Vusadka: der Ort, an dem Menschen zum erstenmal einen Fuß auf den Planeten Harmonie setzten, nachdem ihre Raumschiffe sie hierher gebracht hatten. Die Schiffe landeten dort; die ersten Kolonisten gingen von Bord und pflanzten Getreide im üppigen Boden südlich der Landefläche an. Schließlich verließen alle Kolonisten die Schiffe und zogen weiter; die Schiffe blieben zurück.
Sich selbst überlassen, wären die Schiffe schließlich verrostet, verrottet, verwittert. Doch die Menschen, die zu diesem Planeten kamen, hatten einen Blick für die Zukunft. Eines Tages werden unsere Nachkommen diese Schiffe vielleicht benötigen, sagten sie. Also umschlossen sie die Landestelle mit einem Stasisfeld. Kein vom Wind getriebener Staub, kein Regen oder andere Niederschläge, kein direktes Sonnenlicht oder ultraviolette Strahlung konnte diese Schiffe beeinträchtigen. Sauerstoff, das korrosivste aller Gifte, wurde aus der Atmosphäre innerhalb der Kuppel entfernt. Der Hauptcomputer des Planeten Harmonie — von den Nachkommen dieser ersten Kolonisten »Überseele« genannt — hielt alle Menschen von der großen Insel fern, auf der die Schiffe abgestellt waren. Innerhalb dieser schützenden Blase warteten die Raumschiffe vierzig Millionen Jahre lang.
Doch nun war die Blase verschwunden. Die Luft war atembar. Auf dem Landefeld erklangen wieder Stimmen menschlicher Wesen. Und nicht nur die der ernsten Erwachsenen, die dieses Gelände zuerst betreten hatten — viele derjenigen, die von einem Schiff zum anderen oder von einem Gebäude zum anderen eilten, waren Kinder. Sie alle arbeiteten hart und bauten aus den Schiffen funktionsfähige Teile aus, um eins davon in ein funktionierendes Raumschiff zu verwandeln. Und wenn das Schiff, das sie Basilika nannten, bereit war, voll ausgerüstet und beladen, würden sie zum letztenmal hineinsteigen und diese Welt verlassen, auf der über eine Million Generationen ihrer Vorfahren gelebt hatten, um zur Erde zurückzukehren, dem Planeten, auf dem die menschliche Zivilisation entstanden war — aber nicht einmal zehntausend Jahre überdauert hatte.
Was ist die Erde für uns? fragte Huschidh sich, als sie die Kinder und Erwachsenen bei der Arbeit beobachtete. Warum nehmen wir solche Mühen auf uns, um dorthin zurückzukehren, obwohl Harmonie unsere Heimat ist? Die Bande, die wir vielleicht einmal mit dieser Welt gehabt haben, sind in all den dazwischenliegenden Jahren doch gewiß durchtrennt worden.
Und dennoch würden sie aufbrechen, weil die Überseele sie dazu auserwählt hatte. Weil sie all ihre Leben beeinflußt und manipuliert hatte, um sie zu dieser Zeit an diesem Ort zusammenzubringen. Oftmals war Huschidh froh, daß die Überseele sie mit solcher Aufmerksamkeit bedacht hatte, während sie es zu anderen Gelegenheiten verabscheute. Denn Huschidh war nie in Ruhe gelassen worden und hatte nie die Gelegenheit bekommen, selbst zu bestimmen, welchen Verlauf ihr Leben nehmen sollte.
Doch wenn wir keine Verbindungen zur Erde haben, haben wir zu Harmonie kaum eine stärkere, ging es ihr durch den Kopf. Und von allen Menschen hier erkannte sie allein, daß diese Beobachtung nicht nur bildlich, sondern wortwörtlich zutraf. Sämtliche Menschen hier waren auserwählt worden, weil sie für die geistigen Mitteilungen der Überseele besonders empfänglich waren. Bei Huschidh nahm diese Empfänglichkeit sogar eine seltsame Form an. Sie konnte Personen ansehen und erkannte sofort die Stärke der Beziehungen, die sie mit allen anderen Menschen in ihrem Leben verband. Für Huschidh war es wie eine Vision in wachem Zustand: Sie sah die Beziehungen wie Lichtschnüre, die eine Person an andere fesselte.
Zum Beispiel Luet, ihre jüngere Schwester, die einzige Blutsverwandte, die Huschidh während der Jahre ihres Heranwachsens gekannt hatte. Als Huschidh sich im Schatten ausruhte, ging Luet vorbei, ihre Tochter Chveja direkt hinter ihr, um denen das Mittagessen zu bringen, die im Raumschiff an den Computern arbeiteten. Stets hatte Huschidh ihre Verbindung mit Lutja als die eine große Sicherheit in ihrem Leben betrachtet. Sie waren aufgewachsen, ohne zu wissen, wer ihre Eltern waren, praktisch als Fürsorgefälle in Rasas großer Schule in der Stadt Basilika. Doch alle Ängste, alle Geringschätzungen, alle Ungewißheiten waren zu ertragen, weil es Lutja gab, die mit Huschidh durch Stricke verbunden war, die nicht deshalb schwächer waren, weil sie außer Huschidh niemand sehen konnte.
Es gab natürlich auch andere Verbindungen. Huschidh erinnerte sich gut daran, wie schmerzlich es gewesen war, das Band zu beobachten, das sich zwischen Luet und ihrem Gatten Nafai entwickelte, einem lästigen jungen Mann, der manchmal mehr Begeisterung als Verstand an den Tag legte. Zu ihrem Erstaunen schwächte Lutjas neue Verbindung mit ihrem Gatten das Band mit Huschidh aber nicht; und als Huschidh ihrerseits Nafais Vollbruder Issib heiratete, wurde das Band zwischen ihr und Luet noch stärker, als es in ihrer Kindheit gewesen war — was Huschidh nie für möglich gehalten hätte.
Als Luet und Chveja nun an ihr vorbeigingen, sah Huschidh sie also nicht nur als Mutter und Tochter, sondern auch als zwei Lichtwesen, die durch ein dickes, leuchtendes Seil miteinander verbunden waren. Es gab keine stärkere Verbindung als diese. Chveja liebte auch ihren Vater Nafai; aber die Verbindung zwischen Kindern und ihren Vätern war stets zögerlicher. Es lag in der Natur der menschlichen Familie: Wenn es um Fürsorglichkeit, Trost, die sichere Grundlage ihres Lebens ging, wandten Kinder sich stets an ihre Mutter. Von den Vätern hingegen erwarteten sie ein Urteil, hofften auf Anerkennung, fürchteten Mißbilligung. Dies bedeutete, daß die Väter im Leben ihrer Kinder eine ebenso bedeutsame Stellung einnahmen. Doch ganz gleich, wie liebevoll und fürsorglich der Vater war — in dieser Beziehung lag fast immer ein Element der Furcht, denn der Vater wurde zum Brennpunkt aller Versagensängste des Kindes. Natürlich gab es hier und da Ausnahmen. Doch Huschidh hatte die Erfahrung gemacht, daß in den meisten Fällen die Verbindung mit der Mutter die stärkste und hellste war.
Bei ihren Gedanken über die Mutter-Tochter-Beziehung hätte Huschidh beinahe übersehen, worauf es wirklich ankam. Erst als Luet und Chveja das Raumschiff betreten hatten und außer Sicht waren, begriff Huschidh, was beinahe völlig gefehlt hatte: Lutjas Bande mit ihr.
Aber das war unmöglich. Nach all diesen Jahren? Und warum sollte die Verbindung jetzt schwächer sein? Sie hatten keinen Streit gehabt. Soweit Huschidh wußte, standen sie sich so nah wie eh und je. Waren sie während all der langen Kämpfe zwischen Luets Gatten und dessen böswilligen älteren Brüdern nicht stets Verbündete gewesen? Was hatte sich geändert?
Huschidh folgte Luet ins Schiff und entdeckte sie auf der Kommandobrücke, auf der Issib, Huschidhs Gatte, sich mit Luets Gatten Nafai über die computerisierten Lebenserhaltungssysteme besprach. Computer hatten Huschidh nie interessiert — ihre Aufmerksamkeit galt der Wirklichkeit, Menschen aus Fleisch und Blut, keinen künstlichen Gebilden, die als Nullen und Einsen bestanden. Manchmal war sie der Ansicht, daß Männer sich gerade ihrer Unwirklichkeit wegen dermaßen für Computer begeistern konnten. Im Gegensatz zu Frauen und Kindern konnte man Computer völlig beherrschen. Daher verspürte Huschidh eine geheime Freude, wenn sie beobachtete, daß Issja oder Njef sich über irgendein absichtlich stures Programm ärgerten, bis sie schließlich den Programmierungsfehler fanden. Sie argwöhnte zudem, daß Issja im tiefsten Innern glaubte, daß ein Fehler in der Programmierung des Kindes vorläge, wenn eins ihrer Kinder absichtlich eigensinnig war. Huschidh wußte jedoch, daß es sich um keinen Fehler handelte, sondern um eine Seele, die sich selbst finden wollte. Wann immer sie versuchte, Issja dies zu erklären, bewölkte dessen Blick sich, und er floh so schnell wie möglich zurück zu seinen Computern.
Doch heute lief alles ganz glatt. Luet und Chveja breiteten das Mittagsmahl für die Männer aus. Huschidh hatte nichts besonderes zu tun und half ihnen dabei. Doch als Luet dann davon sprach, die anderen zum Essen rufen zu müssen, die im Schiff arbeiteten, ignorierte Huschidh geflissentlich die Andeutung und zwang Luet und Chveja auf diese Weise, die Leute selbst zu rufen.
Issib mochte ein Mann sein und mitunter Computer Kindern vorziehen, aber er war auch sehr aufmerksam. Luet und Chveja waren kaum fort, als er auch schon fragte: »Wolltest du mit mir sprechen, Schuja, oder mit Njef?«
Sie küßte ihren Mann auf die Wange. »Natürlich mit Njef. Ich weiß schon alles, was du denkst.«
»Sogar, bevor ich selbst es weiß«, sagte Issib mit spöttischer Verärgerung. »Na ja, wenn du dich allein mit ihm unterhalten willst, wirst du gehen müssen. Ich habe zu tun und werde auf keinen Fall den Raum verlassen, in dem das Essen auf mich wartet.«
Er erwähnte nicht, daß es ihm mehr Schwierigkeiten bereitete, sich zu erheben und zu bewegen. Obwohl seine Flossen in der Umgebung der Raumschiffe arbeiteten, so daß er nicht an seinen Stuhl gefesselt war, forderte jede größere körperliche Bewegung Issib eine beträchtliche Anstrengung ab.
Njef beendete seine derzeitige Arbeit — er hatte gerade irgendeinen Kode eingegeben —, erhob sich von seinem Stuhl und führte Huschidh auf den Gang hinaus. »Was gibt es?« fragte er.
Huschidh kam direkt zur Sache. »Du weißt doch, wie ich die Dinge sehe«, sagte sie.
»Du meinst die Beziehungen zwischen den Leuten? Ja, ich weiß.«
»Ich habe heute etwas sehr Beunruhigendes gesehen.«
Er wartete, daß sie fortfuhr.
»Luet ist … na ja, abgeschnitten. Nicht von dir. Nicht von Chveja. Aber von allen anderen.«
»Was bedeutet das?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Huschidh. »Ich kann keine Gedanken lesen. Aber es macht mir Sorgen. Du bist nicht abgeschnitten. Du bist noch immer — der Himmel weiß, warum — mit Banden der Liebe und Treue sogar deinen widerwärtigen älteren Brüdern verbunden, und auch deinen Schwestern und ihren traurigen kleinen Gatten …«
»Wie ich sehe, hast auch du die höchste Achtung vor ihnen«, sagte Njef trocken.
»Ich sage ja nur, daß Luet früher etwas von demselben … was auch immer es ist … Gefühl der Verpflichtung für die ganze Gemeinschaft gehabt hat. Sie war mit allen verbunden. Nicht wie du; aber mit den Frauen vielleicht sogar noch stärker. Eindeutig stärker. Sie war praktisch die Vertreterin der Frauen. Seit man in Basilika feststellte, daß sie eine Wasserseherin ist, hatte sie diese Rolle inne. Aber das ist jetzt nicht mehr so.«
»Ist sie wieder schwanger? Das dürfte eigentlich nicht der Fall sein. Niemand sollte bei unserem Start schwanger sein.«
»Nein, so ist es nicht. Es ist nicht der Rückzug in sich selbst, wie er bei Schwangeren auftritt.« Huschidh war überrascht, daß Nafai sich tatsächlich daran erinnerte. Huschidh hatte nur einmal, vor Jahren, erwähnt, daß die Verbindungen von Schwangeren mit allen Personen in ihrer Umgebung schwächer wurden, während ihre Aufmerksamkeit sich nach innen richtete, auf das Kind. Aber so war Nafai nun mal. Tage-, wochen-, monatelang erweckte er den Eindruck, ein unbeholfener, übergroßer Heranwachsender zu sein, der dazu neigte, zur falschen Zeit das Falsche zu sagen, und den Eindruck erweckte, sich nie der Gefühle anderer bewußt zu sein. Und dann merkte man plötzlich, daß er die ganze Zeit sehr aufmerksam gewesen war; daß ihm praktisch alles auffiel, und daß er sich auch daran erinnerte. Da fragte man sich unwillkürlich, ob er dann, wenn er unhöflich war, unhöflich sein wollte. Huschidh hatte noch keine Antwort darauf gefunden.
»Wie ist es dann?«
»Ich dachte, du könntest es mir sagen«, entgegnete Huschidh. »Hat Luet irgend etwas gesagt, das darauf schließen läßt, sie könne sich von allen außer dir und euren Kindern absondern?«
Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat sie etwas gesagt, und ich habe nicht darauf geachtet. Ich achte nicht immer auf so etwas.«
Schon die Tatsache, daß er dies so leichthin dahersagte, erweckte Argwohn bei Huschidh. Nafai achtete stets darauf; also war es ihm aufgefallen. Er wollte nur nicht mit Huschidh darüber sprechen.
»Was auch immer es ist«, sagte Huschidh, »du und sie, ihr seid nicht einer Meinung darüber.«
Nafai schaute sie böse an. »Warum fragst du mich überhaupt, wenn du sowieso nicht glaubst, was ich sage?«
»Ich hoffe noch immer, daß du eines Tages zu dem Schluß kommen wirst, ich sei deiner würdig, und du könntest mir deine innersten Geheimnisse anvertrauen.«
»He, was sind wir heute aber empfindlich«, sagte Nafai.
Immer, wenn er sich wie ein kleiner Bruder aufführte, konnte Huschidh ihn am wenigsten ausstehen. »Ich muß Luet bei Gelegenheit mal sagen, daß sie einen schweren Fehler gemacht hat, als sie diese Frauen davon abhielt, dich zu töten, nachdem du in Basilika den heiligen See überquert hast.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Nafai. »Dann wäre mir das Elend erspart geblieben, dich so sehr leiden zu sehen, weil du meine Schwägerin bist.«
»Ich würde lieber jeden Tag ein Kind zur Welt bringen, so schlimm ist das«, sagte Huschidh.
Er grinste sie an. »Ich würde mich darüber freuen«, sagte er. »Ich weiß wirklich nicht, warum Luet sich von allen anderen absondert. Aber ich halte es für gefährlich; deshalb werde ich darauf achten.«
Also nahm er sie doch ernst, wenngleich er ihr nicht verraten wollte, was er für das Problem hielt. Nun, auf mehr hatte sie auch nicht hoffen können. Nafai mochte im Augenblick zwar der Anführer ihrer Gemeinschaft sein, doch er war es nicht deshalb, weil er eine besondere Begabung dafür hatte. Elemak, Nafais ältester Bruder, war der geborene Anführer. Nafai hatte lediglich die Macht zur Herrschaft bekommen, weil er die Überseele auf seiner Seite hatte — oder besser gesagt, weil die Überseele Nafai auf ihrer Seite hatte. Die Autorität fiel ihm nicht leicht, und er wußte nicht immer genau, was er damit anfangen sollte — und was nicht. Er machte Fehler. Huschidh konnte nur hoffen, daß sein Zögern ihr gegenüber keiner dieser Fehler war.
Potja war bestimmt schon hungrig. Huschidh mußte zurück nach Hause. Weil sie sich um ein Kleinkind zu kümmern hatte, war sie von den meisten Pflichten im Zusammenhang mit den Startvorbereitungen entbunden worden. Der Starttermin war ihrer Schwangerschaft wegen sogar verschoben worden. Sie und Rasa waren als letzte Frauen schwanger geworden, bevor sie herausgefunden hatten, daß während der Reise niemand schwanger sein durfte, weil die Chemikalien und die niedrige Temperatur, die fast alle Passagiere während der Reise im Tiefschlaf hielten, mit einem Embryo schreckliche Dinge anstellen würden. Rasas Baby, ein kleines Mädchen, dem sie den allzu süßen Namen Tsennji gegeben hatte — das bedeutete »kostbar« —, war einen Monat vor Huschidhs drittem Sohn und sechstem Kind geboren worden. Schjopot hatte sie ihn genannt. »Flüstern«. Potja war der Kosename, der Schnellname, der im letzten Augenblick gekommen war, wie der Hauch einer Nachricht von der Überseele. Das letzte Flüstern in ihrem Herzen, bevor sie diese Welt für immer verließ. Issib war der Name komisch vorgekommen, aber er war besser als »kostbar«. Diesen Namen betrachteten sie beide als Anzeichen dafür, daß Rasa jedes Maß und Urteil verloren hatte. Potja wartete, Potja hatte Hunger; Huschidhs Brüste verrieten ihr dies mit einiger Dringlichkeit.
Doch als sie das Schiff verließ, begegnete sie Luet, die sie fröhlich begrüßte und so klang wie immer, so liebevoll und nett wie eh und je. Huschidh wollte ihr eine Ohrfeige geben. Belüge mich nicht! Tue nicht wie immer, wo ich doch weiß, daß du dich in deinem Herzen von mir abgesondert hast! Wenn du unsere liebevolle Nähe wie eine Maske auf- und absetzen kannst, werde ich nie wieder Freude daran haben können.
»Was ist los?« fragte Luet.
»Was soll denn los sein?« fragte Huschidh.
»Du trägst dein Herz auf deinem Gesicht«, sagte Luet, »zumindest für mich. Du bist wütend auf mich, und ich weiß nicht, warum.«
»Führen wir dieses Gespräch nicht gerade jetzt«, sagte Huschidh.
»Was ist denn? Was habe ich getan?«
»Das genau ist die Frage, die ich gern beantwortet hätte. Was hast du getan? Oder was willst du tun?«
Das war es. Das leichte Zucken von Luets Lidern, ihr Zögern, bevor sie eine Reaktion zeigte, so, als wolle sie überlegen, welche Reaktion sie zeigen sollte. Huschidh wußte, daß Luet irgend etwas vorhatte. Sie plante etwas. Und was auch immer es war, es verlangte von ihr, daß sie sich gefühlsmäßig von allen anderen in der Gruppe absonderte.
»Nichts«, sagte Luet. »Ich bin heute nicht anders als alle anderen auch, Huschidh. Ich ziehe meine Kinder groß und mache meine Arbeit zur Vorbereitung für unsere Reise.«
»Was immer du vorhast, Lutja«, sagte Huschidh, »tue es nicht. Die Sache ist es nicht wert.«
»Du weißt ja nicht einmal, wovon du sprichst.«
»Stimmt. Aber du weißt es. Und ich sage dir noch einmal — die Sache ist es nicht wert, dich von allen anderen abzusondern. Sie ist es nicht wert, dich von mir abzusondern.«
Luet schaute betroffen drein, und zumindest das war keine Heuchelei. Es sei denn, alles war Heuchelei. Diesen Gedanken konnte Huschidh nicht ertragen.
»Schuja«, sagte Luet. »Hast du das gesehen? Stimmt es? Ich habe es nicht gewußt, aber vielleicht ist es wahr. Vielleicht habe ich mich schon abgesondert von … oh, Schuja.« Luet warf die Arme um Huschidh.
Zögernd — aber warum zögere ich? fragte sie sich — erwiderte Huschidh die Umarmung.
»Ich werde es nicht tun«, sagte Luet. »Ich werde nichts tun, das mich von dir trennt. Ich kann nicht glauben, daß ich … kannst du nicht etwas dagegen tun?«
»Dagegen tun?« fragte Huschidh.
»Du weißt schon, wie du es bei Raschgallivaks Männern getan hast, als sie damals in Tante Rasas Schule eindrangen, um ihre Töchter zu verschleppen. Du hast die Loyalität seiner Männer von ihm abgewandt und ihn gestürzt, einfach so. Erinnerst du dich nicht daran?«
Doch, Huschidh erinnerte sich. Aber das war einfach gewesen; denn sie hatte gesehen, daß die Bande zwischen Rasch und seinen Männern sehr schwach waren, und es hatte nur einiger treffender Worte und überzeugender Gesten bedurft, um den Männern Verachtung für Rasch einzuflößen und sie dazu zu bringen, sich auf der Stelle von ihm abzuwenden. »Das ist nicht dasselbe«, sagte Huschidh. »Ich kann Menschen nicht dazu veranlassen, etwas zu tun. Ich konnte Raschs Leuten ihre Loyalität nehmen, weil sie Rasch in Wirklichkeit ohnehin nicht folgen wollten. Ich kann deine Bande zu uns nicht wiederherstellen. Das mußt du schon selbst tun.«
»Aber ich will es doch«, sagte Luet.
»Was geht hier vor sich?« fragte Huschidh. »Erkläre es mir einfach.«
»Das kann ich nicht«, sagte Luet.
»Warum nicht?«
»Weil nichts vor sich geht.«
»Aber irgend etwas wird vor sich gehen, nicht wahr?«
»Nein!« sagte Luet, und nun klang sie wütend, unerbittlich. »Es wird nichts geschehen. Und deshalb gibt es nichts zu besprechen.« Mit diesen Worten floh Luet die Leiter hinauf, die zur Zentrale des Schiffes führte, wo die Mahlzeit wartete und die anderen sich versammelten.
Da wußte Huschidh, daß es die Überseele war. Die Überseele hatte Luet befohlen, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Und wenn sie es tat, würde es sie von allen anderen trennen. Von allen — außer ihrem Mann und ihren Kindern. Um was ging es? Was hatte die Überseele vor?
Und was immer es auch war — warum hatte die Überseele Huschidh nicht darin eingeschlossen?
Zum erstenmal stellte Huschidh fest, daß sie die Überseele für einen Feind hielt. Zum erstenmal erkannte sie, daß sie der Überseele keine große Treue und Loyalität entgegenbrachte. Bloßes Mißtrauen hatte diese Bande aufgelöst. Was tust du mir und meiner Schwester an, Heilige? Was auch immer es ist, höre damit auf.
Doch sie bekam keine Antwort. Nur Schweigen.
Die Überseele hat Luet auserwählt, irgend etwas zu tun, und nicht mich. Was soll Luet tun? Ich muß es wissen. Denn wenn es etwas Schreckliches ist, muß ich es verhindern.
Luet gefiel das Gebäude nicht, in dem sie zur Zeit wohnten. Überall harte Oberflächen, glatt und leblos. Sie vermißte das Holzhaus in ihrem kleinen Dorf Dostatok, in dem sie acht Jahre lang gewohnt hatten, bevor ihr Gatte den uralten Raumhafen Vusadka gefunden und für sie geöffnet hatte. Und davor hatte sie, soweit sie sich zurückerinnern konnte, in Rasas Haus in Basilika gewohnt. Stadt der Frauen, Stadt der Anmut; Luet sehnte sich manchmal nach den Nebeln des verborgenen und heiligen Sees, nach dem Lärm auf den gut besuchten Märkten, nach den endlosen Reihen der Gebäude, die über die Straßen hinausragten. Aber dieser Ort — hatten seine Erbauer ihn jemals für schön befunden? Hatten sie gern in solchen toten Häusern gewohnt?
Und doch war es ein Zuhause, denn hier versammelten sich ihre Kinder, um zu schlafen und zu essen; hierher kam Nafai stets spät am Abend, um sich neben ihr müde auf ihrem Bett zusammenzurollen. Und wenn die Zeit kam, das Raumschiff zu betreten, das sie Basilika genannt hatten, würde sie auch diesen Ort zweifellos vermissen, die Erinnerungen an hektische Arbeit und aufgeregte Kinder und unbegründete Ängste. Falls die Ängste sich als unbegründet erweisen sollten.
Zur Erde zurückzukehren — was bedeutete das, wenn seit Millionen von Jahren kein Mensch mehr dort gewesen war? Und diese Träume, die immer wieder zu ihnen kamen, Träume von riesigen Ratten, die mit einer boshaften Intelligenz ausgestattet zu sein schienen. Träume von fledermausähnlichen Geschöpfen, die zwar Verbündete zu sein schienen, aber trotzdem unvorstellbar häßlich waren. Selbst die Überseele wußte nicht, was diese Träume bedeuteten oder warum der Hüter der Erde sie ihnen schickte. Doch unter dem Strich zog Luet aus ihrer aller Träume von der Erde den Schluß, daß dieser Ort kein Paradies sein würde, wenn sie dort eintrafen.
Aber in Wirklichkeit machte ihr — und wohl auch allen anderen, wie sie vermutete — die Reise als solche Angst. Hundert Jahre schlafen? Um dann angeblich zu erwachen, ohne einen Tag älter geworden zu sein? Das kam ihr wie ein Märchen vor, wie die Geschichte von dem armen Mädchen, das sich den Finger an einem Mausezahn stach und einschlief, nur um herauszufinden, daß alle reichen und schönen Mädchen zu fetten, alten Frauen geworden waren, als es dann erwachte, und daß sie die jüngste und schönste von allen war. Aber noch immer arm. Das war ein seltsamer Schluß, hatte Luet immer gedacht, daß das Mädchen arm geblieben war. Es müßte eine Abwandlung dieser Geschichte geben, wo der König das Mädchen seiner Schönheit wegen auswählte, statt die reichste Frau zu heiraten, um in den Besitz ihrer Mitgift zu kommen. Aber das hatte nichts damit zu tun, worüber sie sich nun Sorgen machte. Warum waren ihre Gedanken so weit abgeschweift? Ach ja. Weil sie an die Reise gedacht hatte. Daran, sich auf dem Schiff schlafen zu legen, damit das Lebenserhaltungssystem Nadeln in sie stechen und sie für die Reise einfrieren konnte. Woher sollten sie alle wissen, daß sie nicht einfach sterben würden?
Na ja, sie hätten schon tausendmal sterben können, seitdem in Basilika alles zerfallen war. Statt dessen hatten sie bis jetzt überlebt, und die Überseele hatte sie zu diesem Ort geführt. Und bislang lief alles eigentlich ganz gut. Sie hatten ihre Kinder. Sie hatten es weit gebracht. Niemand war gestorben oder auch nur ernsthaft verletzt worden. Seit Nafai von der Überseele den Mantel des Herrn der Sterne bekommen hatte, verhielten sich sogar Elemak und Mebbekew, seine haßerfüllten älteren Brüder, einigermaßen kooperativ — und es war allseits bekannt, daß sie den Gedanken verabscheuten, zur Erde zurückzukehren.
Warum also war die Überseele so wild entschlossen, alles zu verderben?
›Ich bin wild entschlossen, euer Leben zu retten, das deine und das deines Gatten.‹ Hier, an diesem Ort, an dem die Überseele tatsächlich wohnte, hörte Luet ihre Stimme viel leichter, als es in Basilika je der Fall gewesen war.
»Der Mantel des Herrn der Sterne wird Nafai schützen«, murmelte Luet. »Und er wird uns schützen.«
›Und wenn er alt ist? Wenn Elemak seine Söhne gelehrt hat, euch und eure Kinder zu hassen? Es ist simple Mathematik, Luet. Sobald eure Gemeinschaft sich spaltet — und diese Spaltung wird kommen — stehen auf der einen Seite Elemak und seine vier Söhne, Mebbekew und sein Sohn, Obring und seine beiden Söhne, Vas und sein Sohn. Vier starke Erwachsene, acht Knaben. Und wer steht auf eurer Seite? Dein Gatte natürlich. Aber wer sind seine Verbündeten? Sein Vater Volemak?‹
»Alt«, murmelte Luet.
›Ja, zu alt. Und Issib ist von Geburt an ein schwacher Krüppel. Der einzige andere erwachsene Mann ist Zdorab — und wie willst du wissen, auf welcher Seite er steht?‹
»Selbst wenn er Nafai unterstützt, zählt seine Hilfe nicht viel.«
›Also erkennst du das Problem. Selbst mit deinen vier Söhnen, Issibs dreien und Volemaks zweien könnt ihr nicht gerade ein starkes Heer bilden. Und Elemak wird sowieso bald zuschlagen, bevor die Kinder alt genug sind, um eine Rolle zu spielen. Also stehen vier starke und brutale Männer gegen einen Mann, der nicht stark und brutal ist.‹
»Nur falls es Nafai nicht gelingt, alle zusammenzuhalten.«
›Elemak wartet nur seine Zeit ab. Ich weiß es. Daher wirst du ihn überzeugen, das zu tun, was ich dir gezeigt habe.‹
»Überzeuge du ihn doch.«
›Er wird nicht auf mich hören.‹
»Weil er weiß, daß dein Plan zu einer Katastrophe führen wird. Er würde genau das verursachen, das du angeblich verhindern willst.«
›Natürlich wird es einigen Ärger geben …‹
»Ärger! Ach, nur ein wenig. Wir erreichen die Erde, und alle Erwachsenen erwachen aus dem Tiefschlaf, nur um herauszufinden, daß Nafai und Luet — upps! — irgendwie vergessen haben, sich ebenfalls in den Tiefschlaf zu versetzen, und daß — noch einmal upps! — sie es irgendwie geschafft haben, daß ein Dutzend der älteren Kinder während der gesamten zehn Jahre der Reise mit ihnen wach geblieben sind. Verstehst du also, meine liebe Schwester Schuja? Als du dich schlafen gelegt hast, war deine Tochter Dza erst acht Jahre alt, aber jetzt ist sie achtzehn und mit Padarok verheiratet, der mittlerweile übrigens siebzehn ist — tut uns leid, Schedemei und Zdorab, wir wußten doch, ihr habt nichts dagegen, daß wir euren einzigen Sohn für euch großziehen. Und da diese Kinder ja nun mal nicht geschlafen haben, haben wir sie natürlich die ganze Zeit unterrichtet, so daß sie jetzt Experten auf allen Gebieten sind, auf denen sie sich auskennen müssen, um unsere Kolonie aufzubauen. Sie sind auch schon groß und stark genug, um die Arbeit von Erwachsenen zu erledigen. Aber — und nochmal upps! — keins eurer Kinder, Eiadh und Kokor und Sevet und Dol, keins eurer Kinder hat irgendeine Ausbildung bekommen. Ihr habt noch immer kleine Kinder, die keine große Hilfe sein werden.«
›Wie ich sehe, hast du jeden Aspekt des Plans durchdacht. Warum siehst du nicht ein, daß er sowohl notwendig als auch fehlerlos ist?‹
»Sie werden wütend sein«, sagte Luet. »Sie werden uns alle hassen — Volemak und Rasa und Issib und Schuja und Schedemei und Zdorab, weil wir ihnen ihre ältesten Kinder gestohlen haben. Und die anderen werden uns hassen, weil wir ihren Kindern diesen Vorteil nicht gewährt haben.«
›Ja, sie werden wütend sein. Aber diejenigen, die meine treuesten Freunde sind, werden bald die Notwendigkeit einsehen, daß ihre Kinder älter und stärker sein müssen. Dies verändert das Gleichgewicht der körperlichen Macht in der Gemeinschaft. Es wird euch alle am Leben halten.‹
»Sie werden immer davon überzeugt sein, daß die Gemeinschaft lediglich auseinandergebrochen ist, weil Nafai und ich etwas so Schreckliches getan haben. Sie werden uns hassen und uns Vorwürfe machen und uns ganz bestimmt nie wieder vertrauen.«
›Ich werde ihnen sagen, daß es meine Idee war.‹
»Und sie werden sagen, daß du nur ein Computer bist und natürlich nicht wissen kannst, wie und was Menschen empfinden. Aber daß wir es gewußt haben, und daß wir uns hätten weigern sollen.«
›Vielleicht hättet ihr euch weigern sollen. Aber ihr werdet es nicht tun.‹
»Ich habe mich bereits geweigert. Ich weigere mich jetzt erneut.«
›Du weigerst dich mit deinem Mund und deinem Verstand. Doch Huschidh hat in deinem Herzen gesehen, daß du dich bereits darauf vorbereitest, mir zu gehorchen.‹
»Nein!« rief Luet.
»Mutter?« Es war Chvejas Stimme, die durch die Tür von Luets Zimmer drang.
»Was ist, Veja?«
»Mit wem sprichst du?«
»Mit mir selbst, in einem Traum. Reine Torheit. Schlaf weiter.«
»Ist Vater schon zu Hause?«
»Er ist noch bei Issib im Schiff.«
»Mutter?«
»Schlaf jetzt, Chveja. Ich meine es ernst.«
Sie hörte das schlurfende Geräusch von Chvejas Sandalen auf dem Boden. Was hatte Chveja gehört? Seit wann lauschte sie schon an der Tür?
›Sie hat alles gehört.‹
Warum hast du mich nicht gewarnt?
›Warum hast du laut gesprochen? Ich verstehe deine Gedanken.‹
Weil meine Gedanken klarer sind, wenn ich laut spreche, deshalb. Was hast du vor? Willst du Chveja dazu bringen, deinen Plan auszuführen?
›Da du mit Nafai nicht darüber sprechen willst, habe ich Chveja aufgeweckt. Sie sollte hören, was du sagst. Sie wird es ihm erzählen.‹
Warum hast du nicht einfach selbst mit ihm gesprochen?
›Er will nicht auf mich hören.‹
Weil er ein sehr kluger Mann ist. Deshalb liebe ich ihn.
›Er braucht eine andere Sicht der Dinge. Du hättest sie ihm am besten vermitteln können. Chveja wird genügen.‹
Laß ja meine Kinder in Ruhe.
›Deine Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten. Als du in Chvejas Alter gewesen bist, warst du bereits als Wasserseherin von Basilika bekannt. Mir ist nicht aufgefallen, daß du dich damals über meine enge Beziehung zu dir beschwert hast. Und ich scheine mich zu entsinnen, daß du dich gefreut hast, als Chveja zum erstenmal Träume vom Hüter der Erde bekam.‹
»Wenn ich mir überlege, daß ich dich einmal für einen … einen Gott gehalten habe …«
›Und wofür hältst du mich jetzt?‹
»Wenn ich nicht wüßte, daß du ein Computerprogramm bist, würde ich sagen, du bist ein aufdringliches, ekelhaftes altes Miststück.«
›Sei ruhig wütend auf mich, wenn du willst. Das verletzt meine Gefühle nicht. Ich verstehe dich sogar. Aber du mußt die großen Zusammenhänge sehen, Luet. Ich sehe sie.‹
»Ja, du siehst so große Zusammenhänge, daß dir kaum auffällt, wie du das Leben von kleinen Eintagsfliegen wie uns zerstörst.«
›Ist dein Leben bislang so schrecklich gewesen?‹
»Sagen wir mal … es ist nicht wie erwartet verlaufen.«
›Aber ist es so schrecklich gewesen?‹
»Halt endlich die Klappe und laß mich in Ruhe.«
Luet warf sich auf dem Bett zurück und versuchte zu schlafen.
Doch sie dachte immer wieder daran: Huschidh hat gesehen, daß ich mit den anderen unserer Gemeinschaft nicht mehr verbunden bin. Das heißt, ich hege irgendwo in meinem Herzen bereits die unbewußte Absicht, den Auftrag der Überseele auszuführen. Also kann ich auch gleich aufgeben und es bewußt tun.
Ja, ich tue es und verbringe dann den Rest meines Lebens mit dem Wissen, daß meine Schwester und Tante Rasa und die liebe Schedemei mich alle hassen werden und ich ihren Haß absolut und uneingeschränkt verdient habe.
Alle rechneten damit, daß Kitis diesjährige Skulptur ein Porträt seines Ander-Ichs sein würde, kTi. Das war auch Kitis Absicht — bis zu dem Augenblick, da er am Flußufer den Ton fand und sich an die Arbeit machte, indem er ihn mit dem Speer aufbrach und lockerte. Kein junger Mann im Dorf war besser gelitten als kTi; in keinen setzte man größere Hoffnungen. Es hieß, daß eine der großen Damen ihn als Ehemann erwählen und ihm eine Lebensehe anbieten würde; ein außergewöhnlicher Vorgang bei einem so jungen Mann. Wäre es dazu gekommen, wäre Kiti als kTis Ander-Ich ebenfalls in die Ehe übernommen worden. Schließlich waren er und kTi ja identisch, und da spielte es keine Rolle, wer von ihnen der Erzeuger eines besonderen Kindes sein würde.
Aber Kiti wußte, daß er und kTi nicht identisch waren. Oh, ihre Körper waren gleich, wie bei jedem anderen Geburtspaar. Da etwa bei einem Viertel aller Geburtspaare beide Individuen bis zur geschlechtlichen Reife überlebten, war es gar nicht so selten, zwei identische junge Männer vorzufinden, die sich den Damen des Dorfes anboten, um als Paar akzeptiert oder abgelehnt zu werden. Der Brauch und die Höflichkeit schrieben also vor, daß jedermann Kiti denselben Respekt erwies wie seinem Ander-Ich. Aber alle wußten, daß kTi und nicht Kiti ihren Ruf erworben hatte, klug und stark zu sein.
Doch es war nicht völlig zutreffend, daß kTi das gesamte Verdienst zufiel, clever zu sein. Wenn die beiden gemeinsam flogen, eine der Herden des Dorfes hüteten, nach Teufeln Ausschau hielten oder Krähen von den Maisfeldern verjagten, sagte Kiti oft: Diese Ziege wird bestimmt dort entlang gehen, oder: Diesen Baum werden die Teufel wahrscheinlich benutzen wollen. Und am Anfang ihrer berühmtesten Heldentat war es Kiti gewesen, der gesagt hatte: Laß mich so tun, als läge ich verletzt auf diesem Ast, während du mit deinem Speer auf jenem höheren Ast dort wartest. Doch wenn die Geschichte erzählt wurde, schien es immer kTi zu sein, der an alles dachte. Warum sollten die Leute also etwas anderes annehmen? Stets war es kTi, der handelte; stets war es kTi, dessen Kühnheit den Erfolg gewährleistete, während Kiti ihm folgte, ihm half, ihn manchmal rettete, ihm aber nie voranging.
Natürlich konnte er das niemandem erklären. Es wäre zutiefst beschämend für einen Teil eines Geburtspaars gewesen, seinem Ander-Ich den Ruhm nehmen zu wollen. Und außerdem war die Regelung, soweit es Kiti betraf, vollkommen fair. Denn ganz gleich, wie gut eine von Kitis Ideen gewesen sein mochte, stets setzte erst kTis Kühnheit sie in die Tat um.
Warum war es so gekommen? Kiti mangelte es nicht an Mut, oder? Flog er nicht immer auf ihren gewagtesten Abenteuern direkt neben kTi? War es nicht Kiti gewesen, der zitternd auf einem Ast sitzen und so tun mußte, als wäre er verletzt und hätte schreckliche Angst, während er die schwachen Geräusche hörte, mit denen sich im Baumstamm eine Teufeltür öffnete, und das leise Kratzen, mit denen sich die Hände und Füße des Teufels auf dem Ast hinter ihm einen Zentimeter um den anderen voranbewegten? Warum begriff niemand, daß der größte Mut darin bestand, still dort zu sitzen, zu warten und darauf zu vertrauen, daß kTi noch rechtzeitig mit seinem Speer kam? Nein, die Geschichte, die im Dorf erzählt wurde, drehte sich lediglich um kTis wagemutigen Plan, um kTis Triumph über den Teufel.
Es war böse von mir, so wütend zu sein, dachte Kiti. Deshalb wurde mein Ander-Ich mir genommen. Deshalb hat der Sturm uns im Freien überrascht. kTis Füße und Finger löste der Wind vom Ast, kTi wurde in den Himmel befördert, um mit den Göttern zu fliegen. Kiti war dessen nicht würdig, und deshalb hielt sein Griff um den Ast, bis Wind davonging. Es war, als wolle Wind ihm sagen: Du hast dein Ander-Ich beneidet, also habe ich euch auseinandergerissen, um dir zu zeigen, wie unwürdig du ohne kTi bist.
Deshalb hatte Kiti vor, das Gesicht seines Ander-Ichs zu formen. Und genau deshalb konnte er es letztlich nicht. Denn wollte er kTis Gesicht formen, hätte er auch sein eigenes Gesicht formen müssen, und das konnte er in seiner tiefen Unwürdigkeit nicht ertragen.
Und doch mußte er irgend etwas formen. Der Speichel floß bereits in seinem Mund, um den Ton zu befeuchten, um daran zu lecken, ihn zu glätten und der fertigen Skulptur eine schimmernde Patina zu geben. Aber es wäre ruchlos, so kurz nach kTis Tod nicht das Gesicht seines Ander-Ichs zu formen. Man würde dies als Mangel an natürlicher Zuneigung betrachten. Die Damen würden glauben, er habe seinen Bruder nicht geliebt, und deshalb seinen Samen nicht in ihrer Familie haben wollen. Nur eine schlichte, einfache Frau würde sich ihm anbieten. Und er würde, überwältigt vom Tonfieber, dieses Angebot wie ein eifriger Junge akzeptieren, und sie würde seine Kinder zur Welt bringen, und er würde sie von da an Jahr um Jahr ansehen und daran denken müssen, daß er der Vater so niederer Kinder war, weil er es nicht hatte über sich bringen können, das Gesicht seines geliebten kTis zu formen.
Ich habe ihn geliebt, beharrte er stumm. Mit ganzem Herzen habe ich ihn geliebt. Bin ich ihm nicht dorthin gefolgt, wohin er gehen wollte? Habe ich ihm nicht immer wieder mein Leben anvertraut? Habe ich ihn nicht immer wieder gerettet, wenn seine Ungeduld ihn in Gefahr gebracht hatte? Habe ich ihn nicht sogar zur Umkehr gedrängt? Ein Sturm zieht auf! Komm, suchen wir einen Zufluchtsort! Wir müssen Schutz finden! Was für eine Rolle spielt es schon, ob wir den Teufelweg auf diesem Flug oder dem nächsten finden? Kehren wir um, kehren wir um! Und er wollte nicht. Er hat mich ignoriert, als gäbe es mich gar nicht, als wäre ich nichts, als hätte ich nicht mal eine Stimme, wenn es um mein Überleben ging, geschweige denn um das seine.
Der Ton wurde feucht, ballte sich zusammen und floß bereits in seinen Händen, doch genauso viele Tränen wie Speichel befeuchteten ihn. O Wind, du hast mein Ander-Ich genommen, und jetzt kann ich sein Gesicht nicht im Ton finden. Gib mir eine Form, o Wind, falls ich würdig bin! O Mais, falls ich dir Töchter schenken soll, auf daß sie deine Felder hüten, gib meinen Fingern Wissen, selbst wenn mein Verstand abgestumpft ist. O Regen, fließe mit meinem Speichel und meinen Tränen und lasse den Ton unter meinen Händen leben! O Erde, du tief verbrennende Mutter, mach meine Knochen klug, denn eines Tages werden sie wieder dir gehören. Laß mich dir andere Knochen bringen, junge Knochen, Kindknochen aus deinem Ton, o Erde! Laß mich dir junge Schwingen in deine Hände geben, o Wind! Laß mich neue Getreidekörner des Lebens für dich machen, o Mais! Laß mich neue Wassertrinker bringen, neue Weiner, neue Bildhauer, die du schmecken kannst, o Regen!
Doch trotz seines Flehens brachten die Götter keine Form unter seine Hände.
Seine Tränen blendeten ihn. Sollte er aufgeben? Sollte er in den Himmel der Trockenzeit hinauffliegen und nach irgendeinem fernen Dorf suchen, das einen kräftigen Mann gebrauchen konnte, und Da’aqebla nie wiedersehen? Oder sollte seine Verzweiflung sogar noch weiter gehen? Sollte er den Ton aus den Händen legen und trotzdem am Flußufer bleiben, bloßgestellt, damit die ihn beobachtenden Teufel sehen konnten, daß er keine Skulptur in sich hatte? Dann würden sie ihn wie ein Kleinkind in ihre Höhlen holen und ihn bei lebendigem Leibe verschlingen, damit er im Augenblick seines Todes sehen konnte, wie die Teufelkönigin sein Herz aß. Das wäre das richtige Ende für ihn. In die Hölle hinabgetragen, weil er nicht würdig war, von Wind in den Himmel gehoben zu werden. Dann würde kTi alle Ehre zufallen, und er müßte sie nicht mit seinem niederen, unwürdigen Ander-Ich teilen.
Seine Finger arbeiteten, obwohl er nicht sehen konnte, was sie formten.
Und während sie arbeiteten, hörte er auf, sein eigenes Versagen zu betrauern, denn ihm wurde klar, daß auf einmal eine Form unter seinen Händen war. Sie wurde ihm gegeben — auf eine Art und Weise, von der er bislang nur gehört hatte. Als er als Kind mit den anderen Knaben im Spiel Ton geformt hatte, war er jedesmal der geschickteste gewesen; doch nie hatte er gefühlt, daß die Götter seine Hände geleitet hatten. Was er schuf, war stets seinem eigenen Verstand und Gedächtnis entsprungen.
Nun aber wußte er nicht, was unter seinen Händen wuchs, jedenfalls zuerst nicht. Doch bald schon trauerte er nicht mehr, hatte er keine Angst mehr, wurde sein Blick wieder klar, und er sah. Es war ein Kopf. Ein seltsamer Kopf. Nicht der Kopf einer Person oder eines Teufels oder irgendeines Geschöpfes, das Kiti je zuvor gesehen hatte. Er hatte eine hohe Stirn, und seine Nase war spitz, haarlos und glatt, und die Nasenlöcher öffneten sich nach unten. Was für einen Sinn konnte so eine Schnauze haben? Die Lippen waren dick, der Kiefer war unglaublich stark, und das Kinn stand vor, als konkurriere es mit der Nase, dieses Wesen in die Welt hinauszuführen. Die Ohren waren abgerundet und saßen mitten auf den Seiten des Kopfes. Was für ein Geschöpf schaffe ich da? Warum entsteht unter meinen Händen etwas so Häßliches?
Dann kam ihm plötzlich die Antwort in den Sinn: Das ist ein Alter.
Seine Schwingen zitterten, während seine Hände sicher und stark fortfuhren, die Einzelheiten des Gesichts zu formen. Ein Alter. Woher wußte er das? Niemand hatte je einen Alten gesehen. Nur hier und dort, in einigen geschützten Höhlen, fand man mitunter einige unerklärbare Überreste ihrer Zeit auf der Erde. Da’aqebla hatte nur drei solcher Überreste, und Da’aqebla war eins der ältesten Dörfer. Wie konnte er es wagen, den Damen des Dorfes zu erklären, daß dieser groteske, mißgebildete Kopf, den er schuf, der eines Alten war? Sie würden ihn auslachen. Nein, sie würden wütend darüber sein, daß er sie für so töricht hielt, eine so unsinnige Behauptung zu glauben. Wie können wir deine Skulptur beurteilen, wenn du darauf bestehst, etwas zu schaffen, das nie eine lebende Seele gesehen hat? Du hättest besser daran getan, den Ton in einem formlosen Klumpen liegen zu lassen und zu behaupten, es sei die Skulptur eines Flußsteins!
Trotz seiner Zweifel bewegten seine Hände und Finger sich weiterhin. Er wußte, ohne es zu wissen, daß Haar auf dem knochigen Wulst über den Augen sein mußte, und daß der Pelz des Kopfes lang und daß sich eine Vertiefung mitten unter der Nase befinden mußte, die zur Lippe hinabführte. Und als er fertig war, wußte er nicht, wieso er wußte, daß er fertig war. Er betrachtete, was er geschaffen hatte, und war entsetzt darüber. Es war häßlich, fremd und viel zu groß. Doch genau so mußte es sein.
Was habt ihr mit mir gemacht, o Götter?
Er saß ganz still da und betrachtete den Kopf des Alten, als die Damen in großer Höhe herbeigeschwebt kamen und zum Flußufer herabstießen. An den Rändern befanden sich die Männer, deren Skulpturen bereits begutachtet worden waren. Kiti kannte die Männer natürlich allesamt und konnte sich gut vorstellen, wie ihre Arbeiten aussahen. Ein paar von ihnen waren Gatten, und da ihre Damen lebenslang mit ihnen verheiratet waren, standen ihre Skulpturen nicht mehr im Wettstreit mit denen der anderen. Einige von ihnen waren jung, wie Kiti, und boten zum erstenmal Skulpturen feil — und an ihren Armesündermienen erkannte Kiti, daß sie nicht den erhofften Eindruck erzielt hatten. Dennoch hatte das Tonfieber alle Männer befallen, und so sahen sie ihn oder seine Skulptur kaum an; ihre Blicke waren auf die Damen gerichtet.
Die Damen betrachteten seine Skulptur schweigend. Einige von ihnen traten zur Seite, um sie aus einem anderen Winkel zu studieren. Kiti wußte, daß seine Skulptur handwerklich außergewöhnlich gut geraten und ihre Größe beinahe schon dreist war. Er spürte, wie das Tonfieber sich in seinem Innern rührte, und alle Damen kamen ihm wunderschön vor. Er nahm ihre skeptischen Gesichter mit Schrecken war — er sehnte sich jetzt danach, daß sie ihn erwählten.
Schließlich wurde das Schweigen gebrochen. »Was soll das sein?« flüsterte eine Dame. Kiti hielt nach der Stimme Ausschau. Es war Upua, eine Dame, die nie geheiratet und sich seit einigen Jahren nicht mal mehr gepaart hatte. Das hatte ihr den Ruf eingebracht, überheblich zu sein; es hieß, Upua sei von allen Damen am schwierigsten zufriedenzustellen. Natürlich würde sie die Dame sein, die ihn vor allen anderen befragte.
»Es wuchs unter meinen Händen«, sagte Kiti. Er wagte es nicht, ihnen zu verraten, worum es sich in Wirklichkeit handelte.
»Alle dachten, du würdest dein Ander-Ich ehren«, sagte eine andere Dame, die von Upuas verächtlicher Frage ermutigt worden war.
Die schwierigste Frage. Er wagte es nicht, ihr auszuweichen. Aber wagte er es, ihr die Wahrheit zu sagen? »Das wollte ich auch. Aber es war auch mein Gesicht, und ich war nicht würdig, mein Gesicht aus Ton zu schaffen.«
Leises Gemurmel erklang. Einige hielten das Argument für töricht; andere hielten es für eine Täuschung; einige dachten darüber nach.
Schließlich hatten die Damen sich entschieden. »Nichts für mich.« — »Häßlich.« — »Sehr seltsam.« — »Interessant.« Doch wie ihr Urteil auch ausfiel, sie alle flogen los, stiegen auf und kreisten, ließen sich schließlich zu den Ästen des nächsten Baumes treiben. Die Männer, die wegen der vollständigen Zurückweisung des angeblich talentierten Kiti zweifellos Triumph empfanden, gesellten sich dort zu ihnen.
Schließlich standen nur noch Kiti und Upua am Flußbett.
»Ich weiß, was das ist«, sagte Upua.
Kiti wagte nicht zu antworten.
»Das ist der Kopf eines Alten«, sagte sie.
Ihre Stimme wurde bis zu den Damen und Männern auf den Ästen getragen. Sie hörten Upua, und viele schnappten nach Luft oder pfiffen erstaunt.
»Ja, Dame Upua«, sagte Kiti, beschämt darüber, daß seine Arroganz aufgeflogen war. »Aber es wurde mir unter meine Hände gegeben. Ich hatte nie vor, ein solches Ding zu schaffen.«
Upua schwieg lange Zeit, ging um die Skulptur herum, umkreiste sie immer wieder.
»Der Tag ist kurz!« rief eine der führenden Damen von ihrem Ausguck in den Bäumen.
Upua schaute erschrocken zu ihr hinauf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte dies hier sehen und mich daran erinnern, denn die Götter haben uns ein großes Geschenk gemacht, indem sie uns das Antlitz der Alten zeigen.«
Einige lachten über diese Worte. War Upua wirklich der Ansicht, Kiti könne etwas schaffen, das nie zuvor jemand gesehen hatte?
Sie drehte sich zu Kiti um, den das Tonfieber mittlerweile dermaßen erhitzte, daß er sich kaum davon abhalten konnte, sich vor Upuas Füßen zu Boden zu werfen und sie zu bitten, sich mit ihm zu paaren.
»Heirate mich«, sagte sie.
Er hatte sie bestimmt falsch verstanden.
»Heirate mich«, wiederholte sie. »Von jetzt an bis zu meinem Tode will ich nur deine Kinder haben.«
»Ja«, sagte er.
Seit tausend Jahren war kein anderer Mann mehr so sehr geehrt worden. Bei der ersten Skulptur bereits ein Eheangebot, und das auch noch von einer Dame von solchem Ansehen? Viele der anderen — Damen wie auch Männer — waren außer sich. »Unsinn, Dame Upua«, sagte eine andere der führenden Damen. »Du setzt die Institution der Ehe herab, indem du sie einem so jungen Mann anbietest, und das auch noch für eine so lächerliche Skulptur.«
»Die Götter haben ihm das Antlitz eines Alten gegeben. Kommt alle her und betrachtet diese Skulptur noch einmal. Wir werden erst nach zwei Liedern von hier aufbrechen, damit wir alle uns an das Antlitz des Alten erinnern und unseren Kindern erzählen können, was wir an diesem Tag gesehen haben.«
Und da Upua die Dame war, welche die Ehe angeboten hatte, und die an diesem Ort akzeptiert worden war, mußten die anderen ihr für den Zeitraum von zwei Liedern zu Willen sein. Sie betrachteten den Kopf des Alten, und Kiti und Upua gingen gemeinsam auf ewig in den Legendenschatz des Dorfes Da’aqebla ein. Sie gingen auch die Ehe ein, und Kiti, der vor kurzem noch bei dem Gedanken, der Gatte einer so angsteinflößenden Dame zu sein, gezittert hätte, sollte bald erfahren, daß Upua eine freundliche und liebevolle Frau war und daß es ihm nur Freude bringen würde, ihr ein aufmerksamer und beschützender Gatte zu sein. Danach vermißte er kTi zwar noch gelegentlich, aber nie wieder würde er denken, daß Wind ihn bestraft habe, indem er ihn nicht mit kTi in den Himmel getragen hatte.
Doch an diesem Tag wußten sie noch nicht, was die Zukunft bringen würde. Sie wußten nur, daß Kiti der kühnste Bildhauer war, der je gelebt hatte, und da seine Kühnheit ihm eine Dame zur Frau gewonnen hatte, stieg er sofort in der Achtung der anderen. Er war fürwahr kTis Ander-Ich, und obwohl man kTi von ihnen genommen hatte, würden sein Mut und seine Klugheit in Kiti weiterleben, bis sie sich im Alter zu Stärke und Weisheit wandeln würden.
Als die beiden Lieder verstrichen waren, und als die Schar der Damen und Männer sich erhob und zum nächsten Mann weiterflog, tauchten dunkle Gestalten aus den Schatten der Bäume auf. Auch sie gingen um die seltsame Skulptur herum, hoben sie schließlich auf und trugen sie davon, obwohl die Skulptur außergewöhnlich groß und schwer war und die Fremden sie nicht verstanden.
Es rutschte einfach so heraus. Chveja hatte nicht vor, irgend jemandem zu sagen, was sie am vergangenen Abend hinter Mutters Tür gehört hatte. Sie konnte ein Geheimnis bewahren. Selbst ein so schlimmes Geheimnis wie die Tatsache, daß Mutter die Absicht hatte, Dazja während der Reise erwachsen werden und Rokja heiraten zu lassen. Was hatte das zu bedeuten? Daß Chveja Proja oder sonstwen heiraten mußte? Das wäre doch schön, oder nicht? Er sollte Dazja heiraten; dann konnten die beiden herrischsten Kinder sich gegenseitig nach Herzenslust herumkommandieren. Warum wollte Chvejas eigene Mutter, daß Dazja den besten Jungen bekam, der kein doppelter Vetter ersten Grades war?
Chveja dachte noch immer darüber nach, als Dazja sie wegen irgendeiner blöden Sache anschrie — weil sie eine Tür offenstehen gelassen hatte, die Dazja geschlossen haben wollte, oder sie geschlossen hatte, obwohl Dazja wollte, daß sie offen blieb — und Chveja einfach damit herausplatzte. »Ach, halt doch die Klappe, Dazja. Du wirst während der Reise sowieso erwachsen und heiratest Rokja. Da kannst du mir doch wenigstens die Entscheidung über Türen überlassen.«
Und es war nicht Chvejas Schuld, daß Rokja in diesem Augenblick zufällig mit seinem Vater hereinkam. Sie trugen Körbe mit Brot, das für die Reise gefroren werden sollte.
»Was redest du da?« fragte Rokja. »Ich würde keine von euch beiden heiraten.«
Es war nicht Rokjas Reaktion, die Chveja Sorgen bereitete, sondern die des kleinen Zdorab, Rokjas Vater. »Warum denkst du darüber nach, wer Padarok heiraten wird?« fragte Zdorab.
»Er ist nun mal der einzige, der kein Vetter oder so was ist«, sagte Chveja errötend.
»Veja denkt immer nur ans Heiraten«, sagte Dazja. Dann fügte sie hilfreich hinzu: »Sie ist krank im Kopf.«
»Du bist erst acht Jahre alt«, sagte Zdorab und lächelte vergnügt. »Wie kommst du darauf, daß während der Reise jemand heiratet?«
Chveja hielt die Klappe und zuckte mit den Achseln. Sie wußte, daß sie nichts von dem hätte wiederholen sollen, was sie hinter der Tür ihrer Mutter gehört hatte. Vielleicht würden Zdorab und Rokja und Dazja die Sache vergessen, wenn sie nichts mehr sagte, und dann würde Mutter nie erfahren, daß Chveja sie belauscht hatte und ein Plappermaul war.
Elemak hörte Zdorab teilnahmslos zu. Mebbekew war nicht so ruhig. »Ich hätte es wissen müssen. Er hat vor, uns unsere Kinder zu stehlen!«
»Das bezweifle ich«, sagte Elemak.
»Du hast ihn doch gehört!« rief Mebbekew. »Du glaubst doch nicht, daß Chveja sich diesen Plan ausgedacht hat, Kinder während der Reise wach zu halten, damit sie erwachsen werden, oder?«
»Du hast nicht verstanden«, sagte Elemak. »Ich bezweifle, daß Njef dafür unsere Kinder auswählen würde.«
»Warum denn nicht? Dann hätte er zehn Jahre Zeit, ihre Gedanken zu vergiften und sie gegen uns aufzuhetzen.«
»Würde er mir das antun, würde ich ihn töten«, sagte Elemak. »Und das weiß er.«
»Und er weiß, daß ich ihn nicht töten würde«, sagte Zdorab. »Stellt euch das vor — er erzählt seiner Tochter davon, läßt uns gegenüber aber nicht mal die leiseste Andeutung fallen.«
Elemak dachte kurz darüber nach. Solche Achtlosigkeit mochte bei Nafai vielleicht nicht ungewöhnlich sein, doch er bezweifelte es trotzdem. »Wißt ihr, vielleicht ist es ja gar nicht Nafais Plan. Es könnte der von Chvejas Mutter sein. Vielleicht vermißt die Wasserseherin den Einfluß, den sie in Basilika gehabt hat.«
»Vielleicht gefällt ihr die Vorstellung, eine Schule zu leiten, wie ihre Mutter es getan hat«, sagte Mebbekew.
»Aber können wir überhaupt etwas dagegen unternehmen?« fragte Zdorab. »Er hat den Mantel des Herrn der Sterne. Er hat den Index. Er beherrscht das Schiff. Ganz gleich, was er sagt — was soll ihn davon abhalten, während der Reise unsere Kinder aufzuwecken und zu tun, was immer er will?«
»Die Nahrungsvorräte sind nicht unerschöpflich«, sagte Elemak. »Er kann nicht alle aufwecken.«
»Denk doch mal darüber nach«, sagte Mebbekew. »Was ist, wenn wir aufwachen, und sein Sohn Zhatva ist ein siebzehnjähriger Bursche? Njef war in diesem Alter schon ziemlich groß. Während unsere Kinder noch klein sind. Und Vaters zwei Nachzöglinge Ojkib und Yasai. Und dein Padarok, Zdorab.«
Zdorab lächelte schwach. »Padarok wird nicht so groß.«
»Er wird zum Mann werden«, sagte Mebbekew. »Der Plan ist nicht dumm. Er wird die Kinder während der Reise beeinflussen, damit sie die Dinge auf seine Weise sehen.«
Elemak nickte. Daran hatte er auch schon gedacht. »Die Frage ist, was können wir dagegen tun?«
»Selbst wach bleiben.«
Elemak schüttelte den Kopf. »Er hat bereits gesagt, daß das Schiff nicht eher starten wird, bis alle außer ihm schlafen.«
»Dann fliegen wir eben nicht mit!« sagte Mebbekew. »Soll er doch zur Erde aufbrechen! Sobald er fort ist, können wir unsere Familien nach Basilika zurückbringen.«
»Meb«, sagte Elemak, »hast du vergessen, daß wir nicht mehr reich sind? Das Leben in Basilika wäre armselig. Falls sie uns nicht ins Gefängnis werfen. Oder töten, sobald sie uns sehen.«
»Und die Reise wäre mit kleinen Kindern erbärmlich«, fügte Zdorab hinzu. »Ganz zu schweigen davon, daß Schedemei und ich das überhaupt nicht wollen.«
»Dann flieg doch mit Nafai«, sagte Mebbekew. »Mir doch egal, was du tust.«
Elemak vernahm Mebbekews Worte mit Abscheu. Was für ein Narr er doch war! Zdorab hatte ihnen erzählt, was Chveja gesagt hatte. Zdorab war nie zuvor ihr Verbündeter gewesen. Doch nun, da seine Kinder bedroht wurden, bot sich ihnen die gute Gelegenheit, ihn endgültig auf ihre Seite zu ziehen. Dann würde Nafais Gruppe nur noch aus ihm selbst, Vater und Issib bestehen — mit anderen Worten aus Njef, dem alten Mann und dem Krüppel.
»Zdorab«, sagte Elemak, »ich nehme die Sache sehr ernst. Ich glaube, wir haben keine andere Wahl, als zum Schein bei Nafais Plänen mitzuspielen. Aber es gibt doch bestimmt eine Möglichkeit, in den Schiffscomputer zu kommen und ihn so einzustellen, daß er uns während der Reise weckt — zu einem Zeitpunkt, da Nafai glaubt, daß alles nach seinen Wünschen verläuft und er nicht mit uns rechnet. Die Tiefschlafkammern sind weit von den Wohnquartieren des Schiffes entfernt. Was hältst du davon?«
»Ich halte das für dumm«, sagte Mebbekew. »Hast du vergessen, was der Schiffscomputer ist?«
»Ist er es wirklich?« fragte Elemak, an Zdorab gewandt. »Ist der Schiffscomputer mit der sogenannten Überseele identisch?«
»Nun ja«, sagte Zdorab, »wenn man genau darüber nachdenkt, vielleicht nicht. Ich meine, die Überseele wurde installiert, nachdem die Sternenschiffe hier gelandet sind. Er lädt einen Teil von sich in die Schiffscomputer, ist damit aber nicht so vertraut wie mit der Hardware, die er seit vierzig Millionen Jahren bewohnt.«
»Er«, murmelte Mebbekew verächtlich. »Es, meinst du doch.«
Elemak wandte den Blick keinen Augenblick von Zdorabs Gesicht ab.
»Hm«, machte Zdorab. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube nicht, daß die ursprünglichen Reisenden … Ich meine, sie werden doch kaum ihr eigenes Leben der Überseele anvertraut haben. Es war die nächste Generation, nicht sie selbst. Also sind die Schiffscomputer vielleicht …«
»Und vielleicht, wenn du klug vorgehst …«, sagte Elemak.
»Eine Fehlschaltung«, sagte Zdorab. »Es gibt ein Kalenderprogramm, das die Ereignisse während der Reise festsetzt. Kurskorrekturen und so weiter. Aber ich kann mir vorstellen, daß die Überseele dieses Programm oft überprüft.«
»Denke darüber nach«, sagte Elemak. »Bei solchen Dingen bin ich wirklich nicht sehr gut.«
Zdorab blühte sichtbar auf. Damit hatte Elemak gerechnet. Wie alle schwachen und eifrig bemühten kleinen Männer schmeichelte es Zdorab, den Respekt eines Mannes wie Elemak zu erhalten, eines großen, starken Mannes, eines charismatischen und gefährlichen Anführers. Es war so leicht, ihn für sich einzunehmen. Nach all diesen Jahren, in denen Zdorab praktisch in Nafais Tasche gesteckt hatte, war es sogar erstaunlich leicht gewesen. Dazu war Geduld erforderlich. Abwarten. Keine Brücken hinter sich abbrechen.
»Ich zähle auf dich«, sagte Elemak. »Aber was du auch immer tust, sprich später nicht darüber. Nicht einmal mit mir. Wer weiß schon, was der Computer alles hören kann?«
»Dann hat er — zum Beispiel — auch alles gehört, was wir hier besprochen haben«, warf Mebbekew höhnisch ein.
»Wie ich schon sagte, Zdorab, gib dein Bestes. Vielleicht ist es unmöglich. Aber falls du irgend etwas tun kannst, ist das schon mehr, als Meb oder ich tun können.«
Zdorab nickte nachdenklich.
Jetzt gehört er mir, dachte Elemak. Ich habe ihn. Ganz gleich, was geschieht, Nafai hat ihn verloren — und das alles, weil er oder seine Frau vor ihren Kindern nicht den Mund halten konnten. Schwach und töricht, so war Nafai nun mal. Schwach, töricht und zur Führung ungeeignet.
Und wenn er irgend etwas unternahm, das Elemaks Kindern schadete, würde er nicht nur seine Führungsposition verlieren. Aber das war sowieso nur noch eine Frage der Zeit. Vielleicht erst nach Vaters Tod … aber der Tag würde kommen, da alle Beleidigungen und Erniedrigungen vergolten werden würden. Ehrenvolle Männer vergeben ihrem lügenden, betrügenden, spionierenden und verräterischen Feind nicht.
»Gehen wir spazieren«, sagte Nafai zu Luet.
Sie lächelte ihn an. »Sind wir noch nicht müde genug?«
»Gehen wir spazieren«, wiederholte er.
Er führte sie aus dem Wartungsgebäude, in dem sie alle wohnten, über den harten, flachen Boden zum Landefeld. Er führte sie nicht zu den Raumschiffen, sondern auf die freie Fläche, bis sie von allen anderen weit entfernt waren.
»Luet«, sagte er.
»Oh«, sagte sie. »Wir sind wegen irgend etwas wütend.«
»Ich weiß nicht, wie es mit dir ist«, sagte er, »aber ich bin wütend.«
»Was habe ich getan?«
»Ich weiß nicht, ob du irgend etwas getan hast«, sagte er. »Aber Zdorab hat ein Weckdatum in den Schiffskalender eingefügt.«
»Warum sollte er so etwas tun?«
»Das Programm soll ihn wecken, wenn wir die Hälfte der Reise hinter uns haben. Ihn, Schedemei und Elemak.«
»Elemak?«
»Welchen Grund sollte Zdorab dafür haben?« fragte Nafai.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Luet.
»Tja, könntest du mal kurz darüber nachdenken? Fällt dir vielleicht irgend etwas ein, das es dir ermöglicht, dahinter zu kommen?«
Jetzt wurde Luet allmählich wütend. »Was soll das, Nafai? Wenn du irgend etwas weißt … oder wenn du mir etwas vorwerfen willst …«
»Aber ich weiß nichts«, sagte Nafai. »Die Überseele hat mich auf Zdorabs kleinen Weckplan hingewiesen. Und ich habe gefragt: Warum? Und sie hat gesagt: Frage Luet.«
Luet errötete. Nafai runzelte die Stirn. »Also«, sagte er. »Wird dir jetzt alles klar?«
»Die Überseele treibt ihre Spielchen mit uns.«
»Ach, wirklich?« sagte Nafai.
»Es sollte uns nicht überraschen«, sagte Luet. »Das hat sie doch schon die ganze Zeit über getan.«
»Würdest du mich vielleicht wissen lassen, um was für ein Spiel es sich diesmal handelt?«
»Es muß damit zusammenhängen, aber ich verstehe nicht … o ja, doch. Chveja hat mich gehört.«
Nafai legte seine Finger an die Stirn. »Ah, jetzt ist mir alles klar. Was hat Chveja gehört?«
»Wie ich mit der Überseele sprach. Gestern abend. Über … du weißt schon.«
»Nein, ich weiß es nicht.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Mir wird von Minute zu Minute ernster zumute.«
»Du meinst, die Überseele hat das Thema bei dir nicht mal zur Sprache gebracht? Daß sie die Kinder auf der Reise wach halten will?«
»Mach dich doch nicht lächerlich. Wir haben nicht genug Vorräte, um alle wach zu halten. Die Reise dauert zehn Jahre!«
»Ich weiß nicht«, sagte Luet. »Die Überseele hat gesagt, wir hätten genug Vorräte, um dich und mich und zwölf der Kinder den größten Teil der Reise wach zu halten.«
»Und warum sollten wir das tun?« fragte Nafai. »Wir legen uns doch gerade deshalb in den Tiefschlaf, weil zehn Jahre an Bord eines Sternenschiffes unglaublich langweilig werden würden. Nicht mal ich habe vor, die ganze Zeit wach zu bleiben. Sollten unsere Kinder zehn Jahre ihres Lebens — mehr als die Hälfte! — damit verbringen, in diesem Metalltopf herumzusitzen?«
»Die Überseele hat mit dir gar nicht darüber gesprochen«, sagte Luet. »Das macht mich so wütend.«
Nafai schaute sie an und wartete auf eine Erklärung.
»Es würde sich um unsere Kinder handeln, um alle außer den Zwillingen, und um Schujas bis zu Netsja, und Schedemeis Jungen und Mädchen, und um deine Brüder Ojkib und Yasai.«
»Warum nicht auch um die anderen Kinder?«
»Man kann nicht die ersten zwei Jahre seines Lebens in niedriger Schwerkraft verbringen.«
»Das kann doch nicht funktionieren«, sagte Nafai. »Selbst wenn die anderen sich einverstanden erklären würden, hätten die Kinder — außer den beiden von Schedjas — keine mehr in ihrem Alter, die sie heiraten könnten. Alle anderen wären Geschwister oder doppelte Vettern ersten Grades — bis auf Ojkib und Yasai. Die sind einfache Vettern ersten Grades.«
»Njef, ich habe es ihr immer und immer wieder gesagt. Glaubst du, ich wüßte nicht, was für eine dumme Idee das ist? Das muß Chveja gestern abend mitbekommen haben. Ich habe mit der Überseele gestritten.«
»Du mußt nicht laut mit der Überseele sprechen, Luet«, sagte er.
»Das ist mir aber lieber!« erwiderte sie.
»Na ja, was auch immer geschehen sein mag, Zdorab glaubt anscheinend, daß er gegen Mitte der Reise aufwachen und mich kontrollieren muß.«
»Ich kann mir vorstellen, daß er wütend ist«, sagte Luet.
»Wir können nur eins tun.« Nafai nahm sie bei der Hand. Sie kehrten zum Wartungsgebäude zurück.
Sie brauchten nur ein paar Minuten, alle Erwachsenen in der Küche um den großen Tisch herum zu versammeln, an dem sie abwechselnd ihre Mahlzeiten einnahmen. Wie üblich schaute Elemak ziemlich verärgert drein, während Mebbekew offen feindselig reagierte. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er. »Können wir jetzt nicht mal mehr in Ruhe schlafen?«
»Wir müssen sofort etwas klarstellen«, sagte Nafai.
»Ach? Hat einer von uns etwas Böses getan?« fragte Meb höhnisch.
»Nein«, sagte Nafai. »Aber einige von euch glauben, daß Luet etwas vorhat — nein, wenn ich darüber nachdenke, glaubt ihr wahrscheinlich, daß ich etwas vorhabe, und ich möchte das sofort offen zur Sprache bringen.«
»Offenheit«, sagte Huschidh. »Endlich mal eine ganz neue Idee.«
Nafai beachtete sie nicht. »Anscheinend hat die Überseele versucht, Luet zu überreden, wir sollten während der Reise etwas Törichtes mit den Kindern anstellen.«
»Etwas Törichtes?« Volemak, Nafais Vater, schaute verwirrt drein.
»Ja«, sagte Nafai. »Zum Beispiel, sie während der Reise wachhalten.«
»Aber das wäre doch schrecklich langweilig für sie«, sagte Nafais ältere Schwester Kokor.
Nafai antwortete ihr nicht; sie schaute lediglich der Reihe nach die anderen an. Es freute ihn, daß sogar Elemak — der bestimmt von der Idee wußte, die Kinder wach zu halten, und dem gewiß klar war, was dies bedeutete — von Nafais Vorgehen ein wenig überrascht zu sein schien. »Ich weiß, daß einige von euch noch vor mir davon gewußt haben. Ich erfuhr es nur deshalb, weil die Überseele das Wecksignal gefunden hat, das du in den Schiffskalender eingegeben hast, Zdorab.«
Mebbekews schneller Blick auf Zdorab und sein ebenso schneller Blick zur Seite bestätigten, daß auch er von dem Wecksignal gewußt hatte. Wahrscheinlich hatte er sogar damit gerechnet, Zdorabs kleiner Wecker würde ihn mit den anderen aus dem Schlaf reißen. Aber Zdorab wußte natürlich, daß Mebbekew nutzlos sein würde. Wüßte Meb doch nur, welche Verachtung alle anderen ihm entgegenbrachten. Andererseits aber wußte er vielleicht doch davon — und dies war der Grund für seine unablässige Boshaftigkeit.
»Ich glaube, das war eine gute Idee, Zdorab«, sagte Nafai. »Natürlich hat die Überseele dein Wecksignal entfernt, aber ich werde ein neues einbauen. Zur Mitte der Reise werden alle Erwachsenen geweckt. Nur für einen Tag, damit ihr eure schlafenden Kinder sehen und euch davon überzeugen könnte daß sie noch in dem Alter sind, in dem ihr euch von ihnen verabschiedet habt. Eine bessere Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß die Überseele in dieser Angelegenheit nicht ihren Willen bekommt, fällt mir nicht ein.«
Volemak kicherte. »Glaubst du wirklich, du könntest die Überseele täuschen?«
Luet ergriff das Wort. »Die Überseele versteht vieles, aber sie ist kein Mensch. Sie begreift nicht, was es für uns bedeuten würde, wenn man uns die Kindheit unserer Kinder nähme. Wie würdest du dich fühlen, Tante Rasa, wenn du aufwachst und feststellst, daß Okja und Yaja achtzehn- und siebzehnjährige Männer sind? Daß du all die Jahre dazwischen verpaßt hast?«
Rasa lächelte verkniffen. »Ich würde dem, der mir das angetan hat, niemals verzeihen. Auch der Überseele nicht.«
»Ich habe versucht, es der Überseele zu erklären. Manchmal versteht sie menschliche Gefühle nicht.«
»Manchmal?« murmelte Elemak.
»Ich … ich habe laut gesprochen. In der Zurückgezogenheit meines Zimmers. Nafai hat bis spät in den Abend gearbeitet. Aber Chveja wurde wach und muß ziemlich lange gelauscht haben, bevor sie schließlich anklopfte.«
»Willst du damit sagen, daß deine Tochter eine Petze ist?« sagte Mebbekew und gab sich schockiert.
Luet sah ihn nicht an. »Chveja hat nicht verstanden, was sie gehört hat. Es tut mir leid, daß ich für soviel Unruhe gesorgt habe. Ich wußte, daß einige von euch davon wissen und einige nicht. Aber als Nafai vor ein paar Minuten davon erfahren hat, sind wir beide sofort hierher gekommen und … na ja, hier sind wir.«
»Morgen kann Zdorab bestätigen, daß das Wecksignal auf die Mitte der Reise eingestellt ist«, sagte Nafai. »Es würde uns nur dann nicht wecken, wenn die Überseele es während der vielen Phasen ausschalten würde, in denen ich selbst schlafe. Aber das halte ich nicht für wahrscheinlich. Denn sobald ich dann erwache, würde ich selbst euch manuell wecken. Ich sage euch jetzt ein für allemal, daß mit dem Ablauf der Zeit keine Spiele getrieben werden. Unsere Kinder werden bei unserer Ankunft im selben Alter sein wie bei unserem Aufbruch. Der einzige, der während der Reise altert, werde ich sein — und glaubt mir, ich habe kein Interesse daran, mehr zu altern, als unbedingt nötig ist, um die sichere Funktion des Schiffes zu gewährleisten.«
»Warum mußt du überhaupt wach sein?« fragte Obring, Kokors Gatte, nach Nafais wohlüberlegter Meinung eine kleine Schlange von Mann.
»Die Schiffe wurden nicht dafür entworfen, von der Überseele gesteuert zu werden«, erklärte Nafai. »Das Programm der Überseele ist sogar erst fertig geschrieben worden, nachdem die ursprüngliche Flotte auf Harmonie eingetroffen ist. Die Computer hier können das Programm der Überseele zwar aufnehmen, aber kein einziges Programm ist imstande, sämtliche Computer an Bord des Schiffes gleichzeitig zu kontrollieren. Das ist eine Sicherheitsvorkehrung. Redundanz. Auf diese Weise können nicht alle Systeme gleichzeitig versagen. Außerdem gibt es noch einige Dinge, die ich von Zeit zu Zeit erledigen muß.«
»Die irgend jemand erledigen muß«, murmelte Elemak.
»Ich habe den Mantel«, sagte Nafai. »Und ich glaube, dieses Thema haben wir bereits vor längerer Zeit geklärt. Oder wollt ihr wirklich alte Argumente neu ausgraben?«
Offensichtlich wollte das niemand.
»Sohn«, sagte Volemak, »du wirst die Überseele nicht daran hindern können, das zu tun, von dem sie weiß, daß es das Richtige ist.«
»Die Überseele ist im Unrecht«, sagte Nafai. »So einfach ist das. Keiner von euch würde mir je verzeihen, würde ich der Überseele in dieser Sache gehorchen.«
»Das stimmt«, sagte Mebbekew.
»Und ich würde mir selbst auch nicht verzeihen«, sagte Nafai. »Also ist das Thema damit erledigt. Zdorab wird sich morgen den Kalender ansehen. Er und alle anderen, die es wünschen, können ihn sich unmittelbar vor dem Start noch einmal ansehen.«
»Das ist sehr freundlich von dir«, sagte Elemak. »Wir alle können heute wahrscheinlich viel ruhiger schlafen, da wir nun wissen, daß hinter unserem Rücken keine Ränke geschmiedet werden. Danke, daß du so ehrlich und offen zu uns warst.« Er erhob sich vom Tisch.
»Nein«, sagte Volemak. »Ihr kommt mit dieser Rebellion gegen die Überseele nicht durch. Niemand kommt damit durch. Nicht einmal du, Nafai.«
»Du kannst die Sache so lange mit Nafai besprechen, wie du willst, Vater«, sagte Elemak. »Aber Edhja und ich gehen zu Bett.« Er entfernte sich vom Tisch, legte einen Arm um seine Frau und führte sie hinaus. Die meisten anderen folgten ihm — Kokor und ihr Gatte Obring, Sevet und ihr Gatte Vas, Meb und seine Frau Dolja. Auf dem Weg zur Tür blieben Huschidh und Issib stehen, um ein paar Worte mit Nafai und Luet zu wechseln. »Sehr gute Idee«, sagte Huschidh, »alle einfach zusammenzurufen. Es war sehr überzeugend. Leider hat Elemak dir kein Wort geglaubt. Du hast ihn also nur in seiner Überzeugung bestärkt, daß du unaufrichtig bist.«
»Danke für die schnelle Analyse«, sagte Luet mürrisch.
»Ich weiß sie zu schätzen«, warf Nafai schnell ein. »Ich gehe nicht davon aus, daß Elemak irgend etwas für bare Münze nimmt, das ich tue.«
»Ich wollte dir nur sagen«, fuhr Huschidh fort, »daß die Barriere zwischen dir und Elemak stärker und tiefer als irgendeine Verbindung zwischen zwei anderen Personen hier ist. Gewissermaßen ist das auch eine Art von Verbindung. Doch falls du geglaubt haben solltest, du könntest ihn mit dieser kleinen Szene heute für dich einnehmen … das ist dir nicht gelungen.«
»Und was ist mit dir?« fragte Luet. »Hat sie dich eingenommen?«
Huschidh lächelte schwach. »Ich stelle noch immer fest, daß du außer von deinem Mann und deinen Kindern von allen anderen getrennt bist, Luet. Wenn sich das ändert, werde ich den Versprechungen deines Gatten Glauben schenken.« Damit drehte sie sich um und ging. Issib lächelte, zuckte hilflos mit den Achseln und schwebte hinter ihr her.
Zdorab und Schedemei blieben noch. »Nafai«, sagte Zdorab, »ich möchte mich entschuldigen. Ich hätte wissen müssen, daß du nicht …«
»Ich verstehe vollkommen«, sagte Nafai. »Es hat so ausgesehen, als hätten wir etwas hinter eurem Rücken geplant. Ich hätte dasselbe getan, wäre ich darauf gekommen.«
»Nein«, sagte Zdorab. »Ich hätte unter vier Augen mit dir sprechen sollen. Ich hätte herausfinden sollen, was wirklich vorging.«
»Zdorab, ich würde ohne eure Zustimmung nie etwas mit euren Kindern anstellen.«
»Und ich würde sie dir nie geben«, sagte er. »Wir haben weniger Kinder als alle anderen. Die Vorstellung, daß die beiden … daß man uns ihre Kindheit nimmt …«
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Nafai. »Ich will eure Kinder nicht. Ich will, daß die Reise schnell und ereignislos vorübergeht, und daß wir unsere neue Kolonie auf der Erde errichten können. Sonst nichts. Es tut mir leid, daß du dir deshalb Sorgen machen mußtest.«
Zdorab lächelte. Schedemei nicht. Sie schaute Nafai und dann Luet an. »Wißt ihr, ich habe nicht darum gebeten, diese Reise mitzumachen.«
»Ohne dich könnte sie niemals erfolgreich verlaufen«, sagte Nafai.
»Aber eine Frage bleibt offen«, sagte Luet.
»Nein, Lutja«, sagte Nafai. »Haben wir nicht bereits …«
»Wir müssen es einfach wissen!« sagte Luet. »Ganz gleich, was geschieht. Ich meine, es muß doch offensichtlich für euch sein, Schedja, daß eure beiden Kinder die einzigen sind, die keine Probleme mit der Blutsverwandtschaft bekommen werden.«
»Offensichtlich«, sagte Schedemei.
»Aber was ist mit den anderen? Ich meine, ist es nicht gefährlich für uns alle?«
»Ich glaube nicht, daß es ein Problem geben wird«, sagte Schedemei.
»Warum nicht?« fragte Luet.
»Vettern und Kusinen sollten nur dann nicht untereinander heiraten, wenn bei ihnen ein rezessives Gen auftritt, das zu Problemen führt. Falls sie doch untereinander heiraten, können ihre Kinder das rezessive Gen von beiden Seiten bekommen, und daher kommt es deutlicher zum Vorschein. Sie bleiben geistig zurück. Körperliche Mißbildungen und schwächende Krankheiten können auftreten. So etwas in der Art.«
»Und das ist kein Problem?«
»Hast du nicht aufgepaßt?« fragte Schedemei. »Hast du in Basilika denn gar nichts gelernt? Die Überseele hat euch alle über lange Jahre herangezüchtet. So hat sie zum Beispiel eure Eltern von gegenüberliegenden Seiten des Meeres zusammengeführt, Luet. Die Überseele hat bereits dafür gesorgt, daß eure genetischen Moleküle sauber sind. Ihr habt keine rezessiven Züge, die Schäden verursachen könnten.«
»Woher weißt du das?«
»Wenn ihr welche hättet, wären sie bereits zum Vorschein gekommen. Verstehst du denn nicht? Die Überseele hat jahrelang Vettern und Kusinen miteinander verheiratet, um Menschen hervorzubringen, die für ihren Einfluß dermaßen empfänglich sind. Wären Idioten oder Krüppel dabei aufgetreten, wären sie schon … aussortiert worden.«
»Nicht alle«, sagte Rasa. Jeder wußte sofort, daß sie an Issib dachte, Nafais älteren Vollbruder. Seine Muskeln waren von Geburt an größtenteils unkontrollierbar, und er war nie imstande gewesen, ohne die Hilfe magnetischer Flossen oder eines Flugstuhls zu laufen oder sich zu bewegen.
»Nein«, sagte Schedemei. »Natürlich nicht alle.«
»Wenn meine Kinder also Huschidhs Kinder heiraten würden, zum Beispiel …« Luet beendete den Satz nicht.
»Das hat Huschidh mich bereits vor Jahren gefragt«, sagte Schedemei. »Ich dachte, sie hätte es dir gesagt.«
»Das hat sie nicht«, erwiderte Luet.
»Issibs Problem ist nicht genetisch bedingt. Es war ein pränatales Trauma.« Schedemei schaute Rasa an. »Ich vermute, Tante Rasa hat nicht gewußt, daß sie schwanger war, als es passierte.«
Rasa schüttelte den Kopf. Niemand fragte sie, was sie Issib in aller Unschuld im Mutterleib angetan hatte.
»Es wird nicht in den Genen eurer Kinder weitergegeben«, sagte Schedemei. »Ihr könnt eure Kinder verheiraten, wie es euch beliebt. Falls das bedeutet, daß ihr meine Kinder jetzt in Ruhe lassen werdet, bin ich sehr dankbar dafür.«
»Wir haben gar nichts geplant!« rief Luet erzürnt.
»Nafai nicht, das glaube ich gern«, sagte Schedemei, »weil er sofort mit uns darüber gesprochen hat.«
»Ich hatte es auch nicht vor!« beharrte Luet.
»Ich glaube doch«, sagte Schedemei. »Ich glaube, du hast es noch immer vor.« Sie drehte sich um und verließ den Raum. Zdorab folgte ihr nervös.
Draußen auf dem Gang stellte Zdorab fest, daß Elemak auf ihn wartete. Die beiden Männer ließen Schedemei vorangehen und folgten ihr mit gewissem Abstand. »Wie ich sehe, hast du es sehr feinfühlig angefangen«, sagte Elemak.
Zdorab schaute zu ihm auf und lächelte. »Ich war wirklich ungeschickt, nicht wahr? Die Überseele hat mein Wecksignal sofort gefunden.« Dann blinzelte er, schritt schneller aus und ließ Elemak zurück. Elemak ging langsam weiter und dachte nach. Dann lächelte er verkniffen und bog in den Gang, der zu den Zimmern seiner Familie führte.
Nur noch Volemak und Rasa waren mit Nafai und Luet in der Küche geblieben. »Du bist töricht«, sagte Volemak. »Du mußt tun, was die Überseele befiehlt.«
»Was die Überseele befiehlt«, sagte Luet, »wird dafür sorgen, daß unsere Kolonie sich auf Dauer in zwei unversöhnliche Splittergruppen aufspaltet. Damit würde sie einen so tiefen Graben aufreißen, daß er auch nach Generationen noch nicht zugeschüttet werden kann.«
»Es ist ihr Wille«, sagte Volemak.
»Das Gespräch ist sinnlos«, sagte Nafai. »Nicht wahr, Mutter?«
Rasa seufzte. »Es gibt Dinge, die kein anständiger Mensch tun würde«, sagte sie. »Daran muß sich auch die Überseele halten.«
»Es gibt auch Dinge von größerer Bedeutung«, sagte Volemak.
»Ich habe diese drei letzten Kinder bekommen«, sagte Rasa. »Ojkib, Yasai und meine kleine kostbare Tochter. Ich würde jeden hassen, der sie mir nimmt. Sogar dich.« Sie schaute von Nafai zu Luet. »Oder dich.« Und dann sah sie ihren Gatten an. »Oder dich.« Sie stand auf und verließ das Zimmer.
Volemak seufzte und erhob sich ebenfalls. »Ihr werdet es sehen«, sagte er. »Die Überseele läßt sich nicht verhöhnen.«
»Aber die Überseele muß auch unsere Gefühle berücksichtigen«, sagte Nafai, »und …«
Doch Volemak blieb nicht, um seinen Satz bis zu Ende zu hören.
Luet legte die Arme um Nafai und hielt ihn fest. »Ich hätte es dir früher sagen müssen«, erklärte sie. »Aber ich hatte Angst, daß du einfach alles tun würdest, was die Überseele dir befiehlt.«
»Die Überseele kennt mich anscheinend besser als du«, sagte Nafai. »Deshalb hat sie es mir überhaupt nicht gesagt.«
»Komm zu Bett, Gatte«, sagte Luet.
»Ich muß noch ein bißchen arbeiten«, sagte er.
»Dann brechen wir eben einen Tag später auf«, sagte sie.
»Ich muß noch arbeiten.«
Sie seufzte, küßte ihn und ging.
Nafai schnitt sich eine Scheibe Brot ab, legte sie in eine leicht überreife Podoroschny und biß davon ab, als er das Wartungsgebäude verließ und zum Raumschiff zurückging.
›Was bist du aber klug.‹
Ich hoffe es, antwortete Nafai stumm.
›Alle glauben, ich hätte diese Angelegenheit nicht mit dir besprochen.‹
Das hast du auch nicht getan.
›Mich zu ignorieren ist nicht dasselbe, wie mich nicht zu hören.‹
Es war nie eine Diskussion. Es wird nicht dazu kommen.
›Es wird dazu kommen, weil es dazu kommen muß. Wenn du es nicht tust, wirst du getötet werden, und Luet ebenfalls.‹
Du kannst nicht in die Zukunft sehen.
›Elemak wird eure Kinder nehmen und zu Sklaven machen.‹
Er wird Kinder nicht für etwas bestrafen, das ihre Eltern getan haben.
›Er wird es Adoption nennen. Eiadh wird es in Sklaverei verwandeln.‹
Dazu wird es nicht kommen.
›Es wird dazu kommen, wenn du dich nicht mit sechs weiteren jungen Männern umgibst, die dir völlig ergeben sind.‹
Und ich sage dir erneut, zum tausendsten Mal, daß ich so etwas ohne die Zustimmung ihrer Eltern nicht einmal in Betracht ziehen werde. Und ich werde nicht einen Finger rühren, um sie zu überzeugen. Ich werde sogar dagegen sprechen.
›Das ist eine sehr kluge Strategie, Nafai. Dann werden sie dir nicht die Schuld geben können, wenn sie es bedauern, ihre Zustimmung erteilt zu haben.‹
Nafai schüttelte den Kopf. Sie werden dem nie zustimmen, sagte er stumm.
›Du unterschätzt meinen Einfluß.‹
Schedemei sah erneut nach den Kindern. Zum drittenmal in dieser Nacht. Als sie wieder ins Bett zurückkam, war Zdorab wach.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hatte einen Traum.«
»Einen Alptraum, meinst du.«
Für einen Augenblick verstand sie ihn falsch. »Hattest du ihn auch?«
»Nein«, antwortete er ein wenig entrüstet. »War es einer von diesen?«
»Nein, nein«, sagte sie. »Nicht vom Hüter der Erde, wenn du das meinst.«
»Fledermäuse und Wiesel.«
»Riesige Ratten. Die sehe ich wirklich nicht. Wenn es so eine Art von Traum ist, träume ich von Gärten.«
»Aber davon hast du diese Nacht nicht geträumt.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und du willst es mir nicht sagen.«
»Wenn du möchtest, doch.«
Er wartete.
»Zdorab, ich habe wieder … uns gesehen, wie wir auf der Erde ankommen. Wir alle verlassen das Schiff. Du und ich unverändert, genau, wie wir jetzt sind. Aber dann sah ich diesen schönen jungen Mann und diese junge Frau, die ich nicht kannte. Er war stattlich und hatte ein kluges Gesicht, war fröhlich und stark. Sie war dunkelhaarig, aber ihr Lächeln war betörend, und sie lachte, und in ihren Augen war eine unglaubliche Intelligenz.«
»Und er war achtzehn, und sie war sechzehn.« Seine Stimme klang verbittert.
»Rokja und Dabja sind die einzigen Kinder, die ich je haben werde«, sagte sie.
»Willst du’s mir vorwerfen? Nach all diesen Jahren?«
»Ich werfe niemandem etwas vor. Ich bin nur … Ich ging zu mir, um sie anzusehen. Um mich zu vergewissern, daß mit ihnen alles in Ordnung ist. Um mich zu vergewissern, daß sie nicht … denselben Traum hatten.«
»Und woher weißt du, daß sie nicht geträumt haben? Hast du sie geweckt und gefragt?«
»Ich weiß nicht, was sie träumen. Ich weiß nur, daß sie sehr jung sind. Und ich freue mich riesig darauf, was sie sein werden. Auf die nächste Woche und den nächsten Monat und das nächste Jahr und … aber dann habe ich auch gesehen …«
»Was?« fragte Zdorab.
»Ich erinnere mich daran, wie sie gewesen sind. Als kleine Babys. Als ich sie gestillt habe. Als sie ihre ersten Schritte machten. Als sie zum erstenmal sprachen, als sie zum erstenmal spielten, als sie lesen und schreiben lernten. Ich erinnere mich an alles, und diese Kinder sind nicht mehr da.«
»Sie sind nicht weg. Sie sind nur größer geworden.«
»Groß geworden, ich weiß. Aber dieses Lebensalter, das ist weg. Man verliert diese Jahre, ganz gleich, was man tut. Sie wachsen heraus, sie schieben ihre eigene Kindheit zur Seite, sie danken dir nicht, daß du dich daran erinnerst.«
Zdorab schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie dieser übergroße Computer die Menschen bearbeitet, Schedemei. Du weißt, du willst deine Kinder nicht Nafai und Luet übergeben, damit sie sie großziehen. Sie sind selbst noch Kinder.«
»Ich weiß, daß ich es nicht will. Aber was ist für sie am besten? Was ist für sie alle am besten? Menschen haben ihre Kinder in den Krieg geschickt. Sie haben heldenhafte Dinge getan.«
»Und nachdem sie die Kinder verloren hatten, haben sie getrauert und nie damit aufgehört.«
»Aber verstehst du nicht? Wir werden sie nicht verlieren. Es ist, als … als hätten wir sie auf die Schule geschickt. In Basilika tun die Leute das ständig. Sie schicken ihre Kinder in das Haus einer anderen, damit sie dort erzogen werden. Wären wir dort geblieben, hätte ich das auch getan. Sie wären bereits fort, beide. Eigentlich würden wir nur auf die Ferien verzichten.«
Zdorab richtete sich auf einen Ellbogen auf. »Wie du gesagt hast, Schedemei, es sind unsere einzigen Kinder. Ich hätte nie gedacht, daß ich welche bekommen werde. Ich habe es nur dir zu Gefallen getan, weil du meine … Freundin bist. Und du sie so sehr gewollt hast. Und hättest du mich damals gefragt, als du schwanger warst, ob du sie aufgeben könntest, hätte ich gesagt, na schön, tu, was du willst, es sind deine Kinder. Aber jetzt sind es nicht nur deine. Ich habe sie gezeugt, so unglaublich das auch für mich ist, und ich habe sie erzogen und für sie gesorgt und sie geliebt, und ich will dir etwas sagen. Ich will keinen einzigen Tag mit ihnen verlieren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht.«
»Dann vergiß diese Träume, Schedja. Soll der große Computer im Himmel planen, was immer er will. Wir sind nicht Teil seines Plans.«
Sie legte sich neben ihm im Bett auf den Rücken. »Oh, ich bin durchaus Teil davon.«
»Und wieso?« fragte er.
Sie nahm seine Hand und hielt sie. »Dieser Unsinn, den ich gesagt habe. Über Gene. Rezessive Gene, die zum Vorschein kommen, und so weiter.«
Das Bett erzitterte. Zdorab lachte.
»Das ist nicht komisch.«
»Nichts davon stimmte?«
»Ich habe keine Ahnung, ob es stimmt oder nicht. Sie wissen, daß ich Expertin für Genetik bin. Sie glauben, ich wüßte, wovon ich spreche. Aber ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Ich meine, wir können die Genome verzeichnen, aber der größte Teil eines jeden genetischen Moleküls ist noch nicht entziffert worden. Das hielt man früher für bedeutungslosen Blödsinn. Aber das ist es nicht. Soviel habe ich von meiner Arbeit mit Pflanzen gelernt. Es ist alles nur … ruhig. Wartet. Wer weiß, was passieren wird, wenn sie diese Kusinen und Vettern untereinander heiraten lassen?«
Zdorab lachte erneut.
»Das ist nicht komisch«, sagte Schedemei. »Ich sollte ihnen wirklich die Wahrheit sagen.«
»Nein«, sagte Zdorab. »Was du ihnen gesagt hast, bewirkt nur, daß sie nicht das Bedürfnis sehen, unsere Kinder in irgendeins ihrer Experimente einzuschließen, die sie vielleicht durchführen wollen. Gut. So sollte es sein.«
»Aber sieh dir Issib an.«
»Was meinst du damit? Ist sein Zustand doch genetisch bedingt?«
»Nein, dieser Teil entsprach der Wahrheit. Aber sieh dir an, wie er gelitten hat, Zodja. Es ist nicht recht, andere Kinder so etwas durchmachen zu lassen, andere Eltern. Ich kann nicht …«
Zdorab seufzte. »Du tust immer so, als wärest du hartgesotten, Schedja, aber in Wirklichkeit bist du weich wie Käse an einem Sommertag.«
»Danke für diese übelriechende Analogie.«
»Schedja, wenn nicht stimmt, was du gesagt hast … welcher Ansicht bist du denn?«
»Ich weiß es nicht. Die Worte kamen einfach über meine Lippen. Weil ich irgend etwas sagen mußte, um sie von unseren Kindern abzulenken.«
»Genau. Die Überseele ist doch durchaus imstande, ihnen etwas zu sagen, oder?«
»Sie spricht ständig mit ihnen.«
»Dann soll die Überseele ihnen sagen, daß ihre Kinder untereinander nicht heiraten dürfen.«
Schedemei dachte kurz darüber nach. »Darauf bin ich gar nicht gekommen. Ich bin nicht eine von denen, die ›alles der Überseele überlassen‹.«
»Und außerdem«, sagte Zdorab, »woher weiß du, daß die Überseele dir nicht diese Worte in den Mund gelegt hat?«
»Ach, sei doch nicht so …«
»Ich meine es völlig ernst. Du hast gesagt, was dir gerade eingefallen ist. Woher weißt du, daß die Worte nicht von der Überseele kamen? Woher weißt du, daß du nicht die Wahrheit gesagt hast?«
»Tja, ich weiß es eben nicht.«
»Na also. Du mußt ihnen gar nichts sagen.«
Darauf hatte sie keine Antwort. Er hatte recht.
Sie lagen lange schweigend da. Sie dachte schon, er würde schlafen. Dann sprach er, ein ganz leises Flüstern. »Wir sind nicht nur ein Mann mit Kindern und eine Frau mit Kindern, die sich dasselbe Haus und dieselben Kinder teilen. Nicht wahr?«
»Nein, nicht nur«, sagte Schedemei.
»Ich meine, wie sehr muß ein Mann seine Frau sexuell begehren, damit die Gefühle, die er ihr entgegenbringt, Liebe sind?«
Sie tastete sich vorsichtig an eine Antwort heran. »Ich weiß nicht, ob die Gefühle überhaupt sexueller Natur sein müssen«, sagte sie.
»Weil ich dich so bewundere. Und wie du mit Rokja und Dabja umgehst … das bereitet mir … Freude. Und wie du ihnen etwas beibringst, allen Kindern. Und wie du zu … zu mir bist. Du bist so freundlich zu mir.«
»Wie sollte ich denn sonst sein? Was sollte ich tun? Dich schlagen? Dich anschreien? Du bist der netteste Mann, den ich je kennengelernt habe. So nett, daß es mich fast in den Wahnsinn treibt. Du machst gar nichts falsch.«
»Abgesehen davon, daß ich dich nicht befriedige.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich beklage mich nicht.«
»Aber ich liebe dich. Wie eine Schwester. Eine Freundin. Noch mehr als das, wie eine …«
»Wie eine Ehefrau«, sagte Schedemei.
»Ja«, sagte Zdorab. »Genau so.«
»Und ich liebe dich als meinen Gatten, Zdorab. Wie du bist. Einfach so.« Sie drehte sich zu ihm um, griff nach ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Einfach so«, sagte sie erneut. Dann drehte sie sich wieder auf die andere Seite, ihm den Rücken zugewandt, und war kurz darauf eingeschlafen.
In den letzten Wochen vor dem Start des Raumschiffs Basilika kamen die Träume Nacht für Nacht. Und schließlich kam ein Träumender nach dem anderen zu ihm.
Huschidh war die erste. Sie sagte ihm, daß die Überseele recht habe und der Bruch zwischen ihm und Elemak niemals gekittet werden könne, so daß er bereit sein mußte. »Und halte dein Versprechen lieber nicht ein«, sagte sie. »Wecke während der Reise niemanden auf. Es wird zu einer Katastrophe kommen, wenn wir auf so engem Raum eingesperrt sind.«
»Danke für den Vorschlag«, sagte Nafai.
»Ignoriere ihn ruhig«, sagte Huschidh. »Du bist schließlich derjenige mit dem Mantel.«
»Fauch mich nicht an«, sagte Nafai. »Du bist Luets ältere Schwester, nicht meine.«
»Und wir alle wissen, was für tolle Exemplare deine älteren Schwestern sind.«
Beide lachten laut auf.
»Richte Luet bitte aus«, sagte Huschidh, »daß ich herausgefunden habe, daß die Bande zwischen Luet und mir zurückgekehrt und so stark wie eh und je sind, nachdem ich mich entschlossen habe, der Überseele zu gehorchen und euch meine vier ältesten Kinder zu geben, damit ihr sie während der Reise großzieht. Sie mochte anfangs Schuld an der Barriere tragen. Aber es war meine Schuld, daß die Wunde erst jetzt geheilt wurde.«
»Ich werde es ihr ausrichten«, erwiderte Nafai. »Aber sag es ihr doch lieber selbst.«
»Ich wußte, daß du mir das raten würdest«, gab Huschidh zurück. »Deshalb hasse ich dich.« Sie küßte ihn auf die Wange und ging.
Dann kamen Rasa und Volemak gemeinsam zu ihm. »Es war selbstsüchtig von uns, dir unsere Söhne vorenthalten zu wollen. Sie wurden spät geboren«, sagte Rasa. »Das ist eine Möglichkeit für sie, ihre älteren Brüder einzuholen.«
Volemak lächelte zurückhaltend. »Das interessiert mich weniger als Rasa. Wie üblich denkt sie mehr als ich an die Gefühle der Menschen. Ich denke nur daran, was wir alles aufgegeben haben, um so weit zu kommen, und wie dumm es wäre, die Überseele jetzt zurückzuweisen. Es gibt so etwas wie Vertrauen, Nafai. Setze nicht das Überleben der gesamten Kolonie, besonders das deiner eigenen Familie aufs Spiel, nur um dein Bild als das eines Mannes zu schützen, der stets das ›Richtige‹ tut.«
Nafai hörte seinem Vater zu, fand aber keinen Trost in dessen Worten. »Ich habe dieses Bild von mir verloren, als ich Gaballufix’ Kopf von seinen Schultern schnitt, Vater. Ich habe es seitdem an jedem Tag meines Lebens bedauert. Mir eine weitere Quelle der Schuld ersparen zu wollen, war töricht von mir, nicht wahr?«
Volemak schwieg darauf, Rasa jedoch nicht. »Ach, wollen wir uns ein wenig darin suhlen?« sagte sie. »Nafai, du bist noch jung und glaubst daher noch immer, das ganze Universum würde sich um dich drehen. Aber in Wirklichkeit tut es das nicht. Die Überseele hat uns überzeugt, daß es das Beste ist, wenn unsere jüngsten Söhne während der Reise wach bleiben. Nun mußt du dir Klarheit darüber verschaffen, ob du den Mut hast, Elemaks Zorn die Stirn zu bieten, wenn alles vorbei ist.«
»Und es ist euch gleichgültig, daß ich ihm — daß ich allen — mein Wort gegeben habe, ich würde es nicht tun?«
»Ich bin dein Vater«, sagte Volemak, »und Rasa ist deine Mutter. Wir entbinden dich von deinem Eid.«
»Elemak wird sich bestimmt beruhigen, wenn er das hört.«
Rasa lachte leise. »Jetzt hör aber auf, Nafai. Elemak ist der einzige in unserer Gemeinschaft, der keinen Augenblick lang geglaubt hat, du würdest dein Wort halten. Und weißt du, warum er es nicht glaubt? Weil er weiß, daß er dieses Versprechen sofort brechen würde, wäre er an deiner Stelle.«
»Aber ich bin nicht Elemak.«
»Doch, das bist du«, sagte Volemak. »Du bist genau das, was Elemak geworden wäre, hätte er ein gutes Herz gehabt.«
Nafai war sich nicht sicher, ob er soeben ein Lob oder eine Ohrfeige bekommen hatte.
Nach Huschidh, nach Vater und Mutter, kam Issib und brachte wie üblich nicht nur die Träume mit, die die Überseele ihm gegeben hatte, sondern auch einige Ideen, wie die Dinge besser funktionieren würden.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte Issib.
Nafai nickte.
»Ich habe immer wieder diese Träume.«
»Die Überseele«, sagte Nafai. »Ich weiß, ich habe diese Träume auch.«
»Nicht dieselben, Njef«, sagte Issib. »Ich sehe meinen Ältesten, Xodhja, wie er aus dem Raumschiff kommt …«
»Wie ich Zhjat sehe …«
»Und er sieht genau aus wie ich. Was lächerlich ist, weil er so viel vom Gesicht seiner Mutter hat. Aber in meinem Traum ist er ich. Doch er ist groß und stark, seine Arme, seine Brust — wie ein Gott. Wie eine dieser Statuen im alten Orchester.«
»Natürlich. Die Überseele manipuliert dich nur, Issib.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Issib. »Ich war dabei, als wir ihr zum erstenmal widerstanden haben. Kannst du dich noch erinnern? Wir haben es zusammen getan.«
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Wir haben bewiesen, daß wir nicht tun müssen, was die Überseele will, nicht wahr, Nafai? Aber dann haben wir uns entschlossen, der Überseele zu helfen, weil wir es wollten. Weil wir mit dem einverstanden waren, was sie zu bewirken versuchte.«
»Und solange ich damit einverstanden war, habe ich kooperiert. Was mich sehr viel gekostet hat, wie ich hinzufügen darf.«
»Gekostet? Dich? Mit dem Mantel der Herrn der Sterne?«
»Ich würde den Mantel sofort gegen das Wissen eintauschen, daß meine Brüder mich lieben.«
»Ich liebe dich, Njef. Hast du daran je gezweifelt?«
»Nein, ich meinte doch nicht …«
»Und Okja und Yaja lieben dich. Sind sie nicht deine Brüder? Bin ich nicht dein Bruder?«
»Ihr alle seid es.«
»Und ich glaube wirklich nicht, daß du etwas darum gibst, ob Meb dich mag oder nicht.«
»Na schön, es geht um Elemak. Ich würde den Mantel des Herrn der Sterne für Elemaks Respekt eintauschen, könnte ich ihn irgendwie bekommen.«
»Verstehst du denn nicht, Njef? Du kannst seinen Respekt niemals haben.«
»Weil ich dieses Respektes niemals würdig wäre.«
»Du Dummkopf.« Issib lachte ihn aus. »Du bist beschränkt, Nafai. Du bekommst seinen Respekt genau deshalb nicht, weil du ihn verdient hast.«
»Schon in der Schule habe ich keine Paradoxa ausstehen können. Ich glaube, sie sind die Schlußfolgerung, zu der Philosophen gelangen, wenn sie …«
»Ich weiß. Wenn sie zu denken aufhören. Das hast du schon öfter gesagt. Aber das ist kein Paradoxon. Elemak haßt dich, weil du sein jüngerer Bruder bist und er weiß — genau weiß —, daß du mehr von Vaters Respekt und Liebe bekommst als er. Er haßt dich, weil er weiß, daß du in Vaters Augen ein besserer Mensch bist als er.«
»Ich wünschte, es wäre so.«
»Du weißt, daß es stimmt. Doch wenn du alles aufgeben, wenn du alles Elemak überlassen würdest, wenn du den Mantel aufgeben und die Überseele zurückweisen würdest — glaubst du, dann würde er dich respektieren? Natürlich nicht. Denn dann wärest du wirklich verachtenswert. Schwach. Ein Nichts.«
»Du hast mich überzeugt. Ich werde den Mantel behalten.«
»Der Mantel ist nichts. Du tust bereits etwas viel schlimmeres.«
Nafai betrachtete ihn ruhig. »Soll das heißen, du willst mich wirklich überzeugen, deine vier ältesten Kinder während der Reise wach zu halten, sie auszubilden und für dich großzuziehen, damit du feststellst, daß sie bereits erwachsen sind, wenn du aufwachst?«
»Keineswegs«, sagte Issib. »Das würde ich verabscheuen.«
»Worum geht es dann?«
»Halte sie wach, aber wecke auch mich gelegentlich auf. Einmal pro Jahr, für ein paar Wochen. Ich könnte die Kinder dann am Computer ausbilden, zum Beispiel. Niemand versteht sich besser darauf als ich.«
»In der neuen Kolonie werden sie keine Computer brauchen.«
»Dann eben Mathematik. Vermessung. Triangulierung. Ich kann dieselben Bücher mit ihnen durchnehmen, die du eingeplant hast, und sie genau wie du unterrichten. Oder hast du vor, hier ein landwirtschaftliches Labor einzurichten? Forstwirtschaft vielleicht? Wann werden wir die Bäume an Bord holen?«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«
»Du meinst, du Überseele hat noch nicht darüber nachgedacht.«
»Wie auch immer.«
»Wir könnten in Schichten arbeiten. Wecke Luet auf, schicke sie nach einer Weile aber wieder schlafen. Wecke mich auf, wecke Huschidh auf. Wecke Mutter und Vater auf. Immer nur für ein paar Wochen. Dann werden wir sehen, wie die Kinder aufwachsen. Wir brauchen nicht darauf zu verzichten. Und wenn wir die Erde erreichen, werden sie Männer und Frauen sein. Und bereit, sich mit dir gegen die anderen zu verbünden.«
Nafai antwortete nicht sofort. »So hat die Überseele es Luet nicht erklärt.«
»Wo steht denn in Stein gemeißelt, daß du alles so tun mußt, wie die Überseele es gern hätte? Solange du tust, was sie will, spielt die Methode doch kaum eine Rolle, oder?«
»Ist Huschidh derselben Ansicht?«
»Vielleicht. Nach einer Weile.«
»Ich werde kein Kind ohne die Zustimmung der Eltern wach halten.«
»Ach ja? Und was ist mit den Kindern selbst? Wirst du auch sie fragen?«
»Eigentlich sollte ich das«, sagte Nafai. »Ich werde darüber nachdenken, Issib. Vielleicht wird dieser Kompromiß funktionieren.«
»Gut«, sagte Issib. »Denn ich bin der Ansicht, die Überseele hat recht. Wenn wir das nicht tun, wenn wir nicht dafür sorgen, daß starke junge Männer und Frauen dich unterstützen, wirst du sterben, sobald wir das Raumschiff verlassen und der Einfluß der Überseele schwächer wird. Und ich sterbe ebenfalls.«
»Ich denke darüber nach«, sagte Nafai.
Issib erhob sich vom Stuhl, drehte sich zur Tür um und schritt gemächlich darauf zu. Seine Flossen trugen fast sein gesamtes Gewicht. An der Tür drehte er sich um.
»Und noch etwas«, sagte er.
»Was?« fragte Nafai.
»Ich kenne dich besser, als du glaubst.«
»Ach ja?«
»Zum Beispiel weiß ich, daß die Überseele mit dir über diese Angelegenheit gesprochen hat, lange bevor Luet etwas verlauten ließ.«
»Wirklich?«
»Und ich weiß, daß du von Anfang an damit einverstanden warst. Du wolltest nur nicht, daß es deine Idee war. Du wolltest, daß wir dich überzeugen. Auf diese Weise können wir dir später nicht die Schuld geben. Denn du hast versucht, es uns auszureden.«
»Bin ich wirklich so klug?« fragte Nafai.
»Ja«, sagte Issib. »Und ich bin wirklich so klug, daß ich dahintergekommen bin.«
»Na ja, dann bin ich doch nicht so klug.«
»Doch, das bist du«, sagte Issib. »Denn ich will wirklich, daß du es tust. Und ich werde dir niemals Vorwürfe machen können, wenn mir das Ergebnis nicht gefällt. Also hat es funktioniert.«
Nafai lächelte schwach. »Ich wünschte, du hättest in allem recht«, sagte er.
»Ach? Und in welcher Hinsicht liege ich falsch?«
»Im Grunde meines Herzens wäre es mir lieber, wenn alle unsere Kinder während der ganzen Reise schliefen. Denn ich würde es vorziehen, wenn es in der neuen Kolonie keine Trennung zwischen uns gäbe. Ich würde lieber meinen Bruder Elemak zum König über uns alle machen und ihn über uns herrschen lassen, als ihn zum Feind zu haben.«
»Und warum tust du es dann nicht?«
»Weil er die Überseele haßt. Und wenn wir auf der Erde eingetroffen sind, wird er sich auch dem widersetzen, was der Hüter der Erde von uns verlangt. Mit seiner Sturheit wird er uns alle schließlich vernichten. Er kann nicht unser Herrscher sein.«
»Ich bin froh, daß du dies einsiehst«, sagte Issib. »Denn solltest du je zu der Ansicht gelangen, er sollte unser Herrscher sein, wird er dich in diesem Augenblick vernichten.«
Volemak, Rasa, Huschidh, Issib; und dann kamen endlich Schedemei und Zdorab zu ihm, nur eine Stunde, bevor sie alle sich zu der Reise schlafen legen sollten. »Ich will es nicht«, sagte Zdorab.
»Dann werde ich eure Kinder nicht wecken«, sagte Nafai. »Ich bin noch nicht sicher, ob ich überhaupt irgendwelche Kinder wecken werde.«
»Doch, das wirst du«, sagte Schedemei. »Und du wirst auch uns wecken, damit wir dir helfen, sie zu unterrichten. So lautet unsere Abmachung.«
»Und wirst du ihnen gemeinsam mit mir mutig gegenübertreten, wenn wir die Erde erreichen, und unsere Kinder sind alle zehn Jahre älter als Eljas und Mebs und Vasjas und Brijas? Wirst du sagen: Wir hielten es für eine gute Idee? Wir haben ihn gebeten, es zu tun?«
»Ich werde niemals sagen, daß ich es für eine gute Idee halte«, erwiderte Zdorab. »Aber ich werde eingestehen, daß ich dich gebeten habe.«
»Das reicht nicht«, sagte Nafai. »Warum bittest du mich, eure beiden einzigen Kinder daran teilnehmen zu lassen, wenn du es für keine gute Idee hältst?«
»Weil mein Sohn mir niemals verzeihen würde«, sagte Zdorab, »würde er erfahren, daß er die, Gelegenheit hatte, die Erde als Mann zu erreichen, und ich ihn dazu zwang, als Knabe dort einzutreffen.«
Nafai nickte. »Das ist ein guter Grund.«
»Aber vergiß nicht, Nafai«, sagte Zdorab. »Dasselbe gilt für die anderen Kinder. Glaubst du, daß Eljas’ Sohn Protschnu dir je verzeihen wird, wenn er erwacht und feststellt, daß dein jüngerer Sohn Motja jetzt acht Jahre älter ist, statt zwei Jahre jünger? Oder auch Motja? Das wird Haß verursachen, der niemals schwinden wird, Generation um Generation. Sie werden immer glauben, daß man ihnen etwas gestohlen hat.«
»Und damit haben sie recht«, sagte Nafai. »Aber was ihnen gestohlen wurde, das hat man ihnen erst genommen, nachdem sie es bereits zurückgewiesen hatten.«
»Daran werden sie sich nie erinnern.«
»Aber wirst du dich daran erinnern?«
Zdorab dachte kurz darüber nach.
»Wenn nicht«, sagte Schedemei, »werde ich ihn daran erinnern.«
Zdorab lächelte sie grimmig an. »Gehen wir zu Bett«, sagte er.
Ganz gleich, wer später erwachen würde, beim Start selbst würden alle schlafen. Die Belastung und der Schmerz waren zu groß, um den Start bei Bewußtsein zu überstehen. Statt dessen würden sie von Schaum umgeben in ihren Schlafkammern liegen.
Jedes Ehepaar brachte seine jungen Kinder zu Bett, legte sie in ihre Tiefschlafkammern, küßte sie. Dann schlossen sie den Deckel und beobachteten durch das Fenster, wie die Kinder in den von Medikamenten hervorgerufenen Schlaf fielen, der den Prozeß einleitete. Einige Kinder hatten Angst, besonders die älteren, die ein wenig von dem verstanden, was hier geschah. Aber es herrschte auch Aufregung, Erwartung. »Und wenn wir aufwachen, werden wir auf der Erde sein?« fragten sie immer wieder. »Ja«, sagten ihre Eltern.
Dann führte Nafai die Eltern in den Kontrollraum und zeigte ihnen den Kalender mit der Einstellung, die bewirkte, daß sie zur Mitte der Reise geweckt werden würden. »Dann könnt ihr nach euern Kindern sehen und euch überzeugen, daß sie friedlich schlafen«, versicherte Nafai ihnen.
»Jetzt kann ich in der Tat beruhigt schlafen«, erwiderte Elemak mit trockener Ironie.
Nafai beobachtete, wie sie sich nacheinander schlafen legten, und er ermächtigte die Computer der Lebenserhaltung, sie nacheinander mit Medikamenten zu betäuben, mit Schaum zu umgeben und abzukühlen, bis ihre Körper kaum noch lebten. Dann stieg auch er in seine Kammer und zog den Deckel hinter sich zu.
Kein Mensch sah, wie das Schiff leise in die Luft stieg, hundert Meter, tausend, bis es so hoch war, wie die Magnetkraft des Landefeldes es heben konnte. Dann zündeten die Startraketen und feuerten in die Tiefe, während das Raumschiff in den Nachthimmel stieg.
Weit entfernt, auf der anderen Seite des schmalen Meeres, blickten Reisende auf der Karawanenstraße zum Himmel und sahen die Sternschnuppe. »Aber sie steigt empor«, sagte einer von ihnen. »Nein«, sagte ein anderer. »Das ist nur eine Illusion, weil sie sich uns nähert.«
»Nein«, sagte der erste wieder. »Sie steigt in den Himmel empor. Und sie ist viel zu langsam, um eine Sternschnuppe zu sein.«
»Wirklich?« höhnte der andere. »Was ist es dann?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der erste. »Aber ich danke der Überseele, daß wir es sehen konnten.«
»Und warum das?«
»Weil es nach Millionen von Jahren nichts mehr gibt, du Narr, das man nicht schon hundertmal oder tausendmal oder sogar eine Million Mal zuvor gesehen hat. Aber wir haben etwas gesehen, das noch nie jemand gesehen hat.«
»Glaubst du.«
»Ja, das glaube ich.«
»Und was nutzt uns das? Etwas Wunderbares zu sehen und keine Ahnung zu haben, was man gesehen hat?«
Das Raumschiff Basilika stieg höher, aus dem Schwerkraftbereich des Planeten Harmonie. Als es weit genug entfernt war, stellten die Raketen ihre Arbeit ein. Sie würden erst wieder benutzt werden, wenn das Raumschiff auf einer anderen Welt landen wollte. Statt dessen entfaltete sich ein Netz aus den Seiten des Schiffes, das aus so feinen Strängen bestand, daß man sie nicht hätte sehen können, wäre nicht ein blendendes Licht auf die Drähte gefallen, wann immer ein Wasserstoffmolekül oder ein noch kleineres Teilchen in das Energiefeld stürzte, welches das Netz erzeugte. Dann konnte man dessen Form ausmachen. Es sah wie ein riesiges Spinnennetz aus, das den Staub des Weltraums sammelte, um das Raumschiff damit voranzutreiben. Die Basilika begann zu beschleunigen, wurde immer schneller, bis Harmonie weit zurückblieb und nur einer von ungezählten Lichtpunkten war, der sich mit bloßem Auge nicht von irgendeinem anderen unterscheiden ließ. Nach vierzig Millionen Jahren hatten die Menschen die Oberfläche dieser Welt verlassen und kehrten trotz aller Schwierigkeiten nach Hause zurück.
Als die anderen Kinder erwachten, nahmen sie alle an, sie müßten auf der Erde eingetroffen sein. Schließlich hatte man ihnen das erzählt, als man sie in die Tiefschlafkammern brachte — wenn ihr aufwacht, seid ihr auf der Erde.
Ojkib hingegen wußte bereits, daß er lange vorher aufwachen würde. Es überraschte ihn nicht, daß die Schwerkraft nicht normal war, so daß er sich unvorstellbar leicht und stark vorkam und jeder Schritt ihn bis zur Decke hinaufzutragen schien. So war es nun mal im Weltraum, wo einen kein Planet am Boden hielt, sondern man nur die Beschleunigung des Schiffes hatte. Und hätte er irgendwelche Zweifel gehabt, wären sie durch die Tatsache zerstreut worden, daß Ojkib, als Nafai und Luet die Kinder in der Schiffsbibliothek versammelten — dem größten Raum des Sternenschiffs, von der Zentrifuge einmal abgesehen —, das schwache Murmeln hören konnte, mit dem die Überseele zu den beiden sprach: Das ist eine schlechte Idee. Laßt ihnen keine Wahl. Kinder in diesem Alter sind zu jung, um eine so wichtige Entscheidung treffen zu können. Ihre Eltern haben bereits zugestimmt. Wenn ihr ihnen sagt, daß sie eine Wahl haben, obwohl es gar nicht stimmt, werden sie euch dafür nur hassen. Und so wird es immer weiter gehen.
Ojkib hörte solche Gesprächsfetzen seit seiner frühesten Kindheit. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, da er sie nicht gehört hatte. Zuerst waren sie ihm jedoch wie Musik vorgekommen, wie Wind, wie das Geräusch von Wellen, das einem Kind vertraut ist, das am Meer aufwächst. Er dachte sich nichts dabei, suchte nicht nach einer Bedeutung darin. Doch allmählich, als er vier oder fünf Jahre alt war, wurde ihm klar, daß dieses Hintergrundgeräusch Namen enthielt; daß es Ideen enthielt, Ideen, die später bei Diskussionen unter den Erwachsenen aufkamen.
Obwohl die Stimmen nur in seinem Verstand zu vernehmen und daher geräuschlos waren, begann er, gewisse Denkweisen mit gewissen Personen in Einklang zu bringen. Ihm fiel auf, daß er manchmal, wenn er bei Mutter oder Vater war, bei Nafai oder Issib, bei Luet oder Huschidh, am deutlichsten das Gespräch hörte, das dem galt, worüber sie sich gerade mit einem anderen unterhielten. Er sah zum Beispiel, daß Luet versuchte, einen Streit zwischen Chveja und Dazja zu schlichten, und hörte, wie jemand sagte: Warum setzt sie sich bei Dazja nicht durch? Warum macht sie wieder einen Rückzieher? Und ein anderer — die beständigste Stimme, die stärkste — sagte: Sie setzt sich durch, sie macht das gut, hab Geduld, sie muß keinen offenen Sieg erringen, solange ihr Chveja versichert, daß sie noch euren Respekt hat. Daher wußte er, daß eine besonders leidenschaftliche, vertrauliche Stimme bedeutete, daß er Luet hörte; ein kühlerer, ruhigerer, aber unsicherer Gedankengang der Huschidhs war. Die nüchternste, ungeduldigste, streitlustigste Stimme aber war die Nafais.
Doch obwohl Ojkib das alles wußte, war er noch so jung, daß er nicht begriff, daß er diese Dinge eigentlich nicht hören sollte. Zuerst wurde es ihm der Träume wegen klar, denn diese waren eine der wirksamsten Möglichkeiten der Überseele, mit Menschen zu sprechen. Als Ojkib noch sehr klein war, kam Luet einmal zu ihnen, um mit Mutter über einen Traum zu sprechen, den sie gehabt hatte. Als sie ihn erzählt hatte, meldete Ojkib sich zu Wort und sagte: »Ich hatte diesen Traum ebenfalls!«, und dann wiederholte er die Dinge, die Luet gesehen hatte.
Mutter antwortete ihm daraufhin lächelnd, doch er wußte, sie glaubte ihm nicht, daß er denselben Traum gehabt hatte. Als es beim zweitenmal geschah, bei einem Traum Vaters, nahm Mutter Ojkib zur Seite und erklärte ihm sanft, daß er nicht so tun müsse, als hätte er dieselben Träume wie andere Leute gehabt. Es sei besser, nur seine eigenen Träume zu erklären.
Ojkib störte es, daß man ihm nicht glaubte, und je älter er wurde, desto mehr störte es ihn. Warum glaubten die Erwachsenen ihm einfach nicht, daß er als Dreijähriger, als Vierjähriger, dieselben Mitteilungen von der Überseele bekam, die auch sie so häufig erhielten? Schließlich kam er zu dem Schluß, das Problem läge darin, daß der Traum wirklich einer anderen Person geschickt wurde — die Träume trafen immer auf ihre Situation zu, aber eigentlich nicht auf die Ojkibs. Daher wußten die Erwachsenen, daß die Überseele ihm nie einen solchen Traum geschickt hätte; denn der Traum hatte ja nichts mit seinem Leben zu tun. Und die Überseele hatte den Traum auch gar nicht ihm geschickt. Die Träume und die Hintergrundgespräche waren völlig real, aber sie waren gleichzeitig nicht die seinen.
Er fragte sich: Warum hat die Überseele mir nichts zu sagen?
Als Ojkib acht Jahre alt wurde, hatte er schon lange gelernt, für sich zu behalten, was er gehört hatte. Er war von Natur aus ruhig und zurückhaltend und zog es vor, in einer großen Gruppe zu schweigen; er lauschte auf alles und half, wenn er gebraucht wurde. Er verstand viel mehr, als alle anderen glaubten — zum einen, weil er von klein an mitgehört hatte, wie Erwachsene ihre Probleme mit einem erwachsenen Vokabular besprachen, und zum anderen, weil er neben den lauten Gesprächen Fetzen und Bruchstücke innerer Dialoge hören konnte, wenn die Überseele Vorschläge machte, Stimmungen zu beeinflussen versuchte und die Leute gelegentlich von dem ablenken wollte, was sie gerade dachten oder taten. Das Problem bestand darin, daß diese Gespräche Ojkib stets ablenkten, so daß er kaum eigene Gedanken haben konnte; so sehr beschäftigte ihn der Versuch, allem zu folgen, was um ihn herum vorging. Wenn er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, wußte er nie genau, ob er auf etwas antwortete, das laut gesagt worden war, oder auf Dinge, von denen er nur wußte, weil er etwas gehört hatte, das er eigentlich gar nicht hatte hören sollen.
Es gab auch noch einen anderen Grund, weshalb Ojkib wenig sagte. Er hatte erfahren, daß es eine Privatsphäre und Geheimnisse gab, und er wußte, daß es die anderen nicht freuen würde, falls sie sich stets fragen mußten, wieviel er wußte. Er nahm an, es würde sie wütend machen, wenn sie erfuhren, daß ihre intimsten Gedanken, die in ihrem Verstand verankert waren, wo nur die Überseele sie hören konnte, vom Geist eines sechs-, sieben- oder achtjährigen Knaben erfaßt und gespeichert wurden:
Manchmal war die Last all dieser Geheimnisse größer, als Ojkib ertragen konnte. Deshalb hatte er damit angefangen, kleine Gespräche mit Yasai zu führen, seinem jüngeren Bruder. Er erzählt Yasai nicht, wie er die Dinge in Erfahrung brachte, von denen er wußte. Statt dessen ließ er stets Bemerkungen fallen wie: »Ich wette, Luet ist wütend, weil Huschidh nie verhindert, daß Dazja die jüngeren Kinder herumkommandiert«, oder: »Vater liebt Nafai eigentlich nicht mehr als alle anderen. Es liegt nur daran, daß Nafai als einziger begreift, was Vater tut, und ihm dabei helfen kann.« Ojkib wußte, daß Yaja verwirrt war, weil seine ›Einblicke‹ sich so oft als richtig erwiesen. Doch Yaja war auch geschmeichelt, von seinem »klugen« älteren Bruder ins Vertrauen gezogen zu werden. Manchmal kam Ojkib sich wie ein Betrüger vor, weil er Yaja in dem Glauben ließ, er sei einfach von sich aus auf bestimmte Gedanken gekommen. Aber er wußte, ohne den Grund dafür zu kennen, daß es keine gute Idee wäre, seinem Bruder Yaja zu erzählen, daß alle Zwiegespräche mit der Überseele in seinen Geist flossen. Yaja konnte durchaus ein Geheimnis bewahren, aber bei einem so wichtigen Thema mußte er sich früher oder später einfach verplappern.
Also behielt Ojkib seine Geheimnisse für sich. Am schwersten war ihm dies vor ein paar Monaten gefallen, als Nafai zu den Bergen ging, die Grenze durchbrach und die Raumschiffe fand. Da hörte Ojkib einige schreckliche, angsteinflößende Dinge. Luet bat die Überseele, ihren Gatten zu beschützen. Die Überseele drängte jemand anders, ruhig zu sein — sei ruhig, töte deinen Bruder nicht, wenn du deinen Bruder tötest, wirst du nicht mehr damit leben wollen. Er verstand mittlerweile so gut, was es mit ihrer Gemeinschaft auf sich hatte, daß er wußte, wer die Absicht hatte, Nafai zu töten. Ojkib hätte gern etwas getan, konnte es aber nicht. Mehr noch, der Mahlstrom der Bedürfnisse und Wünsche, der Schreie und Forderungen, der Bitten und des Kummers machte ihn fast unbeweglich. Er hatte schreckliche Angst; er ging zu Mutter und umarmte sie, und er hörte, wie sie zu Volemak sagte: »Siehst du, wie die Kinder die Dinge erfassen, ohne sie zu verstehen?« Er wollte sagen: »Ich verstehe sehr wohl, daß Elemak und Mebbekew vorhaben, Nafai zu töten und dann über uns alle zu herrschen — ich weiß es, weil ich gehört habe, wie die Überseele versucht hat, sie daran zu hindern. Ich weiß, daß Luet schreckliche Angst hat — und du ebenfalls —, Nafai könnte getötet werden. Aber ich weiß auch, daß die Überseele wie mit einer Sturzflut zu Nafai spricht, daß sie ihm wichtige Dinge mitteilt, wunderbare Dinge. Aber er ist so weit entfernt, daß ich kaum etwas davon mitbekomme, und ich weiß, daß Nafai selbst nicht die geringste Furcht hat, daß er nur aufgeregt ist und im stillen immer wieder ruft: ›Jetzt verstehe ich es! So ist das also! Jetzt wird mir alles klar! Ja!‹« Aber er konnte nichts davon erklären. Er konnte sich lediglich an seine Mutter klammern, bis sie ihn zurückstoßen mußte, damit sie mit ihrer Arbeit weitermachen konnte. Also blieb ihm nur die Möglichkeit, mit Yasai darüber zu sprechen. »Ich glaube, Elja und Meb werden versuchen, Nafai zu töten, wenn er heute zurückkommt«, sagte er, und Yajas Augen wurden ganz groß. »Ich glaube, Njef macht sich aber keine Sorgen, weil er so stark geworden ist, daß niemand ihn verletzen kann.«
Als alles damit endete, daß Elemak und Mebbekew durch die Macht des Mantels des Herrn der Sterne erniedrigt wurden, empfand Yaja größere Ehrfurcht denn je vor Ojkibs Einsicht. Aber Ojkib war erschöpft. Er wollte nicht so viel wissen. Und doch wollte er eigentlich noch viel mehr wissen. Er wollte, daß die Überseele mit ihm sprach.
Warum sollte sie das tun? Ojkib war nur ein achtjähriger Knabe und nicht so stark und beherrschend wie Elemaks Sohn Protschnu, obwohl Proja ein paar Wochen jünger war. Was sollte die Überseele ihm schon zu sagen haben?
Als er nun mit den anderen in der Bibliothek des Raumschiffes Basilika saß, wußte Ojkib bereits, was man ihnen erklären würde; denn er hatte gehört, wie die Überseele vor dem Start des Schiffes mit den Erwachsenen darüber gestritten hatte, und nun hörte er, daß die Überseele selbst jetzt noch mit Luet und Nafai darüber stritt. Er wollte sie anschreien, sie sollten endlich die Klappe halten und es tun. Aber statt dessen bewahrte er Ruhe und hörte geduldig zu, während Nafai und Luet ihnen alles erklärten.
Ihm gefiel nicht, wie sie es handhabten. Sie sagten natürlich die Wahrheit — er hatte gelernt, dies von ihnen zu erwarten, vielleicht mehr als von irgendeinem anderen der Erwachsenen —, aber sie verschwiegen viele der wahren Gründe, weshalb sie es taten. Sie sprachen nur darüber, was für eine wunderbare Gelegenheit es für die Kinder sei, vieles lernen zu können, das sie wissen mußten, damit die Kolonie überleben konnte, nachdem sie die Erde erreicht hatten. »Und weil ihr bei unserer Ankunft vierzehn, fünfzehn oder sechzehn Jahre sein werdet — einige von euch sogar achtzehn —, werdet ihr die Arbeit eines Mannes oder einer Frau tun können. Ihr werdet Erwachsene sein, keine Kinder mehr. Doch zugleich werdet ihr eure Mütter und Väter während der Reise nur dann und wann sehen können, denn wir können es uns nicht leisten, daß die Lebenserhaltung mehr als zwei Erwachsene gleichzeitig wach hält.«
Ja, ja, das alles stimmt, dachte Ojkib. Aber was ist damit, daß nur ein Dutzend von uns Kindern in eurer kleinen Schule sein wird? Was ist damit, daß Protschnu noch acht Jahre alt sein wird, wenn ich am Ende der Reise achtzehn sein werde? Was ist mit Freundschaften wie der zwischen Mebbekews Tochter Tija und Huschidhs Tochter Schjada? Werden sie noch Freundinnen sein, wenn Schjada sechzehn ist und Tija noch immer sechs? Wohl kaum. Und wie willst du das erklären?
Aber er sagte nichts. Wartete. Vielleicht würden sie noch darauf zu sprechen kommen.
»Irgendwelche Fragen?« erkundigte Nafai sich.
»Wir haben viel Zeit«, sagte Luet. »Wenn ihr weiterschlafen wollt, könnt ihr das in ein paar Tagen noch immer tun — es gibt keinen Grund zur Eile.«
»Können wir auf diesem Schiff überhaupt spielen?« fragte Xodhja, Huschidhs Ältester. Das war die offensichtlichste Frage, denn die Erwachsenen hatten vor dem Start den Kindern ja immer wieder versichert, daß sie während der Reise schlafen wollten, weil es so langweilig sein würde.
»Es gibt viele Dinge, die ihr hier nicht tun könnt«, sagte Luet. »Die Zentrifuge bietet normale Erdschwerkraft für Körperertüchtigungen, aber dort könnt ihr nur geradeaus laufen. Ihr könnt nicht Ball spielen oder schwimmen oder im Gras liegen, weil es keinen Teich und kein Gras gibt und weil es selbst in der Zentrifuge kaum möglich ist, einen Ball zu werfen oder zu fangen. Aber ihr könnt ringen, und ich glaube, ihr könntet euch daran gewöhnen, in niedriger Schwerkraft Fangen oder Verstecken zu spielen.«
»Und wir haben Computerspiele«, sagte Nafai. »Da ihr ohne Computer aufgewachsen seid, hattet ihr nie Gelegenheit, mit ihnen zu spielen. Aber Issib und ich haben ein paar ziemlich …«
»Ihr werdet aber nicht sehr oft damit spielen können«, unterbrach Luet. »Wir wollen nicht, daß ihr euch daran gewöhnt. Denn auf der Erde werden wir solche Computer nicht haben.«
Fangen in niedriger Schwerkraft spielen — allein damit hätten sie die meisten Kinder auf ihre Seite ziehen können. Ojkib merkte, daß er wütend wurde, weil sie so taten, als würden sie die Wahl ihnen überlassen, ihnen dann aber nur die schönen Dinge erzählten und nicht die schlimmeren.
Vielleicht hätte Ojkib in diesem Augenblick etwas gesagt, doch Chveja kam ihm zuvor. »Ich glaube, alles hängt davon ab, wie Dazja sich entscheidet.«
Daz war stets auf sich eingebildet und hielt sich für das wichtigste Kind, weil sie die Erstgeborene war. Sie blühte sichtlich auf. Ojkib war empört, vor allem, weil er noch nie erlebt hatte, daß Chveja Daz so in den Hintern gekrochen war — er hatte immer gedacht, sie wäre das vernünftigste der Mädchen gewesen.
»Chveja, ihr Kinder müßt euch schon allein entscheiden.«
»Du verstehst nicht«, sagte Chveja. »Wozu Dazja sich auch entscheidet, ich tue das Gegenteil.«
Dazja streckte Chveja die Zunge heraus. »Genau das habe ich von dir erwartet«, sagte sie. »Du bist immer so unreif.«
»Veja«, sagte Luet, »es ist mir peinlich, daß du so etwas Verletzendes sagst. Und willst du wirklich deine gesamte Zukunft verändern, nur um Dazja eins auszuwischen?«
Chveja errötete und sagte nichts.
Endlich hatte Ojkib den Punkt erreicht, an dem er nicht mehr still sein konnte. »Ich weiß, was ihr tun solltet«, sagte er. »Laßt Dazja doch noch drei Tage lang schlafen. Wenn sie dann aufwacht, wären Dazja und Chveja genau gleich alt.«
Chveja verdrehte die Augen, als wolle sie sagen: Das ist doch keine Lösung! Doch Dazja drehte durch. »Ganz gleich, was passiert, mein Geburtstag käme noch immer zuerst!« schrie sie. »Ich bin das erste Kind, sonst niemand! Und deshalb werde ich wach bleiben, damit ich noch immer die älteste bin, wenn wir dort ankommen. Niemand wird mich je herumkommandieren!«
Ojkib stellte voller Befriedigung fest, daß Dazja soeben Nafai und Luet gezeigt hatte, warum Chveja nicht wach bleiben wollte, wenn Dazja wach blieb.
»Eigentlich«, sagte Luet, »hat niemand das Recht, andere Leute herumzukommandieren, nur weil sie die älteste oder klügste oder was weiß ich ist.«
Mehrere der jüngeren Kinder lachten. »Dazja kommandiert alle herum«, sagte Schjada, die als Dazjas nächstjüngere Schwester die Hauptlast von Dazjas Launen trug.
»Das tue ich nicht«, sagte Dazja. »Ich kommandiere weder Ojkib noch Protschnu herum.«
»Nein, du kommandierst nur die herum, die schwächer sind als du, du blöde Ziege!« sagte Schjada.
»Seid jetzt alle still«, sagte Nafai. »Ihr habt gerade eins der Probleme erlebt, die wir bekommen werden, falls wir euch während der Reise wach halten, um euch unterrichten zu können. Das Innere des Schiffes ist nicht sehr groß. Ihr werdet hier jahrelang zusammen eingepfercht sein. Auf Harmonie ließen wir euch eine Menge durchgehen, weil wir der Ansicht waren, ihr würdet im Lauf der Zeit vernünftiger. Aber während der Reise können wir nicht dulden, daß die älteren Kinder die jüngeren herumkommandieren.«
»Warum nicht?« sagte Dazja. »Die Erwachsenen kommandieren die Kinder doch ständig herum.«
»Dza«, sagte Luet ruhig, »du bist bestimmt intelligent genug, um zu verstehen, daß die drei Tage zwischen dir und Veja nicht so viel ausmachen wie die fünfzehn Jahre zwischen dir und mir.«
Chveja nahm den Faden sofort auf. »Wenn ich wach bleibe, Mutter, werde ich drei Jahre älter sein als du es warst, als ich geboren wurde, wenn wir die Erde erreichen.«
»Ja, aber sie war verheiratet«, sagte Rokja, Zdorabs und Schedemeis Sohn. Dann schien er plötzlich zu begreifen, was er gerade gesagt hatte, denn er errötete und hielt von nun an die Klappe.
»Ich glaube nicht, daß ihr euch jetzt schon um die Ehe Sorgen machen müßt«, sagte Luet.
»Warum nicht?« sagte Chveja. »Du machst dir doch auch Sorgen darum. Rokja ist der einzige Junge hier, der nicht mein Onkel oder ein doppelter Vetter ersten Grades ist.«
»Das wird kein Problem sein«, sagte Luet. »Schedemei hat mir gesagt, daß es keine genetischen Probleme geben wird. Falls ihr euch also in einen Vetter oder Onkel verlieben solltet, wenn ihr älter seid …«
Die meisten Kinder gaben stöhnende oder würgende Geräusche von sich.
»Ich habe gesagt, wenn ihr älter seid, und wenn diese Vorstellung euch nicht mehr abstoßend vorkommt, wird es keine genetischen Probleme geben.«
Aber Ojkib wußte, daß Schedemei vor dem Start die Überseele gebeten hatte, ihr zu vergeben, daß sie Nafai diese Lüge erzählt hatte. Des weiteren hatte sie die Überseele aufgefordert, Nafai zu sagen, er solle Ehen zwischen engen Vettern und Kusinen verbieten, falls irgendeine Gefahr darin liegen sollte. Er wußte aber auch etwas anderes, das Schedemei nicht gewußt hatte: daß alle ihre Behauptungen, sie wären von der Überseele sorgfältig herangezüchtet worden, um genetische Defekte auszuschließen, ihr von der Überseele eingegeben worden waren. Ojkib hatte diese sehr starke Mitteilung natürlich gehört; deshalb bereitete ihm die Vorstellung, eine Kusine zu heiraten, keine Probleme. Er konnte nur hoffen, daß die Überseele recht hatte — Ojkib und Yaja konnten schlecht beide Schedemeis und Zdorabs Tochter Dabrota heiraten. Deshalb mußte einer von ihnen eine Nichte heiraten oder unverheiratet sterben.
Chveja war damit nicht zufrieden. »Das hast du an diesem Abend nicht gesagt …«
»Veja«, sagte Luet und brachte alle Geduld auf, die sie besaß, »du hast nicht beide Seiten dieses Gesprächs gehört. Außerdem habe ich seitdem einige neue Informationen bekommen. Hab ein wenig Vertrauen, Schatz.«
Dann ergriff Motiga das Wort. Da ihm nichts am Thema Ehe lag, hatte er über etwas ganz anderes nachgedacht. »Wenn die Leute, die schlafen, nicht älter werden, werden die, die jetzt nicht hier sind, noch klein sein, wenn wir auf der Erde ankommen? Ich meine, werde ich größer als Protschnu sein?«
Luet und Nafai schauten sich an. Sie hatten es eindeutig vermeiden wollen, so eine Frage beantworten zu müssen. »Ja«, sagte Nafai schließlich. »Das bedeutet es.«
»Toll«, sagte Motiga.
Aber die anderen waren nicht unbedingt dieser Meinung. »Das ist doch dumm«, sagte Schjada, die als Sechsjährige in Protschnu verknallt war. »Warum weckt ihr uns nicht einfach abwechselnd auf, wie ihr es bei den Erwachsenen vorhabt?«
Ojkib war überrascht, daß eine Sechsjährige auf die vernünftigste Lösung gekommen war. Das galt auch für Nafai und Luet. Sie wußten offensichtlich nicht, was sie darauf sagen, wie sie es ihr erklären sollten.
Also sprang Ojkib ein, der sich über jede Gelegenheit freute, helfen zu können. »Hört mal, wir sind jetzt nicht wach, weil Nafai und Luet uns am besten leiden können oder so. Wir sind hier, weil unsere Eltern auf Nafais Seite stehen, und die Kinder, die noch schlafen … na ja, deren Eltern stehen auf Elemaks Seite.«
Nafai schaute wütend drein. Ojkib hörte, wie er zur Überseele sagte: Kannst du diesem Jungen nicht mal beibringen, wann er seine Klappe halten soll?
Ojkib hörte auch die Antwort der Überseele: Habe ich dich nicht gewarnt, ihnen keine Wahl zu lassen?
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir die wirklichen Gründe kennen, bevor wir eine Entscheidung treffen«, sagte Ojkib und schaute Nafai in die Augen. »Ich weiß, daß ihr und meine Eltern und Issib und Huschidh und Schedemei und Zdorab der Überseele gehorchen, und ich weiß, daß Elemak und Mebbekew und Obring und Vas versucht haben, dich zu töten, und die Überseele glaubt, daß sie es erneut versuchen werden, sobald wir die Erde erreichen.« Er wußte, daß er wahrscheinlich zuviel gesagt und Dinge verraten hatte, von denen er eigentlich nichts wissen durfte. Also wandte Ojkib sich an die anderen Kinder, um es ihnen zu erklären. »Es ist wie ein Krieg«, sagte er. »Obwohl Nafai als auch Elemak meine Brüder sind, und obwohl Nafai nicht will, daß es einen Kampf zwischen ihnen gibt, wird Elemak versuchen, Nafai zu töten, wenn wir die Erde erreicht haben.«
Die anderen Kinder blickten ihn mit sehr ernsten Gesichtern an. Ojkib redete nicht besonders viel, aber wenn er etwas sagte, hörten sie ihm zu, und was er sagte, war sehr wichtig. Es ging nicht mehr um so belanglose Fragen wie die, wer unter den Kindern das Sagen hatte. Das war Luets und Nafais Fehler gewesen. Sie hatten gewollt, daß die Kinder eine Entscheidung treffen, aber dabei sollten sie nicht die wirklichen Hintergründe kennen. Nun ja, Ojkib kannte diese Kinder besser, als die Erwachsenen sie kannten. Er wußte, sie würden ihn verstehen, und er wußte, wie sie sich entscheiden würden.
»Ihr seht also«, fuhr Ojkib fort, »in Wirklichkeit haben sie uns aufgeweckt, damit Yasai und Xodhja und Rokja und Zhjat und Motja und ich Männer sein werden. Große Männer. Während Eljas und Kokors und Sevets und Mebs Söhne noch kleine Kinder sind. Auf diese Weise wird Elemak es nicht nur mit einem alten Mann wie meinem Vater oder einem Krüppel wie Issib zu tun haben. Er wird uns gegenübertreten müssen, und wir werden zu Nafai stehen und für ihn kämpfen, wenn es sein muß. Das werden wir doch, oder?«
Ojkib schaute von einem Jungen zum nächsten, und alle nickten. »Und es geht nicht nur um die Knaben«, fügte er hinzu. »Wir zwölf werden heiraten und Kinder haben, und unsere Kinder werden geboren, bevor die anderen Kinder bekommen, und deshalb werden wir immer stärker sein. Es ist die einzige Möglichkeit, Elemak davon abzuhalten, Nafai zu töten. Und nicht nur Nafai. Denn sie müßten auch Vater töten. Und Issja. Und vielleicht auch Zdorab. Und wenn sie Vater, Issja und die anderen nicht töten, werden sie sie wie Sklaven behandeln. Und uns auch. Es sei denn, wir bleiben auf dieser Reise wach. Elemak und Mebbekew sind zwar meine Brüder, aber sie sind nicht nett.«
Luet hatte das Gesicht in den Händen begraben. Nafai schaute zur Decke.
»Woher weißt du das alles, Okja?« fragte Chveja.
»Ich weiß es einfach, ja?« erwiderte Ojkib. »Ich weiß es einfach.«
Ihre Stimme wurde ganz leise. »Hat die Überseele es dir gesagt?«
Gewissermaßen ja — aber aus irgendeinem Grund wollte Ojkib nicht lügen oder Chveja auch nur in die Irre führen. Da war es besser, gar nicht zu antworten. »Das geht nur mich etwas an«, sagte er.
»Das trifft auf vieles von dem zu, was du gerade gesagt hast, Ojkib«, sagte Nafai. »Aber du hast es nun mal gesagt, und wir müssen uns damit befassen. Es stimmt, daß die Überseele glaubt, unsere Gemeinschaft würde sich spalten, nachdem wir die Erde erreicht haben. Und es stimmt, daß die Überseele das alles geplant hat, damit ihr alt genug seid, um euch mit euren Eltern gegen Elemak und seine Gefolgschaft und deren Kinder wenden zu können. Aber ich bin nicht der Ansicht, daß es zu einer solchen Spaltung kommen muß. Ich will diese Spaltung nicht. Statt dessen bin ich der Ansicht, daß es gut wäre, zwölf weitere Erwachsene zu haben, die uns beim Aufbau der Kolonie helfen können — und zwölf Kinder weniger, auf die wir aufpassen und die wir schützen und ernähren müssen. Alle werden Vorteile daraus ziehen.«
»Aber du hättest uns nichts davon gesagt, wenn Ojkib es nicht gesagt hätte«, warf Chveja ihm leicht erzürnt vor.
»Ich dachte, ihr würdet es nicht verstehen«, sagte Nafai.
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Schjada wahrheitsgemäß.
»Ich bleibe wach«, sagte Padarok. »Ich bin auf deiner Seite, weil ich weiß, daß meine Eltern es auch sind. Ich habe gehört, wie sie darüber sprachen.«
»Ich auch«, sagte seine kleine Schwester Dabja. Nacheinander gaben sie alle ihre Zustimmung.
Schließlich wandte Dazja sich an Chveja. »Und es tut mir leid«, fügte sie hinzu, »daß du mich so sehr haßt, daß du lieber ein kleines Mädchen bleiben willst, als bei mir zu sein.«
»Du haßt doch mich«, sagte Chveja.
»Das stimmt nicht«, sagte Dazja.
Es folgte ein langes Schweigen.
»Wenn es hart auf hart geht«, sagte Chveja, »stehen wir auf derselben Seite.«
»Das ist richtig«, sagte Dazja.
Und dann fügte Chveja — die wirklich nicht besonders gründlich nachdachte, bevor sie etwas sagte — hinzu: »Und du kannst Padarok heiraten. Ich habe nichts dagegen.«
Padarok protestierte sofort lautstark, während die meisten anderen Kinder johlten und lachten. Nur Ojkib bemerkte, daß Chveja ihn ansah, nachdem sie dies gesagt hatte, bevor sie den Blick senkte und auf ihren Schoß sah.
Also bin ich der Auserwählte, dachte er. Wie nett von dir, daß du meine Entscheidungen triffst.
Aber es war auch offensichtlich. In dieser Gruppe von zwölf Kindern waren Ojkib und Padarok die einzigen Jungen, die im ersten Jahr geboren waren, und Chveja und Dza die einzigen Mädchen. Wenn Dza und Padarok sich zusammentaten, würde Chveja entweder Ojkib oder einen der jüngeren Knaben oder gar nicht heiraten müssen.
Der Gedanke war ein wenig abstoßend. Er dachte an die eine Gelegenheit, als er sich hatte breitschlagen lassen, mit Dza und einigen der jüngeren Mädchen mit Puppen zu spielen. Es war überaus langweilig gewesen, die Rolle des Vaters und Gatten zu übernehmen, und bereits nach ein paar Minuten hatte er das Weite gesucht. Er stellte sich vor, mit Chveja mit Puppen zu spielen, und es kam ihm kaum interessanter vor. Aber vielleicht war es besser, wenn die Puppen echte Kleinkinder waren. Die erwachsenen Männer schienen jedenfalls nichts dagegen zu haben. Vielleicht fehlte irgend etwas, wenn sie mit Puppen spielten. Vielleicht waren in echten Ehen die Frauen nicht so sehr darauf bedacht, die Männer zu zwingen, alles nach ihren Vorstellungen zu tun.
Padarok mußte darauf hoffen, denn wenn er sich wirklich mit Dazja zusammentat, würde er ohne ihre Erlaubnis nicht mal seine eigenen Gedanken denken können. Sie war wirklich die herrischste Person, die je gelebt hatte. Chveja hingegen war bloß stur. Das war etwas anderes. Sie wollte die Dinge auf ihre Weise erledigen, aber sie bestand wenigstens nicht darauf, daß die anderen sie ebenfalls auf ihre Weise erledigen mußten. Vielleicht konnten sie heiraten und in getrennten Häusern wohnen und sich abwechselnd um die Kinder kümmern. Das würde funktionieren.
Nafai zeigte den anderen Kindern nun, wo sie schlafen würden — im Zimmer der Mädchen und in dem der Jungen. Ojkib, der über die Ehe nachgedacht hatte, war in der Bibliothek geblieben und stellte nun fest, daß er mit Luet allein war.
»Du hattest gerade eine Menge zu sagen«, wandte sie sich an ihn. »Normalerweise tust du das nicht.«
»Ihr beide hättet es nicht gesagt«, erwiderte er.
»Nein, wohl kaum«, bestätigte sie. »Und vielleicht hatten wir einen guten Grund dafür. Meinst du nicht auch?«
»Nein, ihr hattet keinen guten Grund«, sagte Ojkib. Er wußte, es war unerhört von ihm, so etwas zu einem Erwachsenen zu sagen, aber das war ihm jetzt egal. Schließlich war er Nafais Bruder und nicht sein Sohn.
»Bist du dir dessen so sicher?« O ja, sie war unglaublich wütend.
»Ihr habt uns nicht den wirklichen Grund für alles gesagt, weil ihr dachtet, wir würden ihn nicht verstehen. Aber wir haben ihn verstanden. Wir alle. Und als wir dann eine Entscheidung getroffen haben, wußten wir, wofür wir uns entschieden.«
»Du glaubst vielleicht, du verstehst es, aber das stimmt nicht«, sagte Luet. »Es ist viel komplizierter, als du ahnst, und …«
Jetzt wurde Ojkib wirklich wütend. Er hatte ihre Streitgespräche mit der Überseele gehört — all die Nuancen und möglichen Probleme, um die sie sich Sorgen gemacht hatten —, und obwohl er nicht sagen konnte, wieso er das alles wußte, würde er jetzt auf keinen Fall so tun, als könne er es nicht verstehen. »Bist du jemals auf den Gedanken gekommen, Lutja, daß es vielleicht auch viel komplizierter ist, als ihr glaubt?«
Vielleicht lag es daran, daß er sie — eine Erwachsene! — mit ihrem Schnellnamen anredete, oder vielleicht auch, weil sie die Wahrheit dessen erkannt hatte, was er vorgebracht hatte; jedenfalls schwieg sie und schaute ihn an.
»Ihr versteht nicht alles«, sagte Ojkib, »aber ihr trefft trotzdem Entscheidungen. Na ja, wir verstehen auch nicht alles. Aber wir haben eine Entscheidung getroffen, nicht wahr? Und zwar die richtige, oder?«
»Ja«, sagte sie leise.
»Vielleicht sind Kinder nicht so dumm, wie ihr glaubt«, fügte Ojkib hinzu. Das hatte er schon seit langem mal zu einem Erwachsenen sagen wollen, und jetzt schien die richtige Gelegenheit dazu gekommen zu sein.
»Ich glaube gar nicht, daß ihr dumm seid, weder du noch ein anderes …«
Doch bevor sie den Satz beenden konnte, war Ojkib schon zur Tür hinaus und sprang auf der Suche nach den anderen den Korridor entlang. Wenn er nicht dabei war und sie sich die Betten aussuchten, würde er das schlechteste bekommen.
Es sollte sich herausstellen, daß er trotzdem das schlechteste Bett bekam, die untere Koje direkt neben der Tür, wo jeder, der den Gang entlangkam, ihn sofort sah, so daß ihm gar nichts durchgehen würde. Er hatte sich das beste Bett ausgesucht, und da er der erste Junge war, hatte keiner der anderen mit ihm gestritten. Aber dann sah er, wie traurig Motja war, das schlechteste Bett bekommen zu haben — besonders, als Yaja und Zhjat ihn deshalb aufzogen. Also hatte er jetzt das schlechteste Bett, und er wußte, später würde niemand mit ihm tauschen wollen. Zehn Jahre, dachte er. Ich werde zehn lausige Jahre in diesem Bett schlafen müssen.
Emeez’ Mutter führte sie zu der heiligen Höhle, als sie sechs Jahre alt war. Es war ein wunderbarer Ort, denn er lag unter der Erde und war trotzdem nicht vom Volk geschlagen worden. Statt dessen wuchs er auf diese Art und Weise, ein Geschenk der Götter; sie hatten die Höhle geschaffen, und deshalb wurden die Götter hierher gebracht, um angebetet zu werden.
Die Höhle war seltsam, ganz rauh und naß statt trocken und mit glatten Wänden wie die Höhlen der Stadt. Kalkwasser tropfte überall. Mutter erklärte Emeez, daß das Wasser mit jedem Tropfen eine winzige Menge Kalk zurückließ, der mit der Zeit dann die gewaltigen Säulen bildete. Aber wie war das möglich? Trugen die Säulen nicht das Dach der Höhle? Was hatte das Dach zu Anfang getragen, wenn die Säulen erst entstanden waren, nachdem das Wasser jahrelang getropft hatte? Aber Mutter erklärte, daß diese Höhle aus Stein bestand. »Die Götter brechen Löcher in den Berg, so, wie wir Steinschichten für unsere Klingen abschlagen«, sagte Mutter. »Sie können ein so breites Steindach in die Höhe halten, daß du selbst mit der hellsten Fackel nicht die andere Seite sehen kannst. Und kein Wind ist so stark, daß er das Dach vom Bau der Götter abreißen könnte.«
Deshalb sind sie wohl auch Götter, dachte Emeez. Sie hatte gesehen, was der Sturm mit dem bergauf gelegenen Ende der Stadt angestellt hatte; er hatte drei Dachbäume abgerissen, so daß Regen und Sonnenlicht dort hineinfielen, wo früher Kinderzimmer und Versammlungsräume gewesen waren. Es hatte Tage gedauert, die Tunnels zu versiegeln und anderswo neue Bauten zu schaffen, um den verlorenen Raum zu ersetzen, und während dieser Zeit hatten zwei Kusinen und drei Nichten bei ihnen gewohnt. Mutter war fast verrückt geworden, und Emeez war es kaum anders ergangen. Sie waren zurückgezogene, ruhige Leute und kamen mit Gschaftlhubern, die sich ständig in ihre Angelegenheiten einmischten, nicht sehr gut zurecht. Oh, was ist das, wollen wir mit so jungen Jahren schon zu weben lernen? Oh, ich wette, du hast dein Herz schon einem jungen Burschen geschenkt, der gerade auf seiner ersten Jagd ist, du hübsches kleines Ding, du.
So eine Verlogenheit. Denn Emeez war kein hübsches kleines Ding. Sie war nicht hübsch. Sie war nicht klein. Und sie war auch kein Ding, obwohl die Leute sie oft so behandelten. Zum einen war sie zu haarig. Männer mochten Frauen mit sehr flaumigem Haar, nicht mit dunklem und grobem, wie sie es hatte. Und ihre Stimme war auch nicht liebreizend. Emeez versuchte, wie Mutter zu klingen, doch sie besaß einfach nicht deren Wohlklang in der Stimme. Als Kusine Issess — hatte es je einen unpassenderen Namen für jemanden gegeben!? — einmal nicht mitbekommen hatte, daß Emeez in der Nähe war, hatte sie zu ihrer dummen Tochter Aamuv gesagt: »Die arme Emeez. Weißt du, sie ist zurückgeblieben. Sie ist genauso haarig wie die auf dem Osthang des Berges. Hoffentlich hat sie keine ihrer anderen Charakterzüge!« Es hieß natürlich, daß die haarigen Osthangier die Herzen und Lebern ihrer Feinde aßen, und einige behaupteten sogar, daß sie ihre Feinde einfach aufspießten und vollständig brieten. Ungeheuer. Und das dachten die Leute auch von Emeez, weil sie so haarig war.
Tja, sie konnte nichts daran ändern, was auf ihrem Körper wuchs. Zumindest war es keine schreckliche Pilzinfektion wie die, die den armen Bomossoss so fürchterlich stinken ließ. Er war ein mächtiger Krieger, aber wegen des Körpergeruchs konnte es niemand so richtig genießen, wenn er in der Nähe war. Sehr traurig, dachte Emeez. Die Götter machen mit uns, was sie wollen. Wenigstens stinke ich nicht.
Hier fand keinerlei Verehrung statt — natürlich nicht, da die Anbetung eine Sache der Männer und nicht der Frauen war, und ganz bestimmt nicht für kleine Mädchen. Doch Emeez hatte gehört, daß die Männer die Götter verehrten, indem sie sie leckten, bis sie ganz naß und weich waren, und sie dann über ihre Körper rieben. Sie hatte es nicht geglaubt, bis sie in die erste der Gebetskammern kam.
Einige der Götter waren sehr kompliziert geformt und hatten betörend schöne Gesichter. Es gab Abbildung von wilden Kriegern und von den schrecklichen Himmelsfleisch-Ungeheuern, von Ziegen und Hirschen, von zusammengerollten Schlangen und Libellen, die auf Schilfrohr kauerten. Doch als Mutter auf die allerheiligsten Götter zeigte — auf jene, die am meisten verehrt wurden —, waren diese zu Emeez’ Überraschung gar nicht besonders kunstfertig geformt. Die heiligsten von ihnen waren nur glatte Tonklumpen.
»Warum sind die wunderschönen Götter nicht so heilig wie die, die nach gar nichts aussehen?«
»Ach«, sagte Mutter, »du mußt wissen, sie waren einmal die schönsten von allen. Aber sie wurden am inbrünstigsten verehrt, und sie haben uns gute Kinder und gute Jagden gegeben. Und so wurden sie natürlich sehr glatt geleckt. Aber wir erinnern uns, wie sie ausgesehen haben.«
Die glatten Klumpen störten Emeez. »Könnte man ihnen nicht neue Gesichter schnitzen?«
»Mach dich nicht lächerlich. Das wäre Blasphemie.« Mutter schaute verärgert drein. »Ehrlich, Emeez, ich verstehe nicht, was dir für Gedanken kommen. Niemand schnitzt die Götter. Sie hätten keine Macht, würden die Männer und Frauen sie einfach nur aus Ton erschaffen.«
»Aber wer stellt sie dann her?«
»Wir bringen sie nach Hause«, sagte Mutter. »Wir finden sie und bringen sie nach Hause.«
»Aber wer macht sie?«
»Sie machen sich selbst«, sagte Mutter. »Sie steigen allein aus dem Ton des Flußufers empor.«
»Darf ich das mal beobachten?«
»Nein«, sagte Mutter.
»Ich möchte sehen, wie ein Gott erscheint.«
Mutter seufzte. »Na ja, du bist wohl alt genug. Wenn du versprichst, daß du es den jüngeren Kindern nicht erzählst.«
»Ich verspreche es.«
»Es gibt eine bestimmte Jahreszeit. Die Trockenphase. Das Himmelsfleisch steigt hinab und formt den Schlamm am Flußufer.«
»Das Himmelsfleisch?« Emeez war entsetzt. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist ja widerlich.«
»Natürlich wäre es widerlich«, sagte Mutter, »wenn das Himmelsfleisch wirklich wüßte, was es tut. Aber das weiß es nicht. Die Götter erwachen in den Klumpen, und sie formen den Ton zu fantastischen, komplizierten Mustern, ohne darüber nachzudenken. Wenn sie damit fertig sind, gehen sie einfach fort. Lassen sie zurück. Für uns.«
Das Himmelsfleisch. Diese abscheulichen Flugdinger, die manchmal Jäger fingen und töteten. Ihre Jungen wurden nach Hause gebracht und gebraten und an Schwangere verfüttert. Sie waren gefährlich, geistlose Tiere, verräterisch und verstohlen, und sie schufen die Götter?
»Ich fühle mich nicht gut, Mutter«, sagte Emeez.
»Nun, dann bleib ein paar Minuten hier sitzen und ruhe dich aus«, sagte Mutter. »Ich soll zur Priesterin kommen, die drei Räume über uns sitzt — in diese Richtung — und darf mich nicht verspäten. Aber du wirst mir folgen und mich suchen, ja? Du wirst nicht vom Hauptpfad abkommen und dich verirren, oder?«
»Ich glaube nicht, daß ich plötzlich dumm geworden bin, Mutter.«
»Aber du bist plötzlich unhöflich geworden. Das gefällt mir nicht an dir, Emeez.«
Na ja, niemandem gefällt irgend etwas an mir, dachte sie. Aber das heißt ja nicht, daß ich einer Meinung mit ihnen sein muß. Ich glaube, ich bin eine ausgezeichnete Gesellschaft. Ich bin viel klüger als alle meine Freundinnen, und daher ist alles, was ich zu mir selbst sage, interessant und aufregend und ist nie zuvor gesagt worden. Im Gegensatz zu jenen, die immer und immer wieder, endlos, dieselben Happen »Weisheit« vorbringen, die sie von ihren Müttern aufgeschnappt haben. Und ich bin bestimmt eine bessere Gesellschaft als die Jungen, die immer mit Gegenständen werfen und sie kaputtmachen und durchschneiden. Es ist viel besser, zu gestalten, wie die Frauen es tun, und Dinge zu sammeln, statt sie zu töten, und Blätter und Früchte und Fleisch und Wurzeln so zusammenzustellen, daß sie schmecken. Ich werde eine gute Frau sein, ob ich nun haarig bin oder nicht, und der Mann, der mich irgendwann bekommt, wird großes Aufheben darum machen, wie enttäuscht er ist. Aber insgeheim wird er froh sein, und ich werde ihm einen ganzen Stall kluger haariger Babys machen, und sie werden genauso häßlich und genauso klug und gerissen sein, wie ich es bin, bis sie eines Tages aufwachen und begreifen werden, daß die Haarigen die besten Frauen und Mütter sind und die Haarlosen ständig nur schleimig und kalt sind, wie geschälte Melonen.
Emeez war wütend geworden. Sie stand auf und schaute sich die Götter genauer an. Sie kam nicht dagegen an — die übermäßig verehrten Götter waren einfach nicht interessant. Die makellosen, komplizierten hingegen faszinierten sie. Vielleicht war das ihr ganzes Problem — sie wurde von den Göttern mit schlechtem Ruf angezogen, und deshalb war sie mit Häßlichkeit geschlagen, weil die wirklich einflußreichen Götter wußten, daß sie Emeez nicht gefallen würden. Aber war es nicht schrecklich, sie von Geburt an für eine Sünde zu bestrafen, die sie erst mit sechs Jahren begehen würde — nur zwei Jahre, bevor sie zu einer Frau wurde?
Na ja, da ich schon bestraft worden bin, sagte sich Emeez, werde ich mir keinen Zwang antun und mir die Strafe auch verdienen. Ich werde den schönsten, den am wenigsten verehrten Gott von allen suchen und zu meinem Liebsten machen.
Also begann sie fleißig nach einem zu suchen, der in perfektem Zustand war. Doch natürlich waren alle Götter zumindest ein bißchen verehrt worden. Emeez fand zwar einige, die teilweise noch wunderbare Einzelheiten zeigten, aber keiner von ihnen war völlig unbeschädigt.
Bis sie den erstaunlichsten Gott von allen fand, in der hintersten Ecke eines kleinen Nebenraums. Er sah gar nicht aus wie die anderen. Eigentlich sah er nicht mal wie ein Tier aus. So etwas hatte Emeez noch nie gesehen. Seine Form war absolut makellos. Sie war nirgendwo geglättet worden — und das bedeutete, daß er niemals von jemandem verehrt worden war.
Na ja, sagte Emeez zu dem häßlichen Gott. Ich werde dich jetzt verehren. Und ich werde dich auf die beste Art und Weise verehren, nicht wie die anderen. Ich werde dich nicht ablecken oder reiben, oder welche Abscheulichkeit man mit den anderen schlammigen Göttern auch immer anstellt. Ich werde dich verehren, indem ich dich ansehe und sage, daß du wunderschön geformt bist.
Natürlich handelte es sich um eine wunderschöne Statue eines erstaunlich häßlichen Geschöpfs. Oder besser gesagt, nur um den Kopf des Geschöpfs. Es hatte einen Mund wie ein Mensch und zwei Augen wie ein Mensch, aber die Nase zeigte nach unten, und sein Kiefer war erstaunlich spitz, und am unteren Ende des Kopfes wurde er immer schmaler, bis der Hals dann viel, viel dünner als der Kopf war. Wie konnte es einen so gewaltigen Kopf auf einem so dünnen Hals aufrecht halten? Und warum hatte ein dummes Stück Himmelsfleisch auch nur daran gedacht, etwas zu schaffen, das nie jemand gesehen hatte?
Als Emeez genauer darüber nachdachte, war die Antwort auf die letzte Frage natürlich offensichtlich. Das Himmelsfleisch hatte diesen Kopf geformt, weil der Gott so aussah.
Nein. Welcher Gott wollte schon so aussehen?
Außer — und das war ein erstaunlicher Gedanke — außer, die Götter konnten nichts daran ändern, wie sie aussahen. Außer, dieser Gott war wie sie und wuchs als häßliches Wesen auf. Dennoch war er nicht der Ansicht, er habe nicht das Recht, zu einer Statue gemacht und verehrt zu werden. Deshalb hatte dieser Gott ein Himmelsfleisch dazu gebracht, seinen Kopf zu schnitzen. Doch als der dann hier herunter geschafft worden war, hatte keine Seele ihn je verehrt, und er war in einer dunklen Ecke gelandet. Aber jetzt habe ich dich gefunden, dachte Emeez, und ich mag zwar häßlich sein, aber ich bin die einzige Verehrerin, die du je gehabt hast. Also sag mir jetzt ja nicht, du weist mich zurück!
›Ich akzeptiere dich.‹
Sie hörte es so klar und deutlich, als hätte jemand hinter ihr gesprochen. Sie drehte sich um und sah nach, doch es war niemand in diesem dunklen Raum, niemand außer ihr.
»Hast du mit mir gesprochen?« flüsterte sie.
Es erfolgte keine Antwort. Doch als Emeez die häßliche, wunderschöne Statue betrachtete, erkannte sie plötzlich etwas. Etwas so wichtiges, daß sie es sofort Mutter sagen mußte. Emeez lief aus dem Raum und den Hauptpfad hinauf, bis sie das Zimmer erreichte, in dem sich ihre Mutter und die Priesterin angeregt unterhielten. »Wie ich sehe, fühlst du dich besser, Emeez«, sagte Mutter und tätschelte ihren Kopf.
»Mutter, ich muß dir sagen …«
»Später«, unterbrach Mutter sie. »Wir haben gerade etwas Wunderbares beschlossen, das dich betrifft …«
»Mutter, ich muß es dir jetzt sagen.«
Mutter schaute peinlich berührt und verärgert drein. »Emeez, soll Vleezheesumuunuun etwa glauben, daß ich dich nicht gut erzogen habe?«
Am Namen der Priesterin erkannte Emeez, daß sie eine sehr wichtige und vornehme Person sein mußte, und plötzlich war sie schüchtern. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Ach, das ist schon in Ordnung«, sagte die alte Priesterin. »Es heißt, daß die Haarigen noch die Stimme der Götter hören können.«
Na toll, dachte Emeez. Erzählt mir jetzt ja nicht, daß ich vielleicht als Priesterin enden muß, nur weil ich häßlich bin.
»Was wolltest du uns sagen, Kind?« fragte die Priesterin.
»Ich habe nur … ich habe einen wunderschönen Gott angesehen, nur daß er in Wahrheit häßlich war … und plötzlich wußte ich etwas. Das ist alles.«
Die Priesterin ging auf alle viere hinab. Augenblicklich tat Mutter es ihr gleich, und Emeez war immerhin so gut erzogen, daß sie wußte, auch sie mußte diese Haltung einnehmen. Es war jedoch aufheiternd, denn es bedeutete, daß die Priesterin sie ernst nahm. »Was hast du plötzlich gewußt?« fragte Vleezheesumuunuun.
»Nun, wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich nicht mal, was es zu bedeuten hat.«
»Sag es uns trotzdem«, sagte Mutter, und die Priesterin blinzelte langsam ein Ja.
»Diejenigen, die verloren sind, kehren nach Hause zurück.«
Mutter und die Priesterin sahen sie verdutzt an. Schließlich ergriff Mutter das Wort. »Das ist alles?«
»Das ist genug«, flüsterte die Priesterin. »Sag es niemandem.« Sie hatte ihre Augen geschlossen.
»Dann weißt du, was es bedeutet?« fragte Mutter.
»Nein«, sagte die Priesterin. »Nicht, was es bedeutet. Aber erinnerst du dich nicht an das Lied der Schöpfung, in dem die große Prophetin Zz sagte: ›Es wird kein Fleisch mehr am Himmel geben an dem Tag, da die Verlorenen gefunden werden, und keine Götter mehr vom Fluß, wenn die Wanderer nach Hause kommen!‹?«
»Nein, daran erinnere ich mich nicht«, sagte Mutter, »und wenn du genau darauf achtest, hat Zz nichts davon gesagt, daß Verlorene nach Hause kommen. Sie hat gesagt, daß die Verlorenen gefunden werden und die Wanderer nach Hause kommen. Deshalb bin ich nicht der Ansicht, daß du diese Sache so ernst nehmen und meine arme Tochter zu Tode erschrecken mußt.«
Aber offensichtlich war es Mutter, die fürchterliche Angst hatte. Emeez jedenfalls hatte keine Furcht. Sie war freudig erregt. Der Gott hatte ihr gesagt, daß er ihre Verehrung akzeptierte und ihr dann ein Geschenk gemacht, diesen Fetzen Wissen, der ihr selbst zwar nichts bedeutete, der Priesterin anscheinend aber sehr viel — und auch Mutter, obwohl sie das Gegenteil behauptete.
»Das ändert alles«, sagte die Priesterin.
»Das hatte ich befürchtet«, murmelte Mutter.
»Ach, mach dich doch nicht lächerlich«, sagte die Priesterin. »Ich werde trotzdem einen Gatten für deine Tochter finden.«
Einen Gatten finden! Was für eine schreckliche Schande! Eine arrangierte Ehe! Mutter war so sicher, daß kein Mann Emeez je haben wollte, daß sie zu der Priesterin gegangen war, um eine Opferehe zu arrangieren? Ein Mann sollte gezwungen werden, sie zur Frau zu nehmen, um für irgendein Vergehen zu büßen? Emeez hatte das bereits zweimal miterlebt, und beide Male hatte die Frau, die auf diese Weise feilgeboten wurde, ebenfalls ein Vergehen begangen — und es war ihre Buße gewesen, einem Mann aufgedrückt zu werden wie ein häßliches Heilkraut auf eine Wunde.
»Was für ein Verbrechen habe ich begangen?« flüsterte Emeez.
»Sei nicht so gereizt«, sagte die Priesterin. »Wie ich schon sagte, das ändert alles.«
»Inwiefern?« fragte Mutter.
»Drücken wir es einfach so aus … Wenn ein Mädchen verkündet, daß die Worte von Zz erfüllt werden, wird dieses Mädchen keinem gewöhnlichen Sünder oder einem moralischen Kretin zur Frau gegeben.«
O Freude aller Freuden, dachte Emeez verbittert. Ich nehme an, das bedeutet, daß ich einem wahrhaft außergewöhnlichen Schurken zur Frau gegeben werde.
»Sie ist sechs?« fragte die Priesterin. »In zwei Jahren wird sie eine Frau sein?«
»Soweit man so etwas vermuten kann«, sagte Mutter. »Es ist natürlich die Entscheidung der Götter.«
Die Priesterin streichelte Emeez’ Fell. Wie stets versteifte Emeez sich unter der Berührung. Die Leute berührten auch immer die gekrümmten Glieder oder Stümpfe von Krüppeln, und das konnte sie einfach nicht ausstehen, auch wenn es ihnen Glück bringen sollte. Aber dann wurde ihr klar, daß die Priesterin keineswegs diese zögernde kleine Glücksberührung vollzog. Sie streichelte Emeez’ Fell anscheinend mit echter Zuneigung, und es fühlte sich gut an. »Ich weiß nicht, ob es richtig gewesen ist«, sagte die Priesterin, »dieses weiche, flaumige Nichthaar schön zu nennen. Ich glaube, mit dem Haar unserer Frauen haben wir vielleicht noch etwas verloren. Die Nähe zu den Göttern.«
Mutter war zu höflich, um zu widersprechen, doch allein ihr Schweigen machte offensichtlich, daß sie nicht dieser Ansicht war.
Die Priesterin sprach noch immer. »Muf, der Sohn der Kriegskönigs, wird etwa zu gleichen Zeit wie unsere Emeez hier ins richtige Alter kommen.«
Nach einer kurzen Pause lachte Mutter auf. »Es kann doch nicht dein Ernst sein, daß du …«
»Ein Mädchen, das nach all diesen Jahrhunderten das Echo von Zz hört …«
Mutter protestierte noch immer. »Aber Muf wird nicht glücklich sein, so ein …«
»Muf will Kriegskönig werden. Er wird heiraten, wie die Götter es befehlen. Und was mich betrifft, so haben die Götter heute hier entschieden.«
Aber es waren doch gar nicht die Götter, dachte Emeez. Eigentlich habe ich doch ihn gewählt.
»Es ist zuviel für sie«, sagte Mutter. »Sie hat eine solche Ehre nicht erwartet.«
»Die Mädchen, die sie erwarten«, sagte die Priesterin, »sollten sie niemals bekommen.«
Endlich konnte Mutter es glauben — oder vielleicht war ihr auch endlich klar geworden, daß schon ihre bloße Ungläubigkeit Emeez verriet, was sie von ihr hielt. Aus welchem Grund auch immer — schließlich quiekste Mutter erfreut auf und umarmte Emeez.
Bevor sie gingen, mußte Emeez der Priesterin zeigen, welchen Gott sie betrachtet hatte. Sie wußte es jedoch, sobald Emeez sie in den kleinen Nebenraum geführt hatte. »Der große häßliche, nicht wahr? Niemand hat ihn je berührt.«
»Aber er ist wunderschön gearbeitet«, sagte Emeez.
»Ja, das stimmt«, sagte die Priesterin. »Keine großen Hände wie die unsrigen könnten je eine so komplizierte Perfektion schaffen. Deshalb benutzen die Götter das Himmelsfleisch, damit sie ihnen körperliche Gestalt geben. Aber dieser hier — ich habe mich stets gefragt, was er tun kann, da niemand ihm je Gelegenheit gab, ein Kind zu machen oder den Regen zu bringen oder etwas in dieser Art. Er muß auf dich gewartet haben, Kind.« Erneut streichelte die alte Priesterin Emeez’ Haar.
Ich werde die Frau des neuen Kriegskönigs sein, falls er sich als würdig erweist, seinem Vater zu folgen. Ich werde ihm auf jede erdenkliche Weise helfen, sich als würdig zu erweisen. Und ich werde ein wunderschönes Zimmer für ihn einrichten, mit Teppichen und Wandbehängen, Körben und Umhängen, die schöner sind, als man sie je gesehen hat. Und wenn die Leute ihn sehen, werden sie nicht denken: Seht euch diesen armen Mann an, der eine so haarige Frau hat. Statt dessen werden sie sagen: Die Frau des Kriegskönigs mag zwar haarig sein, aber sie hat unseren König mit Schönheit umgeben.
Ich werde dir dieses Geschenk nie vergessen, sagte Emeez stumm zu dem wunderschönen häßlichen Gott.
»Wirst du diesen Gott jetzt ins Freie stellen?« fragte Mutter.
»Nein«, sagte die Priesterin. »Und ihr dürft niemandem sagen, welcher Gott es war, der dem Mädchen diese Worte in den Mund gelegt hat. Dieser Gott ist nie berührt worden. So soll es auch bleiben.«
»Ich habe nie gehört, daß man einen mächtigen Gott so behandelt«, protestierte Mutter.
»Und ich habe nie gehört, daß ein unberührter Gott überhaupt Macht hat«, sagte die Priesterin. »Also haben wir hier keine Präzedenzfälle. Deshalb … werden wir tun, was auch immer funktioniert. Und es scheint ganz wirksam zu sein, diesen Gott nicht zu berühren. Das genügt mir.«
Und mir auch, sagte Emeez stumm. Dann wiederholte sie laut die ersten und klarsten Worte, die der Gott gesprochen hatte. »Ich akzeptiere dich.«
»Spare dir diese Worte für deinen Gatten auf«, sagte Mutter. »Jetzt gehen wir lieber nach Hause, solange noch Zeit ist, ein gutes Abendessen zu bereiten.«
Auf dem gesamten Nachhauseweg wiederholte Mutter immer wieder, daß Emeez diese Dinge für sich behalten mußte und vor niemandem damit prahlen durfte, bis die alte Vleezh eine öffentliche Erklärung abgegeben hatte. Denn bis dahin konnte sie es sich ja jederzeit noch anders überlegen. »Oder sie stirbt vielleicht. Sie ist alt. Und du glaubst doch wohl nicht, daß irgendeine andere Priesterin auch nur im geringsten beeindruckt sein würde, wenn ich dich zu ihr brächte und sagte: Aber Vleezh hat gesagt, daß sie meine Emeez mit Muf zusammentun wird, dem Sohn des Kriegskönigs.«
Nein, natürlich glaube ich das nicht, Mutter. Wer würde es schon glauben?
Doch in ihrem Hinterstübchen nagte weiterhin eine Frage an ihr, die sowohl Mutter als auch die Priesterin übersehen zu haben schienen. Was hatte es zu bedeuten, daß die Verlorenen nach Hause kamen? Wer kam? Und wieso waren sie verloren? Hatten sie sich verirrt? Und warum hatte ausgerechnet dieser seltsame häßliche Gott ihnen diese Nachricht mitgeteilt, von all den tausenden Göttern in der heiligen Höhle?
Ich werde aufpassen und warten, dachte Emeez. Ich glaube, der Gott wollte mit diesen Worten mehr erreichen, als mich mit einem höherstehenden Gatten zu verheiraten — mehr, als ich je erwarten konnte. Also werde ich herauszufinden versuchen, was die Mitteilung des Gottes in Wirklichkeit bedeutet. Und falls ich es herausfinde, werde ich es verkünden, das oder alles andere, was der Gott mich verkünden lassen will. Wenn es geschieht, wird mir klar sein, was ich zu tun habe.
Emeez fragte sich nicht, woher sie das alles wußte. Statt dessen überlegte sie, welches Wort sie ihrem Namen hinzufügen sollte, denn die Frau des Sohns des Kriegskönigs durfte nicht nur mit ihrem Entwöhnnamen genannt werden. Emeezuuzh? Uuzh war die Endung, die Mutter an ihrem Tag des Ruhms angenommen hatte, als ihr Korb für das Begräbnis des alten Blutkönigs ausgewählt worden war. Aber es war ein sanfter Name, ein zarter Name, wenn eine Frau ihn wählte. Emeez wollte einen stärkeren Namen haben. Sie würde darüber nachdenken müssen. Ihr blieb noch viel Zeit, bis sie sich entscheiden mußte.
Zdorab war in der falschen Epoche geboren worden. Bis jetzt hatte er das nicht begriffen. Oh, er wußte durchaus, daß er nicht dorthin paßte, wo er aufgewachsen war oder in Basilika gewohnt hatte, bevor Nafai ihm die Gelegenheit gab, sein Leben zu retten, indem er ihn in die Wüste begleitete. Doch nun, am Ende seiner zweiten Schicht als Lehrer der Kinder an Bord des Raumschiffs Basilika — gemeinsam mit Nafai —, wußte Zdorab, wohin er in Wirklichkeit gehörte. Das Problem war nur, daß die Kultur, die vielleicht Wert auf ihn gelegt hätte, vor vierzig Millionen Jahren untergegangen war.
Wer auch immer dieses Raumschiff mit seinem vorzüglichen Entwurf und seinen handwerklichen Qualitäten erbaut hatte, war zu bewundern. Doch erst, nachdem Zdorab auch in dem Schiff gelebt hatte, wurde ihm klar, daß er die Lebensweise der Erbauer auch schätzte. Natürlich waren sie auf das Schiffsinnere beschränkt, doch Zdorab hatte auf das Leben unter freiem Himmel noch nie gesteigerten Wert gelegt. Er vermißte keine Insekten. Er vermißte weder übermäßige Hitze oder Kälte noch Feuchtigkeit oder Trockenheit. Er vermißte weder die Ausscheidungen von Tieren noch die Gerüche seltsamer Dinge, die gerade gekocht oder schon längst verfault waren.
Doch nicht nur das Fehlen von Ärgernissen ließ ihn Geschmack am Leben an Bord des Schiffes finden, sondern in erster Hinsicht die positiven Dinge. Jede Nacht ein bequemes Bett. Eine tägliche Dusche mit sauberem Wasser. Ein Leben, das sich auf die Bibliothek konzentrierte, auf das Lernen und Lehren. Computer, auf denen man arbeiten, aber auch spielen konnte. Musik, die perfekt wiedergegeben wurde. Toiletten, die sich selbsttätig säuberten und denen keine üblichen Gerüche anhafteten. Kleidung, die man reinigen konnte, ohne sie waschen zu müssen. Mahlzeiten, die in wenigen Augenblicken zubereitet wurden. Und das alles, während man sich auf einer hundertjährigen Reise mit unvorstellbarer Geschwindigkeit zu einem anderen Stern befand.
Zdorab versuchte, es Nafai zu erklären, doch der junge Mann sah ihn nur verwirrt an und fragte: »Aber was ist mit den Bäumen?« Offensichtlich konnte Nafai es nicht erwarten, den neuen Planeten zu erreichen, bei dem es sich zweifellos um einen weiteren Ort mit jeder Menge Dreck und Käfern und schweißtreibender körperlicher Arbeit handeln würde. Zdorab hatte auf dem Weg durch die Wüste den gehorsamen Diener gespielt; er liebte geradezu die Tatsache, daß es auf diesem Raumschiff keine Diener gab, weil alle Arbeit entweder von Maschinen oder Computern erledigt wurde oder so leicht und einfach war, daß jeder sie tun konnte — und auch tat.
Und er mochte es, die Kinder zu unterrichten. Einige von ihnen waren jetzt, im sechsten Jahr der Reise, kaum noch Kinder. Ojkib zum Beispiel war inzwischen vierzehn und fast zwei Meter groß; er hatte also einen gewaltigen Schuß getan. Er war schlaksig, doch Zdorab hatte ihn bei Körperertüchtigungen in der Zentrifuge beobachtet, und sein Körper war drahtig und besaß harte, feste Muskeln. Aufgrund der Tatsache, daß Zdorab diesen wunderschönen jungen Körper sehen konnte und nur die Erinnerung einer Begierde empfand, wußte er, daß er inzwischen in mittlerem Alter war. Wenn es irgendeine Gnade der Natur gab, dann das Schwinden der männlichen Libido in mittlerem Alter. Einige Männer, die das Nachlassen der Begierde verspürten, unternahmen heldenhafte — oder kriminelle — Taten, um sich die Illusion einer erneuerten sexuellen Vitalität zu verschaffen, doch für Zdorab war es eine Erleichterung. Es war einfacher, von Ojkib und seinem sogar noch schöneren jüngeren Bruder Yasai als Schüler zu denken. Als Freunde seines Sohnes Padarok. Als mögliche Gefährten seiner Tochter Dabrota.
Mein Sohn, dachte er. Meine Tochter. Großer Gott. Wer hätte während seiner Jahre der verstohlenen Liebschaften in der Männerstadt vor den Toren Basilikas je gedacht, daß ich einmal einen Sohn und eine Tochter haben werde? Und würde irgendein Mann ohne meine Zustimmung an einen von beiden Hand legen, würde ich ihn umbringen.
Und dann dachte er: Ich bin also doch ein Dschungelgeschöpf.
Er würde sich heute wieder schlafen legen, und Schedemei würde aufwachen, um seine Stelle einzunehmen. Sie würden ein paar Stunden gleichzeitig wach sein; die Überseele hatte gesagt, sie hätten dafür genug Lebenserhaltung. Zdorab freute sich darauf, Schedemei zu sehen. Sie war seine beste Freundin, die einzige Person, die seine Geheimnisse, seine inneren Kämpfe kannte. Er konnte ihr fast alles sagen.
Aber er konnte ihr nichts von dem kleinen Programm erzählen, das er in einem Lebenserhaltungscomputer eingespeist hatte, in einen von jenen, die nicht direkt Teil des Gedächtnisses der Überseele waren. Kurz bevor er den Weckruf zur Mitte der Reise programmiert hatte — den offensichtlichen, den die Überseele sofort entdeckte —, hatte Zdorab ein Programm geschrieben, bei dem es sich angeblich um ein harmloses Inventar ihrer Vorräte handelte. Das Programm überprüfte aber auch, ob bereits sechseinhalb Jahre der Reise verstrichen waren, und sobald sie verstrichen waren, würde es eine neue Version des Weckrufs in den Computer schicken, der den Kalender verwaltete. Diese neue Version würde Elemak, Zdorab und Schedemei genau dreißig Sekunden später wecken. Dann, nach einer weiteren Sekunde, würde das ursprüngliche Kalenderprogramm wiederhergestellt werden, und das Inventarprogramm würde sich selbsttätig neu schreiben und das zusätzliche Unterprogramm löschen. Es war alles sehr geschickt gemacht, und Zdorab war stolz auf die Cleverness des Programms.
Er wußte auch, daß es für den Frieden ihrer Gemeinschaft möglicherweise tödlich war, und nun, da er an Nafais kleinem Plan mitwirkte, hatte er die Absicht, in den Lebenserhaltungscomputer einzudringen und das Programm zu löschen, bevor es aktiv werden konnte. Das Problem bestand lediglich darin, daß es nun, da sie unterwegs waren, nicht leicht war, sich Zugang zu diesem Computer zu verschaffen. Er hatte Pflichten, und wenn diese erledigt waren, trieben sich überall die Kinder herum, die ihn vielleicht fragen würden, was er da machte. Er redete sich ein, daß er auf eine günstige Gelegenheit wartete, die Veränderung vorzunehmen. Aber nun würde er sich in ein paar Stunden wieder schlafen legen, und es hatte sich noch immer keine solche Gelegenheit geboten. Warum nicht?
Weil er Angst hatte, deshalb. Das war der Wurm in seinem Salat. O nein, er hatte längst nicht mehr Angst um sich selbst — das Verlangen nach Selbsterhaltung war für ihn nicht mehr so wichtig wie das Bedürfnis, seine Kinder zu beschützen. Er hatte nicht aufgrund von Träumen bei Nafais Plan mitgewirkt — die waren für Schedemei und andere bestimmt, die die Überseele herangezüchtet hatte, damit sie besonders empfänglich für sie waren. Er hatte deshalb nicht daran mitgewirkt, weil er nicht wollte, daß einige der Kinder einen Vorteil bekamen und seine nicht. Als Issib mit dem Vorschlag kam, die Erwachsenen sollten die Kinder abwechselnd unterrichten, wäre Zdorab nicht einmal im Traum darauf gekommen, nicht daran teilzunehmen.
Doch gleichzeitig fürchtete er sich davor, wie Elemak sich später rächen würde. Wenn er auf der Erde aufwachte und feststellte, von diesen starken jungen Männern umgeben zu sein, die sich alle Nafais Sache verschrieben hatten, würde Elemak solchen Haß empfinden, daß er ihm niemals verzeihen würde. Früher oder später würde es einen Krieg geben, einen blutigen Krieg. Zdorab wollte nicht, daß seine Kinder darunter zu leiden hatten. Er wollte nicht, daß sie daran teilnahmen oder auch nur Partei ergriffen. Welche bessere Möglichkeit gab es, Elemak seine Loyalität zu beweisen, indem er den Weckruf wie geplant einbaute?
Natürlich würden Nafai und die Überseele sofort darauf kommen, wer ihnen dies eingebrockt hatte — auf Harmonie hatte niemand sonst genug Erfahrung im Umgang mit Computern gehabt, und keins der Kinder, die sich diese Fähigkeit auf der Reise angeeignet hatten, hätte Elemak aufgeweckt. Hatte er nicht gehört, wie Izuchaja — die beim Start so jung gewesen war, daß sie sich kaum an Elemak erinnerte — gefragt hatte: »Warum müssen wir Elemak denn überhaupt aufwecken, wenn er so böse ist?« Und Nafai hatte geantwortet: »Weil wir sonst einen Mord begehen würden!« und ihr dann erklärt, daß andere Leute selbst dann, wenn man nicht einer Meinung mit ihnen war, das Recht hatten, ihr Leben zu führen und ihre Entscheidungen zu treffen. Man durfte einen anderen nur töten, wenn dieser andere tatsächlich einen selbst umbringen wollte — oder jemanden, den man beschützen muß.
Jemand, den man beschützen muß. Ich muß meine Kinder beschützen. Das ist die kalte, nackte Wahrheit, Nafai: Meine Kinder sind keine Blutsverwandten von dir. Selbst wenn wir uns auf deine Seite schlagen, kann ich deshalb keinen Augenblick lang glauben, daß du sie genauso sorgsam und treu schützen wirst wie deine eigenen Kinder, oder die jungen Kinder deiner Eltern, oder die Kinder deines Bruders Issib. Ich muß einen Weg finden, sie selbst zu schützen, dafür zu sorgen, daß Elemak sie nicht so hassen wird, wie er dich und deine Kinder hassen wird — auch wenn ich ihnen geholfen habe, ihren Vorteil aus deinem Plan zu ziehen und älter und stärker als Elemaks Kinder zu werden. Das tut ein Vater nun mal. Auch wenn seine Frau es nicht billigen würde.
Zdorab wußte, daß Schedemei andere Vorstellungen von Loyalität hatte. Sie vertrat die Auffassung: alles oder nichts. Das rührte hauptsächlich daher, weil sie nicht die alptraumhafte Welt des verflochtenen Verrats kannte, in der Zdorab so viele Jahre lang gelebt hatte. Gaballufix’ ständige Ränke, bei denen das Vertrauen anderer Leute als Waffe betrachtet wurde, die man gegen sie richten konnte; die übliche Gewalt und Korruption des Lebens im Männerdorf, in das der verbessernde Einfluß der Frauen nicht vordrang; und natürlich die unbarmherzige Täuschung des Lebens eines Mannes, der Männer liebte. Man kann niemandem wirklich vertrauen, Schedemei, sagte er stumm.
Nicht mal der Überseele. Besonders nicht der Überseele.
Zdorab war lediglich durch den Index und später durch die normalen Computer des Raumschiffs mit dem Hauptcomputer in Kontakt getreten. Er hatte keine Träume, und soweit er wußte, gab die Überseele nichts um ihn und hörte auch seine Gedanken nicht. Wie sonst hätte er sein geheimes Weckprogramm installieren können? Die Überseele hatte keine besondere Verwendung für ihn, einmal davon abgesehen, daß er seinen Chromosomensatz zur Verfügung stellen mußte, damit Schedemei sich reproduzieren konnte. Na ja, das war schon in Ordnung — Zdorab hatte auch nicht besonders viel für die Überseele übrig. Er war fest davon überzeugt, daß der Überseele — ganz gleich, was sie beabsichtigte — nicht viel an der Behaglichkeit und dem Glück der Menschen lag, die sie manipulierte. Und da der Überseele nichts an ihm lag, war Zdorab die einzige Person in der ganzen Gruppe, die so etwas wie Zurückgezogenheit kannte.
Gleichzeitig hoffte Zdorab irgendwo in seinem Hinterstübchen, daß die Überseele doch seine Gedanken hörte und von dem Weckruf wußte. Wahrscheinlich hatte sie ihn sogar schon entfernt; Zdorab hatte dies aus denselben Gründen nicht überprüft, aus denen er den Weckruf nicht selbst entfernt hatte. Die Überseele würde nicht zulassen, daß während der Reise etwas Gefährliches geschah. Elemak würde erst auf der Erde wieder aufwachen. Und wenn er dann erwachte, konnte Zdorab wahrheitsgemäß sagen: »Ich habe den Weckruf an Ort und Stelle belassen. Die Überseele muß ihn gefunden haben.«
Er sagte die Worte stumm, bildete sie mit den Lippen, der Zunge und den Zähnen, während er bereits wußte, daß Elemak ihm keinen Glauben schenken würde; oder wenn doch, daß es ihm gleichgültig war.
Sie haben einen Fehler begangen, mich mit ihren Familien an der Reise teilnehmen zu lassen. Sie haben einen Fehler gemacht, mich zu zwingen, mich bei ihren tödlichen häuslichen Streitereien auf eine Seite zu schlagen.
Er stand vor Schedemeis Schlafkammer, als der Deckel zurückglitt und sie die Augen öffnete. Sie lächelte schwach.
»Hallo, du kluge und wunderschöne Dame«, sagte er.
»Es ist der schönste Traum einer jeden Frau, daß man ihr beim Aufwachen schmeichelt«, erwiderte Schedemei. »Leider bin ich noch von den Medikamenten benommen.«
»Welche Medikamente?« Zdorab half ihr, sich aufzusetzen, bevor er die Seite der Kammer aus der Verankerung löste und hinabklappte, damit sie hinauskonnte.
»Du meinst, ich bin von Natur aus geistig so langsam?«
Sie erhob sich und klammerte sich an ihn. Zum einen wollte sie gestützt werden, während sie versuchte, in der niedrigen Schwerkraft wieder allein auf den Beinen zu stehen, zum anderen war es eine Umarmung zwischen Freunden. Er reagierte natürlich und erklärte ihr, welche Fortschritte die Kinder gemacht hatten, seit sie zum letztenmal wach gewesen war. »Das könnte die beste Schule sein, die es jemals gegeben hat«, sagte er.
»Und wie bequem ist es doch, daß die Lehrer zwischen den Semestern schlafen gelegt werden«, erwiderte Schedemei.
Sie verbrachten ihre gemeinsamen Stunden damit, sich über die Kinder zu unterhalten, besonders über ihre eigenen, und über alles zu sprechen, das Schedemei in den Sinn kam. Aber sie sprachen nicht über das Problem, das Zdorab am dringlichsten beschäftigte, und Schedemei bemerkte, daß etwas nicht in Ordnung war.
»Was ist los?« fragte sie. »Du verschweigst mir etwas.«
»Was denn?« antwortete er.
»Irgendwas macht dir Sorgen.«
»Mein Leben ist eine einzige Sorge«, sagte er. »Mir gefällt es nicht, in die Schlafkammer zu klettern.«
Sie lächelte schwach. »Na schön, du mußt es mir nicht sagen.«
»Ich kann dir nicht sagen, was ich selbst nicht weiß«, erwiderte er, und da diese Bemerkung ein Körnchen Wahrheit enthielt — er wußte ja nicht, ob die Überseele sein Programm entfernt hatte oder nicht —, erlaubte Schedemeis Sinn für die Wahrheit ihr, ihm zu glauben, und sie entspannte sich.
Einige Stunden später verabschiedete Zdorab sich von den Kindern mit einem Ritual, an das sie sich mittlerweile gewöhnt hatten, da alle ihre Lehrer auf diese Weise kamen oder gingen. Ein Händedruck oder eine Umarmung, je nachdem, wie alt das betreffende Kind war; ein Kuß für seine eigenen Kinder, ob es ihnen nun gefiel oder nicht; und dann geleiteten Nafai und Schedemei ihn zu seiner Kammer und halfen ihm hinein.
Doch als die Medikamente zu wirken begannen, erfüllte ihn plötzlich Panik. Nein, nein, nein! dachte er. Wie konnte ich nur so dumm sein? Elemak wird nie loyal zu mir stehen, ganz gleich, was ich tue. Ich muß das Programm ändern. Ich muß verhindern, daß er aufwacht und Nafai überrascht. »Nafai«, sagte er. »Überprüfe den Lebenserhaltungscomputer.«
Doch der Deckel der Kammer hatte sich bereits geschlossen, und Zdorab konnte nicht sehen, ob Nafai überhaupt auf seine Lippen schaute. Bevor er auch nur eine Hand bewegen konnte, überwältigte ihn das Medikament, und er schlief.
»Was hat er gesagt?« fragte Nafai Schedemei.
»Ich weiß es nicht. Irgendwas hat ihn gestört, aber er wußte nicht, was es war.«
»Na ja, vielleicht fällt es ihm wieder ein, wenn er aufwacht«, sagte Nafai.
Schedemei seufzte. »Ich verspüre stets dieselbe Beklemmung, als hätte ich vergessen, etwas sehr Wichtiges zu sagen. Aber das ist wahrscheinlich nur eine Nebenwirkung der Tiefschlafdroge.«
Nafai lachte. »Als würde man mitten in der Nacht aufwachen, weil ein Traum einem eine sehr wichtige Idee eingegeben hat. Dann schreibt man sie auf, und am Morgen steht dort: ›Nicht das Essen! Der Hund!‹, und man hat nicht die leiseste Ahnung, was das zu bedeuten hat, oder warum man es für so wichtig hielt.«
»Die echten Träume muß man nicht aufschreiben«, erwiderte Schedemei. »Man erinnert sich auch so daran.«
Beide nickten und dachten daran, wie es war, wenn die Überseele oder der Hüter der Erde im Schlaf zu einem sprach. Dann kehrten sie zu den Kindern zurück und hielten die nächste Unterrichtsstunde.
Chveja führte gemeinsam mit Dza einige der jüngeren Kinder durch ihre Übungen. Sie hatten schon vor einigen Jahren herausgefunden, daß alle Kinder kontrolliert werden mußten, oder sie wurden nachlässig, obwohl Nafai sie immer wieder gewarnt hatte, daß sie die Erde mit so schlaffen und schwachen Körpern erreichen würden, daß sie sich Issibs Stuhl borgen müßten, nur um sich dort zu bewegen, falls sie nicht jeden Tag zwei Stunden hart in der Zentrifuge trainierten. Und so übten die jüngeren Kinder mit den älteren, die sich Zeit nahmen, und die älteren mit den jüngeren, die sie ebenfalls überwachten. Auf diese Weise konnte der eine dem anderen nicht sagen, »was er zu tun hatte«. Das System funktionierte durchaus zufriedenstellend.
Dza war noch immer nicht Chvejas Freundin — sie hatten wirklich nicht allzu viel gemeinsam. Dza gehörte zu den Menschen, die es nicht ertragen konnten, allein zu sein, die sich stets mit dem Tumult von Gesprächen umgeben mußten, mit lautem Klatsch, Gelächter und Gespött. Doch Chveja merkte nun, da Dza sie nicht mehr herumkommandierte, daß die jüngeren Mädchen sie wirklich mochten. Es kam Chveja wie eine körperliche Verbindung zwischen ihnen vor, und sie sah, wie die jüngeren Mädchen strahlten, wenn sie in Dzas Nähe kamen — und wie Dza ebenfalls strahlte. Aber Chveja konnte es nicht genießen, lange mit ihnen zusammen zu sein. Und Neid war nicht der Grund dafür, obwohl sie Dza manchmal ihre Vielzahl von Freundinnen neidete. All dieses ständige Plaudern, die rasch wechselnden Anforderungen an ihre Aufmerksamkeit — das ermüdete Chveja sehr schnell, und sie mußte dann eine Weile allein sein, sich mit Stille und Musik umgeben, eine Stunde lang ein und dasselbe Buch lesen, denselben Gesprächsfaden weiterführen.
Vater hatte mit ihr darüber gesprochen, und auch Mutter, als sie das letzte Mal wach gewesen war. Du verbringst zu viel Zeit allein, Chveja. Die anderen Kinder glauben manchmal, daß du sie nicht magst. Aber ein Buch zu lesen war für Chveja nicht dasselbe wie allein zu sein. Statt dessen führte sie ein Gespräch mit einer Person, ein beidseitiges Gespräch, das beim Thema blieb und nicht ständig andere Richtungen einschlug oder von jemandem unterbrochen wurde, der verlangte, daß sie Klatsch erzählte oder über ihr Problem sprach.
Doch solange Chveja genug Zeit für sich allein hatte, kam sie mit den anderen gut aus — sogar mit Dza. Nun, da sie über den kindischen Unsinn hinweggekommen war, das »erste Kind« zu sein, war Dza eine gute Gefährtin, intelligent und fröhlich. Man mußte ihr sogar zugute halten, daß sie nicht eifersüchtig gewesen war, als man herausfand, daß von der dritten Generation an lediglich Chveja die Fähigkeit entwickelt hatte, die Beziehungen zwischen Personen wahrzunehmen, obwohl es Dzas und nicht Chvejas Mutter gewesen war, die dies zuerst gelernt hatte. Wenn Tante Huschidh wach war, verbrachte sie mehr Zeit mit Chveja als mit ihren eigenen Töchtern, doch Dza beschwerte sich nicht. Dza hatte Chveja sogar einmal angelächelt und gesagt: »Dein Vater unterrichtet uns die ganze Zeit. Ich werde nicht böse, weil meine Mutter dich jetzt gelegentlich unterrichtet.« Den Unterricht mit Tante Huschidh verglich sie damit, ein Buch zu lesen. Sie war ruhig, sie war geduldig, sie blieb beim Thema. Und sie hatte einem Buch eins voraus: Sie beantwortete Chvejas Fragen. Bei Tante Huschidh wurde Chveja plötzlich gesprächig. Vielleicht lag es daran, daß Tante Huschidh als einzige sah, was auch Chveja sah.
»Aber du siehst mehr«, sagte Tante Huschidh eines Tages. »Du hast auch Träume wie deine Mutter.«
Chveja verdrehte die Augen. »Es gibt auf diesem Raumschiff keinen See der Frauen«, sagte sie. »Es gibt keine Stadt der Frauen, die wegen mir ein riesiges Theater macht und an jedem Wort der Schilderung meiner Visionen hängt.«
»So war es wirklich nicht«, sagte Huschidh.
»Mutter hat es aber gesagt.«
»Nun, so ist es ihr vielleicht vorgekommen. Aber deine Mutter hat die Rolle der Wasserseherin niemals ausgenutzt.«
»Sie war auch nicht so nützlich wie … na ja, wie das, was wir können.«
Huschidh lächelte schwach. »Nützlich. Aber manchmal auch irreführend. Man kann Dinge falsch interpretieren. Wenn man zuviel über die Menschen weiß, heißt das noch lange nicht, daß man genug weiß. Weil man nämlich niemals weiß, warum sie der einen Person nahe stehen und der anderen nicht. Ich stelle Vermutungen an. Manchmal ist das ganz einfach. Manchmal liege ich hoffnungslos falsch.«
»Ich irre mich immer«, sagte Chveja, schämte sich aber nicht, dies vor Tante Huschidh einzugestehen.
»Immer zum Teil falsch«, sagte Huschidh. »Aber oft auch zum Teil richtig, und häufig stellst du wirklich sehr kluge Vermutungen an. Verstehst du, das Problem liegt darin, daß du sehr viel um die anderen Menschen geben mußt. Du mußt wirklich an sie denken, versuchen, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Du mußt versuchen, Zeit mit ihnen zu verbringen. Ihnen zuhören. Sich mit ihnen anzufreunden. Ich sage das nicht, weil ich es getan habe, als ich in deinem Alter war, sondern weil ich es nicht getan habe und jetzt weiß, wie sehr es mich behindert hat.«
»Und was hat das verändert?« fragte Chveja.
»Ich habe einen Mann geheiratet, der mit einem solchen ständigen inneren Schmerz lebte, daß mir meine eigenen Ängste und Scham und Leiden im Vergleich dazu wie kindisches Gejammer vorkamen.«
»Mutter sagt, lange, bevor du Onkel Issib geheiratet hast, bist du einem bösen Mann entgegengetreten und hast die Treue und Ergebenheit seines gesamten Heeres von ihm genommen.«
»Das konnte ich nur, weil es das Heer eines anderen Mannes war. Aber dieser Mann war tot, und deshalb empfanden die Soldaten sowieso keine große Treue für ihren Anführer. Es war nicht schwer, und ich habe es getan, indem ich blindlings um mich schlug und alles gesagt habe, was ihre ohnehin geringe Loyalität noch weiter schwächen konnte.«
»Mutter hat gesagt, du hättest ruhig und meisterhaft ausgesehen.«
»Das entscheidende Wort ist ›ausgesehen‹. Jetzt hör aber auf, Veja. Das weißt du doch alles selbst. Was tust du, wenn du schreckliche Angst hast und verwirrt bist?«
Da kicherte Chveja. »Ich stehe da wie ein erschrockenes Reh.«
»Wie erstarrt, nicht wahr? Aber für die anderen sieht es so aus, als wärest du vollkommen ruhig. Deshalb ziehen dich einige von den anderen manchmal auch so gnadenlos auf. Sie glauben, du bestündest aus Stein, und sie wollen die Oberfläche durchbrechen und menschliche Gefühle berühren. Sie wissen einfach nicht, daß du die größte Angst hast und am zerbrechlichsten bist, wenn du am meisten aus Stein wirkst.«
»Warum wissen sie es nicht? Warum verstehen die Menschen einander nicht besser?«
»Weil sie jung sind«, sagte Huschidh.
»Alte Menschen verstehen sich auch nicht besser.«
»Manche doch«, sagte Huschidh. »Diejenigen, die sich bemühen. Die es wenigstens versuchen.«
»Du meinst dich.«
»Und deine Mutter.«
»Sie versteht mich überhaupt nicht.«
»Das sagst du, weil du eine Heranwachsende bist. Und wenn eine Heranwachsende sagt, daß ihre Mutter sie nicht versteht, bedeutet das, daß ihre Mutter sie nur allzu gut versteht, ihr aber nicht ihren Willen läßt.«
Chveja grinste. »Du bist eine genauso eingebildete, arrogante Erwachsene wie alle anderen.«
Huschidh erwiderte das Lächeln. »Siehst du? Du lernst. Dieses Lächeln hat es dir erlaubt, mir genau das zu sagen, was du denkst, und es mir ermöglicht, es als Scherz aufzufassen, so daß ich die Wahrheit hören kann, ohne wütend werden zu müssen.«
»Ich versuche es«, sagte Chveja seufzend.
»Und du machst es ganz gut — für eine kleine, unwissende, schüchterne Heranwachsende.«
Chveja blickte sie entsetzt an. Dann zeigte Huschidh ein Lächeln.
»Zu spät«, sagte Chveja. »Du hast es so gemeint.«
»Nur ein wenig«, sagte Huschidh. »Aber andererseits sind alle Heranwachsenden ungebildet, und du kannst ja nichts dafür, daß du klein und schüchtern bist. Du wirst mit der Zeit größer.«
»Und schüchterner.«
»Aber manchmal auch kühner.«
Na ja, das stimmte. Kurz nachdem Huschidh zum letztenmal schlafen gegangen war, hatte Chveja einen Wachstumsschub eingelegt, und jetzt war sie fast so groß wie Dza und größer als alle Jungs außer Ojkib, der fast schon so groß wie Vater war, aber nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien und ständig gegen irgend etwas lief oder sich den Kopf oder die Zehen stieß. Chveja gefiel, wie er die Hänseleien der anderen mit einem wortlosen Grinsen hinnahm und sich niemals beschwerte. Außerdem gefiel ihr, daß er seine Größe niemals mißbrauchte, um die anderen Kinder herumzustoßen. Und wenn er bei Streitigkeiten vermittelte, stiftete er durch ruhige Überzeugung Frieden und nicht durch seine Größe und Kraft. Da sie Ojkib wahrscheinlich sowieso heiraten würde, freute Chveja sich, daß er sich zu einem solchen Mann entwickelte. Zu schade, daß er lediglich »klein und langweilig« dachte, wenn er sie ansah. Nicht, daß er es je gesagt hätte. Doch seine Blicke schienen stets an ihr vorbei zu gleiten, als würde er sie nicht einmal soweit zur Kenntnis nehmen, daß er sie ignorieren konnte. Und wenn er allein mit ihr war, ging er immer so schnell wie möglich, als würde es ihn beinahe umbringen, sich in ihrer Gesellschaft zu befinden.
Nur weil wir Kinder bekommen und uns zusammentun und heiraten müssen, brauchen wir uns nicht unbedingt ineinander zu verlieben, sagte Chveja sich. Wenn ich ihm eine gute Frau bin, wird er mich eines Tages vielleicht lieben.
Sie dachte absichtlich nicht oft an die andere Möglichkeit — daß Ojkib vielleicht darauf bestehen würde, eine andere zu heiraten, sobald die Zeit für die Eheschließungen gekommen war. Die süße kleine Shjada zum Beispiel. Sie mochte zwei Jahre jünger sein, wußte aber schon mit den Jungs zu flirten, so daß der arme Padarok immer sprachlos um sie herumhing und Motja sie die ganze Zeit über mit einem Ausdruck so elender Sehnsucht betrachtete, daß Chveja nicht wußte, ob sie lachen oder weinen sollte. Was, wenn Ojkib sie heiratete und Chveja einen der jüngeren Knaben heiraten mußte? Was, wenn sie einen der jüngeren zwangen, sie zu heiraten?
Dann werde ich mich umbringen, nahm sie sich vor.
Natürlich wußte sie, daß sie das nicht tun würde. Jedenfalls nicht buchstäblich. Sie würde die beste Miene zum bösen Spiel aufsetzen, die sie aufsetzen konnte, und mitspielen.
Manchmal fragte sie sich, wie es bei Tante Huschidh gewesen war. Hatte sie sich in Issib verliebt, bevor sie ihn geheiratet hatte? Oder hatte sie ihn geheiratet, weil er als einziger übriggeblieben war? Es mußte schwer gewesen sein, einen Mann zu heiraten, den man hochheben und tragen mußte, wenn er sich nicht an einem Ort befand, an dem seine Flossen funktionierten. Aber sie schienen glücklich miteinander zu sein.
Die Menschen können glücklich miteinander sein.
Alle diese Gedanken und viele weitere gingen Chveja durch den Kopf, während sie Shjada, Netsja, Dabja und Zuja durch ihre Leibesübungen half. Da Netsja eine strenge Aufseherin war, wenn sie sich bei den älteren Kindern Zeit nahm, war es ein Vergnügen, »Schneller, Netsja. Beim letztenmal hast du das besser gemacht!« zu ihr sagen zu können, wobei Netsjas Gesicht immer röter wurde und Schweiß von ihren Händen und ihrer Nase tropfte, während sie sich abstrampelte.
»Du bist«, sagte Netsja keuchend, »die Königin … aller Miststücke.«
»Und Ihr seid die Prinzessin, liebste Gonets.«
»Hört sie euch an«, sagte Zuja, die nicht keuchte, weil sie ihre Übungen stets so leicht bewältigte, als wären sie ein angenehmer Spaziergang. »Sie liest so viel, daß sie jetzt schon wie ein Buch spricht.«
»Wie ein … altes Buch«, keuchte Netsja. »Ein uraltes … eselsohriges … verstaubtes … vergilbtes … wurmzerfressenes …«
Ihre Aufzählung von Chvejas Tugenden wurde von einem lauten Klingelgeräusch unterbrochen, dem das beinahe ohrenbetäubende Jaulen einer Sirene folgte. So etwas hatten sie noch nie gehört.
»Da stimmt was nicht«, sagte Dza zu Chveja. Chveja fiel auf, daß Dza die Hände nicht auf die Ohren gedrückt hatte. Sie wirkte so ruhig wie eine Eule.
»Ich glaube, wir sollten hier warten, bis Vater uns sagt, was wir tun sollen«, sagte Chveja.
Dza nickte. »Stellen wir fest, wer gerade hier ist, und achten wir darauf, daß wir keinen verlieren.«
Das war eine gute Idee. Chveja war vorübergehend eifersüchtig darauf, nicht die Geistesgegenwart besessen zu haben, selbst daran zu denken. Andererseits jedoch wußte sie, daß es besser war, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wer gute Ideen hatte, sondern sie einfach in die Tat umzusetzen. Und Dza war eine geborene Anführerin. Solange Dzas Entscheidungen klug und vernünftig waren, sollte Chveja ein gutes Beispiel abgeben und sie schnell und bereitwillig befolgen.
Dza hatte mit den jüngeren Knaben gearbeitet. Sie rief sie schnell zu sich. Motja, der jüngste; Xodhja, Yaja und Zhjat. Sie führte sie zu der Stelle, an der Chveja die jüngeren Mädchen versammelt hatte. Chveja hatte ihre Gruppe bereits zusammen, weil die Mädchen zu dem Zeitpunkt trainiert hatten, als der Alarm losging.
»Bleibt einfach hier sitzen und wartet!« rief Dza allen Kindern zu.
»Können sie das nicht abstellen?« jammerte Netsja, die offensichtlich fürchterliche Angst hatte.
»Haltet euch die Ohren zu, aber seht uns an!« rief Dza. »Schließt nicht die Augen!«
Dza war schnell von Begriff. Wenn die Kinder nichts hören konnten, mußten sie sehen, damit sie Anweisungen bekommen konnten, falls sie irgend etwas tun mußten. Erneut verspürte Chveja einen kleinen Stich der Eifersucht. Die Feststellung, daß das Vertrauen, die Loyalität zu Dza — und die Abhängigkeit von ihr — bei allen anderen plötzlich eindeutig größer geworden war, munterte sie nicht gerade auf.
Selbst mein Vertrauen, dachte Chveja. Sie ist wirklich das führende Kind, da sie … na ja, diese Stellung nicht mißbraucht.
Ein Beinpaar erschien im Leitergang am oberen Ende der Zentrifuge. Lange Beine mit großen, unbeholfenen Füßen. Ojkib. Und er war noch unbeholfener als sonst, weil er einen sperrigen Gegenstand unter dem Arm trug. Einen Gegenstand, der in Stoff gehüllt war.
Als er den Boden erreichte, wandte er sich sofort an Dza, als hätte er gewußt, daß sie das Kommando hat. »In den Schlafräumen ist es nicht so laut«, rief er. »Kannst du die jüngeren Kinder in ihre Betten bringen?«
Dza nickte.
»Nafai möchte es jedenfalls, wenn du es schaffst, ohne eins von ihnen zu verlieren.«
»In Ordnung«, sagte Dza und erteilte sofort Anweisungen. Die jüngeren Kinder stiegen die Leiter hinauf. Dza ermahnte jedes, in der Röhre unmittelbar außerhalb der Zentrifuge zu warten, bis sie ebenfalls dort oben eingetroffen sei. Chveja kam sich völlig überflüssig vor.
Ojkib wandte sich an sie und hielt ihr das Stoffbündel hin. »Es ist der Index«, sagte er. »Elemak ist wach. Verstecke ihn.«
Chveja war erstaunt. Keins der Kinder hatte den Index je berühren dürfen, auch nicht, wenn er in Tücher eingeschlagen war. »Hat Vater dir gesagt …«
»Verstecke ihn«, sagte Ojkib. »Irgendwo, wo Elemak nicht nachsehen wird.«
Er drückte ihr das Bündel gegen den Bauch, und ihre Arme schlossen sich instinktiv darum. Dann drehte er sich um und ging, folgte Dza die Leiter hinauf.
Chveja sah sich in der Zentrifuge um. Gab es hier eine Stelle, wo sie den Index verstecken konnte? Wohl kaum. Die Übungsfläche war größtenteils frei, abgesehen von den Kraftmaschinen, und die boten keine Verstecke. Also drückte sie den Index unter den Arm und wartete darauf, die Leiter hinaufsteigen zu können.
Dann sah sie dort, wo der Zentrifugenboden sich hinaufkrümmte, um einen Kreis um das Äußere des Schiffes zu vollziehen, eine Lücke im Teppich. Dort befand sich die Zugangstür. Wenn die Zentrifuge angehalten wurde, konnte man die Zugangstür öffnen, damit man in das System der Räder kriechen konnte, die der Zentrifuge die Drehbewegung ermöglichten. Das Problem war nur, daß die Zentrifuge stets eine halbe Stunde benötigte, um ihre Drehbewegung zu beenden. Wenn Chveja sie jetzt abschaltete, würde die Zentrifuge erst in einer halben Stunde zum Stillstand kommen. Und dann benötigte sie nochmals eine Stunde oder noch mehr, um wieder auf volle Geschwindigkeit zu kommen. Elemak würde sofort merken, daß die Zentrifuge aus irgendeinem Grund ausgeschaltet worden war. Sie konnte nicht darauf hoffen, daß es ihm entging. Daß er während der Reise noch nie wach gewesen war, bedeutete nicht, daß er bei der Arbeitsweise des Schiffes keine Anomalien bemerkte.
Andererseits würde für ihn allein die Tatsache, daß man die Zentrifuge nicht angehalten hatte, bedeuten, daß dort nichts versteckt worden war.
Chveja lief zur Zugangstür und zerrte daran. Die Tür gab nicht nach — eine Sicherheitsschaltung verhinderte, daß man sie öffnen konnte, während die Zentrifuge sich drehte. Sie lief zum nächsten Notknopf und drückte darauf. Der aufjaulende Alarm ging im Heulen der Hauptsirene unter. Nun konnte die Zugangstür geöffnet werden, obwohl die Zentrifuge sich noch schnell drehte. Sie drückte sie zurück; die Tür bildete einen kleinen Bogen auf dem gekrümmten Boden. Durch die Öffnung konnte sie die Räder der Zentrifuge sehen, unter denen sich die Laufbahn drehte; dann veränderte sich ihre Perspektive, und Chveja begriff, daß sie sich auf der sich drehenden Oberfläche befand und die Laufbahn in Wirklichkeit zum Rest des Schiffes gehörte, der unter den Rädern unbewegt ruhte. Oben an der Spitze der Leiter schien die Drehung viel langsamer zu sein. Es waren zwar genauso viele Umdrehungen pro Minute, doch so nahe am Zentrum war das gar nicht so schnell.
Wird der Index zerbrechen, wenn ich ihn fallen lasse?
Oder genauer gefragt — werde ich getötet oder nur verstümmelt und für den Rest meines Lebens verkrüppelt, wenn ich stürze oder die Laufbahn auch nur berühre?
Schwitzend vor Angst streckte sie zuerst das eine, dann das andere Bein durch die Öffnung, bis sie auf dem Rahmen der nächsten Räderanordnung stand. Dann stützte sie ihr Gewicht mit der rechten Hand ab und drückte den Index gegen die Tür, während sie ihre Hand darunter schob. Den Index auf der Handfläche balancierend, drückte sie ihn vorsichtig in die Öffnung hinab und griff in die Oberseite der anderen Räderanordnung direkt unter dem Boden der Zentrifuge. An einer Stelle, an der vier Metallstangen ein Quadrat bildeten, ließ sie den Index behutsam los, und er rollte hinab und fiel auf das Viereck. Dort war er in Sicherheit — nichts würde ihn hinabstoßen, und er lag viel zu weit auf den Stangen, um hindurchfallen zu können. Und am besten war, daß man ihn nur sehen konnte, wenn man so tief in die Öffnung hinabstieg, daß der Kopf sich unterhalb der Ebene des Zentrifugenbodens befand. Alles sprach dafür, daß Elemak schon lange vorher zu dem Schluß kommen würde, es sei viel zu gefährlich, den Index hier unten zu verstecken. Er würde aufgeben und anderswo suchen.
Doch wenn sie darüber nachdachte, war es in der Tat sehr gefährlich, sich hier unten aufzuhalten. Sie mußte zudem wieder nach oben und die Tür schließen, damit deren Alarmsirene zu jaulen aufhörte, bevor die, Hauptsirene verstummte. Das Hinaufklettern war jedoch nicht so einfach wie das Hinabsteigen, und nun, da sie sich nicht mehr darauf konzentrieren mußte, den Index zu verstecken, hatte sie Zeit, sich entsetzlich zu fürchten. »Langsam!« sagte sie sich immer wieder. Vorsichtig. Ein Fehltritt, und sie können mich einen Monat lang von der Laufbahn abkratzen.
Schließlich war sie draußen, hing mit gespreizten Gliedern über der Öffnung. Sie glitt wie eine Spinne weiter, bis sie sich auf sicherem Untergrund befand, sprang dann auf und warf die Tür wieder zu. Der Verschluß rastete ein, und jetzt konnte Chveja die Zentrifuge wieder einschalten. Sie spürte kaum, wie die Drehbewegung schneller wurde — die Zentrifuge war so gut konstruiert, daß in der Zeit, da der Motor ausgeschaltet gewesen war, die Reibung sie kaum verlangsamt hatte.
Die Sirene verstummte. Die Stille war wie ein körperlicher Schlag; es klingelte in Chvejas Ohren. Sie hatte es gerade noch geschafft; zehn oder fünfzehn Sekunden länger, und es wäre zu spät gewesen.
In der Stille hörte sie das Geräusch, als jemand die Leiter hinabstieg.
Sie schaute hoch. Beine. Nicht Vaters Beine. Nicht die eines Kindes. Wenn man sie hier vermeintlich grundlos entdeckte, würde Elemak sich fragen, warum sie die anderen Kinder nicht begleitet hatte.
Ohne nachzudenken, warf Chveja sich zu Boden, rollte sich zu einer Fötusposition zusammen, begrub das Gesicht in den Händen und begann leise zu wimmern und vor Furcht zu zittern. Sollten sie doch denken, sie sei in Panik geraten, erstarrt vor Furcht vor dem schrecklichen, lauten Geräusch. Sollten sie doch glauben, sie wäre schwach und hätte die Selbstbeherrschung verloren. Sie würden es glauben, denn niemand nahm an, daß sie ein gefährliches Kunststück vollbringen konnte, während sie sich auf der sich rasend schnell drehenden Zentrifuge befand. Warum sollten sie das auch annehmen? Sie hatte es ja selbst nicht gewußt. Sie konnte es auch jetzt kaum glauben.
»Steh auf«, sagte der Mann. »Reiß dich zusammen. Niemand wird dir etwas tun.«
Es war nicht Elemak. Es war Vas, Vasnjas und Panjas Vater. Tante Sevets Gatte. Also war nicht nur Elemak wach.
»Du brauchst dich nicht zu schämen«, sagte er. »Laute Geräusche — die bringen manche Leute nun mal durcheinander. Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufgebracht die kleinen Kinder sind. Es wird Stunden dauern, um sie wieder zu beruhigen.«
»Die kleinen Kinder?« Sie begriff sofort, daß er nicht die Zwölf- und Dreizehnjährigen meinte. »Die kleinen Kinder sind geweckt worden?«
»Alle sind wach. Als der Tiefschlaf-Alarm losging, wurden alle gleichzeitig geweckt. Nur für den Fall, daß mit dem System etwas nicht in Ordnung ist.«
»Was hat den Alarm ausgelöst?« fragte Chveja.
Nun legte sich zum erstenmal ein dunkler Ausdruck des Zorns auf Onkel Vas’ Gesicht. »Das müssen wir erst noch herausfinden. Aber wären wir nicht geweckt worden, hätten wir keine Gelegenheit bekommen, dich als so hübsche kleine — wie alt bist du? — Vierzehnjährige zu sehen.«
»Fünfzehn«, sagte sie.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, antwortete er trocken. »Meine achtjährige Tochter Vasnaminanja wird sich bestimmt freuen, ihre liebe Kusine Veja zu sehen. Es wird dir wirklich Freude machen, mit ihr mit Puppen zu spielen, meinst du nicht auch?«
Plötzlich schämte Chveja sich. Vasnja war ihre Freundin gewesen, das einzige Kind des ersten Jahres, das nett zu ihr gewesen war und sie bei ihren Spielen beteiligt hatte, selbst als Dza bestimmt hatte, daß Chveja eine Unberührbare war. Doch da Vasnjas Eltern Freunde von Elemak statt von Nafai waren, war Vasnja zurückgelassen worden. Chveja war bereits sechseinhalb Jahre älter. Sie würden nie wieder wirkliche Freundinnen sein. Und warum? Hatte Vasnja irgend etwas Böses getan? Nein — sie war ein guter Mensch. Und doch war sie zurückgelassen worden.
»Es tut mir leid«, sagte Chveja leise.
»Nun ja, wir wissen, wer die Schuld daran trägt, und es war keins der Kinder.« Er reichte ihr eine Hand. »Elemak hat jetzt das Sagen. Das hätte schon vor langer Zeit so sein sollen.«
Er versuchte, sich nett und zuversichtlich zu geben, doch Chveja war nicht dumm. »Was habt ihr mit Vater gemacht?«
»Nichts«, erwiderte Vas lächelnd. »Er schien einfach nicht besonders versessen darauf zu sein, Elemaks Autorität herauszufordern.«
»Aber er hat den Mantel des …«
»Des Herrn der Sterne«, sagte Vas. »Ja, den hat er noch immer. Und er sprüht auch weiterhin Funken. Nafai hat den Mantel. Aber Elemak hat die Zwillinge.«
Die Zwillinge, Serp und Spel. Chvejas jüngste Brüder, die noch so klein waren, daß man sie nicht in die Schule hatte aufnehmen können. Elemak mußte sie als Geiseln genommen und gedroht haben, ihnen etwas anzutun, falls Vater nicht tat, was Elemak wollte.
»Also benutzt er Babys, um seinen Willen durchzusetzen?« sagte Chveja verächtlich.
Vas’ Gesichtsausdruck wurde plötzlich sehr häßlich. »Ach, wie schrecklich von ihm, nicht wahr? Eines Tages wirst du mir erklären müssen, warum es böse von Elemak ist, die Kinder zu benutzen, um seinen Willen zu bekommen — aber daß es völlig in Ordnung ist, wenn dein Vater genau dasselbe tut. Und jetzt komm mit.«
Als sie vor Vas die Leiter hinaufkletterte, versuchte Chveja, einen klaren Unterschied zwischen dem Vorgehen der beiden Männer zu finden. Elemak benutzte Babys als Geiseln, doch Nafai hatte Kindern die Wahl gelassen, ob sie ihn unterstützen wollten — um die Kontrolle über die Kolonie behalten zu können. Darauf lief es doch hinaus, nicht wahr? Kinder zu benutzen, um die Kontrolle über die gesamte Gemeinschaft zu bekommen und zu behalten.
Aber es war etwas anderes. Es gab einen klaren moralischen Unterschied, und wenn Chveja lange genug darüber nachdachte, würde sie ihn auch erklären können. Und dann würden alle verstehen, daß der Unterricht während der Reise ein vollkommen anständiges Vorgehen war, das Benutzen der Zwillinge als Geiseln aber eine unaussprechliche Scheußlichkeit.
Dann kam Chveja ein ganz anderer Gedanke. Ojkib hatte ihr den Index gegeben. Er war davon ausgegangen, daß Dza die anderen Kinder in Sicherheit führte. Doch als es darum ging, den Index der Überseele zu verstecken, hatte er es nicht selbst getan, sondern diese Aufgabe Chveja übertragen. Und er hatte ihr auch nicht gesagt, wo sie ihn verstecken sollte.
Alle hatten sich in der Bibliothek eingefunden. Da es sich um einen großen, offenen Raum handelte, der fast den ganzen Umfang des Schiffes ausnutzte, war es der einzige, der groß genug war, sie alle aufzunehmen. Babys weinten, und kleine Kinder schauten verwirrt und verängstigt drein. Chveja kannte natürlich alle kleinen Kinder. Sie hatten sich nicht verändert und drängten sich jetzt um ihre Mütter. Kokor, Sevet, Dol. Und Elemaks Frau Eiadh. Aber sie hielt nicht ihr jüngstes Kind in den Armen, nicht Zhivja. Nein, Tante Eiadh hielt einen der Zwillinge, Spel.
Und Elemak, der am Rand der Bibliothek stand, hielt Serp.
Ich werde euch beiden niemals verzeihen, sagte Chveja stumm. Kann sein, daß ich die moralischen Grundsätze noch nicht auf die Reihe bekomme, aber ihr haltet meine Brüder fest und droht, ihnen Schaden zuzufügen, um euren Willen durchzusetzen.
»Chveja«, sagte Luet, als sie sie sah.
»Halt die Klappe«, sagte Elemak. »Komm her«, sagte er zu Chveja.
Sie ging zu ihm, blieb aber mehrere Schritte vor ihm stehen.
»Sieh dich an«, sagte Elemak mit verächtlicher Wut.
»Sieh dich an«, sagte Chveja. »Du bedrohst ein Baby. Deine Kinder müssen stolz auf ihren tapferen Vater sein.«
Heiße Wut überkam Elemak, und sie sah, daß seine Verbindung zu ihr fast eine negative Stärke annahm. Für einen Augenblick wollte er sie tot sehen.
Aber Elemak tat nichts und sagte nichts, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hatte.
»Ich will den Index«, sagte er dann. »Ojkib behauptet, er habe ihn dir gegeben.«
Chveja wirbelte zu Ojkib herum, der ihren Blick teilnahmslos erwiderte. »Das ist schon in Ordnung«, sagte Ojkib. »Dein Vater wollte ihn verstecken. Jetzt befiehlt die Überseele ihm, den Index Elemak zu geben.«
»Wo ist Vater?« fragte Chveja. »Wer bist du, daß du für ihn sprechen kannst?«
»Dein Vater ist in Sicherheit«, sagte Elemak. »Du solltest lieber auf deinen großen Onkel Ojkib hören.«
»Glaub mir«, sagte Ojkib. »Du kannst es ihm sagen. Die Überseele behauptet, es sei in Ordnung.«
»Woher willst du denn wissen, was die Überseele sagt?« fragte Chveja.
»Wieso sollte er es nicht wissen?« sagte Elemak höhnisch. »Das weiß hier doch jeder. Dieser Raum ist voll von Menschen, die anderen Leuten liebend gern sagen, was die Überseele von ihnen verlangt.«
»Wenn ich es aus Vaters Mund höre, werde ich dir sagen, wo der Index ist.«
»Wenn sie ihn versteckt hat«, sagte Vas, »muß er in der Zentrifuge sein.«
Ojkibs Augen wurden groß. »Da kann man ihn nirgends verstecken.«
Elemak fuhr Mebbekew und Obring an. »Nun geht schon los und sucht ihn«, sagte er.
Obring erhob sich sofort, doch Mebbekew bewegte sich absichtlich langsam. Chveja sah, daß seine Loyalität zu Elemak schwach war. Andererseits war seine Loyalität zu allen anderen ebenfalls schwach.
»Sag es ihnen einfach, Veja«, forderte Ojkib sie auf. »Glaub mir, ich meine es ernst.«
Mir egal, ob du es ernst meinst oder nicht, sagte Chveja stumm. Ich habe nicht mein Leben riskiert, um den Index zu verstecken, nur um mich jetzt von einem Verräter wie dir überreden zu lassen, ihn wieder herauszurücken.
»Es spielt keine Rolle«, sagte Ojkib. »Der Index verfügt lediglich über die Macht, jemanden zu befähigen, mit der Überseele zu sprechen. Glaubst du, die Überseele wird einem Mann wie diesem irgend etwas zu sagen haben?« Seiner Stimme war deutlich die Verachtung zu entnehmen, als er auf Elemak zeigte.
Elemak lächelte, ging zu Ojkib, hob ihn dann mit einer Hand aus seinem Stuhl und schleuderte ihn gegen die Wand. Der Aufprall trieb Ojkib die Luft aus den Lungen, und er sackte zusammen und hielt sich den Kopf, mit dem er gegen einen Schrank geprallt war. »Du magst groß sein«, sagte Elemak, »und du magst auch stolze Worte schwingen, aber es steckt nichts dahinter, Junge. Hat Nafai wirklich gedacht, ich würde vor einem ›Mann‹ wie dir jemals Angst haben?«
»Du kannst es ihm verraten, Chveja«, sagte Ojkib, ohne Elemaks Frage zu beantworten. »Er kann Kinder verprügeln, aber er kann nicht die Überseele beherrschen.«
Es schien sich nur um eine kaum wahrnehmbare Handbewegung zu handeln, doch die Folge war, daß Ojkibs Kopf erneut mit solcher Wucht gegen den Schrank prallte, daß der Junge zu Boden fiel.
Chveja sah die starken, leuchtenden Fäden der Loyalität, die Ojkib mit ihr verbanden. So war es nie zuvor gewesen. Und ihr wurde klar, daß Ojkib sich nur deshalb von Elemak verprügeln ließ, um Chveja zu beweisen, daß er kein Verräter war, sondern die Wahrheit sagte. Sie konnte den Index Elemak geben.
Aber sie brachte es einfach nicht über sich. Selbst wenn Ojkib recht hatte und der Index nutzlos war, schien Onkel Elemak anderer Ansicht zu sein. Er wollte ihn haben. Sie mußte irgendeinen Vorteil daraus ziehen.
Doch sie durfte nicht zulassen, daß Ojkib weiterhin mißhandelt wurde, wenn sie es verhindern konnte. »Ich werde euch verraten, wo der Index ist«, sagte sie.
Obring und Meb standen an der Leiter in der Mitte der Bibliothek.
»Sobald ich gesehen habe, daß es Vater gut geht«, fügte Chveja hinzu.
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß er in Ordnung ist«, sagte Elemak.
»Du hältst auch ein Baby in den Armen, um deinen Willen durchzusetzen«, sagte Chveja. »Das beweist, daß du ein anständiger Mensch bist, der niemals lügen würde.«
Elemak errötete. »Wir haben das Mundwerk einer Erwachsenen, was? Nafais Einfluß auf diese Kinder ist doch so wunderbar.« Doch während er sprach, ging er zu der Stelle hinüber, an der Mutter mit ihren anderen Kindern saß. Er gab ihr Serp. »Ich bedrohe keine Babys«, sagte er.
»Du meinst damit, daß du Vater bereits dazu gebracht hast, sich dir zu ergeben«, sagte Chveja.
»Wo ist der Index?« fragte Elemak.
»Wo ist mein Vater?« fragte Chveja.
»In Sicherheit.«
»Der Index ebenfalls.«
Elemak ging zu ihr, beugte sich über sie. »Willst du etwa mit mir handeln, kleines Mädchen?«
»Ja«, sagte Chveja.
»Wie Ojkib schon gesagt hat, für mich ist der Index nutzlos«, sagte Elemak grinsend.
»Schön«, sagte Chveja.
Er beugte sich noch tiefer hinab, legte eine Hand hinter ihren Kopf und flüsterte ihr ins Ohr. »Veja, ich werde einfach alles tun, um meinen Willen zu bekommen.«
Er hatte sie kaum losgelassen, als sie ganz laut sagte: »Er hat gesagt: ›Veja, ich werde einfach alles tun, um meinen Willen zu bekommen.‹«
Die anderen murmelten leise miteinander. Vielleicht über Chvejas Kühnheit, laut zu wiederholen, was Elemak ihr gesagt hatte. Vielleicht über Elemaks Drohung. Es spielte keine Rolle — das Geflecht der Beziehungen veränderte sich. Elemaks Einfluß auf seine Freunde war etwas schwächer geworden. Natürlich waren die anderen noch immer durch Furcht und Schrecken mit ihm verbunden; Ojkibs Mißhandlung hatte Elemaks Kontrolle über die Situation gestärkt. Doch Chvejas Kühnheit und Elemaks Poltern hatten die Loyalität jener geschmälert, die ihm freiwillig folgten.
Er schien das zu spüren — er war ein starker Anführer gewesen; er hatte Karawanen durch gefährliche Gebiete geleitet und wußte, wann er an Boden verlor, auch wenn er nicht Chvejas und Huschidhs Fähigkeit hatte, die Bande der Treue und des Gehorsams, der Liebe und Furcht zu sehen. Also änderte er seine Taktik. »Bemühe dich ruhig, Veja«, sagte er, »aber es wird dir nicht gelingen, mich zum Bösewicht dieser kleinen Szene zu machen. Dein Vater und diejenigen, die sich mit ihm verschworen haben, haben uns andere allesamt betrogen. Dein Vater hat gelogen, als er versprach, er würde uns zur Mitte der Reise wecken. Dein Vater hat unsere Kinder um ihr Geburtsrecht betrogen. Sieh sie dir doch an.« Er zeigte auf sie, auf die Vierjährigen, die Fünfjährigen, die Achtjährigen, die noch immer versuchten, diese großen Erwachsenen mit den Kindern in ihrem Alter in Einklang zu bringen, die sie — wie sie sich erinnerten — noch vor ein paar Stunden gesehen hatten, als sie vor dem Start schlafen gelegt worden waren. »Wer hat hier Kinder schlecht behandelt? Wer hat sie ausgebeutet? Ich nicht.«
Chveja sah, daß Elemak wieder an Mitgefühl gewann. »Warum hält deine Frau dann noch immer Spel fest?« fragte sie.
Eiadh sprang auf und fauchte ihre Antwort. »Ich nehme keine kleinen Kinder als Geisel, du abscheuliches kleines Balg! Er hat geweint, und ich habe ihn getröstet.«
»Vielleicht hätte seine Mutter das besser gekonnt«, sagte Chveja. »Vielleicht will dein Mann nicht, daß du Spel Mutter zurückgibst.«
Eiadh schaute sofort zu Elemak hinüber, und dessen gereizte Geste bewies Chveja, daß sie recht gehabt hatte. Verdrossen trug Eiadh Spel zu Luet hinüber, die ihn nahm und auf ihr anderes Knie setzte. Doch die ganze Zeit über hatte Mutter nichts gesagt. Warum schweigt Mutter? fragte Chveja sich. Warum überlassen die Erwachsenen es mir und Ojkib, das Reden zu übernehmen?
›Weil sie Kinder haben.‹
Der Gedanke trat mit solcher Klarheit in ihren Verstand, daß sie wußte, er kam von der Überseele. Und sie verstand sofort, was die Überseele meinte. Weil die Erwachsenen kleine Kinder hatten, hatten sie Angst davor, was Elemak mit ihnen anstellen könnte. Nur Heranwachsende wie ich und Ojkib können tapfer sein, weil wir keine Kinder beschützen müssen.
›Ja.‹
Du kannst also mit mir sprechen. Warum sagst du mir dann nicht, daß ich Elemak den Index geben soll, wenn es dein Wunsch ist?
Aber es erfolgte keine Antwort.
Chveja verstand nicht, was die Überseele tat. Warum sagte sie Ojkib etwas, das sie ihr gegenüber nicht bestätigte? Warum verriet sie ihr nicht, was sie wissen mußte? Die Überseele hätte sich jederzeit melden und erklären können, warum die Erwachsenen nichts sagten, aber sie hatte Chveja keinen einzigen Hinweis darauf gegeben, was sie nun tun sollte.
Vielleicht bedeutete dies, daß sie bereits das Richtige tat.
›Ja.‹
»Bringe mich zu Vater«, sagte Chveja. »Wenn ich sehe, daß ihm nichts geschehen ist, werde ich dir den Index geben.«
»So groß ist das Schiff nun auch wieder nicht«, sagte Elemak. »Ich werde den Index auch ohne deine Hilfe finden.«
»Du kannst es ja versuchen«, sagte Chveja. »Aber allein die Tatsache, daß du so beharrlich zögerst, mich zu meinem Vater zu bringen, beweist mir, daß du ihn verletzt hast und diesen Leuten nicht zu zeigen wagst, was für ein gewalttätiger, schrecklicher, böser Mensch du bist.«
Für einen Augenblick dachte sie, er würde sie schlagen. Doch es war nur ein Ausdruck, der in seinen Augen aufflackerte; seine Hände bewegten sich nicht, und er beugte sich nicht einmal zu ihr hinunter.
»Du kennst mich nicht«, sagte er leise. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du nur ein Kind. Vielleicht bin ich genau so, wie du behauptest. Aber warum hast du noch keine Prellungen und blutest nicht, wenn ich wirklich so schrecklich, böse und gewalttätig bin?«
»Weil du bei deinen Speichelleckern nichts erreichen wirst, wenn du ein Mädchen schlägst«, sagte Chveja kalt. »Aber wie du Ojkib behandelt hast, zeigt, wie du wirklich bist. Die Tatsache, daß du mich nicht genauso behandelst, beweist nur, daß du dir noch nicht sicher bist, wirklich die Kontrolle zu haben.«
Chveja hätte es früher nie gewagt, so etwas zu sagen, doch nun sah sie, daß sie mit jedem Wort, jedem Satz, Elemaks Position schwächte. Natürlich war sie klug genug, um zu wissen, daß dieses Vorgehen sehr gefährlich war; denn sobald Elemak sich seines nachlassenden Einflusses erst bewußt wurde, würde er vielleicht unbesonnener und brutaler vorgehen. Doch etwas anderes fiel ihr einfach nicht ein. Nur so konnte sie ihre Lage in gewisser Weise beherrschen.
»Aber natürlich habe ich nicht die Kontrolle«, sagte Elemak ruhig. »Ich habe es auch nie angenommen. Dein Vater ist der einzige, der die Leute beherrschen will. Ich muß ihn in Schranken halten. Denn wenn ich’s nicht tue, wird er diesen Mantel benutzen, um die Leute zu zwingen, das zu tun, was er will. Mir liegt einfach nur an Gerechtigkeit. Zum Beispiel könntet ihr übergroßen Kinder für den Rest der Reise schlafen, während unsere Kinder die Möglichkeit bekommen, euch wenigstens halbwegs einzuholen, was das Wachstum angeht. Ist dieser Vorschlag wirklich so schrecklich, böse und gewalttätig?«
Chveja wurde klar, daß Elemak bei diesem Spiel sehr, sehr gut war. Mit einigen wenigen Worten konnte er alles wieder aufbauen, das sie niedergerissen hatte.
»Gut«, sagte sie. »Du bist ein freundlicher, vernünftiger und anständiger Mann. Deshalb wirst du mich und Ojkib und Mutter jetzt zu Vater bringen lassen.«
»Vielleicht. Sobald ich den Index habe.«
Für einen Augenblick dachte Chveja, er habe nachgegeben. Sie müsse ihm nur sagen, wo der Index war, und er würde sie zu Vater lassen. Aber dann griff Ojkib ein.
»Wirst du diesem Lügner etwa glauben?« fragte er. »Er spricht davon, daß Nafai uns mit dem Mantel unterdrückt — aber niemand soll sich daran erinnern, daß er und Meb vorhatten, Nafai zu ermorden. Er ist ein Mörder! Er hat in Basilika sogar unseren Vater verraten. Er hätte ihn in einen Hinterhalt gelockt, und Gaballufix hätte ihn getötet, wenn die Überseele Luet nicht gesagt hätte, sie solle ihn warnen …«
Elemak brachte ihn mit einem Schlag zum Schweigen, einem gewaltigen Hieb seines kräftigen Arms. Ojkib flog durch den Raum und prallte noch härter als zuvor mit dem Kopf gegen eine Wand. Die Schwerkraft mochte niedriger sein, doch wie alle Kinder in der Schule gelernt hatten, wurde die Masse dadurch nicht verringert, und so lag Ojkibs volles Gewicht hinter dem Zusammenprall. Er rutschte bewußtlos zu Boden.
Jetzt gaben die Erwachsenen ihr Schweigen auf. Rasa schrie. Volemak sprang auf und brüllte Elemak an: »In deinem Herzen warst du immer ein Mörder! Du bist nicht mehr mein Sohn! Ich enterbe dich! Ich nehme dir alles, was du je hattest!«
Elemak verlor kurz die Selbstbeherrschung. »Du und deine Überseele!« schrie er zurück. »Was bist du denn schon? Nichts! Ein schwacher, gebrochener Wurm von einem Mann! Ich bin dein einziger Sohn — der einzige wahre Mann, den du je gezeugt hast! Aber du hast mir ja stets diesen verlogenen kleinen Schleimer vorgezogen!«
Volemak antwortete ganz ruhig. »Ich habe ihn dir nie vorgezogen. Ich habe dir alles gegeben. Ich habe dir alles anvertraut.«
»Du hast mir nichts gegeben. Du hast dein Geschäft weggeworfen, unseren Reichtum, unsere Stellung, alles. Für einen Computer.«
»Und du hast mich an Gaballufix verraten. Du bist im Grunde deines Herzens ein Verräter und Mörder, Elemak. Du bist nicht mein Sohn.«
Chveja wußte, damit war es geschafft. Obwohl die Furcht blieb, verblich in diesem Augenblick alle Loyalität, die die anderen Elemak vielleicht entgegengebracht hatten. Sie würden ihm noch immer gehorchen, aber niemand würde es mehr freiwillig tun. Selbst sein ältester Sohn, der achtjährige Protschnu, schaute seinen Vater voller Furcht und Entsetzen an.
Rasa und Schedemei kümmerten sich um Ojkib. »Ich glaube, er kommt wieder in Ordnung«, sagte Schedemei. »Wahrscheinlich hat er eine Gehirnerschütterung, und er wird nicht so bald wieder aufwachen, aber gebrochen ist nichts.«
Nachdem sie gesprochen hatte, herrschte lange Zeit Schweigen. Ojkib würde sich erholen — aber niemand konnte vergessen, wer ihm seine Verletzungen zugefügt hatte. Niemand konnte die brutale Härte des Schlages vergessen, die Wut, die dahinter steckte, den Anblick von Ojkib, der hilflos und wehrlos durch die Luft flog. Man würde Elemak gehorchen, soviel stand fest. Aber niemand würde ihn lieben oder bewundern. Er war nicht mehr der gewählte Anführer, jetzt nicht mehr, für keinen. Niemand stand auf seiner Seite.
»Luet«, sagte Elemak leise. »Du begleitest mich und Chveja. Und auch Issib. Ihr sollt euch davon überzeugen, daß es Nafai gut geht. Und ihr sollt auch Zeuge werden, daß er nie wieder das Kommando über dieses Schiff bekommen wird.«
Als Chveja Elemak die Leiter hinab auf eins der Lagerdecks folgte, fragte sie sich: Warum hatte er sie nicht sofort zu Vater geführt, als sie ihn darum bat? Es ergab keinen Sinn.
›Er hat dich nicht zu ihm gebracht, weil du es verlangt hast.‹
Wie kindisch von ihm.
›Nein, es war vernünftig. Wenn er seine Autorität durchsetzen wollte, mußte er sich von Anfang an völlige Kontrolle verschaffen.‹
Tja, das ist ihm gelungen.
›Im Gegenteil. Du und Ojkib, und schließlich auch Volemak, ihr habt ihn zerbrochen. Er hat bereits verloren. Vielleicht dauert es eine Weile, bis es ihm klar wird, aber er hat bereits verloren.‹
Das ließ Chveja glühenden Triumph empfinden, während sie Elemak in den Lagerraum folgte, in dem Vater gefangengehalten wurde.
Doch das Glühen legte sich schnell, als sie sah, wie sie ihn behandelt hatten. Vater lag auf der Seite auf dem Boden eines Lagerraums. Seine Handgelenke waren fest — brutal — im Rücken zusammengebunden. Chveja sah, daß die Haut über und unter der Schnur angeschwollen war, und seine Hände waren weiß. Sie hatten auch seine Knöchel zusammengebunden — genauso eng. Dann hatten sie die Beine hinter ihm hochgezogen, ihn schmerzhaft zurückgebogen, zwei Stricke von seinen Knöcheln zu seinen Schultern gezogen und sie vorher und nachher verknotet, so daß sie eng um seinen Hals lagen. Anschließend hatten sie die Stricke über seinen Leib wieder hinabgeführt, zwischen seinen Beinen hindurch, und sie über seinen Hinterbacken wieder mit den Handgelenken verknotet. Das Ergebnis war, daß die Stricke einen ständigen Druck ausübten. Vater konnte den Druck auf seinen Schultern und den Lenden nur lindern, wenn er die Beine noch höher nahm oder den Körper noch weiter nach hinten bog. Doch da sie ihn bereits so fest in diese Richtung zurückgezogen hatten, wie es ihnen möglich gewesen war, gab es keine Erleichterung für ihn. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht gerötet, und schnelle, flache Atemzüge verrieten Chveja, daß er Schmerzen hatte und ihm in dieser unmöglichen Position sogar das Atmen schwerfiel.
»Nafai«, murmelte Mutter.
Nafai schlug die Augen auf. »Hallo«, sagte er leise. »Seht ihr, wie ein kleiner Sturm auf See die Reise unterbrechen kann?«
»Wie klug du ihn gefesselt hast«, sagte Issib mit Gift in der Stimme. »Was für ein einfallsreicher Folterknecht du doch bist.«
»Die übliche Prozedur für unterwegs«, erwiderte Elemak, »wenn eine Person, die man braucht, sich unbedingt stur verhalten will. Man kann sie nicht umbringen, ihren Trotz aber auch nicht dulden. Normalerweise reicht es, wenn man ein paar Stunden so gefesselt liegt. Aber Nafai ist schon immer ein äußerst starrköpfiger Bursche gewesen.«
»Kannst du atmen, Nafai?« fragte Mutter.
»Kannst du es?« fragte Vater.
Erst jetzt merkte Chveja, daß die Luft wirklich sehr stickig und muffig war.
»Was meinst du damit?« fragte Elemak.
Issib antwortete für ihn. »Die Lebenserhaltung verkraftet es nicht, daß so viele Leute gleichzeitig wach sind«, sagte er. »Sie arbeitet bereits auf höchsten Touren. Wir werden im Laufe der Zeit immer weniger Sauerstoff bekommen.«
»Kein Problem«, sagte Elemak. »Wir lassen einfach all die Leisetreter und Lügner und ihre übergroßen Kinder den Rest der Reise schlafen.«
»Das wirst du nicht tun«, flüsterte Vater.
Elemak betrachtete ihn gelassen. »Ich glaube, wenn ich den Index habe, wird der Schiffscomputer tun, was ich will.«
Vater antwortete nicht einmal.
»Der Index, Chveja«, sagte Elemak. »Ich habe mein Wort gehalten.«
»Binde ihn los«, sagte Chveja.
»Das kann er nicht«, sagte Issib. »Nafai hat den Mantel. Man kann ihn ihm nicht nehmen. Wenn er ihn freiläßt, hat Nafai sofort wieder die Kontrolle über das Schiff. Dann könnte niemand etwas gegen ihn ausrichten.«
Das also hatte er erreicht, indem er die Zwillinge als Geiseln nahm. Vater hatte sich freiwillig so fesseln lassen, damit seinem Nachwuchs nichts geschah. Zum erstenmal wurde Chveja wirklich klar, wie machtlos Eltern waren. Nur Leute ohne Kinder konnten wirklich nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Sobald man sich um Kinder kümmern mußte, konnte man immer von jemandem beherrscht werden.
»Kannst du die Fesseln nicht lockern?« fragte Chveja. »Du mußt ihn doch nicht so verdrehen.«
»Nein, das muß ich nicht«, sagte Elemak. »Aber ich will es. Schließlich bin ich böse und schrecklich und gewalttätig.« Er musterte sie ruhig. »Der Index, Chveja, oder deine Mutter wird hier neben ihm auf dem Boden liegen. Es tut ihm nicht weh — nicht ganz so schlimm —, denn der Mantel heilt ihn. Aber sie wird er nicht heilen.«
Chveja spürte, wie Mutter sich neben ihr versteifte. »Das wirst du nicht tun«, sagte sie.
»Ach nein? Da du und Ojkib und Vater bereits dafür gesorgt haben, daß alle mich hassen, wird es dadurch nicht schwerer für mich. Und wenn ich beweise, daß ich eine Frau genauso brutal wie einen Mann behandeln kann, bleiben mir vielleicht weitere Einmischungen von großmäuligen kleinen Miststücken wie dir erspart.«
»Sag es ihm«, verlangte Vater. Seine Stimme klang wie die personifizierte Niederlage.
Sie hatte es aus seinem Munde gehört. Mit weiterem Widerstand konnte sie nichts mehr erreichen. »Ich werde dich zu ihm führen«, sagte sie. »Der Index ist in der Zentrifuge. Aber du mußt warten, bis sie sich nicht mehr dreht. Solange sie sich bewegt, kannst du ihn nicht herausholen.«
»In den Maschinen also?« sagte Elemak. »All diese Mühe — und irgendwann wäre ich selbst darauf gekommen. Na schön, raus mit euch allen. Ich schließe dir Tür hinter mir ab und werde ununterbrochen Wachen aufstellen. Glaubt also nicht, ihr könntet euch hier herunterschleichen und ihn losbinden. Ich könnt von Glück sprechen, daß ich ihn nicht schon längst getötet habe.«
Für einen Augenblick fragte Chveja sich: Warum hat Elemak ihn nicht bereits getötet? Er hat es doch schon mal versucht, oder? Es muß am Mantel liegen. Man kann Vater nicht mehr so leicht umbringen. Nicht, solange er im Schiff oder auch nur in dessen Nähe ist. Elemak kann ihn wahrscheinlich nicht mal berühren, geschweige denn, ihm etwas antun — nicht, solange Vater es nicht zuläßt. Und sollte Elemak versuchen, ihn zu töten, wäre wahrscheinlich nicht mal eine bewußte Anstrengung Vaters nötig, damit der Mantel zurückschlägt. Wahrscheinlich würde er automatisch aktiv werden. Oder vielleicht beherrscht die Überseele ihn. Aber die agiert auch automatisch, oder? Denn in Wirklichkeit ist die Überseele nur ein Computer.
›Und du bist in Wirklichkeit nur eine Anordnung organischer Bestandteile.‹
Chveja errötete. Sie ließ zu, daß Elemak sie und die anderen hinausführte. Erst im letzten Augenblick fiel ihr ein, »Vater, ich liebe dich!« zu rufen.
Zuerst bestand Elemak darauf, den Index herauszuholen, während die Zentrifuge sich noch bewegte, doch als er sah, daß dies unmöglich war, ohne das Risiko einzugehen, den Index fallenzulassen, woraufhin er unter einem der Räder zerbrechen würde, wartete er verdrossen, bis die Maschine zum Stillstand gekommen war. Als sie schließlich hielt, schickte er Obring in die Öffnung, damit er den Index herausholte. Chveja war klar, wieso. Elemak wagte es nicht, sich vollständig in die Öffnung zu begeben, weil dann jemand die Tür hinter ihm zuschlagen könnte. Natürlich käme er früher oder später durch die eine oder andere Tür wieder heraus — es gab mehrere Öffnungen, die von der Zentrifuge ins Schiffsinnere führten —, aber bis dahin wäre vielleicht jemand zu Vater gelaufen und hätte ihn losgebunden. Jetzt konnte er niemandem vertrauen. Also war es Obring, der durch das Wartungsloch kletterte und Elemak dann den in Stoff eingeschlagenen Index aushändigte.
»Ich kann es einfach nicht fassen, daß sie das Ding dort hinein gelegt hat, während die Zentrifuge sich noch bewegte«, sagte Obring.
Elemak antwortete nicht, doch Chveja empfand angesichts des Kompliments einen trotzigen Stolz. Sie hatte es tatsächlich gut gemacht. Und obwohl Ojkib — aus welchem Grund auch immer — Elemak fast sofort verraten hatte, wer den Index versteckt hatte, war es ihr gelungen, Elemaks Position zu schwächen und ihren Vater zu sehen.
Nun hob Elemak das Tuch hoch und hielt den Index in den Händen.
Nichts geschah.
Er wandte sich an Issib. »Wie funktioniert er?« fragte er.
»Einfach so«, sagte Issib. »Du machst es völlig richtig.«
»Aber er reagiert nicht!«
»Natürlich nicht«, sagte Issib. »Die Überseele kontrolliert ihn, und sie spricht nicht mit dir.«
Elemak hielt Issib den Index hin. »Dann mach du es. Tu, was ich dir sage, oder Huschidh endet bei Nafai auf dem Boden des Lagerraums.«
»Ich werde es versuchen. Aber ich glaube nicht, daß die Überseele sich täuschen lassen wird, nur weil ich den Index halte. Sie wird sich dir nicht unterwerfen.«
»Halt die Klappe und tu’s einfach«, sagte Elemak.
Issib sank ein wenig tiefer und nahm den Index von Elemak in Empfang, der ihn Issib in den Schoß legte. Issib drückte die Hände darauf, doch nichts geschah.
»Siehst du?« sagte Issib.
»Was passiert normalerweise?« fragte Elemak. »Vielleicht reagiert er nur etwas langsamer?«
»Der Index reagiert niemals langsam«, erwiderte Issib. »Er funktioniert einfach nicht, solange der Herr der Sterne nicht die Kontrolle über das Schiff hat.«
»Herr der Sterne«, sagte Elemak, als wäre das Wort Gift in seinem Mund.
»Wir haben immer weniger Sauerstoff«, sagte Issib. »Das Schiff kann Kohlendioxyd nur mit einer gewissen Geschwindigkeit aufspalten, und hier atmen einfach zu viele Personen.«
»Du meinst, die Überseele versucht, mich durch den Sauerstoffvorrat zur Aufgabe zu zwingen?«
»Es ist nicht die Überseele«, sagte Issib. »Sie kontrolliert die Lebenserhaltungssysteme nicht direkt und könnte sie auf keinen Fall ausschalten, um menschlichen Wesen Schaden zuzufügen. In die Maschinen wurden Sicherheitsvorrichtungen eingebaut. So ist das nun mal.«
»Na schön«, sagte Elemak. »Dann legen wir einfach alle Leute schlafen, die ich nicht wach haben will. Vielleicht sollte ich sogar Nafai für den Rest der Reise schlafen lassen — aber er müßte während seines Nickerchens gefesselt bleiben.«
»Um danach als schlimmerer Krüppel zu enden, als ich einer bin?« fragte Issib.
»Warum nicht?« fragte Elemak, der die Vorstellung sichtlich genoß. »Mit dir hatte ich nie irgendwelche Probleme.«
»Was du vorhast, spielt keine Rolle«, sagte Issib. »Die Überseele kann verhindern, daß du die Schlafkammern aktivierst. Sie muß nur ein Gefahrensignal in die Computer schicken, die sie kontrollieren. Das kannst du nicht ausschalten.«
Elemak dachte eine Zeitlang nach. »Na schön«, sagte er dann. »Ich kann warten.«
»Du glaubst, du kannst die Überseele zermürben?«
»Ich glaube, die Überseele will nicht, daß diese Reise scheitert«, sagte Elemak. »Ich glaube, sie wird irgendwann begreifen, daß ich die Kolonie führen werde, und sich daran gewöhnen.«
›Keine Chance.‹
»Keine Chance«, echote Chveja.
»Ach, wirklich?« sagte Elemak und drehte sich zu ihr um. »Spricht die Überseele jetzt mit dir?«
Chveja sagte nichts.
›Ich kann mein Hauptziel auch erreichen, wenn jeder Organismus auf diesem Schiff tot ist.‹
»Die Überseele kann ihren wichtigsten Zweck auch erreichen, wenn auf dem Schiff alle tot sind«, sagte Chveja.
»Das sagt sie zumindest den Leuten, die sie täuscht«, entgegnete Elemak. »Wir werden wohl ein paar interessante Tage erleben, während wir herausfinden, wie ernst die Überseele es meint.«
»Die kleinen Kinder werden zuerst sterben«, sagte Issib. »Und die Alten.«
»Wenn eins meiner Kinder wegen dieser Sache stirbt«, sagte Elemak, »dann können, soweit es mich betrifft, auch alle anderen sterben, mich eingeschlossen. Der Tod wäre besser, als auch nur noch einen Tag länger von diesem verlogenen, verschlagenen, klugscheißerischen, verräterischen Mistkerl beherrscht zu werden, den Vater mir als Bruder aufgezwungen hat.« Elemak wandte sich Chveja zu und lächelte. »Ich will in deiner Gegenwart nichts Schlechtes über deinen Vater sagen, kleines Mädchen. Aber da du ja völlig nach ihm geraten bist, kommt dir das wahrscheinlich wie ein Lob vor.«
Chvejas Abscheu überwog die Furcht vor seinem Zorn. »Ich würde mich seiner schämen«, sagte sie, »würde ein Mann wie du ihn nicht hassen.«
Kicherte Obring leise hinter Elemak? Elemak wirbelte herum, doch Obring tat ganz unschuldig.
Du hast bereits verloren, dachte Chveja. Die Überseele hatte recht. Wir haben dich bereits besiegt. Jetzt können wir nur hoffen, daß niemand stirbt, bevor du es begreifst.
Luet war wütend, aber nicht auf Elemak. Für sie war Elemak beinahe zu einer Naturgewalt geworden. Selbstverständlich haßte er Nafai. Natürlich würde er auf jede Entschuldigung zurückgreifen, um ihn zu verletzen. Sie hatten mittlerweile zuviel miteinander erlebt. Es gab zuviel alten Groll, zuviel Schuld aufgrund Elemaks früherer Versuche, seinen Bruder zu töten. Man bewältigte die Situation nicht, indem man versuchte, Elemak zu ändern. Man bewältigte sie, indem man vermied, ihn zu provozieren.
Du hast das herbeigeführt, sagte Luet zur Überseele. Es war deine Idee. Du hast darauf gedrungen. Du hast Nafai und mich und die Eltern der anderen Kinder dazu getrieben, diese kleinen Spielchen mit der Zeit zu veranstalten.
›Und ich hatte recht.‹
Du hast nur nicht damit gerechnet, daß sie aufwachen, nicht wahr?
›Ich habe trotzdem recht. Alles wird in Ordnung kommen.‹
Meine Kinder bekommen nur noch schlecht Luft. Sie können kaum noch essen, weil das Schlucken so lange dauert, daß sie schon wieder nach Luft ringen, wenn sie damit fertig sind. Wir sterben, und du sagst mir, alles wird in Ordnung kommen?
›Erst in einigen Tagen wird jemand Gefahr laufen, tatsächlich zu sterben.‹
Oh, jetzt fühle ich mich aber viel besser.
›Ich bin nicht Elemak. Ich habe Elemak nicht gezwungen, die Dinge zu tun, die er getan hat.‹
Du bist für diesen Zustand verantwortlich. Du hast uns in diese Lage gebracht.
›Hast du etwa geglaubt, dieser Tag würde nie kommen? Hast du geglaubt, Elemak würde sich niemals gegen euch stellen, wenn ihr alles richtig macht? Besser, er tut es hier, wo ich noch eine gewisse Kontrolle über die Dinge habe, als auf der Erde, wo ihr völlig auf euch selbst angewiesen sein werdet.‹
O nein, wir werden auf der Erde nicht auf uns allein gestellt sein. Dort wird der Hüter der Erde auf uns achten. Und wenn er nur halb soviel Liebe für uns empfindet und halb soviel Obhut walten läßt wie du, werden wir alle innerhalb eines Jahres tot sein.
›Der Hüter ist viel mächtiger als ich.‹
Freut mich, das zu hören.
›Ich verstehe deinen Zorn. Laß ihn nur nicht dein Urteilsvermögen bewölken.‹
Nein, wir müssen klare Entscheidungen treffen können, während wir keuchen, um genug Sauerstoff zu bekommen, während wir zusehen, wie unsere Kinder träge und apathisch werden, während wir daran denken, wie unser Gatte gebogen und verzerrt dort liegt, die Hände und Füße von Fesseln abgeschnürt …
So verlief Luets Gespräch mit der Überseele, Stunde um Stunde. Sie wußte, wenn ihr Zorn verraucht war, würde sie verstummen, sich mit der Situation abfinden, der Überseele schließlich wahrscheinlich sogar beipflichten, daß die Dinge ein gutes Ende nehmen würden. Doch noch war dem nicht so. Und wenn das die beste Entwicklung war, die die Dinge nehmen konnten, wollte sie gar nicht wissen, wie die schlechteste aussah — oder auch nur die zweitbeste. Aber das war dasjenige, was sie nie erfahren würden: was geschehen wäre. Die Leute sprachen immer so, als könnte man es wissen. »Wäre doch nur der Alarm nicht losgegangen.« — »Wäre Nafai als Junge doch nicht so ein Klugscheißer gewesen.« Das war Nafais Lieblingsspruch, wie Luet sehr wohl wußte, da er gern die Schuld an allem auf sich nahm. Aber Luet wußte auch, niemals verursachte nur ein Ereignis etwas, und könnte man tatsächlich diesen einen Vorgang verändern, war damit keineswegs sichergestellt, daß die Folgen verschwanden oder die Dinge auch nur einen besseren Verlauf nahmen.
Eines Tages werde ich diese tiefe, unvernünftige Wut auf die Überseele nicht mehr empfinden. Aber nicht jetzt, nicht, da der Anblick Nafais in diesen grausamen Fesseln noch so frisch in meiner Erinnerung ist, so lebendig in meinen Alpträumen. Nicht, solange meine Kinder nach jedem Schluck keuchen. Nicht, solange der blutrünstige Elemak die Menschen an Bord dieses Schiffes beherrscht.
Hätten wir doch nur der Überseele widerstanden und die Kinder während der Reise schlafen lassen.
In ihrem Herzen tobte sie, machte der Überseele schwere Vorwürfe, dachte sich lange, boshafte und scharfe Reden aus, von denen sie wußte, sie würde sie niemals Elemak oder Mebbekew oder denen vortragen können, die sie unterstützten. Doch den anderen zeigte sie ein ruhiges, unbewegtes Gesicht. Zuversichtlich, furchtlos, nicht mal verärgert — so gab sie sich vor den anderen. Sie wußte, damit würde sie Elemak und seine Gefolgschaft stärker beunruhigen als auf jede andere Art und Weise. Daß sie nicht beunruhigt zu sein schien, würde die anderen beruhigen. So wenig dies auch war — mehr konnte Luet nicht tun.
Sie. Wir. Insgeheim dachte Luet von Elemaks Gefolgsmännern und ihren Familien als den ›Elemaki‹ — Elemaks Volk — und von denen, die während der Reise am Unterricht teilgenommen hatte, als den »Nafari«. Normalerweise dienten solche Endungen dazu, Nationen oder Stämme zu bezeichnen. Aber sind wir hier auf diesem Schiff nicht Stämme, ganz gleich, wie wenige wir auch sein mögen? fragte sie sich.
Elemak verlangte, daß die Nafari-Familien ihre Mahlzeiten gleichzeitig in der Bibliothek einnahmen. Danach brachten er oder Meb jede Familie in ihr enges Quartier zurück und verriegelte die Tür. Während sie unterwegs waren, hielten Vas und Obring Wache. Luet musterte sie während der Mahlzeiten in der Bibliothek eindringlich. Ihre Aufgaben schienen ihnen nicht ganz genehm zu sein, doch Luet konnte nicht sagen, ob es daran lag, daß sie sich schämten, oder ob sie lediglich nicht sehr zuversichtlich waren, sich in einer körperlichen Auseinandersetzung behaupten zu können.
Einige der Elemaki-Frauen unternahmen während der Mahlzeiten in der Bibliothek halbherzige Versuche, Gespräche zu führen, doch Luet zeigte durch keine Geste, keinen Gesichtsausdruck, geschweige denn durch ein einziges Wort, daß sie diese Frauen Kenntnis nahm. Sie gaben ihre Bemühungen wütend auf, besonders Kokor, Tante Rasas jüngere Tochter, die schnippisch sagte: »Du hast dir das sowieso alles selbst eingebrockt, weil du so vornehm getan hast, als man dich noch Wasserseherin genannt hat.« Da dies nicht das geringste mit dem derzeitigen Konflikt zu tun hatte, war Luet klar, daß Kokor nur ihren uralten Groll gegen sie zum Ausdruck brachte. Es fiel Luet schwer, nicht über Kokor zu lachen.
Luets Schweigen gegenüber den Elemaki-Frauen beruhte nicht auf Zorn. Ihr war völlig klar, daß sie nichts mit den Entscheidungen der Männer zu tun hatten, daß Mebs Frau Dol und Elemaks Frau Eiadh zutiefst entsetzt darüber waren, was ihre Männer taten. Doch Luet wußte auch, daß sie sich viel besser fühlen würden, würde sie zulassen, daß sie ihr ihr Mitgefühl zum Ausdruck brachten und die unsichtbare Grenze zwischen den Elemaki und den Nafari überschritten. Vielleicht würden sie sich richtig wohl fühlen, sogar edelmütig, weil sie Nafais in die Enge getriebener Frau ihre Freundschaft angeboten hatten. Luet aber wollte nicht, daß sie sich besser fühlten. Sie wollte, daß sie sich unbehaglich fühlten, so unwohl, daß sie anfingen, sich bei ihren Gatten zu beschweren, bis der Druck endlich so groß wurde, daß die anderen das Mißfallen und die Verachtung ihrer Frauen so sehr fürchteten, wie sie Elemak fürchteten, und Elemak selbst schließlich glauben mußte, daß sein Vorgehen ihn in seiner Familie mehr kostete, als er gewinnen konnte, wenn er jenem verdrehten Teil seiner Psyche folgte, der seinen Haß auf Nafai barg.
Natürlich bestand immer die Gefahr, daß zusätzlicher Druck von seiner Frau Elemak noch unversöhnlicher machte. Doch Luet stand lediglich die Möglichkeit offen, die Elemaki-Frauen zu schneiden, und diese Chance nahm sie wahr.
Ungewöhnlich war lediglich, wie Zdorab und Schedemei behandelt wurden. Auch sie wurden bewacht, genau wie Luet, Huschidh und Issib und Rasa und Volemak überall hin begleitet. Doch in der Bibliothek konnten sie sich ungehindert bewegen und unterhalten; man forderte sie und ihre Kinder sogar auf, sich zu den Elemaki zu setzen.
Dies führte Luet zu der unausweichlichen Schlußfolgerung, daß der Alarm, der alle Tiefschlafkammern geöffnet hatte, kein Zufall gewesen, sondern daß es Zdorab irgendwie gelungen war, nicht nur einen, sondern zwei Weckrufe einzugeben, und daß die Überseele den zweiten nicht gefunden hatte. Schedemei konnte nichts davon gewußt haben; und es war auch kaum damit zu rechnen, daß Zdorab selbst es gewußt hatte, denn hatte er sich nicht an ihren Plänen beteiligt und ihnen geholfen, die Kinder zu unterrichten? Waren sein Sohn und seine Tochter nicht mit den anderen Kindern aufgewachsen? Was für einen verdrehten Verstand mußte er haben, wenn er die Freundschaft der Nafari bereitwillig akzeptierte und doch die ganze Zeit über wußte, daß sein Weckruf Nafais Leben in Gefahr bringen und die gesamte Gemeinschaft schlimmer denn je spalten würde? Nein, sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. Zdorab konnte es nicht getan haben. Niemand konnte so doppelzüngig sein, so …
Und doch saß Zdorab — neben ihm sein Sohn Rokja — direkt gegenüber von Mebs Frau Dolja. Schedemei hingegen hielt sich von den anderen fern. Ihre Scham war fast spürbar. Sie ließ ihre Tochter Dabja nicht aus den Augen und sagte nur etwas, wenn sie angesprochen wurde. Sie sah niemanden an, schaute beim Essen auf den Teller und verließ den Raum dann so schnell wie möglich. Luet hätte liebend gern Chveja oder Huschidh gebeten, die Verhältnisse abzuschätzen und herauszufinden, wo Zdorabs Loyalität lag. Doch man hatte ihr verboten, mit Huschidh zu sprechen, und Chveja wurde ebenfalls von allen anderen abgesondert. Auch Ojkib wurde von den anderen Kindern ferngehalten; den beiden war es in der Tat gelungen, sich Elemaks besondere Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Am Abend des zweiten Tags klopfte es an der Tür von Luets Familienquartier, und als sie öffnete, stellte sie fest, daß es Zdorab war. Die Zwillinge schliefen; sie atmeten schnell, aber regelmäßig. Die anderen Kinder — Zhatva, Motiga und Izuchaja — schliefen nicht, lagen aber auf ihren Betten und ruhten sich aus, um so wenig Sauerstoff wie möglich zu verbrauchen. Man hatte ihnen allen befohlen, sich so zu verhalten, und da sie genau merkten, wie niedrig der Sauerstoffgehalt bereits war, kamen diesem Befehl Elemaks alle bereitwillig nach.
Luet betrachtete Zdorab wortlos und wartete darauf, daß er etwas sagte.
»Ich muß mit dir sprechen.«
Sie überlegte, ob sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen sollte. Aber dann hätte sie ein Urteil über ihn gefällt, ohne zu hören, was er zu sagen hatte. Also trat sie zur Seite und ließ ihn herein. Dann schaute sie in den Korridor hinaus und sah, daß Vas und Obring sie beobachteten. Es war also kein heimlicher Besuch. Es sei denn, zwei mutige Seelen hatten es tatsächlich gewagt, sich gegen Elemaks ausdrückliche Befehle zu verschwören.
Luet schloß die Tür.
»Ich war es«, sagte Zdorab. »Ich weiß, daß du es weißt, aber ich mußte es dir persönlich sagen. Elemak hat mir geraten, ich sollte sagen, ich hätte mein Weckprogramm nicht entfernen können, selbst wenn ich es gewollt hätte, aber das stimmt nicht. Und ich wollte es entfernen. Ganz am Schluß, als ich schlafen gelegt wurde, habe ich versucht, Schedja und Njef zuzurufen, sie sollten noch warten, meine Kammer öffnen, aber …«
Er sah, daß seine Worte keinerlei Wirkung auf sie erzielten. Er schaute zur Tür. »Ich konnte nicht vorhersehen, wie die Dinge sich entwickeln würden. Ich … dachte einfach, Elemak würde sich damit abfinden, vor vollendete Tatsachen gestellt zu sein. Ich dachte, vielleicht würde er sich eine Möglichkeit ausdenken, daß die anderen Kinder wenigstens in den Genuß von dreieinhalb Jahren Ausbildung kommen. So etwas in der Art. Eure Kinder hätten dann sechseinhalb Jahre gehabt, seine dreieinhalb. Ich habe nicht … die Gewalt, Nafai auf diese Art und Weise gefesselt, und jetzt die Lebenserhaltung … keine Luft mehr … kannst du die Überseele nicht dazu bringen, nachzugeben und die Hälfte von uns wieder schlafen zu lassen?«
Darum ging es also. Elemak und die anderen benutzten Zdorab, sie zu überreden, die Erweckten vor den Folgen ihrer eigenen Taten zu retten.
»Du kannst Elemak sagen, wenn er Nafai losgebunden und ihm die Kontrolle über das Schiff zurückgegeben hat, können er und seine Leute jederzeit wieder in ihre Tiefschlafkammern zurückkehren. Oder sollte ich sagen, er und deine Leute?«
Zu ihrer Überraschung schossen Zdorab Tränen in die Augen. »Ich habe keine ›Leute‹«, sagte er. »Ich habe vielleicht nicht mal mehr eine Frau. Oder Kinder.«
Also hatte Schedemei es nicht gewußt. Das war allerdings keine Überraschung.
»Ich habe nicht erwartet, daß du Mitleid für mich aufbringst«, sagte er, wischte sich über die Augen und riß sich zusammen. »Ich wollte dir nur sagen, hätte ich gewußt …«
»Hättest du was gewußt? Daß Elemak Nafai haßt? Daß er ihn tot sehen will? Wie konntest du diese kleine Einzelheit übersehen? Schließlich haben wir doch alle das Blut gesehen, mit dem Nafai nach Elemaks letztem kleinen Anschlag bedeckt war.«
Zorn blitzte in Zdorabs Augen auf. »Diesmal hatte Elemak keinen kleinen Anschlag geplant.«
»Nein, es war die Überseele«, sagte Luet. »Und du. Dir ist es sogar gelungen, auf beiden Seiten an den Verschwörungen mitzuwirken.« Dann dämmerte es ihr. »Ach, darum ging es gar nicht, stimmt’s?«
»Ich bin hier ein Außenseiter«, sagte er. »Schedja und ich sind mit niemandem verwandt.«
»Schedja ist eine von Tante Rasas Nichten.«
»Das ist keine Blutsverwandtschaft, das ist …«
»Viel mehr.«
»Aber ich bin nicht mit euch verwandt. Ganz gleich, was ich tue, meine Kinder werden in diesen Familienstreit zwischen Nafai und Elemak verwickelt. Ich bin nicht wie Volemak oder seine Söhne, ich bin körperlich nicht stark. Ich bin kein … kein großer Mann, jedenfalls nicht auf die Weise, wie ihr Männer einschätzt. Wie also kann ich meine Kinder schützen? Ich dachte mir, wenn ich sowohl zu Nafai als auch zu Elemak ein gutes Verhältnis hätte …«
»Das ist unmöglich«, sagte Luet. »Besonders jetzt, dank dir.«
»Ich habe getan, was ich als das Beste für meine Kinder hielt. Ich habe mich geirrt. Jetzt vertraut mir keine Seite, und auch meine Kinder werden dafür bezahlen. Ich habe mich geirrt, und ich versuche nicht zu verbergen, was ich getan habe oder wie schlimm es war. Aber ich habe nicht versucht, dich oder Nafai zu verraten. Ich habe getan, was ich als das Beste für meine Kinder hielt.«
»Na schön«, sagte Luet kalt. »Du hast mir dein Herz ausgeschüttet. Ich habe dich angehört, und sollte ich je wieder mit jemandem sprechen dürfen, von meinen Kindern mal abgesehen, werde ich allen erzählen, daß dein einziges Motiv deine altruistische Besorgnis um deine Kinder war.«
»Mebbekew hat mir gesagt, daß du eiskalt bist«, sagte Zdorab.
»Und wir wissen ja alle, was für ein guter Menschenkenner Meb ist.«
»Aber er irrt sich«, sagte Zdorab. »Du bist nicht eiskalt, du brennst geradezu.«
»Ich danke dir für diese einsichtsvollen Metaphern zur Beschreibung meines Charakters.«
»Vergiß nur eins nicht, Luet. Ich habe dir Unrecht getan. Das weiß ich, und ich stehe in deiner Schuld, tief und auf ewig. Ich bin von Natur aus nicht unehrenhaft. Ich habe gehandelt, wie Männer wie ich stets handeln mußten — um zu überleben, so, wie ich es für das Beste hielt. Irgendwann in der Zukunft wirst du meine Hilfe brauchen, ganz gleich, wie sehr du mich verachtest. Ich bin hier, um dir zu sagen, daß ich tun werde, was in meiner Macht steht, wenn Nafai oder du mich darum bittest.«
»Gut. Sag Elemak, er soll meinen Gatten losbinden.«
»Was in meiner Macht steht, habe ich gesagt. Ich habe ihn bereits gebeten, deinen Mann loszubinden. Kokor und Sevet haben es gefordert. Deine älteste Tochter hat ihm ins Gesicht gespuckt und ihn einen Eunuchen genannt, der ihm überlegene Menschen einsperren muß, damit er sich als echter Mann fühlen kann.«
Luet rang nach Atem. »Hat er sie geschlagen?«
»Ja«, sagte Zdorab. »Aber es geht ihr gut. Alle waren deshalb entrüstet, und er hat sich seitdem nicht mehr in ihre Nähe gewagt. Was es auch wert sein mag — ich glaube, sogar seine eigene Frau hat sich gegen ihn gestellt, als sie sah, wie er Chveja einfach so schlug.«
Genau das hatte Chveja zweifellos damit beabsichtigt. »Das war stets immer Eljas Problem«, sagte Luet. »Er hat schon immer versucht, Worte mit Taten zu beantworten. Das mag vielleicht den Sprecher zum Schweigen bringen, bestätigt aber nur den Wahrheitsgehalt seiner Worte.«
»Selbst du mit deinem unbeugsamen Schweigen — darüber unterhalten die Frauen sich die halbe Zeit«, sagte Zdorab. »Und auch Schedja beteiligt sich mittlerweile an deinem Redeboykott. Alle wollen, daß Elemak aufhört. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht. Was du tust, was Chveja und Ojkib getan haben, selbst Nafais stilles Ausharren — das alles ist eine Art von starrköpfigem und tapferem Widerstand, und alle, die auf Elemaks Seite stehen … schämen sich deshalb fürchterlich.«
Luet nickte ernst. Das hatte sie hören wollen. Die Tatsache, daß Zdorab gekommen war, um es ihr zu sagen, machte sie aber nicht zu Freunden.
»Ich habe in den letzten beiden Tagen echten Mut erlebt«, sagte Zdorab. »Ich selbst hatte ihn nie — nicht den Mut, der offen zutage tritt, selbst wenn man machtlos ist und den Starken herausfordert, sein Bestes zu geben. Chveja. Ojkib. Mein Leben wäre anders verlaufen, hätte ich jemals so gehandelt.« Dann lachte er verbittert auf. »Ja, wahrscheinlich wäre ich tot.«
Luet kam in den Sinn, daß sie fast nichts von Zdorab wußte, von seiner Erziehung. Er sprach, als hätte er sein ganzes Leben lang ohne Freunde und in Furcht verbracht. Warum?
Trotz allem mußte sie eingestehen, daß die Dinge von seiner Warte aus vielleicht ganz anders aussahen. Sie hatte keine Wahl — sie mußte alles tun, was in ihrer Macht stand, um Nafai und der Überseele zu helfen, sich gegen Elemak durchzusetzen. Denn sollten sie den Sieg nicht davontragen, blieb ihnen gar nichts mehr. Doch Zdorab konnte sich eine Zukunft vorstellen, in der Elemak gesiegt hatte. Und sollte dieser Fall eintreten — und das war durchaus vorstellbar —, war es für ihn moralisch ohne weiteres zu vertreten, sich in Elemaks Lager einen Platz für sich selbst und seine Kinder zu verschaffen.
Das Problem war, daß er letztlich vielleicht auf keiner Seite einen Platz fand. Und genau darauf steuerten die Dinge im Augenblick zu.
Als sie wieder das Wort ergriff, klang ihre Stimme nicht mehr so kalt. »Zdorab, was du gesagt hast, ist nicht auf taube Ohren gestoßen. Falls du dir Sorgen um die Zukunft machst, kann ich dir folgendes mit völliger Überzeugung sagen: Keiner von uns wird sich an dir rächen, und ganz bestimmt nicht an deinen Kindern. Sie haben ihren Platz bei uns nicht verloren, falls du möchtest, daß dies ihr Platz ist.«
»Elemak wird diese Auseinandersetzung verlieren«, sagte Zdorab. »Die Frage lautet nur, wie viele sterben werden, bevor er besiegt ist.«
»Keiner, hoffe ich«, erwiderte Luet.
»Ich will damit nur sagen, daß mich der reine Eigennutz hierher geführt haben könnte. Du hast keinen Grund, mir zu vertrauen. Ich habe euch alle getäuscht. Ich habe gedacht, ich wäre einer von euch, und ich habe euch verraten. Das werdet ihr niemals vergessen können. Ich kann es ganz bestimmt nicht. Aber auf eins könnt ihr euch verlassen: Sollten Nafai oder du mich je wieder brauchen, werde ich zur Stelle sein. Ganz egal, was geschieht. Selbst wenn ich bei dem Versuch sterbe, euch zu helfen.«
Luet gelang es mit knapper Not, eine verächtliche, spöttische Antwort zu unterdrücken.
»Ich tue das nicht für mich«, sagte Zdorab. »Eigentlich auch nicht für euch. Ich will nur … es ist die einzige Möglichkeit, wie ich meine Ehre in den Augen meiner Kinder wiederherstellen kann. Früher oder später werden alle wissen, was ich getan habe. Deshalb habe ich mir auch nicht die Mühe gemacht, dieses Gespräch vor deinen Kindern zu verbergen, die dort mit geschlossenen Augen wachliegen. Meine Kinder werden sich meiner schämen, auch, wenn niemand sie deshalb verspottet. Irgendwie, eines Tages, muß ich mich in ihren Augen als würdig erweisen. Das bedeutet für mich das Überleben. Ich dachte, es ginge nur darum, am Leben zu bleiben; aber das ist nicht der Fall. Niemand lebt ewig. Es kommt nur darauf an, wie man mich in Erinnerung behalten wird. Es geht darum, was meine Kinder von mir denken werden, nachdem ich tot bin. Das ist Überleben.« Er blickte Luet ruhig in die Augen. »Und wenn man eins von mir behaupten soll, dann das: Ich überlebe.«
Er erhob sich von der Bettkante, auf der er gesessen hatte. Luet öffnete die Tür, und er ging.
Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, sprach Zhatva leise in die Stille im Zimmer. »Ich bin froh, daß ich nicht in seinen Schuhen stecke.«
»Sei dir da nicht so sicher«, erwiderte Luet trocken. »Unsere Schuhe sind im Augenblick auch nicht besonders bequem.«
»Wäre ich doch nur so tapfer wie Veja«, sagte Zhatva.
»Nein, nein, Zhjat, denk nicht so was. Sie war in einer Lage, in der man mit Tapferkeit etwas erreichen konnte. Bei dir war das nicht der Fall. Sollte jemals die Zeit kommen, da du Mut brauchst, wirst du ihn haben. Genug Mut. Soviel, wie du brauchst.« In Gedanken fügte sie hinzu: Möge dieser Tag, an dem du Mut brauchst, niemals kommen. Doch schon, als sie dies dachte, wußte sie, daß der Tag kommen würde. Sie erschauderte.
Oh, Nafai, sagte sie stumm. Könntest du mich doch nur so hören, wie die Überseele mich hört. Wüßtest du doch nur, wie sehr ich dich liebe, wie sehr mich die Vorstellung schmerzt, was du durchmachst. Und ich kann nur eins für dich tun … mich um die Kinder zu kümmern, so gut es mir möglich ist, und auf die Überseele und die menschliche Natur vertrauen, daß sie ein Wunder wirken und dich befreien. Ich tue, was ich kann, doch es ist nicht genug. Was für ein Leben gibt es für mich noch, solltest du sterben? Selbst wenn den Kindern nichts geschieht, selbst wenn sie zu guten, starken, wunderbaren Erwachsenen heranwachsen, wird es nicht genügen, nicht, wenn ich dich verliere. Die Überseele mag uns als Figuren in ihrem Spiel zusammengebracht haben; aber das heißt nicht, daß die Verbindung zwischen uns deshalb schwächer sein muß. Sie ist stark, viel stärker als die Seile, mit denen sie dich gefesselt haben. Aber ohne dich an meiner Seite komme ich mir vor, als wäre ich gefesselt, in meiner Seele zusammengeschnürt und unfähig, mich zu bewegen, unfähig, auch nur zu atmen. Nafai.
Sein Name hallte durch ihren Verstand. Die Erinnerung an sein Gesicht versengte sie. Sie legte sich auf ihr Bett, bemüht, sich zu entspannen und den Schlaf herbeizuzwingen. Je weniger Sauerstoff ich atme, desto mehr wird er haben, desto mehr werden die Kinder haben. Ich muß schlafen. Ich muß ruhig sein.
Doch sie war nicht ruhig, und als sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, raste ihr Herz, und sie tat schnelle, kurze, scharfe Atemzüge, als würde sie mit einem übermächtigen Gegner kämpfen, der immer wieder auf sie einstach, während sie ihm kaum ausweichen konnte.
Bei der ersten Mahlzeit am dritten Tag war Elemak nicht in der Bibliothek. Wo er sich aufhielt, wagte niemand zu fragen. Eigentlich interessierte es auch niemanden. Wenn er fort war, blieb die Vorsicht; die echte Angst kam erst mit ihm zurück. Dies lag keineswegs daran, daß die anderen auf die Gutmütigkeit von Meb, Obring und Vas vertrauten. Meb schien Freude an kleinen Grausamkeiten zu haben, und Obring genoß allem Anschein nach seinen Status als ein Mann, der an der Macht beteiligt war. Doch alle wußten, daß jeder von ihnen Elemak auf der Stelle verraten würde, wäre er der Ansicht, einen Vorteil daraus ziehen zu können. Vas hingegen schien zu verabscheuen, was er tat; dennoch tat er es, und auf ihn verließ Elemak sich am meisten. Elemak konnte ihm eine Aufgabe geben und sich darauf verlassen, daß Vas sie einfallsreich und gut ausführte, selbst wenn er ihn dabei nicht im Auge behielt — was man von den beiden anderen Elemaki-Männern nicht unbedingt behaupten konnte.
Doch als Elemak an diesem Tag nicht anwesend war, wurde seine Autorität zum erstenmal offen herausgefordert. Volemak erhob sich, nachdem er Rasa angeschaut hatte, und wandte sich an die Gruppe.
»Meine Freunde und Familienangehörigen«, begann er.
»Setz dich und halt die Klappe«, sagte Mebbekew.
Volemak richtete einen Blick auf seinen zweiten Sohn — einen Blick, der so starr wie der einer Schlange war — und fuhr fort: »Versuche ruhig, mich zum Schweigen zu bringen. Doch wenn du keine körperliche Gewalt einsetzt, werde ich sagen, was ich zu sagen habe.«
Meb machte einen Schritt auf seinen Vater zu. Obwohl sie in keiner Hinsicht dazu aufgefordert worden waren, erhoben sich augenblicklich Volemaks jüngster Sohn Yasai, Issibs ältester Sohn Zaxodh und Nafais Ältester, Zhatva. Sie befanden sich nicht in Volemaks Nähe, doch die Drohung war eindeutig.
Meb lachte. »Glaubt ihr etwa, ich hätte vor euch Kindern Angst?«
»Vielleicht solltest du vorsichtig sein«, sagte Rasa. »Sie leben seit sechs Jahren in niedriger Schwerkraft, während du noch etwas unsicher auf den Füßen zu sein scheinst.«
»Komm her, Obring«, sagte Meb.
Obring trat einen Schritt auf Volemak zu. Nun erhoben sich Nafais zweiter Sohn Motiga und Zdorabs Sohn Padarok. Nach einem Augenblick tat Zdorab es ihnen gleich.
»Vas«, sagte Meb, »du kannst zwar so tun, als ginge dich das alles nichts an, aber für mich sieht das wie eine Revolte aus.«
Vas nickte. »Obring, hole Elemak.«
»Wir werden selbst damit fertig!« fauchte Meb.
»Das sehe ich. Wir machen uns wirklich gut.«
Obring schaute von Vas zu Meb, drehte sich dann um und verließ die Bibliothek.
»Dieser ganze Disput ist überflüssig«, sagte Volemak. »Mich hat die Überseele in die Wüste gerufen, und ich bin der Anführer dieser Expedition. Es stimmt, daß ich in der Wüste die Durchführung der täglichen Aufgaben an Elemak delegiert habe, aber das war nie mehr als eine befristete Regelung, mit der ich meine Anerkennung für seine Fertigkeiten und Erfahrung zum Ausdruck gebracht habe. Ebenso habe ich während der Reise das Kommando über das Schiff an Nafai übertragen, weil die Überseele ihm den Mantel des Herrn der Sterne gegeben hat. Aber es bleibt die Tatsache bestehen, daß ich der einzige rechtmäßige Anführer dieser Gruppe bin. Und wenn wir auf der Erde eintreffen, werde ich diese Amtsgewalt an keinen anderen übertragen. Solange ich lebe, werden weder Elemak noch Nafai den Befehl haben.«
»Und wie lange wirst du leben, alter Mann?« fragte Meb.
»Länger, als dir lieb ist, du verachtenswerte Schnecke«, sagte Volemak nachsichtig. »Es ist für jeden offensichtlich, daß Elemak nicht mehr bei Sinnen ist. Aufgrund der Androhung von Gewalt und der Hilfe dreier willensschwacher Schläger« — er sah Vas in die Augen — »und weil Nafai sich unterworfen hat, um das Leben seiner kleinen Kinder zu retten, scheint Elemaks Meuterei im Augenblick die Oberhand gewonnen zu haben. Doch wir alle sind uns darüber im klaren, daß Elemak sich irgendwann unausweichlich der Wirklichkeit stellen muß — das Schiff kann nicht uns alle wach halten, und die Überseele erlaubt ihm nicht, irgend jemanden in den Tiefschlaf zu versetzen, solange Nafai gefesselt bleibt. Daher verlange ich jetzt von jedem von euch den feierlichen Eid, daß ihr euch meiner Autorität unterwerft, und keiner anderen, nachdem diese Krise beendet ist. Solange ich lebe, wird es keine Wahl zwischen Nafai und Elemak geben, sondern lediglich Gehorsam für mich, wie wir es vor Antritt der Reise vereinbart haben. Ich fordere euch alle auf, Männer wie Frauen, diesen Eid zu leisten. Wer schwören will, sich nach dieser Krise nur meiner Autorität zu unterwerfen, möge sich erheben und ja sagen.«
Augenblicklich brachten alle Männer, die bereits standen, laut ihr Einverständnis zum Ausdruck, von Vas und Mebbekew einmal abgesehen. Rasa, Huschidh, Luet und Schedemei erhoben sich ebenfalls sofort, und die jüngeren Frauen, die von ihnen unterrichtet worden waren, taten es ihnen gleich. Ihre höheren Stimmen bildeten ein Echo des Einverständnisses der Männer. Dann erhob auch Issib sich langsam und sagte ja.
»Ich gehe davon aus«, fuhr Volemak fort, »daß sich Ojkib und Chveja ebenfalls diesem Eid angeschlossen hätten, würde man sie nicht von uns abgesondert halten. Daher werde ich auch sie zu den gesetzestreuen Angehörigen meiner Gemeinschaft zählen. Sobald Nafai freigelassen wird, werde ich auch ihn auffordern, diesen Eid zu leisten. Gibt es hier jemanden, der bezweifelt, daß er sich dazu bereit erklären wird? Und daß er sich an diesen Eid halten wird, nachdem er ihn abgelegt hat?«
Niemand sagte etwas.
»Bedenkt bitte, daß ich euch auffordere, meine Autorität zu akzeptieren, nachdem die derzeitige Krise beigelegt worden ist. Ich verlange nicht von euch, daß ihr euch in Gefahr bringt, indem ihr euch Elemak zu diesem Zeitpunkt widersetzt. Aber wenn ihr diesen Eid jetzt nicht ablegt, werdet ihr keine Bürger der Kolonie sein, die ich auf der Erde gründen werde. Ihr könnt euch natürlich später um die Bürgerschaft bewerben, und dann werde ich darüber abstimmen lassen, ob ihr aufgenommen werdet oder nicht. Doch wenn ihr den Eid jetzt ablegt, werdet ihr von Anfang an Bürger sein.«
Zur allgemeinen Überraschung ergriff Vas das Wort. »Ich werde diesen Eid leisten«, sagte er. »Wenn diese Krise ausgestanden ist, wird deine Autorität die einzige sein, die ich akzeptiere, solange du lebst. Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dein Leben so lange wie möglich zu erhalten.«
Nachdem Vas gesprochen hatte, erhoben sich seine Frau Sevet und ihre drei jungen Kinder. »Auch ich leiste den Eid«, sagte sie, und die Kinder wiederholten ihre Worte.
Diejenigen, die sitzen geblieben waren, fühlten sich nun offensichtlich in die Enge gedrängt.
»Elemak wird nicht sehr glücklich darüber sein«, sagte Meb zu Vas.
»Elemak ist dieser Tage sowieso nicht glücklich«, sagte Vas. »Ich will nur Frieden und Gerechtigkeit.«
»Du weißt, daß mein Vater an Nafais kleiner Verschwörung beteiligt war«, sagte Meb. »Er ist wohl kaum unvoreingenommen.«
»Ich weiß, einige von euch sind unglücklich darüber, daß während der Reise einige Kinder wach blieben, um ausgebildet zu werden«, sagte Volemak. »Leider hat Elemak uns nicht erlaubt, unser Vorgehen zu erklären. Jeder einzelne von uns, dessen Kind unterrichtet wurde, ist von der Überseele dazu gedrängt worden. Nafai wollte es zuerst nicht zulassen. Wir haben ihm zugesetzt, bis er sich einverstanden erklärte. Diese Kinder wurden von der Überseele ausgewählt, und sie und wir haben freiwillig mitgemacht. Das Ergebnis hat seine Vorzüge. Statt nur eine Handvoll Erwachsene und viele unproduktive Kinder zu haben, haben wir die jüngere Generation geteilt, so daß nun über viele Generationen hinweg ständig junge Leute erwachsen werden, und nicht immer alle gleichzeitig. Die Nachteile, die ihr jetzt zu sehen glaubt, werden nicht mehr vorhanden sein, sobald ihr erkennt, daß ihr mehr Lebensjahre auf der Erde haben werdet als die, die während der Reise wach geblieben sind.«
Dol erhob sich und winkte ihren Kindern, es ihr gleichzutun.
»Setz dich, du treuloses Miststück!« brüllte Mebbekew.
»Meine Kinder und ich werden Bürger deiner Kolonie sein«, sagte Dol. »Wir leisten den Eid.«
Mebbekew stürmte auf sie zu. Vas trat zwischen ihn und seine Frau und streckte eine Hand aus, um Meb zurückzuhalten. »Das ist keine gute Zeit für Gewalt«, sagte Vas. »Ich glaube, sie ist eine freie Bürgerin und hat das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen.«
Mebbekew stieß Vas’ Hand von seiner Brust zurück. »Nichts davon wird irgend etwas zu bedeuten haben, sobald Elemak wieder da ist!«
Nur einen Meter von ihm entfernt erhob Eiadh sich. Augenblicklich zerrte ihr ältester Sohn Protschnu an ihrem Ärmel, um sie zurückzuziehen. »Nach der Krise werde ich mich deiner Autorität unterwerfen, Volemak«, sagte Eiadh.
Protschnu drehte sich zu den anderen Kindern um. »Wagt es ja nicht, den Eid zu leisten!« brüllte er sie an. Die Kinder fürchteten sich offensichtlich vor seinem Zorn.
»Ich erkenne an, daß deine jüngeren Kinder eingeschüchtert werden und den Eid deshalb nicht leisten«, sagte Volemak. »Sie bekommen also Gelegenheit, ihn zu einem späteren Zeitpunkt freiwillig abzulegen.«
»Sie werden ihn niemals ablegen!« rief Protschnu. »Bin ich meinem Vater hier als einziger treu? Er sollte uns führen!«
Kokor stand auf, und ihre Kinder mit ihr. »Wir werden auch Bürger sein«, sagte sie. »Nach der Krise.«
»Das werdet ihr, wenn ihr den Eid leistet«, sagte Volemak.
»Ja, das wollte ich damit natürlich sagen«, erwiderte sie. »Wir leisten den Eid.«
Ihre Kinder nickten oder murmelten ihre Zustimmung.
An der Schwelle ergriff Elemak leise das Wort. »Na gut«, sagte er. »Jeder hat seine Wahl getroffen. Jetzt setzt euch wieder.«
Augenblicklich befolgte Kokor den Befehl und drängte ihre Kinder, es ihr gleichzutun. Nacheinander setzten sich auch die anderen, abgesehen von Volemak, Rasa und Eiadh, die sich zu ihrem Gatten umdrehte. »Es ist vorbei, Elja«, sagte sie. »Siehst allein du nicht ein, daß du nicht mehr gewinnen kannst?«
»Ich sehe nur«, sagte Elemak, »daß ich Nafai nicht erlauben werde, je wieder über mich oder irgendeinen anderen zu herrschen.«
»Selbst wenn das zur Folge hat, daß deine eigenen Kinder ersticken werden?«
»Wenn Nafais kleiner Computer unbedingt die schwächsten von uns töten will, kann ich ihn nicht daran hindern. Aber ich töte niemanden.«
»Mit anderen Worten, dir ist es gleichgültig«, sagte Eiadh. »Für mich ist das der letzte Beweis, daß du nicht dafür geeignet bist, diese Kolonie zu beherrschen. Dein Stolz ist dir wichtiger als das Überleben unserer Kinder.«
»Das reicht«, sagte Elemak. »Mehr höre ich mir von dir nicht an.«
»Nein«, sagte Eiadh. »Mehr höre ich mir von dir nicht an. Bis du mit diesem kindischen Spiel aufhörst, unbedingt deine männliche Härte zur Schau stellen zu wollen, bist du nicht mehr mein Gatte.«
»Oh, du willst den Vertrag nicht erneuern?« sagte Elemak und lächelte häßlich. »Was hältst du denn davon, Proja?«
Sein ältester Sohn, Protschnu, ging zu seinem Vater. »Ich glaube, ich habe keine Mutter mehr«, sagte er.
»Wie passend«, sagte Elemak, »denn ich habe keinen Vater und keine Frau. Habe ich auch keine Freunde mehr?«
»Ich bin dein Freund«, sagte Obring.
»Ich stehe auf deiner Seite«, sagte Meb. »Aber Vas hat den Eid geleistet.«
»Vas leistet jeden Eid, um den du ihn bittest«, sagte Elemak. »Aber sein Wort war schon immer wertlos. Das wissen alle.«
Sevet lachte. »Sieh dir deine Freunde an, du armer Mann«, sagte sie. »Ein verleiteter Achtjähriger. Und wen noch? Meb! Obring! In Basilika waren beide wertlos.«
»Das hast du nicht gesagt, als du mich in dein Bett eingeladen hast!« schrie Obring sie an.
»Das hatte nichts mit dir zu tun«, sagte Sevet verächtlich. »Das war eine Sache zwischen mir und meiner Schwester, und glaube mir, ich habe für diesen Fehler teuer bezahlt. Vas weiß, daß ich ihm seitdem treu gewesen bin, sowohl in meinem Herzen als auch mit meinen Taten.«
Die Kinder, die alt genug waren, um zu verstehen, was hier enthüllt wurde, würden später über einen gewaltigen Familienskandal sprechen können. Obring und Sevet hatten eine Affäre gehabt? Und wie hatte Sevet dafür bezahlt? Und was meinte sie damit, daß es um sie und Kokor gegangen war?
»Genug«, sagte Elemak. »Der alte Mann hat sein kleines Spiel aufgezogen, aber ihr werdet feststellen, daß er jetzt nicht den Mut hat, euch aufzufordern, euch gegen mich zu stellen. Er herrscht lediglich in irgendeiner eingebildeten Zukunft über euch. Er weiß genau, wie ihr alle, daß ich jetzt über euch herrsche. Und glaubt mir, ihr werdet nie eine Zukunft erleben, in der das nicht der Fall sein wird.« Er wandte sich an Obring. »Bleib hier und sorge dafür, daß niemand die Bibliothek verläßt.«
Obring grinste Vas an. »Ich glaube, du wirst mir keine Befehle mehr erteilen.«
»Vas ist noch immer eine Wache«, sagte Elemak. »Ich vertraue ihm nicht, aber er wird tun, was man ihm sagt. Und jetzt wird er tun, was du ihm sagst, Obring. Nicht wahr, Vas?«
»Ja«, erwiderte Vas ruhig. »Ich werde tun, was man mir sagt. Aber ich werde auch alle meine Eide halten.«
»Ja, ja, ein ehrenwerter Mann und so weiter«, sagte Elemak. »Und jetzt komm, Meb. Bringen wir Vater und seine Frau zu Nafai. Und wenn wir schon dabei sind, können wir auch die Frau mitnehmen, die behauptet, daß sie nicht mehr meine Gattin ist.«
»Was habt ihr vor?« fragte Rasa verächtlich. »Wollt ihr uns so fesseln, wie ihr Nafai gefesselt habt?«
»Natürlich nicht«, sagte Elemak. »Ich behandle alte Leute mit Respekt. Aber für jeden, der deinen kleinen Eid geleistet hat, Vater, wird Nafai einen Schlag bekommen. Und ihr werdet zuschauen.«
Volemak funkelte Elemak an. »Ich wünschte, man hätte mich kastriert oder getötet, bevor ich dich zeugen konnte.«
»Was für ein trauriger Gedanke«, sagte Elemak. »Dann hättest du nie deinen kostbaren Nafai gezeugt. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, frage ich mich, ob dazu überhaupt der Samen eines Mannes nötig war. Er ist doch nichts weiter als ein kleines Muttertöchterchen.«
Einen Augenblick später stießen Elemak und Mebbekew Volemak und Eiadh die Leiter hinab und durch den Gang zum Lagerraum, in dem Nafai lag. Rasa folgte ihnen hilflos.
Nafai schlief nicht richtig; er hatte in den letzten paar Tagen schon nicht mehr richtig geschlafen. Oder falls er doch geschlafen haben sollte, kam es ihm vor, als wäre er wach gewesen, so lebhaft waren die Träume. Manchmal brachten sie seine schlimmsten Befürchtungen zum Ausdruck, Träume von den Zwillingen, die nach Luft rangen, bis sie schließlich ganz zu atmen aufhörten, die Augen geöffnet, die Münder weit aufgerissen. Im Traum versuchte Nafai immer wieder, ihre Augen und Münder zu schließen, doch jedesmal, wenn er die Hand wegnahm, öffneten sie sich wieder. Aus diesen Träumen erwachte er selbst nach Luft ringend.
Manchmal jedoch träumte er von anderen Zeiten, von besseren Zeiten. Er erinnerte sich, wie er morgens im Haus seines Vaters aufgestanden, hinaus zur Dusche gelaufen war und das kalte Wasser aufgedreht hatte. Damals hatte er es nicht ausstehen können, doch jetzt erinnerte er sich mit Wohlgefallen daran. Eine unschuldige Zeit, in der das Schlimmste, was einem passieren konnte, der Schock des eiskalten Wassers auf Kopf und Rücken war, und in der das Schlimmste, das man tun konnte, altkluge Bemerkungen waren, die man solange von sich gab, bis die anderen zu lachen aufhörten und einem eine Abreibung verpaßten. Aber jetzt lachten sie überhaupt nicht mehr, jetzt verziehen sie nichts mehr, und das kalte Wasser war gar nichts; es wäre das reinste Vergnügen, es noch einmal zu spüren. Wie hatte ich in jenen Tagen wissen können, fragte er sich, wenn er aus solchen Träumen aufwachte, in denen er sich erinnerte, wie hatte ich damals wissen können, daß Elemaks Verärgerung sich in solchen Haß verwandelt? Daß uns so schlimme Tage bevorstehen? Ich habe klugscheißerische Scherze gerissen, weil ich Elemaks Aufmerksamkeit erregen wollte, das war alles. Er war wie ein Gott, so stark, und Vater hat ihn so sehr geliebt. Ich wollte nur, daß er mich bemerkt, daß er mir sagt, daß er mich gern hat, daß er annahm, ich würde eines Tages mit ihm in einer Karawane in ein fernes Land reiten und mit exotischen Pflanzen nach Hause kommen, die Vater dann verkaufen würde. Ich wollte nur, daß er mich respektiert, den Arm um meine Schulter legt und sagt: Das ist mein Bruder, seht euch meinen Bruder an, ich kann mich auf ihn verlassen, er ist meine rechte Hand.
Wer sonst hätte dein Bruder sein können, Elemak? Meb? Hättest du ihn gewählt? War ich für dich so verabscheuungswürdig, daß du ihn mir vorgezogen hast?
›Er hat Meb vorgezogen, weil er Mebbekew beherrschen konnte. Er hat dich gehaßt, weil du stärker warst als er.‹
Ja, mit dem Mantel des Herrn der Sterne bin ich stärker.
›Du weißt, daß du ihn jederzeit niederschlagen kannst.‹
Nein, das kann ich nicht. Der Mantel kann es. Du kannst es. Aber ich nicht. Ich liege hier gefesselt, und meine Handgelenke und Knöchel schmerzen.
›Es ist deine Entscheidung, sie nicht zu heilen. Du weißt, daß der Mantel es sofort könnte.‹
Er will, daß ich Schmerzen habe. Wenn er sieht, daß meine Haut aufgescheuert ist und blutet, wird er vielleicht zufrieden sein.
›Nur dein Tod wird ihn zufriedenstellen.‹
Dann werde ich eben sterben.
›Ich werde dich nicht sterben lassen. Sobald du bewußtlos bist, kontrolliere ich den Mantel wieder, und ich werde dich heilen.‹
Bleib von mir weg, wenn ich schlafe. Ich will jetzt keinen deiner Träume, und ganz bestimmt nicht deine Einmischung.
›Magst du den Schmerz?‹
Ich verabscheue den Schmerz, wissen zu müssen, daß mein Bruder mich haßt. Und ich weiß, daß ich es diesmal vielleicht verdient habe.
›Du hast nie zu leiden verdient, wenn du mir hilfst.‹
Ach, und ich dachte, du würdest mir helfen, indem wir die Kinder wach halten.
›Ich habe dir geholfen, damit du mir helfen konntest. Tu nicht so dumm und treibe keine kindischen Streitgespräche mit mir.‹
Sprichst du wirklich mit mir? Oder träume ich das auch?
›Ja. Und ja.‹
Und warum kann ich nicht aufwachen, wenn das ein Traum ist?
Kaum hatte Nafai diesen Gedanken in seinem Verstand gesprochen, als er erwachte. Oder besser gesagt träumte, daß er erwachte; denn er wußte sofort, daß er noch immer schlief, vielleicht sogar tiefer als zuvor. Und während er in seinem Schlaf dachte, er sei wach, spürte er, wie die Schnüre von seinen Händen schmolzen und erhob sich. Die Tür öffnete sich bei seiner Berührung. Er ging die Korridore entlang und sah hier und dort Menschen, die mit offenen Mündern keuchend dalagen, und keiner bemerkte ihn, als wäre er unsichtbar. Ah, dachte er. Jetzt verstehe ich. Ich bin tot, und mein Geist geht den Korridor entlang. Dann aber wurde ihm in seinem Traum klar, daß seine Handgelenke und Knöchel schmerzten und er Schwierigkeiten hatte, geradeaus zu gehen, selbst in der niedrigen Schwerkraft. Also war er doch nicht tot.
Er erreichte die Leiter und stieg sie hinauf, immer höher, zur höchsten Ebene des Raumschiffs, in der das Abschirmfeld erzeugt wurde. Doch nun hörte die Leiter nicht auf. Sie führte immer weiter hinauf, und über die nächste Öffnung erreichte er nicht den glatten Plastikboden eines der Raumschiffdecks, sondern einen Steinboden. Er trat darauf und spürte sein volles Körpergewicht, und seine Schritte bereiteten ihm Schmerzen, weil die Schwerkraft wieder normal war. Es war dunkel, eine Höhle. Hier und da hörte er Schritte, aber sie näherten sich ihm nicht. Allerdings entfernten sie sich auch nicht. Nur hastige Schritte, und er ging weiter und blieb dann stehen, und wieder erklangen hastige Schritte. Schon in Ordnung, dachte er. Folgt mir, ich habe keine Angst vor euch. Ich weiß, daß ihr da seid, aber ich weiß auch, daß ihr mir nichts tun werdet.
Er gelangte zu einem Gang und sah, daß in einer kleinen Nebenkammer der Höhle Licht brannte. Er ging dorthin, betrat den Raum und sah Dutzende von Statuen, wunderbar aus Ton geformt. Sie standen auf allen Felsvorsprüngen und überall auf dem Boden. Doch als er genauer hinschaute, sah er, daß alle Statuen beschädigt waren; sie waren hier und da so stark geglättet, daß man keine Einzelheiten mehr ausmachen konnte. Wer würde so wunderbare Arbeiten unkenntlich machen? Unkenntlich machen und doch hier stehen lassen, als handele es sich um eine geheime Schatzkammer?
Dann endlich bemerkte er eine Statue, die ganz oben und weit entfernt vom Licht stand, eine Statue, die größer als die anderen und nicht unkenntlich gemacht war. Doch nicht die Perfektion der Feinarbeiten war der Grund dafür, daß er sie entgeistert anstarrte. Es war das Gesicht selbst. Denn im Gegensatz zu den anderen Statuen, die allesamt Tiere oder Ungeheuer darstellten, handelte es sich bei ihr um den Kopf eines Menschen. Und er kannte das Gesicht. Wie konnte es auch anders sein? Seitdem er zum Mann geworden war, hatte er es in jedem Spiegel gesehen.
Nun kamen die Schritte näher, nicht mehr hastend, sondern langsam, respektvoll. Er spürte, daß eine kleine Hand ihn am Schenkel berührte. Er sah nicht hin; das war nicht nötig. Er wußte, wer es war.
Allerdings wußte er es nur in dem Traum. In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Ahnung, wer es sein konnte, und er versuchte, sein Traum-Ich dazu zu bringen, sich zu drehen und hinunterzuschauen und festzustellen, wer oder was ihn berührt hatte. Aber er konnte den Kopf nicht senken; er konnte sich nicht zur Seite drehen. In Wirklichkeit lag er zurückgezogen auf dem Boden, und um seinen Hals lagen zwei Seile, und er hörte Schritte, sehr laute Schritte, keine schnellen, hastenden, sondern langsame, bedächtige, und ein Licht flammte auf und blendete ihn.
Er blinzelte; dann schlug er die Augen auf. Jetzt war er wirklich wach und träumte nicht nur, wach zu sein.
»Zeit für meinen Spaziergang?« fragte er.
Ein schnelles Pfeifen, dann ein scharfer Schmerz in seinem Arm. Obwohl er es nicht wollte, schrie er auf.
»Das ist der erste«, sagte Elemaks Stimme. »Sag mir, Rasa, wieviele hast du gezählt? Wieviele haben den Eid geleistet?«
»Mach deine schmutzige Arbeit selbst«, sagte Mutters Stimme.
»Könnten es Hunderte gewesen sein?« Erneut das pfeifende Geräusch. Erneut der entsetzliche Schmerz, diesmal in den Rippen seines Rückens. Eine von ihnen brach; als er einatmete, spürte er, wie der Knochen in sein Fleisch stach. Und doch konnte er nicht aufhören zu atmen; er mußte nach Luft ringen, weil er nicht mehr genug Sauerstoff bekam; er konnte nicht mehr tief genug einatmen, um bei Bewußtsein zu bleiben.
›Heile dich.‹
»Nenne mir die Gesamtsumme, oder ich rechne diese Schläge nicht auf die Gesamtsumme an«, sagte Elemak.
»Zähl doch selbst«, sagte Rasa. »Es waren alle außer Protschnu, Obring und Mebbekew. Alle, Elemak. Denk darüber nach.«
»Er heilt sich nicht«, sagte Luet.
Nafai hörte ihre Stimme und fühlte, wie Zorn auf Elemak in ihm aufbrandete. Hielt sein Bruder sie für so schwach, daß er glaubte, ihr Geist würde zerbrechen, wenn sie erlebte, daß ihr Gatte Schmerz erleiden mußte? Was wollte Elemak damit überhaupt erreichen? Er mußte die Überseele überzeugen — oder sich ihr ergeben. Aber irgend etwas war passiert. Ein Eid.
»Das ist mir aufgefallen«, sagte Elemak. »Seine Handgelenke und Knöchel scheinen nicht besser zu werden. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, daß der Mantel im Augenblick nicht funktioniert oder er sich absichtlich nicht heilt, um noch jämmerlicher zu wirken, damit er mit leid tut und ich seine Fesseln löse, woraufhin er sich dann befreien und mich umbringen würde.«
Das pfeifende Geräusch. Ein weiterer Schlag, diesmal auf seinen Nacken. Nafai keuchte, als der Schmerz sein Rückgrat hinauf und wieder hinab schoß; für einen Augenblick war er vom Hals abwärts taub, und er dachte: Er hat mir das Genick gebrochen.
›Ein betäubender Schlag, mehr nicht. Ein paar Nervenschäden.‹
Warum tötet er mich nicht einfach?
›Weil ich noch einen gewissen Einfluß auf ihn habe. Genug, um ihn abzulenken, wenn er daran denkt, dich endgültig zu erledigen.‹
Dann hör auf damit. Soll er mich doch töten. Dann hat er seinen Sieg, und es wird Frieden herrschen, und alle werden besser dran sein.
›Elemak weiß es nicht, aber dich zu töten wäre das Schlimmste, was er je tun könnte. Denn dann wäre er nie imstande, dich zu besiegen.‹
Was denn? Tot ist nicht besiegt?
›Er will, daß sein Vater sagt: Du, Elemak. Ich wähle dich. Und wenn du tot bist, Nafai, kann Volemak nie mehr zwischen euch wählen. Dann wird er immer die zweite Wahl sein.‹
Wenn du irgendwelchen Anstand hast, befiehlst du Volemak, die Zauberworte zu sagen und alldem ein Ende zu machen.
›Das ist ja das Problem, Nafai. Selbst wenn Volemak es sagte, würde Elemak es nicht glauben. Denn er weiß, daß es nicht stimmt. Er weiß, daß er nicht so gut oder anständig oder klug oder stark bist wie du. Selbst wenn sein Vater sagen würde: Elemak, ich wähle dich, wüßte er, daß es gelogen wäre, denn er weiß auch, daß Volemak niemals so töricht wäre, ihm dich vorzuziehen.‹
Ich bin zu müde, um über den Sinn deiner Worte nachzudenken. Verschwinde und laß mich sterben.
›Er hat mit diesem letzten Schlag sehr ernste Schäden bei dir verursacht.‹
Mit dem gegen meinen Nacken?
›Das war vor drei Schlägen. Du hast jetzt innere Blutungen.‹
O ja. Das spüre ich.
›Ich werde dich heilen.‹
Tu das nicht.
›Bevor der Blutverlust innere Schäden verursacht.‹
Heile mich nicht, bevor er den Raum verlassen hat. Gestehe mir wenigstens soviel Würde zu.
›Würde? Du wärest bereit, um der Würde willen zu sterben?‹
Es ist eine Sache zwischen ihm und mir. Ich will nicht, daß er sieht, wie du zu meinen Gunsten eingreifst.
›Dein Stolz ist unglaublich. Zwischen ihm und dir? Es ist eine Sache zwischen ihm und mir, war es schon immer. Genau, wie es eine Sache zwischen mir und Muuzh war. Und zwischen dir und mir. Und zwischen Luet und mir. Und wenn wir die Erde erreicht haben, wird es eine Sache zwischen euch allen und dem Hüter sein.‹
Das tut wirklich weh.
›Ich heile dich, deshalb.‹
Ich habe dir doch gesagt, du sollst es nicht tun.
›So ein Pech.‹
»Seht doch«, sagte Elemak. »Sein Bein wird wieder gerade. Wahrscheinlich haben wir soeben herausgefunden, wieviel Schmerz er ertragen kann, und jetzt hat er seinen unsichtbaren Freund geholt, damit der ihn rettet.«
»Ich schaue hin«, sagte Volemak kalt. »Ich sehe einen Feigling, der einen anderen Mann mit einer Eisenstange schlägt.«
Elemaks Stimme hob sich zu einem Schrei. »Ich — ein Feigling? Ich bin nicht derjenige mit dem Mantel! Ich bin nicht derjenige, der sich durch Zauberei heilen kann, wenn ich mir den großen Zeh anstoße! Ich bin nicht derjenige mit der Macht, anderen Leuten Stromstöße zu versetzen, wann immer ich sie in die Knie zwingen will!«
»Nicht die Macht, die man hat, macht einen zu einem Feigling oder zu einem Schläger«, sagte Volemak. »Es liegt daran, wie man sie einsetzt. Glaubst du, es nimmt dem Mantel irgend etwas von seiner Macht, daß er dort gefesselt liegt? So schlimm du ihn auch behandelst, so schlimm du uns alle auch behandelst … Nafai hat sich entschlossen, dich nicht einfach an Ort und Stelle zu töten.«
»Dann tu es, Nafai«, sagte Elemak leise. »Wenn du die Macht hast, mich zu töten … töte mich. Du hast schon einmal getötet. Einen Betrunkenen, der bewußtlos in der Gosse lag, glaube ich. Das ist deine Spezialität: Leute zu töten, die sich nicht wehren können. Aber Vater hält mich für den brutalen Schläger. Wie kann es denn brutal sein, einem Mann die Knochen zu brechen, der sich sofort wieder heilen kann? He, ich könnte dir den Schädel brechen, und …«
Der Wutschrei einer Frau und das Geräusch einer Rauferei erklangen. Dann wurde jemand gegen eine Wand gestoßen; eine Frau schrie. Nafai versuchte, die Augen zu öffnen. Er konnte jedoch nur die Wand sehen, gegen die er gedrückt wurde. »Luet«, flüsterte er.
»Luet kann sich nicht selbst heilen, oder?« sagte Elemak. »Daran sollte sie sich erinnern, bevor sie mich angreift.«
»Alles, was du tust«, sagte Nafai, »verbraucht den Sauerstoff, den deine Kinder zum Atmen benötigen.«
»Du kannst es jederzeit beenden, Njef«, sagte Elemak. »Du mußt nur sterben.«
»Und was dann?« fragte Volemak. »Dann wirst du den nächsten hassen, der besser ist als du, und zwar aus demselben Grund. Weil er besser ist als du. Und wenn du ihn getötet hast, wirst du wieder einen finden, der besser ist als du. So wird es ewig weitergehen, Elemak. Denn jeder Akt der brutalen Grausamkeit macht dich kleiner, bis du schließlich jedes menschliche Wesen und jedes Tier töten mußt. Und selbst dann wirst du dich mit solcher Verachtung betrachten, daß du sie nicht ertragen kannst …«
Die Stange knallte mitten in Nafais Gesicht. Er fühlte, wie sie sämtliche Knochen auf der Vorderseite seines Kopfes zerschmetterte. Dann wurde alles schwarz.
Ein Augenblick später? Es hätte sein können; es hätten aber auch Stunden oder Tage sein können. Er war wieder bei Bewußtsein, und sein Gesicht war nicht zertrümmert. Nafai fragte sich, ob er allein war. Fragte sich, was mit Vater und Mutter geschehen war. Mit Luet. Mit Elemak.
Jemand war im Raum. Jemand atmete.
»Um so besser«, sagte die Stimme. Ein Flüstern. Schwer zu erkennen. Nein, ganz leicht. Elemak. »Die Überseele gewinnt erneut.«
Dann ging das Licht wieder aus, die Tür wurde geschlossen, und er war allein.
Eiadh sang den kleinen Kindern, Yista und Manja und Zhivja, leise etwas vor, als Protschnu zu ihr kam. Sie hörte, wie er das Zimmer betrat. Die Tür glitt auf und hinter ihm wieder zu. Sie sang weiter.
Wenn das Licht dann wiederkommt
Erinnre ich mich, wie man sieht?
Erkenne ich Mutters Gesicht?
Und erkennt sie mein Lied?
Wenn das Licht dann wiederkommt
Haben nichts zu fürchten wir;
Also schließe ich die Augen und träume vom Tag
In der Dunkelheit hier.
»Singen ist Sauerstoffverschwendung«, sagte Protschnu leise.
»Weinen auch«, gab Eiadh ruhig zurück. »Drei Kinder weinen jetzt nicht mehr, weil eine Person gesungen hat. Wenn du gekommen bist, um mein Singen zu unterbinden, kannst du gleich wieder gehen. Melde deinem Vater mein Verbrechen. Vielleicht wird er deshalb so wütend, daß er mich verprügelt. Vielleicht darfst du ihm dabei helfen.«
Sie sah ihn noch immer nicht an. Sie hörte, daß er ein wenig schwerer atmete. Ein bißchen abgehackt vielleicht. Doch als er erneut sprach, war sie erstaunt, daß seine Stimme vor kaum zurückgehaltenem Weinen ganz hoch klang. »Es ist nicht meine Schuld, daß du dich gegen Vater gestellt hast.«
Seine Zurückweisung in der Bibliothek hatte sie dermaßen schwer getroffen, daß sie seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen und auch vermieden hatte, an ihn zu denken. Protschnu, ihr ältester Sohn, sagte so schreckliche Dinge zu seiner eigenen Mutter. Der junge hatte in diesem Augenblick so wild ausgesehen, so sehr wie Elemak, daß sie den Eindruck gehabt hatte, sie würde ihn gar nicht kennen. Aber sie kannte ihn, nicht wahr? Er war erst acht Jahre alt. Es war nicht richtig, daß er von streitenden Eltern hin und her gerissen wurde.
»Ich habe mich nicht gegen deinen Vater gestellt«, sagte sie leise. »Ich habe mich gegen das gestellt, was er tut.«
»Nafai hat uns betrogen.«
»Die Überseele hat uns betrogen. Und alle Eltern dieser Kinder. Nicht nur Nafai.«
Protschnu schwieg. Vielleicht habe ich ihn zur Einsicht gebracht, dachte sie. Aber nein, er dachte an etwas ganz anderes. »Liebst du ihn?«
»Ja, ich liebe deinen Vater. Aber wenn er zuläßt, daß der Zorn ihn beherrscht, tut er böse Dinge. Und diese bösen Taten lehne ich ab.«
»Ich habe nicht Vater gemeint.«
Offensichtlich ging er davon aus, daß sie es schon wußte. Daß er irgendwie darauf gekommen war, daß sie einen anderen Mann liebte.
Und er hatte natürlich recht. Aber es war eine hoffnungslose Liebe — eine Liebe, die sie nie jemandem gezeigt hatte.
»Wen meinst du denn?«
»Ihn.«
»Sag den Namen, Proja. Namen sind keine Zauberei. Es wird dich nicht vergiften, wenn der Name über deine Lippen kommt.«
»Nafai.«
»Onkel Nafai«, berichtigte sie. »Bringe älteren Menschen Respekt entgegen.«
»Du liebst ihn.«
»Ich möchte hoffen, daß ich alle meine Schwager liebe — wie ich auch hoffe, daß du alle deine Onkel liebst. Es wäre schön, wenn dein Vater für alle seine Brüder ein wenig Liebe übrig hätte. Aber vielleicht siehst du es nicht so. Schau dir Menja an, der dort schlafend liegt. Er ist der vierte Sohn in unserer Familie. Er steht zu dir in derselben Beziehung wie Nafai zu deinem Vater. Sag mir, Proja, hast du vor, den kleinen Menja eines Tages zu fesseln und ihm mit einer Eisenstange die Knochen zu brechen?«
Protschnu heulte jetzt richtig los. Zögernd setzte Eiadh sich auf und griff nach ihm, zog ihn neben sich auf das Bett, nahm ihn in die Arme. »Ich werde Menja nie etwas tun«, sagte er. »Ich werde ihn beschützen und dafür sorgen, daß ihm nichts passiert.«
»Das weiß ich, Proja, das weiß ich. Und zwischen deinem Vater und Nafai ist es nicht dasselbe. Der Altersunterschied zwischen ihnen ist viel größer. Nafai und Elja hatten nicht dieselbe Mutter. Und Elemak hatte einen noch älteren Bruder.«
Protschnu riß die Augen weit auf. »Ich dachte, Vater wäre der älteste.«
»Er ist der älteste Sohn deines Großvaters Volemak. Damals, als er der Wetschik war, im Land Basilika. Aber Elemaks Mutter hatte andere Söhne, bevor sie Volemak heiratete. Und der älteste von ihnen hieß Gaballufix.«
»Haßt Vater Onkel Nafai, weil er seinen Bruder Gaballufix getötet hat?«
»Sie haben sich schon vorher gehaßt. Und Gaballufix hat versucht, Nafai und deinen Vater und Issib und Meb zu töten.«
»Warum hätte er Issib töten wollen?«
Eiadh stellte amüsiert fest, daß Protschnu sich nicht fragte, warum jemand seinen Onkel Meb töten wollte. »Er wollte Basilika beherrschen, und die Söhne des Wetschik standen ihm im Weg. Dein Großvater war ein sehr reicher und mächtiger Mann, damals in Basilika.«
»Was bedeutet ›reich‹?«
Was habe ich dir angetan, mein armes Kind, daß du nicht mal weißt, was das Wort bedeutet? Jeder Wohlstand, alle Annehmlichkeiten sind aus deinem Leben verschwunden, und da du nichts als Armut gesehen hast, kennst du nicht einmal die Worte für das schöne Leben. »Es bedeutet, daß du mehr Geld hast, als …«
Aber natürlich wußte er auch nicht, was Geld bedeutete.
»Es bedeutet, daß du ein schöneres Haus als die anderen Leute hast. Ein größeres Haus, und schöne Kleider, viele schöne Kleider zum Wechseln. Und daß du auf bessere Schulen mit klügeren Lehrern gehst und bessere Nahrung zu essen bekommst, und mehr davon. Soviel du willst, und noch mehr.«
»Aber dann sollte man teilen«, sagte Protschnu. »Du hast mir gesagt, wenn man mehr hat, als man braucht, sollte man teilen.«
»Und du teilst ja auch. Aber … das verstehst du nicht, Proja. Diese Art von Leben haben wir auf ewig verloren. Du wirst es nie verstehen.«
Sie schwiegen für einen Augenblick.
»Mutter«, sagte Protschnu dann.
»Ja?«
»Du haßt mich doch nicht, weil ich mich für Vater entschieden habe? Neulich, in der Bibliothek?«
»Jede Mutter weiß, daß eine Zeit kommen wird, da ihre Söhne sich für ihren Vater entscheiden. Das gehört zum Aufwachsen. Ich hätte nie gedacht, daß es bei dir in so jungen Jahren geschehen wird, aber es ist nicht deine Schuld.«
Eine Pause. Dann wurde seine Stimme wirklich ganz leise. »Aber ich habe mich nicht für ihn entschieden.«
»Nein, Protschnu, ich habe nie angenommen, daß du dich für die bösen Dinge entscheiden würdest, die er tut. Du bist nicht so ein Junge.« Doch in Wirklichkeit fürchtete Eiadh manchmal, daß er ganz genau so ein Junge war. Sie hatte ihn beim Spielen beobachtet, hatte gesehen, wie er über die anderen Jungs herrschte, manche von ihnen grausam hänselte, bis sie weinten, und dann über sie lachte. Es hatte ihr, damals auf Harmonie, angst gemacht, daß ihr Sohn so widerlich zu denen war, die kleiner waren als er. Und doch war sie auch stolz darauf gewesen, wie er die anderen Jungs bei allem anführte, wie sie alle zu ihm aufschauten, wie sogar Tante Rasas Ojkib zur Seite getreten war und Protschnu den ersten Rang unter den Jungen überlassen hatte.
Kann es je das eine ohne das andere geben? Die Führung ohne den Mangel an Mitleid? Den Stolz ohne die Grausamkeit?
»Aber natürlich hast du dich für deinen Vater entschieden«, sagte Eiadh. »Für den Mann, den du kennst, der er in Wirklichkeit ist, den guten, tapferen, starken Mann, den du so sehr liebst. Ich weiß, das ist der Mann, für den du dich an diesem Tag entschieden hast.«
Sie fühlte, wie Protschnus Körper sich in ihrer Umarmung bewegte, während er sich wappnete, das Schwierige zu sagen. »Er ist ohne dich wirklich unglücklich.«
»Hat er dich geschickt, mir dies zu sagen?«
»Ich habe mich selbst geschickt«, erwiderte Protschnu.
Oder hat die Überseele dich geschickt? Eiadh machte sich manchmal Gedanken darüber. Hatte Luet nicht gesagt, daß sie alle von der Überseele erwählt worden waren? Daß sie alle für ihre Gedanken ungewöhnlich empfänglich waren? Warum sollte dann nicht eins ihrer Kinder eine dieser außergewöhnlichen Begabungen haben, wie sie zum Beispiel auch bei Chveja aufgetreten war?
»Also ist dein Vater ohne mich unglücklich. Dann soll er Nafai freigeben und den Frieden auf dem Schiff wiederherstellen, und er muß nicht mehr auf mich verzichten.«
»Er kann nicht aufhören«, sagte Protschnu. »Nicht ohne Hilfe.«
Er ist erst acht Jahre alt? Und er kann so tief sehen? Vielleicht hat die Krise irgendeine versteckte Befähigung zur Empathie in ihm geweckt. Die Überseele weiß, daß ich in diesem Alter für niemanden Verständnis oder Mitgefühl hatte. Ich war eine moralische Einöde, die sich nur dafür interessierte, wer am hübschesten war und am besten sang und eines Tages berühmt und reich sein würde. Wäre ich dieser Kindlichkeit nur früher entwachsen, hätte ich vielleicht bemerkt, welcher der Brüder der bessere Mann war, damals, als Nafai mich mit den Kuhaugen der heranwachsenden Liebe betrachtete. Damals habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich habe Elemak angeschaut und mußte jedesmal denken, er ist der Erbe des Wetschik, der älteste Sohn eines der reichsten und angesehensten Männer in Basilika. Und was war Nafai?
Doch wenn ich wirklich klug gewesen wäre, hätte ich keinen der beiden geheiratet und wäre noch in Basilika. Obwohl, falls Volemak wirklich recht hat, Basilika bereits vernichtet wurde. Die Stadt wurde zerstört und die wenigen Überlebenden in alle Himmelsrichtungen zerstreut.
»Und was für eine Art von Hilfe braucht dein Vater?« fragte Eiadh.
»Er muß es sich anders überlegen können, ohne eingestehen zu müssen, daß er sich geirrt hat.«
»Müssen wir das nicht alle?« murmelte sie.
»Mutter, ich kann manchmal kaum noch atmen. Ich wache am Morgen auf und habe das Gefühl, jemand sitzt auf meiner Brust. Ich kann einfach nicht mehr tief genug einatmen. Manchmal wird mir schwindlig, und ich stürze. Und dabei geht es mir noch besser als den meisten anderen. Wir müssen Vater helfen.«
Sie wußte, daß er recht hatte. Aber sie wußte auch, daß sie nach dieser Szene in der Bibliothek nicht mehr die Macht gehabt hatte, ihm zu helfen. Doch nun, mit Protschnu an ihrer Seite, konnte sie es vielleicht. Hatte dieser Achtjährige soviel Macht?
Acht Jahre alt, aber er hatte die Zusammenhänge erkannt. Er wußte, was getan werden mußte, und er hatte die Verantwortung übernommen, gemäß dieses Verständnisses zu handeln. Das erfüllte sie mit Hoffnung, nicht nur für die unmittelbare, sondern auch für die noch sehr ferne Zukunft. Sie wußte, daß die Gemeinschaft sich beim Tod Volemaks spalten würde, falls nicht sogar schon früher, und wenn dies geschah, würde Elemak die Herrschaft über eine der beiden Hälften haben. Er würde wütend und verbittert sein, erfüllt mit Abscheu und Haß. Doch Elemak würde nicht ewig leben. Eines Tages würde ein anderer seinen Platz als Herrscher einnehmen, und der wahrscheinlichste Kandidat dafür war dieser Achtjährige, der neben ihr auf dem Bett saß. Wenn im Lauf der Jahre in seinem Innern Klugheit heranwuchs statt Zorn, wie es bei seinem Vater der Fall gewesen war, würde er für die Städte der Ebene wie der Herbstregen sein, der nach dem trockenen Feuer des Sommers Erleichterung brachte, sobald er die Stelle seines Vaters als Herrscher einnahm.
Für dich, Protschnu, werde ich tun, was getan werden muß. Ich werde mich um deinetwegen vor Elemak erniedrigen, so unwürdig er auch ist, damit du eine Zukunft hast, damit du eines Tages die Stellung einnehmen kannst, die die Natur für dich vorgesehen hat.
»Bei der nächsten Mahlzeit in der Bibliothek«, sagte sie. »Komm dann zu mir, und mit dir an meiner Seite werde ich tun, was getan werden muß.«
Elemak war während der Mahlzeit natürlich bei ihnen. So war es jetzt ständig, seit Volemak seine Abwesenheit als Gelegenheit genutzt hatte, sich den Eid leisten zu lassen. Die Mahlzeiten waren nun spärlicher besucht. Nachdem Volemak und Rasa hatten zusehen müssen, wie Elemak Nafai verprügelte, hatten sie sich zu Bett begeben müssen. Der Sauerstoffmangel machte ihnen genauso sehr zu schaffen wie den kleinsten Kindern. Sie hatten nicht mehr die Kraft, sich zu bewegen, und diejenigen, die sie versorgten — Dol und Sevet —, berichteten, daß sie immer wieder bewußtlos wurden und häufig phantasierten. »Sie sterben«, flüsterten sie — aber so laut, daß Elemak sie während der Mahlzeiten ganz bestimmt hörte. Er zeigte keine Reaktion.
Beim Mittagsmahl am vierten Tag seines Wachseins saß Elemak allein an einem Tisch und hatte sein Essen noch nicht angerührt, als Protschnu aufstand und zu seiner Mutter ging. Elemak beobachtete ihn, und sein Gesicht verdüsterte sich. Doch allen war klar, daß Protschnu sich nicht auf die Seite seiner Mutter geschlagen hatte. Statt dessen führte er sie zu Elemak. Er mochte noch ein paar Köpfe kleiner sein als sie, beherrschte die Lage aber eindeutig. Langsam näherten sie sich dem Tisch, an dem Elemak saß.
»Mutter hat dir etwas zu sagen«, sagte Protschnu.
Plötzlich brach Eiadh in Tränen aus und fiel auf die Knie. »Elemak«, schluchzte sie, »ich schäme mich so. Ich habe mich gegen meinen Gatten gestellt.«
Elemak seufzte. »Das wird nicht klappen, Eiadh. Ich weiß, was für eine gute Schauspielerin du bist. Wie Dolja. Du kannst die Tränen auf- und abdrehen. Wie bei einem Wasserhahn.«
Sie weinte um so mehr. »Warum solltest du mir auch je wieder glauben oder vertrauen? Welch schreckliche Dinge du auch zu mir sagen willst, ich habe es verdient. Aber ich bin deine treue Frau. Ohne dich bin ich nichts. Ich würde lieber sterben, als nicht mehr Teil von dir und deinem Leben zu sein. Bitte vergib mir und nimm mich wieder auf.«
Alle sahen, wie Elemak zwischen Glauben und Skepsis schwankte. Er war nicht mehr so feinsinnig oder klug wie früher. Aufgrund des Sauerstoffmangels waren alle träge und schwer von Begriff geworden. Sie erinnerten sich zwar, daß sie früher ein gutes, schnelles Urteilsvermögen gehabt hatten, wußten aber nicht mehr, wie sie sich dabei vorgekommen waren. Elemak blinzelte langsam und Eiadh an.
»Ich weiß, wer der stärkste, beste Mann ist«, sagte sie. »Nicht der, der sich auf Tricks und Maschinen, Lügen und Täuschungen verläßt. Du bist ehrlich.«
Seine Lippen kräuselten sich vor Verachtung angesichts dieser offensichtlichen Schmeichelei. Dennoch zeigte sie Wirkung. Jemand versteht mich. Selbst, wenn sie nur leere Worte von sich gibt — jemand hat die Worte gesagt.
»Aber die Lügner haben die Oberhand. Sie sind diejenigen, die unsere Kinder als Geiseln halten, nicht du. Manchmal muß ein Mann dem Bösen nachgeben, um seine Kinder zu retten.«
Die meisten, die ihren Worten lauschten, wußten, daß sie eine Verzerrung der Wahrheit hörten. Und doch wollten sie, daß dieser Verdrehung Glauben geschenkt wurde, daß zumindest Elemak ihr glaubte. Denn wenn er ihr Glauben schenkte, würde er damit nachgeben können und in seinen Augen trotzdem noch edel und heldenhaft sein. Soll das die Version der Geschichte sein, an die Elemak glaubt, damit unsere Geschichte über diese Stunde hinausgehen kann.
»Glaubst du etwa, ich ließe mich täuschen, wenn Nafai hier wieder herumstolziert? Er und sein funkelnder Mantel, der in sein Fleisch eingebettet ist und ihn selbst wie eine Maschine aussehen läßt — ich lasse mich den Rest der Reise voller Dankbarkeit wieder in Tiefschlaf versetzen, nur um ihn nicht ansehen zu müssen. Ich will erst auf der Erde wieder erwachen, mit dir neben mir, und mit unseren Kindern, die wir noch großziehen können. Sie werden älter werden. Die Zeit wird verstreichen. Und du wirst immer noch mein Gatte sein, und ein großer Mann in den Augen aller, die die Wahrheit kennen.«
Elemak musterte sie scharf. Oder versuchte es zumindest. Dann und wann konnte er sie nur noch verschwommen erkennen.
Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, doch Protschnu legte eine Hand auf ihre Schulter, und sie lehnte sich zurück, auf den Knöcheln hockend, während Protschnu vortrat und so leise sprach, daß ihn außer Elemak kaum jemand hören konnte. »Suche dir den Zeitpunkt für den Kampf aus«, sagte er ruhig. »Das hast du mich in Vusadka gelehrt. Suche dir den Zeitpunkt den Kampf aus.«
Elemak antwortete genauso leise. »Sie haben bereits gesiegt, Protschnu. Als ich erwachte, hatten sie dich schon um dein Erbe betrogen. Sieh dich doch an, so jung, so klein.«
»Tu, was nötig ist, damit wir alle weiterleben, Vater. Eines Tages werde ich nicht mehr klein sein, und dann werden wir an unseren Feinden Rache nehmen.«
Elemak betrachtete sein Gesicht. »An unseren Feinden?«
»Was sie dem Vater angetan haben, haben sie auch dem Sohn angetan«, flüsterte Protschnu. »Ich werde es niemals, niemals, niemals, niemals, niemals vergessen.«
Es erfüllte Elemak mit Hoffnung, in der Stimme seines Sohnes eine solche Entschlossenheit, einen solchen Haß zu hören.
Er erhob sich. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Alle beobachteten ihn, als er Protschnu an der Hand nahm und ihn zur Leiter in der Mitte des Zimmers führte. Dort drehte er sich um. »Meb. Obring.«
Sie standen langsam auf.
»Kommt mit.«
»Und wer paßt dann auf sie auf?« fragte Obring.
»Ist mir egal«, sagte Elemak. »Ich kann sie nicht mehr sehen.«
Er stieg die Leiter hinab, und Protschnu folgte ihm; dann auch Obring und Meb.
Sie waren kaum fort, als die Frauen sich um Eiadh drängten. »Danke«, sagten sie leise. »Das war sehr tapfer von dir.« — »Du warst wunderbar.« — »Danke.« — »Danke.«
Sogar Luet nahm Eiadhs Hände in die ihren. »Heute warst du die größte aller Frauen. Dank dir ist es jetzt vorbei.«
Eiadh konnte nur das Gesicht in die Hände drücken und weinen. Denn sie hatte die Worte gehört, die Protschnu zu Elemak gesagt hatte, hatte den Haß in seiner Stimme gehört, und sie wußte, daß Protschnu nicht geschauspielert hatte wie sie, zumindest nicht jetzt. Protschnu würde den Haß seines Vaters in die nächste Generation tragen. Es war alles umsonst gewesen. Sie hatte sich für nichts erniedrigt. »Für nichts«, murmelte sie.
»Nicht für nichts«, sagte Luet. »Für unsere Kinder. Für alle Kinder. Ich sage es noch einmal, Eiadh. Heute warst du die größte aller Frauen.«
Luet kniete neben ihr nieder; Eiadh griff nach ihr und weinte an ihrer Schulter.
Die Tür wurde geöffnet, und das Licht ging an. Nafais Augen gewöhnten sich schnell daran. Elemak, Mebbekew, Obring und Eljas Sohn Protschnu. Er sah den Haß in ihren Augen, in ihrer aller Augen.
Sie sind gekommen, mich zu töten.
Zu Nafais Überraschung war dieser Gedanke keine Erleichterung für ihn. Trotz aller verzweifelter Worte, die er zu der Überseele gesagt hatte, wollte er in Wirklichkeit nicht sterben. Aber er würde sterben; er würde sich dem Tod unterwerfen, wenn dies den Frieden brachte.
Zu seiner Überraschung kniete Elemak zu seinen Füßen nieder und fummelte an den Knoten um seine Knöchel herum. Mebbekew tat es ihm gleich und lockerte die Fesseln um seine Handgelenke.
Seine Haut war an diesen Stellen wund, und ihr grobes Vorgehen scheuerte sie weiter auf. Nachdem er mißhandelt worden war, hatte die Überseele den Mantel veranlaßt, ihn zu heilen; danach aber hatte Nafai die neuerlichen Entzündungen an seinen Fuß- und Handgelenken nicht mehr geheilt. Nun war der Augenblick, da ihm Erleichterung verschafft wurde, beinahe unerträglich schmerzhaft.
»Wir haben einen Eid abgelegt«, sagte Elemak leise. »Den Eid, den Vater von jedem auf diesem Schiff verlangt hat. Er ist der einzige Herrscher dieser Kolonie. Niemand ist sein Stellvertreter oder Berater oder hat irgendeinen anderen Posten inne, der Macht verschleiert. Er wird herrschen. Ich habe den Eid geleistet, und Meb und Obring ebenfalls. Und mein Sohn Protschnu. Solange Volemak lebt, gehorchen wir ihm und keinem anderen.«
»Das ist ein guter Eid«, sagte Nafai sanft. Er fügte nicht hinzu: Wenn ihr ihn nur eher geleistet und danach gelebt hättet, wie ich es von Kindheit an getan habe. Das hätte uns sehr viel Ärger erspart.
»Du kannst jetzt zu ihm gehen und den Eid ebenfalls ablegen«, sagte Meb.
Die Stricke um seinen Hals, die Stricke, die seinen Körper schmerzhaft zurückgebogen hatten, wurden plötzlich gelöst. Schmerz schoß seinen Rücken hinauf und hinab. Er stöhnte auf.
»Hör mit der Schauspielerei auf«, sagte Meb verächtlich. »Wir wissen, daß du dich jederzeit sofort heilen könntest.«
Seine Füße und Hände waren taub; sie fühlten sich wie schwere, träge Keulen an und gehorchten seinen Befehlen nicht. Als er sich auf den Bauch rollte, schmerzte sein Rücken, und er konnte sich kaum auf die Knie erheben. Er stützte sich an der Wand ab und stand schließlich auf unsicheren Beinen. »Wo ist Vater?« fragte er. »Ich muß zu ihm und den Eid ablegen.«
»Ojkib und Chveja haben den Eid auch noch nicht abgelegt«, sagte Obring.
»Dann hole sie«, antwortete Elemak verächtlich. »Wartest du noch immer darauf, daß ich dir einen Befehl erteile? Ich habe hier nichts mehr zu sagen.«
»Und ich auch nicht«, erklärte Nafai.
Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Der Mantel teilte ihm bereits die Informationen mit, die er brauchte. »In den Reservespeichern ist noch genug Sauerstoff, daß wir zwei Stunden lang normal atmen können. Das genügt, um den Sauerstoffgehalt im Blut eines jeden auf das übliche Niveau zu bringen. Anschließend können wir alle uns in den Tiefschlaf begeben. Dann kann das Schiff seine Vorräte auffüllen, bevor es uns wieder weckt.«
Elemak lachte häßlich. »Was denn? Willst du uns nicht versprechen, daß wir schlafen, bis wir die Erde erreichen?«
»Ich werde den Unterricht der Kinder dort fortsetzen, wo wir aufgehört haben«, sagte Nafai. »Falls Vater es mir aufträgt.«
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß er alles sagt, was du ihm aufträgst.«
»Dann kennst du ihn oder mich wirklich nicht. Denn Vater wird sagen, was die Überseele ihm aufträgt, und sonst nichts.«
»Ach, wir wollen nicht streiten, Nafai«, sagte Elemak mit übertriebener Fröhlichkeit. »Wir müssen jetzt Freunde sein.«
Nafai ging schweigend, stützte sich immer wieder an den Wänden ab und war dankbar für die geringe Schwerkraft. »Elemak, willst du das wirklich für Protschnu?« fragte er irgendwann. »Willst du ihn mit diesem ständigen Haß füttern?«
»Haß ist die beste Nahrung«, sagte Elemak. »Sie macht einen stark, sie gibt einem Kraft. Und ich habe eine ganze Festtafel davon, an der meine Kinder sich nähren können.«
»Schaffe Frieden zwischen deinen Kindern und meinen, Elja«, sagte Nafai.
»Zwischen deinen großen und meinen kleinen Kindern?« fragte Elemak. »Natürlich wird Friede herrschen, genau, wie zwischen dem Löwen und der Fliege Friede herrscht.«
Sie erreichten die Tür zu Volemaks und Rasas Raum in demselben Augenblick, als Obring mit Ojkib und Chveja dort eintraf. Wortlos umarmte Chveja ihren Vater, und er stützte sich auf sie, als sie den Raum betraten.
Nafai kniete nieder und leistete den Eid, hielt dabei die Hand seines Vaters. Chveja und Ojkib taten es ihm gleich.
»Dann ist es vollbracht«, sagte Volemak schwach von seinem Bett aus. »Alle haben den Eid geleistet. Gib uns wieder Sauerstoff und laß uns weiterschlafen.«
Schon nach ein paar Sekunden spürten sie alle den Unterschied. Sie konnten wieder tief durchatmen, und nach kurzer Zeit machte ihr Keuchen und Luftschnappen sie trunken vor Sauerstoff und schwach vor Luft. Dann paßten ihre Körper sich an; ihre Atmung wurde wieder normal. Es war, als wäre stets alles in Ordnung gewesen. Mütter weinten bei ihren Kindern, die jetzt wieder normal atmeten. Kinder lachten und jauchzten und tollten herum, nur weil ihnen endlich wieder normales Atmen möglich war.
Doch schon lange, bevor die zwei Stunden verstrichen waren, hatte das Lachen und Rufen wieder aufgehört. Die Eltern brachten ihre Kinder in die Schlafkammern. Dann schickten Zdorab und Schedemei alle Erwachsenen schlafen, außer Nafai, der sich von den anderen abgesondert hielt, um nicht unnötigerweise Elemak und die aufzubringen, die seine Niederlage bedauerten.
Erneut standen Nafai und Schedemei über der Kammer, in der Zdorab lag. »Vergib mir, Nafai«, sagte Zdorab.
»Das habe ich bereits«, sagte Nafai. »Luet hat mir erklärt, was du damals gedacht hast. Und wie sehr du es später bedauert hast.«
»Keine weiteren Überraschungen«, sagte Zdorab. »Ich stehe bis zu meinem Tod zu dir.«
»Dein Eid gilt meinem Vater«, sagte Nafai. »Aber ich freue mich über deine Freundschaft, und du kannst dir auch der meinen sicher sein.«
Als Nafai mit Schedemei allein war, konnte er endlich die aufgescheuerten Stellen an seinen Hand- und Fußgelenken heilen. »Wer hätte das gedacht«, sagte er.
»Was?« fragte sie.
»Daß Zdorabs Fehler etwas bewirkt hat, das andernfalls unmöglich gewesen wäre.«
»Und was ist das?«
»Ich habe damit gerechnet, daß Elemak außer Kontrolle geraten und einen Krieg anzetteln wird, sobald wir die Erde erreicht haben. Ich glaube, auch die Überseele hat das erwartet. Doch nun haben wir den Krieg bereits gehabt, und ich glaube, der Friede wird halten.«
»Bis dein Vater stirbt«, sagte Schedemei nachdrücklich.
»Vater ist noch nicht alt«, sagte Nafai. »Diese Einigung verschafft uns Zeit. Wer weiß, was in den kommenden Jahren noch alles geschehen wird?«
»Ich möchte keinen Anteil daran haben«, sagte Schedemei.
»Diese Entscheidung kommt ein wenig spät«, sagte Nafai.
»Ich möchte an der Auseinandersetzung keinen Anteil haben«, wiederholte Schedemei. »An dem Kampf. Ich bin mitgekommen, mich um den Garten zu kümmern.« Sie lachte ein wenig spöttisch. »Um mit dem pflanzlichen und tierischen Leben auf der Erde herumzupfuschen. Das ist der Traum, den der Hüter mir geschickt hat. Es ist bei mir nicht wie bei den anderen. Ich bin nur die Gärtnerin.«
»Nur? Du wirst die wichtigste Person von uns allen sein.«
»Weißt du, ich habe dich auch belogen, Nafai. Als ich dir sagte, Vettern und Kusinen könnten ungefährdet heiraten. Genau wie Zdorab habe ich etwas verschwiegen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Nafai. »Jeder verschweigt etwas, ob er es nun weiß oder nicht.«
»Aber eure Kinder … die Konsequenzen könnten schrecklich sein.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Nafai.
»Ach.« Schedemei verzog das Gesicht. »Also hat die Überseele mir gesagt, was ich sagen soll?«
»Es vorgeschlagen. Jedes einzelne Wort war die Wahrheit.«
Schedemei lachte sarkastisch. »Oder zumindest so wahr wie jedes andere Wort der Überseele.«
»Ich vertraue ihr«, sagte Nafai.
»Du vertraust darauf, daß sie alles sagt, was nötig ist, um ihr Ziel zu erreichen«, sagte Schedemei. »Darüber hinaus kann man ihr nicht vertrauen.«
»Ach, weißt du, Schedja, die Ziele der Überseele sind auch meine Ziele. Also kann ich ihr völlig vertrauen.«
Sie tätschelte seine Wange. »Da du während der Reise ständig wach warst, magst du rein formal jetzt etwa so alt sein wie ich. Aber ich muß sagen, Njef, du hast noch viel zu lernen.«
Mit diesen Worten schwang sie sich in ihre Kammer. Nafai hob das Seitenstück, verschloß es und leitete dann den Tiefschlafprozeß ein. Der Deckel klappte zu. Er beobachtete, wie sie in dem luftdichten Abteil einschlief. Er war wieder allein.
›Ich kann den Sauerstoffgehalt nur noch fünfzehn Minuten auf dieser Höhe halten, dann ist der Vorrat aufgebraucht.‹
Ich beeile mich.
›Alles hat ziemlich gut geklappt, meinst du nicht auch?‹
Weißt du was? Sprich in der nächsten Zeit einfach nicht mehr mit mir. Laß mich mit meinen eigenen Gedanken in meinem Kopf einschlafen.
›Wie du willst. Aber das wird dir ziemlich seltsam vorkommen.‹
Damit werde ich schon fertig.
›Weil du noch nie in deinem Leben ohne mich schlafen gegangen bist.‹
Dann wünschte ich, du wärest eine bessere Gesellschaft gewesen.
›Nur zu, sei wütend auf mich. Aber vergiß nicht, daß ich Elemak nicht so geschaffen habe, wie er ist. Hätte er bessere Entscheidungen getroffen, wäre er von Geburt her ein besserer Mensch, wäre er jetzt an deiner Stelle und würde den Mantel des Herrn der Sterne tragen.‹
Ich wünschte, er würde ihn tragen.
›Ja, das meinst du ernst. Du willst wirklich nicht die Verantwortung oder die Macht haben. Und doch hast du beides angenommen, weil jemand sie annehmen mußte und nur du zur Verfügung standest. Nicht gegen deinen Willen, aber gegen deine Wünsche und dein besseres Wissen. Deshalb habe ich dich zu dem Mantel geführt. Denn hättest du verstanden, worum es sich dabei handelt, hättest du niemals danach gegriffen.‹
Ich bin nur die Marionette, die du brauchst, nicht wahr?
›Du bist überhaupt keine Marionette. Marionetten sind nutzlos für mich. Ich brauche freiwillige Freunde und Verbündete.‹
Laß mich in Frieden schlafen, und wenn ich aufwache, werde ich vielleicht wieder ein freiwilliger Verbündeter sein.
›Schlafe gut, mein Freund. Vor uns liegt noch ein langer Weg.‹
Der Himmelsbildschirm in der Bibliothek zeigte sie, die Erdkugel, blau und weiß, mit braunen und grünen Stellen hier und da. Da sie während des Starts geschlafen hatten, hatten sie noch nie eine Welt auf diese Weise gesehen, als Kugel, die im Schwarz der Nacht trieb.
»Wie ein Mond«, sagte Chveja.
Ojkib griff nach ihr und nahm ihre Hand. Sie schaute zu ihm auf und lächelte. Die letzten dreieinhalb Jahre waren sowohl wunderbar als auch entsetzlich gewesen — zu wissen, daß er sie liebte, und auch zu wissen, daß es unmöglich war, sie zu heiraten und während der Reise Kinder zu bekommen. Sie sprachen nicht darüber, was sie empfanden; so war es für beide einfacher. Die anderen hatten genauso diskret Pärchen gebildet. Doch während sie nun Erkundigungen einzogen und die Erde immer und immer wieder umkreisten, die Berichte lasen, welche die Instrumente lieferten, die Karten studierten, nach einer Landestelle suchten, darauf warteten, daß die Überseele eine Entscheidung traf oder der Hüter der Erde ihnen einen Traum schickte, der ihnen verriet, was sie tun sollten, war es für Ojkib unmöglich, nicht an Chveja zu denken und daran, was vor ihnen lag. Eine neue Welt, harte Arbeit, Ackerbau und Forschungen — und wer konnte schon wissen, welche Gefahren ihnen von Krankheiten oder Tieren oder dem Wetter drohte? Aber dagegen stand der Gedanke von Chveja in seinen Armen, von Kindern, von dem Beginn eines neuen Kreislaufs, davon, Teil der lebenden Welt zu sein.
»Wir sind einmal in Schande und Furcht von dieser Welt geflohen«, sagte Chveja. »Wir haben sie einmal verschmutzt und uns gegenseitig abgeschlachtet.«
Sie mußte nicht hinzufügen, daß sie befürchtete, es könne wieder von vorn geschehen. Sie alle wußten, daß die Zeit des echten Friedens vorbei war und daß die Spannungen unter der Höflichkeit deutlich hervortreten würden, selbst wenn der Eid an Volemak Bestand hatte. Und wie lange würde Volemak leben? Dann würde es vielleicht wieder zu einem Krieg kommen. Dann wurde auf der Erde vielleicht erneut menschliches Blut vergossen.
Ojkib hörte, wie Chveja mit der Überseele sprach. Warum hast du uns hierher gebracht, wenn wir nicht besser und klüger sind als diejenigen, die von hier aufgebrochen sind?
»Aber das sind wir doch«, sagte Ojkib. »Besser und klüger, meine ich.«
Sie drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um. »Was tust du? Damals, während der Krise, hast du so wissend gesprochen. Darüber, was die Überseele wollte. Was Nafai wollte, obwohl du gar nicht mit ihm darüber geredet hattest. Was also tust du?«
»Ich lausche«, sagte er. »So war es schon mein Leben lang. Ich höre alles, was auf den Kanälen der Überseele gesprochen wird. Was sie sagt. Was du sagst.«
Sie schaute entsetzt drein. Ist das wahr? fragte sie die Überseele. Das ist ja schrecklich!
»Jetzt weißt du, warum ich es nie jemandem erzählt habe. Obwohl ich es während der Krise sehr deutlich gezeigt habe. Es überrascht mich, daß niemand darauf gekommen ist.«
»Was ich zu der Überseele sage, ist so … privat.«
»Das weiß ich«, sagte Ojkib. »Ich habe auch nicht darum gebeten, es zu hören. Ich kann es einfach. Ich wuchs auf und wußte viel mehr, als irgendein Kind wissen sollte. Ich weiß, was im Leben anderer Menschen vorgeht, und zwar in einem Ausmaß, das … na ja, sagen wir einfach, ich würde den Leuten viel lieber glauben, was sie sagen, als genau zu wissen, was sie wirklich bekümmert. Oder was die Überseele mit denen anstellen muß, die nie mit ihr sprechen, um zu verhindern, daß sie das Schlimmste tun, was sie gern täten. Ich trage keine besonders angenehme Last.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Chveja. »Na ja, vielleicht auch nicht. Ich versuche im Augenblick gar nicht, es mir vorzustellen. Ich versuche mich nur daran zu erinnern, was ich der Überseele alles gesagt habe, welche Geheimnisse du kennst.«
»Ich werde dir ein Geheimnis verraten, das ich kenne, Veja. Ich weiß, daß von allen Leuten auf diesem Sternenschiff keiner ehrlicher und besser ist als du, liebevoller und sorgfältiger darauf bedacht, die Gefühle anderer Menschen nicht zu verletzen. Von allen Personen auf diesem Schiff gibt es niemanden, der so in Frieden mit sich selbst lebt, niemanden, der weniger zu der Last der Scham und Schuld beiträgt, die ich mit mir herumtrage. Von allen Leuten auf diesem Schiff bist du die einzige, Veja, der ich gern auf ewig nahe sein würde, weil alle deine Geheimnisse so strahlend und gut sind und ich dich deshalb liebe.«
»Einige meiner Geheimnisse sind nicht strahlend und gut, du Lügner.«
»Ganz im Gegenteil. Die bösen Geheimnisse, derer du dich so schämst, sind für mich ganz sanft und kläglich, denn ich habe das wirkliche Böse in einem Ausmaß gesehen, von dem ich hoffe, daß du es nie erfahren wirst. Für mich sind selbst deine dunkelsten, schändlichsten Geheimnisse betörend schön.«
»Ich glaube«, sagte Chveja, »du redest gerade darum herum, daß du mich heiraten willst.«
»Als ob das jemals ein Geheimnis für dich sein könnte, wo du doch genau wie Tante Huschidh die Verbindung zwischen den einzelnen Menschen siehst. Da mußt gerade du von einem Eindringen in die Privatsphäre sprechen.«
»Ich kenne dein Geheimnis, Okja«, sagte sie lächelnd, drehte sich zu ihm um, legte die Arme um seine Taille und zog seine Hüften an die ihren. »Ich weiß, was du willst. Ich weiß, wie sehr du mich liebst. Ich sehe, daß wir von hellen Banden zusammengefügt werden, so eng, daß es kein Entkommen gibt, solange wir leben. Du bist mein Gefangener, und ich werde niemals Gnade zeigen und dich gehen lassen.«
»Diese Bande sind keine Fesseln, Veja«, sagte Ojkib. »Sie sind die Freiheit. Die ganze Reise über war ich in Gefangenschaft, weil ich dich nicht haben konnte. Wenn wir diese neue Welt betreten, diese alte Welt, und ich endlich offen mit dir verbunden bin, damit wir unser gemeinsames Leben beginnen können — dann wurde ich wirklich befreit.«
»Meine Antwort lautet ja«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich habe gehört, wie du es der Überseele gesagt hast.«