben sollte. Er trug einen marineblauen Trainingsanzug und geflügelte Reeboks.
»Warum zeigst du dich gerade jetzt?«, wollte Luke wissen. Seine Schultern waren angespannt, als ob er mit einem Kampf rechnete. »In all den Jahren habe ich dich gerufen, habe gebetet, dass du auftauchen würdest, aber nichts ist passiert. Du hast mich bei ihr gelassen.« Er zeigte zur Küche hinüber, als könne er den Anblick seiner Mutter nicht ertragen und noch viel weniger ihren Namen aussprechen.
»Luke, du musst ihr Ehre erweisen«, mahnte Hermes. »Deine Mutter hat ihr Bestes getan. Und ich, ich durfte deinen Weg nicht beeinflussen. Die Kinder der Götter müssen ihren eigenen finden.«
»Es war also nur zu meinem Besten, dass ich auf der Straße aufgewachsen bin, mich selbst versorgen und gegen Monster kämpfen musste.«
»Du bist mein Sohn«, sagte Hermes. »Ich wusste, dass du die Fähigkeit dazu hattest. Ich bin als Baby aus meiner Wiege gekrochen und habe mich auf den Weg nach …«
»Ich bin aber kein Gott! Wenigstens einmal hättest du etwas sagen können. Du hättest mir helfen können, als …« Er holte zitternd Atem und wurde leiser, damit er in der Küche nicht zu hören war.
»Als sie einen ihrer Anfälle hatte und mich geschüttelt hat und schreckliche Dinge über mein Schicksal gesagt hat. Als ich mich im Schrank versteckt habe, damit sie mich nicht findet, mit diesen … diesen leuchtenden Augen. Hat es dich überhaupt interessiert, dass ich solche Angst hatte? Hast du überhaupt gewusst, dass ich weggelaufen bin?«
In der Küche plapperte Ms Castellan vor sich hin, schenkte für Thalia und Annabeth Kool-Aid ein und erzählte Geschichten über Luke als Baby. Thalia rieb sich nervös das verbundene Bein. Annabeth schaute ins Wohnzimmer und hielt für Luke ein verkokeltes Plätzchen hoch. Ihre Lippen formten die Frage: Können wir jetzt gehen?
»Luke, mir ist das alles sehr wichtig«, sagte Hermes langsam. »Aber Götter dürfen nicht direkt in sterbliche Angelegenheiten eingreifen. Das besagt eines unserer uralten Gesetze. Vor allem, wenn dein Schicksal …« Er verstummte. Er starrte die Kerzen an, als ob ihm etwas Unangenehmes eingefallen wäre.
»Was?«, fragte Luke. »Was ist mit meinem Schicksal?«
»Du hättest nicht zurückkommen dürfen«, murmelte Hermes. »Es ist für euch beide eine Qual. Aber ich sehe jetzt ein, dass du zu alt bist, um ohne Hilfe auf der Flucht zu sein. Ich werde mit Chiron im Camp Half-Blood sprechen und ihn bitten, dich von einem Satyrn holen zu lassen.«
»Wir kommen sehr gut ohne deine Hilfe zurecht«, knurrte Luke. »Und was wolltest du über mein Schicksal sagen?«
Die Flügel an Hermes’ Reeboks flatterten ruhelos. Er musterte seinen Sohn, als versuchte er, sich dessen Gesicht einzuprägen, und plötzlich durchflutete mich ein Gefühl von Kälte. Mir ging auf, dass Hermes wusste, was May Castellans Gemurmel zu bedeuten hatte. Keine Ahnung, wieso, aber als ich in sein Gesicht schaute, war ich mir sicher. Hermes wusste, was eines Tages mit Luke geschehen würde; dass er den Weg des Bösen einschlagen würde.
»Mein Sohn«, sagte er. »Ich bin der Gott der Reisenden, der Gott der Straßen. Wenn ich eins weiß, dann, dass du deinen eigenen Weg finden musst, auch wenn es mir das Herz zerreißt.«
»Du liebst mich nicht.«
»Ich schwöre … ich liebe dich. Geh ins Camp. Ich werde dafür sorgen, dass du bald einen Auftrag bekommst. Vielleicht kannst du die Hydra besiegen oder die Äpfel der Hesperiden holen. Du wirst die Chance haben, ein großer Held zu werden, ehe …«
»Ehe was?« Lukes Stimme zitterte jetzt. »Was hat meine Mom gesehen, dass sie so geworden ist? Was wird mir passieren? Wenn du mich liebst, dann sag es mir!«
Hermes verzog das Gesicht. »Ich kann nicht!«
»Dann ist es dir egal!«, schrie Luke.
In der Küche verstummte abrupt das Gespräch.
»Luke?«, rief May Castellan. »Bist du das? Geht es meinem Jungen gut?«
Luke drehte sich weg, um sein Gesicht zu verbergen, aber ich konnte die Tränen in seinen Augen sehen. »Mir geht’s gut. Ich habe eine neue Familie. Ich brauche euch beide nicht.«
»Ich bin dein Vater«, sagte Hermes bittend.
»Ein Vater sollte bei seinem Kind sein. Aber du bist mir nie auch nur begegnet. Thalia, Annabeth, kommt jetzt. Wir gehen!«
»Mein Junge, geh nicht!«, rief May Castellan ihm nach. »Das Essen ist fertig!«
Luke stürzte zur Tür hinaus. Thalia und Annabeth liefen hinterher. May Castellan wollte ihnen folgen, aber Hermes hielt sie zurück.
Als die Tür zuknallte, brach May in Hermes’ Armen zusammen und fing an zu zittern. Ihre Augen wurden groß, leuchteten grün und sie klammerte sich verzweifelt an Hermes’ Schultern.
»Mein Sohn«, schrie sie mit brüchiger Stimme. »Gefahr. Grauenhaftes Schicksal!«
»Ich weiß, meine Liebste«, sagte Hermes traurig. »Glaub mir, ich weiß.«
Das Bild verschwand. Prometheus nahm seine Hand von meiner Stirn.
»Percy?«, fragte Thalia. »Was … was war das?«
Ich merkte, dass ich in Schweiß gebadet war.
Prometheus nickte mitfühlend. »Schockierend, nicht wahr? Die Götter wissen, was passieren wird, unternehmen aber nichts, nicht einmal für ihre Kinder. Wie lange haben sie gebraucht, um dir deine Weissagung zu erzählen, Percy Jackson? Glaubst du nicht, dass dein Vater weiß, was dir widerfahren wird?«
Ich war zu betroffen, um zu antworten.
»Perrrcy«, sagt Grover warnend. »Er spielt mit deinen Gedanken. Er versucht, dich wütend zu machen.«
Grover konnte Gefühle lesen, also wusste er vermutlich, dass das Prometheus durchaus gelang.
»Gibst du wirklich deinem Freund Luke die Schuld?«, fragte mich der Titan. »Und was ist mit dir, Percy? Lässt du dich von deinem Schicksal bestimmen? Kronos macht dir ein viel besseres Angebot.«
Ich ballte die Fäuste. Sosehr ich auch verabscheute, was Prometheus mir gezeigt hatte – Kronos verabscheute ich noch viel mehr. »Ich mache dir meinerseits ein Angebot. Sag Kronos, er soll den Angriff abblasen, Luke Castellans Körper verlassen und sich in die Tiefen des Tartarus zurückziehen. Dann vernichte ich ihn vielleicht nicht.«
Die Empusa fauchte und aus ihren Haaren loderten neue Flammen auf. Prometheus aber seufzte nur.
»Falls du dir die Sache doch noch anders überlegst«, sagte er, »habe ich ein Geschenk für dich.«
Ein griechischer Krug tauchte auf dem Tisch auf. Er war etwas unter einen Meter hoch, hatte einen Durchmesser von dreißig Zentimetern und war mit schwarz-weißen geometrischen Mustern verziert. Der Tondeckel war mit Lederriemen befestigt.
Grover jammerte, als er ihn sah.
Thalia schnappte nach Luft. »Das ist doch nicht …«
»Doch«, sagte Prometheus. »Du hast ihn erkannt.«
Als ich den Krug ansah, hatte ich ein seltsames Gefühl von Furcht, aber ich hatte keine Ahnung, warum.
»Er hat meiner Schwägerin gehört«, erklärte Prometheus. »Pandora.«
Ich spürte einen Kloß im Hals. »Die mit der Büchse der Pandora?«
Prometheus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo das mit der Büchse herkommt. Es war niemals eine Büchse. Es war ein pithos, eine Art Einweckgefäß. Ich denke mal, das Einmachgefäß der Pandora klingt nicht ganz so toll, aber egal. Ja, sie hat diesen Krug geöffnet, und er enthielt die meisten der Dämonen, die die Menschheit bis jetzt verfolgen. Angst, Tod, Hunger, Krankheit.«
»Vergiss mich nicht«, schnurrte die Empusa.
»Allerdings«, gab Prometheus zu. »Die erste Empusa war ebenfalls in diesem Gefäß gefangen und wurde von Pandora freigelassen. Aber was ich seltsam an dieser Geschichte finde, ist, dass immer Pandora die Schuld gegeben wird. Sie wurde bestraft, weil sie neugierig war. Und die Götter wollen, dass ihr genau das für die Lehre aus der Geschichte haltet: Die Menschen sollen nichts erforschen. Sie sollen keine Fragen stellen. Sie sollen tun, was ihnen aufgetragen wird. Percy, dieses Gefäß war eine von Zeus und den anderen Göttern ersonnene Falle. Es war eine Rache an mir und meiner gesamten Familie – meinem armen schlichten Bruder Epimetheus und seiner Frau Pandora. Die Götter wussten, dass Pandora das Gefäß öffnen würde. Sie waren bereit, zusammen mit uns die gesamte Menschheit zu bestrafen.«
Ich dachte an meinen Traum von Hades und Maria di Angelo. Zeus hatte ein ganzes Hotel zerstört, um zwei kleine Halbgötter zu vernichten, einfach um seine Haut zu retten, weil er Angst vor einer Weissagung hatte. Er hatte eine unschuldige Frau getötet und deshalb sicher nicht schlechter geschlafen. Und Hades war auch nicht besser. Er hatte nicht genug Macht, um sich an Zeus zu rächen, deshalb hatte er das Orakel verflucht und ein junges Mädchen zu einem schrecklichen Schicksal verurteilt. Und Hermes … warum hatte er Luke im Stich gelassen? Warum hatte er ihn nicht wenigstens gewarnt oder versucht, ihn besser zu erziehen, damit er kein so böses Ende nehmen würde?
Vielleicht spielte Prometheus wirklich mit meinen Gedanken.
Aber was, wenn er Recht hat?, fragte ein Teil von mir. Wieso sollen die Götter eigentlich besser sein als die Titanen?
Prometheus klopfte auf den Deckel von Pandoras Krug. »Nur ein Geist blieb darin, als Pandora sie geöffnet hatte.«
»Hoffnung«, sagte ich.
Prometheus sah sehr zufrieden aus. »Sehr gut, Percy. Elpis, der Geist der Hoffnung, wollte die Menschheit nicht im Stich lassen. Hoffnung verschwindet nicht ohne Erlaubnis. Sie kann nur von einem Menschenkind freigelassen werden.«
Der Titan schob den Krug über den Tisch.
»Ich gebe ihn dir als Erinnerung daran, wie die Götter sind«, sagte er. »Behalte Elpis, wenn du willst. Aber wenn du beschließt, dass du genug Zerstörung gesehen hast, genug sinnloses Leid, dann mach das Gefäß auf. Lass Elpis frei. Gib die Hoffnung auf, und ich weiß, dass du dich ergibst. Ich verspreche, Kronos wird gnädig sein. Er wird die Überlebenden verschonen.«
Ich starrte den Krug an und hatte ein sehr schlechtes Gefühl. Bestimmt war Pandora ein schwerer Fall von ADHD gewesen, genau wie ich. Ich konnte nichts auf sich beruhen lassen. Ich mochte keine Versuchungen. Und was, wenn das hier meine Entscheidung war? Vielleicht ging es bei der Weissagung darum, ob ich diesen Krug geschlossen ließ oder ihn öffnete.
»Ich will dieses Ding nicht«, knurrte ich.
»Zu spät«, sagte Prometheus. »Das Geschenk ist bereits überreicht. Ich kann es nicht zurücknehmen.« Er erhob sich. Die Empusa glitt heran und schob ihren Arm in seinen.
»Morrain«, rief Prometheus dem blauen Riesen zu. »Wir gehen. Hol deine Fahne.«
»Oha«, sagte der Riese.
»Wir sehen uns bald wieder, Percy Jackson«, versprach Prometheus. »So oder so.«
Ethan Nakamura warf mir einen letzten hasserfüllten Blick zu. Dann machten die Vermittler kehrt und schlenderten durch den Central Park davon, als ob es ein ganz normaler Sonntagnachmittag wäre.
Schweine fliegen
Im Plaza zog Thalia mich beiseite. »Was hat Prometheus dir gezeigt?«
Widerstrebend erzählte ich ihr von der Vision von May Castellans Haus. Thalia rieb sich den Oberschenkel, als ob sie sich an eine alte Wunde erinnerte.
»Das war eine schlimme Nacht«, gab sie zu. »Annabeth war noch so klein. Ich glaube nicht, dass sie alles verstanden hat, was sie da sehen musste. Sie wusste nur, dass es schlimm für Luke war.«
Ich schaute aus den Hotelfenstern zum Central Park hinüber. Im Norden brannten kleine Feuer, ansonsten kam mir die Stadt unnatürlich friedlich vor. »Weißt du, was mit May Castellan los ist? Ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Thalia. »Ich habe sie nie bei so einer, äh, Episode erlebt, aber Luke hat mir von den glühenden Augen und ihren seltsamen Reden erzählt. Ich musste ihm versprechen, nie darüber zu reden. Wodurch das alles verursacht worden ist, weiß ich aber nicht. Und wenn Luke es gewusst hat, dann hat er es mir jedenfalls nie erzählt.«
»Hermes hat es gewusst«, sagte ich. »Irgendwie hat May Teile von Lukes Zukunft gesehen, und Hermes hat gewusst, was passieren würde – dass Luke sich in Kronos verwandelt.«
Thalia runzelte die Stirn. »Da kannst du nicht sicher sein. Vergiss nicht, dass Prometheus die Bilder manipuliert hat, er hat dir das Geschehene im schlechtestmöglichen Licht gezeigt. Hermes hat Luke wirklich geliebt. Das konnte ich ihm ganz einfach ansehen. Und Hermes war in jener Nacht dort, weil er nach May sehen wollte, sich um sie kümmern wollte. Er war nicht nur ein Versager.«
»Aber es ist trotzdem nicht richtig«, beharrte ich. »Luke war noch ein kleiner Junge. Hermes hat ihm nie geholfen, hat ihn nicht am Weglaufen gehindert.«
Thalia schulterte ihren Bogen. Wieder staunte ich darüber, wie viel stärker sie jetzt aussah, seit sie nicht mehr älter wurde. Man konnte sogar das silbrige Leuchten erahnen, das sie umgab – der Segen der Artemis.
»Percy«, sagte sie. »Du darfst kein Mitleid mit Luke haben. Wir haben alle unsere Probleme, das gilt für alle Halbgötter. Unsere Eltern sind fast nie da. Aber Luke hat sich für die falsche Seite entschieden. Niemand hat ihn dazu gezwungen. Im Gegenteil …«
Sie schaute sich im Hotelfoyer um, um sich davon zu überzeugen, dass wir allein waren. »Ich mache mir Sorgen um Annabeth. Wenn sie Luke im Kampf gegenübertreten muss, dann weiß ich nicht, wie sie das durchstehen soll. Sie hatte immer schon eine Schwäche für ihn.«
Mir stieg das Blut ins Gesicht. »Sie wird das schon schaffen.«
»Ich weiß nicht. Nach dieser Nacht damals, nachdem wir das Haus seiner Mom verlassen hatten – da war Luke nie wieder so wie vorher. Er war waghalsig und launisch, als ob er irgendwem etwas beweisen wollte. Als Grover uns gefunden hatte und uns ins Camp holen wollte … na ja, wir hatten auch deshalb so viel Ärger, weil Luke einfach nicht vorsichtig sein wollte. Er legte sich mit jedem Monster an, das uns über den Weg lief. Annabeth sah das nicht als Problem, Luke war ihr Held. Sie hatte nur begriffen, dass seine Eltern ihn traurig gemacht hatten, und sie wollte ihn beschützen. Das will sie noch immer. Was ich meine, ist … du darfst nicht in dieselbe Falle tappen. Luke ist zu Kronos übergelaufen. Wir können uns kein Mitleid leisten.«
Ich starrte hinaus auf die Feuer von Harlem und fragte mich, wie viele schlafende Sterbliche gerade wegen Lukes Entscheidung in Gefahr schwebten.
»Du hast Recht«, sagte ich.
Thalia streichelte meine Schulter. »Ich seh mal nach den Jägerinnen, dann schlafe ich noch ein wenig, ehe es Abend wird. Du solltest dich auch eine Runde hinhauen.«
»Das Letzte, was ich brauche, sind noch mehr Träume.«
»Ich weiß genau, was du meinst.« Ihre düstere Miene ließ mich überlegen, was sie wohl geträumt haben mochte. Das ist ein bekanntes Problem unter Halbgöttern – je gefährlicher die Situation ist, umso schlimmer und zahlreicher werden unsere Albträume. »Aber Percy, wir haben keine Ahnung, wann du die nächste Ruhepause einlegen kannst. Es wird eine lange Nacht werden – vielleicht unsere letzte.«
Der Gedanke gefiel mir nicht, aber ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich nickte müde und reichte ihr das Gefäß der Pandora. »Tu mir einen Gefallen. Schließ es im Hotelsafe ein, ja? Ich glaube, ich bin gegen den pithos allergisch.«
Thalia lächelte. »Gute Entscheidung.«
Ich suchte mir das nächstbeste Bett und war sofort eingeschlafen. Aber natürlich brachte der Schlaf nur weitere Albträume.
Ich sah den unterseeischen Palast meines Vaters. Die feindliche Armee war jetzt näher gerückt, sie lag nur wenige hundert Meter vor dem Palast in ihren Schützengräben. Die Festungsmauern waren restlos zerstört. Der Tempel, den mein Dad als Hauptquartier benutzt hatte, loderte in griechischem Feuer.
Ich sah die Waffenkammer vor mir, wo mein Bruder und einige andere Zyklopen gerade Mittagspause machten, sie aßen aus großen Gläsern extragrobe Erdnussbutter (fragt mich nicht, wie das unter Wasser schmeckt, ich will das gar nicht wissen). Ein bewaffneter Zyklop kam hereingetaumelt und brach auf dem Esstisch zusammen. Tyson kniete nieder, um ihm zu helfen, aber es war zu spät. Der Zyklop löste sich zu Meeresschlamm auf.
Feindliche Riesen rückten auf die Bresche vor und Tyson griff zur Keule des gefallenen Kriegers. Er schrie seinen Schmiedekollegen etwas zu – vermutlich: »Für Poseidon!« –, aber da er den Mund voller Erdnussbutter hatte, klang es wie »Fup teh bun!«. Seine Brüder packten Hammer und Meißel, brüllten »Auf die Nuss!« und stürzten hinter Tyson her in die Schlacht.
Dann wechselte das Bild. Ich war mit Ethan Nakamura im feindlichen Lager. Was ich dort sah, ließ mich zittern, einerseits, weil die Armee so riesig war, andererseits, weil ich wusste, wo wir uns befanden.
Wir waren in den Wäldern von New Jersey, auf einer holprigen Straße, an der heruntergekommene Läden und zerfetzte Plakatwände standen. Ein eingerissener Zaun hatte mal einen großen Hof voller Zementstatuen umgeben. Das Leuchtschild über dem Lagerhaus war schwer zu lesen, da darauf eine rote Kursivschrift flackerte, aber ich wusste, was darauf stand: TANTE EMS GARTENZWERG-EMPORIUM. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an diesen Ort gedacht. Er war eindeutig verlassen. Die Statuen waren zerbrochen und mit Graffiti besprüht. Ein Zementsatyr – Grovers Onkel Ferdinand – hatte einen Arm verloren. Das Dach war teilweise eingestürzt. Ein riesiges gelbes Plakat, das auf die Tür geklebt war, verkündete: WIRD ABGERISSEN!
Hunderte von Zelten und Feuern umgaben das Grundstück. Ich sah vor allem Monster, aber es gab auch einige menschliche Söldner in Tarnuniformen und Halbgötter in Rüstung. Ein lila-schwarzes Banner hing vom Emporium herab und wurde von zwei riesigen blauen Hyperboreern bewacht.
Ethan hockte am nächstgelegenen Lagerfeuer. Zwei andere Halbgötter saßen neben ihm und wetzten ihre Schwerter. Die Türen des Lagerhauses waren geöffnet und Prometheus kam heraus.
»Nakamura«, rief er. »Der Meister möchte dich sprechen.«
Ethan erhob sich mit besorgter Miene. »Stimmt was nicht?«
Prometheus lächelte. »Da musst du ihn schon selbst fragen.«
Einer der anderen Halbgötter kicherte. »War nett, dich gekannt zu haben.«
Ethan rückte seinen Schwertgürtel zurecht und ging ins Lagerhaus.
Abgesehen von dem Loch im Dach sah alles noch so aus wie in meiner Erinnerung. Statuen von verängstigten Menschen waren mitten im Schrei erstarrt. Neben der Bar waren vier Picknicktische beiseitegeschoben worden. Zwischen Getränkeautomat und Brezelwärmer stand ein goldener Thron. Darauf saß Kronos in lässiger Haltung, die Sense lag über seinem Schoß. Er trug Jeans und ein T-Shirt, und mit seinem grüblerischen Gesicht kam er mir fast menschlich vor – wie die jüngere Version des Luke, die ich in der Vision gesehen hatte, als er Hermes anflehte, ihm sein Schicksal zu verraten. Dann sah Luke Ethan und sein Gesicht verzerrte sich zu einem unmenschlichen Lächeln. Seine goldenen Augen glühten.
»Na, Nakamura? Was sagst du zu der diplomatischen Mission?«
Ethan zögerte. »Ich glaube, der Herr Prometheus kann das besser …«
»Aber ich frage dich!«
Ethans Auge jagte hin und her und registrierte die Wächter, die Kronos umstanden. »Ich … ich glaube nicht, dass Jackson sich ergeben wird. Niemals.«
Kronos nickte. »Möchtest du mir sonst noch etwas sagen?«
»N-nein, Majestät.«
»Du siehst nervös aus, Ethan.«
»Nein, Majestät. Es ist nur … ich habe gehört, das hier sei das Versteck von …«
»Medusa? Ja, ganz recht. Gemütlich, was? Leider ist Medusa nicht wiedererstanden, seit Jackson sie umgebracht hat, also brauchst du keine Angst zu haben, du könntest ihrer Sammlung einverleibt werden. Außerdem gibt es in diesem Raum sehr viel gefährlichere Kräfte.«
Er schaute hinüber zu einem laistrygonischen Riesen, der lärmend seine Pommes verzehrte. Kronos winkte mit der Hand und der Riese erstarrte. Ein Stück Pommes hing mitten in der Luft, zwischen seiner Hand und seinem Mund.
»Warum sie in Stein verwandeln«, fragte Kronos, »wenn man die Zeit anhalten kann?«
Seine goldenen Augen durchbohrten Ethans Gesicht. »Und jetzt sag mir noch etwas. Was ist vorige Nacht auf der Williamsburg Bridge passiert?«
Ethan zitterte. Schweißperlen traten auf seine Stirn. »Ich … ich weiß nicht, Majestät.«
»Doch, das tust du.« Kronos erhob sich von seinen Thron. »Als du Jackson angegriffen hast, ist etwas passiert. Irgendetwas stimmte nicht. Dieses Mädchen, Annabeth, ist dir in den Weg gesprungen.«
»Sie wollte ihn retten.«
»Aber er ist unverwundbar«, sagte Kronos gelassen. »Das hast du selbst gesehen.«
»Ich kann das nicht erklären. Vielleicht hatte sie es vergessen.«
»Sie hatte es vergessen«, wiederholte Kronos. »Ja, das muss es gewesen sein. Huch, da hab ich doch glatt vergessen, dass mein Freund unverwundbar ist, und deshalb das Messer für ihn abgefangen. Sag mal, Ethan, auf welche Stelle hast du gezielt, als du Jackson erstechen wolltest?«
Ethan runzelte die Stirn. Er schloss die Hand wie um ein Messer und mimte einen Stich. »Ich bin nicht sicher, Majestät. Das ist alles so schnell gegangen. Ich habe auf keine besondere Stelle gezielt.«
Kronos’ Finger trommelten auf die Klinge seiner Sense. »Aha«, sagte er eiskalt. »Wenn dein Gedächtnis sich bessert, erwarte ich …«
Plötzlich zuckte der Titanenherrscher zusammen. Der Riese in der Ecke löste sich aus seiner Erstarrung und das Stück Pommes fiel ihm in den Mund. Kronos taumelte rückwärts und ließ sich wieder auf seinen Thron sinken.
»Majestät?« Ethan sprang vor.
»Ich …« Die Stimme war schwach, aber für einen kleinen Moment war es die von Luke. Dann verhärtete sich Kronos’ Miene. Er hob die Hand und bewegte langsam die Finger, wie um sie zum Gehorsam zu zwingen.
»Schon gut«, sagte er und seine Stimme klang wieder stählern und kalt. »Ein kleines Unwohlsein.«
Ethan feuchtete sich die Lippen an. »Er wehrt sich noch immer, stimmt’s? Luke …«
»Unsinn«, fauchte Kronos. »Wiederhole diese Lüge, und ich schneide dir die Zunge heraus. Die Seele dieses Jungen ist zerschmettert worden. Ich passe mich nur den Grenzen seiner Gestalt an. Dazu ist Ruhe vonnöten. Das ist ärgerlich, aber nur eine vorübergehende Unannehmlichkeit.«
»Wie … wie ihr meint, Majestät.«
»Du!« Kronos zeigte mit seiner Sense auf eine Dracaena mit grüner Rüstung und grüner Krone. »Königin Sess, nicht wahr?«
»Ssssehr wohl, Majesssstät.«
»Kann deine kleine Überraschung jetzt losgelassen werden?«
Die Dracaena-Königin bleckte ihre Fangzähne. »Sssehr wohl, Majessstät. Eine überaussss reizende Überraschung.«
»Hervorragend«, sagte Kronos. »Sag meinem Bruder Hyperion, er soll unsere Hauptmacht nach Süden in den Central Park verlegen. Die Halbblute werden dermaßen durcheinander sein, dass sie sich nicht verteidigen können. Geh jetzt, Ethan. Arbeite an der Verbesserung deines Gedächtnisses. Wir reden weiter, wenn wir Manhattan eingenommen haben.«
Ethan verneigte sich und meine Träume wechselten ein letztes Mal den Schauplatz. Ich sah das Hauptgebäude im Camp, aber es war eine andere Zeit. Das Haus war rot gestrichen, nicht blau. Die Camper auf dem Volleyballplatz hatten Frisuren wie in den frühen neunziger Jahren, was sicher gut war, um Monster abzuschrecken.
Chiron stand neben der Veranda und sprach mit Hermes und einer Frau, die ein Baby auf dem Arm hatte. Chirons Haare waren kürzer und dunkler. Hermes trug wie immer seinen Trainingsanzug und die geflügelten Turnschuhe. Die Frau war groß und hübsch. Sie hatte blonde Haare, leuchtende Augen und ein freundliches Lächeln. Das Baby auf ihren Armen zappelte in seiner blauen Decke, als ob Camp Half-Blood der letzte Ort auf der Welt wäre, wo es sein wollte.
»Es ist eine Ehre, dich hier zu haben«, sagte Chiron zu der Frau, klang dabei aber nervös. »Hier ist schon lange keine Sterbliche mehr zugelassen worden.«
»Ermutige sie doch nicht auch noch«, knurrte Hermes. »May, das kannst du nicht machen!«
Mit einem Schock ging mir auf, dass ich May Castellan vor mir hatte. Sie sah überhaupt nicht aus wie die alte Frau, die mir begegnet war. Sie wirkte so lebhaft – wie ein Mensch, der lächeln konnte und in dessen Gegenwart sich alle wohlfühlten.
»Ach, mach dir doch nicht solche Sorgen«, sagte May und wiegte das Baby. »Ihr braucht doch ein Orakel, oder? Wie lange ist das alte schon tot? Zwanzig Jahre?«
»Länger«, sagte Chiron düster.
Hermes hob verzweifelt die Hände. »Ich hab dir die Geschichte nicht erzählt, damit du dich bewirbst. Das ist gefährlich, Chiron, sag ihr das!«
»Stimmt«, sagte Chiron warnend. »Ich habe viele Jahre lang allen verboten, es zu versuchen. Wir wissen nicht genau, was passiert ist. Die Menschheit scheint die Fähigkeit verloren zu haben, das Orakel zu beherbergen.«
»Wir haben das alles schon besprochen«, sagte May. »Und ich weiß, dass ich es kann. Hermes, das ist meine Gelegenheit, etwas Gutes zu tun. Und mir ist diese Seherinnengabe nicht ohne Grund gegeben worden.«
Ich wollte May Castellan anschreien, dass sie es lassen sollte. Ich wusste, was passieren würde. Nun begriff ich endlich, was ihr Leben zerstört hatte. Aber ich konnte mich nicht bewegen und nicht sprechen.
Hermes sah eher verletzt aus als besorgt. »Aber du kannst nicht heiraten, wenn du das Orakel wirst«, klagte er. »Du darfst mich dann nicht mehr treffen.«
May legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich kann dich ohnehin nicht für immer behalten, oder? Du ziehst ja doch bald weiter. Du bist unsterblich.«
Er wollte widersprechen, aber sie legte die Hand auf seine Brust. »Du weißt, dass es so ist. Versuch nicht, meine Gefühle zu schonen. Außerdem haben wir ein wunderbares Kind. Ich kann Luke doch auch noch großziehen, wenn ich das Orakel bin, oder?«
Chiron hüstelte. »Ja, aber um fair zu sein, ich weiß nicht, wie das den Geist des Orakels beeinflussen wird. Eine Frau, die bereits ein Kind geboren hat – soviel ich weiß, ist das noch nie passiert. Wenn der Geist sich nicht niederlassen will …«
»Das wird er«, erklärte May überzeugt.
Nein, wollte ich schreien. Das wird er nicht.
May Castellan küsste ihr Baby und reichte Hermes das Bündel. »Ich bin gleich wieder da.«
Sie lächelte die beiden ein letztes Mal zuversichtlich an und stieg die Treppe hoch.
Chiron und Hermes liefen schweigend hin und her. Das Baby zappelte.
Ein grünes Glühen erhellte die Fenster des Hauses. Die Camper unterbrachen ihr Volleyballspiel und starrten zur Mansarde hoch. Ein kalter Wind fegte durch die Erdbeerfelder.
Hermes hatte es offenbar auch gespürt und rief: »Nein! NEIN!«
Er drückte Chiron das Baby in die Arme und rannte auf die Veranda zu. Aber noch ehe er die Tür erreicht hatte, wurde der sonnige Nachmittag von May Castellans entsetzten Schreien zerrissen.
Ich fuhr so plötzlich hoch, dass ich gegen einen Schild stieß.
»Au!«
»Tut mir leid, Percy.« Annabeth stand über mir. »Ich wollte dich gerade wecken.«
Ich rieb mir den Kopf und versuchte, die verstörenden Visionen zu vertreiben. Plötzlich ergaben viele Dinge einen Sinn: May Castellan hatte versucht, das Orakel zu werden. Sie hatte nichts von Hades’ Fluch gewusst, der verhinderte, dass der Geist von Delphi in ein anderes Medium einzog. Und Chiron und Hermes hatten es auch nicht gewusst. Ihnen war nicht klar gewesen, dass May, wenn sie versuchte, diesen Platz einzunehmen, in den Wahnsinn getrieben werden würde, gequält von Anfällen, bei denen ihre Augen aufglühten und sie Szenen aus der Zukunft ihres Kindes sah.
»Percy?«, fragte Annabeth. »Was ist los?«
»Nichts«, log ich. »Was … wieso bist du in Rüstung? Du solltest dich doch ausruhen.«
»Ach, mir geht’s gut«, sagte sie, obwohl sie noch immer blass aussah. Sie bewegte ihren rechten Arm kaum. »Nektar und Ambrosia haben geholfen.«
»Aber du kannst jetzt wirklich noch nicht wieder kämpfen.«
Sie reichte mir ihre gesunde Hand und half mir beim Aufstehen. Mein Schädel dröhnte. Der Himmel draußen war lila und rot.
»Du wirst jeden brauchen, den du kriegen kannst«, sagte sie. »Ich habe eben in meinen Schild geschaut. Da ist eine Armee …«
»Die nach Süden in den Central Park vorrückt«, sagte ich. »Ja, ich weiß.«
Ich erzählte ihr einen Teil meiner Träume. Ich ließ die Vision von May Castellan aus, weil ich nicht darüber reden wollte, und sagte auch nichts über Ethans Vermutung, dass Luke in seinem Körper gegen Kronos kämpfte. Ich wollte Annabeth keine falschen Hoffnungen machen.