Trudi Canavan Die Königin

Erster Teil

1 Attentäter und Allianzen

In Imardin herrschte weithin der Irrglaube, Druckpressen seien von Magiern erfunden worden. Wer sich mit der Funktionsweise von Pressen und Magie nicht auskannte, konnte angesichts des spektakulären Lärms und der ruckartigen Bewegungen der Maschine leicht den Eindruck gewinnen, dass dabei irgendeine Art von Alchemie am Werk war. Aber solange jemand bereit war, die Räder zu drehen und die Schalthebel zu bedienen, funktionierten die Pressen ohne jede Magie.

Cery hatte die Wahrheit vor Jahren von Sonea erfahren. Der Erfinder der Maschine hatte der Gilde einen Prototyp präsentiert, und die Gilde hatte ihn als schnelle und billige Möglichkeit begrüßt, Kopien von Büchern anzufertigen. Eine Weile später bot die Gilde den Häusern einen kostenlosen Druckdienst an und auch allen Mitgliedern anderer Klassen, die dafür bezahlten. Der Eindruck, die Druckkunst sei magischer Natur, wurde bestärkt, um andere davon abzuhalten, ihr eigenes Gewerbe aufzubauen. Erst als Menschen von niederer Herkunft in die Gilde kamen, wurde der Mythos zerstreut, und bald danach wurden überall in der Stadt Druckpressen in steigender Zahl in Betrieb genommen.

Die Kehrseite der Medaille, so überlegte Cery, war eine nie geahnte Verbreitung und Beliebtheit romantischer Abenteuerromane. Ein vor kurzem veröffentlichter Roman erzählte von einer reichen Erbin, die von einem jungen, gutaussehenden Dieb von ihrem luxuriösen, aber langweiligen Leben erlöst wurde. Die Kämpfe waren lächerlich unglaubwürdig, fast immer wurden dazu Schwerter benutzt statt Messer, und die Unterwelt wurde von viel zu vielen gutaussehenden Männern mit unpraktischen Ideen in Bezug auf Ehre und Loyalität bevölkert. Der Roman hatte einem Gutteil der weiblichen Bevölkerung Imardins einen Eindruck von der Unterwelt vermittelt, der von der Wahrheit weit entfernt war.

Natürlich hatte er nichts von alledem zu der Frau gesagt, die neben ihm im Bett lag und die ihm jede Nacht, seit sie sich bereitgefunden hatte, ihn in ihrem Keller wohnen zu lassen, ihre Lieblingsstellen aus diesen Büchern vorgelesen hatte. Cadia war keine reiche Erbin. Und ich bin kein umwerfend gutaussehender Dieb. Sie war seit dem Tod ihres Ehemannes einsam und traurig gewesen, und die Vorstellung, einen Dieb in ihrem Keller zu verstecken, war eine angenehme Ablenkung.

Und er … ihm waren die Verstecke fast ausgegangen.

Er drehte sich um, um sie anzusehen. Sie schlief und atmete leise. Er fragte sich, ob sie ihn tatsächlich für einen Dieb hielt oder ob er einfach so gut in ihre Fantasie hineinpasste, dass es sie nicht kümmerte, ob es die Wahrheit war oder nicht. Er war nicht der schneidige junge Dieb in dem Roman – er hatte gewiss nicht die Ausdauer für die beschriebenen Abenteuer, sei es im Bett oder außerhalb davon.

Ich werde weich. Ich kann nicht einmal eine Treppe hinaufgehen, ohne dass mein Herz hämmert und mir die Luft ausgeht. Wir haben zu viel Zeit eingesperrt in engen Verstecken verbracht und nicht genug Zeit im Kampftraining.

Aus dem Nebenzimmer hörte man einen gedämpften Aufprall. Cery hob den Kopf, um die Tür zu betrachten. Waren Anyi und Gol wach? Jetzt, da er es war, bezweifelte er, dass er in absehbarer Zeit wieder einschlafen würde. Wenn er eingepfercht war, führte das immer dazu, dass er schlecht schlief.

Er schlüpfte aus dem Bett, zog seine Hose an und griff nach seinem Mantel. Nachdem er einen Arm in einen Ärmel geschoben hatte, legte er die Hand auf den Türknauf und drehte ihn leise. Als er die Tür aufdrückte, kam Anyi in Sicht. Sie beugte sich über Gol, und eine Klinge fing das Licht der Nachtlampen auf; sie schwebte über Gol, bereit zuzustoßen. Cerys Herz krampfte sich vor Schreck und Ungläubigkeit zusammen.

»Was …?«, begann er. Bei dem Geräusch drehte Anyi sich mit der beneidenswerten Schnelligkeit der Jugend zu ihm um.

Es war nicht Anyi.

Genauso schnell wandte die junge Frau ihre Aufmerksamkeit wieder Gol zu, und das Messer schoss nach unten, aber Hände wurden gehoben, um die Meuchelmörderin am Unterarm zu packen und den Stich unmöglich zu machen. Gol sprang vom Bett. Cery war in diesem Moment bereits durch die Tür, aber er blieb wie angewurzelt stehen, als ein neuer Gedanke seine Absicht, die Frau aufzuhalten, beiseitedrängte.

Wo ist Anyi?

Als er sich umdrehte, sah er, dass auf dem zweiten improvisierten Bett ein weiterer Kampf im Gang war, nur dass es diesmal der Eindringling war, der auf die Matratze gepresst wurde und Hände zurückhielt, die ein Messer direkt über seiner Brust schweben ließen. Eine Welle des Stolzes auf seine Tochter erfasste Cery. Sie musste rechtzeitig aufgewacht sein, um den Meuchelmörder zu erwischen, und sie hatte seinen Angriff gegen ihn gewandt.

Aber ihr Gesicht war zu einer Grimasse der Anstrengung verzogen, während sie versuchte, das Messer herunterzudrücken. Trotz der geringen Größe des Meuchelmörders waren die Muskeln seiner Handgelenke und seines Halses gut entwickelt. Anyi würde diesen Kampf nicht mit brutaler Gewalt gewinnen. Ihr Vorteil war ihre Geschwindigkeit. Er machte einen Schritt auf sie zu.

»Verschwinde von hier, Cery«, blaffte Gol.

Anyis Arme wurden zurückgedrückt, als ihre Konzentration durchbrochen wurde. Sie sprang aus der Reichweite des Meuchelmörders heraus. Dieser hechtete vom Bett, nahm Kampfhaltung ein und riss ein langes, dünnes Messer aus dem Ärmel. Aber er ging nicht auf sie zu. Sein Blick wanderte zu Cery hinüber.

Cery hatte nicht die Absicht, den Kampf Anyi und Gol zu überlassen. Er würde Gol vielleicht eines Tages im Stich lassen müssen, aber heute war nicht dieser Tag. Und seine Tochter würde er niemals im Stich lassen.

Er hatte seinen anderen Arm reflexartig in den Ärmel des Mantels gleiten lassen. Jetzt trat er zurück und heuchelte Furcht, während er in die Taschen griff und die Hände durch die Halteschlingen seiner Lieblingswaffen steckte: zwei Messer, deren Scheiden in den Taschen befestigt waren, so dass die Klingen bereit sein würden, wenn Cery sie herauszog.

Der Attentäter machte einen Satz auf Cery zu, und Anyi sprang ihn an. Cery tat das Gleiche. Es war nicht das, was der Mann erwartet hatte. Noch erwartete er die Zwillingsmesser, die sein eigenes blockierten. Oder die Klinge, die durch das weiche Fleisch seines Halses glitt. Er erstarrte vor Überraschung und Entsetzen.

Cery wich dem spritzenden Blut aus, als Anyi ihr Messer herauszog, dem Attentäter sein Messer aus der Hand schlug und ihm dann mit einem Stich ins Herz den Garaus machte.

Sehr effizient. Ich habe sie gut ausgebildet.

Natürlich mit Gols Hilfe. Cery drehte sich um, um festzustellen, wie es seinem Freund ging, und er war erleichtert zu sehen, dass die Meuchelmörderin in einer Blutlache auf dem Boden lag.

Gol blickte Cery an und grinste. Er war außer Atem. Genau wie ich, begriff Cery. Anyi bückte sich und strich mit den Händen über die Kleidung und das Haar des männlichen Angreifers, dann rieb sie die Finger gegeneinander.

»Ruß. Er ist durch den Schornstein im Haus über uns gekommen.« Sie betrachtete nachdenklich die alte steinerne Treppe, die zur Kellertür hinaufführte.

Cerys Laune verschlechterte sich. Wie immer die beiden hereingekommen waren oder wie sie ihn überhaupt gefunden hatten, dies war nicht länger ein sicheres Versteck. Stirnrunzelnd schaute er auf die toten Meuchelmörder hinunter und dachte über die letzten wenigen Menschen nach, die er vielleicht um Hilfe bitten könnte, und wie sie sie erreichen würden.

Ein leises Aufkeuchen kam von der Tür. Als er sich umdrehte, sah er Cadia, die, nur in ein Laken gehüllt, mit großen Augen die toten Meuchelmörder anstarrte. Sie schauderte, aber als sie ihn bemerkte, verwandelte sich ihr Entsetzen in Enttäuschung.

»Ich schätze, dann wirst du nicht noch eine Nacht bleiben?«

Cery schüttelte den Kopf. »Entschuldige die Schweinerei.«

Sie betrachtete mit einer Grimasse das Blut und die Leichen, dann runzelte sie die Stirn und blickte zur Decke hinauf. Cery hatte nichts gehört, aber Anyi hatte zur gleichen Zeit den Kopf gehoben. Sie alle tauschten besorgte Blicke und schwiegen lieber, für den Fall, dass sich ihr Argwohn bestätigte.

Er hörte ein schwaches Knarren, gedämpft durch die Dielenbretter über ihnen.

So lautlos wie möglich griffen Anyi und Gol nach ihren Schuhen, ihren Rucksäcken und Lampen und folgten Cery in das Nebenzimmer, schlossen die Tür hinter sich und schoben eine alte Truhe vor die Tür. Cadia blieb mitten im Raum stehen, seufzte und ließ das Laken fallen, damit sie sich anziehen konnte. Sowohl Anyi als auch Gol wandten ihr schnell den Rücken zu.

»Was soll ich tun?«, flüsterte Cadia Cery zu.

Er las den Rest seiner Kleider auf, griff nach Cadias Schlafzimmerlampe und überlegte. »Folge uns.«

Sie wirkte eher krank als aufgeregt, als sie durch die Falltür schlüpften, die zu der alten Straße der Diebe führte. Die Gänge hier waren mit Schutt gefüllt und nicht wirklich sicher. Dieser Teil des unterirdischen Netzwerks war vom Rest abgeschnitten worden, als der König eine nahe Straße wiederhergestellt und neue Häuser errichtet hatte, wo die alten Gebäude des Elendsviertels gestanden hatten. Obwohl es nicht ganz innerhalb der Grenzen seines Territoriums lag, hatte Cery einen alten Tunnelbauer dafür bezahlt, eine neue Zugangspassage auszuheben, hatte aber die verfallenen Teile so belassen, damit niemand in Versuchung geriet, sie zu benutzen. Es war ein praktischer Ort gewesen, um Dinge zu verstecken, wie gestohlene Waren und hier und da einen Leichnam.

Er hatte jedoch nie geplant, sich selbst hier zu verstecken. Cadia betrachtete den mit Schutt übersäten Gang mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier. Cery reichte ihr die Lampe und zeigte in eine Richtung.

»Nach ungefähr hundert Schritten wirst du ein Gitter hoch oben in der linken Wand sehen. Dahinter ist eine Gasse zwischen zwei Häusern. Es werden Rillen in der Wand sein, damit du hinaufklettern kannst, und das Gitter sollte sich nach innen einklappen lassen. Geh zu einem deiner Nachbarn und sag, dass Räuber in deinem Haus sind. Wenn sie die Leichen finden, sagst du, sie seien die Räuber, und du deutest an, dass sich wohl einer gegen den anderen gewandt hat.«

»Was ist, wenn sie sie nicht finden?«

»Zieh sie hier in diese Gänge, und lass niemanden in deinen Keller, bis der Geruch weggeht.«

Sie wirkte noch kränker, nickte jedoch und straffte sich. Ein Stich der Zuneigung durchzuckte ihn angesichts ihrer Tapferkeit, und er hoffte, dass sie nicht weiteren Meuchelmördern über den Weg laufen oder auf irgendeine andere Weise dafür bestraft werden würde, dass sie ihm geholfen hatte. Er trat dicht vor sie hin und küsste sie entschlossen.

»Ich danke dir«, sagte er leise. »Es war mir ein Vergnügen.«

Sie lächelte, und ihre Augen funkelten für einen Moment. »Sei vorsichtig«, erwiderte sie.

»Bin ich immer. Und jetzt geh.«

Sie eilte davon. Er konnte es nicht riskieren zu bleiben, um ihr nachzuschauen. Gol trat vor, um voranzugehen, und Anyi blieb hinter ihnen, während sie durch die zerfallenden Gänge wanderten. Nach mehreren Schritten krachte etwas hinter ihnen. Cery blieb stehen und drehte sich um.

»Cadia?«, murmelte Gol. »Das Gitter hat sich geschlossen, als sie auf die Straße geklettert ist?«

»Das ist sehr weit entfernt, um es so gut zu hören«, meinte Cery.

»Das war kein Gitter auf Ziegelsteinen«, flüsterte Anyi. »Es war … etwas Hölzernes.«

Einige hellere Laute folgten. Ziegel und Steine, die bewegt wurden. Cery überlief ein Schauer. »Geht. Schnell. Aber leise.«

Gol hielt seine Lampe hoch, doch wegen des vielen Schutts auf dem Boden des Gangs konnten sie nur ab und zu schnell laufen. Cery unterdrückte mehr als einmal einen Fluch und bedauerte, dass er nicht ein wenig mehr aufgeräumt hatte. Dann, nachdem sie einen geraden Abschnitt des Tunnels hinter sich gebracht hatten, schimpfte Gol und kam schlitternd zum Stehen. Als Cery über die Schulter des massigen Mannes schaute, sah er, dass das Dach über ihnen vor kurzem eingestürzt war, so dass sie in eine Sackgasse geraten waren. Er fuhr herum, und sie eilten zurück zu der letzten Kreuzung, an der sie vorbeigekommen waren.

Als sie die Biegung erreichten, seufzte Anyi. »Wir hinterlassen Spuren.«

Cery senkte den Blick und sah Fußabdrücke im Staub. Die Hoffnung, dass ihr Verfolger den Spuren bis zu der Sackgasse hinterherlaufen würde, wurde zunichtegemacht, als er begriff, dass Gols Spur jetzt durch den Nebentunnel führte und jede Menge Beweise dafür hinterließ, dass sie den Weg zurückgegangen waren.

Aber wenn sich eine weitere Gelegenheit bietet, falsche Spuren zu legen …

Doch es kam keine Gelegenheit mehr. Erleichterung durchflutete ihn, als sie endlich den Verbindungsgang zu dem Hauptteil der Straße der Diebe erreichten. Einmal mehr bedauerte er, dass er diese Situation nicht vorhergeahnt hatte: Obwohl er den Eingang zu den isolierten Tunneln verborgen hatte, hatte er sich keine Mühe gemacht, den Ausgang vor jemandem zu verstecken, der den Tunnel von innen erkundete.

Sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war, schauten sie sich in dem saubereren, besser gewarteten Gang um, in dem sie standen. Da war nichts, was sie benutzen konnten, um die Tür zu blockieren und ihre Verfolger daran zu hindern, die alten Tunnel zu verlassen.

»Wohin?«, fragte Gol.

»Nach Südosten.«

Sie bewegten sich jetzt schneller und blendeten die Lampen ab, so dass nur ein denkbar dünner Lichtstrahl den Weg erhellte. Früher wäre Cery im Dunkeln weitergegangen, aber er hatte Geschichten über Fallen gehört, die aufgestellt worden waren, um die Territorien anderer Diebe zu verteidigen. Urheber waren unternehmungslustige Räuber oder die mysteriösen Schleichen. Trotzdem war das Tempo, das Gol vorgab, gefährlich schnell, und Cery machte sich Sorgen, dass sein Freund nicht in der Lage sein würde, Gefahren auszuweichen, denen er vielleicht entgegeneilte.

Schon bald war Cery außer Atem, seine Brust schmerzte, und seine Beine wurden unsicher. Er fiel etwas hinter Gol zurück, der jedoch nach einer Weile seine Schritte verlangsamte und sich umschaute. Er wartete auf Cery, aber die Falte zwischen seinen Brauen glättete sich nicht, und er bewegte sich auch nicht, als Cery ihn einholte.

»Wo ist Anyi?«

Cery verspürte einen heftigen Stich. Er fuhr herum und sah nur Dunkelheit hinter ihnen.

»Ich bin hier«, erklang eine leise Stimme. »Ich bin stehen geblieben, um festzustellen, ob ich unsere Verfolger hören kann.« Ihre Miene war grimmig. »Sie folgen uns tatsächlich. Und es ist eindeutig mehr als nur einer.« Sie winkte die beiden Männer weiter. »Vorwärts. Sie sind nicht weit hinter uns.«

Gol stürmte wieder los, und Cery folgte ihm. Der massige Mann gab ein noch schnelleres Tempo vor. Er wählte eine gewundene Route, aber sie schüttelten ihre Verfolger nicht ab – was die Vermutung nahelegte, dass sie die Tunnel genauso gut kannten wie er und Cery. Gol kam den Tunneln der Gilde näher, doch wer immer ihnen folgte, war offensichtlich nicht hinreichend eingeschüchtert von Magiern, um von seiner Beute abzulassen.

Sie näherten sich dem geheimen Eingang in die Tunnel unter der Gilde. Sie werden es nicht wagen, mir dorthin zu folgen. Es sei denn, sie wussten nicht, wohin die Gänge führten. Wenn sie uns folgen, werden sie feststellen, dass die Gilde ihre unterirdischen Wege unbewacht lässt. Was bedeutete, dass Skellin es ebenfalls erfahren würde. Ich werde nicht nur nie wieder über diesen Weg fliehen können, ich werde auch die Gilde alarmieren müssen. Sie wird die Tunnel zuschütten lassen, und dann wird unser sicherster Weg zu Sonea und Lilia versperrt sein.

Er betrachtete die Gildetunnel als die letztmögliche Fluchtroute. Wenn es eine Alternative gegeben hätte …

Als sie noch etwa zwanzig Schritt vom Eingang zu den Gildetunneln entfernt waren, hörten sie hinter sich ihre Verfolger. Sie waren ihnen zu dicht auf den Fersen – es blieb keine Zeit mehr, die Geheimtür zu öffnen, bevor sie sie einholten. Als Gol langsamer wurde, um sich zu Cery umzudrehen – die Augenbrauen zu einer stummen Frage hochgezogen –, schlüpfte Cery an ihm vorbei und schlug eine neue Richtung ein.

Er hatte eine andere Alternative. Es war eine riskantere. Sie könnte sie sogar in eine noch größere Gefahr führen als die, vor der sie flohen. Aber zumindest würden ihre Verfolger in ebenso großer Gefahr sein, wenn sie es wagten, hinter ihnen herzugehen.

Gol begriff, was Cery vorhatte, und fluchte leise. Aber er widersprach nicht, sondern packte Cery am Arm, um an ihm vorbeizukommen, und übernahm wieder die Führung.

»Wahnsinn«, murmelte er und jagte auf die Stadt der Schleichen zu.

Es war jetzt mehr als zehn Jahre her – fast zwanzig –, seit Dutzende von Straßenkindern in den Tunneln eine neue Heimat gefunden hatten, nachdem ihr Viertel zerstört worden war. Schon bald wurden sie zum Gegenstand schreckenerregender Geschichten, die in Bolhäusern erzählt wurden und um Kinder zum Gehorsam zu bringen. Es hieß, dass die Schleichen sich niemals ans Tageslicht wagten und nur des Nachts aus Gullys und Kellern emporkämen, um Lebensmittel zu stehlen und den Menschen böse Streiche zu spielen. Manche glaubten, sie hätten sich zu dürren, bleichen Wesen mit großen Augen entwickelt, die es ihnen ermöglichten, auch im Dunkeln zu sehen. Andere dagegen sagten, sie sähen aus wie jedes andere Straßenkind, bis sie ihren Mund öffneten und ihre langen Reißzähne zeigten. Worin aber alle übereinstimmten, war, dass derjenige, der sich auf das Gebiet der Schleichen vorwagte, so gut wie tot war. Von Zeit zu Zeit stellte jemand diesen Glauben auf die Probe. Die meisten kehrten nie zurück, aber einige waren wieder aus den Tunneln herausgekrochen, blutüberströmt von Stichwunden, die ihnen lautlose unsichtbare Angreifer in der Dunkelheit zugefügt hatten.

Wo die Schleichen den Untergrund beherrschten, wurden ihnen von den Anwohnern Opfer angeboten in der Hoffnung, sie so vom Eindringen in ihre Häuser abhalten zu können. Cery, dessen Gebiet sich an einer Ecke mit dem der Schleichen überschnitt, hatte dafür gesorgt, dass jemand alle paar Tage Lebensmittel in den Tunneln deponierte, in einem Sack, der mit dem Bild seines Namensvetters, des kleinen Nagetieres Ceryni markiert war.

Es war eine Weile her, seit er das letzte Mal überprüft hatte, ob das auch wirklich getan wurde. Wenn nicht, dann werde ich wahrscheinlich keine Chance bekommen, sie dafür zu bestrafen.

Schon bald entdeckte er die Markierungen, die sie warnten, dass sie sich auf das Gebiet der Schleichen wagten. Dann sah er diese Markierungen nicht mehr. Er konnte Anyis schnellen Atem hinter sich hören. Hatten ihre Verfolger es gewagt, ihnen auf den Fersen zu bleiben?

»Nicht«, stieß Anyi hervor, als er das Tempo verlangsamte, um über seine Schulter zu schauen. »Sie … sind … direkt … hinter … uns.«

Er hatte nicht genug Atem, um einen Fluch auszustoßen. Luft schnarrte in seine Lunge und wieder heraus. Sein ganzer Körper schmerzte und seine Beine zitterten, während er sich zwang weiterzulaufen. Er rief sich die Gefahr ins Gedächtnis, in der Anyi schwebte. Sie würde die Erste sein, die ihre Verfolger töteten, wenn sie sie einholten. Das konnte er nicht zulassen.

Etwas packte ihn an den Knöcheln, und er fiel vornüber.

Der Boden war nicht so flach oder hart, wie er erwartet hatte, aber er bäumte sich auf und rollte unter gedämpften Flüchen weiter. Gol war in der jetzt absoluten Dunkelheit nicht mehr zu sehen. Die Lampen waren erloschen. Cery drehte sich auf die Seite.

»Sei still«, flüsterte eine Stimme.

»Tu es, Gol«, befahl Cery. Gol verstummte.

Hinter ihnen im Tunnel wurden die Schritte lauter. Sich bewegende Lichter erschienen und drangen durch einen Vorhang aus grob gewebtem Stoff, an den Cery sich nicht erinnern konnte. Er muss heruntergelassen worden sein, nachdem wir ihn passiert haben. Die Schritte wurden langsamer und hielten inne. Aus einer anderen Richtung kam ein Geräusch – weitere eilige Schritte. Die Lichter entfernten sich, während ihre Träger die Verfolgung fortsetzten.

Nach einer langen Pause durchbrachen mehrere Seufzer die Stille. Ein Schauder überlief Cery, als er begriff, dass er von mehreren Personen umringt war. Ein dünner Lichtstrahl erschien. Eine der Lampen. Ein Fremder hielt sie in der Hand.

Cery schaute zu dem jungen Mann auf, der seinen Blick erwiderte.

»Wer?«, fragte der Mann.

»Ceryni von der Nordseite.«

»Die da?«

»Meine Leibwächter.«

Der Mann zog die Augenbrauen hoch, dann nickte er und wandte sich den anderen zu. Cery schaute sich um und sah sechs weitere junge Männer; zwei von ihnen saßen auf Gol. Anyi hatte sich in Kampfhaltung geduckt, ein Messer in jeder Hand. Die zwei jungen Männer, die links und rechts von ihr standen, hielten sicheren Abstand, obwohl sie den Eindruck machten, als seien sie bereit, einen Schnitt zu riskieren, falls ihr Anführer ihnen befahl, Anyi zu überwältigen.

»Steck die Messer weg, Anyi«, sagte Cery.

Ohne den Blick von den Männern abzuwenden, gehorchte sie. Auf ein Nicken ihres Anführers hin kletterten die beiden Männer von Gol herunter, der vor Erleichterung stöhnte. Cery erhob sich auf die Füße, drehte sich wieder zu dem Anführer um und drückte die Schultern durch.

»Wir bitten um sichere Passage.«

Der Mund des jungen Mannes zuckte zu einem Halblächeln. »So etwas gibt es heutzutage nicht.« Er deutete mit dem Daumen auf seine Brust. »Wen.« Dann drehte er sich um, um mit den anderen zu sprechen. »Ich kenne den Namen. Einer, der Essen gibt. Was tun wir?«

Sie tauschten Blicke, dann murmelten sie Worte, auf die hin er den Kopf schüttelte: »Töten?« – »Freilassen?« »Wurm?«, fragte einer, und Wen schaute nachdenklich drein. Dann nickte er. »Wurm«, sagte er entschieden. Irgendwie führte das dazu, dass die anderen nickten, obwohl Cery nicht erkennen konnte, ob sie es einfach akzeptierten oder zustimmten.

Wen wandte sich an Cery. »Ihr kommt alle mit uns. Wir bringen euch zu Wurm.« Er gab Gol seine Lampe zurück, dann blickte er zu einem der beiden Männer, die auf Gol gesessen hatten. »Geh und sag Wurm Bescheid.«

Der junge Mann huschte in die Dunkelheit hinter Wen davon. Als Wen sich umdrehte, um ihm zu folgen, nahm Anyi die Lampe, die der Junge gehalten hatte, an sich. Zwei der jungen Männer eilten vorwärts, um sich zu ihrem Anführer Wen zu stellen, und die übrigen nahmen Positionen weiter hinten ein.

Niemand sprach, während sie gingen. Zuerst verspürte Cery nur eine überwältigende Erleichterung darüber, einfach nicht mehr rennen zu müssen, obwohl seine Beine noch immer zittrig waren und sein Herz zu schnell schlug. Gol wirkte genauso atemlos wie er selbst, bemerkte er. Während er sich erholte, begann er sich erneut Sorgen zu machen. Er hatte noch nie gehört, dass irgendjemand sich mit einer Schleiche namens Wurm getroffen hätte. Es sei denn … es sei denn, Wurm ist nicht wirklich ein Mann, sondern etwas, das sie mit Eindringlingen füttern.

Hör auf damit, sagte er sich. Wenn sie unseren Tod wollten, hätten sie uns nicht vor unseren Verfolgern versteckt. Sie hätten uns in der Dunkelheit erstochen und uns in einer Sackgasse liegen lassen.

Nachdem sie eine Weile gegangen waren, erklang in der Dunkelheit vor ihnen eine Stimme, und Wen brummte eine Antwort. Schon bald trat ein Mann ins Licht, und die Gruppe blieb stehen. Der Mann sah Cery eindringlich an, dann nickte er.

»Du bist Ceryni«, sagte er und streckte eine Hand aus. »Ich bin Wurm.«

Cery streckte ebenfalls die Hand aus, unsicher, was die Geste bedeutete. Wurm ergriff sie für einen Moment, dann ließ er sie los und machte ein Zeichen. »Kommt mit mir.«

Ein weiterer Marsch folgte. Cery bemerkte, dass die Luft feucht wurde, und von Zeit zu Zeit drang aus einem Seitengang das Geräusch von fließendem Wasser. Dann traten sie in einen höhlenartigen Raum, der vom Rauschen des Wassers widerhallte, und alles machte plötzlich Sinn.

Ein Wald von Säulen umgab sie; jede einzelne war durch gemauerte Bögen aus Ziegelsteinen mit ihrem Nachbarn verbunden. Das ganze Netzwerk bildete eine niedrige Gewölbedecke, und die Säulen standen allesamt im Wasser. Ihr Führer folgte einem Weg, der über die Krone einer dicken Mauer zu verlaufen schien, die ebenfalls im Wasser stand. Es floss zu beiden Seiten an ihnen vorbei, aber in der Dunkelheit ließ sich nicht ausmachen, wie tief es war.

Glücklicherweise war der Pfad trocken und kein bisschen glitschig. Als Cery sich umschaute, bemerkte er, dass das Wasser in Tunnel floss, die anscheinend noch tiefer unter die Stadt führten. An einer Seite sah er andere Mauerkronen, aber zu weit entfernt, um sie mit einem Sprung erreichen zu können. Die einzige Beleuchtung kam von den Lampen, die sie trugen.

Das Wasser selbst war überraschend frei von Treibgut aller Art. Lediglich ein Ölfilm zog bisweilen vorüber, der meist nach Seife und Duftölen roch. Allerdings waren die Wände zum Teil mit Moder bedeckt, und in der Luft lag eine ungesunde Feuchtigkeit.

Ein Gruppe von Lichtern erschien vor ihnen, und Cery konnte schon bald eine Art großes Podest ausmachen, das zwei der Wege verband. Mehrere Menschen saßen darauf, und in dem gewaltigen Raum hallte ein leises Murmeln von Stimmen wider. Hinter dem Podest konnte Cery dunkle Ringe in einem helleren Bereich ausmachen, und schließlich sah er genug, um festzustellen, dass es weitere Tunnel waren, die höher lagen und aus denen Wasser in das riesige unterirdische Reservoir floss.

Das Podest knarrte unter ihren Schritten, als sie es nach Wurm betraten. Von den dort Sitzenden war keiner älter als Mitte zwanzig. Zwei der jungen Frauen hielten Säuglinge im Arm, und ein Kleinkind war mit einem Seil an die nächste Säule gebunden, wahrscheinlich, damit es nicht ins Wasser steigen konnte. Alle starrten Cery, Gol und Anyi mit großen, neugierigen Augen an, aber niemand sprach.

Wurm betrachtete Cery, dann deutete er auf die Einmündungen hinter der Plattform. »Die kommen aus den Bädern der Gilde«, erklärte er. »Weiter südlich münden Kloaken, und im Norden haben wir Kloaken, in die auch die Abwässer aus den Küchen gelangen. Hier dagegen ist das Wasser ziemlich sauber.«

Cery nickte. Es war kein schlechter Ort, um sich niederzulassen, wenn es einem nichts ausmachte, unter der Erde zu leben und ständig von Feuchtigkeit umgeben zu sein. Als er nach links und rechts schaute, bemerkte er andere Podeste, auf denen weitere Schleichen lagerten, und schmale Brücken, die sie miteinander verbanden.

»Ich hatte keine Ahnung, dass hier so etwas existiert«, gestand er.

»Direkt unter deiner Nase.« Wurm lächelte, und Cery begriff, wie recht der Mann hatte. Dieser Teil des Schleichengebiets lag unter Cerys eigenem Gebiet.

Cery drehte sich zu ihm um. »Deine Leute haben uns vor Leuten versteckt, die uns töten wollten«, sagte er. »Danke. Ich wäre niemals in euer Gebiet eingedrungen, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte.«

Wurm neigte den Kopf zur Seite. »Die Gildentunnel?«

Also weiß er, dass ich Zugang zu ihnen habe. Cery schüttelte den Kopf. »Damit hätte ich sie meinem Feind gezeigt. Ich hätte die Gilde deswegen warnen müssen, und ich glaube nicht, dass mir gefallen hätte, was sie deswegen unternommen hätten. Ich schätze, dir würde es auch nicht gefallen, wenn sie hier herumschnüffelten.«

Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Nein.« Er zuckte die Achseln, dann seufzte er. »Wenn wir zugelassen hätten, dass derjenige, der dir Jäger hinterhergeschickt hat, dich findet, würde er uns ebenfalls finden. Sobald er genommen hat, was dir gehört, kann ihn nichts daran hindern, sich auch zu nehmen, was uns gehört.«

Cery musterte Wurm nachdenklich. Die Schleichen wussten viel mehr über die Ereignisse in der Welt über ihnen, als er erwartet hätte. Sie hatten recht, was Skellin betraf. Sobald er Cerys Territorium hielt, würde er auch die Kontrolle über das Territorium der Schleichen wollen.

»Skellin oder ich. Keine große Auswahl«, sagte Cery.

Wurm schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Er wird uns nicht in Ruhe lassen, wie du es tust.« Er deutete mit dem Kopf zu den Tunneln hinüber. »Er wird die da haben wollen, weil er will, wozu sie führen.«

Die Gilde. Cery schauderte. War dies eine kluge Vermutung des Anführers der Schleichen, oder hatte er Kenntnis von Skellins genauen Plänen? Er öffnete den Mund, um danach zu fragen, aber Wurm drehte sich um, um Cery anzustarren.

»Ich zeige dir dies, damit du Bescheid weißt. Aber du kannst nicht bleiben«, erklärte er. »Wir werden euch an einen sicheren Ort bringen, aber das ist alles.«

Cery nickte. »Das ist mehr, als ich gehofft hatte«, erwiderte er und legte all seine Dankbarkeit in seinen Tonfall.

»Wenn ihr zurückkommen müsst, sprecht meinen Namen, und ihr werdet leben, aber wir werden euch wieder hinausbringen.«

»Ich verstehe.«

Wurm musterte Cery noch einen Moment lang, dann nickte er. »Wohin wollt ihr gehen?«

Cery sah Anyi und Gol an. Seine Tochter wirkte ängstlich, und Gol war blass und erschöpft. Wohin konnten sie gehen? Kaum jemand schuldete ihnen noch einen Gefallen, und sie hatten keinen sicheren Ort in leichter Reichweite. Keine Verbündeten, denen sie vertrauen konnten oder die sie in Gefahr bringen wollten. Bis auf einen. Cery wandte sich wieder an Wurm.

»Bring uns zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind.«

Der Mann wechselte ein Wort mit den jungen Burschen, die Cery und seine Begleiter gerettet hatten. Wurm bedeutete Cery, dass sie ihnen folgen sollten, dann ging er ohne ein Wort des Abschieds davon. Da er dies als eine Sitte der Schleichen wertete, drehte Cery sich ebenfalls um.

Ihr Gang hinaus aus dem Territorium der Schleichen verlief langsamer, wofür Cery dankbar war. Jetzt, da sich Furcht und Erleichterung gelegt hatten, war er müde, und ein Gefühl der Düsternis breitete sich in ihm aus. Gol schlurfte beim Gehen ebenfalls. Zumindest hatte Anyi jugendliche Ausdauer auf ihrer Seite. Cery begann die Wände um sie herum zu erkennen, dann verschmolzen die Führer der Schleichen mit der Dunkelheit. Die Lampe, die Cery in der Hand hielt, flackerte und erstarb, als ihr das Öl ausging. Gol protestierte nicht, als Cery seine Lampe nahm und sie zum Eingang der Gildetunnel führte.

Als sie hindurchgeschlüpft waren und die Tür sich wieder geschlossen hatte, fiel ein Großteil der Anspannung und Furcht von Cery ab. Sie waren endlich in Sicherheit. Er wandte sich an Anyi.

»Also, wo ist dieser Raum, in dem du dich mit Lilia triffst?«

Sie ergriff die Lampe und führte ihn und Gol durch einen langen, geraden Gang. Nachdem sie einmal abgebogen waren, erreichten sie einen Komplex aus Räumen, die durch gewundene Flure miteinander verbunden waren. Die unwillkommene Erinnerung, von Lord Fergun im Dunkeln gefangen gehalten zu werden, stieg in Cery auf. Er schauderte. Aber diese Räume waren anders als seine ehemalige Zelle: älter und so angelegt, als solle sich darin niemand zurechtfinden. Anyi führte sie in einen Raum, in dem kein Staub lag und der mit einigen kleinen Holzkisten als Möbeln ausstaffiert war und einem Stapel abgenutzter Kissen als Sitzplätze. An einer Wand befand sich ein zugemauerter Kamin. Anyi stellte die Lampe weg, dann entzündete sie einige Kerzen in Nischen, die in die Wände gehauen waren.

»Das ist es«, erklärte sie. »Ich hätte mehr Möbel hergebracht, aber ich konnte nichts Großes tragen, und ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen.«

»Keine Betten.« Gol setzte sich mit einem Stöhnen auf eine der Kisten.

Cery lächelte seinen alten Freund an. »Keine Sorge. Wir werden uns etwas einfallen lassen.«

Aber Gols Grimasse verschwand nicht. Cery runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass Gol die Hände unter seinem Hemd auf seine Seite presste. Dann sah er den dunklen Fleck, der im Kerzenlicht glänzte.

»Gol …?«

Der massige Mann schloss die Augen und taumelte.

»Gol!«, rief Anyi und erreichte ihn zur gleichen Zeit wie Cery. Sie fingen Gol auf, bevor er von der Kiste fallen konnte. Anyi zog Kissen herbei.

»Leg dich hin«, befahl sie. »Lass mich das sehen.«

Cery konnte nicht sprechen. Furcht hatte seinen Geist und seine Kehle erstarren lassen. Der Meuchelmörder musste Gol während des Kampfes verletzt haben. Oder schon, bevor Gol aufgewacht war.

Anyi drangsalierte Gol, bis er von der Kiste stieg und sich auf die Kissen legte, dann zog sie seine Hand weg und schälte das Hemd zurück, um eine kleine Wunde in seinem Bauch zu entblößen, aus der langsam Blut sickerte.

»Die ganze Zeit über.« Cery schüttelte den Kopf. »Warum hast du nichts gesagt?«

»Es war gar nicht so schlimm.« Gol zuckte die Achseln, dann fuhr er zusammen. »Hat erst angefangen wehzutun, als wir mit Wurm geredet haben.«

»Ich wette, es tut jetzt weh«, bemerkte Anyi. »Was denkst du, wie tief der Dolch ins Fleisch gedrungen ist?«

»Nicht tief. Keine Ahnung.« Gol hustete vor Schmerz.

»Es könnte schlimmer sein, als es aussieht.« Anyi hockte sich auf die Fersen und blickte zu Cery auf. »Ich werde Lilia holen.«

»Nein …«, protestierte Gol.

»Es waren nur noch wenige Stunden bis Tagesanbruch, als wir Cadias Haus verlassen haben«, erklärte ihr Cery. »Lilia könnte bereits in der Universität sein.«

Anyi nickte. »Vielleicht. Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.« Sie zog eine Augenbraue hoch und sah ihn fragend an.

»Geh«, sagte er.

Sie ergriff seine Hand und drückte sie auf die Wunde. Gol stöhnte.

»Halt den Druck aufrecht und …«

»Ich weiß, was zu tun ist«, unterbrach Cery sie. »Wenn sie nicht dort ist, hol zumindest etwas Sauberes, das wir als Verband benutzen können.«

»Das werde ich«, entgegnete sie und griff nach der Lampe.

Dann war sie fort, und ihre Schritte verklangen in der Dunkelheit.

2 Vorgeladen

Sollte ich den Blutring meiner Mutter mitnehmen?«, fragte Lorkin in seinen Räumen im Gildehaus, als Dannyl durch die offene Tür zu ihm trat.

Dannyl besah sich den goldenen Ring mit der Kugel aus rotem Glas. Falls etwas während dieser Begegnung mit dem sachakanischen König schiefgehen sollte, wäre es gut, wenn wir beide eine Möglichkeit hätten, uns mit der Gilde in Verbindung zu setzen, dachte er. Aber wenn die Dinge so schlecht laufen, könnten unsere beiden Blutringe gefunden werden, und dann könnte man sie uns wegnehmen und als Folterwerkzeug und Ablenkung gegen Osen und Sonea verwenden.

Der Blutstein übermittelte die Gedanken seines Trägers dem Magier, dessen Blut zu der Erschaffung des Steines verwendet worden war. Der Nachteil war, dass der Schöpfer nicht aufhören konnte, die Gedanken des Ringträgers zu spüren, was besonders unangenehm war, wenn der Träger des Rings gefoltert wurde.

Das hatte einer der sachakanischen Ausgestoßenen – der Ichani –, der vor zwanzig Jahren in Kyralia eingefallen war, Dannyls altem Freund und Mentor Rothen angetan. Der Mann hatte Rothen gefangen, aber statt ihn zu töten, hatte er ein Juwel aus Rothens Blut gemacht. Er hatte es jedem einzelnen seiner Opfer übergestreift, so dass Rothen eine Flut von Eindrücken von verängstigten, sterbenden Kyraliern empfangen hatte.

Wer von den beiden – Schwarzmagierin Sonea oder Administrator Osen – würde stärker betroffen sein, wenn man seinen Ring nahm? Dannyl schauderte angesichts der offensichtlichen Antwort.

»Lasst ihn hier«, riet er dem jungen Mann. »Ich werde Osens Ring haben. Gebt mir Soneas Ring, und ich werde ihn verstecken, für den Fall, dass sie Eure Gedanken lesen und davon erfahren.«

Lorkin sah Dannyl an, einen seltsamen, halb erheiterten Ausdruck auf dem Gesicht. »Keine Sorge, sie werden bei mir nichts lesen«, bemerkte er.

Dannyl starrte den jungen Magier überrascht an. »Ihr könnt …?«

»Mit Einschränkungen. Ich hatte keine Zeit, mir die Fähigkeiten der Verräterinnen, einen Gedankenleser zu überlisten, in vollem Umfang anzueignen. Falls jemand es bei mir versuchen sollte, wird er keinen Erfolg haben, aber er wird wissen, dass er keinen Erfolg hat.«

»Lasst uns hoffen, dass es so weit nicht kommen wird«, sagte Dannyl. Er macht einen Schritt zurück in Richtung der Tür. »Ich werde den Ring verstecken, und wir treffen uns dann im Herrenzimmer.«

Lorkin nickte.

Dannyl eilte zurück in seine eigenen Räume, befahl seiner Sklavin zu gehen und jeden daran zu hindern hereinzukommen, dann suchte er nach einem Versteck für den Edelstein. Lorkin kann eine Gedankenlesung blockieren! Ashaki Achati, der Ratgeber des sachakanischen Königs, der Dannyls Freund gewesen war, seit er in Arvice eingetroffen war, hatte gesagt, dass die Verräterinnen eine Möglichkeit hätten, das zu tun. Wie sonst könnten ihre Spione, die sich als Sklavinnen ausgaben, eine Entdeckung vermeiden? Ich frage mich, was Lorkin mir sonst noch nicht erzählt hat. Ein Stich der Frustration durchzuckte ihn. Seit seiner Rückkehr nach Arvice hatte es Lorkin widerstrebt, irgendetwas über die Rebellengesellschaft zu erzählen, in der er während der letzten Monate gelebt hatte. Dannyl verstand, dass seinem früheren Assistenten Geheimnisse anvertraut worden waren, die er nicht offenbaren konnte, ohne viele Leben in Gefahr zu bringen. Aber es macht den Eindruck, als läge seine Loyalität mehr bei ihnen als bei der Gilde und Kyralia.

Der junge Magier hatte begonnen, wieder Roben zu tragen, daher betrachtete er sich offensichtlich immer noch als einen Gildemagier – obwohl er Dannyl bei ihrer Begegnung in den Bergen erklärt hatte, dass die Gilde so tun solle, als habe er sie verlassen.

Die Füße von Dannyls Reisetruhe waren gearbeitet wie kleine Baumstümpfe mit rauer, knotiger Borke. Dannyl hatte einen der Knoten mit Magie herausgeschnitten und einen kleinen Hohlraum dahinter geschaffen, für den Fall, dass er Osens Ring jemals würde verstecken müssen. Jetzt löste er den Knoten, legte Soneas Ring hinein und stöpselte den Hohlraum dann wieder zu. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Herrenzimmer, dem Mittelpunkt eines traditionellen sachakanischen Hauses, in dem der Familienvorsteher Gäste begrüßte und unterhielt.

Die Gilde hatte niemals offiziell erklärt, dass Lorkin nicht mehr ihr Mitglied sei, obwohl sie damit die Spannungen zwischen Sachaka und Kyralia im Gefolge seines Aufenthalts bei den Verräterinnen hätten mildern können. Zum einen hatte man Sonea den Schmerz ersparen wollen, den der Ausschluss ihres Sohnes ihr bereitet hätte, und zum anderen wollten die höheren Magier auch nicht den Anschein erwecken, als gäben sie die Suche nach einem abtrünnigen Magier allzu schnell auf. Es hatte jedoch die Gefahr bestanden, dass die Untätigkeit der Gilde es so scheinen ließ, als hieße sie Lorkins Verbindung mit den Rebellen gut.

Die Rückkehr nach Arvice mochte die Spannung zwischen der Gilde und Sachaka gemildert haben, aber nun wollte der sachakanische König unbedingt wissen, was Lorkin über seinen Feind in Erfahrung gebracht hatte. Ihm stand eine Enttäuschung bevor.

Sobald er gehört hatte, dass der junge Magier zurückgekehrt war, hatte König Amakira ihm untersagt, die Stadt zu verlassen. Dannyl hatte den Ruf in den Palast bald darauf erwartet, aber es waren mehrere Tage ohne weitere Nachrichten verstrichen. Zweifellos hatte der König sich mit seinen Ratgebern besprochen.

Darunter Ashaki Achati, falls seine Abwesenheit ein Hinweis ist.

Achati war nicht mehr im Gildehaus zu Besuch gewesen und hatte auch keine Nachricht mehr dorthin geschickt, seit er, Dannyl und Tayend von ihrer Forschungsreise nach Duna zurückgekehrt waren. Bei dem Gedanken an die Reise regte sich Wut in Dannyl. Tayend hatte Achati manipuliert, damit er sie begleiten konnte, dann hatte er Dannyl und Achati bewusst und erfolgreich daran gehindert, ein Liebespaar zu werden.

Seltsam, dass das dazu geführt hat, dass ich es umso mehr will, obwohl ich vor unserem Aufbruch zögerlich war und Zweifel hatte wegen der politischen Konsequenzen einer solchen Beziehung.

Die Tatsache, dass Tayends Gründe für seine Einmischung die gleichen waren wie jene, die Dannyl überhaupt veranlasst hatten zu zögern, und dass die gegenwärtige Situation sein Zögern im Nachhinein mehr als rechtfertigte, machte es Dannyl nicht leichter, ihm die Einmischung zu verzeihen.

Dannyl konnte nicht umhin zu hoffen, dass es nur die Situation mit Lorkin war, die Achati fernhielt, und dass der Mann ihn nicht aufgegeben hatte.

Er konnte außerdem nicht umhin, Gewissensbisse zu verspüren. Ob er und Achati Liebende waren oder nicht, sie würden immer Geheimnisse voreinander haben müssen. Geheimnisse wie den Vorschlag der Duna, mit der Gilde ein Bündnis oder ein Handelsabkommen zu schließen. Diese Angelegenheit war seit Lorkins Rückkehr fast in Vergessenheit geraten. Früher einmal wäre die Gilde sehr aufgeregt über eine Möglichkeit gewesen, eine neue Art von Magie zu erwerben, aber die Aussicht auf den gleichen Tauschhandel mit den Verräterinnen, die ein sehr viel ehrfurchtgebietenderer Verbündeter sein konnten, hatte das überschattet.

Dannyl wusste nicht genau, was die Verräterinnen Lorkin gebeten hatten, der Gilde zu übermitteln. Osen hatte beschlossen, dass es das Beste sei, wenn Dannyl nichts darüber wusste, für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand seine Gedanken las. Dannyl runzelte die Stirn. Osen muss wissen, dass Lorkin eine Gedankenlesung blockieren kann. Lorkin wird mir nichts erzählen, was er nicht schon Osen erzählt hat.

Als er das Herrenzimmer erreichte, sah er, dass Lorkin bereits dort wartete. Er, Tayend und Lady Merria, Dannyls Assistentin, saßen auf Hockern und unterhielten sich leise. Bei Dannyls Eintritt erhoben sie sich.

»Bereit?«, fragte Dannyl Lorkin.

Lorkin nickte.

Tayend warf dem jungen Magier einen ernsten Blick zu. »Viel Glück.«

»Danke, Botschafter«, erwiderte Lorkin.

»Wir haben beide unsere sachakanischen Freunde gefragt, was der König ihrer Meinung nach tun wird«, fügte Tayend hinzu und sah Merria an. »Niemand will irgendetwas voraussagen, aber sie hoffen alle, dass der König nichts tun wird, was die Verbündeten Länder gegen ihn aufbringt.«

»Und denken sie, ich sollte mein Versprechen brechen und alles über die Verräterinnen erzählen?«, fragte Lorkin.

Tayend verzog das Gesicht. »Ja.« Merria nickte zustimmend.

Lorkins Lippen zuckten zu einem flüchtigen Lächeln. »Kaum überraschend.« Aber trotz seines scheinbaren Humors waren seine Augen hart. Dannyl fühlte sich plötzlich an Schwarzmagierin Sonea erinnert. Der Gedanke, wie halsstarrig Lorkins Mutter in seinem Alter gewesen war, machte Dannyl ein wenig Mut, wenn er daran dachte, dass Lorkin sich den Fragen und Schikanen des sachakanischen Königs würde stellen müssen. Hoffen wir, dass Schikanen alles sind, was er versuchen wird.

»Seid Ihr auch vorsichtig«, sagte Merria.

Dannyl begriff, dass sie ihn anschaute, und er blinzelte überrascht. Sie hatte ihm seit seiner Rückkehr finstere Blicke zugeworfen und ihn wissen lassen, dass sie ihm nicht verziehen hatte, dass er sie nicht nach Duna mitgenommen hatte. Er war sich nicht sicher, wie er auf ihre Sorge reagieren sollte, vor allem, da er nicht darüber nachdenken wollte, was mit ihm selbst geschehen würde, sollten die Dinge eine Wendung zum Schlimmeren nehmen.

»Ich werde zurechtkommen«, erklärte er ihr. »Wir werden zurechtkommen«, fügte er hinzu. Tayend sah Dannyl auf eine besorgte Weise an, über die Dannyl ebenfalls nicht nachdenken wollte, daher wandte er sich dem Flur zu, der aus dem Gildehaus führte. »Nun, wir sollten den König nicht warten lassen.«

»Nein«, sagte Lorkin leise.

Dannyl blickte zu Kai hinüber, dem Mann, der jetzt sein persönlicher Sklave war. Merria hatte von ihren Freundinnen erfahren, dass es ein typischer Trick von Sklaven war, häufig Aufgaben untereinander zu wechseln, da es für einen Herrn dann schwerer war, den richtigen Sklaven für einen bestimmten Fehler zu bestrafen. Und je mehr Sklaven man sah, umso schwerer war es, sich ihre Namen zu merken, und wenn man sich den Namen eines Sklaven nicht merken konnte, war es schwerer, seine Bestrafung anzuordnen.

Merria hatte verlangt, dass jedem Bewohner des Gildehauses ein oder zwei Sklaven zugeteilt wurden, die sich um ihre Bedürfnisse kümmerten. Aber obwohl das Arrangement mehr Ähnlichkeit damit hatte, einen Diener zu haben, hatte es trotzdem Nachteile. Ein Diener stellte Fragen. Ein Diener würde es sagen, wenn man ihm etwas Unmögliches oder Schwieriges abverlangte. Ein Diener warf sich nicht zu Boden, wann immer man ihn sah. Obwohl Dannyl im Laufe der Jahre einige aufreizend streitlustige Dienstboten gehabt hatte, würde er lieber diese Unannehmlichkeit auf sich nehmen statt fraglosen Gehorsam.

»Lass die Kutschensklaven wissen, dass wir so weit sind, Kai«, befahl Dannyl.

Kai eilte voraus, und Dannyl führte Lorkin den Flur entlang zur Vordertür. Als sie hindurchtraten, blendete helles Sonnenlicht Dannyls Augen, und er hob die Hand, um sie zu beschatten. Der Himmel war blau und wolkenlos, und in der Luft lagen eine Wärme und Trockenheit, die er in Kyralia mit dem Beginn des Sommers gleichgesetzt hätte. Hier begann gerade erst das Frühjahr. Wie immer warfen die Sklaven sich zu Boden. Dannyl befahl ihnen, sich zu erheben, dann stiegen er und Lorkin in die wartende Kutsche.

Sie fuhren schweigend zum Palast. Dannyl bedachte all das, was Osen ihm zu sagen aufgetragen hatte und was er nicht sagen sollte. Er wünschte, er wüsste mehr darüber, was Lorkin und die Gilde planten. Es verursachte ihm Unbehagen, nicht die ganze Wahrheit zu kennen. Allzu bald bog die Kutsche in die breite, von Bäumen gesäumte Allee ein, die zum Palast führte, dann hielt sie vor dem Gebäude an. Die Sklaven kletterten zu Boden und öffneten die Tür.

Dannyl stieg aus und wartete auf Lorkin.

»Hübsch«, bemerkte Lorkin und betrachtete voller Bewunderung das Gebäude.

Natürlich, er hat den Palast noch nicht gesehen, ging es Dannyl durch den Kopf. Als er zu den gerundeten weißen Mauern emporblickte und in den oberen Abschluss der goldglänzenden Kuppel darüber, erinnerte er sich daran, wie beeindruckt er bei seinem ersten Besuch hier gewesen war. Jetzt machte er sich zu große Sorgen wegen des bevorstehenden Gesprächs, um Bewunderung zu empfinden.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Eingang und führte Lorkin hinein. Sie schritten den breiten Flur entlang, vorbei an den Wachen und hinein in die riesige, von Säulen beherrschte Halle, die dem König als Audienzsaal diente. Dannyls Herz begann schneller zu schlagen, als er sah, dass viel mehr Leute anwesend waren als bei jeder seiner vorangegangenen Begegnungen mit dem König. Statt einer Gruppe von zwei oder drei Personen hier und da hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden. Nach ihren stark dekorierten kurzen Jacken und selbstbewussten Posen zu urteilen, waren die meisten von ihnen Ashaki. Er zählte schnell. Ungefähr fünfzig.

Das Wissen, dass ihn so viele Schwarzmagier umgaben, sandte ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Er konzentrierte sich darauf, das Gesicht leidenschaftslos und seinen Gang würdevoll zu halten, in der Hoffnung, dass er seine Furcht erfolgreich verbarg.

König Amakira saß auf seinem Thron. Trotz seines Alters wirkte er genauso angespannt und wachsam wie der jüngste der Sachakaner im Raum. Er ließ Lorkin keine Sekunde aus den Augen, bis Dannyl stehen blieb und sich auf ein Knie sinken ließ. Lorkin folgte seinem Beispiel, wie er es ihm aufgetragen hatte.

»Erhebt Euch, Botschafter Dannyl«, forderte der König ihn auf.

Dannyl tat wie geheißen und widerstand der Versuchung, Lorkin anzusehen, der gezwungen war, weiter auf dem Boden zu knien, bis man ihm etwas anderes sagte. Der Blick des Königs war wieder zu dem jungen Magier gewandert. Der Ausdruck in seinen Augen war eindringlich.

»Erhebt Euch, Lord Lorkin.«

Lorkin stand auf, sah den König an und senkte dann höflich den Blick.

»Willkommen zurück«, fuhr der König fort.

»Vielen Dank, Euer Majestät.«

»Habt Ihr Euch von Eurer Rückreise nach Arvice erholt?«

»Ja, Euer Majestät.«

»Das ist gut zu hören.« Der König sah Dannyl an, und eine Art kalter Erheiterung stahl sich in seine Augen. »Botschafter, ich wünsche von Lorkin zu hören, wie es dazu gekommen ist, dass er Arvice verlassen und bei den Verräterinnen gelebt hat und dann zurückgekehrt ist.«

Dannyl nickte. »Das habe ich erwartet, Euer Majestät«, erwiderte er und brachte ein Lächeln zustande. Er drehte sich zu Lorkin um. »Erzählt ihm, was Ihr mir erzählt habt, Lord Lorkin.«

Der junge Magier bedachte Dannyl mit einem erheiterten, beinahe tadelnden Blick, bevor er sich wieder dem König zuwandte. Dannyl verkniff sich ein Lächeln. Wenn er Ihnen erzählt, was er mir erzählt hat, wird er Ihnen praktisch gar nichts erzählen.

»In der Nacht, in der ich das Gildehaus verließ«, begann Lorkin, »hat sich eine Sklavin in mein Bett gestohlen und versucht, mich zu töten. Ich wurde von einer anderen Sklavin gerettet, die mich davon überzeugte, dass weitere Meuchelmörder kommen würden, um mich zu töten, wenn ich nicht mit ihr fortging. Meine Retterin war, wie Ihr gewiss erraten habt, in Wirklichkeit gar keine Sklavin, sondern eine der Verräterinnen. Sie hat mir erklärt, dass die Gesellschaft, zu der sie gehörte, sich vor dem sachakanischen Krieg gebildet habe, als eine Gruppe von Frauen sich aufgrund ihrer schlechten Behandlung in der sachakanischen Gesellschaft zusammengetan hatte. Der Krieg zwang sie in die Berge zu gehen, wo sie zu einem neuen Volk wurden, das Sklaverei und die Ungleichheit zwischen Mann und Frau ablehnte.«

»Sie werden von Frauen regiert«, unterbrach der König. »Ist das keine Ungleichheit?«

Lorkin zuckte die Achseln. »Es ist keine perfekte Ordnung, aber sie ist immer noch fairer als jede andere, die mir begegnet ist oder von der ich gehört habe.«

»Ihr seid also zu ihrem Stützpunkt gegangen?«

»Ja. Es war der sicherste Ort, da die Meuchelmörder noch immer Jagd auf mich machten.«

»Könntet Ihr ihn wiederfinden?«

Lorkin schüttelte den Kopf. »Nein. Man hat mir die Augen verbunden.«

Der König kniff die Augen zusammen. »Wie groß ist ihr Stützpunkt? Wie viele Verräterinnen leben dort?«

»Ich … ich kann es wirklich nicht sagen.«

»Ihr könnt nicht, oder Ihr wollt nicht?«

»Es war nicht die Art von Ort, wo man leicht schätzen kann, wie viele Menschen in der Nähe sind.«

»Versucht es trotzdem.«

Lorkin breitete die Hände aus. »Mehr als hundert.«

»Habt Ihr irgendwelche Eindrücke gewonnen, was ihre Kampfkraft betrifft?«

Wieder schüttelte Lorkin den Kopf. »Ich habe sie nie kämpfen sehen. Einige sind Magierinnen. Das wisst Ihr bereits. Ich kann Euch keine Zahlen nennen oder Euch sagen, wie stark oder wie gut ausgebildet sie sind.«

Eine Bewegung unter den Ashaki in der Nähe des Throns erregte Dannyls Aufmerksamkeit, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er Achati erkannte. Der Mann sah Dannyl kurz in die Augen, aber die einzige Regung, die er zeigte, war Nachdenklichkeit. Er beugte sich dichter zum König vor und murmelte etwas. Der König ließ Lorkin nicht aus den Augen, aber er senkte leicht die Brauen.

»Was habt Ihr getan, während Ihr bei den Verrätern wart?«, fragte er.

»Ich habe geholfen, die Kranken zu behandeln.«

»Sie haben Euch, einem Fremden, genug vertraut, um Euch Kranke zu überlassen?«

»Ja.«

»Habt Ihr sie irgendetwas gelehrt?«

»Einiges. Und ich habe selbst auch einiges gelernt.«

»Was habt Ihr sie gelehrt?«

»Einige neue Heilmethoden – und ich habe mehrere von ihnen gelernt, obwohl manche Pflanzen erfordern, die wir in Kyralia nicht haben.«

»Warum habt Ihr sie verlassen?«

Lorkin hielt inne; offensichtlich hatte er die Frage nicht so bald erwartet. »Weil ich nach Hause zurückkehren wollte.«

»Warum seid Ihr nicht früher gegangen?«

»Sie lassen Fremde normalerweise nicht gehen. Aber in meinem Fall haben sie ihre Meinung geändert.«

»Warum?«

»Es sprach nichts dagegen. Ich hatte nichts Wichtiges erfahren, also konnte ich nichts Wichtiges preisgeben. Als ich ging, sorgten sie dafür, dass ich niemals in der Lage sein würde, den Weg zurück zu ihnen zu finden.«

Der König betrachtete ihn nachdenklich. »Trotzdem habt ihr mehr vom Stützpunkt der Verräterinnen gesehen als jeder Nichtverräter zuvor. Es könnte Einzelheiten geben, deren Bedeutung Ihr nicht versteht. Diese Rebellen sind eine Gefahr für unser Land, und eines Tages werden sie vielleicht auch eine Gefahr für andere Länder in dieser Region sein, das Eure eingeschlossen. Werdet Ihr einer Gedankenlesung zustimmen?«

Lorkin wurde sehr still. In der Halle war es leise, als er den Mund öffnete, um zu antworten.

»Nein, Euer Majestät.«

»Ich werde meinen begabtesten Gedankenleser einsetzen. Er wird Eure Gedanken nicht durchsuchen, sondern es Euch ermöglichen, ihm Eure Erinnerungen zu präsentieren.«

»Ich weiß das zu schätzen, aber ich bin verpflichtet, das Wissen zu schützen, das die Gilde mich gelehrt hat. Ich muss ablehnen.«

Der Blick des Königs wanderte zu Dannyl. Seine Miene war undeutbar. »Botschafter, werdet Ihr Lord Lorkin befehlen, sich einer Gedankenlesung zu unterziehen?«

Dannyl holte tief Luft. »Bei allem Respekt, Euer Majestät, das kann ich nicht tun. Dazu fehlt mir die Autorität.«

Der König zog die Augenbrauen nach unten. »Aber Ihr habt einen Blutring, der es Euch erlaubt, Euch mit der Gilde in Verbindung zu setzen. Tut das. Holt Euch den Befehl von der Person, die die Autorität hat, ihn zu erteilen.«

Dannyl öffnete den Mund, um zu protestieren, besann sich dann jedoch eines Besseren. Er musste den Anschein erwecken, als versuche er, mit dem König zusammenzuarbeiten. Also griff er in seine Roben, holte Osens Ring aus seiner Tasche und streifte ihn über.

– Osen?

– Dannyl, kam die prompte Antwort. Der Administrator hatte gesagt, dass er dafür sorgen würde, dass er nichts zu tun hatte, während sie sich mit dem sachakanischen König trafen, und Dannyl nahm keine Überraschung bei dem anderen Mann wahr.

– Sie wollen, dass die Gilde Lorkin befiehlt, sich einer Gedankenlesung zu unterziehen.

– Ah. Natürlich. Sie werden kein Wort glauben, das er sagt.

– Was soll ich ihnen ausrichten?

– Dass nur Merin die Autorität hat, diesen Befehl zu erteilen, und er wird es erst in Erwägung ziehen, wenn er eine Chance hatte, Lorkin persönlich und unter vier Augen zu befragen.

Ein Frösteln überlief Dannyl. Die einzige Möglichkeit, wie der kyralische König seine Wünsche klarer machen konnte, wäre die, auf alle Förmlichkeiten zu verzichten und von Amakira zu verlangen, dass er Lorkin zurück nach Kyralia ziehen ließ. – Sonst nichts?

– Für den Moment nicht, nein. Schaut, was Amakira dazu sagt.

Dannyl streifte den Ring ab, hielt ihn in der Hand, blickte zu dem König von Sachaka auf und übermittelte ihm Osens Nachricht.

Amakira starrte Dannyl an, eine sehr, sehr lange Zeit, wie es ihm vorkam. Als er sich schließlich rührte, bewegte er zuerst seine Kinnmuskeln, was einen Hinweis auf den Ärger gab, mit dem die Nachricht ihn erfüllt hatte.

»Das ist umständlich«, sagte er leise. »Und zwingt mich zu der Frage, ob ich die Bemühungen um eine Zusammenarbeit zwischen unseren Nationen beiseiteschieben muss, um meine eigene zu beschützen.« Er schürzte die Lippen und drehte sich zu zwei der Ashaki um. »Bitte begleitet Lord Lorkin ins Gefängnis.«

Lorkin machte einen halben Schritt rückwärts, dann hielt er inne. Als die beiden Ashaki näher kamen, trat Dannyl einen Schritt vor.

»Ich muss protestieren, Euer Majestät!«, rief Dannyl aus. »Ich bitte im Namen der Verbündeten Länder, dass Ihr die Vereinbarung einhaltet …«

»Entweder Lord Lorkin geht ins Gefängnis, oder Lord Lorkin geht ins Gefängnis und Botschafter Dannyl verlässt Sachaka«, sagte der König, laut genug, um Dannyls Worte zu übertönen.

– Lasst sie ihn mitnehmen.

Dannyl hätte vor Überraschung beinahe laut aufgekeucht, als er die Stimme in seinem Kopf hörte. Ihm wurde bewusst, dass er den Ring fest umklammerte, so dass der Edelstein seine Haut berührte und seine Gedanken daher an Osen übermittelte.

– Seid Ihr Euch sicher?

– Ja, antwortete der Administrator. Wir haben natürlich gehofft, dass es nicht so weit kommen würde, aber wir möchten keinesfalls Lorkin verlieren und zusehen müssen, wie Ihr aus Sachaka verbannt werdet. Kehrt in das Gildehaus zurück und fangt an, Amakira zuzusetzen, dass er Lorkin gehen lassen soll. Wir werden von hier aus alles tun, was wir können.

Dannyl wurde flau, als die beiden Ashaki an ihm vorbeigingen und links und rechts von Lorkin stehen blieben. Der junge Magier wirkte resigniert und besorgt, aber als er Dannyls Blick auffing, brachte er ein mattes Lächeln zustande.

»Ich werde schon zurechtkommen«, sagte er. Dann ließ er sich von den beiden Männern davonführen.

Dannyl drehte sich wieder zum König um. »Bringt ihn ins Gefängnis, wenn Ihr müsst, Euer Majestät, aber fügt ihm keinen Schaden zu«, warnte er, »sonst wird in Zukunft kaum noch ein friedliches Bündnis zwischen den Verbündeten Ländern und Sachaka möglich sein. Das wäre eine große Schande.«

Amakiras Blick geriet nicht ins Wanken, aber seine Stimme war leiser, als er wieder sprach. »Kehrt ins Gildehaus zurück, Botschafter. Dieses Treffen ist beendet.«

Noch bevor Sonea die Augen öffnete, wusste sie, dass es zu früh war, um aufzuwachen. Sie drehte sich zu ihrem abgedeckten Schlafzimmerfenster um und sah das helle Morgenlicht durch die Ritzen fallen. Sie konnte nur ein oder zwei Stunden geschlafen haben.

Ein Klopfen vom Hauptraum verriet ihr auch, warum sie wach war.

Stöhnend warf sie die Arme über die Augen und wartete. Jeden Morgen außer an den unterrichtsfreien Tagen kam Schwarzmagier Kallen vorbei, um Lilia zum Unterricht abzuholen. Die meiste Zeit bereitete die Novizin sich ganz leise auf ihren Tag in der Universität vor, um Sonea nicht zu wecken. Und Kallen hatte zwar einige Zeit gebraucht, nachdem Sonea mehrfach vielsagend darauf hingewiesen hatte, dass sie im Hospital gewöhnlich die Nachtschicht übernahm, aber schließlich begriffen, dass von ihm erwartet wurde, leise anzuklopfen.

Heute Morgen schien er es vergessen zu haben.

Das Klopfen erklang erneut, noch lauter diesmal. Sonea stöhnte abermals. Warum öffnete Lilia nicht? Seufzend warf sie die Bettdecken zurück und zwang sich aufzustehen. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, um es zu glätten, griff sich einen Morgenmantel und zog ihn über ihre Nachtwäsche. Nachdem sie den Hauptraum betreten hatte, ging sie auf die Tür zu und sandte ein klein wenig Magie aus, um den Knauf zu drehen.

Als die Tür nach innen aufschwang, blickte ein stirnrunzelnder Kallen auf, dessen Stirn sich bei ihrem Anblick in noch tiefere Falten legte. Sein Blick flackerte zu ihrem Morgenmantel und wieder hinauf zu ihren Augen, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich dabei nicht.

»Guten Morgen, Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Entschuldigt die Störung. Ist Lilia hier?«

Sonea schaute zu Lilias geschlossener Schlafzimmertür auf der anderen Seite des Raums hinüber, dann ging sie darauf zu. Sie klopfte zuerst leise an, dann lauter, dann öffnete sie die Tür. Der Raum war leer. Das Bett war jedoch gemacht, daher war Soneas Tante und Dienerin, Jonna, offensichtlich bereits da gewesen und wieder gegangen.

»Nein«, antwortete sie und kehrte zur Haupttür zurück. »Und nein, ich weiß nicht, wo sie ist. Wenn ich es erfahre, werde ich Euch Bescheid geben.«

»Danke.« Kallen wirkte entschieden unglücklich, aber er nickte und trat von der Tür weg.

Sonea schloss die Tür, ging auf das Schlafzimmer zu und hielt dann inne. Es war ungewöhnlich, dass Lilia am Morgen fort war. Es lag nicht in ihrer Natur, sich schlecht zu benehmen oder Ärger zu machen, aber sie musste trotzdem überwacht werden, weil sie bewiesen hatte, wie leicht sie sich von anderen in die Irre führen ließ.

Aber vielleicht nicht mehr so leicht wie früher. Schließlich brachte es einen dazu, genau zu überlegen, wem man vertraute, wenn man von seiner engsten Freundin überlistet wurde, um schwarze Magie zu erlernen, damit diese Freundin einem einen Mord in die Schuhe schieben konnte. Ganz zu schweigen von der Entdeckung, dass Lorandra, die wilde Magierin, der Lilia bei der Flucht aus dem Gefängnis geholfen hatte, versucht hatte, Lilia diesen Gefallen zu vergelten, indem sie sie ihrem Sohn, dem berüchtigten Dieb Skellin, auslieferte, damit Lilia ihn schwarze Magie lehren konnte.

Sonea vertraute darauf, dass Lilia sich nicht willentlich erneut in ernste Schwierigkeiten bringen würde – aber vielleicht unwillentlich. Sonea musste außerdem den Anschein erwecken, als habe sie ein Auge auf alle anderen schwarzen Magier. Obwohl sie nicht offiziell Lilias Mentor war – das war Kallen –, hatten doch alle den Eindruck, dass sie die Verantwortung für sie übernommen hatte, als sie dem Mädchen erlaubte, in ihren Räumen zu wohnen.

Als Sonea sich im Zimmer umschaute, sah sie einen Zettel unter dem Wasserkrug auf dem Waschtisch hervorlugen. Sie nahm ihn an sich und las.

Bin früh aufgebrochen, um eine Freundin zu treffen. Sagt Schwarzmagier Kallen, dass ich von dort aus direkt zum Unterricht kommen werde.

Lilia

Sonea seufzte und verdrehte die Augen, aber ihr Ärger verflog bald. Die Nachricht war wahrscheinlich nicht für sie bestimmt, sondern für Jonna. Die Dienerin hatte den Zettel nicht gesehen – oder sie hatte nicht warten können, bis Kallen gekommen war –, oder aber sie hatte versucht, ihn zu erreichen, und ihn nicht gefunden.

Die Freundin war wahrscheinlich Anyi, die verhindert hatte, dass Lilia Skellin ausgeliefert wurde. Da Anyi Cerys Tochter war, war Sonea nicht restlos überzeugt, dass das Mädchen Lilia nicht auf irgendeine Weise auf Abwege führen würde.

Cery würde nicht zulassen, dass die Mädchen in Schwierigkeiten geraten. Trotzdem … ich frage mich, warum Lilia sich zu dieser frühen Stunde mit Anyi trifft – und wo. Sonea legte den Zettel beiseite. Sie wusste, dass Anyi ihre Räume auf demselben Weg betrat, auf dem Cery gelegentlich erschien: durch eine verborgene Tür im Gästezimmer. Aber wenn Lilia fortgegangen war, um sich mit Anyi zu treffen, bedeutete das, dass sie zusammen anderswo hingingen, und das war ein Grund zur Sorge. Als neue Schwarzmagierin durfte Lilia das Gelände der Gilde nicht verlassen.

Vielleicht ist sie mit Anyi zurück durch die Luke gegangen. Die Tunnel unter der Gilde waren für alle bis auf die Höheren Magier verbotenes Terrain, offiziell, weil sie instabil und gefährlich waren, in der Hauptsache jedoch, weil es niemals irgendeinen guten Grund gab, warum jemand dort unten sein sollte. Das war es jedoch nicht, was Sonea an Lilias Treffen mit Anyi am meisten Sorgen machte.

Skellin wollte Cery tot sehen. Das bedeutete, dass jeder, der ihm half, eine Zielscheibe war. Bisher hatte Cery die Tatsache, dass Anyi seine Tochter war, geheim halten können. Offiziell war sie immer noch eine Leibwächterin, aber das bedeutete trotzdem, dass sie eine Zielscheibe war. Lilia mochte in der Lage sein, sie mit Magie zu beschützen, aber wenn der Angreifer Skellin war oder seine Mutter, Lorandra, würde sie in Schwierigkeiten sein, da beide Magier waren.

Ist sie gegangen, weil Cery ihre Hilfe braucht? Aber gewiss würde er sich zuerst mit mir in Verbindung setzen. Sie runzelte die Stirn. In letzter Zeit war Cery schwer zu finden gewesen, und wenn sie es dann doch schafften, sich zu treffen, wirkte er ausgezehrt und ängstlich. Sie hatte den Verdacht, dass es in Wahrheit mit seinen Bemühungen, Skellin zu finden, nicht mehr weit her war und er es im Gegenteil nur mit knapper Not schaffte, sich außer Reichweite des Diebes und wilden Magiers zu halten.

Sonea seufzte erneut und kehrte ins Schlafzimmer zurück, aber nicht um zu schlafen. Es war unwahrscheinlich, dass sie mehr tun würde, als wach dazuliegen, jetzt da sie sich sowohl um Cery als auch um Lilia Sorgen machte. Sie wusch sich, kleidete sich an, zog ein wenig Magie in sich hinein, um die Erschöpfung zu vertreiben, und machte sich gerade eine Tasse Raka, als erneut jemand an ihre Wohnungstür klopfte.

Nachdem sie sich dabei ertappt hatte, dass sie wieder seufzte – sie hatte heute schon viel zu oft geseufzt –, schaute sie über ihre Schulter und öffnete die Tür mit Magie.

Administrator Osen trat ein. Sonea blinzelte überrascht.

»Administrator.«

»Schwarzmagierin Sonea«, begrüßte er sie und neigte höflich den Kopf. »Darf ich hereinkommen?«

»Natürlich«, erwiderte sie und drehte sich zu ihm um. Er schloss die Tür. »Möchtet Ihr etwas Raka oder Sumi?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe schlechte, aber nicht gänzlich unerwartete Neuigkeiten.«

Sie hatte ein unangenehmes Gefühl, als würden sich all ihre inneren Organe in Wasser verwandeln. Lorkin.

»Wie schlecht?«

Osens Lippen wurden schmal vor Mitleid. »Nicht die schlimmsten Neuigkeiten. Ich wäre direkter gewesen, wenn das der Fall wäre. Lorkin hat eine Gedankenlesung abgelehnt. König Amakira hat verlangt, dass man ihm befiehlt, sich einer solchen zu unterziehen. König Merin hat sich geweigert. Amakira hat Lorkin ins Gefängnis geschickt.«

Ein Frösteln überlief sie, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Ein Bild von Lorkin, angekettet in einer feuchten, dunklen Zelle, schoss ihr durch den Sinn, und ihr wurde übel. Vor ihrem inneren Auge war er ein verängstigter Junge. Aber das ist er nicht. Er ist ein erwachsener Mann. Er wusste, dass dies geschehen konnte, und trotzdem hat er sich geweigert, die Verräterinnen ans Messer zu liefern. Ich muss seinem Urteil vertrauen, dass sie es wert sind, gerettet zu werden. Sie zwang sich, sich wieder auf Osen zu konzentrieren.

»Was jetzt?«, fragte sie, obwohl die Höheren Magier diesen Fall schon viele Male erörtert hatten.

»Wir arbeiten darauf hin, ihn zu befreien. Wobei ›wir‹ die Gilde, der König und der elynische König sind. Wenn Lorkin recht hat und er sie daran hindern kann, seine Gedanken zu lesen, dann müssen wir Amakira zu der Erkenntnis bringen, dass er am ehesten mehr über die Verräterinnen erfahren wird, wenn er Lorkin gehen lässt. An diesem Punkt kommt Ihr ins Spiel.«

Sonea nickte und verspürte verspätete Erleichterung. Ihre Aufgabe, sich im Namen der Gilde mit den Verräterinnen zu treffen, war komplizierter geworden, als sich herausgestellt hatte, dass König Amakira Lorkin nicht erlauben würde, Sachaka zu verlassen, bis er alles von ihm erfahren hatte, was er erfahren konnte. Die Gilde hatte beschlossen, sie ebenfalls nach Arvice zu schicken, um Verhandlungen über die Freilassung ihres Sohnes zu führen.

Weil die Höheren Magier zu dem Schluss gekommen waren, dass nur ein Schwarzmagier den Respekt erhalten würde, der notwendig war, um mit dem sachakanischen König zu verhandeln, bedeutete das, dass die Gilde zwischen ihr und Kallen wählen musste – Lilia war zu jung und immer noch Novizin. Sie hatten gute Gründe, sich für keinen von ihnen zu entscheiden. Während die Sachakaner Frauen geringer achteten als Männer und die Tatsache, dass sie Lorkins Mutter war, sie erpressbar werden ließ, machte Kallens Abhängigkeit von Feuel ihn potenziell unverlässlich und ebenso verletzbar gegen Überredungsversuche.

Vielleicht kann das Wissen, dass ich schon früher Sachakaner getötet habe und bereit wäre, es wieder zu tun, um meinen Sohn zu retten, Amakira überzeugen, ihn freizulassen.

Natürlich konnte der sachakanische König damit drohen, Lorkin etwas anzutun, um etwas von ihr zu erhalten, aber das würde ihm nicht viel einbringen. Sie wusste nicht, was die Sachakaner herausfinden wollten, und konnte Lorkin nicht befehlen zu sprechen. Sie konnte nur versprechen, dass sie versuchen würde, ihn dazu zu überreden, wenn sie ihn gehen ließen.

Sie drehte sich zu Osen um. »Also, wann breche ich auf?«

Schwaches Licht, das durch eine Tür vor ihr fiel, sagte Lilia, dass sie und Anyi ihr Ziel fast erreicht hatten. Sie machte einen Bogen um den Schutt im Flur und folgte ihrer Freundin zu der Öffnung und in den Raum dahinter.

Cery saß auf einer der alten Holzkisten, die Anyi zusammengetragen hatte, um sie als Sitzplätze zu benutzen. Unter ihm lag auf einigen der fadenscheinigen Kissen von dem Stapel, auf dem Lilia und Anyi es sich so oft bequem gemacht hatten, Gol. Selbst im schwachen Kerzenlicht konnte sie sehen, dass er bleich war. Sie ging mit ihrer Lichtkugel näher heran und machte sie heller. Gols Stirn war feucht von Schweiß, und seine Augen wirkten fiebrig.

Lilia blickte auf ihn hinab, gelähmt von Zweifeln. Weiß ich schon genug über Heilung, um ihn zu retten?

»Versuch es einfach«, drängte Anyi.

Lilia sah ihre Freundin an und nickte. Sie zwang sich, sich neben Gol hinzuknien. Cery drückte die Hände auf Gols Unterleib, und sie waren voller Blutflecken.

»Sollte ich den Druck lösen?«, fragte Cery.

»Ich … ich bin mir noch nicht sicher«, gestand Lilia. »Ich werde es mir einfach … ansehen.«

Sie zupfte mehr von Gols Hemd weg, legte eine Hand auf seine nackte Haut, schloss dann die Augen und sandte ihre Sinne in seinen Körper.

Zuerst war alles Chaos, aber sie machte sich zunutze, was man sie gelehrt, was sie gelesen und was sie eingeübt hatte, um all den unterschiedlichen Signalen und Bewegungen einen Sinn abzugewinnen. Das Erste, was offensichtlich war, war der Schmerz. Sie keuchte beinahe laut auf, als sie diesen Schmerz auffing, und war stolz, dass sie nicht die Konzentration verlor. Schmerzen waren leicht zu lindern. Es war eine der ersten Lektionen, die man Heilern beibrachte. Sobald sie das in Angriff genommen hatte, suchte sie nach weiteren Informationen. Ihr Geist wurde zu dem zerstörten Teil gezogen, wo lebenswichtige Flüssigkeiten verlorengingen, während andere, die gefährlich giftig waren, in gesunde Bereiche sickerten.

Seine Eingeweide sind von der Klinge verletzt worden, die ihn getroffen hat. Er wäre bereits tot, wenn das Loch deutlich größer gewesen wäre. Offensichtlich ist es das, was ich zuerst reparieren muss …

Sie zog Magie in sich hinein und ließ sie in die Wunde fließen, deren Ränder sich zusammenfügten und schneller heilten, als sie es ohne Eingreifen jemals hätten tun können.

Jetzt muss ich verhindern, dass mehr Blut hinausfließt. Aber bevor ich das tue, muss ich mich um dieses Gift aus den Eingeweiden kümmern und um das Blut, das er innerlich verliert. Ich muss das eine benutzen, um das andere auszuspülen. Sie hoffte, dass Cery und Anyi nicht in Panik gerieten, während sie Magie benutzte, um die Flüssigkeiten aus der Wunde zu vertreiben. Da war ein wenig mehr Widerstand, als sie erwartet hatte. Dann erinnerte sie sich daran, dass Cery noch immer auf die Wunde drückte. Sie konzentrierte sich wieder hinreichend auf ihren eigenen Körper, um die Kontrolle über ihre Stimmbänder zu gewinnen.

»Du kannst jetzt aufhören«, zwang sie sich zu sagen.

Sie bemerkte, dass das Blut wieder zu fließen begann, und musste sich mit aller Macht konzentrieren, um das durchtrennte Fleisch und die Haut zu heilen. Eingedenk der Warnungen ihrer Lehrer vergewisserte sie sich, dass es keine weiteren inneren Verletzungen gab, die bluteten. Einige Blutgefäße mussten repariert werden. Das war einfach.

Nach einer letzten Überprüfung zog sie ihre Sinne wieder in sich hinein, holte tief Luft und öffnete die Augen. Gols Gesicht war nicht länger starr vor Schmerz. Er schaute zu ihr auf und lächelte.

»Besser?«, fragte sie.

Er nickte. »Ja. Aber … müde. Sehr müde.« Er runzelte die Stirn. »Durstig.«

»Das ist normal. Du hast Blut verloren, und das Gift könnte eine Entzündung verursacht haben.«

»Die Klinge war vergiftet?«, fragte Cery erschrocken.

»Nein, aber sein Darm ist aufgeschlitzt worden. Was darin ist, wirkt wie Gift, wenn es in den Rest des Körpers gelangt.«

Cery betrachtete den massigen Mann nachdenklich. »Du wirst für eine ganze Weile nicht für Kampfübungen zu gebrauchen sein.« Er sah Lilia an. »Wie lange wird es dauern, bis er sich vollkommen erholt hat?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher, aber es wird schneller gehen, wenn er gutes Essen und sauberes Wasser bekommt.« Sie blickte Anyi an. »Wenn du mit mir kommst, werde ich nachsehen, ob Jonna etwas in meinem Zimmer zurückgelassen hat. Zumindest wird dort Wasser sein.«

»Du bist bereits spät dran für den Unterricht«, bemerkte Anyi. »Du solltest direkt in die Universität gehen.«

»In diesen Kleidern?« Lilia blickte auf ihre Novizenroben hinab. Sie waren abgewetzt und schmutzig von der Kletterpartie durch die schmale Lücke in den Mauern der Magierquartiere, die es ihr ermöglichte, aus Soneas Räumen und in die unterirdischen Tunnel zu schlüpfen. Normalerweise brachte Anyi ihr einige alte Kleider mit, die sie anziehen konnte, aber diesmal war sie mit leeren Händen erschienen. Lilia hatte nicht riskieren wollen, dass Gol vielleicht starb, während sie versuchte, etwas anderes zum Anziehen zu finden.

Anyi betrachtete Lilias Roben. »Kannst du nicht Magie benutzen, um sie in Ordnung zu bringen?«

Lilia seufzte. »Ich kann es versuchen. Hängt davon ab, wie schlimm es ist. Es dauert vielleicht länger, als zurückzugehen.«

Anyi musterte sie. »Sieht gar nicht so schlimm aus. Nichts, was du nicht damit erklären könntest, dass du gestolpert und in eine Hecke gefallen bist.«

»Wie sieht es mit etwas Essbarem und Wasser aus?«

Anyi zuckte die Achseln. »Ich werde mich darum kümmern.«

»Sonea wird den ganzen Tag in ihren Räumen sein.«

»Sie macht im Hospital die Nachtschicht, richtig? Also wird sie schlafen.«

»Und wenn sie nicht schläft? Oder wenn sie aufwacht?«

»Dann erzähle ich ihr, ich sei auf einen Sprung vorbeigekommen, um dich zu besuchen, und hätte Hunger.«

»Wenn es nur Wasser ist, das wir brauchen, kenne ich einige lecke Rohre«, sagte Cery. Er sah Lilia streng an. »Aber wir werden schlimmer dran sein, wenn du deinen Unterricht versäumst oder jemand bemerkt, dass du in den Tunneln unter der Gilde umhergestreift bist. Wir werden hier für eine Weile festsitzen, und du musst frei bleiben, damit du uns besuchen kannst, Lilia.«

Sie blickte von ihm zu Anyi. Er hatte natürlich recht. Zwar schien der Unterricht unwichtig im Vergleich dazu, ihre Freunde zu beschützen, aber es würde nur Verdacht erregen, wenn sie schwänzte. Einmal mehr verfluchte sie sich dafür, dass sie der Neugier nachgegeben und die Instruktionen über die Benutzung von schwarzer Magie in Nakis Buch ausprobiert hatte. Als sie noch eine gewöhnliche Novizin gewesen war, hatte niemand sie je beachtet. Sie seufzte und nickte. »In Ordnung. Aber ich komme heute Abend mit Essen für euch alle zurück.«

»Wie willst du das schaffen?«, fragte Cery und zog eine Augenbraue hoch.

»Oh, Jonna sagt mir immer, ich solle mehr essen, und sie lässt kleine Erfrischungen für mich da, während ich lerne. Heute Abend werde ich ungewöhnlich hungrig sein.«

3 Fragen

Lorkin verspürte zwar eine gewisse Erleichterung, als der Ashaki ihn aus dem Verhörraum führte, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, dass diese Empfindung womöglich verfrüht war. Sie gingen den gleichen Weg zurück, den sie an diesem Morgen gekommen waren: von der Zelle, in die man ihn aus dem Audienzsaal des Palastes gebracht hatte, in den Verhörraum. Vielleicht waren sie für heute fertig. Vielleicht war es draußen Nacht. Lorkins Magen war das einzige Maß für das Verstreichen der Zeit, aber es war kein besonders zuverlässiges. Wenn er einmal nicht vor Angst verkrampft war, knurrte er leise vor Hunger.

Sein Vernehmer, der sich nicht vorgestellt hatte, ging voran, und dessen Assistent folgte hinter Lorkin. Lorkin wusste nur, dass der Mann ein Ashaki war, weil ein Wachposten ihn so angeredet hatte.

Sie erreichten einen Flur, der Lorkin genau in Erinnerung geblieben war, weil er schräg hinunter in den Gefängnisbereich führte. Einmal mehr fragte er sich, warum es hier keine Treppen gab, aber jetzt wurde die Antwort klar: Ein Gefängniswärter schob einen Rollwagen auf sie zu. Auf dem Wagen lag ein sehr dünner, sehr alter Mann, der nichts am Leib hatte als ein weißes Tuch, das ihn von der Taille bis zu den Knien bedeckte. Als sie ihn passierten, warf Lorkin einen verstohlenen Blick auf das Gesicht des alten Mannes. Dann schaute er genauer hin.

Ist er tot? Die Brust hob und senkte sich nicht. Die Lippen des Alten waren bläulich. Sieht so aus. Er hielt hastig Ausschau nach Wunden, entdeckte jedoch keine. Nicht einmal Male, wo Fesseln um die Handgelenke gelegen haben mochten. Vielleicht ist er an Altersschwäche gestorben. Oder an einer Krankheit. Oder er ist verhungert. Oder es war schwarze Magie … Er widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und den Leichnam zu berühren und seine heilenden Sinne zu benutzen, um nach der Todesursache zu suchen.

Am Ende des schräg abfallenden Flures gelangten sie in einen großen Raum. Fesseln hingen von den Wänden, rot von Rost. Ein Stapel ähnlich angelaufener Metallgegenstände lag in einer Ecke – Gegenstände, die einer verängstigten Phantasie wie Folterwerkzeuge erscheinen mochten. Im Gegensatz dazu waren die gekreuzten Gitterstäbe vor den nischenförmigen Zellen zu beiden Seiten des Raums ohne jede Spur von Alter oder Schwäche.

Drei größere Zellen erstreckten sich über die längere Wand des Raumes und fünf kleine über die kürzere. Nur zwei der Zellen waren bewohnt: In einer saßen zwei Männer in mittleren Jahren, in der anderen ein junges Pärchen. Zwei Wachen hockten in der Nähe des Eingangs zum Hauptraum, zusammen mit einem weiteren Mann, der eine nüchternere Version der üblichen Gewandung männlicher Ashaki trug. Letzterer nickte dem Vernehmer zu, der die Geste erwiderte.

Gefangene blieben selten länger als einige Wochen, das hatte man Lorkin erzählt. Selbst wenn sie für schuldig befunden wurden. Magier auf Dauer einzusperren war zu schwierig, und Nichtmagier wurden einfach in die Sklaverei verkauft. Der Vernehmer hatte nicht gesagt, ob die Magier befreit oder hingerichtet wurden.

Das ist Teil des Spiels, dachte Lorkin. Ständige Andeutungen auf ernste Konsequenzen, wenn ich nicht mit ihnen zusammenarbeite, aber keine direkten Drohungen. Noch nicht.

Der Mann hatte sich ausgiebig laut gefragt, ob Lorkin als Magier in sachakanischem Sinne galt, da sein magisches Wissen unvollständig war. Machte der Umstand, dass er keine höhere Magie kannte, Lorkin zu einem Halbmagier? Einen Halbmagier gefangen zu halten mochte trotzdem mehr Ärger bedeuten, als die Sache wert war. Wie dem auch sei, es war schon früher getan worden, wenn auch nicht hier. Mit Lorkins eigenem Vater.

Wenn er versucht hat, mich zu beleidigen, war es ein schwacher Versuch. Gewiss weiß er, dass Gildemagier unseren Mangel an höherer Magie nicht als einen Nachteil ansehen – tatsächlich ist es eher ein ehrenwerter Zustand. Ich nehme an, der Hinweis darauf, dass mein Vater einmal ein Sklave war, war sein eigentliches Ziel.

Trotzdem, diese Tatsache war nicht die Quelle der Demütigung für Lorkin, die sie für einen sachakanischen Edelmann gewesen wäre. Akkarin war von einem Ichani versklavt worden; Ichani waren Ausgestoßene, die für den Rest von Sachaka eine Peinlichkeit und ein Ärgernis waren – und ein Hinweis auf Schwäche in ihrer Gesellschaft. Lorkin sprach den Gedanken jedoch nicht laut aus.

Abgesehen von einigen anderen versuchten Seitenhieben hatte der Vernehmer den Tag damit verbracht, Fragen zu stellen und darauf hinzuweisen, wie schlimm es für Lorkin, die Gilde und den Frieden zwischen Sachaka und den Verbündeten Ländern wäre, wenn Lorkin ihm nicht alles über die Verräterinnen erzählte. Es gab nur eine begrenzte Anzahl an Fragen, die gestellt werden konnten, und an Versionen der gleichen Warnung, daher hatte der Mann sich oft wiederholt.

Und Lorkin hatte entschuldigend, aber entschieden seine Weigerung zu antworten wiederholt. Er wollte nicht ins Plaudern geraten und riskieren, dass er unbeabsichtigt irgendwelche Informationen lieferte, die gegen die Verräterinnen benutzt werden konnten. Irgendwann kam er zu dem Schluss, dass seine Weigerung schlicht ignoriert wurde, daher verlegte er sich darauf, gar nichts zu sagen. Es war nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte, aber er musste nur daran denken, wie viel schwerer es sein würde, der Folter zu widerstehen, und seine Entschlossenheit verstärkte sich. Sie hatten noch nicht versucht, seine Gedanken zu lesen, daher wussten sie nicht, dass es nicht funktionieren würde – das hieß, solange der Stein der Verräterinnen unter der Haut seiner Handfläche, der das Gedankenlesen blockierte, anstandslos funktionierte. Vielleicht würde es König Amakira weiterhin widerstreben, die Beziehungen zu den Verbündeten Ländern zu beeinträchtigen, indem er Lorkin einer Gedankenlesung unterzog. Vielleicht hoffte er, dass Lorkin mit Fragen und Drohungen dazu zu bewegen war, klein beizugeben.

Als sie das Gitter der Zelle erreichten, in der Lorkin zuvor eingesperrt gewesen war, bedeutete der Vernehmer ihm einzutreten. Das Gitter schloss sich. Lorkin drehte sich um und sah, dass der Ashaki in der strengen Gewandung sich ihnen genähert hatte.

»Fertig?«, fragte er.

»Für den Augenblick«, erwiderte der Vernehmer.

»Er will Euren Bericht.«

Der Vernehmer nickte und ging mit seinem Gehilfen davon.

Der schlicht gekleidete Ashaki schaute Lorkin durch das Gitter mit schmalen Augen an. Dann wandte er sich ab und sah sich im Raum um, bis sein Blick auf einen schlichten Holzstuhl fiel. Der Stuhl erhob sich in die Luft und schwebte vor Lorkins Zelle wieder zu Boden.

Der Ashaki setzte sich und machte sich daran, Lorkin zu beobachten.

Angestarrt zu werden war nichts, was Lorkin besonders gefiel, aber er nahm an, dass er sich daran würde gewöhnen müssen. Er blickte sich in der Zelle um. Sie war leer bis auf einen Eimer für Exkremente in einer Ecke. Er hatte den ganzen Tag lang nichts gegessen oder getrunken, daher war sein Drang, sich zu erleichtern, nicht stark genug, um den Eimer zu benutzen, während er beobachtet wurde.

Irgendwann werde ich es tun müssen. Besser, ich gewöhne mich auch an diesen Gedanken.

Da ihm nichts anderes übrigblieb, setzte Lorkin sich auf den staubigen Boden und lehnte sich an die raue Wand. Er würde wahrscheinlich auch auf dem Boden schlafen müssen. Der Stein war hart und kalt. Zumindest war es hier kühl genug, dass ihm in seinen Roben nicht länger unangenehm heiß war. Es war leicht, die Luft mit Magie zu wärmen, aber um sie abzukühlen, musste man die Luft bewegen, vorzugsweise vorbei an Wasser.

Er dachte an den Moment zurück, da er die Roben wieder angezogen hatte, nachdem er monatelang als Verräter gelebt hatte. Zuerst war es eine Erleichterung gewesen. Er hatte den aufwendigen Stil des Gewandes und den weichen, kräftig gefärbten Stoff sehr zu würdigen gewusst. Während der sachakanische Frühling immer heißer geworden war, hatte er jedoch begonnen, die Roben schwer und unpraktisch zu finden. Wenn er allein in seinem Zimmer im Gildehaus war, hatte er die äußere Robe abgelegt und nur die Hose getragen. Er hatte angefangen, sich nach der schlichten, praktischen Kleidung der Verräter zurückzusehnen.

Diese Sehnsucht hatte wahrscheinlich ebenso viel mit dem Wunsch zu tun, wieder im Sanktuarium zu sein. Sofort stiegen Erinnerungen an Tyvara in ihm auf, und ihm wurde leichter ums Herz. Die jüngste Erinnerung, an die letzte Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, während sie nackt und lächelnd dagelegen und ihn darin unterrichtet hatte, wie Liebende schwarze Magie benutzten, ließ seinen Puls rasen. Dann stiegen ältere Erinnerungen auf: die Art, wie sie sich bewegte, wenn sie im Sanktuarium war, sicher und selbstbewusst – sie nahm die Macht, die ihre Gesellschaft ihr gewährte, für selbstverständlich. Ihr direkter Blick, der verschmitzt und intelligent zugleich war.

Er erinnerte sich auch an sie vor dieser Zeit, als sie ihn über die sachakanischen Ebenen zu den Bergen gebracht und ihn vor Attentätern der Verräterinnen beschützt und sie dann beide vor einer Gefangennahme durch die Ashaki bewahrt hatte. Sie war müde gewesen, und es war schwer gewesen, mit ihr zu reden, und doch hatte sie ihn mit ihrer Entschlossenheit und Findigkeit beeindruckt.

Er sandte seinen Geist weiter zurück zu einer Erinnerung an sie in ihrer Verkleidung als Sklavin des Gildehauses. Die Schultern hochgezogen, den Blick gesenkt, verwirrt von seinen Versuchen, sich mit ihr anzufreunden. Er hatte sich schon damals zu ihr hingezogen gefühlt, obwohl er sich gesagt hatte, dass ihn nur ihr exotisches Aussehen faszinierte. Aber keine andere Sachakanerin hatte seine Blicke auf diese Weise auf sich gezogen, und er hatte sowohl in Arvice als auch im Sanktuarium viele schöne Frauen gesehen.

Das Sanktuarium. Ich vermisse es tatsächlich, bemerkte er. Jetzt, da ich fortgegangen bin, begreife ich, dass es mir dort gefallen hat, trotz Kalia. Erinnerungen daran, wie er entführt, eingesperrt, gefesselt und geknebelt worden war, während Kalia in seinem Geist nach dem Geheimnis magischer Heilkunst gesucht hatte, verdüsterten seine Gedanken, aber er schob sie beiseite. Kalia ist nicht länger eine der Sprecherinnen. Nicht länger zuständig für die Krankenstation, rief er sich ins Gedächtnis. Die Verräterinnen haben ihre Fehler, einige mehr als andere, aber alles in allem sind sie gute Menschen. Mit Kalia auf der Krankenstation festzusitzen und sich ständig um ihre Manipulationen sorgen zu müssen, dazu noch die Frage, wie er die Verräterinnen dazu überreden konnte, mit der Gilde Handel zu treiben, hatte ihn zu sehr abgelenkt, um ihre Lebensweise wirklich zu schätzen zu wissen.

Seine Entführung war die Tat einer kleinen Anzahl von recht skrupellosen Verräterinnen gewesen. Er hatte den Verdacht, dass nicht alle Mitglieder von Kalias Gruppe ihre Taten gutgeheißen hatten. Die meisten von ihnen wären nicht bereit gewesen, die Gesetze der Verräterinnen zu brechen, wie Kalia es getan hatte, selbst wenn sie ihr im Nachhinein recht gaben. Ihre Denkweise entsprang dem tief verwurzelten Verlangen, ihre Leute zu beschützen. Ihre Angst vor der Außenwelt war ihnen nach Jahrhunderten, die sie versteckt in den Bergen gelebt hatten, in Fleisch und Blut übergegangen.

Obwohl er nicht recht bereit war, Kalia zu verzeihen, dass sie ihm das Wissen über die Heilkunst gestohlen hatte, konnte er ihr ihren Wunsch kaum verübeln, in der Lage zu sein, es zu benutzen und das Leben ihrer Leute zu retten. Trotzdem, sie hatte vor, mich zu töten und zu behaupten, ich hätte versucht, aus dem Sanktuarium zu fliehen, und wäre im Schnee des Winters erfroren. Das ist nichts, was ich zu verzeihen beabsichtige.

Als Entschädigung für das, was ihm genommen worden war, hatte Königin Zarala verfügt, dass man ihn lehren solle, wie man magische Edelsteine anfertigt. Er hatte eine Art von Magie gelernt, von der die Gilde noch nie gehört hatte. Es war der Traum, neue mächtige Magie zu finden, der ihn dazu getrieben hatte, sich freiwillig als Botschafter Dannyls Assistent zu melden. Rückblickend belächelte er seine eigene Naivität. Die Chancen, etwas zu finden, waren lächerlich gering gewesen. Und doch hatte er es geschafft.

Seine Hoffnungen, Magie zu finden, die schwarze Magie vielleicht überflüssig machen oder zumindest einen Schutz davor bieten würde, hatten sich jedoch nicht erfüllt. Denn die magischen Edelsteine hatten zwar das Potenzial, schwarze Magie zu ersetzen, aber leider wurden sie selbst mithilfe schwarzer Magie geschaffen.

Er spürte, wie sein Lächeln verblasste, und ein Knoten der Sorge bildete sich in seinem Magen. Was wird die Gilde tun, wenn sie erfährt, dass ich schwarze Magie beherrsche? Wird man es verzeihen, sobald man versteht, dass ich anderenfalls nicht hätte lernen können, wie man die Steine macht?

Er hatte alle möglichen Konsequenzen erwogen und sich auf die schlimmste von ihnen gefasst gemacht: die Möglichkeit, dass sie ihn aus den Verbündeten Ländern verbannen würden, so wie sie seinen Vater verbannt hatten. Es würde ihn verletzen, aber es würde ihn auch frei machen, ins Sanktuarium und zu Tyvara zurückzukehren, was kein gar so schlechtes Ergebnis wäre. Abgesehen von einer Sache.

Mutter wird enttäuscht von mir sein. Nein – mehr als das. Sie wird am Boden zerstört sein.

Was der Grund war, warum er Botschafter Dannyl und Administrator Osen noch nichts davon gesagt hatte. Es war eine Neuigkeit, die er so lange wie möglich für sich behalten wollte. Osen hatte beschlossen, dass niemand mehr erfahren sollte als unbedingt notwendig, für den Fall, dass die Sachakaner tatsächlich begannen, Gedanken zu lesen. Trotzdem wusste Lorkin, dass er nicht ewig verhindern konnte, dass Sonea es erfuhr.

Aber wenn sie es erfährt, möchte ich lieber nicht, dass sie es von jemand anderem hört. Es wird nicht leicht sein, es ihr zu sagen, aber wenn ich es selbst tue, wird es für sie vielleicht erträglicher sein.

Cery konnte nicht mehr zählen, wie oft er aufgewacht war, aber diesmal wusste er, dass etwas anders war, noch bevor er hinreichend bei Bewusstsein war, um es zu benennen.

Licht. Nachdem Anyi mit ein wenig Essen und Wasser aus Soneas Räumen zurückgekehrt war und beides Gol gegeben hatte, hatten sie beschlossen zu schlafen. Um nicht alle Kerzen zu verbrauchen, hatten sie sie ausgeblasen – aber nicht bevor Cery Anyi dazu überlistet hatte, ihm ihre Streichhölzer zu geben. Er hoffte, dass es sie daran hindern würde, die Gänge zu erkunden, während er schlief, wenn er ihr eine Quelle tragbaren Lichts raubte. Obwohl sie ihm versichert hatte, dass sie die meisten der Gänge inzwischen kannte, musste sie zugeben, dass der Mangel an Wartung viele unsicher gemacht hatte.

Den Stapel alter Kissen hatten die drei unter sich aufgeteilt. Obwohl er genug hatte, um sich gegen den kalten, harten Boden zu schützen, war das Zusammenhalten der Kissen eine echte Herausforderung. Wenn er seine Position veränderte, rutschte unausweichlich ein Kissen in die Dunkelheit davon, und er musste umhertasten, um es wiederzufinden und es erneut unter sich zu schieben.

Ich frage mich, ob irgendjemand in meinen alten Verstecken lebt und die prächtigen Möbel genießt und meinen Wein trinkt, dachte er, als er sich aufrichtete. Obwohl ihm wegen des unterbrochenen Schlafs vor Erschöpfung alles wehtat, war er erleichtert, dass er es nicht länger versuchen musste. Das Licht zeichnete die Umrisse der Tür nach und wurde heller. Er hörte eine vertraute Stimme rufen: »Ich bin’s nur!«

Sie konnten den Wein und den Luxus haben. Alles, was er jetzt wollte, waren ein warmes Feuer und ein behagliches Bett. Und dass die Menschen, die er liebte, in Sicherheit waren.

Die Menschen, die ein Dieb liebt, sind niemals in Sicherheit.

Ein Stich des Schmerzes durchzuckte ihn, wild trotz seiner Vertrautheit. Für einen Moment konnte er nichts anderes vor sich sehen als die Leichen seiner Ehefrau und seiner Söhne, aber er schloss die Augen und drängte die Vision beiseite. Werde ich jemals aufhören, mich zu erinnern? Oder wird es aufhören wehzutun, wenn ich mich erinnere? Bei diesem Gedanken stiegen Schuldgefühle in ihm hoch. Ich sollte mir das nicht wünschen, aber ich kann nichts tun, um etwas an ihrem Tod zu ändern, und ich werde nicht in der Lage sein, Anyi zu beschützen, wenn ich zulasse, dass Trauer und Wut mich ablenken und beherrschen. Er seufzte. Und ich würde mich lieber an sie erinnern, als sie noch gesund und glücklich waren, als … als daran.

Die Lichtquelle kam in den Raum. Geblendet wandte Cery den Blick von der Kugel aus magischem Licht ab und betrachtete die junge Frau, die darunter stand. Lilia lächelte ihn an und streckte ihm einen Korb hin.

»Ich habe Jonna erzählt, dass Anyi vielleicht zu Besuch kommen würde, und sie hat zusätzliches Essen gebracht. Ich habe auch eine Flasche von Soneas Wein genommen – nicht von dem teuren. Nun, nicht von dem wirklich teuren.«

Anyi sprang auf die Füße, küsste Lilia auf die Wange und schnappte sich den Korb.

»Du bist ein Schatz, Lilia«, sagte sie, setzte sich auf eine der Holzkisten und stöberte in dem Korb. »Brötchen! Süße und welche mit Fleischfüllung.« Dann rümpfte sie die Nase. »Uh. Obst.«

»Es ist gut für dich und leicht zu tragen«, erwiderte Lilia, aber sie blickte zu Gol. »Du siehst besser aus.«

Cery drehte sich um und sah, dass sein Freund sich aufrecht hinsetzte, nickte und sich reckte. Ein nachdenklicher Ausdruck glitt über Gols Züge. »Aber ich bin immer noch müde.«

Sie nickte. »Meine Bücher sagen, dass dein Körper einige Tage brauchen wird, um das Blut zu ersetzen, das du verloren hast. Hängt davon ab, wie viel du geblutet hast. Wenn dir wieder übel wird, lass es mich wissen. Es könnte sein, dass etwas Gift zurückgeblieben ist. Falls dem so ist, sollte ich in der Lage sein, dich zu heilen.«

»Einige Tage.« Anyi sah Cery an. »Wird das ein Problem sein?«

Cery streckte die Hand nach einem mit Fleisch gefüllten Brötchen aus, nahm einen Bissen und kaute, während er nachdachte. Er hatte draußen immer noch loyale Leute. Sie würden anfangen sich Sorgen zu machen, wenn er sich nicht mit ihnen in Verbindung setzte. Sie könnten sogar annehmen, dass er, Gol und Anyi tot waren. Was würde geschehen, wenn sie das taten? Cery gab sich keinen Illusionen hin, dass sie Skellin trotzen konnten. Höchstwahrscheinlich würde der wilde Magier und Dieb die Kontrolle über Cerys Territorium an sich reißen. Nicht persönlich. Er würde dafür sorgen, dass ein Verbündeter es tat.

»Lass sie denken, wir seien tot«, sagte Gol.

Cery sah seinen Freund überrascht an. Das hatte er nicht erwartet. Was habe ich erwartet? Dass Gol versuchen würde aufzustehen und so zu tun, als sei er gesünder, als er ist, statt der Grund zu sein, warum ich mein Territorium verloren habe? Oder dass er mir sagen würde, dass ich ihn hier zurücklassen solle? Alles sehr nobel. Bin ich so eitel, dass ich von meinen Freunden erwarte, dass sie sich für mich opfern? Cery runzelte die Stirn. Nein, das ist es nicht. Ich habe nur nicht erwartet, dass Gol aufgeben würde, bevor ich es tue.

»Das nächste Mal wirst du nicht davonkommen«, fuhr Gol fort. »Wir hatten dieses Mal Glück. Ich habe hier gelegen und versucht zu entscheiden, wer Skellins Leuten gesagt haben mag, dass du in Cadias Haus warst. Wer hat uns verraten? Hatte derjenige irgendeine Wahl? Du kannst Skellin nicht daran hindern, deine eigenen Leute zu erpressen oder zu bestechen. Er hat zu viele Verbündete, zu viel Geld. Du hast bereits …«

»… das eigene Territorium verloren«, beendete Cery Gols Satz. Bitterkeit stieg in ihm auf. Aber es war ein Gefühl, das zu vertraut und zu abgenutzt war, als dass es mehr getan hätte, als ihn müde zu machen. Es hatte sich in seine Seele geschlichen, nachdem Selia und die Jungen ermordet worden waren, und er hatte sich daran gewöhnt.

»Lass sie denken, du seist tot. Vielleicht wird Skellin selbstgefällig werden und in seiner Aufmerksamkeit nachlassen. Vielleicht werden andere Leute versuchen, ihn zu bekämpfen. Ihn hochgehen lassen. Ihn an die Gilde verraten.«

Es war verlockend. Sehr verlockend.

»Du willst hierbleiben?«, fragte Cery mit geheuchelter Ungläubigkeit.

»Ja.« Gol sah Anyi und Lilia an. »Was denkt ihr?«

Anyi zuckte die Achseln. »Wir können den Eingang zu den Tunneln der Gilde blockieren – ihn einstürzen lassen, wenn du denkst, das sei sicherer. Es gibt Gänge, die in den Wald hinausführen, daher haben wir Fluchtwege. Nun, solche, die nicht in die Gebäude der Gilde führen.« Anyi warf Lilia einen Blick zu. »Wir werden Mittel und Wege finden, Essen und Wasser hier herunterzubringen.«

Lilia nickte. »Ich bin mir sicher, dass Sonea helfen würde.«

»Nein, wir dürfen es ihr nicht sagen.« Cery hielt inne, überrascht über die Überzeugung in seiner eigenen Stimme. Warum will ich Soneas Hilfe nicht? »Es wird ihr nicht gefallen. Sie wird uns aus der Stadt schmuggeln wollen. Sie wird es Kallen erzählen.« Er traute Kallen nicht zur Gänze, und das lag nicht nur daran, dass der Mann von Feuel abhängig war.

»Das würde sie nicht tun«, wandte Lilia ein, obwohl ihrer Stimme die Überzeugung fehlte.

»Cery hat recht«, sagte Gol. »Sonea bricht nach Sachaka auf. Sie wird entweder wollen, dass jemand in einer hohen Stellung in der Gilde weiß, dass wir hier sind, oder sie wird uns von hier wegbringen.«

»Also … wenn du auch nicht willst, dass Kallen es weiß«, wandte Anyi sich an Cery, »dann wirst du nicht länger mit ihm arbeiten können.«

»Nein.« Cery wandte sich an Lilia. »Aber er braucht uns nicht, um ihm das zu sagen. Wir können behaupten, es sei sicherer, wenn wir durch Nachrichten in Verbindung bleiben, die Lilia schicken wird.«

»Wir werden ihm nichts Nützliches zu berichten haben, wenn wir hierbleiben und keinen Kontakt mit deinen Leuten haben«, stellte Anyi fest.

»Nein, aber er wird uns darüber informieren, was dort draußen vorgeht«, entgegnete Cery, »bevor er uns als Informationsquelle aufgibt. Und hoffentlich werden wir einen Weg finden, wieder nützlich zu sein – was wir nicht sein werden, wenn Sonea uns wegschickt.«

Die vier tauschten Blicke, dann nickten sie.

»Nun, zuerst müssen Lilia und ich Lösungen für die grundlegendsten Bedürfnisse finden, wie Essen und Wasser«, erklärte Anyi entschieden und straffte sich. »Und dann müssen wir die Dinge hier unten sicherer und bequemer machen.«

Cery lächelte über den entschlossenen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Wenn er es ihr erlaubte, würde sie das Kommando über sie alle übernehmen. »Nein«, widersprach er. »Das ist nicht das, was wir als Erstes tun werden.«

Sie sah ihn an und runzelte verwirrt die Stirn. »Nein?«

Er deutete mit dem Kopf auf den Korb. »Zuerst essen wir.«

Falls es in Sachaka eine höfliche Form gab, einem nicht willkommenen Besucher die Tür zu weisen, wünschte Dannyl, er hätte sie gekannt. Zwar wollte er den Ashaki, der durch den Eingang zum Gildehaus kam, durchaus sehen – er sehnte sich sogar danach, den Mann zu sehen. Aber er vermutete, dass der Besucher in seiner offiziellen Eigenschaft hier war, und das war etwas, was Dannyl mit Unbehagen erfüllte.

Mit dem Feind befreundet zu sein macht die Dinge gewiss kompliziert.

Als Achati den Raum betrat, suchte Dannyl in den Zügen des Mannes nach einem Hinweis auf gute Neuigkeiten, obwohl er wusste, dass die Chancen gering waren. Er war überrascht, als er in Achatis Gesicht Bedauern und einen Ausdruck der Entschuldigung bemerkte. Er hatte eine sorgfältig aufrechterhaltene neutrale Miene erwartet.

»Willkommen im Gildehaus, Ashaki Achati«, sagte Dannyl und entsprach damit ganz kyralischen Gepflogenheiten.

»Ich wünschte, die Umstände wären erfreulicher«, erwiderte Achati. »Dies ist ein offizieller Besuch, aber ich möchte auch, dass es ein zwangloser Besuch zwischen Freunden ist, falls das noch möglich sein sollte.«

Dannyl lud Achati ein, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst in den Hauptsessel. »Das hängt davon ab, wie der offizielle Teil sich entwickelt«, entgegnete er trocken.

»Dann lasst uns den offiziellen Teil als Erstes hinter uns bringen.« Achati hielt inne, um Dannyl zu betrachten. »König Amakira will, dass Ihr Lorkin dazu überredet, alle Fragen bezüglich der Verräter zu beantworten.«

»Ich bezweifle, dass ich Erfolg haben würde.«

»Würde er sich weigern, wenn Ihr es ihm befehlen würdet?«

»Ja.«

»Und das ist akzeptabel?«

»Es ist nicht seine Entscheidung oder meine.«

»Aber er ist Euer Untergebener. Er sollte Eure Befehle befolgen.«

»Das hängt von den Befehlen ab.« Dannyl zuckte die Achseln. »Wir haben in der Gilde keine … keine Sitte fraglosen Gehorsams, weder in der Gilde noch außerhalb. Nun, außer dem König gegenüber, aber selbst dessen Ratgeber haben das Recht, ihre Meinung und Empfehlung zu äußern, ohne Vergeltung befürchten zu müssen – obwohl sie trotzdem Befehlen gehorchen müssen, auch wenn sie in der Sache anderer Meinung sind.«

»Du bist außerdem ein Botschafter – und nicht nur ein Botschafter der Gilde. Bis zu Botschafter Tayends Eintreffen hast du auch für alle Verbündeten Länder gesprochen. Obwohl du nicht länger für Elyne sprichst, repräsentierst du immer noch den Rest.«

»Ja, ich spreche für sie.« Dannyl breitete die Hände aus. »Aber ich kann keine Entscheidungen für sie treffen.«

»Du sagst also, dass nur einer der Monarchen der Verbündeten Länder Lorkin befehlen könnte, Fragen zu beantworten?«

»Nur der kyralische König. Monarchen anderer Länder und nicht herrschende Mitglieder königlicher Familien können einem kyralischen Magier keine Befehle erteilen.«

Achati zog die Augenbrauen hoch. »Wie haltet Ihr die Ordnung aufrecht?«

Dannyl lächelte. »Die meisten von uns sind klug genug, um zu wissen, dass ein Mangel an Ordnung zu einem Verlust von Freiheit und Wohlstand führen würde. Jene, die das nicht wissen … nun, wir halten sie in Schach. Nehmt die allgemeine Regel, dass Magier sich nicht mit Politik zu beschäftigen haben. Zwar wird diese Regel nicht streng durchgesetzt, doch es reicht, den Anschein ihrer Befolgung zu wahren, um auch den Ehrgeizigsten von uns zurückzuhalten.«

Während Achati innehielt, um darüber nachzusinnen, nutzte Dannyl die Gelegenheit, eine Frage zu stellen.

»Hat König Amakira in Erwägung gezogen, dass Lorkin vielleicht gar keine nützlichen Informationen hat? Warum sollten die Verräterinnen ihm schließlich erlaubt haben, nach Arvice zurückzukehren, wenn er etwas wüsste, das ihnen schaden könnte?«

Achati blickte auf. »Warum beantwortet er dann nicht unsere Fragen?«

»Vielleicht ist es eine Prüfung.«

»Eine Prüfung von was? Lorkins Loyalität gegenüber den Verräterinnen?«

Dannyl runzelte die Stirn bei der Andeutung, dass Lorkin seine Loyalitäten gewechselt haben könnte. »Oder gegenüber Kyralia. Oder vielleicht ist es überhaupt keine Prüfung von Lorkin.«

Achatis Augen wurden schmal. »Ist es eine Prüfung für König Amakira?«

Dannyl breitete die Hände aus. »Und die Gilde, König Merin und die Verbündeten Länder.«

»Bring uns in eine Position des Konflikts und sieh, was passiert?« Achati nickte. »Das haben wir in Erwägung gezogen.«

»Obwohl Lorkin vielleicht glaubte, dass er über Arvice nach Kyralia zurückkehren könnte, weil er nicht dachte, dass König Amakira die Vereinbarung brechen würde, dass alle Magier der Gilde in Sachaka frei und unversehrt bleiben würden.«

Achatis Züge verhärteten sich. »Solange sie nicht versuchen, Sachaka zu schaden.« Er sah Dannyl direkt an. »Glaubst du wirklich, dass Lorkins Weigerung, sein Wissen über die Verräter mit uns zu teilen, meinem Land nicht schaden wird?«

Dannyl hielt dem Blick seines Freundes stand, aber da er auf eine solch direkte Frage nicht vorbereitet war, verspürte er eine Mischung aus Schuldgefühlen und Argwohn, ob die Frage bei ihm eine sichtbare Reaktion hervorgerufen haben könnte. Achati hätte es gesehen. Er würde wissen, ob Dannyl log. Also war es am besten, mit einer anderen Wahrheit zu antworten.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er aufrichtig. »Lorkin hat das, was er weiß, lediglich mit Administrator Osen erörtert.«

Achati runzelte die Stirn. »Hat er dir erzählt, warum er zurückgekehrt ist?«

Dannyl nickte und entspannte sich ein wenig. »Um nach Hause zurückzukehren. Er will vor allem seine Mutter sehen. Natürlich wussten wir nicht, ob er jemals zurückkehren würde, daher ist seine Mutter nach Monaten der Sorge ebenfalls erpicht darauf, ihn wiederzusehen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete Achati und stand auf. Er klang mitfühlend, aber sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Erheiterung und Trotz. »Je eher Lorkin unsere Fragen beantwortet, desto eher werden die beiden sich wiedersehen.«

Dannyl erhob sich. »Was wird König Amakira tun, wenn er nicht redet?«

Achati hielt inne, um seine Antwort zu überdenken. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er, und seine augenscheinliche Aufrichtigkeit und Hilflosigkeit waren ein Spiegel von Dannyls eigenen Gefühlen.

»Die Verbündeten Länder werden eine Lesung von Lorkins Gedanken als einen Akt der Aggression betrachten«, warnte Dannyl.

»Aber kaum als etwas, wofür man einen Krieg anzettelt«, entgegnete Achati. »Sachaka ist jahrhundertelang ohne Handel mit den Ländern im Westen gediehen, dank unserer Verbindungen mit Ländern jenseits des östlichen Meeres. Ohne eine Ausbildung all eurer Magier in höherer Magie ist Kyralia kaum eine Bedrohung für uns. Wir brauchen euch nicht. Wir fürchten euch nicht. Ihr wart niemals mehr als eine Gelegenheit, die wir erkunden wollten.«

Dannyl nickte. »Ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit, Ashaki Achati.«

Achati machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe nichts gesagt, was nicht bereits offensichtlich gewesen wäre.« Er seufzte. »Ich persönlich hoffe, dass wir dies auf eine Weise lösen können, die unsere Freundschaft nicht ruinieren wird. Jetzt muss ich gehen.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Dannyl. Die Freundschaft zwischen uns oder unseren Ländern? Oder beides? »Auf Wiedersehen fürs Erste.«

Der Ashaki nickte, dann verschwand er in dem Flur, der zum Eingang des Gildehauses führte. Dannyl setzte sich wieder und dachte über das Gespräch nach. »Wir brauchen euch nicht. Wir fürchten euch nicht.« Warum hatte irgendjemand jemals gedacht, Sachaka würde sich den Verbündeten Ländern anschließen wollen?

»Wie ist es gelaufen?«

Dannyl blickte auf und sah, dass Tayend in der Tür stand. Er seufzte und winkte ihn heran. Sein ehemaliger Geliebter eilte durch den Raum, setzte sich und beugte sich mit beinahe kindlichem Eifer vor. Aber Tayends Blick war scharf, und seine Neugier entsprang ebenso seinem Bedürfnis, als Botschafter in politischen Angelegenheiten auf dem Laufenden zu sein, wie seiner Liebe zu Tratsch.

Er macht sich ebenfalls aufrichtig Sorgen um Lorkin, rief Dannyl sich ins Gedächtnis. Eine Erinnerung erhob sich unerwartet an Tayend, der mit Soneas Sohn als kleinem Kind spielte, damals, als er und Dannyl der Gilde noch häufiger freundschaftliche Besuche abgestattet hatten. Tayend hatte ein Geschick gehabt, Kinder zu beschäftigen und zu unterhalten. Er fragte sich, ob Tayend sich jemals eigene Kinder gewünscht hatte. Dannyl hatte nie welche gewollt, obwohl er …

»Und?«, drängte ihn Tayend.

Dannyl konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart und begann seinem Botschafterkollegen zu berichten, was Achati gefragt und was er offenbart hatte, wobei er jedoch achtgab, nichts zu verraten, was die Gilde verborgen wissen wollte.

4 Vorbereitungen

Ein voller Tag war seit der Neuigkeit von Lorkins Gefangennahme verstrichen. Das allein machte das Schlafen schwierig, aber der plötzliche Wechsel zur Tagesschicht ließ die Sache auch nicht besser werden. Nach einer unruhigen Nacht fühlte Sonea sich benommen und musste ein wenig Magie in sich hineinziehen, um die nagende Erschöpfung zu vertreiben. Aber ein Vorteil ihres neuen Tagesablaufs, so entdeckte Sonea, war der, dass Lilia, wenn sie aus ihrem Schlafzimmer kam, noch im Hauptraum war und eine Morgenmahlzeit aß.

»Schwarzmagierin Sonea«, sagte das Mädchen, sichtlich überrascht, Sonea zu sehen.

»Guten Morgen, Lilia«, erwiderte Sonea. »Wie geht es dir? Hat Schwarzmagier Kallen dich gestern gefunden?«

Das Mädchen nickte. »Gut. Und ja.«

Sonea trat an den Beistelltisch und begann sich eine Tasse Raka zu machen. »Wie läuft der Unterricht?«

Lilia zuckte zusammen, aber dann setzte sie eine muntere Miene auf. »Gut. Ich denke jedoch, Schwarzmagier Kallen wünscht sich, ich würde meine Sache besser machen. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht gut in Kriegskünsten sei, aber ich denke nicht, dass er sich hat vorstellen können, wie ›nicht gut‹ eine Novizin sein kann.«

Sonea lachte mitfühlend. »Ich war auch nicht sehr gut darin.«

Die Augen des Mädchens weiteten sich. »Ihr … aber Ihr …«

»Ich habe einen formalen Zweikampf gewonnen und eindringende Sachakaner besiegt. Es ist erstaunlich, was man lernen kann, wenn man muss. Aber ich hatte auch einen wunderbaren Lehrer.«

»Ihr habt einen …?« Lilia blinzelte und richtete sich auf. »Welcher Lehrer war das?«

Sonea brachte ihren Raka zum Haupttisch, setzte sich und nahm sich ein süßes Brötchen. »Lord Yikmo. Er ist bei der Invasion gestorben.«

»Oh.« Lilias Schultern sackten herab. Dann blickte sie wieder auf. »Einen formalen Zweikampf?«

Sonea lächelte. »Ein anderer Novize, der mir das Leben schwer machte.«

»Er hat die Herausforderung einer Schwarzmagierin angenommen?«

»Das ist schon länger her. Ich war noch keine Schwarzmagierin, sondern eine gewöhnliche Novizin. Ich empfehle es nicht als eine Methode, mit aufreizenden Mitschülern umzugehen. Nur als letztes Mittel und wenn man zuversichtlich ist, dass man gewinnen wird.« Sie hielt inne, als ihr ein Gedanke kam. »Gibt es irgendwelche Novizen, die dir das Leben schwer machen?«

Lilia schüttelte den Kopf. »Nein, die meiste Zeit ignorieren sie mich. Das ist in Ordnung. Ich verstehe, warum sie mir aus dem Weg gehen. Und ich habe Anyi.«

Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Sonea, und sie empfand Dankbarkeit gegenüber Cery, dass er Anyi erlaubte, Lilia zu besuchen. »Nun, wenn irgendwelche von den Novizen freundlich zu dir sind – aufrichtig freundlich –, dann weise sie nicht so schnell ab. Du wirst bald genug mit ihnen zusammenarbeiten.«

»Ich weiß.«

Lilia wirkte resigniert, aber nicht unglücklich. Sonea aß das Brötchen auf, trank den Raka, dann erhob sie sich und seufzte. »Wirst du für eine Weile allein hier zurechtkommen, während ich fort bin, Lilia?«

Das Mädchen schaute auf. »Natürlich. Wie könnte ich nicht zurechtkommen, wenn Jonna und Schwarzmagier Kallen sich um mich kümmern?« Sie runzelte die Stirn. »Ihr seid diejenige, die sich in Gefahr begibt, Schwarzmagierin Sonea. Ihr … Ihr werdet vorsichtig sein?«

Sonea lächelte. »Natürlich. Ich habe die Absicht zurückzukommen. Schließlich will ich deinen Abschluss erleben.« Sie ging zur Tür, hielt dann jedoch inne und schaute zurück. »Ich arbeite jetzt nicht mehr im Hospital, daher werde ich wahrscheinlich häufig kommen und gehen. Ich werde auf jeden Fall anklopfen, bevor ich eintrete, für den Fall, dass Anyi sich hereingeschlichen hat, um dich zu besuchen.«

Lilia nickte. »Danke.«

Sonea verließ ihre Räume und stellte fest, dass in den Fluren der Magierquartiere reger Betrieb herrschte. Sie erwiderte respektvolles Nicken und Grüße auf dem Weg hinaus. Der Innenhof draußen war bevölkert von Novizen und Magiern, von denen einige auf dem Weg zu den Bädern waren oder von dort zurückkehrten, während andere zur Universität gingen. Etliche genossen auch nur den Sonnenschein des beginnenden Frühlings.

Wie immer drehten sich Köpfe zu ihr um, als sie vorbeiging. Schwarze Roben hatten etwas, das Aufmerksamkeit erregte. Nicht einmal die weißen Roben des Hohen Lords oder das Blau des Administrators erregten so viel Beachtung. Novizen bemerkten diese beiden zwar und verneigten sich respektvoll, wie sie es vor allen Magiern mit abgeschlossener Ausbildung tun mussten, aber sie starrten sie nicht an und wichen nicht vor ihnen zurück, wie sie es bei Sonea und Kallen machten.

Und wann immer sie es tun, erinnere ich mich an Akkarin und daran, dass ihn alle genauso behandelt haben, obwohl sie gar nicht wussten, dass er schwarze Magie praktizierte. Er hat nur deshalb Schwarz getragen, weil es damals die Farbe des Hohen Lords war, aber da es ihn auch als den mächtigsten Magier in der Gilde kennzeichnete, schätze ich, dass ihn das ebenso einschüchternd wirken ließ, wie es jetzt ein Schwarzmagier ist.

Sie unterdrückte einen Seufzer, ignorierte die Blicke und schlug den Weg zur Universität ein.

Sobald sie das Hauptgebäude erreicht hatte, wählte sie den Flur durchs Zentrum und die Große Halle, statt die Hauptkorridore zu beiden Seiten zu nehmen. Es wird hier keine Versammlung mehr geben, bevor ich abreise, durchzuckte es sie, als sie in die Große Halle trat, und sie verweilte kurz und ließ ihren Blick durch den gewaltigen Raum gleiten. Dies könnte das letzte Mal sein, dass ich hier bin.

Aber sofort schüttelte sie energisch den Kopf und ging entschlossen weiter. Nur wenn alles schrecklich schiefgeht, dachte sie.

Am Ende der Großen Halle kam sie in die Fortsetzung des zentralen Flures, von dem sie in den nächsten Korridor rechts einbog. Dort blieb sie vor der ersten Tür stehen. Auf ihr Klopfen hin schwang die Tür nach innen auf, und sie betrat Osens Büro.

Der Administrator stand an seinem Schreibtisch zwei Magiern gegenüber, die sich umgedreht hatten, um sie zu betrachten. Der Hohe Lord Balkan neigte respektvoll den Kopf und murmelte ihren Namen, genau wie es Osen tat. Auch den dritten Magier kannte sie inzwischen.

»Der Ratgeber des Königs, Glarrin«, sagte sie und nickte ihm zuerst zu, bevor sie sich an die anderen wandte. »Hoher Lord. Administrator.«

»Schwarzmagierin Sonea«, erwiderte Glarrin.

Er war in den Sechzigern, das wusste sie, aber er wirkte jünger. Obwohl er offiziell der militärische Ratgeber des Königs in Angelegenheiten war, die mit Magie und der Gilde zusammenhingen, gehörten auch in Friedenszeiten die internationalen Beziehungen zu seinem Arbeitsbereich. Ein zweiter königlicher Ratgeber kümmerte sich um interne Angelegenheiten – größtenteils politisches Gezänk zwischen den Häusern. Eine Aufgabe, um die ich ihn nicht beneide.

»Bitte, nehmt Platz«, lud Osen sie ein. Er deutete auf drei Stühle, die näher heranrückten und sich vor seinem Schreibtisch in einem Halbkreis aufstellten. Sie alle setzten sich. Osen beugte sich auf den Ellbogen vor. »Wir sind hier, um darüber zu sprechen, wie Schwarzmagierin Sonea die Freilassung ihres Sohnes aushandeln soll. Zuerst habe ich Neuigkeiten von Botschafter Dannyl.«

Soneas Herz verkrampfte sich.

»Ashaki Achati, der Ratgeber des Königs, mit dem Botschafter Dannyl eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hat, hat gestern Abend das Gildehaus besucht«, fuhr Osen fort. »Er hat den Wunsch des Königs übermittelt, dass Dannyl Lorkin dazu bringen möge, Fragen bezüglich der Verräterinnen zu beantworten. Dannyl hat natürlich wiederholt, dass er nicht in der Position sei, Lorkin Befehle zu erteilen. Ashaki Achati wollte nicht sagen, was geschehen würde, wenn Lorkin nicht redete, aber er hat durchaus klargemacht, dass Sachaka kaum etwas davon abhält, die freundschaftlichen Bande zu den Verbündeten Ländern zu durchtrennen. Es war keine Drohung, versicherte mir Dannyl, sondern eine Feststellung. Sie brauchen den Handel mit uns nicht, und sie haben nicht das Gefühl, dass wir als Feind eine Bedrohung darstellen würden.«

»Ist es ein Bluff?«, fragte Balkan.

»Vielleicht«, antwortete Glarrin. »Es kommt der Wahrheit jedoch zu nahe. Ich würde es nicht darauf ankommen lassen wollen. Sachaka braucht uns nicht, genau wie wir Sachaka nicht brauchen, aber wir würden einige lukrative Gelegenheiten verlieren, wenn es zu strengeren Beschränkungen des Handels käme.«

»Also kann ich nicht mehr tun, als sie daran zu erinnern, welcher Wohlstand ihnen in diesem Fall entgehen würde?«, fragte Sonea.

Glarrin schürzte nachdenklich die Lippen. »Es würde nicht schaden, darauf hinzuweisen, dass die Verbündeten Länder mit Sachaka Handel treiben wollen und nicht mit den Rebellen. Das könnte sie zumindest in dem Punkt beruhigen, dass wir nicht die Absicht haben, mit ihrem Feind zu paktieren.«

»Natürlich sollte die Tatsache, dass wir durchaus mit den Verrätern Handel treiben wollen, unerwähnt bleiben«, fügte Balkan mit einem Grinsen hinzu.

»Natürlich.« Sonea lächelte. »Obwohl ich darauf hinweisen sollte, dass wir eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen würden, sollte Sachaka sich als unkooperativ erweisen … und vielleicht als unzuverlässig, wenn es darum geht, Vereinbarungen bezüglich der Sicherheit von Gildemagiern einzuhalten?«

»Nein«, sagte Glarrin. »Sie werden nicht freundlich auf diese Art von Bedrohung reagieren. Ich …« Er hielt inne und fokussierte den Blick auf einen Punkt in der Ferne. »Der König fragt, ob man sich mit den Verrätern in Verbindung setzen kann – ob sie irgendetwas tun können, um uns zu helfen. Schließlich kann es nicht ihr Plan gewesen sein, dass Lorkin eingekerkert wird.«

Der kyralische König und Glarrin mussten über einen Blutring miteinander in Verbindung stehen, begriff Sonea. Dieser kleine magische Trick von Akkarin ist sehr beliebt geworden, seit die Gilde beschlossen hat, dass man dazu im Prinzip keine schwarze Magie braucht.

»Wir können es versuchen«, antwortete Balkan. »Dannyls Assistentin, Lady Merria, hat eine Möglichkeit gefunden, Nachrichten zu den Verrätern zu schicken.«

»Wir werden keine Antwort bekommen, bevor Sonea aufbricht«, bemerkte Osen. Er sah Balkan an. »Sonea sollte einen Blutring hierlassen. Sollte sie auch einen Blutring von einem von uns mitnehmen?«

»Wer immer ihr einen Ring gibt, riskiert es, das Geheimnis schwarzer Magie in ihrem Geist zu sehen.«

»Nicht wenn sie Nakis Ring trägt«, stellte Osen fest.

Sonea nickte. Der Ring, den Lilias ehemalige Freundin benutzt hatte, um zu verhindern, dass ihre Gedanken gelesen wurden, beschützte seinen Träger auch vor ungewollter Vermittlung seiner Gedanken und Gefühle durch einen Blutring.

Balkan nickte. »Es wird nützlich sein, wenn Sonea sich mit uns in Verbindung setzen kann, wann immer sie möchte – aber Dannyl hat bereits einen Ring von Euch. Wäre es besser, ihr einen von mir zu geben?«

»Wenn die Sachakaner sie an sich bringen, dann können sie damit uns beide belästigen.« Osen schüttelte den Kopf. »Sie sollte einen von mir mitnehmen.«

Sonea verbarg ihre Erheiterung über seine Wortwahl. Wenn jemand Osens Blutring an sich brachte, würden die niederträchtigen Dinge, die sie damit tun konnten, nicht dazu dienen, Osen zu belästigen. Dann wurde sie wieder ernst. So wie sie es mit mir machen könnten, sollten sie an den Blutring herankommen, den ich Lorkin gegeben habe. Glücklicherweise hatte Osen Lorkin aufgetragen, den Ring nicht zu dem Treffen mit dem sachakanischen König mitzunehmen. Wenn sie ihn hätten, bräuchten sie Lorkin lediglich zu foltern, während …

»Wann werde ich aufbrechen?«, fragte sie, um ihre Gedanken auf ein weniger furchteinflößendes Thema zu lenken.

»Morgen Nacht«, sagte Osen. »Wir werden morgen eine Versammlung einberufen und um Freiwillige bitten, die Euch ihre magische Kraft geben. Wir haben beschlossen, bekannt werden zu lassen, dass Lorkin von dem sachakanischen König eingekerkert wurde und dass wir Euch schicken, um seine Freilassung auszuhandeln.«

»Amakira hat uns den perfekten Vorwand geliefert, Euch nach Sachaka zu schicken«, sagte Glarrin. »Ihr solltet ebenfalls versuchen, Euch mit den Verräterinnen zu treffen, obwohl es das Beste wäre, wenn Ihr das tun würdet, nachdem Lorkin befreit wurde – noch besser, wenn er zu diesem Zeitpunkt bereits zu Hause wäre –, für den Fall, dass das Treffen entdeckt wird.« Er runzelte die Stirn, wandte den Blick ab und lächelte dann. »Der König fragt, wie Lilias Ausbildung in den Kriegskünsten vorangeht.«

Balkan verzog das Gesicht. »Lilia ist keine geborene Kriegerin. Ihre Reflexe und ihre Auffassungsgabe sind gut, und ihre Verteidigung ist stark, aber sie zeigt im Kampf keine Initiative.«

»Ah«, sagte Sonea lächelnd. »Ein vertrautes Problem.«

Glarrin sah sie an und zog eine Augenbraue hoch.

»Bei mir war es das Gleiche«, erklärte sie. »Wenn nur Lord Yikmo nicht bei der Invasion getötet worden wäre. Er war gut darin, widerstrebende Novizen zu unterrichten.«

»Lady Rol Ley hat Yikmos Methoden studiert«, sagte Balkan mit nachdenklicher Miene. »Sie unterrichtet viele der Standardkurse, die alle Novizen besuchen, daher wird sie Lilias Stärken und Schwächen kennen.«

»Dann könnte sie vielleicht helfen«, erwiderte Sonea. »Ich würde mich ebenfalls anbieten, wenn ich nicht aufbrechen müsste.«

»Vielleicht könnt Ihr es tun, wenn Ihr zurückkommt«, sagte Osen. »Gibt es sonst noch etwas, das wir besprechen müssen?«

»Nichts, was nicht durch Blutringe übermittelt werden könnte«, erwiderte Glarrin. »Wir sollten Soneas Aufbruch nicht länger als notwendig hinauszögern.«

Osen sah sie an. »Müsst Ihr noch irgendetwas tun, bevor Ihr aufbrecht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann solltet Ihr nun Euren Assistenten wissen lassen, dass Ihr morgen Nacht abreisen werdet.«

Sie stand auf. »Das werde ich gleich als Nächstes erledigen.«

Kriegskunst des Abschlussjahres war in Lilias Zukunftsplänen nie vorgesehen gewesen. Nach den Regeln der Universität erfüllte sie die Mindestanforderungen dieses Faches in Theorie und Praxis, die für alle Novizen für den Studienabschluss vorgeschrieben waren. Sie sollte also eigentlich bei den Heilern sein und dort fortgeschrittene Techniken erlernen, statt sich von Novizen, die bald die nächste Generation rotgewandeter Kriegsmagier sein würden, nach Strich und Faden vorführen und regelrecht verprügeln zu lassen.

Die anderen Novizen fanden Lilias Anwesenheit in der Klasse faszinierend. Es kam nicht jeden Tag vor, dass ein Novize oder Magier die Gelegenheit erhielt, den Kampf gegen einen Schwarzmagier zu üben. Es schien ihnen nicht einmal etwas auszumachen, dass sie nicht gut darin war, denn die Lektionen waren größtenteils Demonstrationen, bei denen wenig echte Magie benutzt wurde. Sie durfte keine Macht nehmen und speichern – nicht einmal, wenn diese Macht freiwillig gegeben wurde. Aber sie musste zugeben, dass sie die Lektionen genauso interessant fand wie die anderen Novizen, solange sie nicht von ihr verlangten, Entscheidungen zu treffen oder die Initiative zu ergreifen.

Schwarze Magie veränderte gewiss die Dynamik eines Kampfes. Sie hätte gedacht, dass die Fähigkeit, einer anderen Person Magie zu stehlen, im Kampf die nützlichste Fähigkeit eines Schwarzmagiers wäre, aber das traf nicht zu. Denn dazu musste sie dem Gegner nahe genug kommen, um ihm die Haut aufzuschneiden und seine natürliche Barriere gegen magische Eingriffe zu durchbrechen. Bis sie aber einen Feind so weit zermürbt hatte, dass er das zuließ, gab es bei ihm kaum noch magische Energie zu holen.

Die Fähigkeit, Magie zu speichern, war ein viel größerer Vorteil. Es war beunruhigend, wie überflüssig nicht-schwarze Magier wurden, sobald sie ihre Macht einem Schwarzmagier überlassen hatten. Es war außerdem beängstigend zu begreifen, wie wichtig es die Schwarzmagier machte, wichtiger als die anderen. Und es machte sie zu einer größeren Zielscheibe.

Wenn es darum ging, tatsächlich einen Kampf auszutragen, traf sie fast immer die falschen Entscheidungen, handelte zu früh oder zögerte zu lange. Als ihr letzter Angriff wirkungslos am Schild ihres Gegners abprallte, unterbrach Schwarzmagier Kallen den Kampf.

»Schon besser«, sagte er zu ihr. Er blickte sich in der Arena um. Die hohen Türme, die die unsichtbare magische Barriere trugen, die alles außerhalb der Arena vor den Übungskämpfen im Inneren schützte, warfen jetzt kürzere Schatten auf den Boden. »Das ist genug«, sagte er und betrachtete die angehenden Krieger. »Ihr dürft gehen.«

Sie alle wirkten überrascht, erhoben jedoch keine Einwände. Kallen wartete, während sie durch den kurzen Tunneleingang davongingen, dann trat er neben Lilia, als sie ihnen folgte.

»Warte, Lilia«, forderte er sie auf, als sie auf der anderen Seite aus dem Tunnel herauskamen.

Er sagte nichts, während die anderen Novizen davoneilten, aber dann seufzte er. Als Lilia zu ihm aufschaute, sah sie, dass er die Stirn runzelte, aber seine Miene glättete sich, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete. Sie senkte den Blick und wartete auf sein Urteil.

»Du wirst besser«, erklärte er. »Es mag sich nicht so anfühlen, aber du lernst, wie du auf verschiedene Herausforderungen reagieren musst.«

»Wirklich?« Sie blinzelte überrascht. »Ihr habt so … enttäuscht gewirkt.«

Sein Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie, und er blickte zur Universität hinüber. »Ich ärgere mich nur über meine eigenen Mängel.«

Als sie genauer hinschaute, sah sie Anspannung in seinen Zügen. Etwas an seinen Augen versetzte ihr einen jähen Stich, als eine Erinnerung an Naki in ihr aufstieg. Naki mit dem gleichen bekümmerten Ausdruck. Für gewöhnlich hatte sie in dieser Stimmung sehr bald ihren Feuel-Ofen angezündet.

Ein Schauer der Erkenntnis überlief Lilia. Sie hatte schon ein oder zwei Mal Feuel-Rauch an Kallens Roben wahrgenommen, glücklicherweise jedoch noch nie in einer Kriegskunststunde. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, gegen jemanden zu kämpfen oder sich auf den Schild von jemandem zu verlassen, der eine Droge nahm, die seine Fähigkeit verringerte, Anteil an seinen eigenen Taten zu nehmen.

Wenn er vor dieser Lektion kein Feuel geraucht hatte, verlangte es ihn jetzt danach? War das der Grund, warum er den Unterricht vorzeitig beendet hatte?

Er trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um zu sprechen. »Nun, das ist alles …«

»Ich habe eine Nachricht von Cery«, unterbrach sie ihn.

Er hielt inne, und sein Blick schärfte sich. »Ja?«

»Er ist überfallen worden. Irgendjemand hat ihn verraten. Er musste sich verstecken und alle Welt glauben machen, er sei tot. Ihr werdet ihn für eine Weile nicht treffen können. Es ist zu riskant.«

Kallen zog die Brauen herunter. »Ist er verletzt worden?«

Sie schüttelte den Kopf und verspürte Dankbarkeit ob seiner Sorge. Nicht das, was ich erwartet hätte. Vielleicht ist er nicht ganz so kalt und starr, wie ich dachte. »Einer seiner Leibwächter wurde verletzt, aber ihm geht es jetzt gut. Er lässt Euch bitten, niemandem zu verraten, dass er noch lebt, und dass Ihr Nachrichten über mich und Anyi schicken sollt.«

»Du siehst Anyi oft?«

Sie nickte.

Seine Augen wurden schmal. »Du verlässt doch nicht das Grundstück der Gilde, um sie zu sehen, oder?«

»Nein.«

Er musterte sie nachdenklich, als grüble er darüber nach, ob sie log oder nicht.

»Cery wüsste gern, ob Ihr irgendwelche Fortschritte bei der Suche nach Skellin gemacht habt«, erklärte sie.

»Keine. Wir folgen einigen Spuren, aber bisher hat sich nichts Vielversprechendes ergeben.«

»Gibt es irgendetwas, wonach ich Cery fragen soll?«

Der Blick, mit dem er sie bedachte, verbarg seine Skepsis nicht. »Nein. Wenn ich etwas herausfinde, das er wissen muss, werde ich es weitergeben.« Er blickte wieder zur Universität hinüber. »Du darfst jetzt gehen.«

Lilia unterdrückte angesichts ihrer Entlassung einen Seufzer, verneigte sich und ging davon. Nach mehreren Schritten schaute sie zurück und erhaschte einen Blick auf Kallen, bevor er hinter dem Gebäude der Universität verschwand. Der eingeschlagenen Richtung nach zu schließen, vermutete sie, dass er zu den Magierquartieren wollte.

Um sich eine Dosis Feuel zu genehmigen?, fragte sie sich. Hat er mir deshalb nichts von seiner Suche nach Skellin erzählt, weil er denkt, dass Cery und ich es nicht wissen müssen, oder hätte es zu lange gedauert und ihn von der Droge ferngehalten?

Und warum habe ich nicht dieses Verlangen danach? Sie hatte seit Monaten kein Feuel geraucht. Der Geruch von Feuel weckte in ihr bisweilen ein gewisses Verlangen, aber nichts, was ihre Entschlossenheit, es nie wieder zu benutzen, erschüttern konnte. Dunia, die Bolhausbesitzerin, die Lilia geholfen hatte, sich vor Lorandra und der Gilde zu verstecken, hatte gesagt, dass die Droge sich unterschiedlich auf die Menschen auswirke.

Ich schätze, ich habe einfach Glück. Sie verspürte ein unerwartetes Mitgefühl mit Kallen. Und er hat offensichtlich kein Glück.

»Sagt uns, was Ihr wisst, und Ihr seid frei.«

Lorkin konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Der Mann, der ihn verhörte, richtete sich bei seiner Reaktion ein wenig höher auf, und seine Augen leuchteten heller.

»Warum lacht Ihr?«

»Ich könnte Euch alles Mögliche erzählen. Woher würdet Ihr wissen, dass es die Wahrheit ist?«

Der Mann lächelte, aber da war kein Humor in seinen Augen. Er weiß, dass ich recht habe. Als Lorkin dem Mann in die Augen sah, überlief ihn ein Schauder. Da war eine Schärfe in diesen Augen. Eine Geduld, die andeutete, dass er die bevorstehenden Stunden des Verhörs genießen würde. Dass er gerade erst anfing. Dass dies erst der zweite von vielen Tagen war.

Sie hatten noch nicht versucht, seine Gedanken zu lesen. Irgendetwas hielt sie zurück. Ein Widerstreben, die Beziehungen mit den Verbündeten Ländern zu gefährden? Aber warum hatten sie ihn dann überhaupt eingesperrt?

Sie können die Idee nicht zur Gänze abgetan haben. Irgendwann würden sie es versuchen. Sobald sie sich erfolglos bemühten, seine Gedanken zu lesen, würden sie begreifen, dass sie die guten Beziehungen zu den Verbündeten Ländern für nichts und wieder nichts geopfert hatten. Wenn sie dann jede Zurückhaltung fallen ließen, die sie sich bis dahin aus diplomatischen Gründen auferlegt hatten, würden sie ihn vielleicht foltern – aber sie würden vor demselben Problem stehen: nicht zu wissen, ob das, was er sagte, der Wahrheit entsprach.

Vielleicht würden sie den Wahrheitsgehalt seiner Worte auf andere Weise ermitteln. Vielleicht hofften sie, dass Einkerkerung, Unannehmlichkeiten und Furcht ihn dazu treiben würden, ihnen die Erlaubnis zu geben, seine Gedanken zu lesen.

Er wünschte beinahe, sie würden es endlich hinter sich bringen. Er fühlte sich versucht, eine freiwillige Gedankenlesung anzubieten, um die Dinge zu beschleunigen. Stattdessen dachte er sich eine Reihe lächerlicher Lügen aus, die er dem Vernehmer auftischen konnte. Es würde Spaß machen, zumindest vorübergehend, den Mann für eine Weile an der Nase herumzuführen. Aber noch nicht jetzt, sagte er sich. Es ist erst der zweite Tag. Du kannst noch viel länger durchhalten.

Der Begleiter seines Vernehmers erschien mit einer Schale in der Tür. Als er ihn sah, lächelte der Ashaki, dann schaute er wieder zu Lorkin hinüber.

»Erzählt uns etwas über die Verräterinnen – nur eine winzige Kleinigkeit –, und wir werden Euch etwas zu essen geben.«

Ein köstlicher Geruch drang an Lorkins Nase. Sein Magen krampfte sich zusammen, dann knurrte er vor Hunger. Er hatte an diesem Morgen Wasser bekommen, an dem er vorsichtig genippt hatte, aber er hatte noch immer nichts zu essen erhalten, seit man ihn hier heruntergebracht hatte. Er hatte der Versuchung widerstanden, heilende Magie zu benutzen, um den wachsenden Hunger zu dämpfen; er wollte die Magie, die Tyvara ihm gegeben hatte, nicht verwenden. Sie konnte nicht ersetzt werden, und er würde sie vielleicht noch brauchen.

Der Geruch von Essen war stark und machte ihn schwindlig. Er dachte an die Lügen, die er erwogen hatte ihnen aufzutischen, und er verspürte einen starken Drang zu sprechen. Osen hatte gesagt, er solle so lange wie möglich vermeiden zu offenbaren, dass man seine Gedanken nicht lesen konnte. Den Vernehmer auf eine falsche Fährte zu führen würde das Unvermeidliche vielleicht hinauszögern.

Mach dich nicht lächerlich, dachte er. Es könnte ihn für eine kurze Zeit ablenken, aber je mehr ich die Geduld dieses Mannes auf die Probe stelle, desto eher wird er den Versuch aufgeben, mich zum Sprechen zu bringen. Tyvara würde von mir erwarten, dass ich mehr Willenskraft habe.

Sie erwartete außerdem, dass er die Magie, die sie ihm gegeben hatte, zu seinem Schutz benutzte. Diese Magie würde ihn niemals aus dem Gefängnis bringen oder einen Ashaki daran hindern, ihn zu foltern oder zu töten, aber sie konnte ihm helfen, weniger direkte Angriffe auf seine Entschlossenheit zu vereiteln.

Er schloss die Augen, zog ein wenig Magie in sich hinein und sandte sie in seinen Körper, um das nagende Gefühl in seinem Magen zu lindern und dafür zu sorgen, dass sein Kopf aufhörte, sich zu drehen.

Als er die Augen öffnete, beobachtete ihn der Ashaki eindringlich. Der Mann starrte Lorkin nachdenklich an, dann winkte er seinen Assistenten herbei. Die beiden begannen mit demonstrativer Genüsslichkeit zu essen.

5 Gerüchte und Geheimnisse

Der Diener, der auf Soneas Klopfen öffnete, hatte ihr mitgeteilt, dass Lord Regin sich in einer Besprechung mit Schwarzmagier Kallen befinde. Sie hatte ihn gebeten, sie zu informieren, wenn Regin zurückkehrte, und war wieder in ihre Räume gegangen, um sich eine dringend benötigte Tasse Raka zu gönnen.

Die Wartezeit war quälend.

Das ist doch lächerlich. Ich habe ihn als meinen Assistenten ausgesucht. Ich habe schon früher mit ihm zusammengearbeitet. Aber seit er sich bereitgefunden hatte, mit ihr nach Sachaka zu reisen, hatte sie begonnen sich Sorgen zu machen, ob sie nicht vielleicht zu schnell gewählt hatte. Er hatte all die richtigen Qualifikationen für die Rolle: Er war intelligent, ein starker Magier, ein gut ausgebildeter Krieger, geschickt, was politisches Manövrieren betraf, und voll grimmiger Loyalität gegenüber der Gilde und Kyralia.

Aber werden wir uns auch verstehen?

Alles war bestens zwischen ihnen gewesen, als er ihr bei der Suche nach Lorandra geholfen hatte. Es war bemerkenswert einfach, mit ihm zu arbeiten. Aber diesmal würden sie Tag und Nacht zusammen sein, Woche für Woche, ohne eine Ruhepause voneinander.

Nun, das ist nicht ganz wahr. Sobald wir das Gildehaus in Arvice erreichen, werden wir zwei andere Magier haben, mit denen wir reden können, und außerdem den elynischen Botschafter.

In der Zwischenzeit würden sie einander wohl oder übel Gesellschaft leisten müssen. Obwohl sie Regin nicht mehr misstraute, wie sie es zu Beginn der Suche nach Lorandra getan hatte, war es unmöglich für sie, den Schmerz und die Demütigung zu vergessen, die er ihr als Novizin zugefügt hatte.

Das liegt in der Vergangenheit. In den letzten zwanzig Jahren hat er mir gegenüber nichts anderes an den Tag gelegt als Respekt und Unterstützung. Er hat sich sogar während der Ichani-Invasion entschuldigt. Bin ich außerstande, Entschuldigungen anzunehmen? Es ist dumm von mir, diesen Groll mit mir herumzutragen.

Ein Klopfen an der Haupttür ließ sie zusammenzucken, obwohl sie es erwartet hatte. Sie setzte ihre Tasse ab, erhob sich und ging zur Tür, während sie sie mit Magie öffnete. Regins Diener verneigte sich.

»Lord Regin ist in seinem Quartier und erwartet Euren Besuch.«

»Danke«, sagte sie.

Sie trat an dem Mann vorbei, schloss die Tür und ging den Flur hinunter zu Regins Räumen. Als sie seine Tür erreichte, hielt sie inne, um tief durchzuatmen, bevor sie anklopfte. Die Tür öffnete sich. Regin neigte den Kopf.

»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Bitte, tretet ein.«

»Vielen Dank, Lord Regin«, erwiderte sie.

Sie trat ein. Der Raum war spärlich möbliert, und die meisten Stücke sahen neu aus. Sie bemerkte nichts, was nach einem lange gehegten Schatz oder einem persönlichen Besitztum aussah.

Regin deutete auf einen Stuhl. »Würdet Ihr Euch gern setzen?«

Sonea betrachtete den Stuhl und schüttelte den Kopf. »Ich sollte besser nicht zu viel von Eurer Zeit beanspruchen, wenn man bedenkt, was ich Euch zu sagen habe.« Sie begegnete seinem Blick. Er beobachtete sie mit intensiver Reglosigkeit. Mit einer Erwartung. Plötzlich ergab der Mangel an persönlichen Habseligkeiten einen Sinn: Er hatte gewusst, dass er vielleicht bald aufbrechen würde, warum also sollte er persönliche Dinge hierherbringen? »Wir werden morgen Nacht aufbrechen«, erklärte sie.

Er atmete hörbar aus, wandte den Blick ab und nickte. Sie fing einen flüchtigen Ausdruck auf, und Schuldgefühl durchzuckte sie. Ich habe ihn seit der Invasion nie wirklich besorgt gesehen.

»Wenn das zu bald für Euch ist oder Ihr das Gefühl habt, dass Eure Pflichten hier liegen, ist es noch nicht zu spät, Eure Meinung zu ändern«, sagte sie, wobei sie ihren Tonfall förmlich hielt, um zu vermeiden, dass sie so klang, als zöge sie seine Entschlossenheit in Zweifel oder deute an, dass sie seinen Gesinnungswechsel für feige halten könnte.

Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht zu bald. Tatsächlich ist der Zeitpunkt perfekt. Ich habe keine anderen Verpflichtungen als meine Arbeit, die darin besteht, für die Gilde und Kyralia von Nutzen zu sein. Es ist recht nett, tatsächlich einmal von Nutzen zu sein. Dies ist die Art von Aufgabe, für die wir Krieger ausgebildet werden, und doch bemühen wir uns die meiste Zeit darum, nicht benötigt zu werden.«

Sonea schaute weg und verspürte Mitgefühl bei dem leisen Anflug von Verbitterung in seiner Stimme. Keine anderen Verpflichtungen. Er hat wirklich alle Familienbande durchtrennt. Die Skrupellosigkeit seiner Rache an seiner Frau für ihre zahlreichen ehebrecherischen Affären hatte die Tratschtanten der Gilde wochenlang unterhalten. Er hatte seinen Töchtern, die beide mit respektablen und wohlhabenden Männern verheiratet waren, seine beiden Anwesen gegeben und um Räume in der Gilde gebeten. Auf diese Weise blieb seine Ehefrau ohne ein Dach über dem Kopf und ohne Geld zurück, so dass sie gezwungen war, bei ihrer Familie zu leben.

Den Gerüchten zufolge hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem Regin ihren letzten Geliebten weggeschickt hatte. Ihr Geliebter dagegen hatte sich einfach eine andere wohlhabende Frau gesucht, die er verführen konnte. Trotz der Schande, wie beschädigte Ware ihrer Familie zurückgegeben worden zu sein, unternahm Vinina keine weiteren Selbstmordversuche. Sonea wusste nicht, ob sie Mitleid mit ihr haben sollte oder nicht. Manchmal fragte sie sich, ob die Ehe mit Regin die Frau zu solch extremem Verhalten getrieben hatte.

Vielleicht benimmt er sich in der Öffentlichkeit anständig, ist aber im Privatleben wieder das abscheuliche Balg, das er als Novize war.

Vielleicht würde sie es auf dieser Reise herausfinden. Nicht dass ihre gemeinsame Zeit als privat gelten konnte. Der Zweck der Reise war zu wichtig und wäre es auch dann gewesen, wenn Lorkin nicht gefangen gehalten würde.

»Ich kann Euch jetzt den Grund für die Reise nennen«, begann sie. Regin hob jäh den Kopf und sah sie an. »Morgen wird es allen mitgeteilt werden. Lorkin ist nach Arvice zurückgekehrt. Bevor er nach Kyralia aufbrechen konnte, ließ König Amakira ihn vorladen, und als Lorkin sich weigerte, Fragen über die Verräterinnen zu beantworten, hat er ihn eingekerkert.«

Regins Augen weiteten sich. »Oh, es tut mir leid, das zu hören, Sonea.« Er verzog mitfühlend das Gesicht. »Dann schicken sie Euch, um Verhandlungen über seine Freilassung zu führen? Ihr müsst darauf brennen aufzubrechen.« Er machte einen kleinen Schritt auf sie zu. »Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen.«

Seine Miene war so ernst, dass die vertraute Angst, die jedes Mal kam, wenn sie an Lorkin dachte, zurückkehrte. Sie senkte den Blick und drängte das Gefühl beiseite.

»Ich danke Euch. Ich weiß, dass Ihr das tun werdet.«

»Wenn wir morgen aufbrechen … wir haben kaum mit dem Prozess begonnen, Eure Stärke zu vergrößern. Wollt Ihr, dass ich Euch jetzt Macht gebe?«

Etwas in ihr zog sich zusammen, und sie spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. Sie sah ihn an und wandte dann den Blick ab.

»Nein«, antwortete sie schnell. »Morgen wird eine Versammlung stattfinden, und Osen wird um Freiwillige bitten. Wartet bis dahin.«

»Was wird Osen ihnen erzählen?«

»Nur das, was ich Euch gesagt habe.«

»Nur?« Regin stieß einen leisen Seufzer aus. »Seid vorsichtig, Sonea.«

Sie schaute zu ihm auf, dann begriff sie ihren Fehler. Sie hatte ihm verraten, dass mehr hinter der Reise steckte als Lorkins Gefangennahme. Dieses winzige Bröckchen Information könnte ihrer beider Leben gefährden, sollte ein sachakanischer Magier es in seinen Gedanken lesen.

Jetzt ist es zu spät. Ich muss in Zukunft vorsichtiger sein.

Aber die beängstigende Wahrheit war: Wenn Regin durch einen sachakanischen Magier zwangsweise einer Gedankenlesung unterzogen wurde, bestand durchaus die Möglichkeit, dass Sonea sein Schicksal teilen würde und dass man auch ihr gegenüber alle diplomatischen Bedenken fallen ließ. Obwohl Nakis Ring verhindern würde, dass ihre eigenen Gedanken gelesen wurden, wusste sie nicht, wie lange sie sich gegen jemanden behaupten konnte, der entschlossen war, ihr Informationen mit Hilfe von Folter zu entlocken.

Vor allem wenn sie Lorkin benutzten, um sie zu überreden.

Obwohl nichts geschehen war, was er nicht erwartet hatte, verspürte Dannyl trotzdem Zorn und Demütigung. Er hoffte, dass man es ihm nicht angemerkt hatte. Er hatte sich bemüht, während seines kurzen Besuchs im Palast gelassen und höflich zu bleiben, aber er konnte nicht erkennen, ob er erfolgreich war oder ob seine wahren Gefühle irgendwie offensichtlich waren – oder ob seine geheuchelte Gelassenheit sogar als Anzeichen dafür gewertet würde, dass man ihm erfolgreich zugesetzt hatte.

Ironischerweise machte seine frühere Entscheidung, die Suche nach Lorkin aufzugeben, die ihn den Respekt der Elite der Sachakaner gekostet hatte, es jetzt schwerer, den jungen Magier zu beschützen. Das selbstgefällige Grinsen der Ashaki, die damals Zeuge seiner Entscheidung gewesen waren, sprach eine deutliche Sprache.

Wenn ich die Suche hätte weitergehen lassen, wären ich und die Ashaki, die mir geholfen haben, wahrscheinlich von den Verräterinnen getötet worden. Lorkin hätte sich bei seiner Rückkehr ins Gildehaus auf niemandes Hilfe mehr stützen können.

Aber das war nicht ganz die Wahrheit. Die Gilde hätte einen Ersatzbotschafter geschickt. Einen, dessen Ruf nicht durch Feigheit besudelt war. Was für Lorkins Zwangslage vielleicht besser gewesen wäre.

Nein. Wenn die Verräterinnen gezwungen worden wären, einen Gildemagier zu töten, wäre Lorkin vermutlich überhaupt nicht ins Gildehaus zurückgekehrt. Man hätte ihm vielleicht nicht einmal Zutritt zum Sanktuarium gewährt, aus Furcht, dass er Rache für meinen Tod suchen würde.

Obwohl … die Vorstellung, dass jemand Rache für seinen Tod suchen könnte, fühlte sich für Dannyl unwahrscheinlich und lächerlich an.

Ein schwacher Rhythmus nackter Fersen auf dem Boden drang vom Eingang des Gildehauses an Dannyls Ohr. Er hielt in seinem Auf und Ab im Herrenzimmer inne und drehte sich in Richtung des Geräusches. Taff, der Türsklave, kam aus dem Flur und warf sich mit seinem wie immer übertrieben dramatischen Gehabe auf den Boden – eine Angewohnheit, die Tayend einige Wochen zuvor bei dem Mann aufgefallen war.

»Der elynische Botschafter ist zurückgekehrt«, stieß Taff hervor.

Dannyl nickte und bedeutete dem Sklaven mit einer Handbewegung, dass er aufstehen und tun solle, was immer Türsklaven taten, wenn sie nicht gerade Besucher ankündigten.

Das Geräusch einer Tür, die sich schloss, war zu hören, dann Schritte. Tayend lächelte flüchtig, als er aus dem Flur trat, und schüttelte dann den Kopf.

»Kein Glück«, sagte er.

Dannyl stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. »Nun, danke, dass du es versucht hast.«

Tayend seufzte. »Es ist noch früh«, erwiderte er. »Wenn wir beharrlich sind, wird er vielleicht nachgeben. Ich habe darauf hingewiesen, dass du Lorkin kaum zum Sprechen bewegen kannst, wenn du niemals Gelegenheit hast, mit ihm zu reden.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Ist das klug? Es könnte gefährlich sein, auch nur anzudeuten, dass ich vielleicht dazu bereit wäre.«

»Nicht, wenn ich es sage. Und ich habe nur auf den Fehler in seiner Logik hingewiesen.«

»Ich bin mir sicher, er wird sehr erfreut sein, dass du ihn vor allen auf seine schwache Logik hingewiesen hast.«

»Oh, es war niemand sonst da, der es gehört hat – und ihm schien es zu gefallen.«

Dannyl wurde noch flauer. »Du hast eine Privataudienz bei ihm bekommen?«

»Nun, nun. Sei nicht eifersüchtig.« Der Elyner feixte, dann wedelte er mit der Hand. »Lass uns Wein trinken und etwas essen, hm?« Er drehte sich um, winkte einen Sklaven herbei und begann dem Mann genaue Anweisungen zu erteilen.

Dannyl ging zu den Hockern hinüber und setzte sich. Tayend hatte Lorkin zwar nicht sehen können, aber der König hatte sich die Mühe gemacht, ihn persönlich zu empfangen. Vielleicht liegt es daran, dass Tayend ein Botschafter ist, der für seinen König und sein Land spricht, während ich lediglich der Sprecher der Gilde bin.

Er bezweifelte aber, dass das einen großen Unterschied machte. König Amakira war verärgert über Kyralia und die Gilde, nicht über Elyne. Es ergab Sinn, dass er Tayend mit dem gleichen Respekt behandelte wie immer.

»Ah. Wein«, sagte Tayend, als ein Sklave mit einer Flasche und Kelchen hereineilte. Der Elyner setzte sich neben Dannyl und wartete, bis der Sklave sie bedient hatte und gegangen war, bevor er sich dichter zu ihm beugte.

»Merria hat mir heute Morgen nach deinem Aufbruch erzählt, dass sie die Situation mit ihren Freundinnen besprochen hat. Sie werden Einwände gegen diese gefährliche Behandlung eines fremdländischen Magiers erheben«, murmelte er.

Dannyls Stimmung hob sich ein wenig. »Und … die anderen Verbindungsleute?«

»Werden unsere Botschaft weitergeben. Sie sind sich Lorkins Zwangslage anscheinend durchaus bewusst, aber sie haben nicht gesagt, ob sie deswegen etwas unternehmen können.«

»Mir gefällt nicht, was sie tun würden, wenn sie könnten.« Dannyl schauderte und nippte an seinem Wein. »Sie könnten Lorkin töten, um sicherzustellen, dass er nicht redet.«

»Das werden sie nicht tun«, versicherte ihm Tayend. »Sie müssen gewusst haben, dass eine Gefahr bestand, dass dies geschehen würde. Sie hätten ihn nicht hierhergeschickt, wenn es für sie katastrophal sein könnte.«

»Vielleicht, weil sie ihre Leute bereits instruiert haben, ihn zu töten. Er könnte bereits tot sein.«

Tayend schüttelte den Kopf. »Der König hat mir versichert, dass Lorkin gut behandelt wird.«

»Er könnte lügen.«

»Ja, könnte er.« Tayend seufzte. »Wir können nur hoffen, dass er es nicht tut.« Der Elyner runzelte die Stirn. »Eine Sache macht mich dennoch nachdenklich. Ich sehe allerdings nicht, welchen Vorteil sie für die Verräterinnen haben könnte – daher vermute ich, dass ich Gespenster sehe.«

»Und welches Gespenst wäre das?«

»Dass die Verräterinnen wussten, dass der König Lorkin einkerkern würde. Dass sie wollten, dass es geschah.«

»Warum sollten sie das wollen?«

Tayend sah Dannyl an und schüttelte den Kopf. »Das ist es, was ich nicht entwirren kann. Außer … vielleicht wollen sie, dass der Friede zwischen Kyralia und Sachaka leidet. Vielleicht wollen sie sicherstellen, dass unsere Länder keine Versprechungen abgeben, Sachaka zu helfen, sich gegen sie zu verteidigen.«

Dannyl überlief ein Schauer. »Du denkst, sie könnten etwas Größeres und Direkteres planen als Spionage und politischen Mord?«

»Man muss es immer in Betracht ziehen.« Tayend lächelte grimmig und nippte dann mit ernster Miene an seinem Wein. »Wenn es zu einem Bürgerkrieg käme, was denkst du, wer gewinnen würde?«

»Ich habe keine Ahnung.« Dannyl schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht genug über die Verräterinnen.«

»Dann hoffe ich, dass Lorkin mehr weiß, als er zu wissen behauptet, denn wenn die Verbündeten Länder in einen Krieg hineingezogen werden, könnten wir uns schnell auf der Seite der Verlierer wiederfinden – oder herausfinden, dass wir nur gewinnen können, indem wir den größeren Teil der Kämpfe übernehmen und die größeren Opfer bringen.«

Ein kalter Knoten hatte sich in Dannyls Magen gebildet. Lorkin wird Osen alles gesagt haben, was er über die Verräterinnen weiß. Wenn Lorkin also weiß, dass sie einen Bürgerkrieg planen, dann ist Osen ebenfalls darüber im Bilde. Während Dannyl alle bisherigen Anweisungen Osens erwog, zog sich der Knoten in seinem Magen fester zusammen. Als Sklaven mit Essenstabletts in den Raum traten, war ihm zu übel, um zu essen, aber er zwang sich, seine Auswahl von den Tellern zu treffen, sich etwas in den Mund zu stecken und zu kauen. Warum? Weil Sklaven es gemacht haben. Menschen, die in ihrem Leben keine Wahl haben, haben sich damit Mühe gegeben, und es kommt mir gedankenlos und verschwenderisch vor, diese Dinge zu verschmähen. Dann löste sich der Knoten ein wenig. Die Verräterinnen missbilligen die Sklaverei. Ein Bürgerkrieg könnte Freiheit bringen.

Aber es würde einen Preis haben. Das hatte es immer.

Als Gol in den Keller zurückkehrte, stieß Cery einen stummen Seufzer der Erleichterung aus. Die Bewegungen seines Freundes waren vorsichtig, und er verzog vor Schmerz das Gesicht, als er sich hinsetzte, aber davon abgesehen sah er viel besser aus als noch vor zwei Tagen.

»Es wird da drin bald ziemlich eklig werden«, murrte Gol.

»Ich weiß«, pflichtete Cery ihm bei. »Aber wir werden fürs Erste damit zurechtkommen müssen.«

Sie hatten einen anderen Keller ausgewählt, um sich darin zu erleichtern. Die Wände und die Decke wirkten durchaus stabil, und Cery hatte etwas Erde dort deponiert, um damit ihre Exkremente zu bedecken. Aber auch das war nur eine vorübergehende Lösung.

Cery hatte Anyi gebeten, für eine Weile zu bleiben und über Gol zu wachen, während er das kleine Netzwerk von Räumen und Fluren in der Nähe auskundschaftete. Es war lange her, seit jemand in diesen Kellern gewesen war. Er wusste, dass der verstorbene Hohe Lord Akkarin sie benutzt hatte, um Dinge zu lagern, aber die einzigen Gegenstände, die jetzt dort waren und alt genug wirkten, um aus dieser Zeit zu stammen, waren nicht wertvoll: Größtenteils handelte es sich um leere Kisten wie die, die sie als Möbel benutzten. Er hatte kunstvolle Lampen gefunden, die sich in den ältesten Häusern Imardins gut gemacht hätten, wenn sie nicht von Rost zerfressen gewesen wären, außerdem Tonscherben von Gefäßen, die, wären sie unversehrt gewesen, wegen ihres Alters und ihrer Rarität ein Vermögen wert gewesen wären.

Die Wände dieser Keller bestanden aus Ziegeln und Naturstein. Es gab Bereiche, in denen Ziegel die Lücken zwischen dem Stein füllten, und Ziegelwände teilten die größeren Räume mit den Steinmauern und legten die Vermutung nahe, dass Naturstein der ursprüngliche Baustoff war und man das Ziegelwerk nachträglich benutzt hatte, um Reparaturen durchzuführen und die Größe der Kellerräume dem Bedarf anzupassen.

In einem Raum hatte jemand Worte an die Wand gekritzelt. »Tagin muss sterben«, hatte er mühelos entziffert, da die Buchstaben groß und tief waren. »Indria muss gewonnen werden«, war kleiner. Auf einem zu Bruch gegangenen Stein stand: »Höhere Magie ist …« In einem anderen, größeren Keller, dessen Decke halb eingestürzt war, hatte er auf einer an der Wand lehnenden Steintafel eine eingemeißelte Namensliste entdeckt. Er kannte keinen der Namen, aber ihnen gingen die Titel »Lord« und »Magier« voran. Seltsam, dass sie beides benutzten. Er glaubte, ein Datum am unteren Rand ausmachen zu können, aber er bekam das Kerzenlicht nicht nah genug heran, und auf keinen Fall würde er sich unter eine große und schwere Steintafel ducken, die aussah, als könnte sie jeden Moment umkippen.

Bei seiner Rückkehr in ihre Zuflucht hatte Cery einer rastlos auf- und abgehenden Anyi erlaubt, ihre eigenen Erkundungsgänge fortzusetzen. Er blieb bei Gol, und sie sprachen darüber, was Cery gefunden hatte, und über die Vergangenheit, bis Gol schläfrig wurde. Es machte Cery nicht so viel aus wie erwartet, in der Stille dazusitzen, solange er seinem Verstand nicht erlaubte, sich auf unangenehme Erinnerungen zu konzentrieren. Es war ruhig und geruhsam, und ausnahmsweise einmal machte er sich keine Sorgen wegen Meuchelmördern, die sich an sie anschlichen.

Nun, ich bin nicht gänzlich unbesorgt, korrigierte er sich.

Als wollten sie seine zittrige Überzeugung von ihrer Sicherheit herausfordern, erklangen draußen auf dem Flur leise Schritte. Er erhob sich und spürte eine Woge der Erleichterung, als Anyi in der Tür erschien.

Sie grinste breit und bückte sich, um ihren fast leeren Wassereimer hochzuheben.

»Ich habe ein leckes Süßwasserrohr unter der Universität entdeckt«, berichtete sie ihm. »Es ist näher als das, von dem du wusstest, aber genauso langsam. Es wird eine Weile dauern, den hier zu füllen. Es wäre besser, wenn wir zwei Eimer hätten – einen, den wir dort lassen könnten, damit er sich füllt. Oder ich könnte versuchen, das Leck zu verschlimmern.«

Cery schüttelte den Kopf. »Sie könnten etwas bemerken und der Sache auf den Grund gehen. Lass uns sehen, ob Lilia uns einen zweiten Eimer beschaffen kann.«

Sie nickte, dann klemmte sie sich den Eimer unter den Arm und ging davon.

Er setzte sich wieder und spürte, dass seine Stimmung sich ein wenig aufhellte. Bisweilen bezweifelte er, dass sie überhaupt hier leben konnten, geschweige denn es bequem haben. Es gab so vieles, wozu sie keinen Zugang hatten. Sie verließen sich gänzlich auf Lilia, was ihre Ernährung betraf – aber glücklicherweise hatten sie wenigstens »eigenes« Wasser. Darüber hinaus besaßen sie nichts als einen Haufen alter Kissen, einige Kisten und den kalten Boden, auf dem sie schlafen und sitzen konnten. Es war aber nicht allzu kalt, und die Luft schien nicht schal zu werden.

Das Geräusch von Schritten drang erneut an sein Ohr, aber wer immer nahte, machte sich keine Mühe, leise zu sein. Der Besucher trug Stiefel oder irgendeine andere Art von kräftigem Schuh, bewegte sich jedoch leichtfüßig.

Lilia. Er lächelte in sich hinein. Ihr zu helfen hatte sich als sehr einträglich erwiesen. Er hätte ohnehin niemals zugelassen, dass sie sich allein in die Unterwelt der Stadt aufgemacht hätte, und dadurch, dass er sie nicht direkt der Gilde ausgeliefert hatte, hatte er eine sehr nützliche Verbündete gewonnen. Und Anyi mag sie sehr.

Eine helle, in der Luft schwebende Lichtkugel erreichte den Raum noch vor Lilia. Sie trug ein Bündel und eine große Glasflasche, und sie lächelte, als sie Cery sah. Aber als sie sich in dem Raum umblickte, geriet ihre fröhliche Miene ins Stocken.

»Anyi?«

»Sammelt ein wenig Wasser«, berichtete er ihr. »Sie hat ein leckes Rohr gefunden.«

»Kein Abflussrohr, hoffe ich.« Sie legte das Bündel vorsichtig auf eine umgekippte Kiste und begann es auszupacken.

»Sie sagt, es sei sauber«, erwiderte er. Er blinzelte überrascht, als er sah, wie viel zu essen sie mitgebracht hatte. Brot, eine lackierte Schachtel mit zwei Schichten, unten mit langsam gegartem Fleisch und oben mit gewürztem Gemüse gefüllt. Wenn die Diener den Magiern Mahlzeiten in ihre Quartiere brachten, benutzten sie immer praktische, fest verschlossene Behältnisse, die die Wärme hielten. Obwohl diese Schachtel nicht für drei Personen genügte, war es deutlich mehr, als eine einzige Person gebraucht hätte. »Das … ist dein Abendessen?«

»Und Soneas«, erklärte sie. »Lord Rothen hat sie zu einer letzten gemeinsamen Mahlzeit eingeladen, und es war zu spät, um Jonna Bescheid zu sagen.«

»Was riecht hier so köstlich?«, erklang eine andere Stimme.

Lilia grinste, als Anyi den Raum betrat. »Abendessen. Ich habe auch etwas Lampenöl und Kerzen mitgebracht.«

»Ooh!« Anyi zog sich eine Kiste näher heran und nahm sich ein Stück Brot. Irgendwie war Gol aufgewacht und hatte sich erhoben, ohne zu stöhnen, und er beugte sich über das Essen.

»Wird es den Dienern nicht auffallen, wenn du für zwei Personen isst?«, fragte Cery, während er sich bediente.

Lilia zuckte die Achseln. »Jonna versucht immer, mich dazu zu bewegen, mehr zu essen, und sie ist es gewohnt, dass Anyi vorbeikommt und alles isst, was sich in ihrer Reichweite befindet.«

»Hey!«, protestierte Anyi.

Lilia kicherte. »Es macht ihr nichts aus.«

»Was ist mit dir?«, fragte Gol, blickte zu Lilia auf und deutete auf das Essen.

»Ich habe heute Mittag eine Extraportion gegessen«, erwiderte das Mädchen. »Und etwas Brot und Obst eingesteckt, um es später zu essen.«

»Diese letzte Mahlzeit, die Sonea und Rothen sich gönnen …«

Lilias Miene wurde ernst. »Sie bricht morgen Nacht auf. Und es ist auch offiziell. Sie geht, weil Lord Lorkin nach Arvice zurückgekehrt und vom sachakanischen König eingekerkert worden ist, weil er sich weigerte, die Verräterinnen zu verraten.«

Cery wurde flau im Magen. Zu erfahren, dass das eigene Kind im Gefängnis war. Trotzdem, zumindest lebt er und ist nicht länger in einer geheimen Rebellenstadt gefangen. Das ist einen Schritt näher an zu Hause. Nach all den Jahren, in denen er den Frieden gewahrt hat, wird der sachakanische König das alles nicht gefährden, indem er einen Gildemagier tötet.

Er musste zugeben, dass er nicht genug über Sachaka wusste, um sich sicher zu sein.

»Ich bin froh, dass wir ihr nicht verraten haben, dass wir hier sind«, sagte er. »Sie braucht sich nicht auch noch um uns zu sorgen.«

Anyi nickte. »Es wird jetzt leichter für Lilia sein, uns zu helfen, da sie nicht mehr fürchten muss, dass Sonea es herausfindet.«

»Aber Sonea ist die Einzige, die uns verteidigen würde, sollte die Gilde uns hier unten entdecken«, wandte Gol kopfschüttelnd ein.

»Was ist mit Kallen?«, fragte Anyi mit Blick auf Lilia.

Lilia zuckte die Achseln. »Auf ihn würde ich mich nicht verlassen wollen.«

»Dann sollten wir besser sicherstellen, dass man uns nicht findet«, meinte Cery. »Hast du mit Kallen gesprochen? Hatte er irgendwelche Neuigkeiten?«

»Ja, ich habe mit ihm gesprochen, und nein, nichts Neues«, erwiderte Lilia. Sie seufzte. »Er scheint nicht geneigt zu sein, sich mir anzuvertrauen.«

»Du wirst ihn einfach auf deine Seite ziehen müssen«, sagte Anyi. Während Gol den letzten Rest Sauce aus dem Fleischteil des Essens schlürfte, wischte sich Cery die Hände am Rand des Tuches ab, in das das Essen eingewickelt gewesen war.

»In der Zwischenzeit«, sagte er zu Lilia, »musst du nach Gol sehen. Wenn seine Verletzungen gut verheilen, dann musst du mit mir zum Eingang zu den Tunneln der Gilde kommen. Keiner von uns wird wirklich sicher sein, bis wir einen Weg finden, diesen Eingang zu blockieren, damit kein Handlanger irgendeines Diebes durchkommen kann. Wenn das bedeutet, das Dach zum Einsturz zu bringen, dann ist es das, was wir tun müssen.« Er wandte sich an Anyi. »Dann will ich, dass du mir diese Fluchtwege zeigst. Vielleicht werden sie uns in die Nähe des Ortes bringen, wo Diener Dinge wegwerfen, die die Magier nicht länger benutzen.«

Beide Mädchen grinsten. »Ein kleiner Erkundungsausflug würde Spaß machen«, meinte Lilia.

»Musst du nicht irgendetwas lernen?«, fragte Cery.

Ihr Gesicht wurde lang. »Muss ich jemals nicht lernen?« Sie seufzte, dann sah sie Anyi tadelnd an. »Du willst den ganzen Spaß für dich allein haben.«

Anyi schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht sagen, bis ich hier unten ein schönes weiches Bett habe und regelmäßige, dampfend heiße Bäder.«

Lilias Augen weiteten sich in gespielter Entschuldigung. »Tatsächlich, jetzt, da du Bäder und Körpergeruch erwähnst …«

Obwohl sie es offensichtlich erwartete, schaffte sie es trotzdem nur mit knapper Not, Anyis Boxhieb auszuweichen. Kichernd schlüpfte sie außer Reichweite.

6 Erlaubnis erteilt

Die beiden Männer mittleren Alters waren noch in ihrer Zelle, als Lorkin vom zweiten Tag seiner Befragung zurückkehrte, aber das Paar war nicht mehr da. Erneut hatte man ihm Wasser hingestellt, aber kein Essen. Hunger hatte es ihm schwer gemacht zu schlafen, bis er wieder nachgab und ihn mit Magie vertrieb.

Es war unmöglich zu sagen, wie spät es war. Keine Fenster ließen Licht ein, um anzuzeigen, ob Tag oder Nacht war. Lorkin musste sich auf die Routine des Vernehmers und des Beobachters verlassen, um das Verstreichen der Tage zu messen. Als er erwachte, bemerkte er, dass der Beobachter noch da war und ihn mit wachsamen Augen, aber ausdruckslosem Gesicht betrachtete. Lorkin, der mit dem Rücken zur Wand saß, unterhielt sich mit Gedankenspielen und Erinnerungen.

Ein Geräusch erregte schließlich seine Aufmerksamkeit. Schritte warnten ihn, dass jemand näher kam. Der Beobachter wandte sich ab und stand dann auf. Lorkin seufzte leise, erhob sich und machte sich für einen weiteren Tag voller Fragen und Hunger bereit. Statt des Vernehmers erschien ein Sklave, der ein Tablett mit einer Schüssel, einem Stück Brot und einem Kelch brachte. Lorkin konnte nicht umhin zu spüren, wie sein Herz vor Hoffnung heftiger schlug, während der Beobachter die Dinge untersuchte und dann vortrat, um die Tür zu seiner Zelle zu öffnen.

Der Sklave hielt den Blick gesenkt, als er eintrat, dann stellte er das Tablett auf den Boden und verließ den Raum rückwärts wieder.

Der Beobachter hielt inne, um Lorkin nachdenklich zu betrachten, nachdem er die Zelle wieder verschlossen hatte. Lorkin wartete, bis der Mann zu seinem Platz zurückgekehrt war, bevor er sich dem Tablett näherte. Er hob es auf und trug es zum anderen Ende der Zelle.

Die Schale enthielt eine kalte, undurchsichtige Suppe, der Kelch Wein. Besteck fand sich keins auf dem Tablett.

Wenn irgendetwas davon vergiftet ist, werde ich es nicht wissen, bis ich es esse. Ich musste noch nie Gift heilen. Es wird mehr von Tyvaras Macht verschlingen als ein einfaches Unterdrücken von Hunger. Sollte ich es riskieren? Ist mein Hunger schlimm genug?

Die Partikel in der Suppe setzten sich auf dem Boden ab und machten den größten Teil der Flüssigkeit durchsichtig. Aber die wachsenden Rückstände bildeten keine flache Schicht. Sie lagerten sich an etwas an, das auf dem Boden der Schale lag. Etwas Quadratisches und Dünnes. Ein Kribbeln überlief ihn.

In dem Bewusstsein, dass der Beobachter jede seiner Bewegungen registrierte, zog er eine winzige Menge Magie in sich hinein und benutzte sie, um die Partikel sanft von dem Gegenstand zu schieben. Zuerst trübte sich die Suppe beim geringsten Rühren, aber schon bald setzte sie sich ab und ermöglichte es ihm zu bestätigen, was er bereits vermutet hatte.

Bei dem Gegenstand handelte es sich um ein Stück Papier.

»Suppe kochen, um sie genießbar zu machen. Brot gut. Wein schlecht.«

Darunter war ein Kringel. Es hätte eine schwungvolle Unterschrift sein können oder hastig geschriebene Initialen, aber Lorkin erkannte ihn als eins der Codezeichen, nach denen Ausschau zu halten die Verräterinnen ihm aufgetragen hatten.

Sie wissen, dass ich hier bin, dachte er, und ihm wurde leichter ums Herz. Sie werden mich hier rausholen. Aber noch während ihm der Gedanke durch den Sinn ging, wusste er, dass er so viel nicht erwarten konnte. Das Gefängnis befand sich unter dem Palast und wurde bewacht von Ashaki und der unabhängigen, bedingungslos loyalen Palastgarde.

Es war jedoch schön zu wissen, dass die Verräterinnen versuchten, ihm zu helfen. Er zog mehr Magie in sich hinein und brachte die Suppe zum Sieden. Das erklärte dem Aufpasser zumindest, warum er die Suppe so aufmerksam angestarrt hatte. Er trank sie trotzdem langsam und achtete auf seinen Körper, für den Fall, dass die Notiz eine geschickte Lüge war. Das Brot war altbacken, also tauchte er es in die Suppe, um es aufzuweichen.

Den Wein rührte er nicht an. Würde der Vernehmer oder wer immer den Wein vergiftet hatte, sich fragen, wieso Lorkin gewusst hatte, dass er den Wein stehen lassen musste, oder würde er annehmen, dass Lorkin einfach nicht wollte, dass seine Sinne während des nächsten Treffens benebelt waren?

Nicht lange nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, kehrte der Sklave zurück, um das Tablett zu holen. Lorkin hielt es dem Mann hin. Der Sklave hob den Blick, um ihm in die Augen zu schauen.

»Lord Dannyl sagt, König Merin will, dass Ihr ihnen alles erzählt«, erklärte der Mann wispernd.

Lorkin nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und wandte sich ab, damit der Beobachter sein Lächeln nicht sah.

Als würde ich das glauben! Sie müssen mich für dumm halten, wenn sie denken, ich würde einen Befehl von irgendjemand anderem als Dannyl selbst annehmen. Und sogar dann … ich müsste in Betracht ziehen, dass man Dannyl erpresst oder bedroht hat.

Administrator Osen hatte Lorkin ebenfalls ein Codewort gegeben für den Fall, dass die Sachakaner etwas Derartiges versuchten. Nachdem er das Lächeln aus seinen Zügen verscheucht hatte, lehnte Lorkin sich wieder an die Wand und wartete auf das Eintreffen des Vernehmers und den Beginn des Verhörs für diesen Tag.

Die Speisehalle vibrierte beinahe vor Lärm, obwohl das Mittagsmahl vor einiger Zeit beendet worden war. Lilia widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen, als sie die anderen Novizen betrachtete. Die plötzliche Ankündigung, dass der Unterricht am Nachmittag ausfallen würde und die ganze Gilde zu einer Versammlung zusammengerufen wurde, hatte aufgeregte Spekulationen über die Ursache des Treffens hervorgerufen.

Lilia kannte den Grund dafür bereits, aber niemand fragte sie, und sie hatte wichtigere Dinge, um die sie sich Gedanken machen musste. Wie zum Beispiel die Notwendigkeit, Cery, Gol und Anyi mit Essbarem, Lampenöl und Kerzen zu versorgen. Lilia war zu dem Schluss gekommen, dass Jonna, Soneas Dienerin, der Schlüssel dazu war. Sie musste einen Weg finden, die Frau dazu zu bewegen, mehr Vorräte in Soneas Räume zu bringen, ohne dass es verdächtig klang.

Es war leicht genug, kleine Gegenstände in die Tunnel zu schmuggeln. Die lackierten Behältnisse, die Diener benutzten, um Mahlzeiten auszutragen, konnten mit Hilfe von Magie durch die Lücke in der Wand von Soneas Zimmer hinabgelassen werden. Größere Gegenstände wie ganze Möbelstücke passten jedoch nicht in den kleinen Zwischenraum. Vielleicht konnten sie andere Eingänge zu den Tunneln benutzen. Sie hatte gehört, dass es in der Universität einige davon gab.

Selbst wenn sie einen anderen Weg hinein fand, waren die meisten Möbel in der Gilde alt und wertvoll, so dass man sie wahrscheinlich vermissen würde. Die Möbel der Diener waren vielleicht weniger kostbar, aber sie lebten und arbeiteten abseits der Bereiche, die von Magiern und Novizen aufgesucht wurden. Wenn Lilia zu den Dienstbotenquartieren hinüberwanderte oder sich auch nur in die Küche neben der Speisehalle stahl, würde sie auffallen wie – wie ihre Mutter sagen würde – »ein Prinz auf einem Bettlerball«.

Ich muss abgelegte Stücke finden, die niemand benutzt. Sie werden wahrscheinlich defekt sein, aber ich nehme an, wir können versuchen, sie zu reparieren. Wir müssen sie vielleicht ohnehin auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, um sie in die Tunnel zu bringen. Ich müsste an Holz und Nägel herankommen – und an Werkzeug. Hm, wenn ich das tue, könnten wir vielleicht Holz hineinschmuggeln und selber Möbel bauen.

»Sieh mal, die schwarze Novizin.«

Die Worte waren unüberhörbar. Lilia schaute auf und blickte in die Augen des Sprechers. Es war Bokkin, ein hochgewachsener Novize – ein Prolli, der gern Schwächere schikanierte. Keiner der Prollis unternahm etwas dagegen, weil er den Mumm hatte, sich Schnösis ebenso vorzuknöpfen wie seinesgleichen.

Er war stehen geblieben und hatte sich an einen Tisch in der Nähe gelehnt, die gewohnte Gruppe von Anhängern im Gefolge. Lilia bezweifelte, dass sie ihn tatsächlich mochten. Wahrscheinlicher war, dass sie sich mit ihm verbündeten, um nicht zu seiner Zielscheibe zu werden.

»Hast du in letzter Zeit irgendjemanden getötet?«, fragte er, die Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzogen.

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und tat so, als denke sie nach. »Nein, eigentlich nicht.«

»Was wirst du mit dir anfangen, jetzt, da Schwarzmagierin Sonea fortgeht?« Er stieß sich vom Tisch ab. »Du wirst in ihren Räumen ganz allein sein. Hast du schon eine neue feste Freundin? Oder willst du ausnahmsweise mal sehen, wie es mit einem Mann ist?« Er stolzierte zu ihrem Tisch und stieß seine Lende vor ihr Gesicht. »Wie wär’s, wenn ich dir zeige, was du versäumt hast?«

Sie wissen also, dass Sonea fortgeht. Lilia lehnte sich zurück und blickte zu ihm auf. Sie hatte darüber nachgedacht, dass irgendjemand versuchen könnte, die Situation auszunutzen, aber sie hatte nicht erwartet, dass jemand sie schon so bald auf die Probe stellen würde.

»Du hast dich doch sonst noch nie für mich interessiert.« Sie erhob sich langsam, ohne auf Abstand zu gehen, so dass sie sich schließlich eine Handbreit voneinander entfernt Auge in Auge gegenüberstanden. »Muss die schwarze Magie sein, die deine Meinung geändert hat. Du fühlst dich zu ihr hingezogen, nicht wahr? Der Kitzel der Gefahr. Man hat mir gesagt, dass ich auf Leute wie dich ein Auge haben soll.«

Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie griff ihm ins Gesicht und grub die Finger in das Fleisch seines Kinns. Gleichzeitig traf sie ihn mit einem scharfen Stich Magie und zwang ihn, rückwärts zu taumeln, bevor er die Magie heraufbeschwören konnte, sich ihrem Angriff zu widersetzen. Sie folgte ihm und presste ihn gegen die Kante des nächsten Tisches.

»Weißt du, was bei dieser Versammlung geschehen wird? Schwarzmagierin Sonea nimmt Macht von jedem Magier der Gilde. Sie benutzt dafür schwarze Magie. Eines Tages – vermutlich eines baldigen Tages – werde ich das vielleicht mit dir machen. Du wirst keine Wahl haben. Befehl des Königs. Willst du mir wirklich einen Grund liefern, es so unangenehm wie möglich zu machen?«

Er starrte sie mit bleichem Gesicht an. Sie ließ ihn los und wischte sich die Hand an der Vorderseite seiner Robe ab. Die Novizen um sie herum waren still, und die Stille breitete sich aus. Sie ließ Bokkin nicht aus den Augen, aber sie konnte am Rand ihres Gesichtsfeldes sehen, das sich etliche Gesichter in ihre Richtung drehten.

»Du solltest besser hoffen, dass sie zurückkommt«, fuhr sie fort. Sie drehte sich um, griff nach ihrer Tasche und den Früchten und den gewürzten Brötchen, die sie für ihre Abendmahlzeit zusammengesucht hatte, und verließ die Halle.

Als sie in den Flur trat, verspürte sie eine Woge des Triumphs.

Das wird ihnen Stoff zum Reden geben. Und Anlass zu der Sorge, welchen Grund Soneas Reise nach Sachaka hat, aber sie werden sich diese Fragen ohnehin stellen. Ich werde niemandem Grund zu der Annahme geben, dass ihr Weggang mich verletzbar machen könnte.

Wenn ihre ganze Zukunft auf dem Gelände der Gilde lag, dazu auserkoren, dem Schutz der Vereinten Länder zu dienen und das Hauptziel jedes möglichen Angreifers zu bilden, dann wollte sie dafür mit Respekt behandelt werden.

Wenn ich keinen Respekt bekomme, werde ich mich bei Leuten wie Bokkin, die zu dumm sind, um sich bewusst zu machen, wer sein Leben für sie riskieren wird, damit begnügen, gefürchtet zu werden.

Von ihrem Platz in dem vorderen Teil der Gildehalle aus beobachtete Sonea die Versammlung von Magiern und bemühte sich, ihre Atmung langsam und gleichmäßig zu halten.

Was werden sie tun? Waren zwanzig Jahre genug, um sich an die Vorstellung von schwarzer Magie zu gewöhnen? Werden sie sich darauf einlassen? Werden sie meine Mission zur Befreiung meines Sohnes für eine hinreichende Rechtfertigung halten?

Es wäre einfacher gewesen, diese Fragen beiseitezuschieben, wenn die anderen Höheren Magier nicht zuvor die gleiche Sorge zum Ausdruck gebracht hätten. Niemand konnte den Ausgang der Versammlung voraussagen. Alle hatten gedacht, dass einige Magier sich weigern würden, ihre Magie zu geben, während andere dazu bereit sein würden, aber ihre Meinungen unterschieden sich gewaltig, was die wahrscheinliche Anzahl beider Gruppen betraf.

Auf beiden Seiten der langen Halle nahmen Magier ihre Plätze ein. Wie immer bildeten sich Flecken aus Grün, Rot und Purpur, wo Freunde der gleichen Disziplin zusammenkamen. Die vorherrschende Farbe war das Purpur der Alchemisten, aber die Zahl der Heiler war in den letzten Jahrzehnten gestiegen, und deshalb war jede Menge Grün in der Halle zu sehen. Obwohl es mehr Krieger gab denn je, waren rote Roben immer noch in der Minderheit. Dies machte ihr jedoch keine Sorgen. Während die meisten Magier ihre Energien in den Dienst von etwas Nützlicherem stellten, wusste sie, dass viele von ihnen in ihrer Freizeit weiterhin an ihren kämpferischen Fähigkeiten arbeiteten.

Im vorderen Teil der Halle warteten die Höheren Magier. Einzig Administrator Osen fehlte auf den erhöhten Plätzen. Wie immer würde er vor der Versammlung stehend sprechen, im Bereich vor den Höheren Magiern. Sonea betrachtete die Reihe von Sitzen über ihrem. Der Stuhl des Königs war leer, aber seine beiden Ratgeber waren zu der Versammlung erschienen – das war ungewöhnlich. Ratgeber Glarrin sah ihr in die Augen und nickte; Ratgeber Rolden, der vor zwanzig Jahren zugegen gewesen war, als sie und Akkarin verurteilt und in die Verbannung geschickt worden waren, schaute sie an und runzelte die Stirn.

Als Sonea nach unten blickte, bemerkte sie, dass die Höheren Magier in den Sitzreihen direkt unter ihr immer wieder nach oben schauten. Von seinem Platz unter den Studienleitern in der untersten der erhöhten Reihen sah Rothen Sonea in die Augen. Er wirkte grimmig, brachte aber ein beruhigendes Lächeln zustande.

Ihr Essen am Abend zuvor war überschattet gewesen von furchterregenden Möglichkeiten. Sie wusste, dass er sich fragte, ob dies das letzte Mal war, dass er sie sah. Es war eine weitere Furcht, zusätzlich zu der Sorge, dass er Lorkin niemals wiedersehen würde. Er hatte sich erboten, sie zu begleiten. Sie hatte ihn daran erinnert, dass er zu viel über ihren anderen Grund für die Reise nach Sachaka wisse. Er hatte genickt und dann gesagt, dass er sich mit der Tatsache trösten werde, dass sie sich einen verlässlichen Assistenten ausgesucht hatte.

Sie sah sich in der Halle um und suchte nach Lord Regin; er saß, wie sie erwartet hatte, im vorderen Teil der Halle. Er wirkte ernst und hochmütig. Dies mochte eine bewusste Maskierung seiner wahren Gefühle sein, aber es war schwer zu erkennen. Er wirkte immer ernst und hochmütig.

Ich hoffe, Rothen hat recht, was ihn betrifft. Nun, natürlich hat er recht. Regin nimmt seine Verantwortung gegenüber der Gilde, Kyralia und den Verbündeten Ländern viel zu ernst, um unsere Aufgabe zu gefährden.

Was bedeutete, dass er, wie unangenehm die Dinge zwischen ihnen auch werden mochten, ihren Befehlen gehorchen würde.

Die meisten Magier hatten jetzt ihre Plätze eingenommen. Administrator Osen trat vor, und ein Gong erscholl zum Zeichen, dass die Versammlung anfing.

Es wurde sofort still im Raum.

»Bei der Versammlung heute haben wir eine außergewöhnliche Situation zu erörtern und zu bewältigen«, begann Osen. »Was vor uns liegt, ist in der Geschichte der Gilde einzigartig.« Er hielt inne und sah sich im Raum um. »Wie ihr vielleicht wisst, ist Botschafter Dannyl vor einigen Monaten nach Sachaka gereist, um im Gildehaus von Arvice Dienst zu tun. Er hat den jungen Magier Lord Lorkin mitgenommen, der sich freiwillig als sein Assistent gemeldet hat.

Nicht lange nachdem sie sich in Arvice eingelebt hatten, kam es zu einem Anschlag auf Lord Lorkins Leben, vor dem ihn eine Sklavin gerettet hat. Die Sklavin war eine Spionin für die Leute, die als die Verräterinnen bekannt sind, Sachakaner, die seit Jahrhunderten abseits des Rests des Landes leben. Um weiteren Anschlägen auf sein Leben zu entgehen, half diese Sklavin Lorkin, zu dem geheimen Stützpunkt der Verräterinnen zu fliehen.

Dort lernte Lorkin mehr über diese Menschen. Sie lehnen Sklaverei ab, und obwohl sie schwarze Magie benutzen, scheinen sie friedlich zu leben. Sie haben ein Netzwerk von Spionen in ganz Sachaka – obgleich der Hauptgrund für ihre Spionage nach allem, was ich gehört habe, ihr eigener Schutz ist.

Vor kurzem versuchte Lorkin, nach Hause zurückzukehren. Bei seiner Ankunft in Arvice wurde er zu König Amakira gerufen, und man befahl ihm, alles zu offenbaren, was er über die Verräterinnen in Erfahrung gebracht hatte. Da er wusste, dass er solche Informationen zuerst König Merin geben musste, weigerte sich Lorkin. Obwohl diese Verpflichtung König Amakira bekannt war und er, als wir die ersten Botschafter nach Sachaka entsandten, zugestimmt hat, dass sie ihrem eigenen König verantwortlich sind, nahm er Lorkin gefangen und ließ ihn ins Palastgefängnis bringen.«

Sonea wurde flau im Magen. Ganz gleich, wie oft sie diese Worte ausgesprochen hörte, die Vorstellung von Lorkin in einer düsteren Zelle ließ ihr Herz zusammenschrumpfen.

In der Halle war es still geworden. Seltsam, ich hatte erwartet, dass es Proteste und Wut geben würde. Ich denke, sie sind größtenteils zu schockiert, um zu sprechen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie entsetzter sind über die Unverschämtheit Amakiras, es zu wagen, einen Gildemagier einzukerkern, oder über die Möglichkeit, dass dies zu einem weiteren Konflikt mit Sachaka führen könnte.

»Der König hat unsere Bitte gebilligt, einen Unterhändler zu schicken, um Lorkins Freilassung zu erwirken«, fuhr Osen fort. »Wir haben unseren Unterhändler sorgfältig ausgewählt und bedacht, wer den größten Einfluss auf den sachakanischen König haben könnte. Das sachakanische Vorurteil gegen Magier, die keine schwarze Magie beherrschen, hat unsere Entscheidungsmöglichkeiten eingeengt.« Osen drehte sich um, um zu den Höheren Magiern aufzublicken, und streckte den Arm in Soneas Richtung aus, als biete er ihr eine Hand an, um aus einer Kutsche zu steigen. »Wir haben Schwarzmagierin Sonea ausgewählt.«

Soneas Haut kribbelte, und ihr Gesicht wurde heiß, als Hunderte von Blicken sich in ihre Richtung wandten. Ein Raunen erfüllte die Halle. Sie widerstand dem Drang wegzuschauen und stellte sich den Blicken der versammelten Magier. Ihr Herz schlug ein wenig zu schnell. Was werden sie tun?

Osen winkte sie zu sich. Sonea unterdrückte einen Seufzer, stand auf und begann die Stufen hinabzusteigen.

»Aber der Vorteil, eine Schwarzmagierin zu schicken, wird nichts zählen, es sei denn, diese Schwarzmagierin wäre so mächtig, wie wir sie machen können«, fuhr Osen fort. Als Sonea ihn erreichte, sah er sie kurz an, dann wandte er sich wieder an die Versammlung. »Der König hat Schwarzmagierin Sonea die Erlaubnis erteilt, magische Macht für diese Mission zu sammeln. Wir bitten um Freiwillige, die dieser Sache ihre Macht leihen.«

Das Summen von Stimmen wurde jetzt lauter, schwoll an und verebbte dann wieder. Osen, der die Stimmung der Magier einzuschätzen versuchte, hob die Arme, und rastlose Stille senkte sich über den Raum.

»Dies ist das erste Mal, dass eine solche Erlaubnis gewährt wurde, und glücklicherweise nicht aus dem Grund, den wir lange gefürchtet haben. Wir haben in diesen letzten zwanzig Jahren gelernt, dass schwarze Magie keine barbarischen Rituale und kein unerfreuliches Blutvergießen notwendig macht. Obwohl diese Tatsache unseren Novizen vermittelt wird und auch allen anderen bekannt sein sollte, gibt es vielleicht einige, denen das nicht ganz klar ist. Ich bitte Schwarzmagierin Sonea, es zu erklären.«

Sonea atmete tief durch und gab etwas Magie in die Luft, um ihre Stimme zu verstärken. »Sachakanische Magier schneiden die Haut ihrer Sklaven auf, weil ihre Sklaven keine Magier sind und ihnen ihre Macht nicht anbieten können. Sie tun das Gleiche im Krieg bei ihren Opfern, denn ihre Opfer werden ihnen ihre Macht kaum freiwillig geben. Und das Ritual höherer Magie in unserer Vergangenheit war eine symbolische Geste der Unterwerfung eines Novizen unter seinen Meister und ist nicht länger relevant.«

Sie brachte ein Lächeln zustande, obwohl sie vermutete, dass es eher grimmig als beruhigend wirken würde. »Um von einem anderen Magier Macht zu nehmen, ist es lediglich nötig, dass der Betreffende seine Macht sammelt und aussendet. Dann kann ich diese Macht nehmen und lagern. Das ist alles. Von Seiten des Gebenden ist nicht mehr zu tun als das, was jeder Novize in seinem ersten Jahr an der Universität erlernt.« Sie sah sich in der Halle um. Das ist tatsächlich alles, was an Erklärung notwendig ist, dachte sie, aber als Osen sich von ihr abwandte, fiel ihr noch etwas anderes ein.

»Es scheint nur eine Kleinigkeit zu sein, die ich von jedem von Euch erbitte«, sprach sie weiter. »Die Macht eines Tages. Aber wenn es dazu führt, dass ich meinen Sohn befreie, werdet Ihr meine von Herzen kommende Dankbarkeit und die meines Sohnes haben.«

Osen nickte. »Und Ihr werdet die Sicherheit eines Mitglieds der Gilde gewährleistet haben, eines Bürgers Kyralias und der Verbündeten Länder, und gleichzeitig den Fortbestand des Friedens mit Sachaka sichern. Und das ist keineswegs eine Kleinigkeit.« Er wandte sich den Sitzreihen zu. »Wir werden mit den Höheren Magiern anfangen.«

Soneas Herz setzte einen Schlag aus, als der Hohe Lord Balkan sich erhob und die Stufen herabstieg, gefolgt von mehreren anderen Höheren Magiern. Als Balkan näher kam, rief jemand von der Seite der Halle seinen Namen. Alle drehten sich um und sahen, dass die Ratgeber des Königs von der höchsten Reihe ebenfalls heruntergekommen waren.

»Würdet Ihr mir erlauben, den Anfang zu machen?«, fragte der Ratgeber Balkan. Der Hohe Lord lächelte, trat beiseite und deutete auf Sonea.

»Der König sendet seine besten Wünsche«, erklärte Glarrin. Er hielt ihr die Hände hin.

Sonea nahm sie und nickte. »Bitte, übermittelt meinen Dank, Ratgeber.« Ihre Haut kribbelte, als er ihr Macht sandte. Sie zog die Macht in sich hinein und spürte ein schwaches Gefühl, das ihr sagte, dass sie jetzt mehr Magie besaß, als sie selbst aufbringen konnte, aber als der Ratgeber fertig war, konnte sie nicht einschätzen, wie viel Macht er ihr gegeben hatte.

Glarrin trat beiseite und verneigte sich leicht vor Balkan. Sonea schaute zu dem hochgewachsenen Anführer der Gilde empor. Er musterte sie mit einem vertrauten, leicht überraschten Ausdruck. Als falle es ihm genauso schwer, mich als Höhere Magierin anzusehen, wie es mir schwerfällt, in ihm den Hohen Lord zu sehen. Obwohl Balkan ein tüchtiger Anführer ist, wird in meinem Kopf immer Akkarin derjenige sein, auf den der Titel passt.

Sie nahm seine Hände und seine Macht, und langsam traten die Höheren Magier einer nach dem anderen vor. Alle bis auf Kallen. Osen hatte beschlossen, dass einige Magier am Ende der Versammlung noch über ihre volle Stärke verfügen sollten. Als der Letzte der Hohen Magier beiseitetrat, drehte Sonea sich zu der Halle um.

Und ihr blieb das Herz stehen.

Alle Sitze waren leer. Sämtliche Magier standen in der Mitte der Halle und warteten. Nun, es ist möglich, dass diejenigen, die nicht beabsichtigen, sich freiwillig zu melden, bereits davongeschlüpft sind, sagte sie sich. Aber die Menge, die wartete, war zu groß, als dass viele hätten gegangen sein können.

Ihr wurde bewusst, dass sie aufgehört hatte zu atmen, und sie hörte, wie sich ihr ein Keuchen entrang, als der erste Magier vortrat.

Regin. In seinen Augen leuchtete unerwarteter Humor auf, als er sich vorbeugte, um ihr Hände zu ergreifen.

»Ihr wisst wirklich nicht, wie viele Menschen Euch respektieren, wie?«, murmelte er, während er ihr Magie sandte.

»Mich respektieren?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie tun das nicht für mich. Sie tun es für einen Magierkollegen und für Kyralia.«

»Das auch«, gab er zu. »Aber es ist nicht der einzige Grund.«

Er gab ihr eine Menge Macht. Zumindest kam es ihr so vor. Sie schaute ihm nach, als er davonging, und suchte nach Hinweisen für körperliche Schwäche; sie machte sich Sorgen, dass er zu Beginn ihrer Reise in dieser Nacht müde sein würde, aber der nächste Magier trat bereits vor, und sie musste sich umdrehen.

Und dann kam der Nächste und der Übernächste. Heiler, Krieger, Alchemisten. Männer und Frauen. Alt und jung. Magier aus den Häusern und allen anderen Klassen. Sie alle sprachen einige Worte, wünschten ihr Glück und brachten ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass Lorkin gut behandelt wurde und befreit werden könnte, einige mahnten sie sogar, vor Ichani auf der Hut zu sein, wenn sie das Ödland durchquerte, und sie baten sie, sicher nach Hause zurückzukehren. Überwältigt und überrascht hatte sie bisweilen Mühe, ruhig und würdevoll zu wirken. An einem Punkt verspürte sie eine Welle der Traurigkeit, als sie sich plötzlich an einen anderen Tag erinnerte, an dem sie in dieser Halle gestanden hatte, während Magier an ihr vorbeigezogen waren. Damals hatten sie ihre Roben und die Akkarins zerrissen, während sie die rituellen Worte der Verbannung sprachen.

Weil wir schwarze Magie gelernt hatten, um Kyralia zu verteidigen. Wie sehr sich die Dinge verändert haben.

Als endlich der letzte Magier beiseitetrat, verspürte sie große Erleichterung und Erschöpfung. Bei diesem Gedanken hätte sie beinahe laut aufgelacht. Dieses Nehmen von Macht sollte sie stärker machen, nicht müde. Sie konzentrierte sich auf ihre Macht und bemerkte, dass ein wenig davon unkontrolliert nach außen drang. Eingedenk Akkarins Instruktionen stärkte sie die natürliche Barriere ihrer Haut, bis das Leck sich schloss. Dann dachte sie über die Macht in ihrem Innern nach.

Abgesehen von dem Wissen, dass ihre Macht gewaltig angeschwollen war, bestand ihre einzige Möglichkeit zu schätzen, wie stark sie geworden war, darin, die Anzahl der Magier zu addieren, die ihr Magie gegeben hatten. Sie war sich nicht einmal sicher, wie mächtig der durchschnittliche Gildemagier war. Ich habe seit der Invasion der Ichani nicht mehr so viel Macht in mir gehabt, als die Armen mir ihre Stärke anboten, um mich auf die Schlacht vorzubereiten.

Osen stand noch immer hinter ihr. Die Halle war leer, bis auf ihn, Regin und Rothen. Ein Gong erscholl und zeigte das Ende der Versammlung an, obwohl die meisten Magier nicht länger anwesend waren, um es zu hören.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

Osen überlegte einen Moment. »Ich glaube, der Universitätsgong hat vor kurzem geläutet.«

Sie sah ihn überrascht an. »So spät schon?« Sie wandte ihren Blick Regin zu. »Es ist fast Zeit, die Kutsche zu beladen.«

»Ihr habt noch ein paar Stunden.« Osen lächelte. »Ihr solltet beide eine gute Mahlzeit zu Euch nehmen, bevor Ihr abreist.«

Soneas Magen krampfte sich zusammen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.«

»Das wird alle enttäuschen.«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Warum?«

Sein Lächeln wurde breiter. »Die Höheren Magier haben im Bankettsaal ein Abschiedsessen für Euch vorbereitet. Ihr habt doch nicht gedacht, dass wir Euch gehen lassen würden, ohne Lebewohl zu sagen, oder?«

Sie sah ihn nur staunend an.

Osen lachte leise. »Kommt, sie sind alle im Abendsaal und trinken etwas, während sie auf Euch warten.«

7 Ein anderer Ansatz

Hier ist die Decke nicht stabil«, sagte Anyi.

Cery blickte auf und bemerkte die Risse in den Wänden und dass die Decke leicht eingesackt war. Feine Wurzeln durchzogen dort das Erdreich – vielleicht von einem Baum über ihnen.

»Wenn wir diese Fluchtroute benutzen müssen und Lilia bei uns ist«, fuhr Anyi fort, »könnten wir sie bitten, hinter uns die Decke einstürzen zu lassen, so dass uns niemand folgen kann. Oder wir könnten den Abschnitt auch selbst für einen gezielten Zusammenbruch präparieren. Lilia könnte uns helfen, indem sie die Decke mit Magie stützt, während wir Gewichte und Seile anbringen, die wir dann aus einiger Entfernung bedienen können.«

Cery nickte. Mir gefällt die Art, wie sie denkt. »Wir werden sie fragen.«

»Also, wohin führt dieser Gang?« Anyi grinste, eilte durch den instabilen Bereich und führte Cery in einen zunehmend verfallenen Tunnel hinein. Er endete nicht an einem Tunneleingang, sondern dort, wo ein Baum durch die Decke gebrochen war und den Weg versperrte. Schwaches, graues Licht sickerte durch ein Loch zwischen zwei gewaltigen Wurzeln. Ziegel und Schutt, geglättet von Erde und Moos, bildeten eine grobe Rampe, über die Anyi kletterte.

Sie spähte hinaus, drehte sich dann wieder zu Cery um und winkte ihn herbei. Cery bahnte sich einen Weg zu ihr hinauf, nahm ihren Platz ein und spähte durch das Loch.

Ringsum standen Bäume – ein Wald, erhellt von frühmorgendlichem Licht. Cery seufzte, als er sich daran erinnerte, wie er Sonea vor vielen Jahren durch den Wald der Gilde geführt hatte – bevor die Magier sie gefangen genommen hatten –, damit sie beobachten konnte, wie Magie gewirkt wurde, und vielleicht lernen würde, ihre Kräfte zu kontrollieren. Es hatte natürlich nicht funktioniert. Nur ein anderer Magier konnte einen Novizen lehren, wie man Magie sicher benutzte. Aber das hatten sie damals nicht gewusst.

So vieles hat sich verändert, dachte Cery, aber glücklicherweise ist der Wald immer noch hier. Er löschte seine Lampe, stellte sie ab und kletterte dann aus dem Loch. Anyi folgte ihm.

»Wo in der Gilde, denkst du, sind wir?«, flüsterte sie.

Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich nördlich der Gebäude, da der südliche Teil des Geländes hügeliger ist.«

»Die Dienstbotenquartiere liegen im Norden.«

»Ja.«

»Wir finden dort vielleicht einige aussortierte Dinge. Möbel. Decken.«

»Vielleicht.«

Cery bewegte sich weg von dem Baum, dann drehte er sich um und umkreiste ihn langsam in dem Versuch, sich das Bild einzuprägen. Weder er noch Anyi waren es gewohnt, sich in einem Wald zurechtzufinden, und er konnte sehen, dass es leicht sein würde, sich zu verirren und die Tunnelöffnung nicht wiederzufinden. Glücklicherweise sah der Baum tatsächlich etwas anders aus als die übrigen, weil er zur Hälfte abgestorben, zum Teil in den Boden eingesunken war und sich zur Seite neigte.

Cery wandte sich ab und ging durch die Bäume voran, wobei er seine Schritte zählte und registrierte, dass sie sich hügelabwärts bewegten. Er wusste, dass das Gelände von der Mauer des Inneren Rings an anstieg, und vermutete daher, dass er nach Westen ging. Nach mehreren hundert Schritten entdeckte er, dass er sich irrte. Der Hang traf auf einen weiteren Hang, und in der Senke dazwischen floss ein kleiner Bach. Oh, nun, zumindest ist der Bach etwas, dem wir folgen können: Er sollte uns hügelabwärts führen. Er markierte die Stelle, indem er einige Steine zu einem Kreis und einer Linie ordnete, die in die Richtung zurück zeigte, aus der sie gekommen waren, dann gingen sie stromabwärts weiter.

Es dauerte nicht lange, bis sie vor sich Zeichen menschlicher Behausungen bemerkten. Sie krochen vorwärts und nahmen einfache Hütten und Zäune wahr. »Dienstbotenquartiere?«, murmelte Anyi.

Cery schüttelte den Kopf. »Zu schäbig.« Das heruntergekommene Aussehen der Bauten war verwirrend. Einige große Häuser schienen aus Glas gemacht zu sein, aber aufgrund der üppigen Vegetation, die unter diesem Glas spross, vermutete er, dass sie aufgegeben worden waren. Erst als sie nahe genug kamen, um überall gut über die Zäune schauen zu können, wurde ihm klar, wo sie waren.

»Der Bauernhof.«

»Ah. Natürlich.« Anyi streckte die Hand aus. »Ist das ein Obstgarten dort drüben?«

Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte, und nickte, als er Reihen von sorgfältig gestutzten Bäumen und Beerenranken ausmachte. Daneben war auf kleineren, umzäunten Flächen die Erde gefurcht, als sei ein sehr großer Rechen hindurchgezogen worden.

»Die Frage ist: Lebt hier jemand?«, murmelte er.

Anyi schaute ihn an. »Lass uns nachsehen.«

Sie gingen näher heran und versteckten sich zuerst hinter Bäumen, dann hinter den langen Beerenreihen. Die Hütten lagen am anderen Ende. Cery sank der Mut, als er den Rauch bemerkte, der aus dem Schornstein aufstieg. Außerdem war inzwischen eine Frau in Dienstbotenkleidung aus einer der Hütten getreten. Er beobachtete, wie sie in etwas verschwand, das ein Rassook-Pferch zu sein schien.

»Sieht für mich bewohnt aus«, meinte Anyi. »Willst du noch näher herangehen?«

Cery nickte. Sie zogen sich an den Waldrand zurück, um die Deckung durch das Unterholz auszunutzen, und schlichen an dem Gehöft entlang. Er hatte recht, was den Rassook-Pferch betraf. Wo das bebaute Land und die Gebäude endeten, lagen größere Weiden, auf denen Enker, Reber und sogar einige große, unbeholfene Gorin grasten.

Nicht genug, um die Gilde mit Nahrung zu versorgen, überlegte er, aber sie nutzen alles, was sie an Platz haben.

»Da drüben«, sagte Anyi und zeigte auf das letzte der Gebäude.

Cery begriff rasch, dass sie ihn nicht auf das Gebäude selbst aufmerksam machen wollte, sondern auf die alten Möbel, die davor standen. Nicht zueinanderpassende Stühle bildeten einen Kreis um eine Planke, die auf Baumstümpfen ruhte. Dicke, rohe Bretter auf alten Fässern dienten offenbar als Bänke.

»Wir könnten etwas von diesem Stroh gebrauchen, um Matratzen zu machen«, sagte Anyi und deutete auf einen Unterstand, in dem mehrere Bündel aufgestapelt lagen. »Ich habe auf dem Markt gesehen, wie es gemacht wird. Man braucht einige alte Säcke und eine Nadel und Garn.«

»Du kannst nähen?«

»Nicht sehr gut, aber wir brauchen Matratzen, keine Ballkleider.«

Cery lachte leise. »Was ein Glück ist, hm? Ich erinnere mich daran, dass deine Mutter dich nicht dazu bewegen konnte, ein Kleid zu tragen. Ich denke, nicht einmal der König würde dich dazu bringen, ein Ballgewand zu tragen.«

»Keine Chance«, erwiderte Anyi. »Nicht einmal wenn er der bestaussehende Mann auf der Welt wäre.«

»Ein Jammer«, sagte Cery. »Es wäre schön, dich einmal in vollem Sonntagsstaat zu sehen. Nur ein einziges Mal.«

»Mir würden schon ein paar einfache Sachen zum Wechseln genügen.« Anyi kniff die Augen zusammen, als sie zu den Hütten hinüberschaute. »Ich frage mich, wie viele Menschen hier leben und was sie tragen. Wahrscheinlich Dienstbotenuniformen. Ich nehme an, es wäre praktisch, wenn wir wie Dienstboten aussähen, wann immer wir uns aus den Tunneln schleichen.« Sie schürzte die Lippen. »Ich werde später hierher zurückkommen und sie für ein Weilchen ausspionieren, wenn du damit einverstanden bist.«

»Eine gute Idee. Aber bleib im Wald und versuche noch nicht, irgendetwas zu stehlen.« Cery nickte. »Dafür werden wir bei Nacht zurückkommen.«

Dannyl starrte aus dem Fenster der Kutsche, ohne etwas von der Umgebung wahrzunehmen, während er sich auf eine Zurückweisung vorbereitete.

Lorkin war erst seit drei Tagen im Palastgefängnis, aber es kam ihm viel länger vor. Natürlich fühlte es sich für Lorkin selbst wahrscheinlich noch länger an. Ashaki Achati hatte ihn nicht erneut aufgesucht. Dannyl konnte nicht entscheiden, ob er deswegen erleichtert war oder ob er es bedauerte. Jedes Treffen mit Achati musste zwangsläufig angespannt und voller Groll und Verlegenheit sein, wegen der Situation mit Lorkin, aber Dannyl vermisste dennoch Achatis Gesellschaft und sehnte sich nach seinem Rat.

Es ist ein Jammer, dass er dem König so nahesteht. Wenn ich mich nur mit einem Sachakaner in einer neutraleren Position angefreundet hätte! Er wäre in der Lage gewesen, mir zu sagen, wie ich mit der Situation am besten umgehen soll.

Gab es irgendwelche Ashaki, die sich in einer politisch neutralen Position befanden? Nach dem, was Dannyl erfahren hatte, waren die meisten entweder dem König treu ergeben oder mit Ashaki verbündet, die mit Freuden die Zügel der Macht ergreifen würden, wenn sie eine Chance dazu sähen – die sie wahrscheinlich nicht bekommen würden. König Amakiras Position war gesichert, unterstützt durch die mächtigsten Ashaki.

Als die Kutsche vor dem Palast vorfuhr, stieß Dannyl einen Seufzer aus. Er wartete, bis der Sklave des Gildehauses den Wagenschlag öffnete, dann stand er auf und stieg aus. Er glättete seine Roben, drückte den Rücken durch und schritt auf den Eingang zu.

Niemand hielt ihn auf. Er hatte sich gefragt, warum sie ihn am vergangenen Tag eingelassen hatten, wenn sie nichts anderes vorhatten, als ihm zu sagen, dass er nach Hause fahren solle. Einmal mehr trat er aus dem breiten Gang in die Halle und erfuhr von einem Sklaven, dass er auf einer Seite warten sollte.

Mehrere Personen standen in der Halle. Diesmal war der König zugegen. Zumindest würde Dannyl in der Lage sein, Amakira seine Bitte direkt vorzutragen. Nicht dass ihm das eine positive Reaktion eintragen würde. Der König beendete sein Gespräch mit zwei Männern und lud eine Gruppe von drei Männern ein, näher zu treten.

Zeit verstrich. Mehr Menschen trafen ein. Der König empfing einige von ihnen nicht lange nach ihrer Ankunft – früher als Dannyl und einige der anderen, die ebenfalls auf eine Audienz warteten. Sie mussten wichtiger sein, oder zumindest war die Angelegenheit wichtiger, die es zu diskutieren galt. Oder er ignoriert mich absichtlich, um mich auf meinen Platz zu verweisen.

Dannyl vermutete, dass einige Stunden vergangen waren, als der König in seine Richtung schaute und ihn heranwinkte.

»Gildebotschafter Dannyl«, begrüßte er ihn.

Dannyl trat vor ihn hin und kniete nieder. »Euer Majestät.«

»Erhebt Euch und tretet näher.«

Er gehorchte. Die Luft vibrierte schwach, und Dannyl begriff, dass der König oder jemand anders einen Schild um sie gewoben hatte, um zu verhindern, dass Geräusche nach außen drangen.

»Ihr seid zweifellos hier, um mich darum zu bitten, Euch Lorkin zurückzugeben«, sagte der alte Mann.

»Ja«, bestätigte Dannyl.

»Die Antwort lautet nein.«

»Darf ich ihn zumindest sehen, Euer Majestät?«

»Natürlich.« Der Blick des Königs war kalt. »Wenn Ihr versprecht, ihm zu befehlen, mir alles zu erzählen, was er über die Verräter weiß.«

»Ich kann diesen Befehl nicht geben«, erwiderte Dannyl.

Amakiras Blick blieb hart. »Das habt Ihr bereits gesagt. Ich bin mir sicher, Ihr könntet ihn überzeugen, dass der Befehl von jenen kam, die die Autorität besitzen, ihn zu erteilen.«

Dannyl öffnete den Mund, um abzulehnen, dann hielt er inne. Ich könnte zustimmen, es zu versuchen, um Lorkin zu sehen und mich davon zu überzeugen, dass er lebt und wohlauf ist. Aber was war, wenn der König zu dem Schluss kam, dass Dannyl sein Versprechen gebrochen hatte? War das Verbrechen genug, um dafür eingekerkert zu werden? Osen hat klargemacht, dass ich das vermeiden sollte. Und wenn sie mich gefangen nehmen, werden sie mir Osens Ring abnehmen.

»Das kann ich auch nicht tun, Euer Majestät«, erklärte Dannyl.

Der König lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dann kommt wieder, wenn Ihr es könnt.« Er machte eine abschätzige Geste. Dannyl verstand den Hinweis, verneigte sich, bewegte sich ein Stück rückwärts, drehte sich dann um und verließ die Halle.

Nun, zumindest habe ich den König diesmal gesprochen, dachte er, während er auf die Kutsche wartete. Eine Zurückweisung durch den Herrscher ist ein geringfügig besseres Versagen als eine Zurückweisung durch einen seiner Lakeien. Er fragte sich, was er morgen erhalten würde oder ob sie anfangen würden, ihm den Zutritt zum Palast zu verwehren.

Als die Kutsche das Gildehaus erreichte, öffnete er die Tür selbst, bevor irgendein Sklave es tun konnte. Die Luft draußen vor dem Haus war heiß und trocken, und es war eine Erleichterung, in das kühlere Innere zu entkommen. Er ging auf seine Räume zu, aber bevor er dort ankam, erschien Merria vor ihm im Flur.

»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte sie sich.

Dannyl zuckte die Achseln. »Nicht besser, obwohl ich diesmal eine königliche Absage erhalten habe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Armer Lorkin. Ich hoffe, es geht ihm gut.«

»Irgendwelche Neuigkeiten von Euren Freundinnen?«

»Nein. Sie sagten, sie täten, was sie können, um die Ashaki dazu zu bewegen, Einwände gegen die Gefangennahme eines kyralischen Magiers zu erheben, aber das erfordert eine sorgfältig abgestimmte zeitliche Planung und lässt sich nicht überstürzen.«

Er nickte. »Nun … ich weiß ihre Bemühungen zu schätzen. Das tun wir alle.«

Sie hatten den Eingang zu seinen Räumen erreicht. Merria blickte zu ihm auf, dann tätschelte sie ihm mit besorgter Miene den Arm. »Ihr tut alles, was Ihr könnt«, sagte sie. »Zumindest alles, was sie Euch tun lassen.«

Er runzelte die Stirn. »Ihr denkt also, es gibt sonst nichts, was ich tun könnte? Nichts, was die Gilde mir nicht untersagt? Nichts, woran wir noch nicht gedacht haben?«

Sie wandte den Blick ab. »Nein … nichts, was nicht das Risiko birgt, die Situation noch zu verschlimmern, falls es nicht funktioniert. Habt Ihr Hunger? Ich wollte Fey bitten, mir etwas zu essen zu machen.«

Was ist das für eine riskante Idee?, ging es ihm durch den Kopf. Sollte ich danach fragen? »Ja«, antwortete er. »Aber nicht sofort. Vorher muss ich mich mit dem Administrator in Verbindung setzen.«

»Ich werde etwas arrangieren.« Sie ging zurück in den Flur und verschwand.

Der Vernehmer kehrte erst einige Stunden nach der Morgenmahlzeit zurück. Es war Essen gekommen – ein Brei aus gemahlenem Getreide. Ein schwaches, mit Wasser auf das poröse Holztablett gezeichnetes Symbol versicherte ihm, dass das Mahl ungefährlich war.

Lorkins Magen meldete sich unangenehm zu Wort, als der Ashaki, der ihn befragte, und dessen Assistent ihn in eine neue Richtung führten. Der Mann wählte einen anderen Flur und blieb vor einer anderen Tür stehen, aber der Raum dahinter unterschied sich nur geringfügig von dem vorangegangenen. Schlichte weiße Wände, drei abgenutzte alte Hocker.

Der Vernehmer setzte sich und bedeutete Lorkin, auf einem der anderen Hocker Platz zu nehmen, dann sah er seinen Assistenten an und nickte. Der Mann schlüpfte aus dem Raum. Lorkin wappnete sich gegen weitere Fragen.

Es kamen keine. Der Vernehmer schaute sich um, dann zuckte er die Achseln und begann Lorkin mit distanzierter Miene anzustarren. Als der Assistent zurückkehrte, stieß er eine Sklavin vor sich her in den Raum. Sie warf sich vor dem Ashaki zu Boden. Lorkin bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, um sich seinen Hass auf die Sklaverei nicht anmerken zu lassen.

»Steh auf«, befahl der Ashaki.

Sie erhob sich und drehte sich mit herabhängenden Schultern und gesenktem Blick zu dem Mann um.

»Sieh ihn dir an.« Der Ashaki zeigte auf Lorkin.

Die Frau wandte sich zu ihm um, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Sie war schön, stellte er fest – oder wäre es gewesen, wenn sie nicht solch schreckliche Angst gehabt hätte. Langes, glänzendes Haar umrahmte ein fein gezeichnetes Kinn und Wangenknochen, die für einen Moment Erinnerungen an Tyvara in ihm wachriefen, Erinnerungen, bei denen sein Herz sich verkrampfte und eine Welle der Sehnsucht über ihm zusammenschlug. Die Glieder dieser Frau waren zwar anmutig, aber sie zitterten, und ihre dunklen Augen waren groß. Bei ihrer offenkundigen Angst wurde ihm übel. Sie erwartete, dass etwas Schlimmes geschehen würde.

»Schau ihn an. Schau nicht weg.«

Ihr Blick flackerte empor, und sie sah ihm in die Augen. Lorkin zwang sich, nicht wegzusehen. Wenn er es tat, wusste er, dass der Ashaki irgendwie dafür sorgen würde, dass er es bedauerte. Er konnte nicht umhin, nach irgendeinem Hinweis auf Entschlossenheit in ihren Zügen zu suchen oder nach einer Anstrengung, ihm etwas zu übermitteln, das vielleicht darauf schließen ließ, dass sie eine Verräterin war. Alles, was er sah, waren Furcht und Resignation.

Sie erwartet Schmerz oder Schlimmeres. Die einzigen Sklaven, die ich hier unten gesehen habe, haben etwas gebracht oder weggetragen. Warum sonst sollte sie – eine schöne junge Frau – ohne irgendeinen Dienstbotenauftrag hier unten sein?

Eine so schöne Sklavin würde niemals rein körperliche Aufgaben zugewiesen bekommen.

Seine Übelkeit verstärkte sich. Er konnte nicht umhin, wieder an Tyvara zu denken und daran, was sie im Zuge ihrer Arbeit als Spionin gezwungen gewesen war zu tun. Auch sie war zu schön, um nicht diese Art von Aufmerksamkeit bei ihren Herren zu erregen.

Schließlich hat sie bei unserer ersten Begegnung erwartet, dass ich sie in mein Bett holen würde.

Der Ashaki stand auf. Er ergriff den Arm der Frau und zog sie enger an sich. Dann streckte er eine Hand nach der juwelenbesetzten Scheide aus, die alle Ashaki an der Hüfte trugen, und zog langsam sein Messer. Lorkin hielt den Atem an, als sich das Messer zur Kehle der Sklavin bewegte. Die Frau kniff die Augen fest zusammen, wehrte sich jedoch nicht.

Worte fluteten in Lorkins Kehle, saßen dort jedoch fest. Er wusste genau, was der Ashaki vorhatte und warum. Wenn ich spreche, um sie zu retten, werden viele, viele weitere sterben. Wenn sie eine Verräterin ist, wird sie nicht wollen, dass ich ihr Volk verrate. Er schluckte hörbar.

Das Messer schlitzte ihre Kehle nicht auf. Stattdessen schob der Ashaki es unter eine Schulter ihres Kleides und durchschnitt den Stoff. Er packte die andere Schulter und zog, und das Gewand der Sklavin glitt herunter, so dass sie bis auf ein Lendentuch nackt dastand. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

Der Ashaki schob sein Messer in die Scheide, schaute über ihre Schulter zu Lorkin hinüber und lächelte.

»Wann immer Ihr reden wollt, tut Euch keinen Zwang an«, sagte er, bog die Finger durch und ballte sie zur Faust. Der Assistent kicherte.

Und dann machte der Ashaki sich ans Werk.

8 Verständnis und Verständigung

Lilia legte das Buch, auf das sie sich ohnehin nicht würde konzentrieren können, beiseite, blickte sich in Soneas Gästezimmer um und seufzte.

Obwohl Sonea die meiste Zeit abwesend gewesen war oder geschlafen hatte, fühlten ihre Räume sich jetzt seltsam leer an, da sie nach Sachaka aufgebrochen war. Lilia war sich plötzlich deutlicher des Umstands bewusst, allein zu sein, des Umstands, dass wohl niemand – zumindest kein Magier – zu Besuch kommen würde.

Nun, niemand außer Kallen, wenn ich nicht pünktlich zum Unterricht erscheine, aber es ist nicht wahrscheinlich, dass er einen Höflichkeitsbesuch machen wird.

Anyi würde des Nachts vielleicht immer noch durch die geheime Öffnung in der Wandvertäfelung des Raums schlüpfen, aber jetzt, da sie, Cery und Gol unter der Gilde lebten, war es sicherer, wenn Lilia sie besuchte. Es hatte immer ein Risiko bestanden, dass jemand Anyi in Soneas Räumen entdeckte und begriff, dass er nicht gesehen hatte, wie sie durch die Tür gekommen oder gegangen war.

Die einzige andere Person, die regelmäßig herkam, war Jonna, Soneas Dienerin und Tante. Jonna erschien zweimal am Tag, um Mahlzeiten zu bringen. Aber sie muss auch hierherkommen, wenn ich im Unterricht bin, um sauber zu machen, dachte Lilia und erinnerte sich daran, dass im Allgemeinen alles gut aufgeräumt war, wenn sie zurückkehrte.

Wie immer in den letzten Tagen hatte Lilia auch heute ihre Tasche, in der sie sonst nur Lehrbücher und Notizen zu transportieren pflegte, mit Essen aus dem Speisesaal, Seife und sauberen Waschlappen aus den Bädern gefüllt. Später würde sie alles ihren Freunden bringen. Sie hatte außerdem Neuigkeiten von Kallen mitzuteilen, aber bis Jonna mit dem Abendessen kam, würde Lilia nicht davonschlüpfen können.

In der Zwischenzeit versuchte sie zu lernen. Sie schaute auf das Buch in ihren Händen hinab. Sie hatte die Lektionen, die sie versäumt hatte, während sie im Ausguck gefangen gewesen war, niemals wirklich nachgeholt. Die Lehrer würden es bemerken, wenn sie noch weiter zurückfiel.

Sobald Cery, Anyi und Gol sich eingelebt haben, werde ich mich wieder ganz meinen Studien zuwenden können, sagte sie sich. Vielleicht werde ich den ganzen nächsten Freitag lernen. Wenn mein Plan heute Nacht funktioniert, werde ich zumindest eine Sorge weniger haben.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Sie stand auf, für den Fall, dass es ein Magier war, und öffnete die Tür mit Magie. Zu ihrer Erleichterung kam Jonna hereingestürmt. Beladen mit einer lackierten Schachtel und einem großen Krug schaffte es die Frau, sich zu verneigen, bevor sie alles auf den Tisch stellte.

»Guten Abend, Lady Lilia.«

»Guten … Abend.« Lilia zögerte, während sie die Schachtel öffnete und zu ihrer Enttäuschung sah, dass sie eine einzige Schale mit dicker Suppe und ein einziges Brötchen enthielt, außerdem ein Sahnedessert. Natürlich. Sie wird jetzt nicht mehr bringen, als eine Person essen kann. Was es noch wichtiger machte, dass Lilias Plan funktionierte.

»Was ist los?«, fragte Jonna.

»Ich … ich habe gehofft, dass Anyi heute Abend zu Besuch kommen würde.«

Lilia war überrascht gewesen zu entdecken, dass Jonna bereits wusste, dass Anyi Cerys Tochter war, und dass sie den geheimen Eingang zu Soneas Räumen kannte; zumindest war sie erstaunt gewesen, bis sie erfahren hatte, dass Jonna Soneas Tante war. Das erklärte gewiss die Art, wie Jonna Sonea herumkommandierte, wenn sie allein waren, ohne Furcht und mit wenig Respekt vor ihrem Status.

Jonna lächelte, während sie das Essen von dem Tablett auf den Tisch räumte. »Sie kommt in letzter Zeit oft vorbei.«

Lilia nickte. »Zumindest ist sie sicher, wenn sie hier ist.«

»Und sie bekommt eine anständige Mahlzeit«, fügte Jonna hinzu. Dann straffte sie sich. »Ich werde gehen und etwas für sie suchen. Etwas, das immer noch schmecken wird, wenn es kalt geworden ist, damit sie es mitnehmen kann, falls sie bereits gegessen hat.«

»Könntest du …?« Lilia verzog das Gesicht. »Könntest du jeden Abend etwas mitbringen? Selbst wenn sie es nicht isst, gibt es andere, denen sie gern helfen würde. Denen ich gern helfen würde. Und … kannst du etwas Lampenöl mitbringen, damit sie nicht im Dunkeln zurückfinden muss?«

Jonna wirkte mitfühlend, als sie nickte. »Natürlich.«

»Und … ich nehme nicht an … falls das nicht zu viel verlangt ist … was macht die Gilde mit altem Bettzeug und zerbrochenen Möbeln?«

Die Dienerin zog die Augenbrauen hoch. »Die meisten Möbel hier zerbrechen nicht leicht. Sie sind so stabil, dass sie Hunderte von Jahren halten. Wenn doch etwas zerbricht, reparieren wir es, und wenn es nicht länger gut genug für die Magier ist, bekommen es die Diener.« Sie zuckte die Achseln. »Das Gleiche gilt für altes Bettzeug. Wenn es für die Diener zu abgenutzt ist, macht man daraus Lumpen.« Sie sah Lilia an. »Aber es gibt mehr altes Bettzeug als Möbel. Lasst mich sehen, ob ich etwas in die Hände bekommen kann.«

Lilia nickte. »Vielen Dank. Ich würde ja Dinge für sie kaufen, aber es ist mir nicht erlaubt, das Gelände zu verlassen, um einkaufen zu gehen.«

»Ich könnte diese Dinge für Euch besorgen«, erbot sich Jonna, »wenn Ihr aufschreibt, was Ihr wollt.«

»Habt Ihr denn Zeit dafür? Ihr müsst doch viel zu tun haben.«

»Nicht so viel, wie Ihr vielleicht denkt, vor allem jetzt, da Sonea nicht hier ist. Dinge für Euch zu besorgen gehört zu meiner Arbeit.«

»Nun … danke. Ich würde mich sehr darüber freuen.«

Jonna deutete auf die Schale. »Jetzt fangt an zu essen, bevor es kalt wird, und ich gehe etwas für Anyi holen.«

Als sich die Tür hinter der Dienerin schloss, stieß Lilia einen Seufzer der Erleichterung und des Triumphs aus. Ihr Plan hatte funktioniert, obwohl sie leichte Gewissensbisse plagten, weil sie angedeutet hatte, dass die erbetenen Dinge für Bedürftige wären, obwohl sie in Wirklichkeit für Cery, Gol und Anyi bestimmt waren. Aber sie sind auch bedürftig.

Als sie auf die Mahlzeit hinabblickte, die Jonna ihr gebracht hatte, beschloss sie, sie zu essen und die Sachen, die sie aus der Speisehalle mitgenommen hatte, Cery und Gol zu geben. Suppe war viel zu schwer zu transportieren, und das Dessert würde wahrscheinlich überlaufen. Wenn Jonna Beweise dafür sah, dass Lilia etwas von ihren Mahlzeiten aß, würde sie sich keine Sorgen machen, dass Lilia nicht genug zu sich nahm – oder alles weggab.

Während sie aß, dachte sie darüber nach, wie solch kleine, alltägliche Dinge so wichtig werden konnten. Cery, sein Freund und seine Tochter waren in den Gängen unter der Gilde sicherer, vor allem jetzt, da der Tunnel, der sie mit der Straße der Diebe verband, zerstört war, doch etwas so Triviales wie ihre Versorgung mit Nahrung war eine tägliche Schwierigkeit und ein Risiko. Wenn Lilia nicht ständig versuchen musste, etwas zu essen für sie zu finden, wäre es viel einfacher, ihre Anwesenheit vor der Gilde verborgen zu halten.

Ich will auch mehr tun, als ihnen nur Essen zu bringen, überlegte sie. Ich will, dass sie es bequem haben. Ich kann Jonna nicht bitten, etwas Luxuriöses zu kaufen, oder sie wird Verdacht schöpfen. Es sei denn … ich könnte sagen, es sei für mich …

Sie aß den letzten Löffel Suppe, stand auf, suchte Papier, Stift und Tinte zusammen und begann eine Liste zu erstellen.

Als Sonea blinzelnd erwachte, staunte sie darüber, dass sie in der schaukelnden Kutsche überhaupt geschlafen hatte. Sie schaute zu Regin hinüber und sah, dass er wach war und sie beobachtete. Er lächelte schwach und wandte höflich den Blick ab.

Wie lange habe ich geschlafen? Sie zog den Vorhang beiseite, der das Fenster über dem Wagenschlag verdeckte. Sie fuhren durch grünes Hügelland, das sich im Gold einer spätnachmittäglichen Sonne vor ihnen ausbreitete. Eine ganze Weile. Armer Regin. Er ist wahrscheinlich den größten Teil des Tages wach gewesen und hat sich gelangweilt.

Während der ersten Stunden ihrer Reise in der vergangenen Nacht hatte ihr Gespräch sich um die Arrangements gedreht, die sie getroffen hatten, um ihre Angelegenheiten für die Dauer ihrer Abwesenheit zu regeln, um Lilias Fortschritte und Zukunft, um die Orte, an denen sie im Laufe der Reise wahrscheinlich haltmachen würden, und um einige Informationen, die man ihnen über die sachakanische Gesellschaft gegeben hatte. Als Regin zum ersten Mal gegähnt hatte, hatte sie darauf bestanden, dass er versuchte zu schlafen. Er hatte es schließlich getan, ein Reisekissen zwischen seinen Kopf und die Seitenwand der Kutsche geklemmt. Die Straßen in Stadtnähe waren gepflegter als die weiter draußen auf dem Land, daher wurde er nicht oft wach gerüttelt.

Sie hatte die Nacht damit verbracht, aus dem Fenster zu starren, über die Aufgaben nachzudenken, die man ihr zugeteilt hatte, und sich Sorgen um Lorkin zu machen. Bei der Erinnerung an ihre letzte Reise über diese Straße – sie war Akkarin ins Exil gefolgt – spürte sie Echos der Gefühle von vor zwanzig Jahren. Furcht, Zurückweisung, Hoffnung und Liebe, alles vom Abstand der Zeit gemildert. Sie hieß die Gefühle willkommen, hielt sie für eine kurze Zeit fest und ließ sie dann los, damit sie mit der Vergangenheit verschmolzen.

Diese Reise brachte einige interessante neue Gefühle mit sich. Abgesehen von Angst und Sorge um Lorkin und der Furcht vor der Möglichkeit, dass sie selbst und Regin versagen könnten, verspürte sie eine seltsame Euphorie. Nachdem sie zwanzig Jahre lang auf das Gelände der Gilde beschränkt gewesen war, war sie plötzlich frei gelassen worden.

Nun, nicht direkt frei. Ich kann nicht umherstreifen, wo immer ich will. Ich habe eine Mission zu erfüllen.

»Woran denkt Ihr?«

Regins Frage holte sie in ihre Umgebung zurück. Sie zuckte die Achseln.

»Daran, dass ich jetzt außerhalb der Stadt bin. Ich hatte angenommen, dass ich sie nie wieder verlassen würde.«

Er machte ein leises, angewidertes Geräusch. »Sie sollten Euch mehr trauen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass Vertrauen das Problem war. Sie hatten keine andere Wahl, als mir zu vertrauen. Ich denke, sie hatten Angst vor dem, was geschehen würde, wenn man uns erneut überfallen würde und ich nicht da wäre. Oder wenn Kallen sich gegen sie wenden würde.«

»Denkt Ihr, dass Kallen Eure Abwesenheit ausnutzen wird?«

Sonea schüttelte den Kopf, dann erinnerte sie sich an die eine Eigenschaft, die sie an Kallen nicht mochte, und runzelte die Stirn.

»Was ist los?«

Sie seufzte. Wenn Regin mich so leicht durchschaut, wie werde ich mich halten, wenn ich auf König Amakira und die Verräterinnen treffe? Ich nehme an, ich bin noch nicht ganz wach und auf der Hut. Obwohl ich es mir nicht verzeihen würde, wenn es mir nicht gelänge, Lorkin zu befreien oder ein Bündnis zu knüpfen, nur weil ich schläfrig war.

Was sollte sie sagen? Regin hatte offensichtlich wahrgenommen, dass sie sich Sorgen wegen Kallen machte, und er würde sich alle möglichen Gründe ausmalen, wenn sie ihm nicht einen einzigen nannte. Irgendetwas musste sie ihm sagen.

Die Wahrheit. Es ist ohnehin kein großes Geheimnis.

»Fäule«, erklärte sie. »Feuel. Das ist seine Schwäche. Wenn ich Kallen korrumpieren wollte, würde ich es tun, indem ich seinen Zugang zu der Droge kontrolliere.«

Regin runzelte die Stirn. »Wissen viele von seiner Schwäche?«

»Vinara weiß Bescheid. Rothen ebenfalls. Ich vermute, dass viele der Höheren Magier es ebenfalls wissen, obwohl wir nicht darüber gesprochen haben. Oder zumindest haben sie nicht darüber gesprochen, während ich zugegen war.«

»Wer immer es ihm verkauft, weiß es ebenfalls«, fügte Regin hinzu.

»Ja.«

»Lilia hat auch Feuel benutzt, nicht wahr?«

»Als sie mit Naki zusammen war. Lilia scheint nicht süchtig danach geworden zu sein. Tatsächlich hat sie jetzt eine Abneigung gegen Feuel und Feuel-Benutzer. Ich denke, sie gibt dem Feuel die Schuld für einige der törichten Dinge, die sie und Naki getan haben.«

Regin wirkte nachdenklich. »Also hat die Gilde einen Schwarzmagier, der nach Feuel süchtig ist, und einen, der dagegen resistent ist.«

»Und eine Schwarzmagierin, die nicht einmal in die Nähe des Zeugs gehen würde, wenn man sie dafür bezahlte«, fügte Sonea schaudernd hinzu.

Er sah sie an und lächelte. »Dafür seid Ihr viel zu klug. Ihr lasst nicht zu, dass irgendetwas Euch in eine Ecke treibt.«

Soneas Wangen wurden warm. »Bis auf die Gilde.«

»Eine würdige Ausnahme.« Er wandte den Blick ab. »Ich wünschte, ich hätte Eure Entschlossenheit und Bereitschaft gehabt, Konventionen zu trotzen, als ich noch jünger war.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr? Nicht entschlossen? Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass Ihr Euch Eurer selbst und der Dinge, die Ihr vom Leben wolltet, absolut sicher wart.«

»Ja … aber ich musste niemals irgendwelche harten Entscheidungen treffen. Man hat mir gesagt, alles müsse auf eine bestimmte Weise sein, weil es gewährleistete, dass alle sicher, mächtig und wohlhabend waren, und ich habe das nicht hinterfragt. Aber als ich älter wurde, begann ich dann doch, Fragen zu stellen. Ich habe erkannt, dass mein Mangel an Widerstand in der Furcht wurzelte, von meinesgleichen nicht akzeptiert zu werden. Ich sah, dass die einzigen Menschen, die wir für wichtig erachteten, meine Familie und mein Haus waren. Dass die Häuser Veränderungen widerstanden, weil sie befürchteten, es könnte ihre Macht und ihren Wohlstand verringern. Und so ist es noch heute.«

»Kyralia hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr verändert. Die Häuser haben in der Folge weder ihre Macht noch ihren Reichtum verloren.«

Regin schüttelte den Kopf. »Sie werden diese Dinge verlieren. Es mag lange dauern, aber es wird geschehen. Die Warnzeichen sind da, wenn man weiß, wonach man suchen muss. Wisst Ihr, was ich herausgefunden habe?« Er sah sie an und zuckte die Achseln. »Es kümmert mich nicht. Lasst sie fallen. Sie sind auf Lügen und Habgier aufgebaut.«

Sonea verspürte einen Stich des Mitgefühls. Seit seiner ziemlich öffentlichen Trennung von seiner Ehefrau neigte Regin zu gelegentlichen mürrischen und trotzigen Bemerkungen über die Gewohnheiten und Erwartungen der höchsten Klasse. Ein Teil von ihr billigte seine Einstellung, ein anderer Teil fühlte mit ihm, doch sie fragte sich trotzdem, wie viel von seiner Desillusionierung bleiben würde, sobald der persönliche Schmerz verebbt war.

»Ich bin mir sicher, Ihr würdet nicht so denken, wenn Ihr als Bettler auf der Straße landen würdet«, rief sie ihm sanft ins Gedächtnis.

Er sah sie an, und seine Schultern sackten ein wenig herunter. »Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht wäre ich ein besserer Mann. Vielleicht wäre ich sogar ein glücklicherer Mann. Indem wir Novizen aus den unteren Klassen aufgenommen haben, hat die Gilde es möglich gemacht, dass Menschen die Barrieren zwischen den Klassen überwinden. Ich sehe die Neuankömmlinge damit prahlen, und ich möchte sie warnen, dass es einen Preis dafür gibt. Dann … dann sehe ich, dass sie diesen Preis gar nicht zahlen müssen, und ich bin, nun, eifersüchtig. Irgendwie werden sie den Wohlstand, die Macht und die Magie bekommen, aber sie haben keine alten Übereinkünfte oder Traditionen zu berücksichtigen oder sich nur mit den Menschen zu verbinden, die ihre Häuser billigen, oder die Frau zu heiraten, die ihre Familie auswählt.«

»Irgendwann werden sie das vielleicht tun müssen.«

Regin schüttelte den Kopf. »Nein. Nehmt doch Euch selbst.« Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Ihr seid nie gezwungen worden zu heiraten.«

»Ich bin mir sicher, wenn ich beschlossen hätte, es zu tun, hätte man eine Menge zu meiner Entscheidung zu sagen gehabt.«

»Doch niemand hätte es gewagt, Euch die Heirat zu verbieten.«

»Das liegt nur daran, dass ich die erste Schwarzmagierin bin. Ich bin eine Ausnahme. Ihr könnt von meinem Fall keine Regel ableiten.«

Regin warf ihr einen seltsamen Blick zu, öffnete den Mund, um zu sprechen, runzelte dann die Stirn und schloss ihn wieder.

Sonea wurde neugierig. »Was wolltet Ihr sagen?«, fragte sie.

Er sah sie mit unsicherer Miene an. »Ich … ich wollte Euch fragen, warum Ihr nicht geheiratet habt. Aber ich schätze, es ist offensichtlich – und es wäre ziemlich unhöflich von mir, danach zu fragen.«

Sonea zuckte die Achseln. »Nicht unhöflich. Noch ist es der Grund, den Ihr vermutet. Es ist wahr, ich hatte die Idee nach Akkarins Tod lange Zeit nicht erwogen, aber das gilt nicht für die ganzen zwanzig Jahre. Ich hätte vielleicht Dorrien geheiratet, wenn der Zeitpunkt ein besserer gewesen wäre, aber er hat eine andere kennengelernt, lange bevor ich bereit war.« Und das ist auch gut so. »Ich denke nicht, dass wir gut zusammengepasst hätten. Zunächst einmal liebt er das Landleben und hätte auf dem Gelände der Gilde leben müssen, um mit mir zusammen zu sein, da ich nicht fortgehen konnte.«

Regin beobachtete sie jetzt mit einem beinahe schuldbewussten Interesse. Wahrscheinlich interessiert diese Frage eine ganze Reihe von Magiern, überlegte sie.

»Als ich bereit war, schien niemand Interesse zu haben«, fuhr sie fort. »Männer meines Alters hatten ihre Vorurteile gegenüber Magiern aus den unteren Klassen noch nicht ganz überwunden, und die einzigen Magier aus den unteren Klassen waren viel zu jung. Alle waren eingeschüchtert von schwarzer Magie. Einige der Höheren Magier haben mir gegenüber angedeutet, dass sie einen Ehemann für eine Schwäche halten würden, die jemand durch Erpressung ausnutzen könnte. Dann war da noch Lorkin. Er war immer sehr eifersüchtig auf andere Männer in meinem Leben.«

Regin runzelte die Stirn. »Was …?« Er hielt inne und schüttelte den Kopf.

»Ja?«

Er verzog das Gesicht. »Was werdet Ihr tun, wenn König Amakira Lorkin bedroht?«

Sonea, die den Themenwechsel nicht erwartet hatte, spürte, wie ihr Herz erstarrte. Sie hielt inne, um tief durchzuatmen, bevor sie antwortete. »Ich werde darauf hinweisen, dass es Lorkin ist, der etwas über die Verräterinnen weiß, nicht ich. Es wäre weitaus vernünftiger, mich zu foltern, um Lorkin zum Sprechen zu bringen.«

Regins Unterkiefer klappte herunter, dann schluckte er. »Ist es weise, den König auf die Idee zu bringen, Euch zu foltern?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin mir sicher, er wird selbst auf die Idee kommen, in dem Moment, in dem er erfährt, dass ich auf dem Weg bin, um mich mit ihm zu treffen. Wenn er bereit ist, mich zu foltern, dann müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass er jedes Widerstreben, den Zorn der Gilde und der Verbündeten Länder zu erregen, beiseitegeschoben hat. Dann wird es ohnehin keine Chance geben, Lorkin zurückzubekommen.«

Sie war geradezu verzweifelt stolz auf sich, dass sie nicht zuließ, dass ihre Stimme bei diesem letzten Satz brach, obwohl es eine knappe Sache war. Wenn ich das so durchhalten kann, werde ich vielleicht in der Lage sein, meine Gefühle vor den Sachakanern und Verräterinnen zu verbergen.

»Ich hoffe um unser aller willen, dass es nicht dazu kommen wird«, sagte Regin mit Nachdruck.

Sie nickte zustimmend. Wenn König Amakira bereit war, sie zu foltern, dann wäre auch Regin nicht sicher.

Er veränderte seine Sitzposition, so dass er ihr gegenübersaß, dann streckte er die Hände aus. »Es ist ein voller Tag vergangen seit der Versammlung, und meine Macht hat sich erholt. Ihr solltet sie jetzt nehmen, bevor wir das Bleibehaus erreichen.«

Sie sah ihn an, während Widerstreben sie erneut erstarren ließ. Das ist lächerlich. Ich sollte nicht zögern, Macht zu nehmen, die mir freiwillig angeboten wird, wenn es mir erlaubt ist und ich sie vielleicht brauchen werde. Sie hatte diese Verlegenheit während der Versammlung nicht verspürt, wurde ihr bewusst. Warum war es ihr peinlich, privat von einem anderen Menschen mittels schwarzer Magie Macht zu nehmen? Warum kam ihr das zu … intim vor? Peinlich, zu intim und verboten. Vielleicht weil ich es nur ein einziges Mal unter vier Augen getan habe, und das mit Akkarin.

Regin beobachtete sie, und sein Gesicht zeigte wachsende Verwirrung. Sonea holte tief Luft und ergriff seine Hände. Sie spürte, wie Magie von ihm in sie hineinfloss, und begann sie zu speichern.

»Es tut mir leid. Ich kann mich nicht daran gewöhnen«, sagte sie zu ihm und schüttelte den Kopf.

Er nickte. »Das ist verständlich. Es war Euch so lange Zeit verboten. Tatsächlich hatte ich mich gefragt, ob Ihr nach all dieser Zeit vielleicht vergessen habt, wie man es macht.« Sein Mund verzog sich kurz zu einem neckenden Grinsen.

Sonea brachte ein Lächeln zustande. »Wenn das nur möglich wäre.«

»Alles klar«, sagte Gol.

Cery nickte. Er hatte Gol vorausgeschickt, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Notunterkunft unentdeckt geblieben war. Es war schwer, alte Gewohnheiten aufzugeben. Sie griffen nach ihren Lasten und trugen sie durch die Tunnel zu dem Raum, in dem sie Zuflucht gefunden hatten. Cery stellte zwei schon aus dem Leim gegangene alte Stühle ab, Anyi ließ zwei Ballen Heu von ihren Schultern auf den Boden fallen, und Gol warf ein Bündel Säcke neben die Kiste, die er als Sitzgelegenheit benutzt hatte.

Als Nächstes nahmen sie die Früchte aus ihren Taschen, das Gemüse und die anderen kleineren Dinge, die sie in den Schuppen des alten Bauernhofs eingesteckt hatten. Cery schaute zu Gol auf, als der Mann eine Spule groben Garns ablegte.

»Wo hast du das gefunden?«

Gol zuckte die Achseln. »In einem der Schuppen. Da war ein ganzer Korb voll, also dachte ich, niemand würde es bemerken, wenn ich eine mitnehme. Und das hier …« Er stülpte eine Seite seines Mantels um, um eine lange, gebogene Nadel zu offenbaren, die im Futter steckte. »Das werde ich brauchen, wenn ich Matratzen machen soll.«

Cery musterte seinen Freund zweifelnd. »Du wirst Matratzen machen?«

»Anyi hat gesagt, sie könne nicht nähen.«

»Oh, hat sie das?« Cery lächelte über die Lüge seiner Tochter. »Und du kannst es?«

»Gut genug für Matratzen. Ich habe früher meinem Vater geholfen, seine Segel zu flicken.« Gol fädelte das Ende des Garns mit offenkundiger Geschicklichkeit durch die Öse der Nadel.

»Du bist ein Mann mit verborgenen Tiefen, Gol«, bemerkte Cery. Er setzte sich auf einen der Stühle und lächelte, während er an ihre Plünderung des Bauernhofs zurückdachte. Seine Vermutung, dass Dienstboten in den Schuppen lebten, hatte sich als falsch erwiesen. Alle Schuppen hatten leer gestanden. Obwohl sie sich frei bewegen konnten, hatten er, Gol und Anyi darauf geachtet, keine Spuren ihres Aufenthalts dort zu hinterlassen, und sie hatten nichts mitgenommen, von dem nicht reichlich vorhanden war. Anyi hatte vorgeschlagen, einige der anderen Stühle zu verrücken, als hätte jemand sie einfach aus irgendeinem Grund bewegt und vergessen, sie an ihren ursprünglichen Platz zurückzustellen, um die Tatsache zu verbergen, dass ein paar fehlten.

Anyi betastete die Früchte. »Sie sind noch nicht reif«, sagte sie. »Ein wenig zu früh in der Saison. Es war schwer, das in der Dunkelheit zu erkennen. Wie werden wir dieses Gemüse kochen?«

»Ich habe nur solche mitgenommen, die nicht gekocht zu werden brauchen«, erwiderte Gol.

Sie rümpfte angewidert die Nase. »Wir sollen sie roh essen? Solchen Hunger habe ich nicht.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Einige sind besser roh zu genießen, vor allem wenn sie frisch sind. Versuch es wenigstens.«

Anyi wirkte nicht überzeugt. »Ich werde auf Lilia warten. Sie kann sie mit Magie kochen.«

»Sie ist vielleicht nicht immer in der Lage, uns Essen zu bringen«, rief Cery seiner Tochter ins Gedächtnis. »Je seltener sie uns besuchen kommt, umso geringer ist das Risiko, dass die Gilde uns hier entdeckt.«

»Dann muss ich einen geheimen Eingang zur Gildeküche finden.« Anyi stand auf. »Ich werde feststellen, ob sie Hilfe dabei braucht, irgendetwas zu tragen.«

Gol schüttelte den Kopf, während sie sich eine Lampe griff und davonging. »Sie weiß gar nicht, was sie versäumt«, murmelte er.

Cery sah seinen Freund an. »Ich hatte gehofft, ihr zwei würdet erheblich länger brauchen als drei Tage, bevor ihr anfangt, euch auf die Nerven zu gehen.«

»Wir werden vielleicht keine Wahl haben, was …« Gol brach ab, als er aufblickte und Cerys Miene sah. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja. Ich werde es versuchen. Ihr gefällt es auch nicht, unter der Erde festzusitzen.«

»Nein«, stimmte Cery ihm zu. Als er ein Geräusch hörte, stand er auf und ging zur Tür. Hohe Stimmen erreichten ihn, obwohl er nicht hören konnte, was sie sagten. »Sieht so aus, als sei Lilia bereits auf dem Weg.«

Er setzte sich wieder und wartete auf die Mädchen. Lilia hielt die gewohnte lackierte Schachtel in der Hand, in der sich diesmal mit gewürztem Fleisch gefüllte Brötchen und klebriger Sesamkuchen befanden.

»Also, das ist richtiges Essen«, erklärte Anyi, während sie sich ein Brötchen nahm.

Lilia grinste. »Ich habe ein Arrangement mit Jonna getroffen. Sie wird mir jeden Abend etwas bringen, das Anyi selbst essen und an die Armen weitergeben kann, und sie wird mir auch Lampenöl und Decken beschaffen. Sie denkt, ich sei wohltätig.«

Cery war ein wenig beunruhigt. »Du hast ihr nichts von uns erzählt?«

»Nein.« Lilia betrachtete die Stühle, das Stroh und Gol, der Säcke nähte. »All das kommt vom Bauernhof?«

Anyi musste ihr von ihrem Plünderzug erzählt haben. »Ja.«

»Sie werden es nicht vermissen?«

»Wir waren vorsichtig«, versicherte ihr Anyi.

Lilia setzte sich auf eine der Kisten. »Nun, geht während der nächsten Tage nicht wieder dorthin. Ich werde feststellen, ob ich etwas über Eindringlinge oder Diebe höre. Und jetzt … habe ich Neuigkeiten von Kallen.«

Cerys Herz setzte einen Schlag aus. »Ja?«

»Er sagt, dass die Menschen in der Stadt anfangen, über eure Abwesenheit zu tratschen. Einige Leute halten euch für tot. Andere denken, Skellin habe euch eingesperrt oder irgendwo in die Enge getrieben.«

»Das ist nicht weit von der Wahrheit entfernt«, murmelte Gol.

Lilia sah ihn an, dann schaute sie abermals hin, als sie bemerkte, was er tat. Sie zog die Augenbrauen hoch, enthielt sich aber eines Kommentars zu Gols Fähigkeiten mit Nadel und Faden. »Skellins Männer haben dein Geschäft übernommen …« Sie wedelte mit der Hand. »Was immer es ist, das du tust.«

»Ich verleihe Geld, beschütze Leute, betreibe Geschäfte, stelle Leute vor, verkaufe …«, begann Cery.

»Erzähl es mir nicht«, unterbrach ihn Lilia. »Wie Sonea sagt, es ist besser, wenn ich nichts weiß, damit man mich nicht anklagen kann, mit irgendetwas von alledem zu tun zu haben.«

»Ich dachte, ich hätte es gut hingekriegt, all das legal klingen zu lassen.« Cery sah Anyi an, die die Augen verdrehte.

»Halten irgendwelche von Skellins Leuten Cery für tot?«, hakte Gol nach.

Lilia zuckte die Achseln. »So genau hat Kallen sich nicht ausgedrückt. Er wollte allerdings wissen, ob Cery plant, diese … Geschäfte … wieder aufzugreifen.«

»Sag ihm, ich werde nicht in der Position dazu sein, bis er Skellin losgeworden ist. Hat er irgendwelche Fortschritte gemacht?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Er hat es nicht gesagt. Ich denke, er hat gehofft, dass du ihm so nützlich sein würdest, wie du Sonea nützlich warst.«

Cery seufzte und wandte den Blick ab. »Du solltest ihm besser klarmachen, dass ich jetzt niemandem mehr von Nutzen bin.«

Anyi gab einen wortlosen Laut des Protests von sich. »Du bist für uns nützlich.«

Cery warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Wäre ich nicht, würdet ihr nicht hier festsitzen. Hier unten bin ich nichts als ein Problem für Lilia.«

Lilia runzelte die Stirn. »Du bist kein Problem. Jedenfalls kein großes.« Anyi legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Er runzelte die Stirn. »Das Einzige, was ich jetzt noch bin, ist eine nagende Sorge in Skellins Hinterkopf. Die Leute mögen behaupten, ich sei tot, aber er wird es nicht ganz glauben, weil er keine Leiche gesehen hat. Er muss in Betracht ziehen, dass ich noch am Leben bin und irgendetwas im Schilde führe.«

Er wird sich vorsichtig in mein Territorium vorwagen und jeden befragen, der vielleicht weiß, wo ich bin. Cerys Herz krampfte sich vor Schuldgefühlen schmerzhaft zusammen. Meine Leute werden mich für tot halten wollen, denn wenn ich lebe und nicht gegen Skellin kämpfe, wird es so scheinen, als hätte ich sie im Stich gelassen. Wenn sie herausfinden, dass ich mich unter der Gilde versteckt habe, werden sie denken, ich hätte mit meinen Magierfreunden im Luxus gelebt.

Wenn es nur irgendeinen Nutzen hätte, abgesehen von bloßem Überleben, hier in den Gewölben unter der Gilde festzustecken.

Wir sind vom Rest der Stadt abgeschieden. Magier sind nicht weit entfernt, und eine Magierin im Besonderen – Lilia – kann uns helfen. Nur wenige Leute würden hier herunterkommen, wenn sie das wüssten. Cery runzelte die Stirn. Würde Skellin es wagen?

Vielleicht, wenn er einen guten Grund dazu hätte.

Wenn er hierherkäme, würde er sehr vorsichtig zu Werke gehen. Er würde Späher ausschicken, um sich zuerst davon zu überzeugen, dass es auch sicher ist. Dann müsste er einen guten Grund haben, um die Tunnel persönlich zu betreten, statt andere herzuschicken. Ganz gleich, wo oder wie er von der Existenz dieser Tunnel erfahren würde und woher er wüsste, wie er in sie hineingelangt, er würde immer den Verdacht hegen, dass diese Information dazu bestimmt war, ihm in die Hände zu fallen, und Teil einer Falle wäre.

Jedenfalls würde ich so denken.

Aber wenn es hier etwas gäbe, das Skellin dringend wollte, würde er dieses Risiko vielleicht auf sich nehmen. Cery musste sich nur einen Köder ausdenken, der machtvoll genug war, um Skellin in eine Falle zu locken. Diesmal würde es etwas sein müssen, das eine viel größere Versuchung darstellte als die Bücher über Magie.

9 Freunde und Feinde

Lorkin schreckte aus dem Schlaf hoch. Er schaute blinzelnd zur Decke und grübelte über den unvertrauten, nackten Stein nach, dann erinnerte er sich einen Herzschlag später daran, wo er war und warum.

Und dass er nicht allein in der Zelle war.

Als er sich umdrehte, sah er die junge Frau nahe dem Gitter auf dem Boden liegen. Ihre Haut und die von ihrem Sklavenkleid übrig gebliebenen Lumpen waren voller Blutflecken. Sie starrte zu dem Vernehmer auf, der das Gitter zur Zelle geöffnet hatte.

Während Lorkin langsam aufstand, bückte sich der Ashaki, um sie am Arm zu packen und auf die Füße zu zerren. Sie stieß einen heiseren Schrei aus und sackte in sich zusammen, als wollten ihre Glieder sie nicht tragen, aber der Mann lachte.

»Das würde nicht einmal einen Schwachsinnigen täuschen«, erklärte er. Er strich mit der freien Hand über ihren Arm bis zu den Schultern, dann berührte er ihr Haar, sah Lorkin an und grinste. »Schön geheilt. Wenn man bedenkt, wie viel gebrochen war, muss es Euch erschöpft haben.«

Lorkin sah dem Mann in die Augen und zuckte die Achseln. »Kaum.«

Der Ashaki lachte leise. »Wir werden sehen.« Er blickte das Sklavenmädchen an. »Geh, wenn du nicht gezerrt werden willst.«

Sie gab es auf, so zu tun, als sei sie verletzt. Stattdessen richtete sie sich auf, schaute voller Staunen an sich herab, bevor ihre Verwunderung darüber, unversehrt zu sein, sich in Luft auflöste, als der Ashaki sie aus der Zelle zog.

»Kommt mit mir, Kyralier«, sagte der Mann. »Wir haben noch mehr zu besprechen.«

Lorkin erwog, sich zu weigern, die Zelle zu verlassen, aber er konnte nicht sehen, wie ihm das helfen sollte. Es würde den Ashaki zwingen, Magie zu benutzen, um ihn hinauszuzerren, aber es würde nur sehr wenig Magie sein und nichts, was nicht ersetzt werden konnte, indem er Stärke von einem Sklaven nahm. Er bezweifelte, dass der Ashaki zögern würde, stattdessen das Mädchen hier zu foltern. Also folgte er dem Mann wortlos aus der Zelle. Der Assistent schloss sich ihnen wie immer an.

Das Sklavenmädchen ging mit nach vorn gezogenen Schultern. Lorkin konnte nicht verhindern, dass ihm Bilder und Geräusche vom Tag zuvor durch den Kopf gingen. Die Folterung durch den Ashaki hatte langsam und brutal begonnen, darauf angelegt, so viel Schmerz hervorzurufen wie möglich, ohne das Mädchen jedoch zu töten.

Es hatte Lorkins ganze Entschlossenheit gekostet, Stillschweigen zu bewahren. Er hatte über Möglichkeiten nachgedacht, um der Folterung – und sei es auch nur vorübergehend – ein Ende zu machen, aber nichts würde lange genug funktionieren. Die Ideen hatten ihn jedoch nicht losgelassen. Er hätte den Ashaki belügen können. Er hätte ihm Dinge über die Verräterinnen sagen können, die der Wahrheit entsprachen, aber unwichtig waren. Er hätte sogar sein eigenes Leben im Tausch für das der Frau anbieten können.

Schließlich hatte er eine unangenehme Losgelöstheit von dem Geschehen zustande gebracht und jeden Gedanken aufgegeben, dass er etwas tun konnte, um der Frau oder sich selbst zu helfen. Später schauderte er bei der Erinnerung daran und fragte sich, ob diese Gleichgültigkeit der Sklavin gegenüber vielleicht der erste Schritt dazu war, auch den Schutz der Verräterinnen hintanzustellen.

Er versuchte, an Tyvara zu denken, um seine Entschlossenheit zu stärken, aber das führte nur dazu, dass er darüber nachgrübelte, was sie unter den Händen von Ashaki erlitten haben musste, während sie sich als Sklavin ausgegeben hatte. Prügel. Als Lustsklavin missbraucht zu werden. Lorkins Abscheu vor der Sklaverei hatte sich zu Hass vertieft.

Am vergangenen Tag war er sich sicher gewesen, dass der Ashaki die Sklavin irgendwann töten würde. Gewiss hatte er nicht erwartet, dass der Mann sie mit ihm in die Zelle warf. Während Zeit verstrich, war seine Losgelöstheit verebbt. Er hatte es immer schwerer gefunden, das gequälte Wimmern und Stöhnen der Frau zu hören.

Hofften sie lediglich, mich mit Schuldgefühlen zu zermürben? Oder darauf, dass ich mich selbst schwächen würde, indem ich sie heile? Oder wollten sie sehen, ob ich sie selbst töten würde, um ihren Schmerz zu beenden?

Wenn er die zusätzliche Macht, die Tyvara ihm gegeben hatte, benutzen würde, um die Sklavin zu heilen, würde ihn das nicht viel kosten, hatte er entschieden. Es würde niemals genug sein, um ihn lange zu beschützen, wenn der Vernehmer beschloss, ihn zu foltern oder zu töten. Erst im Nachhinein kam ihm der Gedanke, dass die Heilung der Sklavin bedeutete, dass der Ashaki sie ganz von neuem würde foltern können.

Sie hatte ihm gedankt, was nur dazu geführt hatte, dass er sich noch schlechter fühlte. Er hatte lange Zeit wach gelegen und versucht, sich einzureden, dass der Vernehmer sein Ziel erreicht hatte. Der Zweck dessen, die Sklavin zu benutzen, war es gewesen, ihn zu zwingen, seine Macht zu verbrauchen. Lorkin hatte bewiesen, dass ihre Folterung ihn nicht dazu bringen konnte zu sprechen. Sie wurde nicht länger benötigt.

Jetzt kam ihm das wie eine törichte Illusion vor.

Der Ashaki führte sie in denselben Raum. Er war gesäubert worden. Das Sklavenmädchen wurde in eine Ecke gestoßen, wo sie sich unterwürfig zusammenkauerte.

Wie zuvor führte man Lorkin zu einem Hocker. Der Ashaki lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Assistent setzte sich auf einen anderen Hocker.

»Also, habt Ihr mir irgendetwas zu sagen?«, fragte der Ashaki. »Das heißt, irgendetwas in Bezug auf die Verräterinnen.«

»Nichts, was Ihr nicht bereits wisst.«

»Seid Ihr Euch da sicher? Warum erzählt Ihr mir nicht, was ich Eurer Meinung nach über die Verräterinnen weiß?«

»Um Euch auf den neuesten Stand zu bringen?« Lorkin seufzte. »Als würde ich auf diesen Trick hereinfallen. Wann werdet Ihr endlich akzeptieren, dass ich Euch nichts verraten werde?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Es liegt nicht bei mir. Es liegt beim König. Ich bin lediglich sein …« Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Sein Forscher. Nur dass ich Informationen aus Menschen beziehe, nicht aus staubigen alten Büchern und Schriftrollen oder indem ich ferne Orte erkunde oder fremde Länder ausspioniere.«

»Folter muss die am wenigsten verlässliche Forschungsmethode sein.«

»Sie erfordert ein gewisses Geschick.« Der Ashaki ließ die Arme sinken und stieß sich von der Wand ab. »Eins, das zu üben ich nicht oft Gelegenheit habe, daher bin ich glücklich darüber, dass sich mir jetzt eine bietet. Es sei denn natürlich, Ihr lenkt mich mit etwas Interessanterem ab.«

Lorkin zwang sich, dem Mann in die Augen zu sehen und seine Stimme ruhig zu halten, obwohl sein Magen sich zusammenkrampfte. »Ist es Euch in den Sinn gekommen, dass die Methoden, die Ihr benutzt, um mich zum Sprechen zu bringen, meine Entschlossenheit zu schweigen vielleicht noch verstärken?«

Das Lächeln des Ashaki war sorglos. »Ach ja? Nun denn. Unterziehen wir diese Theorie einer Prüfung.«

Als er sich zu der Sklavin umdrehte, wimmerte sie. Lorkins Entschlossenheit wurde schwächer. Aber wenn ich ihnen von den Verrätern erzähle, könnten Tausende wie diese Frau enden. Und wenn sie eine Verräterin ist, weiß sie das und würde nicht wollen, dass ich sie verrate.

Er klammerte sich an diesen Gedanken und versuchte die Vorstellung auszublenden, dass sie vielleicht nicht einmal eine Verräterin war, während der Vernehmer sich daranmachte, alles wieder zu zerstören, was Lorkin in der Nacht zuvor geheilt hatte.

Wie die meisten Novizen hatte Lilia früh gelernt, dass innerhalb des Universitätsgebäudes ein Komplex innerer Gänge und Räume lag, die man durch kurze, als Lagerräume getarnte Flure erreichte. Sie waren für Novizen jedoch nicht verboten. Vor Hunderten von Jahren war die Gilde so groß geworden, dass die Notwendigkeit von Unterrichtsräumen jeden Zweck überwog, den die inneren Räume vielleicht zuvor gehabt hatten. Jetzt fanden dort spezialisierte oder private Kurse statt.

Die Gänge unter der Gilde waren auch kein großes Geheimnis. Jeder wusste, dass sie während der Invasion der Ichani benutzt worden waren. Obwohl sie sowohl für Novizen als auch für Magier verboten waren, weil man sie für unsicher hielt, würde die Gefahr eines Einsturzes die Abenteuerlustigeren unter ihnen niemals aufhalten, daher waren nicht lange nach dem Krieg alle Tunneleingänge in der Universität versiegelt worden.

Lilia war nicht die einzige Novizin, die den Verdacht hatte, dass die Gilde einige Eingänge offen gelassen hatte, nur für den Fall der Fälle. Anyis Erkundungszüge hatten jedoch ergeben, dass die Gilde ganze Arbeit geleistet hatte. Alle Tunneleingänge waren zugemauert worden. Lilia hatte gehofft, dass ihre Freundin zumindest einen Zugangspunkt in die Universität finden würde. Das wäre erheblich bequemer, als immer in den schmalen Hohlraum in der Mauer der Magierquartiere zu klettern.

Anyi hatte jedoch unbeirrt an einem neuen Zugang gearbeitet. In der Nacht zuvor hatte sie verkündet, dass sie durch das Mauerwerk eines alten Eingangs gebrochen war, der in die inneren Gänge der Universität führte. Lilia hatte sich den Durchgang angesehen und die verborgene Tür in der Vertäfelung, hinter der er lag, ein wenig geölt, damit sie sich mühelos öffnen ließ. Jetzt konnte Lilia durch diese Tür zu Soneas Räumen zurückgelangen.

Jetzt war sie wieder auf dem Weg zu der versteckten Tür und hoffte, dass es noch zu früh war, als dass andere Novizen in den inneren Gängen waren. Jonna hatte ihr mit dem Frühstück eine große Flasche Lampenöl gebracht. Lilia war sich nur allzu bewusst, dass ihren Freunden bald die Lichtquellen ausgehen würden. Der neue Weg in die unterirdischen Gänge war viel schneller, da die mühselige Kletterei zwischen den Mauern wegfiel, und wenn sie zurückkehrte, würde sie ihrem ersten Kurs an diesem Tag näher sein.

Nachdem sie die Universität betreten hatte, bog sie in einen der schmalen Flure zwischen den Klassenzimmern und ging auf den kleinen Raum am Ende des Flurs zu, der in die inneren Gänge führte. Irgendwo hinter sich hörte Lilia das Echo schwacher Schritte, die ihr folgten. Wahrscheinlich ein Novize auf dem Weg zu einem privaten Unterrichtskurs. Die inneren Gänge waren für gewöhnlich stiller als der Hauptteil der Universität, aber sie würde gut aufpassen müssen, dass niemand sah, wie sie durch die geheime Tür schlüpfte.

Der seltsame kleine Raum, der den Hauptteil mit dem inneren Teil der Universität verband, enthielt eine Wand mit abgeschlossenen Schränken. Anscheinend waren diese Räume kahl gewesen, bis der ehemalige Direktor der Universität gestorben war, und sein Nachfolger hatte beschlossen, dass kein Lagerraum verschwendet werden sollte. Lilia ging durch die Tür gegenüber und betrat die inneren Gänge.

Sie hatte zehn oder zwölf Schritte gemacht, als sie hörte, wie die Tür zu der anderen Seite des kleinen Raums geöffnet und wieder geschlossen wurde, gedämpft von der Tür hinter ihr. Wer immer ihr folgte, kam näher. Sie beschleunigte ihre Schritte in der Hoffnung, dass sie um eine Ecke biegen konnte, bevor diese andere Person auftauchen und sie sehen würde, aber die Entfernung war zu groß. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde, dann ein Lachen.

»Hey, Lilia«, rief jemand. »Wohin gehst du?«

Ihr wurde flau im Magen. Bokkin. Sie blieb stehen und drehte sich um, um ihn zu mustern. Wie dumm kann dieser Junge noch werden? Er weiß nicht, wie stark oder wie schwach ich bin. Er hat nicht einmal Freunde bei sich, mit denen er sich gegen mich verbünden könnte. Wenn er hofft, dass ich etwas im Schilde führe, für das er mich melden könnte, hätte er nicht nach mir rufen sollen, sondern mich stattdessen heimlich beobachten.

Trotzdem hatte er ihre Pläne durchkreuzt. Vielleicht war das alles, was er wollte.

»Bist du gekommen, um mir deine Kräfte anzubieten, Bokkin?«, fragte sie.

Er schlenderte auf sie zu. »Du hältst dich wohl für etwas ganz Besonderes? Du denkst, du seist besser als alle anderen, weil du schwarze Magie beherrschst? Es ist genau andersherum. Du bist der niedrigste Abschaum der Gilde, und alle hassen dich. Das ist der Grund, warum du keine Freunde hast. Alle wissen, dass Nakis Tod deine Schuld war.«

Sie spürte, wie etwas in ihr zusammenschrumpfte, aber das führte nicht dazu, dass sie vor ihm zurückwich, sondern schuf eine Leere, die sich schnell mit Zorn füllte.

Sei vorsichtig, ermahnte sie sich. Zeige Zorn, und er wird wissen, dass er dich getroffen hat, und eine versehentliche Verletzung eines anderen Novizen wird die Gründe nur mehren, warum die Leute dich nicht mögen.

Sie lächelte. »Bist du froh, dass du dir das von der Seele geredet hast, Bokkin?«

Er kam näher und versuchte, sie mit seiner Körperfülle und seiner Größe einzuschüchtern. »Ja. Aber ich bin noch nicht fertig mit dir. Ich will, dass du dich entschuldigst – nein, ich will, dass du mich anflehst …«

Die Tür hinter ihnen wurde geöffnet, und er trat schnell zurück.

»Lady Lilia.«

Verwirrung und Erleichterung stiegen in Lilia auf, als sie Jonnas Stimme erkannte. Sie spähte an Bokkin vorbei und schaute der näher kommenden Dienerin entgegen. Die Frau machte eine schnelle Verbeugung vor ihnen beiden.

»Es ist eine Nachricht für Euch gekommen«, sagte Jonna. Sie schob sich an Bokkin vorbei. »Entschuldigung, Mylord.«

Jonna legte Lilia eine Hand auf den Arm und führte sie durch den Gang, weg von Bokkin. Der Novize blieb still, und Lilia würdigte ihn keines Blickes. Sie und Jonna bogen um eine Ecke. Als sie weit genug gegangen waren, schaute Jonna zurück.

»Er folgt uns nicht. Hat er Euch belästigt?«

Lilia zuckte die Achseln. »Er ist ein Unruhestifter, aber ein ziemlich begriffsstutziger.«

»Nehmt das nicht auf die leichte Schulter. Er könnte mit anderen zurückkommen. Sonea hatte Feinde unter den Novizen, als sie hier gelernt hat, und sie haben ihr das Leben zur Hölle gemacht.«

»Wirklich? Wer war der Anführer?« Wie demütigend, sein Leben in dem Wissen zu leben, der Novize zu sein, der dumm genug war, die berühmte Schwarzmagierin Sonea gepiesackt zu haben.

Jonna wirkte erheitert. »Lord Regin.«

Lilia starrte sie erstaunt an. »Wirklich? Er ist nicht dumm.«

»Nein.«

»Ich schätze, die Tyrannen unter den Novizen waren damals klüger.«

Jonna tätschelte energisch ihren Arm. »Ich will wissen, wohin Ihr mit einer Flasche Lampenöl in Eurer Tasche unterwegs seid.«

Lilia schaute auf ihre Tasche hinab und sah dann wieder Jonna an. »Welche Flasche? Ich habe sie im Zimmer gelassen.«

»Das habt Ihr ganz gewiss nicht getan, und die Art, wie die Tasche sich ausbeult und hin und her schwingt, beweist, dass Ihr sie dort drin habt.« Jonna runzelte auf eine mütterliche, missbilligende Art die Stirn. »Ich habe Sonea versprochen, ein Auge auf Euch zu haben. Ich habe geholfen, Soneas Sohn großzuziehen, Lorkin, daher weiß ich, wie man es bemerkt, wenn ein Novize etwas im Schilde führt.«

Lilia sah die Dienerin entsetzt an. Es war nicht so, dass sie Jonna nicht erzählen wollte, dass Cery, Gol und Anyi unter der Gilde lebten, aber sie hatte versprochen, es nicht zu tun. Aber wenn ich es nicht tue, wird Jonna mir nicht die Dinge beschaffen, die sie brauchen.

Jonna hatte in den Hüttenvierteln gelebt, bevor sie Soneas Dienerin geworden war. Sie würde gewiss Verständnis für Cerys Situation haben. Und selbst wenn sie keines hatte, würde sie vielleicht aus Sympathie für Anyi helfen.

Oder bin ich zu vertrauensvoll?

»Sagt es mir, Lilia«, drängte Jonna. »Es wird mir vielleicht nicht gefallen, aber ich verspreche, ich werde es nicht der Gilde melden.« Sie runzelte die Stirn. »Nun, es sei denn, Ihr unterrichtet jemanden in schwarzer Magie. Obwohl ich annehme, dass ich Sonea und Akkarin nicht gemeldet hätte, wenn ich gewusst hätte, was wirklich vorging.«

»Ich unterrichte niemanden in schwarzer Magie«, erwiderte Lilia. Sie holte tief Luft und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Anyi lebt unter der Gilde.«

Jonna sah sie nachdenklich an. »Ich verstehe. Ich habe schon vermutet, dass sie Euch auf diesem Weg besucht. Ist es auch sicher?«

»Wir haben es sicherer gemacht«, entgegnete Lilia.

»Also … warum ist sie dort?«

Lilia schüttelte den Kopf. »Es war nicht mehr sicher in der Stadt. Skellins Leute hätten Cery beinahe getötet …«

»Ihr meint, Cery ist ebenfalls dort unten?« Jonnas Augen wurden schmal.

Lilia seufzte und nickte.

»Wie viele Leute sind da unten?«

»Nur sie.«

Die Dienerin wirkte erleichtert. Ich nehme an, sie hat sich vorgestellt, was die Gilde davon halten würde, wenn ein Dieb dort unten seine Geschäfte führen würde, dachte Lilia, während ständig alle möglichen Verbrecher kommen und gehen.

Jonna deutete auf den Flur. »Also, warum kommt Ihr hierher?«

»Wir haben einen der alten Eingänge geöffnet.«

Jonna runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich«, befand sie. »Und ich meine nicht, dass es unten zu gefährlich ist, ich meine, dass es hier oben zu gefährlich ist. Irgendjemand wird Euch sehen. Ihr dürft nur den Gang in Soneas Räumen benutzen.«

Lilia lächelte, erleichtert darüber, dass sie recht damit gehabt hatte, Jonna zu vertrauen. »Ist dir nicht aufgefallen, wie abgewetzt und schmutzig meine Roben in letzter Zeit waren?«

»Ihr Zustand ist mir nicht entgangen.« Jonna reckte das Kinn vor und warf Lilia einen hochmütigen Blick zu. »Was das betrifft, werden wir etwas unternehmen müssen. Zum Beispiel könnten wir Euch andere Kleider besorgen. In der Zwischenzeit«, sie bückte sich und öffnete Lilias Tasche, »nehme ich die Flasche mit, und Ihr geht direkt zum Unterricht. Heute Abend werden wir über effektivere Strategien reden, wie wir unseren Gästen helfen können.«

Sie hievte die Flasche Lampenöl hoch, bedachte Lilia mit einem strengen Blick, drehte sich um und schritt den Flur entlang zurück. Ein schwacher Hauch von ihrem Parfüm blieb in der Luft hängen, etwas, das Lilia zuvor nicht aufgefallen war.

Lilia schloss ihre Tasche und schüttelte den Kopf. Mir blieb nichts anderes übrig, als es ihr zu erzählen, überlegte sie. Und sie wird es niemandem verraten. Tatsächlich könnte es nützlich sein, dass sie jetzt alles weiß. Dann seufzte sie. In der Zwischenzeit hoffe ich, dass Cery, Gol und Anyi nicht im Dunkeln sitzen werden.

Dannyl tauchte seine Feder in das Tintenfass, dann schrieb er weiter, aber die Spitze begann schon bald, wirkungslos über das Papier zu kratzen. Er tauchte die Feder erneut ein, dann seufzte er, als er sah, dass sein Tintenvorrat fast erschöpft war. Sie ist mir wieder ausgegangen, dachte er. Er straffte sich und stöhnte, als sein Rücken protestierte. Wie lange arbeite ich schon daran?

Einen Tag nach Lorkins Einkerkerung hatte Dannyl all seine Forschungsnotizen zusammengefasst und begonnen, alles in ein großes Notizbuch zu übertragen. Seine Diskussion mit Tayend über die möglichen Absichten der Verräter hatte dazu geführt, dass er befürchtete, beim Eintritt der dramatischeren Szenarien, die sie für möglich hielten, vielleicht nicht mehr dazu zu kommen, alles in einer Form niederzuschreiben, die für andere verständlich war. Er hatte jede Menge Zeit totzuschlagen, und er kam mit seinen Forschungen ohnehin nicht weiter, also schrieb er seine Ergebnisse ins Reine und notierte dazu, an welcher Stelle sie jeweils in seine Geschichte der Magie eingefügt werden sollten.

Die Arbeit hatte sich als eine beruhigende, willkommene Ablenkung erwiesen. Sie versicherte ihm, dass er einige wichtige Entdeckungen über die Geschichte der Magie gemacht und seine Zeit in Sachaka nicht verschwendet hatte. Sobald er nach Kyralia zurückkehrte, würde er erhebliche Ergänzungen an seiner Geschichte der Magie vornehmen. Falls ich lange genug lebe, um das Buch zu beenden. Er schüttelte den Kopf. Nein, sei nicht dumm. Tayend hat dir zugestimmt, dass die schlimmsten Entwicklungen, die wir uns ausgemalt haben, zugleich die am wenigsten wahrscheinlichen sind.

Trotzdem hatte er beschlossen, eine zusätzliche Kopie anzufertigen, die an einem sicheren Ort irgendwo außerhalb des Gildehauses aufbewahrt werden sollte, so dass seine Arbeit, sollte dieses Gebäude angegriffen werden, nicht verloren sein würde. Idealerweise sollte sie an die Gilde gehen, aber er konnte sich nicht sicher sein, dass sie dort ankommen würde. Zweifellos hatte König Amakira Leute beauftragt, alles abzufangen und zu untersuchen, was das Gildehaus verließ oder dort ankam.

Für den Fall, dass seine Arbeit von Sachakanern gelesen wurde, hatte Dannyl bewusst jede Erwähnung von Edelsteinen mit magischen Eigenschaften unterlassen, abgesehen von dem berühmten Lagerstein, der die Ödländer geschaffen hatte. Er hatte sich eine Methode ausdenken müssen, Hinweise auf sie zu verbergen, wenn er seine Notizen über die Legenden der Duna-Stämme niederschrieb, so dass er das Vertrauen der Duna nicht missbrauchte, sollte jemand auf die Kopie stoßen. Die Steine waren jetzt Menschen – mächtige Magier, die er bei ihrem Titel nannte. Dannyl würde alle Erwähnungen dieser imaginären Figuren in Edelsteine zurückverwandeln müssen, wenn er dazu kam, sein Buch zu schreiben.

Nachdem er die erste kodierte Reinschrift seiner Notizen fertiggestellt hatte, hatte er sein ursprüngliches Notizbuch zerstört. Falls ich sterbe und jemand die neue Version findet, werde ich für einige sehr große Lügen in unserer Geschichtsschreibung verantwortlich sein. Nach all der Anstrengung, die er für die Ermittlung der Wahrheit über Teile von Kyralias verborgener Vergangenheit unternommen hatte, würde das eine traurige Ironie sein.

Jetzt stand er kurz davor, die Kopie fertigzustellen – nun, er hatte kurz davorgestanden, bis ihm die Tinte ausgegangen war. Eine Bewegung an der Tür erregte seine Aufmerksamkeit, und als er aufblickte, sah er, wie Kai sich auf den Boden warf.

»Ashaki Achati ist eingetroffen, Herr.«

Dannyl fluchte im Stillen über die widersprüchlichen Gefühle, die diese Neuigkeit in ihm auslöste – Vorfreude und Grauen. Er erhob sich. Ist Achati wütend auf mich, weil ich mein Versprechen gebrochen habe, ihm von allem zu erzählen, was Sachaka bedrohen könnte? Werde ich in der Lage sein, ihm zu verzeihen, dass er Lorkins Einkerkerung durch Amakira gebilligt hat? Ist jede Chance darauf, dass wir ein Liebespaar werden, dahin?

Der Sklave huschte aus dem Raum, als Dannyl den ersten Schritt auf die Tür zu machte. Mit einem tiefen Atemzug ging er durch den Flur und stellte fest, dass Achati bereits im Herrenzimmer wartete; er wirkte sehr würdevoll in einer schwarzen Version der typischen Ashaki-Hosen und der dazugehörigen kurzen Jacke.

»Botschafter Dannyl«, sagte er.

»Ashaki Achati«, erwiderte Dannyl. Er beschloss, nicht Platz zu nehmen oder Achati dazu aufzufordern. Er vermutete, dass er sich unpassend freundlich zeigen würde, wenn er nicht stehen blieb.

Achati zögerte, schaute weg und hob dann den Blick, um wieder in Dannyls Augen zu sehen.

»Ihr habt meine Einladung zum Abendessen ausgeschlagen«, bemerkte er.

Dannyl nickte. »Es wäre nicht passend gewesen, sie anzunehmen.«

»In Euren Augen oder in den Augen der Gilde und der Verbündeten Länder?«

»Beides.«

Achati wandte erneut den Blick ab, runzelte die Stirn und verlagerte sein Gewicht langsam von einem Bein auf das andere. Er sah aus, als denke er gründlich über seine Worte nach.

»Ich habe den König davon überzeugt, dass ich unsere Freundschaft weiterhin pflegen sollte …«, begann er.

»Damit Ihr weiter versuchen könnt, mich dazu zu überreden, Lorkin zu befehlen zu sprechen?«, beendete Dannyl seinen Satz.

»Nein.« Achati zuckte zusammen. »Nun, ja, soweit es ihn betrifft, ist das der Grund, aber ich habe nicht die Absicht, das zu tun.«

»Was beabsichtigt Ihr denn dann?«

Der Mund des Mannes zuckte, und um seine Augen bildeten sich Fältchen der Erheiterung. Was dazu führte, dass Dannyl ihr früheres Geplänkel vermisste.

»Zu versuchen zu retten, was von unserer Freundschaft übrig ist«, antwortete er. »Selbst wenn es bedeutet, so zu tun, als sei nichts von all diesen bedauerlichen Dingen geschehen.«

»Aber sie sind geschehen«, wandte Dannyl ein. »Ihr wärt genauso außerstande, Euch zu verstellen, wenn … wenn Euer Cousin oder …« Die Erinnerung an den Sklaven, an dem Achati so viel gelegen hatte, kam ihm in den Sinn. »Varn … vielleicht nicht Varn, da er ein Sklave ist.«

»Es würde mich beunruhigen, wenn Varn ungerecht behandelt würde«, gestand Achati.

»Ihr gebt also zu, dass Lorkins Einkerkerung ungerecht ist?«

Achati lächelte. »Nein. Wie würdet Ihr Euch fühlen, wenn … wenn der elynische Botschafter in Kyralia einen wilden Magier beschützte?«

»Damit es ein fairer Vergleich wäre, dürften wir in diesem Fall nicht wissen, ob der Mann ein wilder Magier ist oder nicht. Ihr wisst nicht, ob Lorkin nützliche Informationen besitzt, und wir weigern uns auch nicht, solche Informationen an Euch weiterzugeben, sondern bestehen lediglich darauf, Gelegenheit zu bekommen, unseren eigenen Mann zuerst selbst zu befragen. Und wenn es einen wilden Magier gäbe, nun, die Verbündeten Länder verfügen, dass alle wilden Magier Sache der Gilde sind.«

Achati seufzte. »Ja, Letzteres ist der entscheidende Unterschied. Kyralia und Elyne sind Verbündete. Ihr vertraut ihnen. Kyralia und Sachaka sind keine Verbündeten. Ihr erbittet mehr Vertrauen, als wir geben können.«

Dannyl nickte. »Ihr werdet lernen müssen, uns zu vertrauen, wenn wir in Zukunft Verbündete werden sollen.«

»Müsst Ihr dann nicht Eurerseits auch uns vertrauen?«

»Ihr habt die größere Überzeugungsarbeit zu leisten«, stellte Dannyl fest. »Wir haben jüngere aggressive Akte zu verzeihen, bevor wir Sachakanern vertrauen können.«

Achati seufzte erneut. Er sah Dannyl an und sagte nichts, bevor er schließlich die Pause in ihrem Gespräch mit einem Kopfschütteln beendete.

»Ich hatte gehofft, dass wir als Freunde reden könnten, aber stattdessen sprechen wir, als seien wir unsere Nationen. Ich sollte besser gehen.« Er machte jedoch keine Anstalten dazu. »Ich kann Euch zumindest versichern, dass es Lorkin gut geht. Der König wird es nicht wagen, ihm etwas anzutun. Aber hört nicht auf zu versuchen, ihn zu sehen. Und nun möchte ich mich verabschieden.«

»Gute Nacht.« Dannyl beobachtete, wie der Ashaki in den Eingangsflur trat und verschwand. Er wartete, bis er hörte, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde, dann ging er zu den Stühlen, setzte sich und stieß einen langen Seufzer aus.

»Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, wenn ich das sage, aber ich kaufe ihm nichts von alledem ab.«

Dannyl, der beim Klang dieser Stimme aufblickte, runzelte die Stirn, als Tayend den Raum betrat.

»Wie lange hast du spioniert?«

»Lange genug.« Tayend ging zu einem Stuhl und nahm Platz. »Du glaubst ihm doch nicht, oder?«

Dannyl dachte nach. »Welchen Teil?«

»Den, dass er dein Freund sein will nur um der Freundschaft willen.«

»Ich weiß nicht.«

»Gewiss vertraust du ihm nicht?«

Dannyl breitete die Hände aus. »Vertrauen war niemals inbegriffen.«

Der Elyner zog die Augenbrauen hoch. »Nun denn. Vielleicht sollte ich fragen, ob du ihn immer noch magst

Dannyl wandte den Blick ab und zuckte die Achseln. »Ich habe mir noch keine Meinung gebildet. Wie immer ich mich entscheide, es wird mich nicht daran hindern, Befehle zu befolgen oder Lorkin zu helfen.«

Tayend nickte. »Das weiß ich. Ich gebe zu, ich habe mir um dich Sorgen gemacht, aber du bist unter der Oberfläche immer noch der Alte.«

Dannyl richtete sich auf, um zu protestieren. »Und was soll sich oberflächlich geändert haben?«

Der Elyner stand auf und deutete mit einer Hand in Dannyls Richtung. »All … das

»Mir schwinden die Sinne angesichts der Klarheit deiner Ausdrucksweise«, entgegnete Dannyl.

Tayend öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen, dann schloss er ihn wieder und schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich gehe zurück in mein Zimmer. Ich muss ein Handelsabkommen aushandeln. Kopierst du immer noch deine Notizen?«

»Ja. Nein. Mir ist wieder die Tinte ausgegangen. Die Sklaven haben die Flasche heute Morgen anscheinend nicht wieder aufgefüllt.«

»Tatsächlich haben sie gestern Abend den letzten Rest der Vorräte in mein Fass geschüttet. Ich habe heute Morgen einen Sklaven ausgeschickt, um neue Tinte zu kaufen, aber er ist mit leeren Händen zurückgekommen.« Tayends Miene wurde ernst. »Es ist schwer, ihn zu verstehen. Wie es scheint, hat ihm jemand die Tinte weggenommen, aber er behauptet, er wisse nicht, wer, und er redet auf die Weise, wie Leute es tun, wenn sie lügen und wollen, dass du es weißt.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Jemand hat ihm die Tinte weggenommen? Ein Dieb?«

»Oder jemand, der für den König arbeitet. Vielleicht wollen sie nicht, dass wir Dokumente niederschreiben.«

Ein Frösteln überlief Dannyl. »Oder Kopien von Forschungsnotizen machen.«

»Gewiss nicht. Woher sollten sie wissen, dass du das tust?«

»Die Sklaven«, erwiderte Dannyl.

Tayend kniff die Augen zusammen. »Die nicht wissen werden, dass du nur Notizen über deine Forschungsarbeiten niederschreibst, nicht über Lorkins Entdeckungen.«

Dannyl seufzte. »Ich werde nicht in der Lage sein, diese zweite Kopie sicher an die Gilde zu schicken, nicht wahr?«

»Ich könnte mich mit der Vermutung irren, dass die Männer des Königs die Tinte genommen haben«, sagte Tayend. Er sah Dannyl nachdenklich an. »Oder auch nicht. Vielleicht solltest du diese Notizen besser mit Magie versiegeln, für den Fall, dass die Sklaven Befehl haben, sie dir zu stehlen.« Er machte einen Schritt auf den Flur zu, dann blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. »Ich werde dir mein Tintenfass bringen. Vielleicht können Merria oder ich weitere Tinte von unseren sachakanischen Freunden bekommen.«

10 Wenn keine Wahl gut ist …

Lorkin lag auf dem harten, kalten Boden der Zelle und versuchte, nicht zu hören, wie die Sklavin um Luft rang.

Ich kenne nicht einmal ihren Namen, dachte er. Gewiss sollte er zumindest den Namen der Frau kennen, die um seinetwillen so viel Schmerzen litt. Wegen der Verräter ebenso sehr wie um meinetwillen, rief er sich ins Gedächtnis. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, sie zu fragen. Nicht wenn er es bewusst vermied, sie zu heilen.

Wenn er es tat, würde der Ashaki, der die Befragungen durchführte, sie wieder von neuem verletzen.

Wenn er es nicht tat, könnte sie sterben. Dann würde der Mann einen anderen Sklaven finden, den er verletzen konnte. Zuerst hatte Lorkin überlegt, dass es besser war, wenn weniger Menschen verletzt und getötet wurden, aber sie hatte ihn angezischt, dass er wegbleiben solle, als er sich ihr genähert hatte, und dann noch einmal, als er versucht hatte zu erklären, dass er zumindest die Schmerzen lindern könne. Obwohl sie ihn nicht daran hätte hindern können, sie zu heilen – wenn sie ihrer schlimmen Lage entfliehen wollte, indem sie starb, hatte er das Gefühl, dass er ihre Wünsche respektieren sollte. Oder vielleicht würde der Schmerz irgendwann auch so stark werden, dass sie ihn doch bat, ihr zu helfen.

Es war ein sehr langer Tag gewesen. Ein schrecklicher Augenblick folgte einem weiteren und dann noch einem. Die Zeit dehnte sich zu weit aus, um ihr Verstreichen einzuschätzen. Bisweilen hatte er das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein, der niemals enden würde. Der Befrager schien seiner Arbeit nicht müde zu werden, noch gingen ihm Methoden aus, einem Menschen so viel Schmerz wie möglich zuzufügen und dabei nur minimalen Schaden anzurichten. Lorkin hatte Dinge gesehen, die er niemals vergessen würde. Er hatte Geräusche gehört, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würden. Er hatte Gerüche wahrgenommen, die kein zivilisierter Mensch jemals riechen sollte.

Er wusste, dass Schlaf unmöglich war, aber er versuchte es trotzdem. Als er den Versuch aufgab, tat er so, als schlafe er.

Ein verzerrtes Zischen kam von der Sklavin, und er war unverzüglich hellwach, und sein Herz hämmerte. Er sagte sich, dass sie nur den Schmerz zum Ausdruck brachte und nicht seine Aufmerksamkeit erregen wollte, aber das gleiche Muster von Geräuschen kam erneut. Langsam und widerstrebend drehte er sich um, um sie anzusehen.

Sie lag auf der Seite, zusammengerollt und ihren gebrochenen Arm an sich gedrückt. Ihre Augen waren weit offen, und sie starrte ihn an. Als ihre Blicke sich trafen, bewegte sie die Lippen, und obwohl kein Laut herauskam, waren die Worte klar, als hätte sie in seinem Geist gesprochen. Ihm wurde am ganzen Körper kalt.

Töte mich.

Er starrte sie ungläubig an. Nein, nicht ungläubig. Tod ist die einzige Flucht, die sie bekommen wird. Ich kann den Schmerz auslöschen, wenn sie es mir erlaubt, aber das ist nur der körperliche Teil der Folter. Das Grauen kann ich nicht beenden, ebenso wenig die Demütigung und die Angst.

Aber …

Seine Eingeweide krampften sich zusammen. Ich kann sie nicht töten. Seine Schuldgefühle vertieften sich, und er wandte sich ab. Es ist alles meine Schuld. Er schüttelte den Kopf. Nein. Das ist es nicht. Aber ich kann nicht so tun, als sei ich nicht teilweise verantwortlich für das, was mit ihr geschieht. Wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann …

Irgendetwas? Aber ich habe noch nie jemanden getötet. Es ist nicht so, als würde ich es nicht tun, wenn ich mich selbst oder jemand anderen verteidigen müsste, aber eine Person zu töten, die nicht versucht, irgendjemandem zu schaden, ist unrecht.

Ihre Lippen formten die flehentliche Bitte abermals.

Er erinnerte sich an Worte seiner Mutter, die sie vor langer Zeit gesprochen hatte: »Als Heiler können wir den Tod auf vielerlei Weise verhindern, aber manchmal sind die Grenzen dessen, was wir tun können, erreicht. Wenn ein Mensch nicht mehr zu retten ist und sterben will, dann kommt es einer Grausamkeit gleich, ihn am Leben zu erhalten.«

Während er dem bebenden Atem der Sklavin lauschte, wusste er, dass es grausam war, sie ohne Hoffnung auf Flucht leiden zu lassen.

Wie würde ich es überhaupt tun? Der Ashaki, der ihn bewachte, saß draußen vor der Zelle und beobachtete sie. Was immer Lorkin tat, es würde sanft und subtil genug sein müssen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich darüber nachdenke.

Irgendwann würde man den Tod der Sklavin bemerken. Was würden sie tun, sobald sie wussten, dass Lorkin sie getötet hatte? Er verspürte eine verräterische Erleichterung, als ihm die Antwort kam. Sie ist der Besitz des Königs – oder der Besitz von jemand anderem. Ich weiß nicht, wie schwerwiegend das Verbrechen ist, fremdes Eigentum zu zerstören, aber es wäre definitiv etwas, das sie mir vorhalten könnten.

Vielleicht hofften sie, dass er sie töten würde. Vielleicht würde es ihnen den Vorwand liefern, den sie brauchten, um seine Gedanken zu lesen oder Schlimmeres zu tun. Sobald er offiziell ein Verbrecher war, konnten sie ihm alles antun.

Je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde seine Überzeugung, dass dies ihr Plan war. Warum sonst schlossen sie sie jede Nacht mit ihm in die Zelle ein? Wenn er fortfuhr, sie zu heilen, würde er schon bald all die Macht aufbrauchen, die Tyvara ihm gegeben hatte. Aber das konnte nicht ihr einziges Ziel sein. Es gab jede Menge andere Methoden, wie sie seine Stärke anzapfen konnten, falls es das war, was sie wollten. Wenn sie nur die Absicht hatten, seine Entschlossenheit zu brechen, indem sie andere folterten, warum ließen sie die Sklavin dann in seiner Zelle? Sie konnten sie jederzeit in der Nähe einschließen, gerade eben außer Reichweite, so dass er ihr Leiden beobachten, ihr aber nicht helfen konnte.

Plötzlich wollte er sie töten, nur um ihnen eins auszuwischen.

Nein, das will ich nicht, sagte er sich schnell und schauderte bei dem Gedanken, dass er so leicht zum Mörder werden könnte.

»Töte mich«, erklang das Wispern von neuem. Ein Schauder überlief ihn.

Gab es eine Möglichkeit, sie zu töten, ohne Beweise für die Tat zu hinterlassen? Wenn die Verletzungen, die der Vernehmer ihr zugefügt hat, schlimm genug sind … nein, er würde sichergestellt haben, dass sie nicht so schlimm waren. Doch nach dem Geräusch ihres Atems zu urteilen, war etwas in ihrer Brust beschädigt. Vielleicht war eine Rippe angerissen oder gebrochen. Wenn er sie manipulieren konnte …

Aber das würde bedeuten, dass er heilende Kraft benutzte, um zu töten. Heiler sollten heilen, nicht schaden.

Nun, das war schon immer eine komplizierte Philosophie. Wenn man einen Körper aufschnitt, um einen Tumor zu entfernen, musste man schaden, um zu heilen. Und dann war da noch die Diskussion, die sich darum drehte, Menschen beim Sterben zu helfen. Und meine Mutter hat Heilung zur Verteidigung benutzt, um einige der Ichani zu töten, die in Kyralia eingefallen sind.

»Www …«

Ein leises Geräusch kam von dem Mädchen, und er drehte widerstrebend den Kopf, um sie wieder anzusehen. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Nein, korrigierte er sich, sie streckt die Hand nach meinen Beinen aus.

»Wwwasser«, keuchte sie.

Erleichterung stieg in ihm auf, als er begriff, dass sie jetzt nur um etwas zu trinken bat. Er zog sich in eine sitzende Position hoch. Der Sklave, der das Essen brachte, hatte eine Mahlzeit dagelassen. Lorkin hatte versucht, sie mit der Sklavin zu teilen, aber sie hatte sich geweigert, etwas zu essen. Er griff nach dem Wasserkrug und erstarrte, weil er sich an die warnenden Glyphen erinnerte, die darauf schließen ließen, dass es gefährlich war.

Ich frage mich, wie gefährlich …

Er zuckte vor dem Gedanken zurück, aber er ließ sich nicht verdrängen. Wenn das Wasser vergiftet war und sie es trank, würde sie vielleicht den Tod finden, den sie wollte, ohne dass irgendjemand außer ihm selbst wusste, dass es seine Schuld war. Nun, bis auf die Verräterin, die die Warnung hinterlassen hat. Ein Schauder überlief ihn.

Wenn die Sklavin eine Verräterin war, wusste sie vielleicht von den Warnungen. Sie könnte wissen, dass das Wasser sie töten würde. Er drehte sich zu ihr um. Sie erwiderte seinen Blick, und ihre Augen schienen zu sagen: Ja. Befreie mich.

Wenn sie eine Verräterin war, mussten sie wissen, dass sie hier war. Hatten sie ihr die Möglichkeit gegeben, sich zu töten?

Aber würde das Wasser sie töten? Er ließ den Arm sinken. Der Ashaki musste derjenige sein, der Lorkins Essen vergiftete. Gewiss versuchten sie nicht, ihn zu töten? Tot war er ihnen nicht von Nutzen. Höchstwahrscheinlich sollte das Gift im Wasser ihm Übelkeit bescheren oder ihn zwingen, mehr von seiner Stärke zu verbrauchen, indem er sich selbst heilte. Trotzdem, sie könnten überlegen, dass er, je stärker das Gift war, umso mehr Magie benutzen musste. Es könnte eine tödliche Dosis sein.

Die Frau gab einen leisen Laut von sich und streckte ihren unversehrten Arm nach dem Krug aus. Draußen vor der Zelle beobachtete der Beobachter sie beide.

Töte mich. Befreie mich.

Lorkin schaute von ihr zu dem Wasser. Er musste eine Entscheidung treffen. Und es gab keine richtige Entscheidung. Was er auch beschloss, die Konsequenzen würden schockierend sein. Was er auch beschloss, danach würde er nie wieder derselbe sein.

Nach der Art zu schließen, wie Lilia zugegeben hatte, dass sie Soneas Tante von ihrem Aufenthalt unter der Gilde erzählt hatte, war klar, dass sie dachte, dass sie wütend sein würden. Was erheiternd und liebenswert ist, wenn man bedenkt, dass sie eine Magierin ist und wir bloß einfache Leute, dachte Cery. Sie war ein wenig auf und ab gegangen, während sie erklärt hatte, dass die Dienerin ihr gefolgt war und was sie beide besprochen hatten. Jetzt wirkte sie überrascht, dass niemand die Neuigkeiten mit Sorge aufnahm.

»Es ist besser, dass Jonna es weiß, als dass irgendjemand sonst dort oben davon Kenntnis hat«, stellte Anyi fest. »Tatsächlich könnte sie nützlich sein.«

»Jonna hat mich nie gemocht«, bemerkte Cery. »Aber das war damals, als ich noch ein Junge war und sie dachte, ich würde Sonea verderben. Sie wusste, dass ich während der letzten zwanzig Jahre immer mal wieder in Soneas Zimmer geschlüpft bin, aber sie hat niemals jemandem davon erzählt. Die Chancen stehen gut, dass man ihr trauen kann.«

»Wenn Sonea ihr vertraut, schätze ich, ist sie in Ordnung«, stimmte Gol ihm zu.

Lilias Augen leuchteten auf. »Du hast Sonea während der letzten zwanzig Jahre besucht?«, fragte sie Cery.

Er zuckte die Achseln. »Natürlich. Du denkst doch nicht, dass irgendeine Regel, die verbietet, dass Magier Kontakt zu Verbrechern haben, sie daran hindern würde, mit ihren alten Freunden zu reden, oder?«

»Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass das einen von euch beiden an irgendetwas gehindert hätte. Ich frage mich, was die Leute sagen würden, wenn sie es wüssten. Es wäre ein Skandal, da bin ich mir sicher.« Lilia lächelte und setzte sich neben Anyi. »Sie würden außerdem endlich wissen, warum Sonea nie geheiratet hat.«

Cery runzelte die Stirn, als er begriff, dass sie angenommen hatte, seine Besuche seien romantischer Natur gewesen. »Moment mal. Ich habe nicht … das ist nicht der Grund, weshalb ich sie besucht habe.«

Gol begann zu lachen. »Du hast es gewiss so klingen lassen. Für einen Moment dachte ich, du hättest es während all dieser Zeit geschafft, etwas vor mir zu verbergen.«

Anyi drohte Lilia spielerisch mit dem Finger. »Mein Vater war während der letzten zwanzig Jahre glücklich verheiratet«, sagte sie entrüstet. Dann verzog sie das Gesicht. »Nun, jedenfalls während seiner zweiten Ehe – aber er war vorher mit meiner Mutter verheiratet, selbst wenn es nicht direkt das war, was man ›glücklich verheiratet‹ nennen würde.«

»Es tut mir leid. Ich wollte nicht andeuten, dass er untreu war«, entschuldigte sich Lilia.

Gol kicherte wissend.

Es war Zeit, das Thema zu wechseln, fand Cery. »Ich habe darüber nachgedacht, was wir als Nächstes tun sollten«, sagte er. Sofort richteten sich aller Augen auf ihn. Anyi wirkte eifrig, Lilia erleichtert, und Gol kniff die Augen zusammen, zweifellos bereit, Löcher in allen Plänen zu finden, die Cery ausgeheckt hatte. »Was wir tun, liegt auf der Hand, sobald wir angefangen haben, weniger darüber nachzudenken, dass wir hier festsitzen, und mehr darüber, dass wir unseren Aufenthalt hier in einen Vorteil verwandeln können.«

Jetzt wirkte Lilia ein wenig besorgt.

»Wir sind hier sicher – nicht weil Skellin nicht erraten haben wird, dass wir den Schutz der Gilde gesucht haben, sondern weil er es nicht riskieren wird hierherzukommen«, fuhr er fort. »Er wird annehmen, dass wir uns, wenn wir hier sind, in einem der Gebäude der Gilde befinden, unter magischem Schutz. Wenn er erführe, dass wir unter der Gilde sind und dass die Magier nichts davon wissen, würde er kommen und uns alle töten – und sehr selbstzufrieden sein, dass er es getan hat, ohne dass die Gilde es bemerkt hat.«

»Aber die Gilde würde es bemerken«, stellte Anyi fest. »Lilia weiß, dass wir hier sind, und sie wird ihn aufhalten, oder wenn sie es nicht kann, dann würde sie Hilfe holen.«

»Ja, aber das weiß Skellin nicht«, entgegnete Cery.

Gol stieß ein leises Knurren aus. »Nein«, sagte er.

Cery drehte sich zu seinem Freund um, erheitert über die in einem einzigen Wort zusammengefasste Ablehnung. »Warum nicht?«

»Dies ist für uns der letzte und einzige sichere Ort«, erwiderte Gol. »Wir können das Risiko nicht eingehen, ihn zu verlieren.«

»Wir haben durchaus noch einen weiteren sicheren Ort.« Cery deutete nach oben. »Den Schutz, von dem Skellin denkt, dass wir ihn bereits genießen.« Er zeigte auf den Raum, in dem sie saßen. »Dies hier ist unsere letzte und einzige Chance, ihn in eine Falle zu locken.«

»Eine Falle, die, wenn es schiefgeht, deinen Tod bedeutet«, widersprach Gol.

»Lilia wird ihn beschützen«, sagte Anyi, deren Augen leuchteten bei der Aussicht darauf, endlich etwas zu tun.

Lilia nickte. »Und Kallen. Du hast die Absicht, Kallen einzuweihen, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Cery. »Es ist ein bisschen viel verlangt, Lilia zu bitten, die ganze Bürde des magischen Schutzes allein zu schultern oder es mit zwei Magiern aufzunehmen, falls Skellin seine Mutter mitbringt.«

Anyi rieb sich eifrig die Hände. »Also, was werden wir als Köder benutzen?«

Gol schnaubte. »Es ist offensichtlich. Dein Vater beabsichtigt, Skellin mit etwas hierherzulocken, das er mehr will als alles andere.«

Lilia erbleichte ein wenig. »Schwarze Magie?«

»Nein«, antwortete Gol. »Skellin will die volle Kontrolle über die gesamte Unterwelt. Wenn er herausfindet, dass Cery noch lebt, wird er wissen, dass immer die Gefahr besteht, dass Cery versuchen wird, sich seine Macht zurückzuholen – mithilfe der Gilde. Er wird eine Menge riskieren, um ihn zu töten.«

Anyis eifriges Grinsen verschwand. Sie starrte Cery an und suchte in seinen Zügen, als hoffe sie auf ein Zeichen dafür, dass er scherzte. Als er nickte, runzelte sie die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gol hat recht. Das Risiko ist zu groß.«

»Was schlägst du dann vor? Was sonst würde ihn in Versuchung führen, das Risiko einzugehen, der Gilde so nahe zu kommen?«

Anyi sah Lilia an. »Schwarze Magie …«

»Er wird das Risiko nicht eingehen zu versuchen, sie gefangen zu nehmen. Sie könnte viele Male stärker sein als er selbst. Tatsächlich muss, damit dies funktioniert, offensichtlich sein, dass Lilia nicht hier ist. Er könnte glauben, dass die Gilde nicht weiß, dass ich hier bin, aber er wird nicht so leicht glauben, dass sie es nicht weiß. Lilia wird sich irgendwo anders sehen lassen müssen, bevor er herkommen wird, um nach mir zu suchen.«

»Aber ihr werdet hier einen Magier brauchen«, wandte Lilia ein. »Oder ihr werdet nicht in der Lage sein, ihn daran zu hindern, euch alle zu töten.«

Er nickte. »Ja. Kallen. Sag ihm, dass wir einen Plan haben, Skellin in die Falle zu locken, und frage ihn, wie wir uns mit ihm in Verbindung setzen sollen, wenn wir bereit sind. Natürlich darfst du ihm nicht verraten, wo die Falle zuschnappen wird. Ich habe das Gefühl, dass er beschließen würde, dass es wichtiger ist, Leute aus diesen Gängen fernzuhalten, als Skellin zu fangen.«

Lilia nickte. Anyi schüttelte den Kopf. »Mir gefällt das nicht«, sagte sie.

Cery verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum?«

»Ich …« Sie wandte den Blick ab und zog die Brauen zusammen. Dann stand sie abrupt auf, griff nach einer Lampe und stolzierte aus dem Raum.

Mehrere Herzschläge lang war alles still. Lilia sah Cery und Gol an, dann eilte sie hinter Anyi her.

Cery starrte die leere Tür an. Sein Herz krampfte sich auf eine Weise zusammen, die gleichzeitig schmerzhaft und angenehm war. Er wollte niemandes Leben aufs Spiel setzen. Gewiss nicht sein eigenes. Aber sie konnten nicht für immer hierbleiben.

Rückblickend erinnerte er sich an die zornige, trotzige junge Frau, mit der er in Verbindung zu bleiben versucht hatte, nachdem er sich von ihrer Mutter getrennt hatte. Anyi hatte ihn gehasst – oder zumindest hatte sie sich so benommen, als hasste sie ihn. Das Wissen, dass er sie irgendwie für sich gewonnen hatte, war eine bittersüße Freude. Der Preis, den sie dafür gezahlt hatten, war ihre Sicherheit.

Aber andererseits genügte ihre Verwandtschaft mit ihm vollauf, um ihr Leben gefährlich zu machen, vor allem solange ein wilder Magier und Dieb die Unterwelt regierte und dieser Magier Cery hasste.

»Ausnahmsweise einmal sind deine Tochter und ich einer Meinung«, erklärte Gol mit leiser Stimme. »Es ist zu gefährlich.«

»Lass uns abwarten, was Kallen dazu sagt«, erwiderte Cery.

Binnen weniger Schritte verlangsamte Anyi das Tempo, damit Lilia sie einholen konnte, aber sie blieb nicht stehen.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Lilia.

Anyi schüttelte den Kopf. »Nein. Ja. Ich … ich muss nachdenken.«

Ihr Tonfall deutete an, dass sie nicht in der Stimmung war zu reden, daher blieb Lilia still. Sie zog Magie in sich hinein, um eine Lichtkugel zu schaffen, und Anyi drehte wortlos die Flamme ihrer Lampe herunter, um Öl zu sparen. Sie gingen nicht weit. Nach einigen hundert Schritten wurde Anyis Gang entschlossener, und schon bald wurde klar, dass sie Lilia zu einigen Räumen näher bei der Universität führte, die sie vor kurzem entdeckt hatte.

Anyi wählte willkürlich einen Raum aus, dann setzte sie sich in Ermangelung von Stühlen auf den Boden, mit dem Rücken zur Wand. Lilia setzte sich neben sie und wischte dabei unbeabsichtigt über eine zerbrochene, verstaubte Platte. Sie säuberte sie ganz, und auf der Unterseite wurde ein Gildesymbol sichtbar. Diese Platte ist nicht besonders alt. Ich frage mich, wie sie hierhergekommen ist.

»Es sollte mich nicht kümmern«, bemerkte Anyi.

Lilia drehte sich zu ihr um. »Natürlich sollte es das. Er ist dein Vater.«

Anyis Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Kein besonders guter. Den größten Teil meines Lebens hat er mich ignoriert. Erst als seine andere Familie ermordet wurde, hat er mir Aufmerksamkeit geschenkt.«

Nicht sicher, was sie erwidern sollte, sagte Lilia nichts.

»Aber das ist nicht wirklich fair«, fügte Anyi mit leiserer, weicherer Stimme hinzu. »Mutter hat ihn verlassen. Sie sagte, es sei nicht sicher, die Ehefrau eines Diebes zu sein, und dass sie es nicht ertragen könne, sich ständig verstecken zu müssen. Ich denke nicht, dass zwei Menschen gezwungen sein sollten, zusammen zu sein, wenn sie es nicht wollen.«

»Wie ist es gekommen, dass Cery wieder geheiratet hat?«, fragte Lilia. Eine Scheidung war etwas, das nur der König gewähren konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Dieb den König bat, seine Ehe zu beenden.

Anyi zuckte die Achseln. »Er hat es einfach getan.«

»Aber das ist …«

»Bigamie?« Anyi sah Lilia an und zuckte die Achseln. »Nicht wirklich. Niemand in der Unterwelt kann sich eine legale Heirat leisten. Ich nehme an, Cery könnte es, aber warum eins der Gesetze des Königs beachten, wenn man den restlichen nicht viel Beachtung schenkt? Wir haben unsere eigenen Methoden, uns für verheiratet zu erklären – oder für unverheiratet.«

Lilia schüttelte staunend den Kopf. »Es ist eine vollkommen andere Welt.« Sie zuckte die Achseln. »Obwohl ich das auch von der Familie sagen könnte, in deren Dienst meine Eltern standen. Wir mögen ein Teil ihrer Welt gewesen sein, aber wir waren nicht in ihrer Welt. Es wäre schön gewesen, so reich zu sein und andere herumkommandieren zu können, aber manchmal hatten sie noch weniger Entscheidungsfreiheit als wir, was ihr Leben betraf. Sie dürfen nicht entscheiden, wen sie heiraten, und sie müssen den König um eine Scheidung bitten – und hoffen, dass er sie gewährt.«

»Vielleicht ist das der Grund, warum Sonea nie geheiratet hat. Sie stammt nicht aus den Häusern, daher hat sie keine Familie, die darüber entscheidet, wen sie heiratet, aber sie hätte eine legale Heirat eingehen müssen, wenn sie sich hätte vermählen wollen, und wenn sie ihre Ehe dann beenden wollte, hätte sie hoffen müssen, dass der König es ihr erlaubte.«

Lilia kicherte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Mann sie herumkommandiert.«

Anyi grinste. »Nein. Es wäre wahrscheinlich andersherum gewesen.« Aber als sie Lilias Blick begegnete, wurde sie wieder ernst. Sie schaute weg und seufzte. »Er wird nur erreichen, dass Skellin ihn tötet. Er lässt mich endlich in seine Welt, und jetzt werde ich ihn verlieren.«

»Nur wenn etwas schiefgeht – und wir werden sicherstellen, dass das nicht passiert.«

Anyi warf ihr einen anklagenden Blick zu. »Du denkst, dass er recht hat.«

»Nein.« Lilia schüttelte den Kopf. »Aber ich vermute, dass wir kein großes Mitspracherecht dabei haben werden.«

Anyi runzelte die Stirn, dann wurde ihre Miene nachdenklich. »Du könntest ihm sagen, dass Kallen es nicht tun will. Und Cery eine Weile hinhalten.«

Lilia nickte. »Das könnte ich. Aber dann würde er vielleicht versuchen, es ohne Kallen zu machen.« Sie dachte an Cerys Worte zurück. »Ich kann nicht umhin zu denken, dass er in einem Punkt recht hat: Skellin wird erraten, dass ihr alle hierhergekommen seid. Wohin sonst solltet ihr gehen? Er weiß wahrscheinlich von den Tunneln. Es ist kein Geheimnis in der Gilde, daher bezweifle ich, dass es außerhalb der Gilde eines ist. Er wird irgendwann herkommen, um nachzusehen. Wenn er es tut, wird er euch hier finden. Und wenn ich im Unterricht bin, werde ich ihn nicht daran hindern können, euch alle zu töten.«

Anyi drehte sich um, um Lilia anzusehen, eine steile Sorgenfalte zwischen den Brauen.

»Vielleicht ist die einzige Möglichkeit, wie ihr in Sicherheit sein könnt, der Schutz der Gilde«, fuhr Lilia fort. »Ich weiß, dass diese Idee keinem von euch gefällt, aber wenn Cerys Falle versagt, werdet ihr ohnehin bei der Gilde landen. Ich nehme an, der Gilde wird es ebenfalls nicht gefallen, aber sie wird eher bereit sein, euch zu beschützen, wenn Beweise dafür vorliegen, dass Skellin tatsächlich die unterirdischen Tunnel der Gilde betreten hat.«

Anyi stöhnte und rieb sich das Gesicht. »Was du sagst, ergibt Sinn, aber es gefällt mir nicht.«

»Mir gefällt es auch nicht«, erwiderte Lilia. »Aber ich weiß, dass ich euch nicht den Schutz geben kann, den ihr braucht. Im Wesentlichen weil ich nicht allzu oft hier bin, aber auch weil ich nicht weiß, wie mächtig Skellin ist. Wenn er mit Lorandra herkommt, bezweifle ich, dass ich in der Lage sein werde, mich selbst zu beschützen, geschweige denn euch andere. Selbst wenn er das nicht tut, wie wollt ihr mich wissen lassen, dass ihr meine Hilfe braucht? Was, wenn ich nicht rechtzeitig hier bin?«

»Wir werden einen Fluchtweg benutzen.«

»Was ist, wenn ihr es nicht schafft? Selbst wenn ihr es tut, werdet ihr auf dem Gelände der Gilde auftauchen, und wenn er euch dann immer noch folgt, werdet ihr ohnehin die Gilde um Hilfe bitten müssen.« Lilia seufzte, und die Frustration und Sorge der letzten Wochen schwangen in ihren Worten mit. »Es ist nicht sicher hier unten, und ihr könntet behaglicher leben, und es ist so schwer, euch Essen zu bringen, und … ich vermisse dich.«

Bei diesem letzten Eingeständnis versiegte die Flut der Worte, die aus ihr hinausgeströmt waren. Ihr Gesicht wurde heiß, und sie sah Anyi töricht an. Das andere Mädchen zeigte einen seltsamen, überraschten Ausdruck.

»Ich meine, ich vermisse es, mit dir allein zu sein. Vielleicht ist das ein wenig egoistisch«, begann sie. »Ich …«

Aber sie bekam keine Entschuldigung heraus, weil Anyi sich vorbeugte, ihr Kinn umfasste und sie küsste.

»Ich vermisse dich ebenfalls«, sagte sie leise und grimmig.

Dann zog sie Lilia an sich. Eine Weile hielten sie einander einfach umfangen und trösteten sich in körperlicher Wärme und Nähe. Allzu bald seufzte Anyi und löste sich von Lilia.

»Cery wird sich fragen, wohin wir gegangen sind«, murmelte sie.

Sie stand auf und streckte Lilia eine Hand hin. Als Lilia sie nahm, zog Anyi sie auf die Füße, aber in derselben Bewegung drückte sie Lilia wieder an sich und küsste sie erneut. Diesmal war es ein langer Kuss, als hätte sie ihre letzten Worte vergessen.

Ein Schritt, gefolgt von einem scharfen Einatmen, riss Lilia jäh in ihre Umgebung zurück. Sie und Anyi sprangen auseinander und wirbelten zu der Tür herum. Anyi nahm Kampfhaltung ein. Lilia hatte Magie in sich hineingezogen und einen Schild geformt, bevor sie sah, dass nur Cery in der Tür stand.

Sein Gesicht war vor Überraschung erstarrt. Als Anyi einen Fluch murmelte, veränderte sich Cerys Miene, und anstelle der Überraschung waren da jetzt Verlegenheit und Erheiterung.

»Ich wollte nicht stören«, sagte er und machte einen Schritt rückwärts. »Kommt zurück, wenn ihr so weit seid.«

Dann drehte er sich mit einem kaum unterdrückten Lächeln um und eilte davon.

Anyi schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte. Lilia drückte mitfühlend die Schulter ihrer Freundin. Ich würde auch nicht wollen, dass mein Vater auftaucht, wenn ich eine andere Frau küsse. Während Anyis Schultern zu zittern begannen und sie anfing, erstickte Laute von sich zu geben, krampfte sich ihr Herz zusammen, bis sie sah, dass ihre Freundin die Hände an den Mund hob, und sie begriff, dass Anyi lachte.

»Nun«, sagte Lilia, während sie darauf wartete, dass Anyi aufhörte. »Das ist nicht die Reaktion, die ich erwartet habe.«

Anyi schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann ich mir vorstellen.« Sie holte einige Male tief Luft und hatte große Mühe, nicht sofort wieder loszuprusten. »Ich mache mir seit Monaten Gedanken, wie ich es ihm beibringen soll. Jetzt brauche ich es nicht mehr zu tun.«

»Du wolltest ihm von uns erzählen?«

»Natürlich.«

»Aber … wird er nicht ärgerlich sein?«

»Nein. Ein wenig entsetzt vielleicht. Habe ich dir je erzählt, wo er zur Welt gekommen und aufgewachsen ist?«

Lilia schüttelte den Kopf.

»Nun, eigentlich muss er seine Geschichte selbst erzählen – und tatsächlich sind es viele Geschichten. Es war ein Ort, an dem man Menschen mit allen möglichen Geschmäckern und Ideen trifft.« Anyi ergriff Lilias Hand. »Komm. Wir sollten wirklich gehen. Er wird sich Sorgen machen, dass wir zu verärgert oder verlegen sind, um zurückzukommen. Und ich will sicherstellen, dass sein närrischer Plan so narrensicher ist wie möglich.«

11 Eine Planänderung

Die Worte auf der Seite vor Dannyl waren so grau wie ein bedeckter Himmel. Tayend hatte Dannyl seinen mageren Vorrat an verbliebener Tinte gegeben, und da es weder die Sklaven noch Merria geschafft hatten, neue Tinte ins Gildehaus zu bringen, musste Dannyl mit Wasser verdünnen, was noch übrig war. Er befolgte Tayends Rat und verschloss seine Forschungsnotizen jetzt mit Magie, wann immer er mit der Arbeit an ihnen fertig war.

Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit gerade rechtzeitig auf die Tür, um zu sehen, wie Kai sich auf den Boden warf.

»Eine Kutsche vom Palast ist eingetroffen, Herr«, sagte der Sklave.

Wieder Achati. Er seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Es wird nicht einfacher. Er öffnete die Augen, trocknete die Tinte auf der Seite, säuberte seine Feder, verstaute alles in einer Schublade und schützte es mit Magie. Dann entließ er Kai, straffte sich und machte sich auf den Weg zum Herrenzimmer.

Der Türsklave hüpfte buchstäblich von einem Fuß auf den anderen, bis er Dannyl sah und sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden warf.

»Lord Lorkin ist zurückgekehrt, Herr!«, erklärte er.

Dannyls Herz setzte einen Schlag aus. »Lorkin?«

Er eilte los, aber Soneas Sohn kam bereits aus dem Eingangsflur. Als der junge Mann den Raum betrat, überlief Dannyl ein Frösteln. Irgendetwas ist mit ihm passiert, dachte er, obwohl er sich nicht sicher war, woher er es wusste. Dannyl musterte Lorkin. Da war keine Spur einer Verletzung, obwohl es schwer zu erkennen war, da die Gilderoben so viel verbargen. Abgesehen von dunklen Ringen unter den Augen, die auf Schlafmangel schließen ließen, sah Lorkin gut aus.

»Botschafter Dannyl«, sagte er.

»Ihr seid frei!« Dannyl musste sich den Drang verkneifen, den jungen Mann zu umarmen, und griff stattdessen in der üblichen Geste kyralischer Begrüßung nach Lorkins Arm. »Was ist passiert? König Amakira hat Euch gehen lassen?«

»Ja«, antwortete Lorkin.

»Wisst Ihr, warum?«

Lorkin wandte den Blick ab. »Das hat er nicht gesagt.«

Dannyl trat zurück. Lorkins Stimme war flach und ausdruckslos. Er sollte erleichtert sein. Verwirrt über seine unerwartete Entlassung. Zornig, dass er überhaupt eingekerkert worden war.

»Kommt und setzt Euch.« Dannyl führte Lorkin zu den Stühlen, aber der junge Mann setzte sich nicht hin. »Seid Ihr verletzt?«

»Nein.«

»Haben sie Eure Gedanken gelesen? Oder es versucht?«

»Nein.«

»Lord Lorkin, ich dachte, ich hätte Euren Namen gehört.«

Sie schauten beide auf und sahen Tayend in der Tür stehen. Der Elyner kam herbeigeeilt und streckte die Arme nach dem jungen Magier aus, als wolle er ihn umarmen, aber dann ließ er die Arme zu Dannyls Erheiterung im letzten Moment wieder sinken. Er bedachte Lorkin mit einem kritischen Blick.

»Ihr seht nicht allzu schlecht aus für jemanden, der in ein Gefängnis gesperrt war«, bemerkte er. »Aber sie hätten es nicht gewagt, Euch körperlichen Schaden zuzufügen. Wie fühlt Ihr Euch?«

Lorkin zuckte die Achseln, aber seine Augen verrieten die gleiche ausweichende Wachsamkeit, die Dannyl zuvor aufgefallen war. »Müde. Hungrig. Ich könnte ein Bad gebrauchen.«

Tayend schnupperte und lächelte. »In diesem Punkt habt Ihr recht. Ich nehme nicht an, dass es im Palastgefängnis Badezuber mit heißem Wasser gibt. Bringen wir Euch in die absolut zivilisierten Bäder des Gildehauses. Ich werde die Sklaven etwas Nahrhaftes zubereiten und frische Roben für Euch besorgen lassen.«

Lorkin nickte, aber bevor er den Versuchen des Elyners erlag, ihn aus dem Raum zu geleiten, griff er in seine Roben und drehte sich zu Dannyl um. Wortlos zog er eine Schriftrolle hervor. Dannyl bemerkte König Amakiras Siegel, bevor er wieder zu dem jungen Mann aufschaute. Lorkins Augen waren hart und wissend.

Dann drehte er sich um und ging.

Dannyl setzte sich und brach das Siegel auf. Es war ein offizieller Befehl des Königs, der lediglich erklärte, dass es Lorkin verboten sei, das Gildehaus zu verlassen. Es wurde kein Grund für seine Entlassung aus dem Palastgefängnis genannt. Seine Einkerkerung wurde überhaupt mit keinem Wort erwähnt. Was habe ich erwartet? Eine Entschuldigung?

Tayend kam zurück und setzte sich neben Dannyl.

»Es geht ihm nicht gut«, murmelte der Elyner.

»Nein«, stimmte Dannyl ihm zu.

»Was immer sie ihm angetan haben – oder ihn zu tun gezwungen haben –, er ist nicht bereit, darüber zu reden. Ich werde ihn im Auge behalten und es dich wissen lassen, falls er mir davon erzählt – natürlich nur, falls er mir nicht das Versprechen abnimmt, es geheim zu halten.«

»Natürlich.«

»Also, was steht drin?« Tayend deutete mit dem Kopf auf die Schriftrolle.

»Es ist Lorkin verboten, das Gildehaus zu verlassen.«

Tayend nickte. »Dann ist er also nicht vollkommen frei.« Er streckte die Hand aus und tätschelte Dannyls Arm. »Er ist raus aus dem Kerker. Das zumindest ist etwas Gutes.« Er stand auf. »Ich muss das melden. Und du solltest es besser Administrator Osen erzählen.«

Dannyl beobachtete, wie Tayend davoneilte, und brachte ein trauriges Lächeln zustande. Wenn sich herausstellte, dass es Lorkin tatsächlich widerstrebte, über das zu reden, was ihm im Gefängnis angetan worden war, war Tayend derjenige, der ihn wahrscheinlich am ehesten zum Sprechen bringen konnte. Er konnte unheimlich scharfsinnig und feinfühlig sein, wenn es um die Probleme anderer Menschen ging. Nur nicht, als es um unsere Probleme ging, rief Dannyl sich ins Gedächtnis.

Ich hoffe, dass Lorkin nicht hier ist, weil sie ihn gezwungen haben, die Verräterinnen zu betrügen. Es könnte sehr schlimm für sie sein – und auch für uns, wenn es bei dem, was Lorkin und Osen besprochen haben, um eine Zusammenarbeit mit ihnen ging.

Osen. Wie Tayend festgestellt hatte, würde der Administrator von Lorkins Rückkehr wissen wollen. Also griff er in seine Roben, zog Osens Blutring heraus, atmete tief durch und streifte den Ring dann auf seinen Finger.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Sonea leise aus, als sie zu dem Schild des Bleibehauses hinaufschaute.

»Was ist denn los?«, fragte Regin.

Sie sagte nichts, weil gerade ein untersetzter Mann in der Tür erschienen war.

Er verneigte sich. »Mylord und Mylady! Kommt herein! Kommt herein!«, begrüßte sie der Mann. »Ich bin Fondin. Willkommen in Ferguns Rast, dem besten Bleibehaus in ganz Kyralia.«

Sie hörte Regin leise lachen, aber er sagte nichts, als sie durch die Tür trat. Wie immer war das Erdgeschoss dem Gastraum und Ausschank vorbehalten. Trotz der späten Stunde herrschte einiger Betrieb, und der Raum hallte wider von vielen Stimmen. Die Kleidung der Gäste legte die Vermutung nahe, dass sie Einheimische waren und sich für den Anlass fein gemacht hatten. Einige blickten zu ihr und Regin auf, und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung.

»Bitte, setzt Euch für einen Moment, und ruht Euch aus«, lud Fondin sie ein und deutete auf eine stillere Ecke. »Benötigt Ihr ein Zimmer oder zwei?«

»Bei Euch ist heute Abend viel los«, bemerkte Sonea.

»Ja. Wir sind Gastgeber einer Feier, und viele Leute sind von fern hergekommen«, erwiderte Fondin. »Aber macht Euch keine Sorgen wegen des Lärms. Wir werden zu einer angemessenen Stunde ein Ende finden, dann wird es hier schön ruhig sein.«

Wie aufs Stichwort wurde es leiser im Raum. Sonea hörte gezischtes Flüstern. Fondin drehte sich wieder zu ihnen um, dann fiel sein Blick auf Soneas Roben, und seine Augen weiteten sich. Er hatte in dem schwachen Licht draußen die Farbe offensichtlich nicht bemerkt. Selbst in dem gedämpften Lampenlicht konnte sie sehen, dass er erbleichte.

»Was ist der Grund für die Feier?«, erkundigte sie sich.

»H-H-H-Hochzeit«, stotterte Fondin.

»Dann richte der Braut und dem Bräutigam meine Glückwünsche aus.« Sonea lächelte. »Bleiben die beiden heute Nacht hier?«

»N-N-N-N…« Fondin holte tief Luft und straffte sich. »Nein, sie werden heute Nacht zu ihrem neuen Haus gehen.«

Aber viele der Hochzeitsgäste würden hierbleiben, vermutete sie.

»Auch noch ein neues Haus. Nun, wir werden nicht mehr von deiner Zeit beanspruchen. Ich bin mir sicher, wir können mit einem Zimmer zurechtkommen«, erklärte ihm Sonea. »Mit getrennten Betten und einem Wandschirm für etwas Privatsphäre natürlich. Wir werden dort essen, damit du deine volle Aufmerksamkeit deinen Gästen widmen kannst. Könntest du uns direkt zu unserem Zimmer führen?«

Fondin nickte, dann verbeugte er sich obendrein tief, bevor er herumfuhr und sie die Treppe hinaufführte. Er hielt vor mehreren Türen inne, rang die Hände und führte sie dann mit offensichtlichem Widerstreben zu einem Raum am Ende des Flurs. Als er die Tür öffnete, sah Sonea zu ihrer Freude, dass es ein ziemlich schlichtes Zimmer war, mit einem Einzelbett, aber ohne Spuren eines gegenwärtigen Bewohners. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass er Gäste aus ihren Zimmern werfen würde oder dass keines der Zimmer frei war. Bleibehäuser entlang der Hauptrouten wurden von der Gilde dafür bezahlt, zu jeder Zeit ein Zimmer freizuhalten, und jeder erwartete, dass es ihr bestes Zimmer sein würde, aber es musste verlockend sein, Gäste dort unterzubringen, wenn der Andrang groß war, vor allem bei seltener benutzten Routen wie dieser hier.

»Dies wird genügen«, sagte sie.

»Ich werde ein zweites Bett und einen Wandschirm bringen lassen, Mylady«, erwiderte er und eilte davon.

Sie betrat den Raum, und Regin folgte ihr.

»Sollte ich mich erbieten, auf dem Boden zu schlafen?«, fragte Regin.

Als Sonea sich umdrehte, sah sie ihn lächeln. »Ich werde nicht allen den Abend verderben, indem ich darauf bestehe, das beste Zimmer zu bekommen oder zwei Zimmer, aber auf dem Boden schlafen, das ginge doch ein wenig zu weit.«

Kurz darauf waren die notwendigen Arrangements getroffen. Eine großzügige Mahlzeit und eine Flasche Wein wurden auf einem kleinen Tisch bereitgestellt. Der Wein war sehr gut. Zu teuer, selbst für eine einheimische Hochzeit, vermutete Sonea. Wahrscheinlicher war, dass die Gilde dafür gesorgt hatte, dass es hier einen Vorrat von anständigem Wein für ihre Mitglieder gab.

»Habt ihr mehr von diesem Wein?«, fragte sie die junge Frau, als diese zurückkehrte, um das Geschirr abzuräumen.

»Ja, Mylady.«

»Ist das jungverheiratete Paar noch hier?«

»Sie werden gleich aufbrechen, Lady.«

»Gib ihnen eine Flasche als Hochzeitsgeschenk.«

Die Augen der jungen Frau weiteten sich. »Ja, Lady.«

Regin schürzte die Lippen, dann erhob er sich zu Soneas Überraschung von seinem Stuhl und folgte der Frau leise nach unten. Als er zurückkehrte, sah Sonea ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich habe nur sichergestellt, dass das Geschenk die Empfänger auch erreicht«, erklärte er und setzte sich. »Also. Ferguns Rast.« Regin runzelte die Stirn. »Ist er nicht geflohen, als die Ichani das Fort angegriffen haben?«

»Er hat sich versteckt. Was das einzig Vernünftige war.«

»Und feige.« Regin zuckte die Achseln. »Aber niemand, der dergleichen noch nicht erlebt hat, kann mit Sicherheit wissen, wie er reagieren wird, wenn er in einer wichtigen Schlacht seinen Mann stehen soll. Ein Bleibehaus nach ihm zu benennen?« Er schüttelte den Kopf. »Sagt mir, dass es überall in Kyralia Bleibehäuser gibt, die nach Magiern benannt wurden, die im Krieg starben, nicht nur nach Fergun.«

»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es.« Sie verzog das Gesicht. »Es ärgert mich mehr, dass ein Mann, der meinen Freund eingesperrt hat, damit er mich erpressen konnte, etwas hat, das nach ihm benannt wurde, aber das ist ein zu persönlicher Groll, um es zu rechtfertigen, ihn nicht mit dem Rest der Toten zu ehren.«

Regin sah sie an. »Ah, das stimmt. Er wollte Euch entehren und aus der Gilde werfen lassen, um sicherzustellen, dass niemand aus den unteren Klassen sich wieder der Gilde anschließen würde.«

»Ja. Wenn er heute lebte, wäre er entsetzt über die Veränderungen in der Gilde.«

»Man kann nie wissen. Er könnte nach der Invasion seine Meinung geändert haben. Das haben viele Menschen getan.«

Sie schaute zu ihm auf. Er hielt ihrem Blick für einen Moment stand. In seinen Augen lag ein erwartungsvoller Ausdruck. Worauf wartet er? Dass ich einräume, dass er jetzt ein viel besserer Mensch ist? Auf die Beteuerung, dass ich ihm nicht mehr grolle? Oder das Eingeständnis, dass ich gelernt habe, selbst ihm zu vertrauen? Ihn vielleicht sogar zu mögen? Nun, möglicherweise sollte ich nicht so weit gehen. Sie holte Luft, um zu sprechen.

– Sonea?

Administrator Osens Stimme in ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken. Sie stieß den Atem in einem erstickten Keuchen aus. Es war immer überraschend, wenn sich jemand durch einen ihrer Blutringe mit ihr in Verbindung setzte, da sie nie wusste, wann die andere Person den Ring überstreifen würde.

– Osen!

– Ich habe gute Neuigkeiten, sandte Osen. König Amakira hat Lorkin freigelassen.

Erleichterung schlug über ihr zusammen, gefolgt von einer neuen Sorge.

– Geht es ihm gut?

– Ja. Wir denken nicht, dass er gefoltert oder irgendwie verletzt wurde, obwohl Dannyl vermutet, dass die Erfahrung quälend war.

– Wird er bald nach Hause aufbrechen? Sollte ich mich mit ihm treffen und ihn nach Kyralia begleiten?

– Amakira hat ihm verboten, das Gildehaus in Arvice zu verlassen.

– Oh.

Zorn loderte in ihr auf, dann eine stillere Verwunderung. Warum Lorkin freilassen und ihn dann zwingen, im Land zu bleiben?

– Zumindest ist er einer Rückkehr nach Hause einen Schritt näher gekommen. Wir werden fortfahren, durch Dannyl darauf zu bestehen, dass Lorkin eine Rückkehr nach Kyralia gestattet wird.

– Und durch mich selbst?

– Ja. Es ist nicht nötig, unsere Pläne zu ändern, und Ihr müsst Euch immer noch um die andere Angelegenheit kümmern.

– Natürlich.

– Viel Glück. Ich werde mich mit Euch in Verbindung setzen, wenn ich mehr erfahre.

– Danke.

Ein Gefühl von Stille, wo seine Stimme gewesen war, sagte ihr, dass er den Ring abgenommen hatte. Sie blinzelte, als ihre Augen die Umgebung wieder registrierten. Regin beobachtete sie eingehend.

»War es Lorkin oder Osen?«

Sie starrte ihn an. »Woher wusstet Ihr, dass Lorkin einen meiner Blutringe hat?«

Sein Lächeln war schief. »Als würdet Ihr ihn ohne einen solchen Ring aus den Augen lassen.«

Sie nickte. »Ja, das ist wahr. Es war Osen. Lorkin ist freigelassen worden, aber der sachakanische König hat ihm verboten, das Gildehaus zu verlassen.«

Regin richtete sich auf. »Das sind ja gute Neuigkeiten. Reisen wir dann trotzdem weiter nach Arvice?«

»Ja.«

Seine Augen wurden schmal. »Nicht nur deshalb, weil Ihr dafür sorgen wollt, dass er nach Hause kommt?«

Sonea verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr denkt, ich würde der Gilde den Gehorsam verweigern?«

»Ja.« Er hielt ihren Blick fest, aber er lächelte. »Doch nur um Lorkins willen.«

»Ich bin nicht davongelaufen, um ihn zu retten, als er das erste Mal verschwand«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Wie dem auch sei, Osens Anweisungen sehen vor, dass wir unsere Pläne weiterführen.«

Regin nickte. »Sie alle?«

»Ja. Welche Pläne, denkt Ihr, könnten wir an diesem Punkt fahren lassen?«

Er zuckte die Achseln und wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht. Ihr sagtet ›Pläne‹, nicht ›Plan‹. Wir haben nur einen einzigen offiziellen Grund für unsere Reise nach Sachaka.«

»Der es nötig machen kann, mit einer Vielzahl verschiedener Situationen fertigzuwerden, je nachdem, wie die Sache ausgeht.« Sonea verdrehte verärgert die Augen. »Werdet Ihr die ganze Reise damit verbringen, in allem, was ich sage, nach verborgenen Absichten und geheimen Motiven zu suchen?«

»Wahrscheinlich.« Regin grinste. »Ich kann nicht anders. Es ist eine Angewohnheit. Man könnte es als ein Talent betrachten. Ein lästiges vielleicht, aber ich versuche wirklich, es zum Guten einzusetzen.«

Sonea seufzte. »Nun, setzt mir nicht ohne guten Grund zu. Das wäre nicht gut.«

»Nein.« Er schüttelte in nachdrücklicher, übertriebener Zustimmung den Kopf, und in seinen Augen blitzte Humor auf. Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, bis sie sich daran erinnerte, dass er recht hatte: Es gab noch einen anderen Grund für ihre Reise. Sie verspürte einen kurzen, aber mächtigen Drang, ihm von dem Treffen mit den Verrätern zu erzählen.

Noch nicht.

Sie seufzte und leerte ihr Weinglas. »Dann hoffe ich, dass Ihr nicht schnarcht, denn ich bin es gewohnt, Nachtschichten zu machen, und wache leicht auf. Wenn ich keinen vollen Nachtschlaf bekomme, werde ich reizbar sein.«

Er stand auf und ging auf das Bett auf der anderen Seite des Wandschirms zu. »Ah, Sonea. Ihr bittet mich um das eine, was ich nicht versprechen kann.«

Später in der Nacht lag sie wach und lauschte dem Geräusch seines Atems. Es war nicht laut, aber es war seltsam, jemand anderen in der Nähe schlafen zu hören.

Und unerwartet beruhigend, wurde ihr bewusst.

Seit sie zum ersten Mal in den versteckten Kamin zwischen den Vertäfelungen von Soneas Hauptzimmer und der Außenmauer der Magierquartiere geklettert war, fragte sich Lilia, welches sein ursprünglicher Zweck gewesen war. In allen Räumen gab es solche Kamine, aber Lilia vermutete, dass keiner der Bewohner von ihrer Existenz wusste. Ziegelsteine ragten in regelmäßigen Abständen aus der Mauer hervor: Sie konnten nur als eine Art Leiter gedacht gewesen sein.

Cerys Vermutungen schlossen Müllrutschen und Abtritte ein. Glücklicherweise gab es keine Anzeichen dafür, dass der Schacht in letzter Zeit für den einen oder anderen Zweck benutzt worden war. Lilia kam er jedenfalls wie ein Schornstein vor, obwohl sich keine Spuren von Ruß auf den Ziegeln oder dem Mörtel befanden.

Oben angelangt, spähte sie durch das Guckloch, das Cery vor langer Zeit gebohrt hatte. Soneas Hauptraum war leer.

Wo ist Jonna?

Vielleicht war die Dienerin in einen der anderen Räume gegangen. Vielleicht war sie weggerufen worden. Lilia griff nach dem Riegel, dann zögerte sie. Es war durchaus möglich, dass Jonna mit einem Besucher in einem der Schlafzimmer war, obwohl Lilia kein guter Grund einfiel, warum ein Fremder bei ihr sein sollte … abgesehen von einigen skandalösen Gründen. Aber Lilia konnte sich nicht vorstellen, dass Jonna so etwas tun würde.

Sie klopfte leicht gegen die Vertäfelung, in einem willkürlichen Muster, das jeder, der nicht wusste, dass hinter dem Holz eine Lücke war, vielleicht für das Scharren eines Käfers halten würde. Einen Moment später kam Jonna in den Raum geeilt, und ihr Blick wanderte zu dem Guckloch. Obwohl sie Lilia nicht sehen konnte, nickte sie und winkte mit einer Hand.

Der Riegel glitt lautlos auf, dann schwang die Tür leise nach innen. Jonna trat vor, um Lilia herauszuhelfen. Der Durchlass befand sich etwas zu hoch in der Wand, als dass der Schritt hinab noch ganz angenehm gewesen wäre, vor allem, wenn man sich wie Lilia tief bücken musste, um hindurchzupassen.

»Wie geht es ihnen?«, fragte Jonna.

»Gut«, antwortete Lilia. »Sie sind dankbar für deine Hilfe. Ist Schwarzmagier Kallen schon zurück?«

»Ja, seit ungefähr zehn Minuten.«

Lilia ging zu ihrem Schlafzimmer, um wieder ihre Roben anzuziehen. »Dann sollte ich mich besser beeilen, oder ich werde ihn in seinem Nachtgewand erwischen.«

Jonna gab einen kleinen, erheiterten Laut von sich. »Das wäre ein seltsamer Anblick.«

Lilia grinste. »Das wäre es sicher.«

Die schlichte Hose und die Bluse, die Jonna für sie gefunden hatte und die sie trug, wenn sie Cery und Anyi besuchte, waren viel besser zum Klettern geeignet, und sie verspürte eine Woge der Dankbarkeit, als sie die aufgeschürften Stellen und die Flecken sah, die sie sich in dieser Nacht zugezogen hatte. Es war besser, diese Kleider zu verderben als ihre Roben.

Nachdem sie sich schnell umgezogen hatte, kehrte sie in den Hauptraum zurück.

»Danke, dass du auf mich gewartet hast«, sagte sie zu Jonna. »Du brauchst jetzt nicht länger zu bleiben. Ich werde nach meinem Gespräch mit Kallen direkt wieder zurückkommen.«

Jonna zuckte die Achseln. »Es macht mir nichts aus zu bleiben.« Sie straffte sich und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe Sonea versprochen, ein Auge auf Euch zu halten, und ich werde nicht gut schlafen, bis ich weiß, dass Ihr zu einer anständigen Stunde wieder in Eurem Bett liegt.«

Lilia verdrehte die Augen und seufzte. »Niemand hat sich jemals darum Sorgen gemacht, als ich im Novizenquartier gewohnt habe.« Aber es störte sie nicht. Es war schön, dass sie jemandem wichtig genug war, dass er auf sie achtgab. Ich will ohnehin nicht mehr Zeit mit Kallen verbringen als unbedingt nötig.

Nachdem sie durch die Haupttür in den Flur geschlüpft war, ging sie zu Kallens Räumen und klopfte an. Kurze Zeit später schwang die Tür nach innen auf. Sofort nahm sie den schwachen Duft von Feuel-Rauch war, aber er war abgestanden und verblasst, als käme er aus den Möbeln. Kallen saß in einem großen Sessel, ein Buch in der Hand und einen Ausdruck milder Überraschung auf dem Gesicht.

»Lady Lilia«, begrüßte er sie. »Kommt herein.«

Sie trat ein, drückte die Tür zu und verneigte sich. »Schwarzmagier Kallen.«

»Was kann ich für Euch tun?«, fragte er.

Er zeigte den geduldigen Gesichtsausdruck eines Lehrers, der zu einem schlechten Zeitpunkt von einem Novizen gestört wurde. Sie verkniff sich ein Lächeln. Sie fungierte als Botin, nicht als Novizin, und ihre Botschaft war viel wichtiger als eine bloße Unterrichtsstunde.

»Ihr wisst, dass ich mich gelegentlich mit Anyi treffe, meiner Freundin und der Leibwächterin des Diebes Cery«, begann sie und setzte sich auf einen Stuhl. »Ohne das Gelände der Gilde zu verlassen«, fügte sie eilig hinzu.

Er nickte. »Ja.«

»Ich habe Euch bereits gesagt, dass Cery sich versteckt und seine …« Sie wedelte mit der Hand und suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Seine geschäftlichen Arrangements und … Kontakte nicht aufrechterhalten kann.«

»In der Stadt halten ihn alle für tot.«

»Es ist wahrscheinlich, dass Skellin nicht glauben wird, dass Cery tot ist, bis er einen Leichnam sieht.«

Kallen nickte. »Oder bis hinreichend Zeit verstreicht.«

»Das macht Cery zu dem idealen Köder, um Skellin damit anzulocken. Was seine eigene Idee war«, versicherte sie ihm. »Er hat mich gebeten, Euch auszurichten, dass er bereit ist, es zu tun, und er schlägt vor, dass Ihr Euch mit ihm trefft, um Euch auf einen Ort und eine Zeit zu verständigen.«

»Hmm.« Kallen runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Das ist ein sehr großzügiges und mutiges Angebot. Eines, das ich bewundere und zu schätzen weiß, und ich bin mir sicher, die restlichen Gildemitglieder würden genauso denken, wenn sie davon wüssten. Ein Angebot, das wir vielleicht aufgreifen werden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber nicht jetzt. Wir erkunden eine andere Möglichkeit. Ich kann Euch noch keine Einzelheiten nennen, aber wenn das Unternehmen Erfolg hat, werden wir Cerys Leben überhaupt nicht aufs Spiel setzen müssen.«

Lilia verspürte eine flüchtige Enttäuschung, dann Erleichterung, gefolgt von Angst. »Wie lange wird es dauern, bis Ihr es wisst? Cerys Versteck ist … nun, es ist sein letzter sicherer Ort. Wenn Skellin dieses Versteck entdeckt, wird Cery nirgendwo sonst hingehen können.«

»Was wir tun, lässt sich nicht überstürzen. Es könnte Wochen oder Monate dauern. Wie lange glaubt Cery, dass er sich versteckt halten kann?«, fragte Kallen.

Wochen! Monate! Ärger loderte in ihr auf, aber als sie Kallen anblickte, sah sie aufrichtige Sorge in seinen Augen. Der Ärger verebbte.

»Ich weiß es nicht. Er weiß es nicht. Skellin könnte ihn heute Nacht finden, er könnte ihn in einigen Wochen finden. Es ist schwierig, an Essen heranzukommen, ohne gesehen zu werden. Wann immer sie rausgehen, ist es ein Risiko.«

Kallen legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. »Ich verstehe. Wir tun alles, was wir können, Lilia. Sagt Cery, dass wir sein Angebot zu schätzen wissen und es vielleicht annehmen werden, wenn unsere anderen Pläne scheitern. In der Zwischenzeit sollte er alles in seiner Macht Stehende tun, um sich weiter verborgen zu halten.«

Lilia nickte, dann seufzte sie. »Ich werde es ihm ausrichten. Aber es wird ihm nicht gefallen.«

»Das nehme ich auch nicht an.« Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, aber plötzlich wurde ein Stirnrunzeln daraus. »Er wird doch nicht aus Ungeduld etwas Törichtes tun, oder?«

Sie verkniff sich ein bitteres Lachen. »Das denke ich nicht, aber er ist ein Dieb. Er ist es gewohnt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.« Als sie sah, dass Kallens Augenbrauen sich noch weiter zusammenzogen, schüttelte sie den Kopf. »Anyi und ich werden alles tun, was wir können, um es ihm auszureden, falls er es versucht. Und Gol predigt Cery auch immer Vernunft, vermute ich.«

Kallen nickte. »Gut.«

Lilia stand auf und strich ihre Roben glatt. »Ich sollte besser gehen. Gute Nacht, Schwarzmagier Kallen. Ich hoffe, Eure Pläne werden erfolgreich sein.«

Er nickte. »Vielen Dank. Gute Nacht, Lady Lilia.«

Als sie sich zur Tür umdrehte, schwang diese auf. Lilia trat in den Flur hinaus und atmete voller Erleichterung die sauberere Luft draußen ein. Dann verdüsterte sich ihre Stimmung wieder.

Das wird Cery nicht gefallen. Aber ich denke, er vertraut … nein, es ist mehr so, dass er Kallen respektiert, als dass er ihm vertraut … jedenfalls respektiert er ihn genug, um abzuwarten, ob diese anderen Pläne funktionieren. Doch das war nicht das Hauptproblem. Wie soll ich Wochen – vielleicht sogar Monate – dafür sorgen, dass sie zu essen bekommen und nicht entdeckt werden? Irgendjemand muss irgendwann etwas bemerken.

Sie konnte nur hoffen, dass sie das mit Jonnas Hilfe verhindern konnte oder dass Kallens »andere Pläne« Erfolg hatten.

12 Spione

Denkst du, wir sollten warten, bis Lilia bei uns ist?«, fragte Anyi, während sie die Decke des Tunnels musterte.

Cery hob seine Lampe. »Das sieht nicht so aus, als würde es genau in diesem Moment einstürzen.« Der Tunnel war lang, und Anyi hatte ein flottes Tempo vorgegeben. Zu flott. Er hatte die leicht eingesackte Decke ausgenutzt, um innezuhalten und wieder zu Atem zu kommen, und er hoffte, dass die anderen denken würden, er sei nur vorsichtig. »Aber woher soll man das so genau wissen?«

»Keine Ahnung«, gab Anyi zu. »Ich nehme an, der Tunnel wird nicht einstürzen, solange wir nichts anfassen. Aber wir sollten nicht hierbleiben.«

Gol gab einen leisen Laut von sich, der nahelegte, dass sie beide verrückt waren. Er besah sich die Baumwurzeln, die von der Decke hingen und sich in den Wänden des Tunnels fortsetzten. Als er einen Schritt darauf zu machte, begriff Cery, dass es kein Stirnrunzeln der Missbilligung, sondern des Interesses war.

Dann sah er, was Gol aufgefallen war. Durch die Wurzeln fiel kein Licht, wie es das hätte tun sollen. Dahinter musste es dunkel sein. Er ging näher heran, griff mit dem Finger in die Kaskade weißer Wurzeln und zog vorsichtig. Sie ließen sich ohne jeden Widerstand abziehen.

Sie hängen nirgends dran. Hinter ihnen ist ein Hohlraum.

»Wir wollten doch nichts anfassen …«, begann Anyi, als er die Wurzel beiseitezog. »Oh.«

Vor ihnen öffnete sich der Eingang zu einem anderen Tunnel. Das gleiche verfallene Mauerwerk hielt die Erde zurück und bildete das Dach des Gangs. Cery sah seine Tochter an und lächelte, als sie mit leuchtenden Augen hineinspähte.

»Also, das nenne ich Glück«, bemerkte sie. »Wenn wir fliehen müssen, können wir hier hindurchschlüpfen. Solange unser Verfolger, wer immer er auch sein mag, nicht sieht, wie wir hier verschwinden, würde er niemals wissen, wo wir geblieben sind.«

»Willst du es auskundschaften?«, fragte Cery.

»Natürlich.«

Cery blickte wieder zu Gol hinüber. »Bleib hier. Wenn du irgendetwas wie einen Einsturz hörst, geh und hol Lilia.«

Gol sah aus, als wollte er Einwände erheben, aber dann stieß er einen schweren Seufzer aus und nickte. Cery hielt die Wurzeln zurück, so dass Anyi hindurchschlüpfen konnte. Sie bewegte sich langsam und hob ihre Lampe, um die Wände, die Decke und den Boden des Gangs zu untersuchen. Der Tunnel war in keinem schlechteren Zustand als der, dem sie gefolgt waren. Teile waren verfallen, aber im Wesentlichen wirkte er solide.

Während sie den Gang entlangwanderten, fragte sich Cery, wie Lilias Gespräch mit Kallen verlaufen sein mochte. Sie würden bis zum Morgen nichts von ihr hören. Cery hatte beschlossen, dass sie die Nacht damit verbringen sollten, die Tunnel zu erkunden und zu überlegen, wo sie ihre Falle für Skellin aufstellen könnten. Anyi glaubte, dass sie Skellin zu den unterirdischen Räumen in der Nähe der Universität locken sollten, so dass sie nach oben entkommen konnten. Die Räume waren diejenigen, in denen Cery Anyi und Lilia angetroffen hatte. Er spürte, wie sein Gesicht warm wurde, als er sich daran erinnerte. In dem Hurenhaus, in dem er aufgewachsen war, hatte er Frauen kennengelernt, die die Zuneigung anderer Frauen gesucht hatten, und einige von ihnen hatten Bande geknüpft, die viele Jahre hielten. Es war nur einer von vielen Wegen gewesen, auf denen er Menschen hatte Freude, Kameradschaft und Liebe suchen sehen. Doch er lernte auch, dass er in einer besonders toleranten Welt lebte. Die meisten Menschen außerhalb dieser Welt billigten nichts, was sich von ihrer eigenen Erfahrung und ihren eigenen Vorlieben unterschied. Und nicht nur Menschen aus den höheren Klassen. In der Unterwelt war es genauso.

Ich frage mich, ob ihre Mutter es weiß. Vesta hat immer das Gefühl genossen, besser zu sein als andere. Sie hat bei anderen immer nach etwas Ausschau gehalten, das sie missbilligen konnte. Manchmal denke ich, sie wollte mich nur deshalb, weil ich ein Dieb war. Es gab ihr das Gefühl, wichtiger zu sein als die meisten anderen. Nun, für eine Weile hat es funktioniert.

Auf keinen Fall wollte er, dass Anyi das Gefühl hatte, nicht akzeptiert zu werden. Gewiss machte es ihm nichts aus, dass sie mit Lilia zusammen war, aber … ein kleiner Stich des Neids durchzuckte ihn. Ich habe früher einmal eine Gildemagierin geliebt, aber diese Liebe ist nur als Freundschaft erwidert worden. Er schüttelte den Kopf. Das klingt zu verdrossen. Soneas Freundschaft ist keine Kleinigkeit, und ich habe tatsächlich anderswo Liebe gefunden.

Er fragte sich, ob Anyi in der Vergangenheit viele Geliebte gehabt hatte, dann erinnerte er sich an ihre Geschichte von einem Partner, der sie verraten hatte. Aha. Das muss der Grund gewesen sein, warum ich ihn nie gefunden habe. Es war kein »er«, es war eine »sie«.

Anyi keuchte leise auf. »Sieh dir das an!«, flüsterte sie.

Der Tunnel endete vor einer Backsteinmauer, aber es war keine gewöhnliche Mauer. Man hatte sie mit einem schon vertrauten Mechanismus versehen – es war eine verborgene Tür. Cery entdeckte ein Guckloch, über dem ein Messingdeckel lag. Der Deckel war steif und grün vom Alter, aber es gelang Cery, ihn aufzuschieben. Als er hindurchschaute, sah er nur Dunkelheit.

»Ich kann nichts erkennen«, sagte er.

»Willst du versuchen, die Tür zu öffnen?«, fragte Anyi.

Cery dachte nach. Wenn er seiner Phantasie die Zügel schießen ließ, beschwor sie gefährliche Gefangene oder eingekerkerte Ungeheuer herauf, die nur auf die Chance warteten freizukommen – und alles zu töten, was ihnen im Weg stand.

Wahrscheinlicher ist, dass es sich um einen alten Lagerraum handelt. Außerdem ist hier kein Schloss, das irgendjemanden daran hindert, die Tür von der anderen Seite zu öffnen, soweit ich feststellen kann.

Er nickte.

Anyi nahm den Griff und zog daran, aber die Tür bewegte sich nicht. Als Cery sich den Mechanismus genauer besah, stellte er fest, dass er nicht verrostet war. An den Angeln hingen dicke schwarze Klumpen. Er stocherte darin. Sie waren weich. Wahrscheinlich altes Öl oder Fett, das mit der Zeit dick geworden war. Cery versuchte sich ebenfalls an dem Griff, und dann setzten sie beide gleichzeitig ihre ganze Kraft ein, aber ohne Erfolg.

»Geh und hol Gol«, sagte Cery.

Er spähte wieder durch das Guckloch – er versuchte sogar, die Lampe hochzuhalten und gleichzeitig hindurchzuschauen, sah aber jenseits der Tür nichts als Dunkelheit. Ihm kam der Gedanke, dass das Loch vielleicht blockiert war. Er zog einen Pick aus seinem Mantel und schob ihn hindurch, ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen. Also war das Loch nicht blockiert, es herrschte lediglich Dunkelheit auf der anderen Seite der Tür.

Vielleicht ist es eine Falle, vor langer Zeit eingerichtet von Akkarin oder irgendjemand anderem. Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum wir Fallen stellen wollen: um Verfolger zu narren und aufzuhalten. Wer weiß, welche Gründe die Gilde in der Vergangenheit hatte, diese Tunnel zu graben.

Das Geräusch von zwei Paar Schritten näherte sich ihm von hinten, und er drehte sich um. Gol verdrehte die Augen, als er die Tür sah.

»Du kannst kein Rätsel ungelöst lassen, wie?«, murrte er.

Cery zuckte die Achseln. Gol verdrehte abermals die Augen, dann trat er vor die Tür und legte die Hand auf den Griff. Er zog einmal, hielt inne, um den Mechanismus zu untersuchen, dann nahm er wieder den Griff.

»Sei vorsichtig: Du willst dir diese Wunde nicht aufreißen«, mahnte Anyi.

Gol trat von dem Griff zurück, dann blickte er sich um. Er ging ein kurzes Stück durch den Gang zurück und hob etwas auf. Als er wiederkam, sah Cery, dass es ein Ziegelstein war.

»Das wird eine Menge …«

Das Klirren, das den Gang erfüllte, als Gol auf den Mechanismus einschlug, war schmerzhaft laut.

»… Lärm machen«, beendete Anyi ihren Satz.

Aber der Schlag schien bewirkt zu haben, was Gol beabsichtigt hatte: Er hatte das Siegel des alten Öls durchbrochen. Der Griff drehte sich unter seiner Hand. Cerys Herz schlug ein wenig schneller, als die Tür aufschwang. Sie war schwer: Die andere Seite war mit dünnen Ziegelsteinen und Mörtel bedeckt. Die Tür bildete die Rückwand einer Nische.

Als das Licht der Lampen die Dunkelheit durchdrang, erhellte es alte hölzerne Schränke und Tische. Cery wurde mutlos vor Enttäuschung. Er war sich nicht sicher, worauf er gehofft hatte. Verborgene Schätze vielleicht? Ein besseres Versteck?

Sie traten in den Raum. Als das Licht aller drei Lampen den Raum ausfüllte, verdrängte Furcht Cerys früheres Gefühl freudiger Erwartung. Der Raum war sauber. Da waren weder Staub noch Schutt. Cery trat vor einen der Tische. Er war bedeckt mit kleinen Töpfen. Jeder enthielt Erde und eine winzige Pflanze.

»Sind wir in der …«, hob Gol zu sprechen an.

»Still!«, stieß Anyi hervor.

Als Cery und Gol sich umdrehten, sahen sie, dass Anyi eine schmale Treppe hinaufspähte. Sie traten näher, und als sie ebenfalls an der Treppe waren, hörten sie von oben Stimmen. Das Knarren eines Griffs, der gedreht wurde, erklang.

Ohne ein weiteres Wort flohen sie zurück in den Tunnel, und Gol zog die Tür hinter sich zu. Cerys Herz hämmerte so schnell, dass seine Brust schmerzte. Anyi drückte ein Auge gegen das Guckloch, und Gol legte ein Ohr an die Tür. Erheitert zog Cery sanft eine stumm protestierende Anyi beiseite und nahm ihren Platz am Guckloch ein.

Im Raum dahinter war es nicht länger dunkel. Etwas Helles kam die Treppe herunter. Er verspürte beinahe Erleichterung, als er eine magische Lichtkugel erscheinen sah, und im nächsten Moment tauchten zwei Magier auf: eine alte Frau und ein junger Mann.

»Was passiert da?«, murmelte Anyi.

»Magier. Sie sehen sich im Raum um. Kannst du sie hören, Gol?«

»Schwach«, antwortete der massige Mann. »Einer hat gesagt, er glaube, er habe etwas gehört. Die andere Person hat ihm recht gegeben.«

Die beiden Magier schüttelten den Kopf und gingen zu den Tischen. Der Mann griff nach einer Pflanze und stellte sie dann verärgert wieder hin.

»Die alte Frau hat irgendetwas gefragt. Der junge Mann sagt, er sei sich sicher«, vermeldete Gol. Er hielt inne, und Cery konnte das schwache Geräusch von Stimmen hören. Er bedeutete ihnen Stillschweigen, dann presste er das Ohr gegen die Tür.

»Wir sind also überlistet worden«, sagte die Frau. Sie klang nicht überrascht.

»Ja, wie Ihr es vermutet habt«, erwiderte der jüngere Magier. »Wenn Ihr dieses … dieses gemeine Gartenkraut … geraucht hättet, hättet ihr davon nichts anderes bekommen als Kopfweh.«

»Nun, wir wussten, dass es nicht leicht sein würde, an Feuel heranzukommen.«

Feuel? Cery spürte, wie etwas Heißes durch seine Adern raste. Die Gilde will Feuel anbauen?

»Wir werden es einfach weiter versuchen müssen«, fuhr die Frau fort. »Skellin muss es irgendwo anbauen – und er muss eine Menge anbauen. Irgendwann wird ihn jemand verraten, wenn wir genug Geld bieten.«

»Alles, was wir brauchen, sind einige Saatkörner.«

»Ich wünschte, wir würden auch die nicht brauchen.«

Die Stimmen wurden leiser. Cery drückte das Auge erneut auf das Guckloch und beobachtete, wie die beiden Magier die Treppen hinaufgingen und das magische Licht sich vor ihnen erhob. Als abrupt alles Licht verschwand, vermutete er, dass die Tür über der Treppe geschlossen worden war. Er entfernte sich von dem Guckloch und beschrieb Anyi und Gol, was er gehört hatte.

»Wozu will die Gilde Fäule?«, fragte Anyi, die stirnrunzelnd die Tür betrachtete.

»Vielleicht hat sie Potenzial als Heilmittel«, schlug Gol vor.

»Vielleicht«, wiederholte Cery. »Vielleicht sind jetzt mehr als nur einige wenige Gildemagier süchtig danach, und sie wollen Skellin die Kontrolle über ihre Vorräte aus der Hand nehmen.«

»Vielleicht wollen sie Skellin aus dem Geschäft drängen«, sagte Gol. »Dann, wenn sie den gesamten Handel kontrollieren, werden sie aufhören, es anzubauen.«

Anyi starrte ihn entsetzt an. »Was ist mit all den Leuten aus dem gemeinen Volk, die süchtig danach sind? Es wäre … die Leute würden verrückt werden!«

»Die Gilde hat die Unterwelt nie daran gehindert zu erwerben, was sie wollte«, rief Cery ihr ins Gedächtnis.

Seine Tochter wirkte nicht beruhigt. »Es wird niemals weggehen, nicht wahr?«, fragte sie mit großen Augen, als sie begriff. »Feuel wird uns auf ewig erhalten bleiben.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Cery zu.

Gol nickte. »Aber wenn die Gilde etwas davon in die Hand bekommt und es studiert, werden sie vielleicht eine Möglichkeit finden, dafür zu sorgen, dass es nicht mehr so schnell süchtig macht.«

Anyi wirkte immer noch düster. »Ich schätze, als Fluchtroute ist das hier nicht besser als die Idee, in die Universität zu fliehen?«

Cery betrachtete die Tür. »Wir wissen nicht, ob die Räume über diesem Keller ständig von Magiern besetzt sind. Irgendjemand wird den Raum vermutlich bewachen, falls sie mehr Saatkörner bekommen und es noch einmal versuchen, aber das könnten auch ein oder zwei Diener sein.«

»Skellin würde uns eher dorthin folgen als in die Universität«, fügte Gol hinzu. »Also wäre es vielleicht ein guter Plan, dort unsere Falle zu stellen.«

»Könnte sein. Aber lass uns der Gilde nicht verraten, dass wir wissen, dass sie versuchen, Feuel anzubauen, bis wir unser Wissen unbedingt preisgeben müssen.«

»Böse Erinnerungen?«

Sonea sah Regin überrascht an. War es so offensichtlich? Seit die Kutsche ihren langsamen Aufstieg in die Berge begonnen hatte, hatte Sonea dunkle und düstere Gefühle beiseitegedrängt. Zuerst hatte sie sie als Erschöpfung und Sorge abgetan, aber dann sah sie irgendetwas – einen Baum oder Fels – und war davon überzeugt, dass sie ihn bereits bemerkt hatte, als sie das letzte Mal über diese Straße gereist war. Aber gewiss spielte der Verstand ihr nur Streiche. Meine Erinnerung kann nicht so gut sein.

Da sie sich nicht sicher war, ob sie Regins Frage beantworten sollte, zuckte sie die Achseln. Er nickte und wandte den Blick ab. Sie hatte zuerst gedacht, dass ihre Gespräche deshalb immer wieder verstummten, weil die Aussicht draußen ihn ablenkte. Im Gegensatz zu ihr hatte er diese Straße noch nie zuvor bereist. Jetzt fragte sie sich, ob das Schweigen ihre Schuld war. Ihr war schon seit einer ganzen Weile nicht mehr nach Reden zumute.

Ist das die Stelle, wo wir haltgemacht haben? Eine Lücke hatte sich zwischen den Bäumen aufgetan und entblößte Felder und Wege, die sich bis in die Ferne erstreckten, geteilt von Flüssen, Straßen und anderen von Menschen gemachten Begrenzungen. Die Bäume wirkten jedoch klein. Gewiss wären sie in den letzten zwanzig Jahren größer geworden. Aber Gegenstände neigen dazu, in unserer Erinnerung größer zu sein. Obwohl … ich dachte, das gelte nur für Gegenstände, die man aus seiner Kindheit in Erinnerung hat, weil man damals kleiner war.

»Was ist los?«, fragte Regin.

Ihr wurde bewusst, dass sie sich nach vorn gebeugt und sich den Hals verrenkt hatte, um besser nach draußen sehen zu können. Jetzt lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück und zuckte die Achseln.

»Ich dachte, ich hätte etwas wiedererkannt.« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Stelle, an der wir haltgemacht haben, beim letzten Mal.«

»Ist … dort etwas passiert?«

»Nicht wirklich. Niemand hat während dieser Reise viel gesprochen.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Akkarin wollte nicht mit mir reden.« Aber ich habe ihn immer wieder dabei ertappt, dass er mich ansah. »Er war wütend auf mich.«

Regin zog die Augenbrauen hoch. »Weshalb?«

»Weil ich dafür gesorgt hatte, dass sie mich mit ihm ins Exil schickten.«

»Warum sollte er deswegen wütend sein?«

»Sein Plan – oder zumindest dachte ich das damals – bestand darin, sich von Ichani fangen zu lassen und das Ergebnis an alle Magier zu übermitteln.«

Regins Augen weiteten sich ein wenig. »Eine mutige Entscheidung.«

»Oh, sehr ehrenhaft«, erwiderte sie trocken. »Schockiere die Gilde so sehr, dass sie die Gefahr begreift, der sie gegenübersteht, während sie die einzige Person opfert, die etwas dagegen unternehmen könnte.«

»Aber das war nicht er. Das wart ihr.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht genug. Ich wusste nicht einmal, wie man Blutringe macht. Wir hätten die Ichani nicht besiegt, wenn er nicht überlebt hätte.« Aber das war nicht der Grund, warum du ihm gefolgt bist, rief sie sich ins Gedächtnis. Du hast es getan, weil du Akkarin nicht sterben lassen konntest. Liebe ist selbstsüchtig. »Indem ich ihn zwang, mich am Leben zu erhalten, habe ich ihn gezwungen, sich selbst am Leben zu erhalten.«

»Diese Wochen müssen furchtbar beängstigend gewesen sein.«

Sie nickte, aber ihre Gedanken wanderten plötzlich zu den Verrätern. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, dass mehr hinter Akkarins Zeit in Sachaka steckte, als er ihr erzählt hatte. Einmal, als er Tatsachen für sein Buch überprüfte, hatte Lord Dannyl sie gefragt, ob irgendetwas dran sei an dem Gerücht, dass Akkarin in der Lage gewesen sei, die spontanen Gedanken einer Person zu lesen, ohne diese Person zu berühren. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Akkarin davon gesprochen hatte. Die Menschen hatten Akkarin alle möglichen außergewöhnlichen Fähigkeiten zugeschrieben, noch bevor offenbart wurde, dass er schwarze Magie erlernt hatte.

Vielleicht war er dazu in der Lage, hat es jedoch geheim gehalten. Wie sein Abkommen mit den Verrätern. Getroffen mit keiner geringeren Person als der Königin der Verräter, obwohl sie damals noch nicht Königin gewesen war. Ich bin mir sicher, dass er mir erzählt hat, die Person, die ihn schwarze Magie lehrte, sei ein Mann gewesen. War es eine vorsätzliche Lüge, um zu helfen, die Existenz der Verräter verborgen zu halten? Ich kann nicht umhin, ein wenig gekränkt darüber zu sein, dass er mir die Wahrheit nicht anvertraut hat, aber andererseits hätte ich auch nicht gewollt, dass er ein Versprechen bricht, das er jemandem gegeben hat, der ihm das Leben gerettet hat.

Seufzend blickte sie aus dem Fenster zur Sonne hinüber, die tief am Himmel hing. Ihre Erinnerung an das Ende der Fahrt zum Fort beinhaltete nackten Fels und wenig Vegetation. Jetzt trat zwar hier und da kahler Fels zutage, aber der Baumbestand war wesentlich üppiger, als sie es in Erinnerung hatte. Wir werden später eintreffen, als ich geplant habe – vielleicht sogar nach Einbruch der Dunkelheit.

Eine scharfe Kurve zwang sie, sich abzustützen. Überrascht lehnte sie sich dicht ans Fenster und blinzelte angesichts der unerwarteten Helligkeit einer hohen, gewölbten Mauer, die vor ihnen in der späten Sonne gelb loderte.

Doch nicht so spät, dachte sie. Auf all den kahlen Flächen, die ich in Erinnerung habe, scheinen jetzt Bäume zu stehen.

»Wir sind da«, sagte sie zu Regin, und er setzte sich neben sie, so dass er auf der anderen Seite aus dem Fenster schauen konnte.

Sie beobachtete sein Gesicht und erhaschte Echos der Ehrfurcht, die sie als junge Frau verspürt hatte, als sie das Fort zum ersten Mal sah. Das Gebäude war ein riesiger, aus solidem Fels gehauener Zylinder und füllte die Lücke zwischen zwei hohen, fast vertikalen Felswänden aus. Aber als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, sah sie, dass die Front des Forts nicht so makellos glatt war, wie sie sie in Erinnerung hatte. Ein Stein von anderer Farbe war benutzt worden, um große Risse und Löcher zu füllen. Das mussten Reparaturen sein, die nach der Invasion der Ichani durchgeführt worden waren. Sie schauderte bei der Erinnerung an die Schlacht hier, die alle Magier mit angesehen hatten, weil der Krieger, der die Verstärkung des Forts anführte, Lord Makin, ihnen seine Eindrücke vermittelt hatte, bis er unter den Händen der Eindringlinge gefallen war.

Die Kutsche kam vor dem Turm zum Stehen. Ein rotgewandeter Magier und der Hauptmann der Festungswache eilten ihnen entgegen. Sonea entriegelte und öffnete den Wagenschlag mit Magie, dann hielt sie inne, um Regin anzuschauen. Die Aufregung in seinen Zügen ließ ihn jünger aussehen – beinahe knabenhaft. Es brachte eine blitzartige Erinnerung an ihn als lächelnden jungen Mann an die Oberfläche, aber sie glaubte nicht ganz, dass die Erinnerung real war. In ihrer Erinnerung an den Regin dieses Alters war sein Lächeln stets voller bösartigem Triumph oder Häme gewesen.

Doch das ist lange her, dachte sie, als sie aus der Kutsche stieg. Tatsächlich erinnere ich mich nicht daran, dass er in diesem letzten Jahr viel gelächelt hätte. Es sei denn mit erzwungener Höflichkeit oder vielleicht aus Mitgefühl. Zu ihrer Überraschung war sie traurig. Er ist ein sehr unglücklicher Mann, begriff sie.

»Seid mir gegrüßt, Schwarzmagierin Sonea«, sagte der rotgewandete Magier. »Ich bin Wächter Orton. Dies ist Hauptmann Pettur.«

Der Hauptmann verneigte sich. »Willkommen im Fort.«

»Wächter Orton.« Sonea neigte den Kopf. »Hauptmann Pettur. Danke für das herzliche Willkommen.«

»Plant Ihr immer noch, über Nacht zu bleiben?«, fragte Orton.

»Ja.« Der Titel eines Wächters war für den Anführer der Magier geschaffen worden, die jetzt zusammen mit der regulären, nichtmagischen Garde das Fort bewachten. Die Gilde hatte sich Sorgen gemacht, dass kein Magier sich für die Rolle freiwillig melden würde, daher hatten sie dem Amt zusätzliche Vorteile in Gestalt von Einfluss und Wohlstand gegeben. Das wäre nicht notwendig gewesen. Wächter Orton und sein Vorgänger waren beides Männer, die gegen die sachakanischen Eindringlinge gekämpft hatten und entschlossen waren, dafür zu sorgen, dass kein Sachakaner jemals wieder so leicht nach Kyralia kommen konnte.

»Hier entlang«, sagte Orton und deutete auf die offenen Tore am Fuß des Turms.

Sonea verspürte einen Schauder des Wiedererkennens, als sie den Tunnel dahinter sah. Sie traten in das sehr gedämpfte Licht, das in dem Durchgang herrschte. Lampen beleuchteten den Weg und offenbarten weitere Reparaturarbeiten und die Fallen und Barrieren, die hinzugefügt worden waren.

»Wir haben ein Denkmal für jene errichtet, die zu Beginn der Invasion hier gestorben sind«, erklärte Orton und zeigte auf die Mauer vor ihnen, in die eine Liste mit Namen eingelassen war.

Sonea blieb stehen, um die Namen zu lesen. Sie fand Lord Makins Namen, aber die übrigen waren ihr unvertraut. Viele der Opfer waren einfache Gardisten gewesen. Ganz oben auf der Liste standen längere Namen von Männern, deren Haus und Familie genannt wurden – Männer aus der höchsten Klasse, die eine Laufbahn in der Garde angestrebt hatten und denen eine Position von Macht und Respekt sicher gewesen war.

Noch darüber standen die Magier. Die Namen von Familien und Häusern waren vertraut, aber sie war zu jung gewesen und zu neu in der Gilde, um irgendwelche von den Magiern persönlich gekannt zu haben. Bis auf einen.

Ferguns Name erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie verspürte eine unbehagliche Mischung aus Abneigung, Mitleid und Schuldgefühlen. Er war ein Opfer des Krieges gewesen. Trotz allem, was er getan hatte, hatte er nicht verdient zu sterben, indem ein sachakanischer Magier alle Energie aus ihm herausriss.

Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er kein guter Mensch war.

Bei diesem Gedanken verebbten die widerstreitenden Gefühle. Sie verstand, dass es möglich war, bekümmert über die Ungerechtigkeit des Todes einer Person zu sein, auch wenn sie diese Person nicht als guten Menschen in Erinnerung hatte.

Und es ist ein Bleibehaus nach ihm benannt worden. Sie wandte sich ab. Was ihn sicher aus gänzlich anderen Gründen entsetzt hätte, als es mich entsetzt hat.

Wächter Orton führte sie zu einer dunklen, schmalen Tür. Es folgte eine komplizierte Prozedur, in der er sich selbst, den Hauptmann und ihre Besucher identifizierte, und dann ertönten alle möglichen Geräusche, als ein Schließmechanismus bedient wurde. Als die Tür sich öffnete, sah Sonea zu ihrer Erheiterung, dass sie eine Handspanne dick war und aus Eisen gemacht. Sie kamen in einen Raum, dann durchliefen sie die gleiche Prozedur, um durch eine weitere, ebenso robuste Tür zu gehen. Die Besatzung des Forts ging keine Risiken mehr ein.

Ein schmaler, kurvenreicher Gang führte steil nach oben. Die Enden von Rohren, die aus beiden Seiten ragten, ließen darauf schließen, dass irgendetwas in den Raum geschüttet werden konnte. Wasser oder etwas weniger Angenehmes? Körperliche Verteidigungsmaßnahmen würden einen Magier nicht zwangsläufig aufhalten, aber sie konnten Macht verbrauchen oder einen Magier dazu bringen, in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Die Flure waren als Labyrinth angelegt, um zu verwirren und die Orientierung zu rauben und fliehenden Bewohnern Zeit zur Flucht zu verschaffen.

Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, hielt Orton inne, um Sonea anzusehen.

»Ich hoffe, Ihr habt Euch nicht darauf verlassen, dass die Sachakaner nichts von Eurem Eintreffen hier bemerken würden.«

Sie sah ihn an, und ein Frösteln überlief sie. »Warum?«

»Wir sind uns sicher, dass die Straße beobachtet wird. Patrouillen haben Spuren und andere Beweise auf der kyralischen Seite der Berge gefunden. Natürlich können wir die sachakanische Seite nur von fern beobachten, aber unsere Wächter haben kleine Gruppen von Männern gesehen, die sich dort bewegt haben.«

»Ichani?«

Orton runzelte die Stirn. »Das nehme ich nicht an. Ichani haben nicht so erstklassige Verpflegung dabei. Wer immer sie sind, sie bemühen sich nicht, ihre Spuren zu verbergen, wenn sie sich auf unsere Seite wagen. Vielleicht weil ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie auf unserer Seite waren. Es ist nicht so, als gäbe es eine Linie, wo die Grenze verläuft.«

Es war kein beruhigender Gedanke, falls die Ichani es sich zur Gewohnheit machten, nach Kyralia herüberzukommen. Aber die Ausgestoßenen, die die Berge bewohnten, waren schon immer ein unorganisierter Haufen gewesen, und sie hatten häufiger einander aufgelauert als dem gelegentlichen unglücklichen Reisenden. Die beschämende Tatsache war, die Invasoren, die Kyralia beinahe übernommen hätten, hatten das nur getan, weil einer von ihnen die Willenskraft besessen hatte, eine Handvoll von ihnen zu einen – und um das zu tun, hatte er Jahre gebraucht.

Eine organisierte sachakanische Armee wäre unaufhaltsam gewesen. Wäre es vielleicht noch heute. Und hier war sie, eine der wenigen kyralischen Verteidigungswaffen, und sie war auf dem Weg nach Sachaka, um ihren Sohn zu retten. Ich muss hoffen, dass Kallen und Lilia Verteidigung genug sind, falls die Sachakaner meine Abwesenheit ausnutzen sollten. Einer ist von Feuel abhängig. Die andere ist eine naive junge Frau. Plötzlich fühlte sie sich benommen, und ihr war übel.

Es wird Zeit aufzuhören, darüber nachzudenken, ermahnte sie sich.

»Was denkt ihr dann, wer diese Leute sind?«, fragte sie.

»Spione.«

»Des sachakanischen Königs?«

Orton nickte. »Wessen Spione könnten sie sonst sein?«

Ja, in der Tat, wessen Spione sonst.

Mehrere gewundene Flure später erreichten sie ein Esszimmer, das groß genug für zehn Personen war. Es war eingedeckt mit beeindruckend feinem Porzellan. Drei Frauen und zwei Männer warteten darauf, vorgestellt zu werden. Zwei Unterhauptleute und ihre Ehefrauen sowie die Ehefrau eines abwesenden Hauptmanns. Orton lud sie alle ein, sich zu setzen, nahm selbst Platz und bat einen Diener, das Essen zu bringen.

Die Mahlzeit war überraschend gut. Orton erklärte, dass er glaube, gutes Essen wirke Wunder für die Moral der Menschen hier, die immer fern von Imardin leben müssten und von einer möglichen Invasion bedroht waren. Einheimische Farmer und Jäger profitierten ebenfalls von dem Handel. Doch die Mahlzeit war keine gänzlich entspannte. Sie wurden mehrmals von Wachen unterbrochen, die Nachrichten brachten oder Bericht erstatteten. Zuerst lauschte Sonea aufmerksam, weil sie vermutete, dass etwas Wichtiges geschehen sein müsse, aber es wurde offenbar, dass dies schlichte Routine war, die niemals ausgesetzt wurde – nicht einmal während eines Essens mit einer hochrangigen Magierin.

Die anderen Gäste waren daran gewöhnt und hielten in ihrer Unterhaltung kaum inne. Sonea begriff erst, dass sie aufgehört hatte, auf die Berichte zu achten, als Orton ein Gespräch unterbrach, das sie mit Hauptmann Pettur führte.

»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er mit ernstem und förmlichem Tonfall.

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass seine Augen trotz seines gelassenen Gesichtsausdrucks Sorge verrieten.

»Ja, Wächter Orton?«

»Es ist gerade eine seltsame Botschaft eingetroffen.« Er reichte ihr ein Stück Papier, das auf merkwürdige Weise spitz zulaufend gefaltet war. »Die diensthabenden Wachen, die es erhalten haben, sagten, es sei wie ein Vogel durch die Luft geglitten und zu ihren Füßen gelandet.«

Sie betrachtete die saubere Schrift, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, obwohl sie nicht entscheiden konnte, ob der Grund Aufregung oder Furcht war.

Wir raten Schwarzmagierin Sonea, im Fort zu bleiben, bis sicheres Geleit arrangiert werden kann. Anweisungen folgen bald.

Unter der Schrift stand ein Symbol, ein Kreis mit einer hineingekritzelten Spirale. Lorkin hatte es Administrator Osen beschrieben und gesagt, dass es ein Symbol war, das die Verräterinnen benutzten, um sich zu identifizieren. Ein Prickeln der Erregung stieg in ihr auf. Schon bald würde sie persönlich die Menschen kennenlernen, die Lorkin so sehr beeindruckt und Akkarin vor all den Jahren geholfen hatten, der Sklaverei zu entfliehen.

Sonea ließ das Papier mit Magie in der Luft schweben und setzte es in Brand. Die anderen Gäste murmelten überrascht, während es sich schnell in Asche verwandelte. Dann wandte sie sich Orton zu und lächelte. »Ich denke nicht, dass diese Spione noch sehr lange ein Problem sein werden, Wächter Orton.«

Nachdem ich mehrere Nächte auf einem kalten Steinboden gelegen habe, sollte ich eigentlich keine Schwierigkeiten haben, jetzt zu schlafen, da ich ein richtiges Bett habe. Was ist los mit mir?

Lorkin konnte spüren, dass sein Körper verkrampft war. Wie sehr er sich auch dehnte und Atemübungen machte, wie sehr er sich bemühte, sich in dem weichen Bettzeug zu entspannen, er fand keine Ruhe. Wenig hilfreich waren natürlich die Erinnerungen an das Sklavenmädchen, die ihn regelmäßig heimsuchten, sobald sein Geist kurz vor dem Einschlafen auf Wanderschaft ging.

Er wollte nicht an sie denken.

Aber er tat es.

Sie hatte das Wasser so eifrig getrunken, als hätte sie gewusst, was es enthielt. Vielleicht war sie doch eine Verräterin gewesen. Zu Anfang hatte sie sich bemüht, die Wirkung des Giftes zu verbergen. Gewiss bedeutete das, dass sie gewusst hatte, was sie eingenommen hatte. Schließlich hatte sie nicht mehr leise sein können. Wäre nicht der Wächter gewesen, der eingegriffen und sie aus der Zelle gezerrt hatte, hätte Lorkin nachgegeben und sie geheilt. In einem Ausbruch von Frustration und Selbstverachtung hatte Lorkin den Wasserkrug nach dem Mann geworfen, aber der Krug hatte die Gitterstäbe getroffen und war zersprungen.

Anschließend war der Ashaki, der ihn verhört hatte, eingetroffen. Lorkin hatte erwartet, dass er voller Häme sein und offenbaren würde, dass der Tod der Sklavin von Anfang an geplant war, aber er hatte das tote Mädchen stumm untersucht, kein Wort zu Lorkin gesagt und war mit einem besorgten Stirnrunzeln davongegangen.

Am nächsten Morgen hatten Männer, die Lorkin noch nie zuvor gesehen hatte, ihn aus der Zelle geholt und in einen kleinen Innenhof gebracht. Als die Kutsche, in die sie ihn gesetzt hatten, am Gildehaus angelangt war, hatte Lorkin sich gefragt, ob er einen besonders lebhaften Traum hatte.

Es war kein Traum. Der König hatte ihn freigelassen. Es war keine Erklärung dafür abgegeben worden. Keine Entschuldigung für seine Einkerkerung. Nur der Befehl, im Gildehaus zu bleiben.

Warum?

Lorkin rollte sich auf die Seite. Seine Lichtkugel brannte sanft über ihm, und er hatte eine Barriere über die Tür gelegt; beides verbrauchte langsam, was noch von der Magie übrig war, die Tyvara ihm gegeben hatte. Obwohl er jetzt in einem anderen Raum schlief als dem, in dem Riva gestorben war, war die Erinnerung an jemanden, der in der Dunkelheit auf sein Bett gekrochen war, überraschend lebhaft und unangenehm – ungeachtet der Tatsache, dass das Erlebnis selbst zu Beginn recht angenehm gewesen war. Er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, dass jemand in der Dunkelheit lauerte oder dass er neben einem Leichnam lag.

Augen, die blicklos zur Decke emporstarren. Wie die Sklavin in dem Gefängnis.

Er schaute zu der leuchtenden Kugel hoch und gab seine Hoffnung auf Schlaf auf.

Dann öffnete er die Augen, und obwohl sich nichts verändert hatte, wusste er, dass Zeit vergangen war. Er war eingeschlafen, nachdem er den Versuch einzuschlafen aufgegeben hatte. Aber warum war er aufgewacht? Er konnte sich an keinen Traum oder Albtraum erinnern.

Ein dumpfer Aufprall aus dem zentralen Raum ließ sein Blut gefrieren, und er erstarrte. Er zwang sich, den Kopf zu drehen, schaute an der Schlafzimmertür vorbei und sah Licht in dem Raum dahinter.

Irgendjemand ist dort drin …

Er ließ die Barriere über der Tür fallen und schuf eine um sich selbst herum, dann erhob er sich und näherte sich vorsichtig dem anderen Raum. Zwei Sklaven befanden sich mitten im Raum. Ein junger Mann lag auf dem Boden, und eine Frau in mittleren Jahren beugte sich über ihn, eine Hand auf seinen Kopf gedrückt, ein Messer in der anderen.

Oh nein. Nicht schon wieder.

Aber dann blinzelte der Mann. Er lebte. Sie liest seine Gedanken, begriff Lorkin. Als sie zu ihm aufschaute, erkannte er in ihr eine der Küchensklavinnen. »Lorkin«, sagte sie. Sie nahm die Hände von der Stirn des Mannes und stand auf. »Ich bin Savi. Die Königin lässt Euch grüßen.«

Lorkin nickte. »Wie geht es ihr?«, fragte er automatisch, dann wurde ihm klar, dass er sich zuerst bei der Frau bedanken sollte, da der Mann, den sie niedergerungen hatte, höchstwahrscheinlich beabsichtigt hatte, ihn umzubringen.

»Sie ist tot.« Sie verzog das Gesicht. »Vor zwei Tagen.«

»Oh.« Er dachte an Zaralas schelmische Augen und an ihren Sinn für Humor und verspürte eine Welle der Traurigkeit. »Es tut mir leid, das zu hören. Sie war sehr nett.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Sie wurde doch nicht …? Wie ist sie …?«

»Sie hat das natürliche Ende eines langen Lebens erreicht.« Savi richtete sich auf. »Savara wurde an ihrer Stelle gewählt.«

Lorkin nickte abermals, nicht sicher, ob es höflich war, Freude über die Nachricht von einer neuen Königin zum Ausdruck zu bringen, wenn die alte erst vor so kurzer Zeit gestorben war. Die Spionin hatte es ihm auf eine sachliche Weise erzählt, die die Vermutung nahelegte, dass sie keine Kommentare von ihm erwartete. Er war froh zu hören, dass Savara zur neuen Königin gewählt worden war. Nicht nur weil sie ihm viele Male geholfen hatte und Tyvaras Vorgesetzte war, sondern weil sie klug, offen und gerecht war.

Die Spionin drehte sich zu der Haupttür um. Der Grund für ihre Geistesabwesenheit erschien einen Moment später, als Dannyl und eine weitere Sklavin eintraten.

Dannyl betrachtete den Mann auf dem Boden, der zwar wach war und sie alle anstarrte, sich aber nicht bewegte, dann sah er Savi und Lorkin an.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Lorkin zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht ganz sicher.« Er wandte sich an Savi.

»Es hat in letzter Zeit einige Neuzugänge bei den Sklaven gegeben, während andere abgezogen wurden, und diese Dinge waren verdächtig«, erklärte sie ihnen. »Dieser hier«, sie deutete auf den Mann auf dem Boden, »ist kein Sklave. Er ist ein Magier von geringem Status. Man hat ihm Land und den Status eines Ashaki angeboten, wenn er sich als Sklave ausgab und half, Lorkin zu entführen.«

»Ihn zu entführen?«, wiederholte Dannyl. »Schon wieder?«

Ein warmer Ausdruck der Erheiterung trat in Savis Augen. »Nicht durch uns. Er hat das Angebot durch einen Freund erhalten. Er glaubt, dass es vom König kam, obwohl er keinen Beweis dafür hat.«

»Natürlich nicht.« Dannyl sah sich im Raum um, und sein Blick konzentrierte sich schließlich auf die Sklavin, die ihn in den Raum gebracht hatte. »Ist sie …?«

»Vertrauenswürdig? Ja«, antwortete die Verräterin.

»Gut.« Dannyl betrachtete die jüngere Frau. »Könntest du Botschafter Tayend wecken und ihn hierherbringen?«

Die Sklavin nickte und eilte davon. Sie hatte sich nicht auf den Boden geworfen oder sich auch nur verbeugt, wurde Lorkin bewusst. Dannyl war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um es zu bemerken. Er ging zu dem Mann hinüber und starrte auf ihn hinab. »Nicht gefesselt«, murmelte er.

»Ich habe seine Stärke genommen«, erwiderte Savi. »Wollt Ihr, dass ich ihn töte?«

»Nein. Jedenfalls nicht jetzt schon. Wir sollten aber nichts in seiner Hörweite oder vor seinen Augen erörtern.«

Die Frau zuckte die Achseln. Eine Kuppel weißen Lichts bedeckte das Gesicht des Mannes. »Er wird Euch nicht hören oder sehen. Ich bin übrigens Savi.«

»Danke für dein Eingreifen, Savi«, sagte Dannyl. »Er denkt also, der König stecke dahinter?«

Sie nickte. »Amakira hat wahrscheinlich beabsichtigt, den Verrätern die Schuld an Lorkins Entführung in die Schuhe zu schieben.«

»Woraufhin er Lorkins Gedanken gelesen hätte …«

»Woraufhin er es versucht hätte«, korrigierte ihn die Spionin.

»Sie hätten die Informationen aus ihm herausgefoltert und ihn dann getötet und es so aussehen lassen, als hätten die Verräter es getan.«

Ein Schauer überlief Lorkin. Bilder der gefolterten Sklavin blitzten vor seinem inneren Auge auf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so lange durchhalten würde wie sie.

Eine Bewegung an der Tür erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Raum. Tayend trat ein, und die junge Sklavin folgte ihm. Er sah nacheinander den am Boden liegenden Mann, Savi, Lorkin und Dannyl an und hörte schweigend zu, während man ihm alles erzählte, was besprochen worden war.

»Was jetzt zählt, ist die Frage, was der König tun wird, wenn er begreift, dass sein Plan gescheitert ist«, sagte er. »Wir haben keinen Beweis dafür, dass er dies arrangiert hat. Wenn wir es andeuteten, wäre das eine Beleidigung. Er könnte auch beschließen, Lorkin einfach zu seinem eigenen Schutz aus dem Gildehaus zu entfernen.« Er sah Lorkin an. »Irgendwohin, wo niemand ihn finden wird.«

Lorkin zuckte zusammen. »Können wir so tun, als sei nichts geschehen?«

Dannyl und Tayend tauschten einen Blick.

»Könnten wir«, erwiderte Tayend, »wäre dieser Mann hier nicht. Wir können ihn nicht töten. Er gilt wohl als Eigentum des Königs.«

Dannyl betrachtete den Mann mit schmalen Augen. »Nun, wenn wir alle so tun, als sei er einfach ein Sklave … wir könnten sagen, dass wir ihn dabei ertappt haben, wie er Magie benutzte, und verlangen, dass er entfernt wird. Wir müssten warten, bis er seine Stärke wiedererlangt hat, oder sie werden sich fragen, wie es einer von uns geschafft hat, ihm seine Macht zu nehmen.«

»Wir können ihn nicht wegschicken. Er weiß, dass Savi eine Verräterin ist«, protestierte Lorkin. »Wenn er das dem König erzählt, wird sie in Gefahr sein.«

Dannyl sah Savi an. »Könnt Ihr fortgehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Dieses Haus wird streng bewacht, Tag und Nacht. Essen und andere Vorräte werden hierhergebracht. Die Sklaven, die versucht haben, das Haus wegen anderer Dinge zu verlassen, sind aufgehalten worden.« Sie blickte auf den Spion hinab. »Der König könnte seine Anwesenheit hier immer noch als Grund benutzen, Lorkin an einen sicheren Ort bringen zu lassen. Ich vermute, es gibt hier weitere Sklaven, die Amakiras Spione sind.«

Sie tauschten stumme, besorgte Blicke. Dann seufzte Dannyl und sah Lorkin an.

»Wir müssen dich aus Sachaka wegbringen.«

»Ich kann dir nur zustimmen«, murmelte Tayend. Er sah Savi an. »Ich nehme an, diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit unserer Sklaven bedeutet, dass Eure Leute das nicht arrangieren können?«

»Wenn wir es könnten, hätten wir es bereits getan.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte davon gewusst. Ich erwarte nicht, alles zu wissen, aber je mehr ich weiß, desto einfacher ist es, Entscheidungen zu treffen.«

»Wenn ich es Euch erzählt hätte, hätte ich offenbart, wer ich bin«, bemerkte Savi.

Dannyl wandte sich zu der Verräterin um. »Nun, Ihr habt es jetzt getan, und das könnte zu unserem Vorteil sein. Könntet Ihr die Gedanken aller Sklaven hier lesen? Herausfinden, welche von ihnen Amakiras Spione sind – und ob irgendwelche von ihnen Magier sind?«

Sie nickte langsam. »Ja«, sagte sie, jedoch mit Widerstreben.

Lorkin runzelte die Stirn. Aber das würde allen Sklaven verraten, wer sie ist. Doch wie sonst sollen wir herausfinden, welche Sklaven Spione oder mögliche Entführer sind? Dann fröstelte es ihn, als ihm etwas anderes einfiel.

Sie war nicht die einzige Person im Gildehaus, die Gedanken lesen konnte.

Aber wenn er offenbarte, dass er es konnte, würde er viel, viel mehr offenbaren. Irgendwann muss ich es tun, und ich lasse nicht zu, dass meinetwegen eine weitere Frau gefoltert und getötet wird.

»Ich werde es tun«, erklärte er.

Dannyl und Tayend starrten ihn an.

»Du kannst …?« Tayends Augenbrauen zuckten in die Höhe. »Oh!«

Lorkin sah, wie Dannyl die Stirn runzelte, und wappnete sich gegen die Missbilligung des Mannes, aber dieser schüttelte nur den Kopf.

»Zieh keine voreiligen Schlüsse, Tayend«, mahnte er. »Sonea hat gelernt, Gedanken zu lesen, bevor sie schwarze Magie erlernt hat.«

Tayend wirkte erleichtert. »Wirklich? Ich dachte, dass nur Schwarzmagier in der Lage wären, die Gedanken einer Person zu lesen, die damit nicht einverstanden ist.«

Dannyls Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. »Wir lassen die Menschen in diesem Glauben. Wie schwarze Magie ist es eine Fähigkeit, die zu leicht missbraucht werden könnte.«

Tayend drehte sich um, um Lorkin zu betrachten, und sein Blick war scharf und nachdenklich. Er fragt sich, was ich sonst noch gelernt habe. Sollte ich ihm jetzt die Wahrheit sagen? Es könnte verdächtig wirken, wenn ich es zu lange verberge.

»Eine weitere Information, die du mir nicht gegeben hast, damit ich sie nicht offenbaren kann, wenn ich verhört werde?«, fragte Dannyl.

Lorkin nickte. Er hat recht. Ich kann es ihm noch nicht sagen.

»Nun …« Dannyl wandte sich an Savi. »Ich werde alle Ausgänge des Hauses blockieren, um sicherzustellen, dass niemand versucht, es zu verlassen. In der Zwischenzeit weckt den obersten Sklaven und schickt ihn ins Herrenzimmer, wo Lorkin ihm befehlen wird, alle Sklaven zu ihm zu bringen, um ihre Gedanken zu lesen.« Er betrachtete den gescheiterten Entführer. »Wir sollten ihn irgendwo einsperren, wo man ihn nicht sieht.« Er seufzte. »Dies kann kaum als ›Plan‹ bezeichnet werden, aber es wird uns Zeit verschaffen, um uns etwas Besseres einfallen zu lassen.«

13 Unerwartete Hilfe

Ich bin ein wenig … neu in diesem Metier«, erklärte Lorkin mit entschuldigender Miene, als Dannyl sich neben ihn setzte. »Es könnte eine Weile dauern.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Überstürze es nicht. Ich habe jede Menge Stoff zum Nachdenken. Wie die Frage, wie wir dich aus diesem Schlamassel befreien können.«

»Lasst uns hoffen, dass wir Zeit genug für beide Aufgaben haben.« Lorkin rief einen der Sklaven herbei. Der Mann warf sich zu Boden. Lorkin befahl dem Sklaven, sich vor ihm hinzuknien, dann legte er dem Mann beide Hände an den Kopf und schloss die Augen.

Dannyl betrachtete die übrigen wartenden Sklaven. Abgesehen von einigen überrascht hochgezogenen Augenbrauen verrieten sie durch nichts, welche von ihnen möglicherweise Spione des Königs waren. Er sah zu Tayend hinüber, der auf der anderen Seite von Lorkin saß. Der Elyner schaute Dannyl in die Augen und nickte, vielleicht zum Zeichen, dass er die Sklaven ebenfalls beobachtete.

Savi, die Verräterin, hatte ihm versichert, dass unter den Sklaven weitere Spione der Verräter sein würden und dass sie helfen würden, sollte ein falscher Sklave auf seine Enttarnung mit einem Angriff reagieren. Es wäre jedoch besser, wenn sie nicht gezwungen würden, ihre Identität zu offenbaren. Was den gescheiterten Entführer anging, war er in einen steinernen Lagerraum unter der Küche gesperrt worden, und Savi und Merria bewachten ihn.

Also. Zeit zum Nachdenken, überlegte Dannyl. Falls der König dies tatsächlich arrangiert hat, dann wird er wissen, dass sein Plan gescheitert ist, wenn sein Entführer nicht mit Lorkin auftaucht. Er weiß vielleicht bereits, dass der Plan gescheitert ist, wenn der Mann Lorkin mittlerweile hätte abliefern sollen. Also, was wird er tun?

Er kann nichts tun, es sei denn, wir lassen durchblicken, dass etwas geschehen ist, es sei denn, er hatte einen weiteren Sklaven platziert, der sich davonstehlen und »Hilfe« holen sollte. Also, was, wenn er es getan hat? Wenn wir behaupten, Lorkin habe die Gedanken des Entführers gelesen und die Wahrheit entdeckt, wird der König darauf bestehen, dass wir den Mann ausliefern, damit er ihn überprüfen kann. Der Mann wird irgendeine Art von Unfall erleiden, und wenn Amakira behauptet, der Mann sei dazu überlistet worden zu denken, dass er für den König arbeite, wird niemand in der Lage sein, das Gegenteil zu beweisen. Er wird dann die versuchte Entführung als Vorwand benutzen, um Lorkin wegzubringen.

Wenn wir so tun, als sei nichts geschehen, wird der König wissen, dass wir lügen. Der Entführer kann etwas anderes beweisen. Dannyl wollte den Mann nicht töten. Nicht nur weil er lieber niemanden ermorden wollte, sondern aus einem gänzlich anderen Grund: Wenn Beweise dafür gefunden würden, dass ein Kyralier einen Sachakaner getötet hatte – insbesondere einen freien Sachakaner –, würde es den bereits wackeligen Frieden zwischen ihren Ländern noch weiter schwächen. Und ich würde im Gefängnis des Palastes enden, weil ich Eigentum des Königs zerstört habe.

Was konnte er sonst mit dem Mann machen? Ihn wegschmuggeln? Da das Haus so genau beobachtet wurde, dass nicht einmal eine Verräterin glaubte, sich hinausschleichen zu können, bezweifelte er, dass sie Erfolg haben würden. Wenn wir ihn töten, werden wir den Leichnam völlig zerstören oder sicherstellen müssen, dass jemand anders die Schuld dafür bekommt. Er schüttelte den Kopf. Ich kann nicht glauben, dass ich darüber nachdenke.

Ein leises Hämmern lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Lorkin hatte den ersten Sklaven auf die andere Seite des Raumes geschickt. Er sah Dannyl an.

»Ich glaube, es klopft jemand an die Vordertür.«

Da alle Sklaven im Herrenzimmer versammelt waren, war niemand draußen, um jemanden zu begrüßen. »Nun, das hat ja nicht lange gedauert«, murmelte Dannyl.

»Es ist noch nicht zu spät für gesellschaftliche Besuche«, sagte Tayend. »Jedenfalls nach sachakanischen Maßstäben.«

Dannyl seufzte und stand auf. »Ich werde nachsehen, wer es ist.«

Lorkin wirkte nicht beruhigt. »Soll ich … das Herrenzimmer räumen?«

»Ja, aber …« Wohin sollten sie die Sklaven bringen?

»Bringt sie in meine Räume«, erbot sich Tayend. »Ihr könnt dort weiter ihre Gedanken lesen.«

Dannyl betrachtete den einzigen Sklaven, dessen Gedanken bereits gelesen worden waren. »Ist er vertrauenswürdig?«

Lorkin zuckte die Achseln. »Er ist kein Spion, wenn es das ist, was Ihr meint.«

»Das reicht mir.« Auf ein Zeichen von Dannyl eilte der Sklave zu ihm und warf sich auf den Boden. »Warte, bis alle außer mir den Raum verlassen haben, dann bring unseren Besucher hierher«, befahl Dannyl.

Nach überraschend kurzer Zeit war Dannyl allein im Herrenzimmer. Er holte tief Luft, stieß den Atem langsam aus und machte sich auf eine Gruppe sachakanischer Magier gefasst, die aus dem Flur kamen. Es drangen jedoch nur wenige Schritte an seine Ohren, und dann erschien ein einzelner Mann und blieb zögernd auf der Türschwelle stehen.

»Achati!« Der Name rutschte Dannyl heraus. »Ashaki Achati«, fügte er schnell hinzu, wie die Höflichkeit es gebot.

Achati hatte eine steile Falte zwischen den Brauen. Er schaute Dannyl forschend ins Gesicht, als er herbeigeeilt kam. Er wirkt ängstlich, dachte Dannyl. Tatsächlich ringt er die Hände.

»Botschafter. Dannyl.« Achati blieb zwei Schritte entfernt stehen und sah Dannyl abermals forschend an. »Ich muss Euch vor einer Verschwörung warnen. Ich erwarte nicht, dass Ihr mir glauben werdet, aber ich musste es zumindest versuchen. Der König hat einen Spion unter Euren Sklaven. Es ist wahrscheinlich ein Mann, da wir nur wenige weibliche Magier haben und man ihnen nicht vertraut. Er wird irgendwann im Laufe der nächsten Tage versuchen, Lorkin zu entführen. Ihr müsst Wachen aufstellen und den Zugang der Sklaven zu Lorkin einschränken. Und vielleicht könntet Ihr, um den Spion zu enttarnen, diese Verhörfähigkeiten einsetzen, die Ihr gezeigt habt, als wir nach Lorkin gesucht haben.«

Dannyl sah Achati mit einer Mischung aus Erheiterung und Argwohn an. Was führt er im Schilde? Warum uns warnen, wenn es bereits geschehen ist? Will er uns mit einem Trick dazu bringen, ihm zu vertrauen? Hat der König ihn geschickt, um festzustellen, ob sein Entführer schon gehandelt hat? Hmm. Ich schätze, ich werde mitspielen und feststellen müssen, wohin das führt.

»Wenn wir diese Entführung vereiteln, was sollen wir dann tun?«, fragte er. »Den Spion töten?«

Achati schüttelte den Kopf. »Nein, damit würdet Ihr königlichen Besitz zerstören.«

»Nur wenn der Spion ein Sklave ist und der König zugibt, dass der Mann ihm gehört.«

»Oh, er wird gar nichts zugeben. Er wird behaupten, nichts von der Verschwörung zu wissen, und er wird sagen, die Verräter hätten den Mann bestochen. Wenn der Mann als Magier enttarnt wird und feststeht, dass er kein Sklave ist, wird man Euch des Mordes anklagen.«

»Ungeachtet der Tatsache, dass ich dies nicht wusste?« Dannyl schüttelte den Kopf. »Also stellt er mir eine Falle.«

Achati zuckte die Achseln. »Nicht direkt, aber wenn Ihr töricht genug wärt, den Mann zu töten, würde das dem König die perfekte Ausrede liefern, Euch nach Kyralia zurückzuschicken.«

»Was ist denn das Ziel des Königs? Ah. Es geht darum, einen guten Grund zu finden, um zu behaupten, Lorkin sei hier nicht sicher, so dass man ihn wegbringen kann.«

Achati verzog den Mund zu einem grimmigen, aber anerkennenden Lächeln. »Ich wusste, dass Ihr die Gefahr erkennen würdet.«

»Also, was machen wir jetzt? Wir werden nicht so tun können, als sei nichts geschehen. Der Spion wird den König über das Scheitern seiner Mission informieren. Er wird es wieder versuchen, oder der König wird einen anderen Spion schicken, der Lorkin entführen soll. Es könnten bereits andere hier sein, für den Fall, dass der erste Versuch scheitert.«

Achati schnitt eine Grimasse. »Wenn Lorkin nach Kyralia zurückgeschmuggelt werden kann, solltet Ihr es veranlassen.«

Dem Befehl des Königs zuwiderhandeln? Das ist nicht das, was ich erwartet habe. »Wie?«

Achati kniff sich mit zwei Fingern in die Unterlippe und runzelte die Stirn. »Wenn es irgendwelche Verräter unter den Sklaven gibt, können sie es vielleicht arrangieren.«

»Während das Haus so genau beobachtet wird? Ich bezweifle es. Ist das alles eine Verschwörung, um einige Verräter zu fangen?«

Achati öffnete den Mund, um zu antworten, aber eine andere Stimme kam ihm zuvor.

»Nun, nun. Ashaki Achati. Was führt Euch zu dieser späten Stunde ins Gildehaus?«

Als Dannyl und Achati sich umdrehten, sahen sie Tayend hereinschlendern. Der Elyner verzog entschuldigend die Lippen, als er sich Achati näherte. Dann blickte er Dannyl an. »Merria hilft aus«, fügte er leise hinzu und beruhigte damit Dannyl, dass Lorkin mit den Sklaven nicht allein war.

Achati nickte. »Man hat mich geschickt, um einen weiteren Versuch zu unternehmen, Lorkin dazu zu überreden, morgen zu sprechen, aber …« Er wiederholte seine Warnung den Entführer betreffend. »Das ist der wahre Grund für meinen Besuch.«

»Ihr denkt, Dannyl sollte die Sklaven verhören?«

»Ja, um herauszufinden, welcher von ihnen der Spion ist.«

»Wäre das nicht gefährlich? Ihr sagtet, dieser Spion sei ein Magier? Wie stark ist er? Ist er ein Höherer Magier?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Achati. »Wahrscheinlich. Er hat Befehl, niemanden zu töten. Er …« Sein Blick wanderte zu der Tür, durch die Tayend eingetreten war. Dannyl folgte seinem Blick und war überrascht, als Lorkin hereinkam.

Der junge Mann sah Dannyl kurz in die Augen, dann schaute er wieder weg. Seine Augen waren sehr dunkel und sein Gesicht bleich. Er straffte sich und bedachte Achati mit einem gezwungenen Lächeln.

»Ashaki Achati. Was führt Euch so spät am Abend noch hierher?«, fragte Lorkin, dessen Stimme freundlich, aber angespannt klang. »Seid Ihr gekommen, um mich wieder in das Gefängnis des Palastes zu bringen?«

Ein seltsamer, gequälter Ausdruck glitt über Achatis Züge, dann hellte sich die Miene des Mannes auf. »Nein, nein. Ich versuche, genau das zu verhindern.«

Was war das für ein Gesichtsausdruck?, fragte sich Dannyl. Dann versetzte es ihm einen Stich, als er erkannte, was er da gesehen hatte: Mitgefühl und Kummer. Seine jüngsten Zweifel Achati betreffend wurden ein wenig schwächer.

»Achati hat uns gewarnt, dass ein Spion unter den Sklaven in Kürze versuchen wird, Euch zu entführen«, sagte Tayend.

Lorkins Augen weiteten sich, und er schaute von Tayend zu Dannyl. »Wirklich?«

»Ja«, bestätigte Dannyl. »Morgen Nacht oder in einer darauf folgenden Nacht.«

Dannyl war erleichtert zu sehen, dass Lorkins Augen schmal wurden, während er die Konsequenzen überdachte. Er sah wieder Achati an.

»Warum helft Ihr uns?«, fragte er unumwunden.

»Ich …« Achati seufzte, senkte den Blick und hob dann den Kopf, um abwechselnd Tayend, Lorkin und Dannyl anzusehen. »Es gefällt mir nicht, wie der König Euch behandelt. Sachaka mag Kyralia als Verbündeten nicht benötigen, aber es benötigt auch keinen weiteren Feind. Wir haben vor einigen Monaten etwas erfahren, das bei uns zu Meinungsverschiedenheiten geführt hat. Die …« Achati hielt inne, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Ich sehe keine Möglichkeit, es zu erklären, ohne es Euch zu sagen: Unser Spion unter den Duna hat offenbart, dass die Verräter vorgeschlagen haben, dass die Duna sich mit ihnen zusammentun, um Sachaka zu übernehmen.«

Ein Frösteln überlief Dannyl. Ich frage mich …

»Unh?«, fragte er.

Achati lächelte. »Ich werde Euch kaum verraten, wer unsere Spione sind, Dannyl.«

»Nein«, stimmte Dannyl ihm zu. »Aber Unhs Name hat bei seinen Leuten einige interessante Reaktionen entfacht, als ich ihn erwähnt habe. Wenn er es ist, dann vermute ich, dass sie wissen, dass er ein Spion ist.«

»Die Duna haben die Anfrage der Verräter abgelehnt. Viele der Ashaki sind zu dem Schluss gekommen, dass die Verräter die Duna nicht ansprechen würden, wenn sie sie nicht brauchten, und sie sind zuversichtlich, dass die Verräter eine Konfrontation mit uns nicht gewinnen würden.«

War das der Grund, warum die Verräter die steinernen Höhlen der Duna zerstört hatten? War es eine Strafe dafür, dass sie sich geweigert haben zu helfen?, ging es Dannyl durch den Kopf.

»Der König stimmt dem zu«, fuhr Achati fort. »Er glaubt nicht, dass es Grund gibt, die Gilde zu fürchten. Er sagt, Ihr seid eine Gilde von nur zwei Magiern. Es ist wichtiger, Sachaka von der Bedrohung durch die Verräter zu befreien, bevor sie stark genug werden, um uns zu besiegen, als es zu vermeiden, Kyralia und die Verbündeten Länder vor den Kopf zu stoßen. Einzig die Stimmen der Ashaki, die den Handel und den Frieden mit den Verbündeten Ländern nicht verlieren wollen – Männer wie ich selbst –, hindern ihn daran, Lorkin die Informationen mit Gewalt zu entlocken.«

Achatis Worten folgte angespanntes Schweigen. Lorkin starrte zu Boden. Der junge Magier seufzte und sah Achati dann mit schmalen Augen an.

»Ihr wärt nicht hierhergekommen, wenn Ihr nicht bereit wärt, gegen die Befehle und Wünsche Eures Königs zu verstoßen«, stellte er fest. »Wie weit seid Ihr bereit zu gehen?«

Der Sachakaner erwiderte Lorkins Blick. Er wirkte unsicher. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Es ist etwas ganz anderes, meinen König an einer Torheit zu hindern oder ihn rundheraus zu verraten. Was habt Ihr im Sinn?«

Lorkin öffnete den Mund zu einer Erwiderung, kam aber nicht dazu zu sprechen.

»Bringt den Spion weg«, warf Tayend ein. »Lasst ihn verschwinden.«

Dannyl runzelte die Stirn. Obwohl es eine Prüfung für Achatis Vertrauenswürdigkeit war, war es keine gute. Wenn Achati den Spion stattdessen zum König brachte, würde der König immer noch behaupten, dass Lorkin im Gildehaus nicht sicher war – und er würde herausfinden, dass Savi eine Verräterin war.

»Nein«, sagte Lorkin. »Nehmt mich mit.«

Dannyl blinzelte überrascht. Vielleicht hat er nicht begriffen, dass das Ganze ein Trick sein könnte, um uns dazu zu bringen, Achati zu vertrauen. Tayend schüttelte den Kopf und legte Lorkin eine Hand auf den Arm, aber bevor irgendjemand sprechen konnte, hob Lorkin die Hände, um ihren Protesten zuvorzukommen.

»Ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass es ein Risiko ist.« Er sah Achati fest an. »Er könnte mich dem König ausliefern, aber nach der Anzahl von Sklaven hier, die keine Sklaven sind – und ich meine nicht, dass sie Verräter sind –, werde ich ohnehin bald wieder im Palast landen.«

Diesmal ließ der Schauer, der Dannyl überlief, seinen ganzen Körper kalt werden. Wie viele Spione genau gibt es hier? Wie viele von ihnen sind Magier?

»Ihr braucht mich nur aus dem Gildehaus zu schmuggeln und mich in Eure Villa zu bringen«, sagte Lorkin zu Achati. »Den Rest werden die Verräterinnen veranlassen. Sie werden sicherstellen, dass der König nichts von Eurer Rolle bei meiner Flucht erfährt. Als Gegenleistung und nicht bevor ich weiß, dass ich sicher und frei bin …«, Lorkin seufzte, dann verhärteten sich seine Züge, »… werde ich die Frage beantworten, die den König am meisten interessiert. Ich werde Euch verraten, wo die Heimat der Verräter ist.«

Achati starrte Lorkin an, und seine Überraschung verwandelte sich in Nachdenklichkeit und dann in Anerkennung. Er nickte. »Das kann ich tun. Es wird nicht leicht sein, Euch ungesehen in die Kutsche zu bringen, aber …«

»Lorkin«, unterbrach Dannyl. »Du brauchst das Vertrauen der Verräter nicht zu …«

»Lass ihn gehen«, sagte Tayend. Er sah Dannyl in die Augen, und sein Blick war scharf und entschlossen. Dann nickte er. Ein Stich des Ärgers durchzuckte Dannyl, doch die Regung legte sich schnell wieder.

Tayend würde nichts tun, was Lorkins Leben unnötig gefährdet. Er muss denken, dass es funktionieren wird. Oder dass es die einzige Chance ist, die Lorkin hat. Was bedeutete, dass Tayend dachte, dass Achati die Wahrheit sagte. Wie seltsam, dass es Tayend ist, der Achati jetzt vertraut, wo ich mir seiner nicht länger sicher bin.

Dannyl konnte glauben, dass Achati das Tun des Königs nicht guthieß, aber es würde eine Menge dazugehören, um ihn davon zu überzeugen, dass der Mann bereit war, gegen die Befehle seines Herrschers zu verstoßen und zu riskieren, dass seine Taten entdeckt und als Verrat betrachtet werden würden. Er würde nicht nur das Vertrauen des Königs verlieren, sondern seine Position, seinen Ruf und seinen Wohlstand. Und möglicherweise sein Leben.

Aber Dannyl fiel keine Alternative ein, daher beobachtete er nur schweigend, wie Achati und Lorkin ihre Übereinkunft mit Gelübden besiegelten. Als sie fertig waren, strahlte Tayend sie alle an.

»Perfekt! Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie wir Lorkin in Achatis Kutsche bekommen, ohne dass unsere lästigen Beobachter etwas bemerken.«

Lilia leerte ihre Tasse Raka und seufzte vor Erleichterung. Während der letzten Tage hatte sie sich etwas angeschlagen gefühlt. Die langen Nächte unter der Erde und die frühen morgendlichen Unterrichtsstunden bei Kallen begannen ihren Tribut zu fordern.

Bei dem Gedanken daran, Kallen an diesem Morgen wieder gegenüberzutreten, unterdrückte sie ein Stöhnen. Anyi hatte ihr von dem Keller erzählt, den sie, Cery und Gol unter der Gilde entdeckt hatten, und sie hatte ihr auch von dem Gespräch berichtet, das sie belauscht hatten. Den Beschreibungen nach vermutete sie, dass es sich bei den beiden Magiern um Lady Vinara und den Heiler handelte, der dafür zuständig war, Heilkräuter anzubauen.

Die Neuigkeit, dass sie Feuel anbauen wollten, hatte sie zu Anfang schockiert, aber es ergab einen Sinn. Sie stimmte Cerys Theorie nicht zu, dass die Gilde Feuel anbauen wollte, um Skellin aus dem Geschäft zu drängen – oder um zumindest zu verhindern, dass er der einzige Lieferant der Drogen an Magier war. Es war viel wahrscheinlicher, dass die Gilde Feuel anbauen wollte, um ein Heilmittel gegen die Sucht zu finden und außerdem das Potenzial der Pflanze als Heilmittel gegen andere Krankheiten zu erkunden.

Aber die Neuigkeit, dass die Gilde Feuel-Samen suchte, weckte anderen Argwohn, und aus diesem Grund freute sie sich nicht auf die Begegnung mit Kallen. Ein Teil von ihr wollte ihn mit dem konfrontieren, was sie erfahren hatte. Ist das der Grund, warum er Cery nicht helfen will, Skellin eine Falle zu stellen? Haben er und die anderen Magier, die nach Feuel süchtig sind, Angst, Skellin zu entfernen, weil sie befürchten, dass sie auf dem Trockenen sitzen könnten?

Cery hatte ihr gesagt, dass sie ihr Wissen für sich behalten solle, es sei denn, sie hätte einen guten Grund, es preiszugeben. Sie würde Kallen gegenüber so tun müssen, als wüsste sie nichts, und irgendwie würde sie sich benehmen müssen, als hätte sie nicht den Verdacht, dass er selbstsüchtige Motive dafür hatte, ihren Freunden nicht helfen zu wollen.

»Ihr seid heute ja so nachdenklich«, bemerkte Jonna. Sie trat an den Tisch und beugte sich vor, um die leeren Schalen vom Frühstück abzuräumen. Während sie das tat, fing Lilia einen seltsamen, aber angenehmen Duft auf.

»Trägst du Parfüm, Jonna?«, fragte sie.

Jonna zögerte und wirkte ein wenig schuldbewusst. »Ja.«

»Was ist los?« Lilia runzelte die Stirn. »Du trägst normalerweise kein Parfüm. Ist es Dienern verboten?«

»Oh, niemand würde viel Theater deswegen machen.« Jonna wedelte mit der Hand. »Aber … Sonea mag diesen Duft nicht. Er war einmal ihr Duft, aber nachdem sie herausfand, woraus das Parfüm gemacht war, hat sie mir gesagt, ich solle es wegwerfen. Ich mag das Parfüm, und … nun, man kann der Pflanze nicht vorwerfen, was sie ist. Ich benutze das Parfüm natürlich nicht, wenn sie in der Nähe ist.«

»Was der Grund ist, warum es mir bisher nie aufgefallen ist.« Lilia nickte. »Es ist wunderbar. Woraus ist es gemacht?«

Wieder blickte Jonna schuldbewusst drein. »Aus Feuel-Blüten.«

Überrascht schnupperte Lilia und versuchte, eine Verbindung zwischen dem Geruch und dem Gestank von Feuel-Rauch zu finden. »Es ist schwer zu glauben, dass der Duft von derselben Pflanze stammt.« Dann kam ihr ein anderer Gedanke. »Woher bekommen die Parfümmacher denn die Feuel-Blüten?«

Jonna zuckte die Achseln. »Ich nehme an, von den Leuten, die Feuel als Droge anbauen.«

Lilia dachte an ihre Lektionen in der Heilkunst, die sich um die Quellen der Heilmittel der Gilde drehten, und überlegte, was sie über Pflanzen wusste. Blüten enthielten für gewöhnlich die Samen einer Pflanze. Die Gilde wollte Feuel-Samen. Nach dem, was Anyi gesagt hatte, waren die Pflanzen, die die Gilde angebaut hatte, kein Feuel. Man hatte sie überlistet. Cery dachte nicht, dass irgendein Feuel-Anbauer es wagen würde, Samen an die Gilde zu verkaufen – obwohl es ihnen nicht widerstrebte, die Gilde zu betrügen und etwas Profit zu machen, indem sie ihr falschen Samen verkauften. Wenn Skellin herausfand, dass sie irgendjemandem Feuel-Samen verkauft hatten, würden sie nicht mehr lange leben.

Cery dachte nicht, dass Feuel überhaupt in Kyralia angebaut wurde. Er vermutete, dass es anderenorts kultiviert, geerntet und getrocknet wurde, bevor man es nach Imardin transportierte. Galt das Gleiche für das Parfüm? Die meisten Parfümhersteller kamen aus Elyne. Brauchten sie frische Pflanzen, oder würden getrocknete für die Herstellung von Parfüm genügen?

Lilia stand auf. »Ich sollte besser gehen. Ich will nicht zu spät kommen und Kallen nervös machen.«

Jonna lächelte. »Ich sehe Euch heute Abend.«

Auf dem Weg zur Arena dachte Lilia über alles nach, was sie wusste, und wie sie Antworten auf ihre Fragen bekommen könnte, ohne allzu viel von ihrem Wissen zu offenbaren. In kurzen Augenblicken der Ruhe während Kallens Unterrichtsstunde wog sie die Risiken und Vorteile ab. Je eher die Gilde an Feuel-Samen herankommt, desto eher wird Kallen Cery helfen. Ich muss nur herausfinden, wie ich Kallen sagen kann, dass ich weiß, dass die Gilde versucht, Feuel anzubauen, ohne dabei preiszugeben, wie ich zu diesem Wissen gekommen bin …

Als Kallen den Unterricht für beendet erklärte, ging sie nicht sofort zur Universität zurück. Er zeigte bereits wieder diese distanzierte, geistesabwesende Art, den unsteten Blick, der erkennen ließ, dass er die Droge benötigte. Als er sah, dass sie nicht wegging, runzelte er die Stirn, und seine Lippen wurden schmal.

»Ihr könnt jetzt gehen«, wiederholte er.

»Ich weiß, aber ich dachte, Ihr würdet gern etwas wissen: Auf der Straße geht das Gerücht, dass die Gilde versucht haben soll, Feuel-Samen zu kaufen. Ist das wahr?«

Er blickte sie direkt an. Seine Pupillen weiteten sich. Das hat deine Aufmerksamkeit erregt, dachte sie.

»Ihr solltet nicht alles glauben, was Ihr von Euren Freunden hört«, erwiderte er.

»Aber es ist wahr, oder?« Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Ist das der Grund, warum Ihr Cery nicht helfen wollt? Aus Angst, der Vorrat würde ausgehen, wenn der Lieferant gefangen wird?«

Kallens Augen blitzten vor Zorn, und er presste die Zähne aufeinander. »Ihr habt keine Ahnung, welches Glück Ihr habt«, sagte er.

Sie blinzelte überrascht, dann verspürte sie ein Aufblitzen von Ärger. »Glück? Ich? Meine beste Freundin hat mich dazu überredet, schwarze Magie zu erlernen, um mir die Schuld an der Ermordung ihres Vaters in die Schuhe zu schieben, und dann hat sie versucht, mich zu töten. Die einzigen Menschen, denen an mir liegt, sind weit entfernt oder könnten jetzt jeden Tag sterben.«

Seine Augen weiteten sich, dann wurde seine Miene weicher. »Ich entschuldige mich. Ich meinte nur …« Er wandte den Blick ab und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. »Ihr habt Glück, dass Ihr es vermieden habt, von Feuel gefangen zu werden. Es gibt viele, viele Magier, die wünschten, sie hätten Eure Widerstandskraft.«

Wie du selbst, dachte sie. Aber sie stellte fest, dass sie den Abscheu, den sie ihm gegenüber empfand, nicht aufrechterhalten konnte. Sein Ruf als ein Mann von unfehlbarer Integrität war entscheidend für seine Rolle als Schwarzmagier. Es musste demütigend sein, seine Willenskraft an eine reine Lustdroge zu verlieren, und es musste sein Selbstbewusstsein erschüttert haben. Die Tatsache, dass er ein Schwarzmagier war, musste die anderen Magier, die von seiner Sucht wussten, nervös machen. Und es war beängstigend, darüber nachzudenken, was geschehen könnte, wenn gewöhnliche Magier in größerer Zahl so zu Geiseln Skellins wurden.

»Wie viele?«, fragte sie, außerstande, die Sorge aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Er runzelte die Stirn. »Das kann ich Euch nicht sagen. Aber … wir tun etwas, um ihnen zu helfen.«

»Indem Ihr versucht, die Droge anzubauen?«

»Indem wir zumindest die Kontrolle über den Nachschub an uns bringen. Indem wir ein Heilmittel finden oder wenn möglich eine weniger verheerende Droge züchten.« Kallen seufzte. »Ihr habt zum Teil recht. Wir würden unsere Chancen, Samen an uns zu bringen, verringern, wenn Skellin getötet wird. Wir können nicht riskieren zu versuchen, ihn zu fangen. Noch nicht.« Er sah ihr fest in die Augen, und eine grimmige Entschlossenheit trat in seinen Blick. »Ich verspreche, sobald wir haben, was wir brauchen, werden wir Skellin finden und aus dem Weg schaffen. Das mag einschließen, dass wir das Angebot Eures Freundes annehmen werden, wenn er immer noch bereit ist, das Risiko einzugehen.«

Lilia nickte. Sie dachte über das nach, was er ihr gesagt hatte. Es machte Sinn, und sie konnte keinen Hinweis darauf erkennen, dass er log. Es hatte keinen Vorteil, wenn sie ihre Idee länger zurückhielt.

»Habt Ihr gewusst, dass in der Stadt ein neues Parfüm verkauft wird, das man aus Feuel-Blüten herstellt?«

Er zog die Brauen hoch, und der Funke des Interesses, den sie erwartet hatte, blitzte in seinen Augen auf. »Nein.«

»Sie müssen irgendwie an die Blüten herankommen.« Sie lächelte. »Vielleicht sollte die Gilde der Sache nachgehen. Wie dem auch sei, ich sollte mich jetzt auf den Weg zu meiner nächsten Unterrichtsstunde machen.«

»Ja. Verspätet Euch nicht …«, sagte er geistesabwesend.

Sie setzte sich in Bewegung. Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, dass sein Blick wie immer in die Ferne gerichtet war, aber diesmal zeigte sein Gesicht einen Ausdruck verblüffter Erkenntnis.

Es war beinahe unerträglich stickig und heiß im Wagen, und Lorkin konnte nicht mehr zählen, wie oft er sich an die Nase hatte greifen müssen, um nicht zu niesen. Wie die anderen Sklaven im Wagen war er bedeckt mit einem grauen Pulver, das dazu bestimmt war, Läuse zu töten. Aus irgendeinem Grund hatte man ihm das Haar rasiert. Seine Knöchel waren zusammengekettet und mit einem Metallring in der Mitte des Wagenbodens verbunden.

Sein Rücken juckte und brannte, wo er ausgepeitscht worden war, und er musste dem ständigen Drang widerstehen, die Striemen zu heilen. Es hatte für die Bestrafung keinen anderen Grund gegeben als den, dass der Fahrer seine Überlegenheit demonstrieren wollte, nachdem Ashaki Achatis Sklavenmeister ihn gewarnt hatte, dass »der da Ärger macht«. Er widerstand der Versuchung, voller Entsetzen seine Mitreisenden zu betrachten, und er bemühte sich, den Zorn zu verbergen, mit dem ihr Schicksal ihn erfüllte. Sie waren der Bodensatz der städtischen Sklaven, zu alt, zu krank, zu hässlich oder ungehorsam, um für ihre früheren Besitzer von Nutzen zu sein. Soweit sie wussten, wurden sie zur Arbeit in einer Mine im Süden der Stahlgürtelberge abtransportiert.

Das Feilschen war schnell gegangen, und es waren nur wenige Fragen gestellt worden, um den Verkauf zu beschleunigen. Anscheinend glaubten einige Sachakaner, dass ein Sklave, der in einem Haushalt geboren wurde, dort auch sein Gnadenbrot erhalten sollte, wenn er sein Leben lang fleißig für seinen Herrn gearbeitet hatte oder in dessen Dienst zum Krüppel geworden war. Manchmal folgten sie dem Minenwagen und beschimpften Besitzer, die ihre Sklaven verkauften. Keiner dieser Leute hatte den Karren heute verfolgt. Er war ohne Aufmerksamkeit zu erregen durch die Außenbezirke der Stadt gefahren.

Jetzt rollte er langsam hinaus aufs Land. Lorkin schloss die Augen und dachte zurück an seine Flucht aus dem Gildehaus.

Tayend hatte die Lösung dafür gefunden, Lorkin aus dem Haus zu bekommen, ohne dass die Beobachter etwas bemerkten. Sie wussten, dass es wahrscheinlich war, dass die Beobachter gezählt hatten, wie viele Sklaven Achati mitgebracht hatte, daher war er zu der Kutsche hinausgegangen und hatte einem Sklaven mitgeteilt, dass er ihn an das Gildehaus verleihen wolle, um über Lorkin zu wachen, in Wirklichkeit aber, um die Magier dort auszuspionieren.

Sobald der Sklave mit Dank akzeptiert und zu den Übrigen geschickt worden war, hatte Lorkin Achatis Kleidung übergestreift und, wo ihm das Fleisch des Ashaki fehlte, mit Lumpen unterfüttert. Achati hatte das Gewand eines Sklaven angelegt. Es wäre erheiternd gewesen zu beobachten, wie Tayend dem würdevollen Ashaki erklärt hatte, wie er auf die typische gebeugte Art der Sklaven zu gehen hatte, wenn sie sich nicht alle solche Sorgen gemacht hätten, dass ihr Plan scheitern könnte.

Wie immer war der Innenhof des Gildehauses von einer einzigen Lampe erhellt gewesen, und sie hatten beide das Gesicht davon abgewandt gehalten. Auf Tayends Vorschlag hin hielten sie ihr Benehmen simpel: Lorkin ging aus dem Haus und stieg in die Kutsche, Achati war hinter ihm hergeeilt und auf die Ladefläche der Kutsche geklettert. Sie hatten das Gildehaus ohne jede Störung verlassen. Den ganzen Weg bis zu Achatis Haus hatte Lorkin steif in der Kutsche gesessen und darauf gewartet, dass jemand sie anhielt, aber das geschah nicht. Sobald die Kutsche das Tor von Achatis Villa passiert hatte, war der Ashaki in die Kutsche gestiegen, und sie hatten hastig die Kleidung getauscht.

Lorkins Retter hatte ihm gesagt, dass er bleiben solle, wo er war, dann war er gegangen, um ein leises Gespräch mit einem Mann zu führen, von dem Lorkin später erfuhr, dass er der Sklavenmeister des Hauses war. Achati war zurückgekehrt, um ihm seinen Plan zu erklären. Einmal mehr würde Lorkin als Sklave getarnt werden, nur dass er diesmal bereit sein musste, eine härtere Behandlung zu ertragen – und hoffen, dass unter Achatis ausschließlich männlichen Sklaven Verräter waren.

Ich muss außerdem hoffen, dass sie mich gesehen und erkannt und herausgefunden haben, dass ich in diesem Karren bin, und dass es ihnen möglich ist, anderen Verrätern eine entsprechende Botschaft zukommen zu lassen. Und natürlich, dass die Verräter in der Lage sind, den Karren zu verfolgen, aufzuhalten und mich zu befreien, ohne meine oder ihre Identität preiszugeben.

Während er darüber nachdachte, kam es ihm vor, als sei es ein verrückter Plan, der auf zu viele verschiedene Weisen misslingen konnte.

Was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Ich könnte die ganze Strecke bis zu der Mine reisen müssen. Die Stahlgürtelberge verlaufen entlang der Grenze zwischen Sachaka und Kyralia. Wie schwer wäre es, mich mit Magie zu befreien und den Rest des Weges nach Kyralia zu reisen?

Wie schwer es war, hing davon ab, ob sachakanische Magier die Mine leiteten. Oder ob Ichani in den Bergen lauerten.

Ich sollte den Wagen verlassen, bevor ich dort ankomme, wenn keine sachakanischen Magier in der Nähe sind. Wenn ich nur wüsste, wie Sachaka dort unten in der südlichen Ecke aussieht. Erstreckt sich das Ödland bis zum Meer? Wandern die Ichani so weit durchs Land?

Der Wagen fuhr langsamer. Lorkin öffnete die Augen, und als er sich umschaute, sah er auf den Gesichtern der anderen Sklaven Furcht und Hoffnung. Er hörte, wie einem Mann der Magen knurrte. Vielleicht würde man ihnen jetzt Essen und Wasser geben.

Der Wagen hielt an, und Lorkin hörte draußen Stimmen.

»Der Brunnen wird wahrscheinlich einstürzen. Ich will keinen von meinen gefährden. Sie sind gesund und nützlich«, erklärte jemand mit hochmütiger Stimme.

Der Fahrer antwortete in einem leisen, schmeichelnden Tonfall. Lorkin konnte keine Worte verstehen.

»Nennt den Preis«, befahl der Hochmütige.

Eine Pause, dann bewegte sich der Wagen. Einen Moment später klapperte das Schloss, und die Türen wurden geöffnet. Helles Licht flutete herein und blendete Lorkin.

»Der da wird genügen.«

»Er bedeutet Ärger.«

»Dann werdet Ihr froh darüber sein, ihn loszuwerden. Falls er überlebt und Ärger macht, werde ich ihn Euch zurückschicken. Hier.«

Das Klimpern von Münzen folgte. Lorkins Augen hatten sich langsam an das Licht gewöhnt. Er konnte einen Ashaki neben dem Fahrer stehen sehen, der sich vorbeugte, um die Ketten eines der Sklaven aufzuschließen.

Lorkins Herz blieb stehen, als ihm bewusst wurde, dass diese Ketten seine eigenen waren.

Für einen wilden Moment erwog er, sich mit Magie aus dem Wagen freizusprengen, aber mit einiger Anstrengung widerstand er der Versuchung. Wo immer du endest, es wird dort Verräter geben, sagte er sich. Sie werden dich finden. Sie werden dich befreien.

Was immer dieser Ashaki ihm für eine Arbeit zugedacht hatte, es klang gefährlich, aber zumindest konnte Lorkin Magie benutzen, um sich zu schützen. Zumindest wird keiner der anderen Sklaven sein Leben dafür riskieren müssen.

»Komm mit«, sagte der Fahrer, packte Lorkins Bein und zog daran. Lorkin hievte sich hoch und kletterte über die Beine anderer Sklaven zwischen ihm und den offenen Türen. Er musste zu Boden springen, und die Ketten verhinderten, dass er das Gleichgewicht wahrte. Er fiel mit dem Gesicht voran in den Dreck.

Nun, zumindest erspart mir das die Demütigung, mich vor meinem neuen Besitzer auf den Boden werfen zu müssen.

»Bleib, wo du bist«, sagte die hochmütige Stimme.

Der Mann wartete, bis der Wagen weggefahren war, bevor er wieder sprach. Mittlerweile hatte Lorkin sich hinreichend verstohlen umgeschaut, um festzustellen, dass neben ihm und dem Ashaki zwei stämmige Sklaven standen.

»Steh auf. Folge mir.«

Lorkin gehorchte. Die Ketten klirrten und verkürzten seine Schritte, während er dem Ashaki und seinen beiden Sklaven durch ein kleines Tor in einen Innenhof folgte. Ein anderer Sklave wartete dort mit einem großen Hammer.

»Runter damit!«, befahl der Ashaki.

Der Sklave zeigte auf eine Werkbank. Lorkin setzte sich und positionierte gehorsam die Beinfesseln so, wie der Mann es wollte. Nach einigen nervenaufreibenden, aber akkuraten Schlägen fielen die Ketten von Lorkins Knöcheln.

Der Achati verfolgte das Ganze mit gelangweilter Miene. Dann bedeutete er Lorkin, ihm zu folgen, und führte ihn in das Gebäude. Feuchte, frisch parfümierte Luft umgab sie, als sie ein Badehaus betraten. Der Ashaki deutete auf einen Stapel Kleider auf einem hölzernen Sitz.

»Säubere dich, und zieh diese Kleider an. Beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit.«

Lorkin schaute hinter sich und sah, dass die beiden stämmigen Sklaven ihnen nicht in das Gebäude gefolgt waren. Der Ashaki lächelte, und aller Hochmut war erloschen. Dann verließ er den Raum.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Lorkin ging zu dem Sitzplatz hinüber und nahm das oberste Kleidungsstück vom Stapel. Ihm wurde plötzlich sehr viel leichter ums Herz, und er grinste.

Was er vor sich hatte, war die schlichte, bequeme Kleidung eines Verräters.

14 Eine weitere Planänderung

Gute Reise«, wünschte ihnen Wächter Orton, als die Kutsche auf sachakanischem Gebiet ihre Fahrt fortsetzte. Hier, auf der Nordseite, war das Fort mit einer Reihe kleiner Fenster versehen, einige helle Lichtquadrate, einige dunkel und fast unsichtbar. Sonea blickte zu dem Gebäude zurück, bis es von der Dunkelheit verschlungen wurde.

Dann löschte sie die kleine Lichtkugel, die sie in der Kutsche hatte schweben lassen. Die Dunkelheit fühlte sich passend an, um über Geheimnisse zu sprechen, und doch zögerte Sonea. »Es ist eine Erleichterung zu hören, dass Lorkin aus der Stadt geflohen ist«, stellte Regin fest.

»Ja«, erwiderte Sonea und nutzte die Gelegenheit, das Unvermeidliche noch eine Weile hinauszuzögern. »Dannyl wird ebenfalls froh darüber sein. Ich weiß nicht, wie genau er es arrangiert hat, aber er musste dafür gewiss ein großes Risiko eingehen. Obwohl … wir müssen darauf vertrauen, dass die Nachricht tatsächlich von den Verrätern kommt und dass sie wahr ist.«

»Denkt Ihr, es könnte eine Lüge sein?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn die Nachricht von den Verrätern gekommen ist. Ich werde allerdings den Gedanken nicht los, dass es sich auch um eine kunstvolle List König Amakiras handeln könnte. In dem Fall muss Lorkin ebenfalls gründlich getäuscht worden sein, denn ich habe nicht den geringsten Verdacht bei ihm wahrgenommen, als wir uns mit Hilfe des Blutrings unterhalten haben.« Sie runzelte die Stirn. Tatsächlich habe ich nichts von seinen Gedanken und Gefühlen wahrgenommen. Das ist seltsam. Der Ring hätte mir ermöglichen sollen, das zu tun. Es ist, als ob … aah, natürlich. Lorkins Gedanken waren irgendwie geschützt worden. Möglicherweise auf die gleiche Art, wie Nakis Ring ihre Gedanken geschützt hat. Hatte er einen ähnlichen Edelstein getragen? Stammte Nakis Ring ursprünglich von den Verräterinnen? Wenn ja, wie ist er nach Kyralia gelangt? Sie sagt, er sei in weiblicher Linie in ihrer Familie weitergereicht worden. War eine dieser Frauen eine Verräterin?

»Er hat den Ring jetzt?«

Sie richtete ihre Gedanken wieder auf das Gespräch. »Ja.«

»So habt Ihr also gewusst, dass die Nachrichten von den Verrätern kamen«, sagte Regin, wobei er mehr mit sich selbst sprach als mit ihr.

Sie sah ihn an, oder vielmehr betrachtete sie das, was sie in der Dunkelheit von ihm sehen konnte. Sie hatten einige Stunden Zeit, bevor sie die Kutsche verlassen mussten. Sonea dachte über ihr Zögern nach, Regin zu verraten, was ihre Aufgabe in Sachaka war. Die Verräterinnen hatten ihr zugesagt, dass der Pass sicher sei, obwohl sie empfohlen hatten, dass sie bei Nacht und so unauffällig wie möglich reisen sollte. Sobald sie es Regin erzählte, würde er Fragen haben. Wenn sie es ihm nicht erzählte, bis es Zeit wurde, aus der Kutsche zu steigen, würde sie vielleicht nicht genug Zeit haben, seine Fragen zu beantworten, bevor sie gezwungen sein würden, Stillschweigen zu bewahren. Ja, ich denke, es muss jetzt geschehen.

»Lord Regin«, begann sie, und sie sah in der fast völligen Dunkelheit der Nacht, wie er ihr schnell den Kopf zuwandte. »Die Befreiung Lorkins ist nicht unsere einzige Aufgabe. Es gibt da noch etwas.«

Er zögerte und sagte dann: »Das habe ich mir schon gedacht. Also. Was ist das für eine andere Aufgabe?«

»Wir sollen uns mit den Verrätern treffen. Sie wollen über die Möglichkeit eines Bündnisses und die Möglichkeit von Handel zwischen unseren Völkern sprechen.«

Über dem Geklapper der Kutsche hörte sie ihn ausatmen.

»Ah.«

»Der Fahrer wird in ein oder zwei Stunden anhalten. Wir werden aussteigen und von dort aus zu Fuß weitergehen, von der Straße aus in nördlicher Richtung. Die Verräter haben mir Anweisungen gegeben, wohin wir uns wenden sollen. In einigen Tagen werden sie sich mit uns treffen, und Lorkin wird bei ihnen sein.«

»Ihr habt bis zum letzten Augenblick gewartet, um mir das zu sagen.«

»Ja, und ich hätte noch länger gewartet, wenn das möglich gewesen wäre. Ihr durftet es nicht früher erfahren, für den Fall, dass König Amakiras Männer uns aufgelauert und Eure Gedanken gelesen hätten.«

»Und Eure Gedanken?«

»Sind geschützt.«

Sie wartete darauf, dass er fragte, wieso, aber die Frage kam nicht. Er sagte überhaupt nichts. Die Stille im Wagen fühlte sich ein wenig vorwurfsvoll an.

»Es ist nicht so, dass wir – die Gilde – Euch die Information nicht hätten anvertrauen wollen«, begann sie. »Wir …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Es spielt keine Rolle.« Er seufzte. »Nun, eines spielt durchaus eine Rolle. Vertraut Ihr mir?«

Sie hielt inne, nicht sicher, wie sie den Tonfall in seiner Stimme deuten sollte. Er war nicht anklagend, aber bestimmt. Wenn sie eine Antwort vermied, würde das zu einer unnötigen Anspannung zwischen ihnen führen.

»Ja«, erklärte sie und spürte, dass ihre Worte die Wahrheit waren. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass er sie ein wenig in die Enge getrieben hatte, und es war nur gerecht, wenn sie ihrerseits das Gleiche tat. »Vertraut Ihr mir?«

Wieder hörte sie ihn ausatmen, aber langsamer diesmal.

»Nicht ganz«, gestand er. »Nicht weil ich Euch nicht für vertrauenswürdig halte, aber … ich weiß, dass Ihr mich nicht mögt.«

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. »Das ist nicht wahr«, versicherte sie ihm schnell, bevor alte Erinnerungen aufsteigen konnten. »Ich habe Euch nicht immer gemocht. Ihr wisst, warum. Wir müssen das nicht noch einmal besprechen. Das gehört der Vergangenheit an.«

Er schwieg für kurze Zeit. »Ich entschuldige mich. Ich hätte es nicht wieder zur Sprache bringen sollen. Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass Ihr mir verziehen habt oder mich sogar mögen könntet.«

»Nun … ich habe Euch verziehen. Und ich mag Euch. Ihr seid … ein guter Mensch.«

»Ihr habt mich zu diesem Menschen gemacht.« Sein Tonfall war jetzt wärmer. »An jenem Tag, während der Invasion.«

Sonea hielt den Atem an, als eine Welle der Traurigkeit über ihr zusammenschlug. Und ein anderer guter Mensch ist an diesem Tag gestorben. Plötzlich konnte sie nicht sprechen, und Grauen stieg in ihr auf – nicht zum ersten Mal – angesichts der Erinnerungen, von denen sie wusste, dass sie zurückkehren würden, wenn sie in der Dunkelheit über den nackten Fels der Berge stieg. Aber mit einem anderen Begleiter. Einem anderen Mann.

»Stimmt etwas nicht?«

Sie blinzelte überrascht. Wie kam es, dass er überhaupt wusste, dass sie aufgewühlt war? Dann wurde ihr klar, dass die Felswand auf der einen Seite der Kutsche fort war und das schwache Licht einer Mondsichel in den Wagen fiel. Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus, während sie all ihre Selbstbeherrschung sammelte.

»Wir haben uns beide an jenem Tag verändert. Ihr zum Besseren, ich zum Schlechteren.«

»Nur ein Narr würde das von Euch denken«, erwiderte er, weil er sie missverstand. »Ihr habt uns und die Gilde gerettet. Ich habe Euch seither immer bewundert.«

Sie sah ihn an, aber sein Gesicht lag größtenteils im Schatten verborgen. Wie konnte er die Verbitterung und Selbstverachtung verstehen, die nach Akkarins Tod gekommen waren? Ganz gleich, wie sehr mein Verstand weiß, dass es nicht meine Schuld war, mein Herz hat es nie ganz geglaubt.

Das Mondlicht erreichte sein Gesicht und offenbarte einen Ausdruck, den sie bisher nur selten gesehen hatte. In seiner Stimme hatte der Anflug eines Lächelns gelegen, wurde ihr jetzt klar. Was hatte er gesagt? »Ich habe Euch seither immer bewundert.«

Sie wandte den Blick ab. All sein Konkurrenzdenken und sein Hass auf sie und das, was sie repräsentierte, hatten sich in etwas verwandelt, das beinahe das vollkommene Gegenteil war. Und genauso unverdient. Aber es wäre unfreundlich und undankbar, das zu sagen. Ich ziehe Bewunderung jederzeit Misstrauen und Verachtung vor.

Bewunderung und Freundschaft waren sehr unterschiedlich. So unterschiedlich wie Freundschaft und Liebe. Ich habe Novizen gekannt, die einander hassten und die nach dem Abschluss Freunde wurden. Das ist mit uns nicht passiert. Ich habe außerdem Menschen gesehen, die einander hassten und die Freundschaft als Zwischenstufe einfach übersprangen und sich ineinander verliebten. Ihr Herz verkrampfte sich. Moment … gewiss nicht. Nein, er meint nicht diese Art von Bewunderung.

Als sie ihn wieder ansah, hatte sie keine Chance, seine Miene zu deuten. Regins Aufmerksamkeit hatte sich auf etwas außerhalb der Kutsche gerichtet. Er bewegte sich über seinen Sitz und beugte sich vor.

»Das ist also das Ödland«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Sie spähte aus dem Fenster. Das schwache Mondlicht streifte die Ränder der Landschaft unter ihnen, die Spitzen vieler Dünen, die unheimliche Muster schufen.

»Ja«, erklärte sie. »Es reicht bis zum Horizont.«

»So weit. Wie haben wir es gemacht?«, fragte Regin sich. »Wo ist das Wissen geblieben?«

»Botschafter Dannyl hat einige interessante Unterlagen ausgegraben, soweit ich von Osen weiß.«

»Irgendwelche Ideen, wie man das Land wiederherstellen kann?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ein Magier es jemals schafft, dies wieder zu fruchtbarem Land zu machen, wird das der größte Akt des Heilens sein, den irgendjemand jemals bewerkstelligt hat.«

Regin schaute noch ein wenig länger nach draußen und lehnte sich dann wieder auf seinem Sitz zurück. »Einige Stunden, sagt Ihr?«

»Ja. Der Fahrer weiß, nach welchen Landmarken er Ausschau halten muss. Er wird uns absetzen und dann mit der Post und den Vorräten nach Arvice und zum Gildehaus weiterfahren. Ich habe ihm gesagt, dass wir jetzt, da Lorkin frei ist, nicht nach Sachaka zu fahren brauchen, aber wir wollten die Sonne über dem Ödland aufgehen sehen und zu Fuß zurück zum Fort gehen.«

»Mutiger Mann, ohne Magier zu reisen«, bemerkte Regin. »Ich nehme an, keiner von uns wäre sicher, wenn der sachakanische König beschließen würde, uns anzugreifen. Oder die Ichani. Oder die Verräter.«

»Nein, aber wir müssen hoffen, dass die Verräter auf unserer Seite stehen. Sie haben uns versichert, dass sie die Ichani und die Spione des Königs von uns fernhalten werden.«

»Wirklich? Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.«

Sie nickte. Ich auch. Nicht nur, weil ich endlich Lorkin wiedersehen werde und dafür sorgen kann, dass er sicher nach Hause gelangt, sondern auch, weil ich diese Menschen kennenlernen will, die ihn so sehr beeindruckt haben, dass er sich bereit erklärt hat, in ihre geheime Stadt zu gehen, obwohl er wusste, dass er sie vielleicht nie wieder verlassen würde.

Nachdem Anyi und Lilia fort waren, war das einzige Geräusch in dem unterirdischen Raum das von Atemzügen. Gol saß auf einer der Matratzen, die er gemacht hatte, mit dem Rücken zur Wand. Cery blieb auf einem der gestohlenen Stühle sitzen. Er dachte über das nach, was Lilia ihm über Kallen und den Grund der Gilde erzählt hatte, nach Feuel-Samen zu suchen.

»Er sagte, er würde Skellin loswerden, wenn sie erst die Saatkörner hätten, und dass sie dann vielleicht deine Hilfe annehmen würden, wenn du immer noch bereit wärst, sie zu geben«, hatte sie ihm mitgeteilt.

»Können wir ihnen trauen?«, fragte Cery laut.

Gol stieß ein Brummen aus. »Ich hätte dich das fragen sollen. Du bist der Experte, wenn es um die Gilde geht. Was denkst du?«

Cery holte tief Luft und seufzte. »Sie werden sich zuerst um sich selbst und die Häuser kümmern und erst danach um ihre Vorstellung von ›dem kyralischen Volk‹.«

»Was Diebe und Verbrecher nicht einschließt.«

»Nicht, wenn diese Diebe ihnen nicht im Geheimen geholfen haben …«

»Sie werden sich verpflichtet fühlen, uns zu helfen.« Der Leibwächter sah Cery an. »Obwohl wir ihnen jetzt nicht helfen und Sonea fort ist. Weil wir ihnen in der Vergangenheit geholfen haben.«

»Ich hoffe es.« Cery seufzte erneut. »Je eher Sonea zurückkommt, desto besser«, murmelte er. »Es gefällt mir nicht, Kallen vertrauen zu müssen, wenn er so süchtig nach Feuel ist, wie Lilia sagt.«

»Hmm.« Gol blickte nachdenklich drein. »Wenn er uns an Skellin verkaufen wollte, hätte er deinem Plan zugestimmt und bereits ein Treffen arrangiert, und Skellin würde dann an seiner Stelle kommen.«

»Das ist wahr. Trotzdem, ich wäre lieber hier, wo wir verschwinden können, wenn es sein muss, als in einem Zimmer in der Gilde festzustecken.«

Gol nickte. »Zumindest können wir ein Auge auf diesen Keller halten, so dass wir es erfahren, wenn sie Feuel-Samen haben. Wir sollten warten, bis die Pflanzen die gleiche Größe haben wie die, die wir gesehen haben – groß genug für die Magier, um zu erkennen, ob es Feuel ist.«

»Weißt du denn, wie Feuel-Pflanzen aussehen?«

Gol runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Anyi weiß es vielleicht. Hat ihr Freund es nicht geraucht?«

»Oder ihre Freundin. Sie hat es nie gesagt.«

Das Gesicht des Leibwächters verdüsterte sich in dem fahlen Licht, und er wandte den Blick ab. Errötet er? Cery konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sie könnten auf andere Weise versuchen, Skellin zu finden, bevor sie unseren Plan in Erwägung ziehen.« Gol trommelte mit den Fingern auf die Kanten des Stuhls. »Falls es ihnen widerstrebt, mit einem Dieb zusammenzuarbeiten.«

»Falls sie nicht gern mit einem Dieb zusammenarbeiten, bezweifle ich, dass es ihnen widerstreben würde, einen Dieb als Köder zu benutzen«, stellte Cery fest.

Gol lachte leise. »Stimmt.«

»Wenn sie unseren Plan tatsächlich ausprobieren wollen …« Cery dachte nach. »Ich schätze, wir sollten dafür sorgen, dass wir für sie bereit sind. Wir sollten eine Falle vorbereitet haben.«

»Es wird verschwendete Mühe sein, wenn sie sich dafür entscheiden, nicht mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Was sollen wir sonst tun?« Cery seufzte. »Wir sind direkt unter der Gilde. Gewiss ist das für uns von Vorteil. Ich wünschte … ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, Skellin dazu zu bringen, ihnen direkt in die Arme zu laufen, ob die Gilde es will oder nicht.«

»Eine Falle, die ebenso ihnen gilt wie Skellin.«

»Eine Falle, die ihre Aufmerksamkeit erregen wird, wenn – und nur wenn – Skellin kommt, um zu schnüffeln.«

Die Augen des Leibwächters leuchteten auf. »Ich weiß genau das Richtige. Es wird mit Sicherheit die Aufmerksamkeit der Magier erregen.« Er blickte nachdenklich drein. »Ich werde in die Stadt gehen müssen, um Vorräte zu beschaffen. Und wir müssen die Falle irgendwo aufstellen, wo die Tunnel stark genug sind, damit wir uns nicht versehentlich selbst begraben. Was ist hier der stabilste Bereich?«

»Ich denke, ich kenne genau die richtige Stelle.« Cery griff nach einer Lampe. »Komm mit.«

Gol, der ohne ein Ächzen aufstand, folgte Cery aus dem Raum. Schön zu sehen, dass seine Verletzungen so gut verheilt sind, dachte Cery. Mit ihm und Anyi fühle ich mich doppelt so alt, wie ich bin. Wenn ich jemals mein früheres Leben zurückbekomme, werde ich einige ergraute alte Männer um mich versammeln, damit ich mich jünger fühle.

Schon bald erreichten sie die Gruppe von Räumen, wo Cery Lilia und Anyi bei ihrem trauten Zusammensein überrascht hatte. Gol nahm ihm die Lampe ab und betrat den ersten Raum, dann hob er die Lampe, um die stabilen Ziegelsteinmauern und die gewölbte Decke zu beleuchten.

»Dieser Raum ist in viel besserem Zustand als der, in dem wir leben«, bemerkte der Leibwächter. »Warum sind wir nicht hier hingegangen?«

»Anyi hat die Räume erst vor kurzem entdeckt.« Und dieser Raum hatte etwas, das Cery beunruhigte. Er ließ sein Herz eine Spur zu schnell schlagen. Als Gol die Lampe sinken ließ, fing ein staubiger, zerbrochener Teller das Licht auf. Cery hob eins der Stücke auf. Die Glasur wies ein Symbol der Gilde auf. Er schauderte, als Erinnerungen heraufwehten wie Rauch. Ist dies der Raum, in dem Fergun mich vor all den Jahren eingesperrt hat? Ich habe nicht viel davon zu sehen bekommen. Ich saß tagelang im Dunkeln.

»Dieser hier ist den Gebäuden der Gilde näher. Ein kürzerer Weg, wenn wir fliehen müssen, und auch für Lilia, wenn sie uns besucht. Lass uns unsere Sachen hierherbringen«, sagte Gol.

Seufzend drängte Cery die Erinnerungen und sein Unbehagen beiseite und nickte. »Ja, aber lass uns einen anderen Raum wählen. Dies ist der erste, den jemand betritt. Wir brauchen ein wenig mehr Vorwarnung, wenn jemand kommt.«

Als der letzte der Sklaven, die das Essen aufgetischt hatten, das Herrenzimmer verließ, sah Tayend Dannyl an.

»Was wirst du jetzt mit unserem unerwünschten Gast machen, da Lorkin sicher aus dem Haus ist?«

Dannyl betrachtete seine Mahlzeit und seufzte, als sein Appetit schwand. Er zog Magie in sich hinein und umgab sich selbst, Merria und Tayend mit einem Schild, um zu verhindern, dass jemand ihr Gespräch belauschte.

»Was schlägst du vor?«, erwiderte er.

Ein ganzer Tag war seit der gescheiterten Entführung vergangen. Savi sorgte dafür, dass dem Spion regelmäßig seine Macht entzogen wurde. Da sie die oberste Küchensklavin war, fand keiner der anderen Sklaven es merkwürdig, dass sie die Einzige war, der es gestattet war, eine der Vorratskammern der Küche zu betreten.

»Ich kann nur zwei Alternativen erkennen: Entweder er stirbt, oder Savi geht.«

Dannyls Appetit verschwand endgültig. »Da Letzteres nicht möglich ist, bleibt uns nur eine einzige Alternative.«

Merria runzelte die Stirn. »Aber ob der König so tut, als sei sein Spion ein Sklave, oder zugibt, dass er keiner ist, ihr werdet das Gesetz brechen.«

Tayend nickte. »Besser, für die Zerstörung königlichen Besitzes angeklagt zu werden als wegen Mordes. Vielleicht könntest du es wie einen Unfall aussehen lassen.«

Warum muss ich derjenige sein, der es tut?, dachte Dannyl. Weil ich die ranghöchste Person im Haus bin. Dann regte sich eine verräterische Hoffnung in ihm. Steht Tayend im Rang über mir, weil er Botschafter eines Landes ist und nicht nur Botschafter der Gilde?

»Wenn Savi den Mann mit schwarzer Magie tötet, wird klar sein, dass keiner von uns es getan hat«, schlug Merria vor.

»Aber es wird auch klar sein, dass hier irgendwo ein Verräter ist«, bemerkte Tayend.

»Sie kann eine Gedankenlesung blockieren, nicht wahr?«

»Wenn der König weiß, dass kein Sklave das Haus betreten oder verlassen hat, und wenn er entschlossen ist herauszufinden, wer der Verräter ist, könnte er sie foltern lassen.«

»Oder er könnte sie alle töten lassen«, fügte Tayend hinzu.

Ein Sklave erschien. Dannyl begriff, dass es Tav war, der Türsklave. Der Mann warf sich zu Boden.

»Passt auf, was ihr sagt«, warnte Dannyl seine beiden Gefährten, dann ließ er den Schild fallen. »Was gibt es, Tav?«

»Da ist jemand an der Tür«, stieß der Mann hervor.

»Geh und finde heraus, wer es ist.«

Der Sklave eilte davon. Im Herrenzimmer war es still, während sie auf seine Rückkehr warteten. Die schnellen, weichen Schritte, die lauter wurden, kündigten die Rückkehr des Sklaven an.

»Eine Nachricht«, sagte er.

»Bring sie her«, befahl Dannyl, bevor der Mann sich erneut niederwerfen konnte. Der Sklave kam schnell herbeigetappt, eine Schriftrolle in beiden Händen. Dannyl nahm sie in Empfang und bedeutete dem Sklaven, sich zurückzuziehen.

Er entrollte die Nachricht. Tayend und Merria beugten sich von beiden Seiten vor, um sie zu lesen.

»Ein Ruf in den Palast«, murmelte Merria.

»›Unverzüglich‹«, las Tayend.

Dannyl ließ die Schriftrolle sich wieder zusammenrollen. »Was immer wir tun, wir müssen es jetzt tun. Kai!«

Sein persönlicher Sklave erschien im Flur.

»Hol Savi.« Als der Mann verschwunden war, sprach Dannyl leise weiter: »Es ist nur vernünftig, sie zu fragen, was wir ihrer Meinung nach tun sollen.«

Sie warteten nicht lange. Die Frau trat ein und warf sich so schnell und ungehemmt auf den Boden wie jeder gewöhnliche Sklave.

»Ist die Mahlzeit nicht nach Eurem Geschmack, Herr?«, fragte sie.

Dannyl schaute auf den Teller in seinen Händen; das Essen war kaum angerührt. Er seufzte und zog erneut die Barriere des Schweigens hoch.

»Ich werde in den Palast gerufen«, berichtete er ihr. »Wir müssen eine Entscheidung über das Schicksal des Spions des Königs fällen. Was wollt Ihr, dass wir tun?«

Sie verzog das Gesicht. »Nun … diesmal wird ein Kleidertausch definitiv nicht funktionieren.«

Tayend richtete sich abrupt auf. »Ah!«

Alle wandten sich ihm zu. »Was?«, fragte Dannyl.

Der Elyner hob die Hand. »Warte. Gib mir einen Moment Zeit. Ich habe eine Idee …« Er schloss die Augen, und seine Lippen bewegten sich, dann nickte er. Er sah sie nacheinander an, zuletzt Savi. »Sagt mir, ob dies funktionieren wird: Könntet Ihr damit durchkommen, einer der Kutschensklaven zu sein, obwohl das nicht Eure gewohnte Arbeit ist und Ihr eine Frau seid?«

Sie runzelte die Stirn. »Wenn es bei Ashaki Achati funktioniert hat, funktioniert es vielleicht auch bei mir.«

»Gibt es einen sicheren Ort auf dem Weg zum Palast, an dem Dannyl Euch absetzen könnte?«

Ihre Augen leuchteten auf. »Ja.«

Tayend sah Dannyl an. »Ich denke, dies ist unsere beste Möglichkeit. Wenn wir Savi in Sicherheit bringen können, besteht keine Notwendigkeit, den Entführer zu töten.«

Dannyl nickte erleichtert, bis ihm wieder einfiel, dass ein lebender Entführer auch viel mehr offenbaren würde als die Tatsache, dass Savi eine Verräterin war. Aber der König wird nicht öffentlich zugeben, dass der Mann sein Spion war. Was sehr, sehr ärgerlich sein wird nach allem, was wir durchgemacht haben. Es sei denn …

»Wir werden ihn mitnehmen«, beschloss er.

Merrias Augen weiteten sich, aber Tayend kicherte nur. »Du wirst dem König alles erzählen.«

»Nur nicht, wie Lorkin entkommen ist.«

»Dann begleite ich dich. Das muss ich sehen.«

»Tayend …«

»Nein, Dannyl. Ich muss das sehen. Mein König wäre äußerst enttäuscht, wenn ich es nicht täte.«

Dagegen konnte Dannyl nichts einwenden. Es wird besser sein, wenn es außer mir, Osen und dem sachakanischen Hof noch andere Zeugen gibt. Er ließ die Barriere des Schweigens fallen.

»Merria, geht mit Savi, und holt den Spion. Kai!« Der Mann huschte in den Raum. »Lass die Kutsche vor dem Haus vorfahren.«

Als Savi und Merria davoneilten und Kai verschwand, stellte Dannyl den Schild wieder her.

Tayend rieb sich die Hände. Dann hielt er inne, und sein Grinsen verblasste. »Ich hoffe, Achatis Beteiligung wird nicht entdeckt werden.« Tayend sprach mit leiser Stimme, trotz der Barriere des Schweigens. »Mir ist gestern Nacht ein Gedanke gekommen … Was ist, wenn der König Achati befiehlt, einen seiner Blutringe zu tragen? Sie erlauben dem Schöpfer des Rings, die Gedanken des Trägers zu lesen, richtig? Ich bin mir sicher, dass Achati während der Reise nach Duna mit dem König in Verbindung gestanden hat. Ich bezweifle, dass der König den Blutring eines anderen tragen und das Risiko eingehen würde, dass dieser andere seine Gedanken liest, also muss Achati einen von seinen getragen haben. Wird Achati sich jetzt weigern, einen Ring zu tragen?«

»Ich weiß es nicht.« Dannyl schüttelte den Kopf. »Achati wusste, was er tat.«

»Nun … ich hoffe, er hat sich nicht für uns geopfert. Er hat sich als ein besserer Mann erwiesen, als ich erwartet hatte. Ich mag ihn.«

Dannyl sah Tayend voller Überraschung und Dankbarkeit an, während Schritte Savis Rückkehr ankündigten. Sie schob den Spion, der gefesselt und geknebelt war, vor sich her. Der Mann taumelte, als sei er erschöpft. Zweifellos, dachte Dannyl, hatte sie wieder seine Macht genommen.

In grimmigem Schweigen marschierten sie gemeinsam zum Vordereingang des Hauses. Die Kutsche wartete noch nicht auf sie, aber dann öffneten sich die Stalltüren, und die Pferde mit den Wagen kamen heraus. Dannyl befahl Savi, hinten neben dem anderen Kutschensklaven aufzusteigen, dann hievte er den Spion in den Wagen. Er stieg hinter ihm ein, und Tayend folgte ihnen.

»Viel Glück«, sagte Merria leise, dann schloss sie die Tür.

Auf Dannyls Befehl verließ die Kutsche das Gildehaus. Er sprach nicht, und auch Tayend bewahrte Stillschweigen. Sie konnten vor dem Spion nicht über ihre Pläne sprechen, und es war kaum eine Situation für belangloses Geplänkel. Der Spion kauerte Tayend und Dannyl gegenüber, und sein ängstlicher Blick flackerte zwischen den beiden hin und her, was beunruhigend war. Als der Fahrer plötzlich einen Ruf ausstieß, zuckten alle zusammen.

Die Kutsche wurde langsamer. Dannyl öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.

»Was ist passiert?«

»Die Sklavin, Herr. Sie ist heruntergesprungen und weggerannt.«

Dannyl hielt inne und schaute hinter sich, aber Savi war bereits verschwunden.

»Wir können nicht stehen bleiben«, sagte er zu dem Kutscher. »Fahr weiter zum Palast.«

Vielleicht war es die Erwähnung des Palastes, aber der Entführer hatte aufgehört, sie anzustarren. Erleichtert verbrachte Dannyl den Rest der Fahrt damit, über seinen Plan nachzudenken, ihn zu verfeinern und sich Mut zu machen. Als sie ankamen, zerrte er den Mann hinter sich her. Er überließ es Tayend, ihnen nachzueilen, während er den Spion in den Palast führte.

Die Wachen beobachteten sie, hielten sie aber nicht auf. Sobald Dannyl in der Halle war, sah er zu seiner Freude, dass der König eine große Audienz von Ashaki arrangiert hatte, die die Begegnung beobachten sollten, darunter einige, die, wie Merria erfahren hatte, nicht mit Lorkins Behandlung einverstanden waren. Perfekt. Achati stand in der Nähe des Throns und wirkte zu Dannyls Erleichterung unbesorgt.

Der Monarch zog die Augenbrauen hoch, als Dannyl den Spion auf den Boden drückte. Dannyl kniete dem Protokoll folgend nieder, und Tayend, der an seine Seite geeilt war, verneigte sich.

»Erhebt Euch, Botschafter Dannyl.« Der König sah den Spion an. »Was ist das?«

»Ich gebe nur zurück, wovon man mir gesagt hat, es sei Euer Spion, Euer Majestät«, erwiderte Dannyl, während er sich aufrichtete.

Der König sah ihn scharf an. »Mein Spion.«

»Ja, Euer Majestät. Gestern Nacht hat dieser Mann versucht, meinen ehemaligen Assistenten zu entführen, Lord Lorkin. Eine Verräterin hat es verhindert. Sie hat außerdem seine Gedanken gelesen und erfahren, dass der Mann in Euren Diensten steht.« Dannyl sah die Ashaki an, die erheitert wirkten, aber nicht schockiert. »Ich bitte darum, dass jemand hier seine Gedanken liest, um es zu bestätigen.«

Köpfe wurden hin und her gedreht. Blicke wurden getauscht. Einige Worte wurden gemurmelt. Der König ignorierte alle und fuhr fort, Dannyl zu betrachten.

»Also gut. Ashaki Rokaro, würdet Ihr Botschafter Dannyls Bitte erfüllen und uns mitteilen, ob diese Anklagen der Wahrheit entsprechen?«

Es kam kein Protest, und ein Mann mit grauen Strähnen im Haar trat vor. Alle beobachteten, wie die Gedanken des Spions gelesen wurden. Der Ashaki schien eine gründliche und bedächtige Gedankenlesung vorzunehmen, da die Prozedur länger dauerte, als Dannyl es bisher je erlebt hatte. Als der Ashaki den Spion losließ, sackte der Mann wieder zu Boden und streckte die Hände nach dem König aus wie ein Sklave, der um Vergebung flehte.

»Nun, Ashaki Rokaro?«, fragte der König.

Der Ashaki schaute erst den Spion an, dann Dannyl, dann die versammelten Ashaki.

»Es ist wahr«, erklärte er.

Dannyl verspürte einen Anflug von Überraschung. Er hatte erwartet, dass der Ashaki es leugnen oder sagen würde, der Mann glaube es, habe aber keinen Beweis dafür, dass seine Befehle vom König gekommen waren. Als Dannyl den König anblickte, sah er keine Sorge oder Schuldgefühle, und ihm wurde flau im Magen.

»Ihr sagt, eine Verräterin habe Euch geholfen«, bemerkte der König.

Dannyl zögerte, und ein warnender Schauder überlief ihn. »Wir konnten kaum ablehnen.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Nicht im Gildehaus.«

»Und Lorkin?«

»Weg.«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht. Zusammen mit den Verrätern, vermute ich.«

»Sie scheinen heutzutage seine bevorzugten Begleiter zu sein.« Er drehte sich um und lächelte Achati mit offenkundiger Anerkennung an. »Aber zumindest haben wir bekommen, was wir alle begehrt haben: Freiheit für Lorkin im Austausch für Informationen.«

Informationen? Plötzlich erinnerte sich Dannyl wieder an das Versprechen, das Lorkin Achati gegeben hatte.

Dannyl hatte nicht geglaubt, dass Lorkin zu seinem Versprechen stehen würde. Er hatte vermutet, dass Lorkin irgendeine Art von Betrug im Sinn hatte. Aber was, wenn er Achati tatsächlich mitgeteilt hatte, wo das Sanktuarium lag? Was, wenn Achati Lorkin dem König übergeben hatte, statt ihm zu helfen zu fliehen? Logen die Verräter, was seine Rettung betraf, um sich an Lorkin dafür zu rächen, dass er ihr Zuhause preisgegeben hatte? Oder wussten sie noch nicht, was Lorkin getan hatte?

Der König sah den Spion an. »Ich schätze, ich sollte Euch danken, dass Ihr meinen Spion zurückgegeben habt, obwohl er sich den Titel kaum verdient hat.« Der König wandte sich Dannyl und Tayend zu. »Ihr dürft in das Gildehaus zurückkehren, Botschafter.«

15 Im Ödland

Die Nachtluft war überraschend kalt, wenn man bedachte, wie heiß es tagsüber im Ödland war. Lorkin zog an den Zügeln und hielt das robuste kleine Reittier, das er ritt, einmal mehr davon ab zu versuchen, das Pferd an der Spitze einzuholen. Die Stute warf protestierend den Kopf hoch, und er hörte das Wasser in den Fässern schwappen, die an ihr festgebunden waren.

Sie waren seit der Abenddämmerung am vergangenen Tag unterwegs. Der falsche Ashaki der Verräter hatte Lorkin in seiner Kutsche an den Rand des Ödlands gebracht und ihn mit zwei Sklaven von einem nahen Besitz allein gelassen. Die Sklaven hatten Lorkin erklärt, dass sie ihn nur bis zu den Hügeln bringen könnten, wo eine Gruppe von Verrätern sie treffen würde. Obwohl sie ein zusätzliches Pferd hatten, das half, Wasser und Proviant zu tragen, konnten sie nicht genug Vorräte mitnehmen, um bis in die Berge und wieder zurück zu gelangen, ohne Verdacht zu erregen.

Lorkin schaute über seine Schulter nach Osten und sah, dass der Himmel bereits heller wurde. Er hatte seit mehr als einem Tag nicht geschlafen, und während der vergangenen beiden Nächte hatte er sich auf dem engen Sitz der Kutsche zusammenrollen müssen. Obwohl er die Erschöpfung mit heilender Magie lindern konnte, waren die ständigen Reisen und die Angst vor Entdeckung überaus anstrengend. Einfach für eine Weile still zu sitzen wäre ihm hochwillkommen gewesen, aber er bezweifelte, dass er in absehbarer Zeit in den Genuss dieses Luxus kommen würde.

Die Hoffnung, dass Tyvara unter den Verrätern sein würde, die auf ihn warteten, schenkte ihm jedes Mal neue Energie, wenn er an sie dachte, was er tat, wann immer er vor Erschöpfung im Sattel in sich zusammensackte. Er dachte an ihr warmes Lächeln, den Klang ihrer Stimme, die Berührung ihrer nackten Haut. Bald, sagte er sich.

Er würde sehr enttäuscht sein, wenn sie nicht unter den Verrätern war, aber nicht überrascht. Man hatte Tyvara für drei Jahre verboten, die Stadt zu verlassen, als Strafe dafür, dass sie Riva getötet hatte. Aber zumindest ist sie dort in Sicherheit, und wenn sie nicht bei ihnen ist, wird mich der Gedanke an sie aufrechterhalten, bis ich sie tatsächlich wiedersehe, ging es ihm durch den Kopf.

Das Geräusch klappernder Zähne lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Reittier. Er sah, dass die Stute dem Tier an der Spitze nahe genug gekommen war, um einen weiteren Biss zu versuchen, und hastig zog er an den Zügeln. Verrücktes, gehässiges kleines Tier, dachte er und murmelte einen Fluch. Ich bin froh, dass sie das nicht bei Menschen versucht.

Während sie gehorsam langsamer wurde, folgte das Pferd an der Spitze ihrem Beispiel. Lorkin öffnete den Mund, um den Sklaven zu warnen, dann schloss er ihn wieder, als der Mann ihm bedeutete zu schweigen. Sie hielten an. Selbst Lorkins Reittier blieb stehen und stellte die Ohren auf.

Lorkin konnte nichts hören, aber einer der Sklaven glitt von seinem Pferd und lief zu einer nahen Düne. Nachdem er sich für kurze Zeit hingehockt hatte, eine dunkle Gestalt vor dem Hintergrund des helleren Sandes, kam er zu ihnen zurückgeeilt.

»Eine Gruppe von acht Personen«, murmelte er.

Der andere Sklave nickte, dann wandte er sich an Lorkin. »Wahrscheinlich Verräter. Ichani reisen allein und mit nur wenigen Sklaven.«

Lorkin nickte. Sein Herz raste. Er machte Anstalten abzusitzen, aber der Sklave runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Bleibt im Sattel. Nur für den Fall, dass wir uns irren.«

Der andere Sklave stieg wieder auf sein Pferd. Sie bewegten sich in den langen, niedrigen Schatten einer Düne hinein, die sie nur halb verbarg.

Was, wenn es ein Ichani ist? Die nächtliche Kühle durchdrang Lorkins Kleidung. Was, wenn es mehr als einer ist? Wir können fliehen, aber würden wir weit kommen? Könnte ich ihre Versuche, uns festzuhalten, mit Magie lange genug behindern, um zu entkommen? Ich bezweifle, dass noch viel von Tyvaras Magie übrig ist, und selbst wenn ich alles hätte, könnte ich nicht mehrere Ichani besiegen.

Gestalten erschienen im Tal zwischen den Dünen vor ihnen. Das Leuchten des Himmels war wärmer geworden und tauchte die Neuankömmlinge jetzt in einen goldenen Schein. Obwohl alle Hosen und Kittel trugen, war es leicht, Frauen von Männern zu unterscheiden. Alle trugen einen Gürtel über ihrem Wams, und an jedem Gürtel war eine Scheide befestigt. Im Gegensatz zu den Klingen der Ashaki waren die Griffe der Messer schmucklos, und die Scheiden waren gerade, nicht gebogen. Als Lorkin die Gestalt an der Spitze erkannte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.

Savara.

Sie kam auf sie zu, ohne Hast, aber entschieden. Lorkin schaute an ihr vorbei und suchte nach dem Gesicht, nach dem er sich am meisten sehnte, und sein Puls beschleunigte sich, noch während er sich gegen eine mögliche Enttäuschung wappnete. Als sein Blick ihren fand, dachte er, er müsse sich irren. Dann lächelte sie, und sein Herz machte einen Satz, und eine tiefe Sehnsucht, sie in die Arme zu nehmen und ihren Körper an seinem zu spüren, stieg in ihm auf. Er saß ab, ebenso wie die Sklaven, zwang sich aber, still stehen zu bleiben und sich der neuen Königin der Verräter zu stellen.

»Gal. Tika. Genau dort, wo ihr sein solltet«, sagte Savara und lächelte, als sie die Sklaven erreichte. Dann wandte sie sich an Lorkin. »Es ist schön, Euch wiederzusehen, Lord Lorkin. Wir haben uns Sorgen gemacht, dass wir vielleicht in den Palast würden einbrechen müssen, um Euch zu holen. Das haben wir seit Jahrhunderten nicht mehr tun müssen.«

Er legte eine Hand aufs Herz und wartete. Sie lächelte traurig, dann nickte sie.

»Ich freue mich auch, Euch zu sehen, Euer Majestät«, erwiderte er. Immer noch unsicher, was das Protokoll der Verräter vorsah, wenn eine Monarchin gestorben war, beschloss er, es im Zweifelsfall bei schlichten Worten zu belassen. »Ich war sehr bekümmert, als ich vom Dahinscheiden Königin Zaralas hörte, aber ich habe mich gefreut, von Eurer Wahl zu hören.«

Sie senkte den Blick. »Man wird sich an sie erinnern.« Sie presste die Lippen aufeinander, dann drehte sie sich zu den Sklaven um. Während sie sich bei ihnen bedankte, sah Lorkin wieder zu Tyvara hinüber und sog ihren Anblick in sich auf, wobei er einer Welle der Ungeduld widerstand. Es fühlt sich an, als hätte ich sie seit Monaten nicht mehr gesehen.

Die Sklaven stiegen wieder auf ihre Pferde, einer von ihnen nahm die Zügel von Lorkins Reittier, und die beiden machten sich in östlicher Richtung auf den Weg. Sie verschwanden um eine Düne, auf eine orangefarbene Sonne zu, die von der bevorstehenden Hitze des kommenden Tages kündete.

»Jetzt müssen wir so schnell reisen wie nur möglich«, sagte Savara und führte ihn auf die anderen zu. »Eure Mutter erwartet uns in den Bergen.«

Er verspürte einen Stich der Furcht und des Eifers, vergaß jedoch beides, als Tyvara vortrat, um ihn zu begrüßen. Sie lächelte breit.

»Ich bin so froh, dass der König dich hat gehen lassen. Savara sagte, der König würde es nicht wagen, dir etwas anzutun, aber das hat mich nicht daran gehindert, mir Sorgen zu machen.« Sie ergriff seine Hände. Dann trat sie dicht vor ihn hin und küsste ihn schnell, wich jedoch zurück, als er versuchte, sie fester an sich zu ziehen; ihr Blick flackerte zu den anderen, und sie sah ihn warnend an, mit einem Ausdruck, der deutlich sagte: »Nicht jetzt.« Er verspürte Enttäuschung, schob die Regung jedoch beiseite. Sie war hier. Das war für den Moment genug.

»Ich bin nicht der Einzige, der freigelassen wurde«, bemerkte er.

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als mich um die Abwasserkanäle zu kümmern. Und ich bin mir sicher, dass ich meine Strafe absitzen muss, sobald wir fertig sind.«

Die Gruppe drehte um und bewegte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war. Jemand reichte Lorkin ein Bündel und murmelte, dass er darin eine Wasserflasche finden werde. Er schulterte das Bündel und blickte Tyvara an. Sie beobachtete ihn stirnrunzelnd.

»Was ist los?«

Sie senkte die Stimme. »War es schlimm im Gefängnis des Königs?«

Bei dieser Frage krampfte sich sein Magen zusammen. Plötzlich war die Unbeschwertheit in seinem Herzen erloschen, und die Erschöpfung kehrte zurück. Er wandte den Blick ab.

»Spaß hat es nicht gemacht«, antwortete er achselzuckend. Sollte ich ihr von dem Sklavenmädchen erzählen? Was wird sie von mir denken, wenn sie erfährt, dass ich dem Mädchen geholfen habe zu sterben? Vielleicht, wenn das Mädchen keine Verräterin gewesen ist … nein, ich denke nicht, dass das einen großen Unterschied machen würde. Trotzdem, Tyvara muss als Spionin einige schwierige Entscheidungen getroffen haben. Er holte tief Luft. »Du musst als Sklavin Schlimmeres durchgemacht haben.«

Sie erwiderte nichts. Er zwang sich, sie anzuschauen. Sie begegnete widerstrebend seinem Blick, dann sah sie zu Boden.

»Wäre das ein Problem für dich, wenn es so wäre?«, fragte sie.

Es war eine seltsame Art, ihre Antwort zu formulieren, aber als ihm die Bedeutung ihrer Worte klar wurde, verspürte er gleichzeitig Entsetzen und Zuneigung.

»Nein«, sagte er. »Ich bin … ich weiß, was … was dazu notwendig ist, wenn man sich als Sklave ausgibt. Es ist nicht so, als hättest du eine Wahl gehabt.«

»Aber ich hatte eine Wahl – ob ich eine Spionin sein wollte oder nicht.«

»Zum Wohl deines Volkes. Und um anderen zu helfen.« Dass ich dem Sklavenmädchen geholfen habe zu sterben, war dagegen nichts Nobles. Und doch hatte er sich nicht dafür entschieden, in diese Situation gebracht zu werden.

»Genug geredet«, sagte Savara und blickte sich nach Lorkin und Tyvara um. »Die Ichani waren weit entfernt, als wir das letzte Mal nachgesehen haben, aber sie können unberechenbar sein. Wir sollten schweigend weiterreisen.«

Tyvara runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippe. Während sie weiterritten, schaute sie ihn von Zeit zu Zeit an. Offensichtlich wollte sie ihm etwas sagen. Frustriert von der Notwendigkeit zu schweigen, konzentrierte er sich, bis er ihre geistige Präsenz spürte. Er stellte sich vor, ihre Gedanken wie ein Summen am Rand seiner Sinne hören zu können, nicht laut oder klar genug, um verständlich zu sein.

Schließlich konnte er es nicht länger ertragen. Er bewegte sich näher an sie heran und griff nach ihrer Hand.

– Was ist los? Was macht dir zu schaffen?

Sie wirkte überrascht, dann lächelte sie und drückte seine Hand.

– Du weißt, wo wir hingehen?

– In die Berge. Um meine Mutter zu treffen. Ich nehme an, um über Handel oder ein Bündnis zu sprechen.

– Ja.

Sie sah ihn fragend an, und er hörte schwach ein paar Worte, die zu senden sie vielleicht nicht beabsichtigt hatte.

Was wird er dann tun?

Er runzelte die Stirn. Er zögerte es hinaus, sich die gleiche Frage zu stellen. Was würde er tun, sobald die Verhandlungen vorüber waren? Würde er mit seiner Mutter nach Kyralia zurückkehren? Bei Tyvara in Sachaka bleiben? Die Antwort war noch wichtiger, wenn es mit den Verhandlungen nicht gelang, irgendeine Art von Übereinkunft zwischen den Verbündeten Ländern und den Verrätern zu erzielen.

Die Gilde würde wollen, dass er nach Hause kam. Seine Mutter würde wollen, dass er nach Hause kam. Aber das könnte bedeuten, dass er Tyvara nie wiedersehen würde.

Was will er?, kam Tyvaras schlecht verborgener Gedanke.

– Ich will mit dir zusammen sein, antwortete er ihr.

Sie blinzelte überrascht und starrte ihn an. Er spürte Verwirrung und ein wenig Verlegenheit. Ihr Griff lockerte sich, als wollte sie sich zurückziehen. Dann wurde er wieder fester.

– Wird die Gilde dir erlauben, bei uns zu bleiben?

– Es wird ihnen nicht gefallen, aber sie werden es akzeptieren müssen.

Sie nickte, schaute weg und entzog ihm die Hand. Er konzentrierte sich auf sie und versuchte, ihre Miene zu deuten, und wieder hörte er ganz am Rande seiner Sinne Worte.

Er wird seine Meinung ändern, sobald er erfährt, dass wir im Begriff stehen, in den Krieg zu ziehen.

Lorkin spürte, wie seine Muskeln vor Schreck erstarrten. Er schüttelte den Kopf. Er musste es sich eingebildet haben. Es war nicht möglich, die Gedanken eines anderen zu hören, ohne ihn zu berühren. Es sei denn, diese Person hätte den Gedanken absichtlich geschickt. Als er sich umschaute, sah er, dass keiner der anderen Verräter erschrocken wirkte oder ihn beobachtete, wie es der Fall gewesen wäre, wenn sie gewusst hätten, dass Tyvara ihm ihre Pläne offenbart hatte.

Nein, ich muss es mir eingebildet haben. Er hatte im Sanktuarium Hinweise darauf bemerkt, dass die Verräter vielleicht planten, die Ashaki anzugreifen. Sein Geist deutete lediglich auf unerwartete Weise an, dass ein Krieg ihm seine Entscheidung erheblich erschweren würde. Tyvara musste sich fragen, ob er es vermeiden wollte, in einen Krieg verwickelt zu werden. Natürlich würde er das. Menschen starben in Kriegen. Tyvara könnte sterben. Es sei denn … könnte ich einen Grund finden, sie mit mir nach Kyralia zu nehmen? Vielleicht könnte ich Savara davon überzeugen, dass die Verbündeten Länder einen Verräter-Botschafter brauchen. Aber würde Tyvara gehen? Ich bezweifle es.

Also musste er jetzt überlegen, ob er bei Tyvara bleiben oder nach Kyralia gehen würde, um seine Kenntnisse der Herstellung von Steinen weiterzugeben, wie er seiner Mutter beibringen sollte, dass er schwarze Magie erlernt hatte, ob er Tyvara von der vergifteten Sklavin erzählen sollte und was er tun würde, wenn die Verräterinnen in den Krieg zogen. Glücklicherweise musste er noch stundenlang durch das Ödland zu den Bergen trotten. Jede Menge Zeit zum Nachdenken.

Obwohl der Frühling noch jung war, öffneten sich an den Bäumen innerhalb der Gärten der Gilde bereits Knospen, und der Duft deutete das Kommen wärmerer Tage an. Lilia atmete ihn ein und genoss einen kurzen Augenblick des Friedens und sommerlichen Versprechens. Sie lebte und war nicht im Gefängnis, die Gilde akzeptierte sie, und Cery, Gol und Anyi waren immer noch sicher und unentdeckt.

Natürlich konnte der Augenblick nicht lange währen. Ihre Freunde waren nicht vollkommen sicher, die Akzeptanz der Gilde an Bedingungen geknüpft, die ihr für den Rest ihres Lebens Einschränkungen auferlegten, und sie war auf dem Weg zu einer weiteren Lektion bei Schwarzmagier Kallen. Aber ihre Stimmung verdüsterte sich früher als gewöhnlich, als sie ein Trio von Novizen draußen vor dem Novizenquartier stehen sah; die drei beobachteten sie. Einer von ihnen war Bokkin.

Sie bedachte die drei mit dem flüchtigsten aller Blicke, aber obwohl sie auf den Pfad vor sich schaute, beobachtete sie aus dem Augenwinkel ihre Schatten. Obendrein zog sie einen schwachen Schild gegen jedwede Streiche hoch.

Nichts geschah, obwohl sie so sehr auf Ärger gefasst war, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass keine anderen Novizen mit Kallen an der Arena warteten. Er zeigte immer das gleiche leicht geistesabwesende Stirnrunzeln, doch jetzt war es tiefer als gewöhnlich. Und sein Blick war eine Spur wachsamer.

»Schwarzmagier Kallen«, begrüßte sie ihn und verbeugte sich, als sie ihn erreichte.

»Lady Lilia«, erwiderte Kallen. »Die heutige Lektion wird in der Universität abgehalten werden.«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie musste den Drang zu jubeln unterdrücken.

»Also … kein Kampftraining heute?«

»Nein.«

Er bedeutete ihr, dass sie neben ihm hergehen sollte, und sie schlugen den Weg zur Universität ein. Bokkin war, wie sie voller Erleichterung sah, verschwunden. Sie zog in Erwägung, Kallen zu fragen, was sie lernen würde, aber die Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass sie, wenn er nicht freiwillig Informationen beisteuerte, wahrscheinlich keine nützlichen Antworten bekommen würde. Sobald sie in der Universität waren, hörte sie ihn tief durchatmen und dann seufzen. Mit einem verstohlenen Blick bemerkte sie, dass sein Mund zu einer dünnen Linie verzogen war.

Er ist über irgendetwas gar nicht glücklich, dachte sie. Nun, jedenfalls ist er noch unglücklicher als gewöhnlich.

Er führte sie durch die inneren Gänge des Gebäudes und in einen der kleinen Räume, die für private Unterrichtsstunden reserviert waren. Nachdem er ihr ein Zeichen gegeben hatte, dass sie sich auf einen der beiden Stühle setzen sollte, nahm er auf dem anderen Platz und schaute sie über den einzigen Tisch im Raum hinweg an.

»Die Gilde ist zu dem Schluss gekommen, dass es Zeit für Euch wird zu lernen, wie man schwarze Magie benutzt.«

Ein Stich der Furcht und des schlechten Gewissens durchzuckte sie, aber die Regung wich schnell Erheiterung. »Aber ich weiß bereits, wie man schwarze Magie benutzt.«

»Ihr wisst, wie sie benutzt wird«, korrigierte er sie. »Abgesehen von Eurem einzigen Experiment habt Ihr sie bisher nicht bewusst und vorsätzlich benutzt, und Ihr brauchtet nie Macht zu lagern. Es gibt auch andere Aufgaben, die ein Schwarzmagier erfüllen muss und bei denen es nicht um den Erwerb von Magie geht.«

»Wie zum Beispiel?«

»Das Lesen von Gedanken. Die Herstellung von Blutringen.«

Lilias Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte angenommen, dass sie beide Fähigkeiten erst erlernen würde, wenn sie ihren Abschluss gemacht und ihre offizielle Rolle als Schwarzmagierin übernommen hatte.

»Warum jetzt?«

Kallen zog die Brauen noch tiefer herab. »Während Sonea abwesend ist, wäre es vielen von uns lieber, man würde Euch lehren, schwarze Magie zu benutzen, als dass wir nur einen voll ausgebildeten Schwarzmagier in Imardin haben.«

Kein Wunder, dass er mürrisch ist. Die Andeutung, die dahintersteht, ist die, dass er überwacht werden muss. Dass man ihm nicht trauen kann. Ein leichtes Triumphgefühl stieg in ihr auf, weil er dem gleichen Argwohn und Misstrauen ausgesetzt war wie sie. Obwohl die Leute mir misstrauen, weil ich eine Regel gebrochen habe, als ich schwarze Magie erlernt habe, obwohl ich dachte, ich könnte keinen Erfolg haben. Aber ich nehme an, sie misstrauen Kallen, weil er ein Feuel-Süchtiger ist. Ihr Triumph verblasste. An seine Stelle trat Mitgefühl. Und er hat wahrscheinlich auch nicht damit gerechnet, dass das passieren würde.

Sie nickte. »Also … was zuerst?«

Er richtete sich auf und nahm etwas aus seiner Robe. Licht spiegelte sich auf der polierten Oberfläche eines kleinen, schmalen Messers. Kallen hob die andere Hand, so dass der Ärmel zurückfiel, dann legte er den Arm auf den Tisch. Er sah sie an.

»Ich werde mich schneiden. Legt die Hand auf die Wunde, und versucht, Euch daran zu erinnern, was Ihr damals mit … Nehmt genug, um zu spüren, dass Eure eigene Kraft größer geworden ist.«

… mit Naki getan habt. Sie drängte die Erinnerung an eine Bibliothek und die Worte beiseite, die sie dazu verführt hatten, das Verbotene zu erlernen. »Ich würde alles für dich tun.« Kallen strich mit der Klinge über die Rückseite seines Arms. Sie legte gehorsam die Hand über die flache Schnittwunde und schloss die Augen.

Der Trick bestand darin zu sehen, dass meine eigene Magie von der Barriere meiner Haut zurückgehalten wird, rief sie sich ins Gedächtnis. Die Erinnerung stellte sich langsam ein, doch dann wurde das Gefühl von Magie innerhalb ihres Körpers plötzlich sehr deutlich. Sie hielt inne, um ein wenig darüber zu staunen, wurde dann aber durch eine Andersartigkeit in der Nähe abgelenkt. Sie konzentrierte sich auf ihre Hand, nahm Kallens Anwesenheit wahr und sah die Bresche in seiner Verteidigung.

Sie zögerte. Es erschien ihr anmaßend, Magie von Kallen zu nehmen, den sie während des größten Teils ihres Lebens halb gefürchtet hatte und der einer der Höheren Magier war. Aber er hatte sie dazu aufgefordert, daher nahm sie ihre Willenskraft zusammen und sog.

Magie flutete in ihren Körper. Sofort verlangsamte sie den Sog. Er würde es spüren können, vermutete sie, und wissen, wenn sie es übertrieb. Er hatte gesagt, sie solle Magie nehmen, bis sie spüren konnte, dass sie ihre eigene Stärke mehrte. Als sie sich konzentrierte, wurde ihr bewusst, dass sie bereits eine größere Stärke in sich spürte. Sie brachte den Strom magischer Macht zum Erliegen, öffnete die Augen und zog die Hand zurück.

Kallen sah sie eindringlich an. »Nehmt mehr.«

Diesmal war sie sich der Bresche in seiner Barriere sofort bewusst, und sie stellte fest, dass sie sich der Grenzen ihrer eigenen Magie dazu nicht bewusst zu sein brauchte. Sie vergaß, die Augen zu schließen, und begriff, dass es gar nicht nötig war. Kallens Gesicht war seltsam schlaff geworden, bemerkte sie. Er sah traurig und müde aus.

Als sie aufhörte, trat wieder ein Ausdruck in seine Züge. Er sah sie an, und diesmal nickte er.

»Gut. Ich kann spüren, dass Ihr jetzt Magie lagert.« Seine Lippen verzogen sich in grimmiger Anerkennung. »Wann immer wir mehr Magie in uns tragen, als wir von Natur aus besitzen, entweicht ein wenig davon unserer Barriere. Konzentriert Euch auf die natürliche Grenze Eurer Haut, bis Ihr dieses Leck spürt, dann sendet ein wenig Magie aus, um Eure Barriere zu verstärken.«

Diesmal schloss sie die Augen. Sie zog ihre Aufmerksamkeit nach innen und bemerkte, dass sie spüren konnte, dass ihre Macht sich verstärkt hatte. Sie konzentrierte sich auf die Barriere ihrer Haut, die die Grenze ihrer Kontrolle darstellte. Und tatsächlich, Magie sickerte durch sie hindurch, an manchen Stellen mehr als an anderen.

Sie setzte ihre Willenskraft ein, zapfte ein wenig von ihrer Magie an und sandte ein stetiges Rinnsal davon aus, um die Barriere zu verhärten. Sofort war das Leck gestopft.

Als sie die Augen öffnete, nickte Kallen.

»Ich kann es nicht länger spüren.« Er lächelte beinahe. »Es ist jetzt auch möglich, dass ein dritter Magier Euer Nehmen von Magie spüren kann. Dies ist ein ähnliches Problem, das aber an der Wunde in Erscheinung tritt. Ihr müsst Eure Barriere ein wenig ausdehnen, damit sie die des, äh, Spenders von Magie überlappt.«

Seinen Anweisungen folgend gelang es Lilia, diese Lektion nach wenigen Versuchen zu bewältigen. Danach ließ Kallen sie versuchen, Magie so langsam zu nehmen, dass sie es kaum bemerkte, dann so schnell sie konnte. Er konnte bei der ersten Übung stockend mit ihr sprechen, hatte aber während der zweiten offensichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten.

»Ihr solltet auch die schwächende Wirkung kennenlernen, die das Geben von Magie für den Spender hat. Schwarzmagierin Sonea ist während des Kampfes mit den Ichani geschnitten worden, weil sie nicht um die Schwächung durch schwarze Magie wusste. Es ist etwas, das Ihr gewiss nicht wieder erleben wollt, sobald Ihr es einmal gespürt habt.« Er machte eine Handbewegung. »Aber das kann bis zu einer anderen Lektion warten.«

»Ich erinnere mich an etwas in der Art, von damals, als Naki es an mir ausprobiert hat«, sagte Lilia. »Sie meinte, es hätte nicht funktioniert, aber ich denke, sie hat gelogen.«

Kallens Miene verdüsterte sich, aber dann verzog er mitfühlend die Lippen. »In Beschreibungen des Rituals Höherer Magie zwischen Magiern und Novizen alter Zeiten knieten die Novizen vor ihren Meistern nieder. Sie müssen in der Lage gewesen sein, sich aufrecht zu halten. Vielleicht sind die Novizen immun gegen die schwächende Wirkung geworden.«

»Oder die Meister wussten, wie man Macht nimmt, ohne ihr Gegenüber zu schwächen.«

Er nickte. »Wenn Ihr dazu bereit seid, könnten wir experimentieren. Es gibt vieles an schwarzer Magie, was wir nicht verstehen, und ich fürchte, dass unsere Gegenstücke in Sachaka das gegen uns benutzen könnten.«

Lilia unterdrückte einen Schauder des Widerstrebens. Obwohl Experimente in schwarzer Magie mit Kallen nicht nach Spaß klangen, musste sie ihm zustimmen, dass die Gilde darauf bedacht sein sollte, ihre Wissenslücken nach bestem Vermögen zu füllen.

Kallen strich mit der Hand über die Schnittwunde, die sich jetzt zu einer rosigen Linie geschlossen hatte. »Natürlich werdet Ihr auf diese Weise nur Magie von Nichtmagiern oder von einem feindlichen Magier nehmen. Eine normale Übertragung von Macht lässt sich bewältigen, ohne die Haut aufzuschneiden. Der schwächende Effekt ist außerdem ein weiterer Vorteil in der Schlacht. Ich kann mir nicht viele Situationen vorstellen, in denen es Sinn ergibt, jemandem mit Gewalt seine Magie zu nehmen, ohne ihn gleichzeitig zu schwächen.«

»Vielleicht … wenn Ihr Macht von einem alten Magier nehmen müsstet, der im Sterben liegt, der aber aus irgendeinem Grund – vielleicht weil er bewusstlos ist oder senil – Euch seine Macht nicht mehr willentlich anbieten kann.«

Kallen verzog das Gesicht. »Ja. Es wäre freundlicher, wenn er die Schwächung nicht erleben müsste.«

Sie betrachtete das Messer. »Was macht man, wenn man kein Messer hat? Könnte man Magie benutzen, um den Schnitt zu verursachen?«

Er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ein Magier zu schwach ist, um sich mit einem Schild zu schützen, hat er doch noch genug Kraft, um die natürliche Barriere seiner Haut aufrechtzuerhalten. Diese Barriere ist nichts anderes als ein Schild gegen fremden Willen und muss aufgebrochen werden.«

»Wenn man Magie wie einen Dorn formte und gegen einen Gegner schleuderte, so dass dessen Haut durchstoßen würde – könnte das vielleicht funktionieren?«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht. Ich schätze, wenn ein Hieb oder Schuss heftig genug ist …« Er runzelte die Stirn. »Es wäre schwierig zu prüfen. Das Opfer müsste bereit sein, verletzt zu werden, vielleicht ziemlich schwer … Andererseits, wenn man sich zunächst einiges Geschick aneignet, einen kurzen, heftigen Angriff zu führen, der nur eine kleine Verletzung hervorruft, wäre das auch nicht schlimmer als ein kleiner Schnitt. Es ist eine interessante Idee. Wir sollten ihr nachgehen.«

Sie nickte, bevor die Vorstellung, ihm zu erlauben, sie zu stechen, ihre Befriedigung, auf eine Idee gekommen zu sein, die für ihn ganz neu war, wieder zunichtemachte.

»Nun … das wird für heute genügen«, sagte er. »Morgen werde ich Eure Ausbildung im Gedankenlesen beginnen. Wir werden einen Freiwilligen benötigen, an dem Ihr üben könnt. Sobald Ihr diese Fähigkeit erworben habt, werde ich Euch lehren, einen Blutstein zu machen.«

Einen Blutstein! Lilia verkniff sich ein Lächeln; sie wollte nicht zu erpicht erscheinen, mehr über etwas zu lernen, was einst verbotene Magie gewesen war. Sie erhob sich, als Kallen aufstand, und folgte ihm zur Tür.

»Soll ich Euch hier treffen?«, fragte sie.

Er nickte und deutete auf den Flur. »Ja. Dann bis morgen.«

Sie verneigte sich und machte sich auf den Weg zu den äußeren Räumen der Universität und zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde, außerstande, ein Gefühl der Erregung zu unterdrücken.

Zum ersten Mal fühlt sich die Kenntnis von schwarzer Magie nicht wie eine … eine Strafe an – oder eine Krankheit. Die Gilde will, dass ich sie erlerne. Und es ist tatsächlich interessant.

Während die Morgensonne höher stieg und heller wurde, begannen die Farben des Ödlands zu verblassen. Sonea schlang die Hände um ihre Knie und erinnerte sich sehnsüchtig daran, dass sie früher einmal in der Lage gewesen war, die Knie ganz anzuziehen. Es war lange her, seit sie so biegsam gewesen war. Das Leben als Magierin – und das Tragen schwerer Roben – verlangte im Allgemeinen eine würdevollere Position, wenn man sich hinsetzte. Es waren kleine Verluste wie dieser, die ihr sagten, dass sie älter wurde.

Regin stand auf und ging zu ihren Reisebündeln, die ein wenig leerer aussahen als noch vor zwei Tagen, als sie am Abend am Treffpunkt der Verräter eingetroffen waren.

Ich habe die Anweisungen streng befolgt, sagte sie sich. Sie haben absolut Sinn ergeben. Regin stimmt mir zu. Wir müssen dort sein, wo wir sein sollten.

Und doch waren noch keine Verräter erschienen.

Sie schaute nach rechts, wo das Gebirge im Südwesten aufragte. Als sie und Akkarin zwanzig Jahre zuvor Sachaka betreten hatten, waren sie in diese Richtung gereist. Über die Hänge der Berge ohne Vorräte, ohne Heimat und gejagt von Ichani. Diesmal reisten sie und Regin nach Nordwesten, immer noch durch die raue Berglandschaft, aber mit reichlich Nahrungsvorräten; sie brauchten sich nicht um Ichani zu sorgen und hatten zu Hause eine Gilde, die darauf wartete, sie willkommen zu heißen.

Erstaunlich, welchen Unterschied einige grundlegende Dinge machen und der Umstand, dass man nicht um sein Leben zu fürchten braucht.

Trotzdem war das Ödland rau. Unter ihnen gingen die felsigen Hänge in Dünen über, die sich endlos bis zum Horizont hinzogen. An ihrem ersten Tag hier hatten sie beobachtet, wie im Norden ein Sandsturm über das Land getobt und alles in seinem Weg unkenntlich gemacht hatte. Sie hatten befürchtet, dass sie dem Sturm würden trotzen müssen, aber er war erstorben, als er auf die nördlichen Berge getroffen war. Sonea wandte sich nach links und betrachtete die Gipfel, die sich in gestaffelten Ketten bis in die Ferne erstreckten und die blasser wurden, je weiter sie weg waren.

Irgendwo hinter ihnen liegt das Sanktuarium, die Heimat der Verräterinnen. Nach allem, was Lorkin sagt, waren sie viel freundlichere Gefängniswärter als König Amakira.

Nicht dass irgendjemand ihr beschrieben hätte, wie Lorkins Gefangenschaft im Palast ausgesehen hatte. Sie war beinahe froh, dass sie nicht in der Lage gewesen war, durch ihren Blutstein seine Gedanken zu lesen. Sie schwankte zwischen dem Wunsch, alles zu wissen, und dem Gedanken, dass es vielleicht besser war, wenn sie es nie erfuhr. Wenn er gelitten hatte, war sie sich nicht sicher, was sie fühlen oder tun würde, aber sie war sich sicher, dass es nichts Gutes sein würde.

Er ist jetzt frei. Frei und lebendig. Ich muss aufpassen, dass nichts, was ich tue, daran etwas ändert.

»Sonea.«

Sie riss den Blick von der Aussicht los und drehte sich zu Regin um. »Ja?«

Er deutete auf die Taschen. »Sollen wir das Essen weiter rationieren?«

Sie nickte. Er fragte mehr als nur das, das wusste sie. Er fragte, ob sie hierbleiben oder aufgeben und bald in die Festung zurückkehren sollten. Wir könnten jagen, um uns mit Nahrung zu versorgen, wie Akkarin und ich es getan haben. Erinnerungen an eine Mahlzeit stiegen in ihr auf, gekocht und gegessen in einem kleinen, verborgenen Tal. Sie lächelte, als sie daran dachte, was an diesem Ort sonst noch passiert war.

»Zumindest haben wir jede Menge Wasser«, fuhr Regin fort und wandte sich um, um die Quelle zu betrachten. »Und es ist jetzt sauber.«

Sie folgte seinem Blick. Das Wasserrinnsal sickerte durch einen Riss in dem felsigen Boden und sammelte sich in einem kleinen, glatten Teich, bevor es in einen winzigen Bach überfloss. Das Wasser hatte offensichtlich Tiere angelockt. Als sie angekommen waren, hatten sie Vogelkot wegwaschen müssen. Der Bach war nicht lang und wurde von einer Felsspalte in dem steinigen Boden verschluckt.

Wenn wir uns verstecken, werden vielleicht Vögel kommen, um zu trinken. Wir könnten sie fangen und essen.

Sie stand auf, ging zu dem Teich hinüber und betrachtete ihn. Offensichtlich hatte das Ödland ein wenig Wasser, aber selbst hier, direkt an der Quelle, war kein Leben. Sie hockte sich daneben und tauchte die Hand in den Teich. Dann konzentrierte sie sich und suchte nach der Energie, die von den allgegenwärtigen, winzigen Lebensformen darin kam.

Nichts.

Sie runzelte die Stirn. Als sie angekommen waren, hatte sie überprüft, ob das Wasser gefahrlos zu trinken war. Trotz des Vogelkots war das Wasser rein gewesen. Was … seltsam war.

Vielleicht ist kurz vor unserer Ankunft ein Verräter vorbeigekommen und hat alle Energie herausgezogen. Je kleiner und einfacher ein Lebewesen war, desto schwächer war seine natürliche Barriere gegen magisches Eindringen. Selbst Bäumen konnte man Magie abziehen, ohne ihre Borke zu zerschneiden, obwohl die Magie langsam kam und es nie so viel war wie bei einem Tier oder einer Person.

Das Töten der kleinen Lebensformen macht das existierende Wasser trinkbar, aber das Süßwasser sollte schnell zusätzliche winzige Lebensformen anziehen. Sie streckte die Hand nach dem Rinnsal aus, das den Teich speiste. Dann schöpfte sie etwas Wasser und konzentrierte sich abermals.

Dort. Wie winzige Nadelstiche aus Licht.

Sie ließ das gesammelte Wasser in den Teich fallen. Es konnte nur eine Erklärung geben. Irgendetwas tötete alles Leben, sobald es in den Teich gelangte.

Ihr Magen krampfte sich in jäher Furcht zusammen. War der Teich vergiftet? Sie hatten seit einigen Tagen davon getrunken. Was konnte kleine Lebensformen sofort töten, sich aber nicht auf Menschen auswirken?

Das Becken war glatt. Es konnte von der Zeit geformt worden sein, von Menschen oder von Magie. Als sie wieder in das Wasser griff, strich sie mit der Hand langsam über die Oberfläche des Steins. Sie erwartete nicht, etwas zu spüren. Wenn man Gift innerhalb eines Körpers aufspüren musste, suchte man nach dessen Wirkung – das Gift selbst war kaum wahrnehmbar. Ihre Finger trafen auf einen Höcker in der Oberfläche. Sie erkundete ihn mit den Fingerspitzen, dann sandte sie ihren Geist aus.

Etwas zupfte an ihren Sinnen. Sie zog ein wenig Magie in sich hinein und ließ sie aus ihren Fingern sickern. Sie wurde sofort abgesaugt.

Ihr Blut wurde kalt.

Sie richtete sich auf und starrte den kleinen Höcker in der ansonsten glatten Oberfläche der Senke an. Es ist nicht Teil des Felsens. Wenn es tut, was ich denke, ist es dort angebracht worden, um das Wasser zu reinigen. Aber wenn es tut, was ich denke …

»Regin.«

Sie spürte die Kühle seines Schattens auf ihrem Rücken.

»Ja?«

»Könntet Ihr mir ein Messer geben oder etwas anderes zum Meißeln?«

»Warum benutzt Ihr keine Magie? Oh … natürlich. Ihr wollt sie nicht verbrauchen.«

Er ging zu den Bündeln. Während er beschäftigt war, zog sie Magie in sich hinein und benutzte sie, um das Wasserrinnsal von dem Teich wegzuleiten. Dann leerte sie den Teich mit einer kurzen Kraftanstrengung. Die Oberfläche begann sofort zu trocknen, und als Regin zurückkam, war der Höcker als ein dunklerer Fleck im Stein zu sehen.

Er hielt ihr einen silbernen Stift hin.

»Ist das alles, was wir haben?«

»Ich fürchte, ja. Niemand erwartet von Magiern, dass sie Messer brauchen.«

Sonea seufzte und nahm den Stift entgegen. »Hoffen wir, dass dies funktioniert.«

Sie begann rings um den Höcker eine Furche zu graben. Zu ihrer Erleichterung war, was immer den Höcker an seinem Platz hielt, weicher als Stein – eher wie Wachs. Schon bald hatte sie die Furche ausreichend vertieft.

»Darf ich fragen, was Ihr tut?«

»Ja.«

Der Höcker bewegte sich, und Sonea versuchte vergeblich, ihn herauszuziehen. Mit zusammengebissenen Zähnen machte sie sich wieder daran, wächserne Klumpen aus dem Teich zu graben.

»Also. Was tut Ihr?«

»Ich grabe dieses Ding aus.«

»Das kann ich sehen.« Er klang eher erheitert als verärgert. »Warum?«

Der Stift war nicht schmal genug, um unter den harten Höcker zu passen. Sonea schob stattdessen die Fingerspitzen darunter und zog mit aller Kraft. »Es ist … seltsam … Ah!« Der Höcker – jetzt ein Stein – löste sich. Sie hielt ihn ins Licht und schabte die Wachsreste von der Oberfläche.

Regin beugte sich vor, um den Stein zu betrachten. »Ist es ein Kristall?«

Sie nickte. Glatte, flache Stellen reflektierten das Sonnenlicht. »Ein natürlicher. Obwohl ich damit nur meine, dass er ungeschliffen ist.«

»Und ansonsten unnatürlich?« Regin schaute auf das Loch hinab, aus dem der Stein gekommen war. »Was für eine Art Edelstein ist es?«

»Edelstein!«, rief Sonea aus. Sie sog den Atem ein, blickte zu Regin auf und rappelte sich dann hoch. »Höchstwahrscheinlich einer der magischen Edelsteine der Verräter. Ich bezweifle, dass die Duna so weit nach Süden gekommen sind, und wenn die Ichani von diesen Steinen wüssten, hätten sie sie vor zwanzig Jahren gegen uns eingesetzt.« Sie dachte darüber nach, wie der Stein ihre Magie abgesaugt hatte, und ihr Blut wurde wieder kalt. Sie sah Regin an und hielt die Worte zurück. Konnte sie ihm von ihrem Verdacht erzählen? Was, wenn jemand seine Gedanken las? Was, wenn er es jemandem erzählte? Was, wenn …?

Wenn – falls – die Verräter eintrafen, würde sie ihre Entdeckung unter allen möglichen Aspekten durchdacht haben müssen. Sie brauchte es Regin vielleicht nicht zu erzählen, brauchte ihn nicht nach seiner Meinung zu fragen, aber sie wollte es tun.

Regin sah sie verwundert und besorgt an.

Sie holte tief Luft. »Ich nehme an, es ist ein schwarzmagischer Edelstein«, sagte sie und sprach leise, für den Fall, dass irgendjemand sie beobachtete und belauschte.

Er sog scharf den Atem ein und starrte sie entsetzt an. Dann schaute er auf den Stein hinab, und seine Augen wurden schmal.

»Also, das ist der Grund, warum sich das Ödland nie erholt hat.«

Sie schauderte trotz der wachsenden Hitze und sah sich um. Es ergibt einen Sinn. Wenn sie einen solchen Stein machen können, können sie Hunderte machen. Tausende. Verstreut über das Land müssen sie langsam, aber unbarmherzig das Leben aus dem Land saugen. Die Erde wird zu unfruchtbar für Pflanzen. Größere Lebewesen wie Tiere verhungern oder gehen weg.

Was bedeutete, dass die Verräter bewusst dafür gesorgt hatten, dass das Ödland ein Ödland geblieben war.

Über Jahrhunderte hinweg.

»All die Zeit hat man gedacht, die Gilde habe dies geschaffen, um Sachaka schwach zu halten. Stattdessen waren es die Verräter.«

Regin runzelte die Stirn. »Nun … da können wir uns nicht sicher sein. Sie haben den Stein vielleicht einfach hier hingelegt, um das Wasser sauber zu halten.«

Sie schaute zu ihm auf. »Ich schätze, ich könnte hier noch mehr Steine finden …«

Sein Blick wurde schärfer. »Versucht es.«

Sie reichte ihm den Stein, den er zaghaft entgegennahm, entfernte sich einige Schritte und schaute auf den leicht abfallenden Boden. Dann schloss sie die Augen und dehnte die natürliche Barriere um ihre Haut herum aus, bis sie eine Kugel war. Wo sie sich mit dem Fels unter ihren Füßen überlappte, schwächte sie die Grenzen der Magie. Dann begann sie langsam vorwärtszugehen.

Sie hatte nur etwa fünfzig Schritte getan, als sie einen ganz schwachen Sog verspürte. Es war eine eigentümliche Wahrnehmung – das Gefühl völliger Widerstandslosigkeit in einem Meer von Dingen, die ihren Sinnen einen wenn auch sehr geringen Widerstand entgegensetzten. Sie blieb stehen, drehte sich um und schaffte es, nachdem sie das Gefühl dafür ein paar Mal verloren hatte, die Stelle, von der der Sog kam, auf einige Schritte einzugrenzen.

Es war ein mit Steinen gefüllter Spalt zwischen zwei Felsplatten. Regin gesellte sich zu ihr, während sie in dem Spalt herumstocherte. Sie dehnte ihre Barriere in dem Spalt aus, aber bevor sie weit gekommen war, stieß Regin ein kleines Krähen des Triumphs aus und hielt etwas hoch.

Einen weiteren dunklen, glänzenden Kristall. Sie nahm ihm den Stein ab und prüfte ihn. Die Magie, die sie aussandte, wurde von ihm sofort absorbiert.

»Zweimal ist Zufall«, sagte Regin. »Dreimal ist …«

Nickend ging sie in eine andere Richtung. Diesmal fand sie mühelos einen Stein, vergraben in einer mit Sand gefüllten Senke. Alle in geschützten Positionen, wo sich Wasser sammeln oder durchfließen kann. Nischen und Ritzen, wo das Leben Wurzeln schlagen könnte. Sie kehrten zum Treffpunkt zurück. Der Teich hatte sich inzwischen wieder gefüllt. Sie tauchte die Hand ins Wasser und fand die Bestätigung, dass es jetzt voller winziger Fünkchen Energie war.

Sie schaute zu Regin auf. »Osen muss davon erfahren.«

Er lächelte schief. »Oh, das muss er ganz eindeutig.«

Und Lorkin, dachte sie. Obwohl er es vielleicht bereits weiß. Ah. Wenn er es nicht wissen soll, gefährde ich vielleicht sein Leben, wenn ich es ihm erzähle. Es ist möglicherweise auch nicht klug, die Verräterinnen wissen zu lassen, dass wir ihr schmutziges kleines Geheimnis entdeckt haben.

Trotzdem, sobald die Gilde Bescheid wusste, würden die Verräter nichts mehr gewinnen, wenn sie sie und Regin töteten. Sie nahm Osens Ring aus ihrer Tasche, setzte sich, lehnte sich an einen Felsbrocken und streifte den Ring über ihren Finger.

– Osen.

– Sonea!

– Habt Ihr einen Moment Zeit? Ihr werdet nicht glauben, was ich gerade entdeckt habe.

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