Als die Kutsche die Gilde verließ, sah Sonea Rothen an und bemerkte einen nachdenklichen Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Was gibt es?«, fragte sie.
»Noch vor wenigen Monaten hättest du um Erlaubnis bitten müssen, um Dorrien und seine Familie zu besuchen«, erwiderte der alte Magier. »Jetzt hinterfragt niemand dein Tun. Wie schnell sich die Dinge ändern können.«
Sonea lächelte grimmig. »Ja. Aber sie könnten sich auch genauso schnell wieder in die andere Richtung ändern. Es wäre nur ein einziger unglücklicher Zwischenfall notwendig, und ich würde Lilia Gesellschaft leisten.«
Rothen blickte gequält drein. »Sie hat vorsätzlich versucht, schwarze Magie zu erlernen.«
»Das stimmt. Ich frage mich, ob sie es auch getan hätte, wäre ihr Sinn nicht von Feuel verwirrt gewesen.«
»Wie meinst du das?«
»Es heißt, Feuel führe dazu, dass einem Menschen alles gleichgültig wird. Was reizvoll ist, wenn man Sorgen hat, die man gerne für eine Weile vergessen würde, aber Feuel löscht auch jede Sorge um die Konsequenzen der eigenen Taten aus – und es scheint das gründlicher zu tun als Alkohol.«
»Denkst du, andere könnten vielleicht den gleichen Fehler machen wie sie?«
»Nur wenn sie unter vollem Einfluss von Feuel zufällig über Bücher stolpern, die Anweisungen über das Erlernen von schwarzer Magie enthalten. Es hängt davon ab, ob es da draußen noch weitere Bücher dieser Art gibt.« Sonea seufzte. »Lord Leiden hat das Gesetz gebrochen, indem er sein Exemplar nicht der Gilde ausgehändigt hat.«
»Sollten wir anfangen, private Bibliotheken zu durchsuchen?«
»Ich bezweifle, dass wir irgendetwas finden würden. Jeder, der weiß, was er in seiner Bibliothek hat, würde alles Verdächtige entfernen und verstecken, sobald er davon hörte, dass eine Durchsuchung möglich ist.«
Rothen nickte zustimmend. »Es könnte Jahre dauern, um die größeren Bibliotheken gründlich genug durchzugehen«, fügte er hinzu. »Sind wir denn der Entdeckung von Leidens Mörder näher gekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Offensichtlich hat noch jemand schwarze Magie erlernt. Entweder das, oder es war Kallen, und diejenigen, die bezeugt haben, dass er in dieser Nacht woanders war, haben gelogen. Es überrascht mich, dass Osen uns nicht aufgefordert hat, die Gedanken des jeweils anderen zu lesen.« Die Kutsche kam zum Stehen. Sonea entriegelte die Tür, kletterte hinaus und drehte sich dann um und wartete, während Rothen ihr folgte.
»Soviel ich gehört habe, gab es genug Zeugen, die bestätigen, dass ihr beide euch zum Zeitpunkt der Ermordung an anderen Orten aufgehalten habt, um auf eine Gedankenlesung zu verzichten.«
Sonea wandte sich der Tür des Gebäudes zu. Die Gilde hatte es gemietet, um dem Mangel an Räumen auf dem Gelände für Magier abzuhelfen. Wenn Dorrien allein in die Gilde kam, wohnte er bei seinem Vater, aber in Rothens Räumen war nicht genug Platz für zusätzliche Erwachsene und zwei ältere Mädchen.
Von draußen sah es aus wie das große Haus einer Familie. Sonea ging zur Tür hinauf und klopfte an. Ein Mann in der Dienstbotenuniform der Gilde öffnete. Er begrüßte sie, trat beiseite und verneigte sich, als sie an ihm vorbei in die Eingangshalle gingen.
Es war ein verschwenderisch dekorierter Raum, mit Treppen, die zu einem Obergeschoss hinaufführten. Früher wäre es das Heim einer reichen Familie aus einem der Häuser gewesen, aber jetzt war das Gebäude in vier Bereiche unterteilt worden, die Quartiere für vier Magier und ihre Familien boten. Zu Anfang war die Idee, ein großes Haus zu teilen, auf Widerstand gestoßen, weil man annahm, dass Magier zu stolz wären, um sich ein Gebäude mit anderen zu teilen. Aber die Vorstellung erwies sich als beliebt unter jungen Magiern mit Familien aus den unteren Klassen, die unverzüglich erkannten, dass diese Lösung viel mehr Platz für ihre Kinder bot als eine Zimmerflucht in den Magierquartieren.
Der Diener führte sie hinauf zu einer großen Tür, die ausfüllte, was einst wohl eine Öffnung zu einem Flur gewesen war, und als Dorrien die Tür öffnete, verbeugte sich der Mann und machte sie förmlich miteinander bekannt.
»Danke, Ropan«, sagte Dorrien und grinste, während er Sonea und Rothen in ein großes Gästezimmer geleitete. Tylia und Yilara saßen auf zweien der Stühle, und Sonea bemerkte, dass sie Kleider trugen, die eher der Mode der Stadt entsprachen. »Willkommen in unserem neuen Heim. Es ist viermal so groß wie unser Haus. Alina macht sich Sorgen, dass wir uns so sehr daran gewöhnen werden, dass es uns daheim ziemlich eng vorkommen wird, wenn wir zurückkehren. Hier ist sie.«
Eine Frau war in einer Nebentür erschienen, die Hände gefaltet und einen ängstlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Ihr Blick flog zu Sonea hinüber und sank auf die schwarzen Roben hinab, dann verhärteten sich ihre Züge, und sie schaute weg. Sie lächelte nervös, als Dorrien sie drängte, sich ihnen anzuschließen. Die beiden Mädchen standen widerstrebend auf und verneigten sich, hielten sich aber ein oder zwei Schritte entfernt, während die Erwachsenen Freundlichkeiten austauschten.
»Wie gefällt es Euch hier?«, fragte Sonea Alina.
Alina sah Dorrien an. »Es wird ein Weilchen dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe«, antwortete die Frau leise. »Ich koche eigentlich lieber selbst, aber Dorrien meint, ich solle es den Dienern überlassen.«
»Wo kochen sie denn?«
»Im Keller«, erwiderte Alina. »Sie kochen für alle Familien, die hier wohnen. Es sieht so aus, als hätten sie heute Abend mehr Diener hier. Ich hoffe, dass ist nicht unsere Schuld.«
Dorrien lächelte. »Lord Beagir bewirtet ebenfalls Gäste«, sagte er. Dann sah er Rothen und Sonea an. »Kommt mit ins Esszimmer.«
»Esszimmer, hm?« Rothen lachte leise und öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen, aber Dorrien runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und schaute Alina an, die sich abgewandt hatte. Sieht so aus, als fühle Alina sich nicht wohl mit all dem Luxus hier, ging es Sonea durch den Kopf. Dorrien will nicht, dass Rothen ihn damit aufzieht, weil sie sich dann nur noch schlechter fühlen wird.
Sie gingen in einen Raum mit einem großen Tisch und acht Stühlen. Am Ende des Raums stand in einer Nische ein Gong von der Größe eines Esstellers. Als sie alle auf den Stühlen Platz genommen hatten, schaute Dorrien zu dem Gong hinüber, und der Klöppel bewegte sich und erfüllte den Raum mit einem angenehmen Läuten. Alinas Lippen wurden schmal, und sie schüttelte den Kopf.
Es erschien ihr wahrscheinlich wie eine übertriebene Extravaganz, aber das Geräusch ließ die Diener wissen, dass die Familie bereit für ihre Mahlzeit war. Und tatsächlich, zwei männliche Dienstboten erschienen mit Tabletts, die beladen waren mit Schalen und Tellern mit den verschiedensten Speisen. Als sie damit fertig waren, das Essen auf dem Tisch zu arrangieren, klemmten sie sich ihre leeren Tabletts unter den Arm und erkundigten sich, welche Getränke sie bringen sollten. Dorrien bat um Wein und Wasser.
Dorrien verzichtete allerdings auf die altmodische Sitte, seine Gäste selbst zu bedienen, und lud sie einfach ein anzufangen. Sie nahmen sich von den verschiedenen Speisen und begannen zu essen.
Alina blickte mit ernster Miene zu Sonea auf. »Wie läuft Eure Jagd nach dem wilden Magier?«, fragte sie.
»Derzeit hat sie sich zu einer Übung in Geduld entwickelt«, antwortete Sonea. »Wir warten auf Informationen. Auf gute Informationen, denn wir wollen unsere Quellen nicht gefährden, indem wir zu schnell handeln.«
»Ihr meint diese Spionin, die für den anderen Dieb arbeitet. Die Tochter Eures Freundes?«
Sonea hielt inne und widerstand der Versuchung, Dorrien anzusehen. Er hatte seiner Frau mehr Informationen gegeben, als Sonea lieb war. Je weniger Menschen wussten, dass sie noch immer mit Cery befreundet war, desto besser. Aber wenn die Tatsache bekannt wurde, würde sie niemandes Leben in Gefahr bringen. Dagegen konnte die Information, dass Anyi Cerys Tochter war, durchaus ihr Leben gefährden, sollte sie ans Tageslicht kommen.
»Ja«, erwiderte sie. »Es ist eine gefährliche Aufgabe, und ich weiß, dass mein Freund sich große Sorgen um sie macht.«
»Wenn es gefährlich für sie ist …« Alina sah Dorrien an, dann richtete sie sich ein wenig höher auf und wandte sich wieder an Sonea. »Ist es gefährlich für uns?«
Sonea blinzelte überrascht. »Nein.«
»Aber wir sind alle keine Magier.« Alina deutete auf ihre Töchter und auf sich selbst. »Was ist, wenn diese Leute, auf die Ihr Jagd macht, herausfinden, dass Dorrien Euch hilft und dass er eine Familie hat und dass wir hier leben, nicht auf dem Gelände der Gilde?« Alinas Stimme wurde ein wenig lauter. »Was soll sie daran hindern, hierherzukommen, wenn Dorrien fort ist, und uns zu bedrohen – oder Schlimmeres?«
Sonea beherrschte ihre Gesichtszüge, um die Erheiterung zu verbergen, die sie empfand. Alina war aufrichtig besorgt. Hat sie einen Grund zur Sorge? Das Szenario, das Alina sich ausmalte, war nicht unmöglich, nur unwahrscheinlich. Es müsste schon ein besonders kühner und gerissener Meuchelmörder oder Entführer sein, der in das Haus eines Magiers eindrang, vor allem da dieses mehrere Magier beherbergte. Jemand, der so kühn und gerissen ist wie der Mörder, der Cerys Familie getötet hat? Vielleicht, aber dies war nicht die verborgene Höhle eines Diebs, wo Heimlichtuerei überdies dafür sorgte, dass niemand einen Einbruch bemerkte und zu Hilfe kam.
»Die Wohnsituation, die Ihr hier habt, ist zu Eurem Vorteil«, erklärte Sonea Alina. »Der Umstand, dass in der Nähe andere Magier leben, selbst wenn Dorrien nicht hier ist, bedeutet, dass Ihr jemanden zu Hilfe rufen könnt, oder die Diener können Hilfe für Euch holen. Ein einziger Magier ist ein großes Abschreckungsmittel, aber Ihr habt vier. Was es überdies einem Außenseiter erschwert, in Erfahrung zu bringen, ob sie alle zu Hause sind oder nicht.« Als Alina den Mund öffnete, um Einwände zu erheben, fügte Sonea hinzu: »Ihr solltet Euch Regeln zurechtlegen, an die Ihr Euch halten könnt. Wen Ihr in Eure Räume einlasst und wen nicht. Wie Ihr Euch absichern könnt, wenn Ihr draußen in der Stadt seid. Was zu tun ist, wenn Ihr denkt, dass jemand Euch folgt oder versucht, ins Haus zu gelangen.« Sonea sah Dorrien an, der resigniert nickte. »Ich bin mir sicher, dass Ihr mit vereinten Kräften eine Lösung finden könnt.«
Wie Sonea gehofft hatte, verlagerte Alina ihre Aufmerksamkeit jetzt auf Dorrien. »Das werden wir tun.« Sie warf Sonea einen kurzen Blick zu. »Und wir sind dankbar für den Rat.«
»Je eher wir Skellin finden, desto eher kannst du aufhören, dir deswegen Sorgen zu machen«, sagte Dorrien.
Rothen murmelte seine Zustimmung. »Und wenn wir ihn nicht finden, wird niemand sicher sein.«
»Was wird geschehen, wenn ihr ihn nicht findet?«, wollte Yilara wissen.
Sonea sah das Mädchen an und lächelte anerkennend angesichts seines Interesses. »Er will die Kontrolle über …« Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.
»Ich werde nachsehen, wer da ist«, sagte Dorrien. Er erhob sich und eilte aus dem Raum.
Sie aßen weiter und lauschten in schweigender Neugier auf die Geräusche außerhalb des Esszimmers. Dorrien öffnete die Tür, eine andere Männerstimme erklang, dann wurde die Tür wieder geschlossen.
Schritte verrieten ihnen, dass er zurückkam. Er trat in die Tür und sah Sonea an.
»Eine Nachricht für dich. Osen möchte, dass du unverzüglich in die Gilde zurückkehrst. Lady Naki ist verschwunden.«
Ein Tag auf See hatte Achati, Dannyl und Tayend in einen kleineren Hafen nördlich von Arvice geführt. Achati hatte Vorkehrungen getroffen, dass sie die Nacht an Land verbringen konnten, auf dem Besitz eines Ashakis, der Raka anbaute. Ashaki Chakori hatte eine Kutsche ausgeschickt, um sie vom Hafen abzuholen. Der Geruch von gerösteten Bohnen war wahrnehmbar, lange bevor sie das Anwesen erreichten.
Im Gegensatz zu den meisten sachakanischen Häusern waren das Herrenhaus und die Arbeitsgebäude nicht von Mauern umgeben. Das Haupthaus stand einige hundert Schritt von den Arbeitsgebäuden entfernt. Aus einem der beiden runden Gebäude stieg eine Rauchfahne auf, die einen dunklen Fleck vor dem Hintergrund der mondbeschienenen Wolken bildete.
»Mein lieber Cousin«, sagte Achati, als die förmliche Vorstellung vorüber war. »Wie schön, dich wiederzusehen.«
Es hatte Dannyl überrascht, dass Achati ihm nichts von seiner Beziehung zu ihrem Gastgeber erzählt hatte. Da sein sachakanischer Freund die Verantwortung für die Organisation der Reise übernommen hatte, war es ihm unhöflich erschienen, auf allzu viele Einzelheiten zu drängen.
Ashaki Chakori verströmte mit Zufriedenheit vermischte Stärke. Er stammte aus einer alten, mächtigen sachakanischen Familie, was es ihm ermöglichte, fernab der Stadt zu leben und zu tun, was ihm die größte Freude bereitete – Raka anzubauen und zu rösten –, ohne das Risiko einzugehen, unter den Ashaki an Ansehen zu verlieren.
»Unsere Väter waren Brüder«, erklärte Achati, als er Dannyls Neugier bemerkte. »Der Jüngere hat ein Stadthaus geerbt, der Ältere diesen Besitz.« Er wandte sich an Chakori. »Wie geht es deinem Sohn und deiner Frau?«
»Kavori ist in Elyne und erkundet Handelsmöglichkeiten. Inaki geht es gut.«
Achati zog die Augenbrauen hoch. »In Elyne? Wie läuft es denn?«
»Nicht so gut, wie wir gehofft hatten.« Er sah Tayend nachdenklich an. »Dort herrscht die Vorstellung, Raka sei ein Getränk für die einfachen Leute. Ist das so, Botschafter?«
Tayend nickte. »Die Beliebtheit von Raka nimmt jedoch zu, wegen der Magier, die von ihrer Lehrzeit in der Gilde zurückkehren und dort Gefallen daran gefunden haben.«
Chakori richtete seine Aufmerksamkeit auf Dannyl. »Also ist es in Kyralia nicht das Getränk der einfachen Leute.«
»Das war es«, sagte Dannyl entschuldigend. »Aber die Gilde hat während der letzten zwanzig Jahre Menschen aller Klassen eingeladen, sich ihr anzuschließen. Jene, die aus einfachen Verhältnissen kamen, machten die übrigen mit Raka bekannt, und der Trank erfreut sich unter Novizen, die bis spät in die Nacht hinein lernen, einiger Beliebtheit.«
»Das kann ich mir denken«, erwiderte Chakori lachend. »Es gibt ein weiteres exotisches Produkt, dessen Gebrauch die Kyralier sich in jüngster Zeit angewöhnt haben, nicht wahr?«
»Feuel.« Dannyl schüttelte den Kopf. »Es ist ein ziemliches Problem geworden.«
Der Ashaki nickte. »Kürzlich haben Sklaven von einem der südlichen Anwesen ein wenig Feuel erworben, obwohl ich nicht weiß, wie. Vielleicht hat ein unternehmungslustiger Händler aus Kyralia es über die Berge gebracht. Es hatte eine beunruhigende Wirkung und veranlasste die Sklaven zu rebellieren oder die Arbeit zu verweigern. Ihr Besitzer hat die Benutzung von Feuel verboten – und auch den Besitz – und anderen empfohlen, das Gleiche zu tun.«
»Eine gute Idee«, sagte Dannyl. Und doch … wenn Feuel Sklaven zur Revolte veranlasst hatte, könnte es vielleicht der Schlüssel zur Beendigung der Sklaverei in Sachaka sein. Aber anschließend würde das Land in Schwierigkeiten stecken, weil der größte Teil seiner Arbeitskräfte verschwunden wäre. Es würde eines skrupellosen oder verzweifelten Feindes bedürfen, um das zu tun, und falls die Feuel-Produktion hier Wurzeln fasste, was würde das für Kyralia bedeuten?
»Würdet Ihr gern essen oder bis später warten?«, erkundigte sich Chakori. »Ich könnte Euch auf dem Anwesen herumführen, wenn Ihr nicht zu müde von der Reise seid.«
Achati sah Dannyl und Tayend an. Dannyl zog die Schultern hoch, zum Zeichen, dass er mit beiden Alternativen einverstanden war. Tayend nickte.
»Beide Möglichkeiten sind einladende Angebote«, sagte Achati zu seinem Cousin. »Was immer dir am bequemsten ist.«
Der Ashaki lächelte. »Dann werde ich Euch herumführen, da ich Befehl gegeben habe, ein spezielles Gericht für Euch zu kochen, das immer am besten schmeckt, wenn es drei Stunden auf dem Herd gestanden hat.«
Chakori führte sie durch das Herrenhaus. Obwohl der Besitz wegen des Fehlens einer Außenmauer ungewöhnlich war, waren die Anlage der Räume und die Dekoration im Inneren traditionell. Ein Hauptflur wand sich vom Herrenzimmer aus, in dem Chakori sie empfangen hatte, an zwei weiteren Fluchten von Räumen vorbei, aber anders als im Gildehaus verzweigte sich der Flur, und der Korridor, durch den Chakori sie führte, brachte sie zu einem Hintereingang.
Sie traten in einen großzügigen Innenhof hinaus und gingen auf die Arbeitsgebäude zu. Neben den beiden hohen, runden Gebäuden wirkte das Herrenhaus klein und unscheinbar. In der Luft lag ein starker Geruch von röstenden Raka-Bohnen.
Chakori deutete auf die Gebäude. »Das linke dient der Lagerung und der Fermentierung; im rechten wird der Raka geröstet und verpackt.« Er ging auf das Lager zu und führte sie durch eine schwere Holztür in einen lampenbeschienenen Raum. Eine Lichtkugel erwachte zischend über seinem Kopf zum Leben und leuchtete hell auf.
Der Raum war unterteilt von hölzernen Wänden, die wie Radspeichen von einem zentralen Bereich ausgingen. Sklaven hatten eine dieser Wände entfernt und harkten einen großen Haufen Bohnen in den Raum daneben. Eine andere Gruppe schaufelte Bohnen in Schubkarren. Als ein Sklave von einer Gruppe zur nächsten ging und offensichtlich die Fortschritte überwachte, durchzuckte es Dannyl. Er kannte den Mann.
Es ist Varn!
Als Chakori seine Gäste in den zentralen Bereich führte, bemerkten die Sklaven ihren Herrn und warfen sich zu Boden. Dabei flackerte Varns Blick kurz von Chakori zu Achati, und in seiner Überraschung zögerte der Sklave einen winzigen Moment, bevor er sich niederwarf.
Dannyl sah Achati an. Varns ehemaliger Herr wirkte überrascht und ein wenig entsetzt, aber er fing sich schnell wieder.
»Dein Sklave, der die Arbeiten überwacht, hat früher einmal mir gehört«, sagte er zu Chakori.
Sein Cousin nickte. »Ja, der Mann, von dem ich ihn gekauft habe, erzählte mir, dass Varn früher dir gehört hat. Er ist ein guter Arbeiter.«
»Das stimmt. Und er ist auch ein guter Quellsklave. Warum hat Voriki ihn verkauft, weißt du das?«
Chakori zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich vermute, er brauchte das Geld. Bedauerst du es, ihn verkauft zu haben? Möchtest du ihn zurückkaufen?«
Dannyl war froh darüber, dass er hinter den beiden Sachakanern stand und sie nicht sehen konnten, dass er angesichts der Beiläufigkeit, mit der sie darüber sprachen, Menschen zu kaufen und zu verkaufen, zusammenzuckte.
Achati antwortete nicht sofort. »Es ist verlockend, und manchmal bedaure ich es tatsächlich, ihn verkauft zu haben, aber nein.«
Nickend gab Chakori den Sklaven den Befehl, die Arbeit fortzusetzen, und begann, den Lagerungs- und Fermentierungsprozess zu erläutern. Dannyl widerstand dem Drang, Varn zu beobachten, um festzustellen, ob er gelegentlich in Achatis Richtung schaute und ob seine Blicke vorwurfsvoll sein würden oder nicht. Er konnte nicht umhin, sich daran zu erinnern, dass er die beiden während der Suche nach Lorkin gesehen hatte, als sie sich unbeobachtet wähnten und glaubten, niemand werde die offenkundige Zuneigung und das Verlangen zwischen ihnen bemerken. Aber was hatte Achati später noch gesagt?
»Nur wenn dir klar ist, dass der andere dich mühelos verlassen könnte, weißt du es zu schätzen, wenn er bleibt.«
War das der Grund, warum Achati Varn verkauft hatte? Hatte er den Verdacht geschöpft, dass Varns Bewunderung unecht war? Oder hatte er es gewusst, weil er Varns Gedanken gelesen hatte?
Als Chakori mit seinen Erklärungen fertig war, lud er sie ein, sich selbst umzuschauen. Sie gingen durch die Kammern und untersuchten die glänzenden Bohnen. Dabei fiel Dannyl ein Häufchen welker Blätter auf, die aussahen wie große, in die Länge gezogene Schalen. Als sie Varn und die Sklaven erreichten, die die fermentierten Bohnen harkten, wandte Dannyl sich an ihren Gastgeber.
»Wie sehen Raka-Pflanzen eigentlich aus?«, fragte er.
Chakori lächelte, erfreut über die Frage. »Es sind kleine Bäume, die etwa die doppelte Größe eines Mannes haben. Die Bohnen stecken in Schoten – hier liegen noch welche.« Dannyl folgte Chakori zu dem Haufen welker Blätter, aber Achati blieb zurück. Chakori nahm zwei Blätter von dem Haufen und reichte Dannyl und Tayend jeweils eines. Sie waren dick und starr wie Gorin-Leder.
»Stellt Ihr aus diesen Blättern irgendetwas her?«, fragte Tayend.
»Ich gebe sie einem Nachbarn, der sie zerhackt und auf seine Felder verteilt. Er schwört, dass sie Insekten abstoßen und die Pflanzen schneller wachsen lassen.« Chakori zuckte die Achseln.
»Sie sehen ein wenig wie kleine Schiffsrümpfe aus«, bemerkte Tayend. »Oder sie könnten als Schalen benutzt werden. Brennen sie? Riecht der Rauch wie Raka?«
Dannyl blickte flüchtig zu Achati zurück. Sein Freund unterhielt sich mit Varn. Der Sklave hielt den Blick gesenkt, aber er lächelte schwach und nickte. Achati wirkte erleichtert. Dannyl drehte sich wieder um und sah, dass Tayend das Innere seiner Schote rieb.
»Schuhe«, murmelte er. »Ich frage mich, ob man daraus Schuhe machen könnte.«
Achati erschien neben Dannyl. »Ich würde nicht lange darin laufen wollen.«
»Nein. Ihr habt recht«, stimmte Tayend zu. Er gab Chakori die Schote zurück, der sie wieder auf den Haufen warf.
»So«, sagte Chakori. »Jetzt will ich Euch noch den Röstprozess zeigen.«
Lorkin hatte etwas entdeckt, von dem niemand in der Gilde wusste, vielleicht nicht einmal seine eigene Mutter.
Wenn einem Magier wieder und wieder alle Magie entzogen wurde, bekam er schreckliche Kopfschmerzen.
Seine Wärter hatten ihn daran gehindert, sich mithilfe von Magie zu erholen, indem sie ihm regelmäßig Macht abgezapft hatten. Auf diese Weise konnte er nicht einmal die Augenbinde über seinen Augen abnehmen. Selbst wenn er die Kraft gehabt hatte, sich zu bewegen, hatten seine wenigen Versuche, die Augenbinde zu entfernen, indem er den Kopf an der Mauer gerieben hatte, ihm einen Schlag auf den Schädel eingetragen, dass es ihm in den Ohren klingelte.
Der Mangel an Stärke machte es ihm überdies unmöglich, die Anspannung und den Schmerz zu lindern, die daraus resultierten, dass man ihm die Arme hinter dem Rücken gefesselt hatte. Ebenso wenig konnte er die Ergebnisse der schlaflosen Stunden lindern, während derer er auf dem kalten, unebenen Steinboden gelegen hatte. Dies alles hätte ihm jedoch nicht die Fähigkeit rauben sollen, in Gedanken nach jemandem zu rufen. Das verhinderte etwas anderes. Er war sich nicht sicher, was es war. Die Vorstellung, dass jemand seine Magie blockiert haben könnte, während er bewusstlos gewesen war, vermittelte ihm das Gefühl von großer Verletzbarkeit, bis ihm ein Weilchen später der Gedanke kam, dass man sich wohl kaum die Mühe machen würde, ihm immer wieder die Kräfte abzusaugen, wenn er sie ohnehin nicht benutzen konnte.
Die Stunden, die verstrichen, waren lang und elend.
Er konnte nichts anderes tun, als nachzudenken und zu versuchen, einen Ausweg aus seiner misslichen Lage zu finden. Seine Wärter waren vermutlich Mitglieder von Kalias Gruppe. Es war sehr unwahrscheinlich, dass Außenseiter im Sanktuarium lebten, obwohl er die Idee nicht zur Gänze verwarf. Vielleicht hatte die Gilde etwas zu seiner Rettung unternommen und unzufriedene Verräterinnen rekrutiert oder ihnen etwas versprochen – wie Kenntnisse der heilenden Magie –, wenn sie ihn retteten. Vielleicht hatte der sachakanische König hier bereits Spione und wollte, dass Lorkin aus dem Sanktuarium fortgeschafft wurde, bevor er es überfiel.
Das Problem war, dass es in beiden Fällen keinen Sinn machte, ihn auf diese Weise zu entführen.
Die wahrscheinlichsten Schuldigen sind Kalias Leute, schlussfolgerte er wieder einmal.
Er sagte sich, dass sie es nicht wagen würden, ihn zu töten, aber er konnte nicht umhin, sich Sorgen zu machen, dass er sich irrte. Auf die Hinrichtung eines Verräters stand die Todesstrafe, aber Kalias Gruppe würde höchstwahrscheinlich einwenden, dass er nicht wirklich ein Verräter war. Vielleicht war einer der Beteiligten bereit, die Schuld auf sich zu nehmen und sich selbst zu opfern, damit das Sanktuarium sich seiner entledigen konnte.
Wenn er sich fragte, was sie sonst noch von ihm wollen mochten, ließ die Antwort sein Herz vor Furcht und Zorn schneller schlagen.
Ganz gleich was sie mit mir vorhaben, sie werden meine Gedanken lesen. Wenn sie das tun, werden sie alles ausforschen, was ich über das magische Heilen weiß.
Dies führte ihn zu der Frage, was er tun würde, wenn sie dieses Wissen im Gegenzug für sein Leben verlangten. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie das tun würden, da sie seine Mitarbeit prinzipiell nicht benötigten. Allerdings war die Kenntnis der Grundlagen der magischen Heilung, die man sich durch eine Gedankenlesung gewiss aneignen konnte, nicht unbedingt ein Ersatz für Erfahrung und Übung.
Wenn sie es tatsächlich tun … würde ich ihnen die Magie geben? Ist die Bewahrung dieses Wissen vor ihnen wichtiger als mein Leben?
Manchmal dachte er, dass es nicht so war. Es hatte ihm nie gefallen, Wissen zurückzuhalten, das diesen Menschen helfen konnte. Er konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie zu skrupellosen Mitteln griffen, um es sich zu beschaffen.
Aber diese Entscheidung stand nicht ihm zu. Das Wissen gehörte der Gilde. Würde die Gilde von ihm erwarten, dass er starb, um dieses Recht zu schützen?
Muss ich mich wirklich der Autorität der Gilde beugen? Ich habe Dannyl gesagt, jeder solle so tun, als hätte ich die Gilde verlassen. Habe ich das wirklich ernst gemeint? Betrachte ich mich noch immer als einen Gildemagier?
Er bekam nicht die Gelegenheit, lange darüber nachzusinnen. Das Geräusch einer Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, ließ seinen Puls von neuem rasen. Er hörte Schritte. Etwas an ihrem Rhythmus bescherte ihm ein flaues Gefühl im Magen, und Ärger regte sich in ihm. Er hätte diesen knappen, energischen Gang überall erkannt.
Kalia.
»Wo seid Ihr gewesen? Wir haben ihn stundenlang bewacht«, beklagte sich eine Frau. Eine der Wächterinnen, die ihn bewacht und geleert hatte, vermutete Lorkin.
»Ich bin nicht früher weggekommen. Man hat mich beobachtet«, erwiderte Kalia.
»Natürlich hat man das. Jemand anderer hätte das für dich übernehmen sollen«, sagte die zweite Wächterin mürrisch.
»Ich bin die Heilerin des Sanktuariums«, entgegnete Kalia schneidend. »Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Leute die beste Behandlung bekommen.«
Darauf erwiderten die beiden Frauen nichts. Schritte kamen näher. Er hörte das Knacken von Gelenken. Seine Haut juckte unter der Augenbinde. Etwas Kühles, Lebendiges berührte seine Stirn.
Er zuckte instinktiv zurück und schüttelte die Hand ab. Dann wurde sein Kopf ergriffen und fest auf den Boden gedrückt. Die raue Oberfläche bohrte sich schmerzhaft in die Hinterseite seines Schädels. Die kühle Berührung kam zurück.
Er spürte eine andere Präsenz am Rande seines Geistes. Er spürte, wie sie mühelos in seinen Geist hineinschlüpfte. Obwohl es seine Kopfschmerzen verschlimmerte, versuchte er, gegen den Willen anzukämpfen, der nach seinen Erinnerungen griff. Aber es war nutzlos. Nichts hielt den gierigen Geist in seiner Suche und seinen Nachforschungen auf.
– Du wirst nicht damit durchkommen, sandte er dem Eindringling seine Botschaft. Wenn du Magie benutzt, um Menschen zu heilen, werden sie wissen, dass du das Wissen von mir gestohlen hast.
– Aber du hast es mir aus freien Stücken gegeben, erwiderte Kalia. Unmittelbar bevor du nach Hause zurückgekehrt bist. Ich werde ihnen natürlich erzählen, ich hätte versucht, es dir auszureden. Hätte gesagt, du solltest warten, so dass ich einen Führer für dich bereitstellen könne, damit du nicht erfrierst. Aber, ignoranter Kyralier, der du bist, warst du zu stolz, um das Angebot anzunehmen. Es wird dein eigener Fehler sein, dass du den Tod gefunden hast.
– Sie werden es nicht glauben.
– Natürlich nicht. Aber sie werden es akzeptieren müssen, da es keine Zeugen geben wird.
Lorkin spürte, wie Verzweiflung seine Selbstbeherrschung zu überwinden drohte. Er schob das Gefühl beiseite, und als Kalia abermals in seine Erinnerungen eintauchte und die Kenntnis der magischen Heilung an die Oberfläche rief, versuchte er, sie mit anderen Gedanken abzulenken. Sie ignorierte sie, zu erpicht darauf zu lernen, was er wusste. Erst als ihre Neugier befriedigt war, schweifte ihre Aufmerksamkeit ab. Und als das geschah, entlockte sie seinem Geist Erinnerungen und Tatsachen, von denen er nicht wollte, dass sie sie sah.
Der Geist war ein Verräter und brauchte nicht viel Überredung. Normalerweise wäre Lorkin imstande gewesen, diese Erinnerungen in seinem Geist hinter eingebildeten Türen zu halten, außer Sicht. Normalerweise würde der Magier, der in seinen Geist eintrat, diese Türen höflich ignorieren. Aber nicht Kalia.
Sie jagte hinter Erinnerungen an seine Kindheit in der Gilde her, amüsiert, als sie sah, wie man ihn wegen der niederen Herkunft seiner Mutter und ihres nicht vorhandenen Ehemanns verspottet hatte; hämisch zu erfahren, wie seine erste Liebe, Beriya, ihm das Herz gebrochen hatte; geringschätzig angesichts der Erwartungen, dass er etwas Heldenhaftes tun würde wie sein Vater; und verächtlich, als sie auf seine Zuneigung zu Tyvara stieß …
Ein Geräusch durchbrach Kalias Konzentration. Lorkins Ohren sagten ihm, dass es laut war, aber da seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Geist gerichtet war, spürte er es nicht. Dann kehrte sein Bewusstsein ruckartig in die äußere Welt zurück. Ihm schwirrte der Kopf.
»Was?«, blaffte Kalia.
»Man ist dir gefolgt. Wir haben die Verfolger abgelenkt, aber wir haben nicht lange Zeit, bis sie es bemerken.«
Stille trat ein. Lorkin konnte Kalia atmen hören.
»Ist es vollbracht?«, fragte eine der Wächterinnen.
»Vielleicht«, erwiderte Kalia in einem spekulativen Tonfall, bei dem ihn ein kalter Schauer überlief. »Zieht ihn hoch. Ich kenne das perfekte Versteck für ihn.«
Lorkin, dem noch immer der Kopf schwirrte, wenn auch eher aufgrund des Mangels an Nahrung und Wasser, spürte, wie jemand ihn auf die Füße riss und dann in einen engen Gang schob.
Der Schnee, der in der Nacht zuvor gefallen war, türmte sich in Verwehungen zu beiden Seiten der Straße auf. Er hielt sich dort im Schatten der Bäume, wohin das Sonnenlicht noch nicht gedrungen war. Sonea beugte sich dichter ans Fenster heran, um zum Ausguck hinaufzuschauen, und fragte sich, ob das Gebäude wohl kälter war als die Häuser in der Stadt. Etwas zog ihren Blick zu der dritten Reihe von Fenstern.
Schaut da jemand heraus? Sie runzelte die Stirn, und als sie genauer hinsah, erkannte sie in einem der Fenster das Gesicht einer jungen Frau. Lilia.
Das Mädchen beobachtete die Kutsche. Es schien, als träfen sich ihre Blicke, obwohl Sonea zu weit entfernt war, um zu erkennen, ob sie es sich nur einbildete oder nicht. Dann folgte die Kutsche einer Biegung der Straße, und sie verloren einander aus den Augen.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit, schoss es Sonea durch den Kopf. Aber zumindest lebt sie und ist in Sicherheit.
Ihre Gedanken wanderten zu Naki. Das Mädchen war seit einer Woche verschwunden. Ihre Diener hatten ihre Abwesenheit erst gemeldet, als Naki länger als gewöhnlich ausgeblieben war. Anscheinend war sie gelegentlich ohne Erklärung für einige Tage verschwunden. Sämtliche Diener des Haushalts waren von Magiern befragt worden, und man war ihren Vermutungen, was den möglichen Aufenthaltsort des Mädchens betraf, nachgegangen, aber diese Vermutungen hatten sich bei den Nachforschungen stets als falsch erwiesen. Die Gilde hatte sich mit Verwandten in Verbindung gesetzt, aber niemand hatte von dem Mädchen gehört.
Naki hatte in jüngster Zeit keine Besuche empfangen, aber jede Menge Briefe bekommen. Eine Dienerin hatte erzählt, dass Naki, nachdem sie die Briefe erhalten hatte, keinen glücklichen Eindruck gemacht und die Briefe unverzüglich mit Magie verbrannt habe.
Aber als Kallen erklärte, dass Nakis Kräfte blockiert worden seien, so dass sie keine Magie hätte benutzen können, hat die Dienerin ein nachdenkliches Gesicht gemacht. Sie sagte, sie habe Naki in jüngster Zeit einen Brief ins Feuer werfen sehen, jedoch gedacht, sie habe es aus Wut getan. Es ist ihr nicht in den Sinn gekommen, dass es daran lag, dass Naki keine Magie mehr benutzen konnte.
Kallen hatte gefragt, ob noch weitere Briefe gekommen seien, seit Naki das Haus verlassen hatte. Die Dienerin hatte darüber nachgedacht und dann den Kopf geschüttelt. Kluger Kallen, ging es Sonea durch den Kopf. Ich habe daran gedacht zu fragen, wann die ersten Briefe kamen, nicht ob sie irgendwann ausgeblieben sind.
Die Kutsche kam am Fuß des Turms zum Stehen. Sonea stieg aus, und kalte Luft umfing sie. Die Wachen, die rund um den Turm postiert waren, waren alle dick eingemummt. Sie widerstand der Gewohnheit, einen Schild um sich herum zu schaffen und die Luft darin zu erwärmen. Die eisige Luft war erfrischend, und sie hatte es immer geliebt zu sehen, wie ihr Atem einen weißen Nebel vor ihrem Gesicht bildete. Als Kind war ihr das magisch erschienen, obwohl es im Allgemeinen bedeutete, dass sie vor Kälte zitterte.
Eine Erinnerung blitzte in ihren Gedanken auf: Sie war in einen alten Mantel gewickelt gewesen, und ihre Füße hatten geschmerzt, als die Kälte ihre dünn besohlten Schuhe durchdrungen hatte. Dann wurde die Tür des Ausgucks geöffnet, und die Erinnerung verblasste. Der Wachmann verneigte sich und winkte sie gleichzeitig hastig herbei, erpicht darauf zu vermeiden, kalte Luft in das Gebäude einzulassen.
Nach dem gewohnten höflichen Wortwechsel mit dem Hauptmann und dem diensthabenden Magier folgte Sonea einem anderen Wachposten die Treppe hinauf. Er öffnete die kleine Luke in der Tür zu Lilias Zimmer.
»Ihr habt Besuch, Lady Lilia«, rief er. Dann versperrte er die kleine Luke und wandte seine Aufmerksamkeit dem Schloss zu. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, trat er beiseite, damit Sonea an ihm vorbei in den Raum treten konnte.
Lilia stand neben einem Stuhl am Fenster. Ihre Augen waren groß, und sie sah Sonea hoffnungsvoll an, bevor sie sich zu fassen schien.
»Schwarzmagierin Sonea«, sagte sie mit einer Verbeugung.
»Lilia«, erwiderte Sonea. Als sie sich im Raum umschaute, bemerkte Sonea, dass er behaglich möbliert und warm war. Zwei Bücher lagen auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel. »Ich habe einige Fragen an Euch.«
An die Stelle der Hoffnung auf den Zügen des Mädchens traten Enttäuschung und Resignation. Sie nickte, dann deutete sie auf einen kleinen Tisch und zwei Holzstühle. »Bitte, nehmt Platz.«
Sonea nahm die Einladung an und wartete, bis Lilia sich auf den anderen Stuhl gesetzt hatte, bevor sie dem Mädchen in die Augen sah.
»Naki ist seit einer Woche nicht mehr gesehen worden.« Sonea bemerkte Bestürzung in Lilias Zügen. »In ihrem Haus gab es keine Anzeichen von Gewalt und auch keinen Brief, der irgendetwas erklärt hätte. Wir haben alle Orte abgesucht, die Naki den Dienern zufolge gern besucht hat. Kennt Ihr irgendeinen Ort, an den sie gegangen sein könnte und von dem die Diener nichts wissen würden?«
Lilia verzog das Gesicht. »Einige Glühhäuser.« Sie zählte mehrere Namen auf.
Sonea nickte. »Die haben die Diener ebenfalls erwähnt. Sonst noch etwas?«
Lilia schüttelte den Kopf.
»Keine anderen Freunde – vielleicht solche, mit denen sie nicht länger befreundet war?«
»Nein. Obwohl … in der Gilde ging das Gerücht, sie sei mit einer Dienstmagd befreundet gewesen, aber ihr Vater habe die Familie hinausgeworfen.«
»Ja, wir haben uns mit ihnen in Verbindung gesetzt, und sie haben Naki ebenfalls nicht gesehen. Gab es irgendwelche Jungen, die sie umworben haben, auch wenn sie kein Interesse an ihnen hatte?«
Lilia senkte den Blick und wurde rot. »Nicht dass ich wüsste.«
»Hatte sie … hatte sie irgendwelche Beziehungen zu Verbrechern – vielleicht Feuelverkäufern?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich vermute, sie musste das Feuel von irgendjemandem kaufen. Sofern sie nicht die Vorräte ihres Vaters gestohlen hat.« Lilia blickte auf. »Habt Ihr schon etwas über seinen Mörder in Erfahrung gebracht?«
Sonea hielt inne, ein wenig verärgert über den Themenwechsel. Aber sie wird darauf brennen, Neuigkeiten zu hören, da ihre Freundin sie für die Tat verantwortlich gemacht hat.
»Nein«, antwortete Sonea. »Zumindest war es, falls die Magier, die die Nachforschungen anstellen, etwas erfahren haben, nicht wichtig genug, um es den Höheren Magiern zu berichten.«
»Also … stellt Ihr nicht selbst Nachforschungen an?«
Sonea lächelte schief. »Ich wünschte, ich könnte, aber ich muss einen wilden Magier finden. Es ist Schwarzmagier Kallens Verantwortung.«
»Aber Ihr geht der Frage nach, wo Naki ist.«
»Ich habe mich erboten, Euch zu befragen, da wir bereits ein wenig miteinander geredet haben.«
Lilia nickte.
»Den Dienern zufolge hat Naki Briefe erhalten, die sie aufgeregt haben. Sie hat sie schon einige Zeit vor Lord Leidens Tod erhalten, bis zu dem Tag, an dem sie zu Hause das letzte Mal gesehen wurde. Wisst Ihr etwas über diese Briefe?«
Lilia schüttelte den Kopf, dann seufzte sie. »Ich bin Euch nicht von großem Nutzen, nicht wahr?«
»Was jemand nicht weiß, kann genauso nützlich sein wie das, was er weiß«, erwiderte Sonea. »Es ist interessant, wenn man bedenkt, wie bereitwillig Naki Euch das Wissen über das Buch mit den Anweisungen für die Anwendung von schwarzer Magie anvertraut hat, ohne Euch jemals von den Briefen zu erzählen. Das lässt auf ein weit größeres Geheimnis schließen.«
»Was könnte schlimmer sein als schwarze Magie?«, fragte Lilia kleinlaut.
»Ich weiß es nicht.« Sonea stand auf. »Aber ich habe die Absicht, es herauszufinden. Danke für Eure Hilfe, Lilia. Wenn Euch irgendetwas einfällt, lasst die Wachen jemanden zu mir schicken.«
Lilia nickte. »Das werde ich.«
Sonea, die den Blick des Mädchens spürte, verließ den Raum. Als der Wächter die Tür hinter ihr verschloss, betrachtete sie die Tür daneben. Lorandra. Hat es irgendeinen Sinn, sie noch einmal zu besuchen? Ich schätze, da ich schon einmal hier bin …
Was tust du, Naki? Wo bist du? Bist du aus freien Stücken dort, oder hat dich jemand verschleppt?
Bist du überhaupt noch am Leben?
Einmal mehr krampfte Lilias Magen sich zusammen. Den ganzen Tag über waren ihr diese Fragen wieder und wieder durch den Kopf gegangen. Zuerst hatte sie sie willkommen geheißen und gehofft, dass die Antworten sich irgendwie an die Oberfläche ihres Geistes erheben würden und dass sie nach Welor würde rufen und ihn zu Sonea schicken können. Mit ihrer Hilfe würde Naki gerettet werden – oder schlicht und einfach gefunden. Ihre Freundin würde vielleicht begreifen, dass sie ihr niemals etwas antun würde. Oder aber die Gilde würde für Lilias Hilfe dankbar sein und sie vielleicht …
Mich hier herauslassen? Das bezweifle ich. Lilia seufzte. Das wird nur geschehen, wenn ich irgendwie vergesse, wie man schwarze Magie benutzt.
Sie zwang sich, mit ihrer rastlosen Wanderung durch den Raum aufzuhören, setzte sich hin und griff nach einem der Bücher. Obwohl sie begonnen hatte zu verstehen, warum es Welor gefiel – die Schlachtenbeschreibungen waren offensichtlich mit einiger Wonne niedergeschrieben worden –, hätte nicht einmal die aufregendste Geschichte ihre Aufmerksamkeit lange fesseln können. Nicht, solange die Person, die sie auf der Welt am meisten liebte, verschwunden war. Sie legte das Buch wieder beiseite.
Ein Geräusch aus dem benachbarten Zimmer lenkte ihren Blick auf die Nebentür. Sie hatte gelauscht, als Sonea mit Lorandra gesprochen hatte. Es war ein seltsames Gespräch gewesen, größtenteils einseitig, da Lorandra nicht geneigt war, Soneas Fragen zu beantworten, und wenn sie doch gesprochen hatte, hatte sie häufig vollkommen das Thema gewechselt. Obwohl beide nichts gesagt hatten, was als unhöflich oder bedrohlich gelten konnte, vermittelte die ganze Begegnung Lilia einen Eindruck von Feindseligkeit. Lorandra wollte nicht mit der Gilde zusammenarbeiten. Es überraschte Lilia nicht, als Sonea aufgab und ging.
Jetzt, da es nichts mehr zu lauschen gab, wanderte sie wieder rastlos in ihrem Zimmer herum. Ein Klopfen an der Tür ließ Lilia zusammenzucken.
»Seid Ihr jetzt mit Eurem endlosen Auf und Ab fertig?«, fragte eine gedämpfte Stimme.
Lilia lächelte schief. Wenn sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die andere Frau zu belauschen, dann war es keine Überraschung, dass Lorandra ihrerseits das Gleiche tat.
»Für den Augenblick«, sagte sie und ging zur Tür hinüber.
»Ihr habt schlechte Nachrichten erhalten?«
»Ja. Meine Freundin ist verschwunden.« Lilia hatte Lorandra zwar von Naki erzählt, sie dabei aber immer nur als enge Freundin beschrieben.
»Wisst Ihr, wo sie ist?«
»Nein.« Lorandra muss gehört haben, wie ich das sagte … aber ich nehme an, sie hat nicht wissen können, ob ich gelogen habe.
»Ich wette, Ihr wünscht, Ihr könntet in die Stadt gehen und nach ihr suchen.«
»Das tue ich. Sehr sogar.« Lilia seufzte. »Aber selbst wenn ich nicht hier eingesperrt wäre, wüsste ich nicht, wo ich nachsehen sollte.«
»Was haltet Ihr für wahrscheinlicher – dass sie gegen ihren Willen fortgebracht wurde oder dass sie sich versteckt?«
Lilia überlegte. »Warum sollte sie sich verstecken? Wenn sie schwarze Magie erlernt hätte, würde das Sinn ergeben, aber Schwarzmagierin Sonea hätte es in ihrem Geist gesehen. Also ist es wahrscheinlicher, dass man sie gegen ihren Willen …« Lilia konnte den Satz nicht beenden. Sie schauderte. Und doch fühlte sie sich ein klein wenig besser. Dies war zumindest eine Antwort. Selbst wenn es keine gute war.
»Wer sollte das tun wollen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was hat sie, das andere haben wollen könnten?«
»Geld. Sie hat das Vermögen ihres Vaters geerbt, als dieser starb.« Lilias Herz verkrampfte sich. »Vielleicht hat sie herausgefunden, wer ihn getötet hat!«
»Wenn es so ist, ist sie wahrscheinlich tot.«
Lilia schluckte schwer. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
»Was ist, wenn sie nicht tot ist?«, fragte Lilia. »Was ist, wenn sie gefangen gehalten wird? Was, wenn sie erpresst wird?« Was, wenn jemand versucht, sie dazu zu zwingen, ihm von den Anweisungen in dem Buch über schwarze Magie zu erzählen?
Lorandra schwieg mehrere Atemzüge lang. »Ich nehme an, Ihr werdet es nicht erfahren, es sei denn, die Gilde findet es heraus und macht sich die Mühe, es Euch zu erzählen. Denkt Ihr, dass man das tun wird?«
Lilias Schultern sanken herab. »Ich weiß es nicht.«
»Es klang so, als hätte Sonea ihre Zweifel.«
»Wirklich?« Lilia dachte zurück. Sie konnte sich nicht erinnern. Der Schreck und die Sorge um Naki hatten ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht.
»Ja.« Lorandra klopfte leise an die Tür, als trommele sie nachdenklich mit den Fingern. »Früher wäre ich in der Lage gewesen, es für Euch herauszufinden. Ich habe Beziehungen in der Stadt. Viele, viele Beziehungen. Die meisten sind nicht besonders respektabel, aber das ist zum Teil der Grund, warum ich hier bin. Wenn ich frei wäre, würde ich Euch helfen, Eure Freundin zu finden, oder in Erfahrung bringen, was mit ihr geschehen ist.«
Lilia lächelte, obwohl sie wusste, dass die Frau es nicht sehen konnte. »Danke. Es ist schön zu wissen, dass Ihr das tun würdet, wenn Ihr dazu in der Lage wärt.« Wie seltsam, dass diese Frau, die die Gilde für eine Verbrecherin hält, besser als jeder andere versteht, was ich durchmache. Nun, es heißt wohl nicht umsonst, dass für die Diebe und die ganze Unterwelt Loyalität sehr wichtig ist.
»Man hat Eure Kräfte blockiert, bevor man Euch hierherbrachte, nicht wahr?«
»Natürlich.« Lilia runzelte angesichts des Themenwechsels die Stirn.
»Habt Ihr je versucht, die Blockade zu durchbrechen oder an ihr vorbeizukommen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich … warum sollte ich mir die Mühe machen? Schwarzmagierin Sonea hat meine Kräfte blockiert. Ich werde ihre Blockade wohl kaum durchbrechen können. Ich würde bei dem Versuch nur Kopfschmerzen bekommen.«
»Also … es macht einen Unterschied, wie stark der Magier ist, der eine Blockade einrichtet? Oder ob es sich bei diesem Magier um einen Schwarzmagier handelt?«
Lilia schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass die Blockade den eigenen Willen von der Macht des Betreffenden trennt, also spielt es keine Rolle, wie stark man ist.«
»Eine Blockade kann jedoch nicht alle Kontrolle abtrennen. Anderenfalls wären wir tot.«
»Natürlich.«
»Wie machen sie das?«
»Ich weiß es nicht.« Lilia seufzte. Sie hatte heute ziemlich oft »Ich weiß es nicht« gesagt.
»Mir scheint, dass Schwarzmagier nicht nur stärker sind als gewöhnliche Magier, sondern auch über eine andere Art von Magie gebieten. Eine andere Art, ihre Magie zu kontrollieren.«
»Sie sind nicht stärker, es sei denn, sie nehmen Macht von anderen Leuten«, korrigierte Lilia sie. »Obwohl sie beide stärker waren als die meisten anderen Magier, bevor sie schwarze Magie erlernten. Es ist Sonea und Kallen nicht gestattet, ohne Erlaubnis Macht zu nehmen, und man würde sie ihnen nur geben, wenn das Land angegriffen würde oder einer anderen Bedrohung gegenüberstünde.«
»Wirklich? Dann habe ich recht. Es ist eine andere Art von Magie.«
Lorandras Tonfall war der eines Menschen, der gerade etwas erfahren hatte und sehr zufrieden damit war. Wenn sie das nicht wusste … hätte ich es ihr erzählen sollen? Sie hat recht – ich habe die schwarze Magie nicht erlernt, indem ich Macht genommen habe, sondern indem ich eine andere Weise, meine Macht zu spüren, ausprobiert habe.
»Also sind ihre Kräfte von anderer Art«, bemerkte Lorandra. »Sie können Dinge tun, die andere Magier nicht tun können. Wie Gedankenlesen. Sie können die Schutzwälle eines anderen umgehen, im Gegensatz zu gewöhnlichen Magiern.«
»Ja.« So viel war offensichtlich.
Lorandra hielt abermals inne, aber nicht so lange wie zuvor. »Ich habe folgende Idee: Wenn Ihr mit Eurem Geist andere Dinge tun könnt, sollte das bedeuten, dass jedwede Blockade in Eurem Geist ebenfalls von anderer Art sein müsste. Hat Sonea Euren Geist auf die gewöhnliche Art blockiert? Nein, antwortet mir nicht«, fügte sie hinzu. »Ich denke nur laut. Aber beantwortet dies, wenn Ihr könnt: Hat schon zuvor jemand die Kräfte eines Schwarzmagiers blockiert?«
»Nicht dass ich wüsste. In den Geschichtslektionen wird das nicht erwähnt.«
»Ich denke, Ihr solltet versuchen, an der Blockade vorbeizukommen. Wenn noch nie jemand die Kräfte eines Schwarzmagiers blockiert hat und Schwarzmagier normale Hindernisse überwinden können, woher wollen sie dann wissen, ob sie es richtig hinbekommen haben?«
Lilia starrte auf die Tür. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Sie wollte einwenden, dass Sonea die Blockade einfach neu einrichten könnte. Falls sie herausfände, dass sie verschwunden ist. Solange ich niemals Magie benutze, wenn jemand hier ist, würde niemand davon erfahren. Aber sie ignorierte die augenfällige Konsequenz eines Erfolgs: Lorandra würde sich nicht damit zufriedengeben, im Ausguck zu bleiben. Sie will, dass ich uns hier herausbringe.
Normalerweise hätte Lilia abgelehnt. Normalerweise wäre sie geblieben, wo sie war, wohl wissend, dass Sonea und Kallen Jagd auf sie machen und sie finden würden und dass die Strafe für eine Flucht schlimmer sein würde als bloße Einkerkerung.
Sie würden mich wahrscheinlich hinrichten.
Aber wenn sie Naki fand, war es das vielleicht wert. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie die Stadt nicht gut genug kannte, um Naki zu finden, bevor die Gilde sie einfing, aber hier war eine Frau, die die Stadt sehr gut kannte. Die die Unterwelt kannte, wo Naki höchstwahrscheinlich gefangen war. Eine Frau, die Lilia helfen wollte.
Mehr als alles andere auf der Welt wollte Lilia Naki finden. Aber was wollte Lorandra?
Nun, sie will mir helfen, wenn ich sie im Gegenzug aus diesem Gefängnis befreie, dachte Lilia. Ich sollte sie dazu bringen, einigen Bedingungen zuzustimmen.
»Was denkt Ihr, wie lange es dauern wird, Naki zu finden?«
Lorandra kicherte. »Ihr seid ziemlich schnell, Lady Lilia. Ich kann Euch das nicht genau sagen. Ich werde meine Leute aufspüren müssen, und wenn sie es nicht bereits wissen, würden sie einige Zeit darauf verwenden müssen, es herauszufinden.«
»Denkt Ihr, wir könnten uns jede Nacht davonstehlen und am Morgen zurückkehren, ohne dass die Wachen es bemerken?« Das würde uns mehr Zeit verschaffen als die Alternative: wenn wir verschwänden und die Gilde anfangen würde, Jagd auf uns zu machen. Wir könnten wochenlang nach Naki suchen, wenn es nötig wäre. Und wenn sie dann entdecken, dass wir uns davongeschlichen haben, werden sie mir vielleicht verzeihen, weil wir jedes Mal zurückgekehrt sind. Wir könnten Naki sogar finden, ohne dass die Gilde davon erfährt, dass wir den Ausguck jemals verlassen haben.
»Wahrscheinlich.« Lorandras Tonfall war schwer zu deuten. »Es hängt davon ab, ob wir hier hinaus- und wieder hereinkommen können, ohne dass jemand es bemerkt. Wenn ich Zugang zu meinen Kräften hätte, könnte ich schweben.«
»Ich kann das tun«, sagte Lilia schnell. Sie wollte sich nicht dazu überreden lassen, die Blockade von Lorandras Kräften zu entfernen. Es war schlimm genug, die Frau auf freien Fuß zu setzen, aber eine ganz andere Sache war es, sie auf die Stadt loszulassen, wenn sie die volle Kontrolle über ihre Kräfte hatte. »Also … wenn ich uns hier herausbringe, versprecht Ihr mir dann, mir bei der Suche nach Naki zu helfen?«
»Ja.«
»Und wir werden versuchen, uns davonzustehlen und zurückzukehren, ohne dass irgendjemand es bemerkt?«
»Ja.«
»Dann werde ich es tun. Falls ich die Blockade entfernen kann.«
»Wenn Ihr schwarze Magie schon beim ersten Versuch erlernt habt, wird es bei der Blockade vermutlich das Gleiche sein. Entweder schafft Ihr es sofort oder gar nicht.«
»Das hoffe ich. Während ich es versuche, denkt Ihr darüber nach, wie wir hier herauskommen.«
»Das mache ich. Viel Glück.«
Lilia trat von der Tür weg. Sie schaute sich um, dann ging sie zu dem Stuhl am Fenster und setzte sich. Nachdem sie die Augen geschlossen hatte, begann sie mit einer Atemübung, um ihren Geist zu beruhigen und zu konzentrieren.
Als sie sich bereit fühlte, sandte sie ihre Aufmerksamkeit nach innen. Sofort nahm sie die Blockade wahr. Wann immer sie das bisher getan hatte, hatte sie unverzüglich den Ball aus Energie in sich entdeckt. Jetzt war etwas im Weg. Es war wie ein magischer Schild oder eine Barriere und doch wieder ganz anders.
Sie stieß sanft dagegen. Die Blockade widersetzte sich. Sie versuchte es nachdrücklicher, aber es war wie eine harte, kalte Mauer. Ich muss mir mehr Mühe geben. Es wird wehtun. Darauf muss ich gefasst sein. Sie versuchte, sich gegen den Schmerz zu wappnen, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das tun sollte. Es war nicht so, als hätte ihr Geist Muskeln, die sie anspannen konnte.
Sie nahm ihre ganze Entschlossenheit zusammen und warf ihre Willenskraft gegen die Mauer. Sofort explodierte ein scharfer Schmerz in ihrem Geist. Sie keuchte auf, öffnete die Augen und hielt sich den Kopf, der jetzt schlimmer wehtat als bei jedem Kopfschmerz, den sie je zuvor erlitten hatte.
Oh. Das war unangenehm. Sie wiegte sich hin und her, konzentrierte sich auf ihre Atmung und wartete ab, während der Schmerz langsam verebbte. Dann schloss sie erneut die Augen und betrachtete die Blockade. Ein mächtiges Widerstreben überkam sie, ihre Sinne noch einmal auch nur in die Nähe dieser Mauer auszustrecken.
Ich liebe Naki. Ich muss ihr helfen. Ich muss einen Weg finden.
Sie sondierte die Blockade. Wie stark ist sie? Sie vermittelte kein Gefühl von Stärke. Sie war einfach da.
Sie dachte über Lorandras Worte nach, dass schwarze Magie eine andere Art von Magie sei. Und sie erinnerte sich an die Anweisungen in dem Buch.
»Im frühen Stadium der Ausbildung lehrt man einen Novizen, sich seine Magie als ein Gefäß vorzustellen – vielleicht eine Schachtel oder eine Flasche. Während er mehr lernt, begreift er, was seine Sinne ihm sagen: Dass sein Körper das Gefäß ist und dass die natürliche Barriere der Magie an der Haut seine Macht im Inneren festhält.«
Mein Körper ist das Gefäß, sagte sie sich und suchte dann nach diesem sich ausdehnenden Bewusstsein, das sie schon früher kennengelernt hatte. Es kam sofort, und eine Woge der Erregung schlug über ihr zusammen. Sie suchte nach der Blockade. Sie war immer noch da.
Aber jetzt war sie bedeutungslos. Die Blockade beschützte den Ort, an dem man sie nach Magie zu suchen gelehrt hatte, aber ihr ganzer Körper war voller Magie. Sie konnte sie von überall anzapfen …
Lilia öffnete die Augen. Sie griff nach Magie und spürte, wie die Magie reagierte. Sie kanalisierte sie nach außen und benutzte sie, um Welors Bücher vom Tisch zu heben. Ein Gefühl des Triumphs durchfuhr sie.
Ich habe es geschafft!
Sie sprang vom Stuhl und eilte zur Tür.
»Ich habe es geschafft!«, rief sie aus. »Ihr hattet recht!«
»Gut gemacht. Jetzt geht von der Tür weg und seid leise«, flüsterte Lorandra. »Ich kann jemanden kommen hören.«
Lilias Herz setzte einen Schlag aus. Sie wich von der Tür zurück und lauschte. Und tatsächlich, das schwache Geräusch der Schritte einer einzelnen Person war zu vernehmen.
»Abendessen«, sagte sie. »Ich werde später mit Euch reden.«
»Braves Mädchen.«
Lilia wandte sich von der Tür ab, ging zu dem kleinen Tisch, an dem sie aß, und wartete darauf, dass Welor eintrat, im einen Augenblick voller Jubel über ihre Leistung, während sie im nächsten die Schuldgefühle wegen der Dinge, die sie zu tun beabsichtigte, von sich schob.
Ich tue es für Naki, sagte sie sich. Es spielt keine Rolle, was anschließend mit mir geschieht, Hauptsache, sie ist in Sicherheit.
Lorkin hatte das Gefühl, dass er schon tagelang darauf wartete, dass jemand ihn tötete – immer in der Ungewissheit, ob er noch Minuten oder Stunden zu leben hatte. Obwohl er die Panik, die ihn ständig zu überwältigen drohte, erfolgreich niederkämpfte, verebbte die Übelkeit keinen Moment lang. Wann immer das Brennen eines Schnitts auf seiner Haut ankündigte, dass jemand seine wiedererwachenden Kräfte anzapfen würde, fragte er sich, ob er diesmal nicht nur erschöpft, sondern bewusstlos zurückbleiben würde. Jedes Mal, wenn die Prozedur endete, verspürte er eine bittere Erleichterung.
Ich bezweifle, dass die Wachen diejenigen sein werden, die mir den Rest geben, überlegte er. Das wird Kalia selbst übernehmen wollen.
Oder vielleicht nicht? Es war wahrscheinlich sicherer, wenn eine geringere Magierin ihn erledigte. Dann konnte sie argumentieren, dass nicht sie diejenige gewesen sei, die ihn ermordet hatte, falls man seinen Tod verdächtig fand. Wenn man jedoch ihre Gedanken las, konnte er sich nicht vorstellen, wie sie die Tatsache verbergen wollte, dass sie den Befehl zu seiner Ermordung gegeben hatte.
Dann hörte er, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und sein Herz begann zu rasen. Einen Moment später erklang die Stimme, die ihm einen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte: Kalias Stimme.
»Ist es so weit?«, fragte eine seiner Wächterinnen.
»Noch nicht. Ich will sicher sein, dass ich alles habe, was ich brauche.«
Lorkin wurde flau im Magen. Er hörte Schritte näher kommen und war nicht überrascht, als eine Macht ihn auf den Boden presste. Dann bescherte es ihm ein schwaches Gefühl der Befriedigung, das Ächzen der Anstrengung wahrzunehmen, als Kalia sich hinhockte. Kalte Finger berührten seine Stirn, und er schauderte, als ihre widerwärtige Präsenz seinen Geist erfüllte.
Sofort spürte er, dass sie in Eile war. Sie tastete seine Erinnerungen hastig ab und griff nach jenen, die die Heilkunst betrafen, dann schien sie sich zu zwingen, sich mehr Zeit zu nehmen, und untersuchte, was sie am Tag zuvor erfahren hatte. Er wusste, dass sie erkennen konnte, dass die Anwendung des Wissens der Krankheit und dem Zustand des Patienten entsprechend geformt und dosiert werden musste, aber sie hatte keine Zeit, ihm die Einzelheiten zu entlocken. Den Rest würde sie durch Experimentieren in der Praxis herausfinden müssen. Im Moment wollte sie lediglich wissen, wie sie es am besten vermeiden konnte, Schaden anzurichten.
»Sprecherin …«
Die Stimme der Wächterin klang wie aus weiter Ferne, als stehe sie auf der anderen Seite einer Wand oder einer Tür. Kalia hielt inne, dann ließ sie Lorkins Geist widerstrebend los und verschwand aus seinen Sinnen.
Er verspürte einen müden, siedenden Zorn. Falls du jemals die Wahrheit herausfindest, Tyvara, dachte er, sorg dafür, dass sie bekommt, was sie verdient.
»Es gibt keinen anderen Weg aus … «
»Sei still«, blaffte Kalia. Ihre Stimme klang nah, als beuge sie sich noch immer über ihn. Dann hörte er, worauf die Frauen gelauscht hatten. Schritte. Stimmen.
Kalia fluchte.
Das Geräusch der Tür, die geöffnet wurde, drang an seine Ohren. Jemand schnappte erschrocken nach Luft.
»RUNTER von ihm!«
»Nein, Tyvara«, befahl eine andere Stimme.
Tyvara! Lorkins Herz machte einen Satz. Die Macht, die ihn zu Boden drückte, verschwand. Er rappelte sich in eine sitzende Position hoch und versuchte, mithilfe der rauen Wand in seinem Rücken die Augenbinde loszuwerden. Plötzlich strichen abermals Finger über sein Gesicht, nur dass sie diesmal warm waren.
»Warte. Lass mich das abnehmen«, murmelte Tyvara. Die Augenbinde wurde nach oben geschoben und gab ihn widerstrebend frei. Er blinzelte in dem hellen Licht, dann grinste er, als er sah, dass Tyvara vor ihm hockte, das Gesicht voller Sorge.
»Bist du verletzt?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, da du hier bist.« Er konnte nicht aufhören zu lächeln. »Wirst du nun Schwierigkeiten bekommen, weil du mit mir gesprochen hast?«
»Sei nicht albern. Dreh dich um.«
Er gehorchte, und die Fesseln an seinen Handgelenken fielen zu Boden. Gleichzeitig spürte er, wie ein kleiner Teil seines Geistes von einer Fessel befreit wurde, derer er sich kaum bewusst gewesen war. Als er auf die Verbände hinabschaute, sah er zwischen den Stoffbahnen einen hellgelben Edelstein.
Sie haben mich mit Verbänden gefesselt. Der Umstand, dass sie für das Heilen bestimmte Materialien als Fesseln für ihn benutzt hatten, weckte noch größere Verachtung in ihm. Hat der Stein mich daran gehindert, Gedankenrede zu benutzen? Ich nehme an, sie mussten etwas in dieser Art schaffen, für den Fall, dass sie einen Gefangenen daran hindern mussten, ihren Standort preiszugeben.
Tyvara erhob sich und half ihm aufzustehen. Ihm war schwindlig. Die Erleichterung darüber, sich keine Sorgen mehr darum machen zu müssen, was als Nächstes geschehen würde, schlug über ihm zusammen. Er widerstand einem jähen Drang, Tyvara zu küssen. Sie wandte das Gesicht dem Raum zu, und er riss widerstrebend den Blick von ihr los, um die anderen Verräterinnen im Raum zu betrachten.
Zwei Sprecherinnen standen vor Kalia. Eine war Savara. Die andere war Halana. Weitere Magierinnen standen hinter ihnen im Flur.
»Hast du von ihm gelernt, wie man mit Magie heilt?«, fragte Savara.
Kalia zuckte die Achseln. »Möglicherweise.«
Savara sah Lorkin an. »Hat sie es gelernt?«
Er nickte, dann schauderte er bei der Erinnerung an den fremden Geist in seinem. Die Erleichterung und der Jubel über seine Rettung verebbten. Das ist etwas, das ich niemals vergessen werde, dachte er. Es würde in seinen Albträumen zu ihm zurückkehren.
»Du hast unser Gesetz gebrochen«, sagte Savara zu Kalia. »Du wirst verurteilt werden.«
»Natürlich«, erwiderte Kalia. »Dann bringen wir es hinter uns.« Das Kinn hoch erhoben stolzierte sie aus dem Raum. Halana folgte ihr.
Savara schaute noch einmal zurück, um die beiden Wächterinnen anzusehen. »Ergreift sie ebenfalls«, befahl sie. Die wartenden Magierinnen traten ein und führten die beiden aus dem Raum.
Tyvara machte keine Anstalten zu folgen. Lorkin sah sie an. Sie musterte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
»Was?«
Sie lächelte. Dann umfasste sie seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn.
Begehren durchströmte ihn, gefolgt von Schwindel. Er ergriff ihre Arme ebenso sehr, um sie an sich zu ziehen, wie um zu verhindern, dass er der Länge nach hinfiel. Sie kicherte und schob ihn ein kleines Stück von sich.
»Du bist nicht vollkommen unverletzt, oder?«, fragte sie. »Sie werden dich ständig geleert haben. Haben sie dir überhaupt etwas zu essen gegeben?«
»Ähm«, brummte er, dann zwang er sich, über ihre Fragen nachzudenken. »Doch, ja und nein.«
»Geleert ist nicht das, was ich unverletzt nennen würde«, beschied sie ihm.
»Ich bezweifle, dass deine Mitverräterinnen dir da zustimmen würden.«
»Selbst Kalia würde zustimmen, dass es einem Menschen Schaden zufügt, wenn man ihn gegen seinen Willen leert. Was der Grund ist, warum wir Gesetze dagegen haben. Sie wird …«
Die Spitzfindigkeiten waren zu viel für ihn. Er schnitt ihr mit einem weiteren Kuss das Wort ab. Der Kuss war lang und scheinbar endlos, und zu seiner Überraschung war er derjenige, der sich schließlich löste.
»Die Bücher liegen vollkommen falsch«, sagte er.
Sie runzelte die Stirn. »Bücher? Welche Bücher?«
»Die, die kyralische Frauen so sehr mögen. In diesen Büchern werden Frauen immer von Männern gerettet. Sie sagen, die Geschichten würden niemals andersherum erzählt, weil das nicht aufregend sei und niemand die Bücher lesen würde.«
»Und du bist nicht dieser Meinung?«
»Nein.« Er grinste. »Es ist sehr aufregend.«
Sie verdrehte die Augen und zog sich ungeachtet seiner Proteste aus seinen Armen zurück. »Komm. Wir haben hier einen sehr aufregenden Skandal, der in Bälde das ganze Sanktuarium auf die Beine bringen wird, und die Leute werden deine Seite der Geschichte hören wollen.«
»Kann das nicht warten?«
»Nein.«
Er seufzte. »Na schön. Ich schätze, ich habe Angst, dass du mich nicht mehr wirst küssen wollen, wenn wir diesen Raum verlassen. Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung über mich zu ändern?«
Sie lächelte. »Ich habe meine Meinung über dich gar nicht geändert. Ich habe meine Meinung darüber geändert, was ich mit dir anfangen soll.«
»Klingt so, als sollte ich mich dafür bei Kalia bedanken.«
Tyvara schob ihn aus dem Raum. »Wag es ja nicht.«
Es war sehr warm in Administrator Osens Büro. Zu warm, fand Sonea. Sie fragte sich, ob Osen dafür verantwortlich war oder einer der anderen Höheren Magier. Es war leicht, mit Magie Wärme zu produzieren, aber viel schwieriger, die Dinge abzukühlen.
Die Höheren Magier hatten ihre gewohnten Plätze eingenommen. Wie immer bedeutete das, dass sie und Kallen zu beiden Seiten von Osens Schreibtisch standen. Alle warteten still und mit grimmiger Miene.
Die Tür des Büros wurde geöffnet, und alle Anwesenden beobachteten, wie Hauptmann Sotin und ein junger Wachposten den Raum betraten, in Begleitung des Kriegers, der in der vergangenen Nacht Dienst im Ausguck gehabt hatte. Alle drei wurden unter der Musterung der Höheren Magier ein wenig bleich. Das Trio ging auf Osens Schreibtisch zu und blieb dann stehen, offenkundig unsicher, ob sie sich an den Administrator oder die übrigen Magier wenden sollten.
Der Hauptmann entschied sich dafür, sich vor Osen zu verneigen, und der Wachposten folgte hastig seinem Beispiel.
»Administrator«, sagte der Hauptmann forsch.
»Hauptmann Sotin«, erwiderte Osen. »Danke, dass Ihr hierhergekommen seid. Und das ist?« Osen blickte zu dem Wachposten auf.
»Wachmann Welor, Administrator. Er war dafür verantwortlich, sich um Lady Lilias Bedürfnisse zu kümmern. Er war gestern Nacht nicht im Dienst, ist – war – aber der einzige Wachmann, der regelmäßig Kontakt zu ihr hatte.«
Osen nickte und deutete zu den übrigen Magiern. »Erzählt uns, was Ihr wisst, Hauptmann.«
Der Mann wandte sich an die übrigen Anwesenden im Raum. »Die Männer, die Dienst hatten, berichten, dass niemandem etwas aufgefallen sei, und alle schwören, dass keiner von ihnen eingeschlafen sei, getrunken habe oder auf andere Weise von seiner Pflicht abgelenkt worden sei. Es gab keine Geräusche von den Gefangenen oder von außerhalb des Turms. Aber irgendwann wurde die Tür zu Lady Lilias Zimmer geöffnet, ebenso wie die Innentür zwischen den Räumen von Lady Lilia und Lorandra.«
»Was denkt Ihr, wie sie geöffnet wurden?«, fragte der Hohe Lord Balkan.
»Das kann ich nicht sagen. Es gab keine Spuren von Gewalt. Die Schlüssel fehlen nicht. Also wurden sie entweder mit einem Dietrich oder mithilfe von Magie geöffnet.« Der Hauptmann verzog das Gesicht. »Wir hatten ein zweites Schloss an Lorandras Tür, außer Reichweite, so dass man es nicht öffnen konnte, aber an der inneren Tür hatten wir kein zusätzliches Schloss.«
»Und die Haupttür zu Lilias Zimmer?«
Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Wir hatten diese Tür früher auch mit zwei Schlössern versperrt. Sobald sie dort war … Nun, wir haben vermutet, dass sie nicht wissen würde, wie man Schlösser aufbricht.«
»Da keine der beiden Frauen Magie benutzen kann, müssen wir davon ausgehen, dass Lorandra sowohl die innere Tür als auch die Haupttür zu Lilias Zimmer geöffnet hat«, sagte Lady Vinara. »Sobald sie ihre Zimmer verlassen hatten, wie sind sie aus dem Turm gekommen?«
»Sie können nicht über die Treppe zum Erdgeschoss geflohen sein, da sie beim Büro endet und sich dort immer Männer befinden«, erwiderte der Hauptmann. »Wir denken, sie sind übers Dach geflohen. Wir hatten dort oben keine Wachen, aber die Luke zum Dach war auf der Innenseite verschlossen und mit Magie blockiert …« Er sah den Krieger an, der Dienst gehabt hatte.
»Beides war unversehrt«, murmelte der junge Mann.
»Aber wir haben entdeckt, dass die alte Observatoriumskuppel sich gelöst hatte und weit genug nach oben gestemmt werden konnte, um eine Person von schmalem Körperbau hinauskriechen zu lassen«, erklärte der Hauptmann.
»Sie ist aus Glas und sehr schwer«, bemerkte Lord Peakin kopfschüttelnd. »Ich bezweifle, dass Lady Lilia und die alte Frau in der Lage gewesen wären, sie anzuheben, selbst mit vereinten Kräften.«
»So muss es aber gewesen sein«, sagte Vinara.
»Wie sind sie dann vom Dach heruntergekommen?«, fragte Lord Garrel. »Gibt es irgendwelche Spuren, die auf die Benutzung von Seilen oder Leitern hindeuten?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf.
»Ihr seid Euch sicher, dass Eure Männer die Wahrheit sagen?«, fragte Lady Vinara den Hauptmann.
Der Mann richtete sich auf und nickte. »Ich vertraue ihnen allen. Es sind ehrliche Männer.« Er hielt inne. »Und wenn sie es nicht wären und den Gefangenen die Flucht ermöglicht hätten, hätten sie gewiss eine Geschichte erfunden, dass man sie mit Drogen betäubt habe, oder irgendeine andere Ausrede parat gehabt. Sie sind verwirrt und beschämt, und ich musste einigen von ihnen ausreden, den Dienst zu quittieren.«
Der Wachposten neben ihm senkte den Kopf.
»Wachmann Welor«, sagte Osen. »Ist Euch irgendetwas an Lady Lilias Verhalten aufgefallen, das darauf hinweisen könnte, dass sie möglicherweise eine Flucht geplant hat?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie schon Zeit hatte, darüber nachzudenken. Sie war immer noch damit beschäftigt zu begreifen, was ihr zugestoßen war. Ich habe heute Morgen diesen Brief gefunden.« Er zog ein Stück Papier aus seiner Brusttasche, entfaltete es und reichte es Osen. »Er lag in einem Buch, das ich ihr gegeben habe, also denke ich, sie wollte, dass ich das Schreiben finde.«
Der Administrator las die Notiz und zog die Augenbrauen hoch.
»Muss Naki finden. Werde morgen früh wieder zurück sein«, las er laut.
»Sie ist nicht zurückgekommen«, sagte Vinara. »Entweder sie hat gelogen, oder sie wurde an einer Rückkehr gehindert.«
»Warum sollte sie lügen?«, fragte Peakin.
»Vielleicht dachte sie, das würde ihr mehr Zeit verschaffen«, erwiderte Garrel. »Wenn wir ihr Verschwinden in der vergangenen Nacht entdeckt hätten, hätten wir vielleicht abgewartet, ob sie zurückkommen würde.«
»Aber wie sind sie vom Dach heruntergekommen?«, warf Osen ein. »Wie weit ist es bis zum Boden – oder bis zu den nächsten Bäumen?«
»Wenn sie hinuntergeklettert wären, hätten die Wachen unten sie bemerkt. Die Bäume befinden sich erheblich weiter unten am Hang und sind daher niedriger als der Turm«, sagte der Hauptmann. »Ein Seil hätte sehr straff gespannt sein müssen, und dann wären sie eher daran heruntergerutscht als geklettert. Dann wäre da noch das Problem gewesen, überhaupt ein Ende des Seils auf den Turm zu bekommen, ohne dass jemand es bemerkt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben immer erwartet, dass Skellin, sollte er versuchen, seine Mutter über das Dach zu retten, dort hinaufschweben würde.«
»Ich möchte wetten, dass er das getan hat, und niemand hat es bemerkt«, sagte Vinara. »Aber warum sollte er Lilia mitnehmen …?« Entsetztes Begreifen zeichnete sich auf ihren Zügen ab. »Oh.«
Es wurde sehr still im Raum. Sonea sah Kallen an und fragte sich, ob er bereits bedacht hatte, was Vinara gerade klar geworden war. Seine Miene zeigte erzwungene Geduld. Ja, er ist sich der Gefahr durchaus bewusst – und er brennt darauf, etwas zu unternehmen. Sie widerstand der Versuchung zu lächeln, da sie wusste, dass es falsch verstanden werden würde.
»Warum hat man die beiden eigentlich in benachbarten Räumen untergebracht?«, fragte Garrel plötzlich. »Eine gerissene wilde Magierin und eine leicht zu manipulierende junge Frau. Gewiss war eine Katastrophe zu erwarten. Lilia könnte Lorandra erklärt haben, wie man schwarze Magie benutzt, auch ohne dass die beiden dazu ihre Räume hätten verlassen müssen.«
Einige der Höheren Magier sahen den Hauptmann an. Garrel und ein paar andere schauten zu Sonea und Kallen hinüber. Sonea sah Rothen an, der ihrem Blick mit wissender Miene begegnete. Er hatte sie gewarnt, dass man ihr mühelos die Schuld an Lilias Flucht geben könnte, da sie Lorandra und Lilia besucht und keine Schwachstellen in ihren Kerkern entdeckt hatte.
»Man hat uns aufgetragen, dafür zu sorgen, dass sie gut behandelt werden«, sagte der Hauptmann. »Wir dachten, da beide Gefangene Frauen waren, könnten sie einander Gesellschaft leisten. Ich … ich sehe jetzt, dass das ein Fehler war.«
Soneas Herz flog dem Mann entgegen. Es war gewiss nicht allein seine Schuld, dass die beiden entkommen waren. Sie runzelte die Stirn. Versucht er, die Schuld auf sich zu nehmen, um seine Männer zu retten?
»Jetzt leisten Lilia und Lorandra Skellin Gesellschaft«, bemerkte Osen. »Ich …«
Er hielt inne, weil es an der Tür klopfte. Im nächsten Moment blickte er auf, kniff die Augen zusammen und schaute zur Tür hinüber. Sie schwang auf.
Dorrien trat ein. »Verzeiht die Störung, Administrator«, begann er. »Aber ich habe Informationen, die für dieses Gespräch von Bedeutung sein könnten.«
Die Tür schloss sich hinter ihm, und Osen winkte ihn heran. »Was gibt es, Lord Dorrien?«
»Eine Frau, die in einem der Häuser in der Inneren Stadt dient, die vor der Gildemauer liegen, ist heute Morgen ins Hospital gekommen«, sagte er. »Es hat einige Zeit gedauert, bis sich eine Heilerin um sie kümmerte, da sie offensichtlich nicht krank war«, fügte er trocken hinzu. »Sie hat uns erzählt, dass sie in der vergangenen Nacht zwei Frauen über die Mauer habe klettern sehen, einige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit. Eine sei alt gewesen und habe dunkle Haut gehabt, die andere sei jung und blass gewesen. Als sie von den Gefangenen hörte, die der Gilde entkommen waren, erinnerte sie sich daran und kam zu uns, um uns davon zu berichten.«
»Sonst war niemand bei ihnen?«, hakte Osen nach.
»Nein.«
Sonea runzelte die Stirn. Wenn also Skellin sie nicht gerettet hat, wie sind sie dann …? Als sie ein jäher Verdacht beschlich, kam es ihr in dem Raum mit einem Mal nicht mehr so warm vor. Gewiss nicht …
»Warum ist sie ins Hospital gegangen?«, fragte Lord Peakin. »Warum ist sie nicht hierhergekommen?«
Dorrien lächelte schief. »Ihre Dienste sind nicht von der respektablen Art.«
»Woher wisst Ihr, dass sie die Wahrheit sagt? Hat sie Geld verlangt?«, fragte Garrel.
»Ich weiß es nicht, und nein, sie hat kein Geld verlangt«, antwortete Dorrien. »Die Vorstellung, dass eine wilde Magierin und eine Schwarzmagierin frei in der Stadt umherspazieren, hat ihr, wie wahrscheinlich allen anderen in der Stadt, Angst gemacht.«
»Wie konnte diese Neuigkeit sich so schnell verbreiten?«, fragte Vinara und schaute in die Runde.
Osen seufzte. »Es ist jemandem herausgerutscht, da bin ich mir sicher«, sagte er. »Nun, konzentrieren wir uns lieber darauf, was die Information dieser Frau bedeutet. Lord Dorrien, ich bin Euch dankbar, dass Ihr damit zu uns gekommen seid.«
Dorrien neigte den Kopf und verließ den Raum. Der Administrator wandte sich dem Hauptmann und seinem Wachposten zu, ebenso dem Krieger aus dem Ausguck, und dankte ihnen für ihre Unterstützung. Das Trio verstand das Stichwort und zog sich ebenfalls zurück. Sobald nur noch Höhere Magier zugegen waren, trat Osen vor seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Uns bleibt noch ein einziger kleiner Hoffnungsschimmer. Falls Skellin Lilia und Lorandra nicht ihrer Wege geschickt hat, nachdem er sie befreit hatte, hat er nichts mit der Befreiung zu tun, und sie haben ihn noch nicht gefunden. Wichtiger, als herauszufinden, wie sie aus dem Ausguck geflohen sind, ist etwas anderes: Wie finden wir sie, bevor sie sich Skellin anschließen?« Er sah Kallen an. »Das ist Eure Aufgabe. Findet sie.«
Kallen neigte den Kopf und ging dann auf die Tür zu.
Osen wandte sich an Sonea. »Eure Aufgabe heißt nach wie vor Skellin. Findet ihn.«
Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Zweifel zu wecken, indem sie erklärte, dass sie, wenn es so einfach wäre, Skellin bereits gefangen hätte – ebenso wenig wie es der richtige Zeitpunkt war, Groll darüber zu zeigen, dass Osen sie herumkommandierte wie einen vernunftlosen Soldaten. Sie drehte sich um und stolzierte auf die Tür zu.
Ich bin ein vernunftloser Soldat, soweit es die Gilde betrifft, dachte sie erbittert, als sie in den Flur hinaustrat. Das ist der Grund, warum sie mir erlaubt haben zu bleiben. Ich bin ihre Schwarzmagierin, die sie für sich in den Kampf schicken können, und es ist ihnen bei weitem lieber, ich täte, was sie sagen, statt vorzuschlagen, wie man die Dinge angehen sollte. Nun, sie werden akzeptieren müssen, dass ich die Dinge manchmal auf meine Weise angehe, wenn sie wollen, dass ich mein Leben riskiere, um ihr Leben zu retten.
Dorrien wartete auf der Treppe zur Universität auf sie, wo eine Gildekutsche bereitstand.
»Ich dachte, du möchtest vielleicht in die Stadt mitgenommen werden«, bemerkte er.
Sie verspürte einen jähen, verrückten Drang, ihn zu umarmen, widerstand jedoch, da sie wusste, wie Alina es auffassen würde, falls jemand die Umarmung sah und ihr gegenüber erwähnte.
»Wir müssen ein Treffen mit Cery arrangieren«, sagte sie, während sie in die Kutsche kletterte. »So bald wie möglich.«
»Das dachte ich mir«, erwiderte Dorrien. »Ich hoffe, es war richtig von mir, aber ich habe ihm bereits eine Nachricht geschickt.«
Sie nickte. »Danke. Aber ob es das Richtige ist … ich hoffe es. Falls Anyi stirbt, weil die Gilde will, dass wir die Dinge vorantreiben, glaube ich nicht, dass ich mir verzeihen könnte.«
Dorriens Miene wurde ernst. »Ich ebenso wenig.«
Wenn auch eher klein für ein Schiff und vor allem auf Geschwindigkeit ausgelegt, bot die Inava dennoch überraschend viel Platz. Die Sklavenmannschaft schlief unter Deck. Dannyl hatte einmal durch die Luke einen Blick in diesen Teil des Schiffes werfen können: Reihen von Hängematten, die wie schlaffe, leere Hülsen irgendwelcher exotischen Baumfrüchte hin- und herbaumelten. Über Deck befanden sich nur zwei anständige Kabinen – die des Kapitäns und eine für Gäste.
In der Gästekabine standen zwei einzelne Klappbetten und ein Tisch, den man zu einem größeren Bett umbauen konnte. Nur Tayends Bett war während der letzten drei Tage benutzt worden, da er die gesamte Zeit ihrer Seereise unter dem Einfluss der Droge gegen Seekrankheit verschlief. Nachts waren sie stets an Land gewesen, auf verschiedenen Höfen entlang der Küste.
Die Droge gegen Seekrankheit, die Achati Tayend gegeben hatte, machte ihn benommen und schläfrig, aber der Elyner hatte dies ohne Klage akzeptiert und zumeist leise schnarchend im Bett gelegen. Dannyl und Achati beschäftigten sich bei gutem Wetter auf Deck oder während Stürmen im Innern des Schiffes. Der Morgen des dritten Tages hatte Regen und einen kühlen Wind von Süden gebracht, also blieben sie heute im Warmen.
»Ashaki Nakaro hat mir dies gestern Abend gegeben«, sagte Achati sehr leise, um Tayend nicht zu stören. Er legte ein Buch auf den Tisch. »Er meinte, wir könnten darin vielleicht etwas Nützliches über die Duna finden.«
Dannyl griff nach dem Buch. Es hatte keinen Titel, aber das Fehlen eines solchen erklärte sich, als Dannyl den Band aufschlug und die Daten neben den Einträgen sah. Es war ein weiteres Tagebuch. Die Seiten hatten sich an einer Stelle geöffnet, an der ein schmales, schwarzes geflochtenes Band lag, ein Lesezeichen, wie Dannyl es schon oft in sachakanischen Aufzeichnungen gefunden hatte.
Wir sind im Lager eingetroffen. Mein erster Eindruck ist, dass es zu groß ist, um es noch länger so zu nennen, und viele der Ashaki übernehmen jetzt die Gewohnheit der Sklaven, es als Lagerstadt zu bezeichnen. Ich gehe davon aus, dass es in Bälde nach irgendjemandem benannt werden wird. Nicht nach dem König, für den Fall, dass sich das Unternehmen als Fehlschlag erweisen sollte. Wohl eher nach Ashaki Haniva.
»Haniva«, sagte Dannyl. »Ist das nicht die Stadt, zu der wir fahren?«
Achati nickte. »Es ist die Hafenstadt, die den Duna-Ländern am nächsten liegt. Das Lager befand sich weiter landeinwärts, über dem Steilabfall, aber Haniva war klug genug zu vermeiden, dass es nach ihm selbst benannt wurde. Er wusste, dass Versuche der Sachakaner, die Duna zu regieren und ihr Land zu besiedeln, in der Vergangenheit viele Male fehlgeschlagen waren, und er wollte das Risiko nicht eingehen, dass sein Name in Verbindung mit einem weiteren Fehlschlag in die Geschichte einging.«
Dannyl blickte auf das Buch hinab, blätterte in den Seiten und überflog den Text. »Dies ist also eine Aufzeichnung über diesen Versuch?«
»Ja. Eher ein Tagebuch als ein systematischer Bericht.«
»Es ist noch keine hundert Jahre alt.«
Achati nickte. »Wir haben diese Dummheit selbst in jüngeren Zeiten noch wiederholt. Irgendjemand findet, dass durch eine Eroberung Ruhm zu gewinnen sei, und Duna scheint die beste Möglichkeit zu sein, diesen Ruhm zu erringen. Viel einfacher als Kyralia oder Elyne. Tatsächlich hat mehr als ein König in der Vergangenheit einen übermäßig ehrgeizigen Ashaki nach Duna geschickt, um ihm etwas zu tun zu geben.«
»Ich bin mir sicher, dass die Duna ihnen dafür dankbar waren.«
»Sie haben sich überraschend gut gehalten. Als ein Land primitiver Bewohner mit nur wenig Magie, sollte man denken, dass sie gewiss nicht viel Widerstand leisten können. Aber genauso besiegen sie uns: Sie kämpfen nicht. Sie ziehen sich in die vulkanischen Gebiete zurück und warten, während wir versuchen, ihr Land zu besetzen, was immer dazu führt, dass wir verhungern, unsere Sachen packen und wieder nach Süden gehen.« Achati stieß ein kurzes, säuerliches Lachen aus. »Dass Kariko sich dafür entschieden hat, in Kyralia einzumarschieren, war ungewöhnlich schlau und kühn.«
»Aber es wurde, so hoffe ich, trotzdem nicht als gute Idee betrachtet«, bemerkte Dannyl.
»Nein.« Achati lachte leise. »Obwohl ich vermute, dass König Amakira ein Gedanke durchaus gekommen ist: Wenn er es mit einem übertrieben ehrgeizigen Emporkömmling von einem Ashaki zu tun bekommt, der zu klug ist, um sich dazu überlisten zu lassen, in Duna einzumarschieren, dann scheint Kyralia gut in der Lage zu sein, sich zu verteidigen …«
Dannyl spürte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Er sah Achati an, der schief lächelte.
»Lasst uns diese Idee nicht auf die Probe stellen«, erwiderte Dannyl und wählte seine Worte vorsichtig. »Nicht zuletzt deswegen, weil er, wenn er sich irrt, einen übertrieben ehrgeizigen Emporkömmling von einem Ashaki in einer besseren Position als zuvor haben wird, um ihm Scherereien zu machen, aber auch deshalb, weil wir, wenn wir ihn besiegen, anschließend vielleicht nicht die stillen, grollenden Nachbarn wären, die die Duna gewesen sind.«
»Ich versichere Euch, er betrachtet es nicht als eine ernsthafte Möglichkeit.«
»Das ist gut zu wissen.«
Achati deutete auf das Buch. »Lest«, forderte er ihn auf.
Dannyl setzte seine Lektüre fort. Der Tagebuchschreiber berichtete zu seiner Überraschung, dass Duna dafür bezahlt wurden, Nahrungsmittel aus dem Tal unter dem Steilhang heraufzubringen. Hatten die Duna nicht geahnt, was der Sachakaner vorhatte?
Es wurde klar, dass diese Anführer keine uneingeschränkte Autorität über ihre Leute hatten und daher den Besitz von Land nicht übereignen konnten. Die Autorität schien mit Stammesangehörigen geteilt zu werden, die sie die Hüter der Legende nannten. Ashaki Haniva bat um ein Treffen mit den Hütern. Dies war anscheinend unmöglich. Nach großer Verwirrung und einigen falschen Übersetzungen wurde offenbar, dass niemand wusste, wer die Hüter waren. Dies war sehr zermürbend.
Während Dannyl weiterlas, ermutigte es ihn zu erfahren, dass Haniva versucht hatte, eine friedliche Inbesitznahme des Landes auszuhandeln. Dies war keine brutale Eroberung … noch nicht. Haniva versuchte es viele Male und mit verschiedenen Methoden, aber obwohl die Duna für die Idee, Land zu verkaufen, zugänglich schienen, gab es keinen eindeutigen Besitzer des Landes.
Es scheint, als gehöre das Land in ihren Augen gleichzeitig jedem und niemandem. Als Ashaki Haniva fragte, ob das bedeute, dass es auch ihm gehöre, sagten sie ja. Vielleicht ist das der Grund, warum sie zuvor nie Widerstand geleistet haben, wenn wir versuchten, die Kontrolle über das Land zu übernehmen.
Dannyl bedachte diese seltsame Art, Land zu betrachten. Es war, als sei das Land in den Augen der Duna »unbesitzbar«. Es war eine faszinierende Vorstellung. Und es unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Idee, dass man einen anderen Menschen nicht besitzen sollte. Kein Wunder, dass die Sachakaner mit ihrer Akzeptanz der Sklaverei die Haltung der Duna nicht erfassen konnten.
Während Dannyl sich durch das Tagebuch arbeitete, erfuhr er, dass Haniva und seine Ashaki-Partner schließlich den Versuch aufgaben, ein offizielles Dokument zu erhalten, in dem festgestellt wurde, dass sie das Land gekauft, die Duna vertrieben und sich dort niedergelassen hatten. Am Ende der Aufzeichnungen gab es bereits Anzeichen dafür, dass die Ernten nicht so gediehen, wie er es gehofft hatte.
Achati hatte in seinem eigenen Tagebuch geschrieben, während Dannyl gelesen hatte, und als Dannyl das Buch von sich schob, blickte er auf und legte seinen Stift beiseite.
»Was haltet Ihr davon?«
»Die Duna sind ein interessantes Volk. Sie haben eindeutig eine ganz andere Art zu denken.«
Achati nickte. »Es ist ein Wunder, dass sie so lange überlebt haben.«
»Diese Hüter der Legende sind diejenigen, mit denen wir sprechen müssen – falls es sie noch gibt.« Dannyl runzelte die Stirn. »Aber das könnte schwierig zu arrangieren sein, wenn niemand weiß, wer sie sind.«
»Schwierig? Es wird unmöglich sein.«
»Ich nehme an, die Hüter wissen, wer sie sind.«
Der Sachakaner blickte nachdenklich drein, dann lächelte er. »Natürlich. Also stellen wir einfach weiter unsere Fragen und finden heraus, ob irgendjemand es zugibt.«
»Ich vermute, sie werden es nicht zugeben, es sei denn, man lässt ihnen ein wenig Zeit zum Nachdenken, und sie kämen zu dem Schluss, dass wir keine Bedrohung darstellen. Wir sollten bekannt geben, dass wir mit einem der Hüter sprechen wollen, und feststellen, ob irgendjemand an uns herantritt.«
Achati runzelte die Stirn. »Das könnte lange dauern. Und alle Duna betrachten Sachakaner als eine Bedrohung.«
»Trotzdem arbeiten sie für Euch. Unh zum Beispiel. Und die Händler auf den Märkten.«
»Wenn man Fährten verfolgt, braucht man dazu nicht die Geheimnisse seines Volkes preiszugeben. Das Gleiche gilt für den Handel.«
»Das ist richtig«, stimmte Dannyl ihm zu. »Und es ist der Grund, warum wir ihnen erlauben müssen, zu uns zu kommen. Dies ist nichts, wozu wir sie zwingen können. Anderenfalls hättet Ihr es bereits getan.«
Achati nickte. »Richtig. Wir Sachakaner sind kein geduldiges Volk.« Er schaute zu Dannyl hinüber und lächelte. »Ich habe keinen Zweifel, dass Ihr sie mit Eurem Charme dazu überreden könntet, mit Euch zu sprechen. Ich hoffe, dass meine Anwesenheit das nicht verhindert.«
Dannyl hielt seinem Blick stand. »Werdet Ihr gekränkt sein, wenn ich es allein versuche?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Dannyl sah ihm weiter in die Augen.
»Und wenn ich nicht alles, was ich erfahre, mit Euch teile?«
Achati zog die Augenbrauen hoch, und ein harter Ausdruck trat in seine Augen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich werde akzeptieren, dass es politisch notwendig sein könnte, dass Ihr das nicht tut. Aber es wäre besser, wenn Ihr es mir einfach nicht erzählen würdet, wenn es etwas gäbe, das Ihr für Euch behalten müsst. Ich hoffe doch, Ihr werdet alles preisgeben, was für die Sicherheit Sachakas von Bedeutung ist – oder vielmehr würde ich das von einer Nation erwarten, die das Bestreben hat, unser Verbündeter zu werden.«
Dannyl nickte. »Wir sind uns darüber im Klaren, dass alles, was Sachaka gefährden könnte, wahrscheinlich auch eine Gefahr für Kyralia darstellen würde. Ich stehe in Eurer und in König Amakiras Schuld, weil Ihr mich überhaupt nach Duna gebracht habt.«
Achati lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht der Rede wert. Wenn Ihr es als eine Gefälligkeit betrachtet, für die Ihr Euch gern erkenntlich zeigen würdet, versprecht mir, dass Ihr mich eines Tages durch Kyralia führen werdet. Ich würde liebend gern Eure Gilde sehen.«
Dannyl neigte mit der bewussten kyralischen Höflichkeit den Kopf. »Nun, das kann ich versprechen.«
Lilia hatte keine Ahnung, wo sie war.
Sie war erschöpft und verängstigt und voller Zweifel, ob die Flucht mit Lorandra eine gute Idee gewesen war. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie sich schon gesagt hatte, dass sie dies alles tat, um Naki zu retten. Und sie hatte den Überblick über die Zahl der Orte verloren, an denen sie und Lorandra sich aufgehalten hatten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, nur dass sie irgendwo in der Stadt war.
Als Erstes waren sie in das gleiche Glühhaus in der Inneren Stadt gegangen, in das auch Naki Lilia gebracht hatte. Man hatte Lorandra sofort erkannt und sie mit Respekt behandelt. Während ein Mann sie beiseitegenommen hatte, war ein anderer erschienen, hatte Lilia gesehen, innegehalten und sie angestarrt und gegrinst. Er hatte nichts gesagt, sondern nur grinsend dagestanden, bis Lorandra zurückgekehrt war. Dann war er erbleicht und davongeeilt.
Eine Kutsche hatte Lilia und Lorandra zu einem Ort außerhalb der alten Stadtmauern gebracht. In den Räumen dort war viel gelacht worden, und das scheinbar unheilverkündende Stöhnen, das sie hinter einer Tür gehört hatte, hatte Lilia beunruhigt, bis sie an einer offenen Tür vorbeigingen und sie einen Blick auf die spärlich bekleidete Frau in dem Raum werfen konnte.
Danach kam sie sich sehr naiv und einfältig vor, aber es sollte noch schlimmer werden. Ein Fußmarsch führte sie durch kalte, mit Schlamm und Abfällen übersäte Gassen, gelegentlich vorbei an einem zitternden, in einer Tür kauernden Menschen. Am Ende versteckten sie sich in der Dunkelheit und warteten, bis drei Straßenräuber damit fertig waren, einen anderen Mann besinnungslos zu schlagen. Lilia war entsetzt, als Lorandra die Männer ansprach, aber ihr Entsetzen steigerte sich noch, als sich herausstellte, dass sie die alte Frau kannten.
Die Männer hatten Lorandra in ein Haus eingeladen, das sich als das Heim einiger Mitglieder einer Bande erwies, die sich gegen Bezahlung bereitfanden, »schwere Arbeit« zu tun. Lilia, die stumm lauschte, vermutete, dass diese Männer gelegentlich Dinge heben und tragen mussten, dass ihre Arbeit im Allgemeinen jedoch auch darin bestand, Menschen zu schlagen und zu töten.
Sie waren überraschend freundlich zu ihr, fragten sie, ob sie Hunger habe, und boten ihr den am wenigsten abgenutzten Sessel im Gästezimmer an. Obwohl sie Lorandras Beispiel folgte und behauptete, keinen Hunger zu haben, schickte ihr Anführer einen Mann der Gruppe aus, um bei dem Bäcker um die Ecke warmes Brot zu kaufen, und als er ihr einen Becher Bol in die Hand drückte, kam sie zu dem Schluss, dass es nicht klug wäre abzulehnen.
Das Bol war widerlich süß und machte sie schläfrig. Die späte Stunde schien Lorandra nichts auszumachen, denn die alte Frau redete unermüdlich und ging im Raum auf und ab. Es folgte ein längerer Weg, und Lilia ging hinter ihrem Führer durch eine verwirrende Abfolge von Räumen, Fluren und Tunneln und trat gelegentlich für einige Schritte hinaus an die frische Luft. Zu guter Letzt machten sie in einem warmen Raum Halt, und als Lorandra auf einen Sessel deutete, ließ Lilia sich hineinfallen.
Der Sessel war überraschend bequem. Und er war auch nicht so alt wie die in den anderen Häusern, durch die sie gekommen waren. Lilia schaute auf und bemerkte, dass die Möbel und die Einrichtung des Raums teuer waren. Dann hörte sie ihren Namen und stellte fest, dass der Mann, der ihr gegenübersaß und sie mit schmalen Augen beobachtete, in der Tat sehr gut gekleidet war. Er lächelte, und sie zwang sich, sein Lächeln zu erwidern.
»Die Freundin dieses verschwundenen Mädchens«, erklärte Lorandra ihm.
Er nickte, und seine Miene wurde ernst, als er sich zu ihr umwandte. »Dann müssen wir Naki finden. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel. Eure Flucht liegt viele Stunden zurück. Ich habe hier Zimmer, in denen Ihr schlafen könnt, wenn Ihr wünscht.«
Lorandra zögerte.
Die Sonne ist schon aufgegangen? Lilia fuhr hoch. Der letzte Teil ihres Weges hatte sie durch lange Gänge und Tunnel geführt, und sie begriff, dass sie seit Stunden den Himmel nicht mehr gesehen hatte. »Aber wir müssen zurück!«, rief sie.
»Es tut mir leid, Lilia«, sagte Lorandra. »Die Morgendämmerung ist schon seit Stunden vorbei. Wir haben unsere Chance verpasst zurückzukehren. Ich habe nicht geglaubt, dass es so lange dauern würde, jemanden zu finden, der uns helfen kann. Wollt Ihr jetzt zurückkehren?«
Lilia starrte die Frau an. Wenn wir jetzt zurückkehren, wird die Gilde dafür sorgen, dass wir nie wieder entkommen. Wir werden Naki nicht helfen können.
Sie hätte wissen sollen, dass dies geschehen würde. Sie hatte erwartet, dass sie jede Nacht Nachforschungen anstellen und in den Ausguck zurückkehren würden, bevor man ihre Abwesenheit bemerkte, bis sie Naki gefunden und gerettet hatten. Aber selbst als sie sich und Lorandra vom Dach des Ausgucks hatte hinabschweben lassen, hatte sie gewusst, dass es nicht leicht werden würde, dieses Unterfangen zu wiederholen. Sie hatten Glück gehabt, dass eine der Wachen mehr oder weniger im Stehen geschlafen und weit seltener zum Turm als in den Wald geblickt hatte. Er hatte nicht aufgeschaut, als sie zu den Baumwipfeln hinübergeschwebt waren. Möglicherweise würden sie nicht noch einmal solches Glück haben.
»Nein«, antwortete Lilia.
Lorandra lächelte und nickte anerkennend. »Keine Bange, wir werden Naki finden. Sie werden Euch verzeihen, dass Ihr weggelaufen seid, wenn Ihr sie ihnen zurückbringt.«
Lilia brachte ein Lächeln zustande. »Danke, dass Ihr uns helft.«
Lorandra wandte sich wieder dem Mann zu. Er ist wahrscheinlich ein Dieb, dachte Lilia. Aber andererseits ist sie eine wilde Magierin. In was für einer prächtigen Gesellschaft ich mich befinde. Naki fände das sicher erheiternd.
Imardins Unterwelt in Lorandras Gesellschaft zu betreten hatte Lilia größere Angst gemacht als jeder ihrer Streifzüge mit Naki. Aber andererseits waren Glühhäuser wahrscheinlich die sichersten Orte, um auf Verbrecher zu stoßen. Der Handel dort war dazu bestimmt, Kunden anzuziehen, nicht abzustoßen. Sie und Naki waren tatsächlich nur an den Rand dieser Welt vorgedrungen. Lorandra hatte Lilia mitten hineingeführt.
Sie braucht mir nicht zu helfen. Ich habe meinen Teil getan: Ich habe sie aus dem Ausguck geholt. Wenn sie nicht vertrauenswürdig wäre, hätte sie mich einfach irgendwo zurückgelassen und wäre verschwunden. Aber sie tut, was sie versprochen hat: Sie hilft mir bei der Suche nach Naki.
Das Wissen, dass Lorandra sich an ihren Teil der Abmachung hielt, war das einzig Beruhigende in dieser unvertrauten, gefährlichen Welt. Es war ein Risiko gewesen, ihr zu vertrauen, aber Lilia war der Meinung gewesen, dass es das wert war.
Und wie seltsam ist es, dass die Dummheit, die auszuprobieren Naki mich überredet hat – schwarze Magie zu erlernen –, genau das war, was mich aus dem Ausguck und in die Gesellschaft von jemandem gebracht hat, der sie retten kann.
Als Lorkin die Augen öffnete, sah er, dass Tyvara an seinem Bett saß, und lächelte. »Ich dachte, du dürftest mich nicht sehen?«
Sie blickte ihn mit großen Augen an und beugte sich über ihn. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
»Gut. Besser. Hast du die ganze Zeit dort gesessen, während ich geschlafen habe?«
Sie zuckte die Achseln und sah sich im Raum um. »Es gibt nicht viel anderes zu tun.« Dann wandte sie sich wieder ihm zu, und ihre Lippen zuckten. »Besser, als die Kanalisation zu beobachten.«
»Freut mich, dass du das denkst.« Er richtete sich auf, reckte sich und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, dass er unter der Bettdecke nackt war. Tyvaras Blick fiel auf seine Brust, und sie zog die Augenbrauen hoch. Dann stand sie auf und deutete auf einen Stuhl, über dem eine frische Hose und eine Robe hingen. »Du solltest dich besser waschen und diese Sachen anziehen. Kalias Verhandlung wird bald beginnen, und du riechst genauso übel wie die Kanalisation.«
Sie schlüpfte aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Lorkin stand auf, entdeckte in einer Nische eine große Schale mit Wasser und einen Waschlappen und benutzte beides. Seine Entführer hatten ihm einen Eimer gegeben, aber keine Anstalten gemacht, ihm dabei zu helfen, sich zu erleichtern, was mit verbundenen Augen und hinter dem Rücken gefesselten Händen schwierig gewesen war. Es überraschte ihn nicht, dass er stank.
Er hatte unmittelbar nach seiner Rettung und Einnahme einer kleinen Mahlzeit nur noch genug Energie gehabt, um seine Kleider abzuschälen und ins Bett zu fallen, bevor er eingeschlafen war. Jetzt blickte er sich um und fragte sich, wo er war. Der Raum war klein, und abgesehen vom Bett stellten zwei Stühle die einzigen weiteren Möbelstücke dar.
Sobald er angekleidet war, öffnete er die Tür des Raums und blinzelte überrascht. Sie führte in einen Flur, der voller Menschen war. Tyvara stand neben der Tür und hakte ihn unter, als er hinaustrat.
»Du kommst genau zur richtigen Zeit«, bemerkte sie und führte ihn nach rechts. Die Menschen im Flur schauten ihm nach. Einige wirkten freundlich, andere feindselig. Seine Entführung durch Kalia war mehr als ein bloßer Skandal, und mitten im Winter, da die meisten den größten Teil der Zeit drinnen verbrachten, würde das Geschehen mehr Aufsehen erregen, als es das vielleicht in den Sommermonaten getan hätte.
Es hat die Verräterinnen wahrscheinlich noch weiter gespalten, überlegte er. Ich hoffe, das führt nicht zu noch schlimmeren Problemen für sie, was erneut etwas wäre, wofür sie mir die Verantwortung zuschieben könnten.
Es dauerte nicht lange, bis er und Tyvara den Eingang zur Halle der Sprecherinnen erreichten. Sie gingen hindurch, und sofort zog eine Magierin sie heran und bat sie, sich an die Wand auf einer Seite des unteren Bereichs zu stellen. Sobald er seine Position eingenommen hatte, schaute Lorkin sich im Raum um.
Alle Sprecherinnen saßen auf ihren Plätzen, bis auf Kalia, die an der Tyvara und Lorkin gegenüberliegenden Seite des Raums stand, flankiert von zwei Magierinnen. Der Rest des Raums war voller Menschen, die alle standen und deren Stimmen zu einer lärmenden Geräuschkulisse verschwammen.
Eine Glocke ertönte. Köpfe wurden gedreht, und die Stimmen verstummten. Lorkin sah, dass die Vorsitzende Riaya eine Glocke in der Hand hielt, die viel kleiner war, als sie es normalerweise hätte sein müssen, um das Geräusch hervorzubringen. Jene Zuschauer, die auf den gestuften Zuschauerrängen standen, begannen sich zu setzen, während die Übrigen sich an die Wände zurückzogen. Als fast alle Platz genommen hatten, betrat eine weitere Person den Raum. Beinahe sofort senkte sich absolute Stille herab, die letzten noch stehenden Zuschauer setzten sich hastig, und die Sprecherinnen erhoben sich von ihren Plätzen, um die Königin zu begrüßen, die steif zu ihrem Stuhl ging.
Bevor sie sich setzte, wandte Zarala sich ihrem Volk zu. Alle Anwesenden legten die Hände aufs Herz. Lorkin folgte ihrem Beispiel. Die Königin nickte zuerst den Zuschauern zu, dann den Sprecherinnen, dann nahm sie Platz. Die Sprecherinnen setzten sich ebenfalls.
»Wir beginnen mit der Verhandlung von Sprecherin Kalia, die angeklagt ist, einen Verräter entführt und mit Gewalt seine Gedanken gelesen zu haben. Ich rufe Lorkin auf.«
Aller Augen wandten sich Lorkin zu, als er vortrat und vor den Sprecherinnen stehen blieb.
»Erzähl uns, was dir widerfahren ist.«
Lorkin erzählte seine Geschichte von dem Moment an, als man ihn in der Dunkelheit angesprungen hatte. Er beschrieb, wie er erwacht war und festgestellt hatte, dass er gefesselt war, eine Augenbinde trug und außerstande war, mittels Gedankenrede um Hilfe zu rufen. Dann streckte er die Arme aus, um die Schnittwunden zu zeigen – Tyvara hatte ihm gesagt, er solle sie nicht heilen –, und erklärte, dass seine Entführer ihn schwach gehalten hätten, indem sie ihm regelmäßig Macht abzapften.
Er schob seinen Widerwillen beiseite, um zu beschreiben, wie Kalia seine Gedanken gelesen und ihm das Wissen über die Heilung mittels Magie entzogen hatte, während sie außerdem in seinen Erinnerungen nach allem gesucht hatte, was man vielleicht gegen ihn verwenden könnte. Dies entlockte dem Publikum ein Raunen. Als Nächstes berichtete er ihnen von Kalias Absicht, ihn zu töten und zu behaupten, er habe das Sanktuarium verlassen. Daraufhin senkte sich seltsamerweise Schweigen über den Raum. Er sah Erschrecken auf vielen Gesichtern, aber Ungläubigkeit auf anderen. Am Ende erzählte er, wie Tyvara und Savara sie gefunden hatten.
»Du hast weder deine Erlaubnis gegeben noch angedeutet, dass du damit einverstanden bist, dass jemand Magie von dir nimmt oder deine Gedanken liest?«
»Nein.«
»Hat man dir zu essen und zu trinken gegeben?«
»Nein.«
»Wie viele Magierinnen haben über dich gewacht und dich geleert?«
»Ich weiß es nicht. Zwei waren immer da, aber ich weiß nicht, ob es immer dieselben waren. Sie müssen in Schichten gearbeitet haben, da die Entleerungen auch in den Nächten fortdauerten.«
Riaya warf den Sprecherinnen einen vielsagenden Blick zu, dann wandte sie sich wieder zu ihm um. »Wirst du dich bereit erklären, einer Magierin zu erlauben, deine Gedanken zu lesen, um deine Geschichte zu beweisen?«
Er dachte über die Frage nach. Obwohl ihm bei der Vorstellung, eine weitere Person könne in seinen Erinnerungen stöbern, ein Schauer über den Rücken lief, wollte er lieber das ertragen, als zu riskieren, dass Kalia vielleicht auf freiem Fuß blieb und für ihre Verbrechen nicht bestraft wurde. Jede Verräterin, die er in seinen Geist ließ, war eine weitere, die Kenntnis der magischen Heilung gewinnen würde, aber diese Kenntnisse hatte man ihm bereits gestohlen. Hatte Kalia sie weitergegeben? Vielleicht hatte sie keine Gelegenheit dazu gehabt. Aber wenn sie eine Gedankenlesung gestattete, würde das Wissen ohnehin weitergegeben werden.
Er konnte die Blicke der Anwesenden spüren. Du musst Zeit gewinnen, sagte er sich. Bring sie dazu, zuerst zu versuchen, die Wahrheit auf anderem Wege ans Licht zu bringen.
»Ich werde zustimmen, aber nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt«, erwiderte er.
Erneut sah Riaya die Sprecherinnen an. »Noch weitere Fragen?«
Die Frauen schüttelten den Kopf, und Riaya nickte Lorkin zu. »Du darfst gehen.«
Er kehrte an Tyvaras Seite zurück. Sie nickte ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln.
»Ich rufe Sprecherin Savara auf, um über ihren Anteil an dem Geschehen zu berichten.«
Savara erhob sich. Während sie sprach, erfuhr Lorkin, dass Evar sie auf sein Verschwinden aufmerksam gemacht hatte. Sie hatte überprüft, ob er das Sanktuarium verlassen hatte, und hatte in der Stadt nach ihm gesucht; außerdem hatte sie veranlasst, dass jede Person, die in jüngster Zeit gegen ihn gesprochen hatte, überwacht wurde. Dies führte sie zu einer verlassenen Höhle in der Nähe eines instabilen Teils der Stadt, wo sie Kalia dabei entdeckte, wie sie Lorkins Gedanken las.
Die Vorsitzende erklärte Savara, sie dürfe Platz nehmen, und wandte sich dann an Kalia. »Tritt vor und empfange dein Urteil.«
Kalia stolzierte in die Mitte des Raums und drehte sich dem Tisch zu. Ihr Rücken war gerade und ihre Miene hochmütig.
»Ist Lorkins Bericht wahr?«, fragte Riaya.
Kalia hielt inne und nickte dann. »Ja.«
»Bist du schuldig oder unschuldig an der Entführung eines Verräters und daran, die Gedanken dieses Verräters gegen seinen Willen gelesen zu haben?«
»Schuldig – das heißt, falls du ihn als einen Verräter betrachtest.«
Riaya faltete die Hände. »Dann besteht keine Notwendigkeit, weitere Nachforschungen in dieser Angelegenheit anzustellen.«
»Darf ich das Wort an die Zuschauer richten?«, fragte Kalia.
Riaya sah die Sprecherinnen an. Die sechs Frauen wirkten nicht überrascht. Sie alle nickten, einige eifrig, andere resigniert.
Kalia wandte sich dem Publikum zu. »Mein Volk, ich habe mich um euretwillen dazu getrieben gesehen, unsere Gesetze zu brechen. Ich habe eine Pflicht als eure Heilerin, sicherzustellen, dass euch kein Schaden widerfährt, wenn ihr ins Krankenzimmer kommt. Unlängst hat der Kyralier Lorkin magische Heilung eingesetzt, eine Fähigkeit, die an uns weiterzugeben er sich geweigert hat. Wie konnte ich sicher sein, dass das, was er tat, ungefährlich war? Dass es nicht mehr Schaden als Nutzen haben würde? Er hat behauptet, diese Art der Heilung habe ihre Grenzen, aber wie können wir sicher sein, dass das wahr ist, sollte seine Magie einem von uns jemals Schaden zufügen oder ihn gar töten? Ich habe ihn aus Freundlichkeit einem Neuankömmling gegenüber aufgenommen und ihm eine Beschäftigung gegeben. Ich habe ihm alles Wissen und alle Kenntnisse angeboten, die meine Vorgängerinnen und ich stets geteilt haben. Als Gegenleistung hat er mir den Gehorsam verweigert und mir getrotzt, hat unerprobte Magie ohne Leitung oder Erlaubnis eingesetzt. Wenn er sich weigerte, den Sitten der Verräterinnen zu folgen, ist er dann wahrhaft einer von uns? Ich sage, er ist es nicht. Und wenn er kein Verräter ist, dann war mein Tun nicht ungesetzlich. Es war gerechtfertigt und notwendig, zur Verteidigung unseres Volkes.«
Lorkin sah viele nachdenkliche Mienen unter den Zuschauern. Er blickte zu den Sprecherinnen hinüber, die die Stirn runzelten.
»Darf ich etwas sagen, Vorsitzende?«
Die Stimme gehörte Savara. Kalia drehte sich um, um ihre Feindin mit schmalen Augen anzustarren.
»Das darfst du, Sprecherin Savara«, erwiderte Riaya. »Sprecherin Kalia, räum bitte deinen Platz.«
Wieder erhob sich Savara. Ihre Lippen waren zu einer entschlossenen Linie zusammengepresst. Sie wartete, bis Kalia ihre frühere Position eingenommen hatte, dann reckte sie das Kinn.
»Als Lorkin beschloss, ins Sanktuarium zu kommen, hatte ich meine Zweifel, was ihn betraf«, begann sie. »Warum sollte ein Magier aus einer kultivierten, mächtigen Nation den Wohlstand und die Macht opfern, die er besaß, und die Einschränkungen akzeptieren, die wir ihm auferlegen würden? Er wusste wenig über uns. Es war ein großes Risiko, das er eingegangen ist, als er darauf vertraute, dass wir ein gerechtes und gutes Volk sind. Warum hat er es getan? Um eine Verräterin zu verteidigen. Um ein Mitglied einer Nation zu retten, die nicht einmal die seine war, einfach weil es das Richtige war. Wie viele von uns würden das tun? Es ist nicht an ihm, das Geheimnis der magischen Heilung weiterzugeben. Sollte sich eine von uns in der Situation wiederfinden, in der er ist, würden wir erwarten, dass sie unsere Geheimnisse nicht preisgibt. Wir würden erwarten, dass ihre Gastgeber das respektieren, statt unsere Geheimnisse zu verlangen oder zu stehlen.« Savaras Stimme wurde laut und streng. »Dies ist nicht nur ein Verbrechen einer einzelnen Person gegen eine andere. Dies ist ein ungesetzlicher Akt einer Nation gegen eine andere. Kalia hat nicht nur Wissen von Lorkin gestohlen; die Verräterinnen haben Geheimnisse von Kyralia gestohlen und von den Ländern, mit denen Kyralia verbündet ist – von denen eins direkt hinter den Bergen liegt. Es sind Länder, die nicht unsere Feinde sind, obwohl sie uns nach unserer Behandlung Lorkins zu Recht als Feind betrachten könnten. Lasst uns hoffen, dass wir uns wegen Kalia nicht für lange Zeit vor Ländern auf allen Seiten verstecken müssen und nicht nur vor dem Rest Sachakas.«
Schwaches Wispern war alles, was die folgende Stille durchbrach. Savara setzte sich wieder und nickte Riaya zu.
»Sprecherin Kalia gibt die Verbrechen zu, deren sie beschuldigt wird«, sagte die Vorsitzende. »Wir Sprecherinnen müssen jetzt ihre Bestrafung erörtern.«
Während die Sprecherinnen und die Vorsitzende zu reden begannen, explodierte lautes Stimmengewirr im Raum, denn fast alle Anwesenden hatten das Bedürfnis, über das Gesagte zu diskutieren. Lorkin spürte, wie Tyvaras Schulter seine berührte, als sie sich zu ihm vorbeugte.
»Mach dir keine zu großen Hoffnungen«, murmelte sie.
Er sah sie an. Ihre Miene war säuerlich. »Wie meinst du das?«
»Sie werden Kalia nicht hinrichten«, antwortete sie und wandte den Blick ab.
»Nun …« Er schaute zu Kalia hinüber und schauderte. »Das ist wahrscheinlich gut so. Selbst wenn sie tatsächlich geplant hat, mich zu töten. Es bedeutet, dass die übrigen Verräterinnen bessere Menschen sind als sie.«
Eine Glocke ertönte, und er schaute überrascht zu den Sprecherinnen hinüber. Das ging aber schnell.
»Wir haben entschieden«, erklärte Riaya, und es wurde still im Saal. »Sprecherin Kalia wird ihr Titel und Rang genommen; sie wird nie wieder das Amt einer Sprecherin bekleiden. Sie wird für ein Jahr niedere Arbeiten verrichten, zum Wohle der Stadt. Es ist ihr verboten, heilende Magie zu benutzen oder zu lehren, es sei denn, es wird ihr befohlen. Falls sie sich als vertrauenswürdig erweist, darf sie einen Antrag stellen, um wieder auf der Krankenstation zu arbeiten, aber niemals mehr in einer führenden Position.«
Protest wurde im Publikum laut. Lorkin hatte das Gefühl, als habe ihm jemand einen Hieb in den Magen versetzt. Das ist keine Strafe. Es ist eine Verzögerung. Irgendwann, wenn sie ihre Zerknirschung hinreichend zur Schau gestellt haben, werden sie ihr erlauben, das Wissen zu benutzen, das sie mir gestohlen hat. Er fühlte sich verraten. Überlistet. Vielleicht war das die ganze Zeit über der Plan. Er dachte an Tyvaras Warnung …
Die Proteste brachen ab, und er schaute sich um, um die Ursache dafür zu finden. Die Königin hatte sich von ihrem Platz erhoben und eine Hand auf die Armlehne des Stuhls gelegt, um sich abzustützen.
»Als Entschädigung für die Qualen, die er erlitten hat«, sagte sie, »und für die Geheimnisse, die ihm genommen wurden, wird man Lorkin die Kunst des Steinemachens lehren.«
Lorkin starrte die Königin überrascht an. Sie begegnete seinem Blick, und ihre Augen leuchteten vor Erheiterung. Als ihm bewusst wurde, dass er sie angaffte, riss er sich hastig zusammen und senkte den Blick. Prickelnde Erregung durchlief ihn. Endlich! Neue Magie, um sie nach Hause zu bringen, nach … So schnell sie gekommen war, verebbte die Aufregung. Er konnte das Wissen nicht zur Gilde bringen. Er saß hier im Sanktuarium fest, und es war ihm verboten fortzugehen. Und außerdem würde ein Verlassen des Sanktuariums bedeuten, dass ich auch Tyvara verlassen müsste.
Da die Verräterinnen nun im Besitz der Heilkunst waren, hatte er nichts mehr, womit er sie dazu verlocken könnte, Handel mit der Gilde und den Verbündeten Ländern zu treiben. So betrachtet wurde ihm klar, dass er gescheitert war. Die Verräterinnen hatten Kenntnisse der magischen Heilkunst gewonnen, und die Gilde konnte noch immer keine Steine machen.
Aber ich darf die Hoffnung nicht verlieren. Vielleicht werden sie mich eines Tages gehen lassen. Ich könnte davonlaufen, aber wenn ich scheitere, werden sie mir nie wieder vertrauen. Ich muss Geduld haben.
Erneut blickte er zu der Königin auf. Sie nickte knapp, dann wandte sie sich abermals an die Sprecherinnen.
Die Gesichter der sechs Frauen spiegelten zutiefst unterschiedliche Regungen wider. Einige wirkten entsetzt, einige zustimmend, und Savara wirkte tatsächlich überrascht und ein wenig besorgt. Der Audienzsaal war erfüllt von aufgeregten Gesprächen. Lorkin fing Blicke der Sorge und des Abscheus auf, aber auch zustimmendes Lächeln.
Wieder erklang Riayas Glocke. Sie stand auf.
»Das Urteil über Kalia ist gesprochen. Die Strafe ist entschieden. Diese Verhandlung ist beendet, und die Gesetze des Sanktuariums wurden gewahrt. Mögen die Steine weiter singen.«
Das Publikum murmelte voller Begeisterung die Antwort, dann erfüllte eine Kakophonie von Stimmen und Schritten den Raum, und die Menschen begannen, sich auf die Türen zuzubewegen. Lorkin hörte Rufe von draußen, als die Neuigkeit in den Fluren weitergegeben wurde.
»Nun, ich bin froh, dass es vorüber ist«, sagte er.
»Noch nicht ganz«, erwiderte Tyvara.
Er sah sie an.
»Irgendjemand muss dich das Steinemachen lehren.«
»Du?«
Sie schüttelte den Kopf. »Man lehrt Menschen, die man ausschickt, damit sie als Spione unter den Feinden leben, nicht seine größten Geheimnisse. Und ich hatte nie die Geduld dafür.«
»Du hast dich lieber als Sklavin ausgegeben, als Steine zu machen?« Er runzelte die Stirn. »Wie schwierig ist es?«
Sie tätschelte seinen Arm. »Keine Bange. Es ist wirklich nicht so gefährlich, sobald man weiß, was man tut. Komm, im Gegensatz zu dir hatte ich kein Frühstück, und ich konnte auch nicht ausschlafen. Besorgen wir uns etwas zu essen.«
Mit diesen Worten hakte sie sich erneut bei ihm unter und zog ihn in den Strom von Menschen, die sich in den Flur ergossen, wo ihm zu seiner freudigen Überraschung viele Verräterinnen entschuldigend und mitfühlend auf die Schulter klopften. Trotz all ihrer Fehler waren sie gute Menschen, befand er. Vor allem wenn er sich daran erinnerte, dass das, was Kalia ihm angetan hatte, jeden Tag im übrigen Sachaka Tausenden von Sklaven angetan wurde.
»Ach, und übrigens«, erklärte Tyvara ihm beiläufig, »darf ich dich jetzt ganz offiziell sehen und mit dir sprechen.«
Er grinste sie nur an, und sie lächelte.
Sonea klopfte an die Tür des Behandlungsraums. Die Tür wurde geöffnet, und zu ihrer Erheiterung wirkte Dorrien erleichtert.
»Ah, gut«, sagte er. »Dann ist meine Schicht also zu Ende?«
»Ja. Wie kommst du zurecht?«, fragte sie.
Er seufzte. »Es ist ziemlich anstrengend, nicht wahr?«, erwiderte er. »Am Ende des Tages kann ich spüren, wie verbraucht meine magischen Reserven sind.«
»Ja, an Tagen, an denen viel los ist.« Sonea zuckte die Achseln und setzte sich auf einen der für Patienten bestimmten Stühle. »Wenn wir unsere Macht nicht jeden Tag benutzen, wird sie verschwendet.« Obwohl er mir, wenn er sich hier allzu sehr verausgabt, nicht von Nutzen sein wird, sollten wir Skellin stellen. Ich muss einmal mit den Heilern hier über seinen Anteil an der Arbeit reden.
»Oh, ich beklage mich gar nicht. Ich gebe dir recht. Ich bin es nur nicht gewohnt.« Er verzog das Gesicht. »Alina und die Mädchen sind es auch nicht gewohnt.«
Sonea runzelte die Stirn. »Du musst zu Hause Magie benutzen? Ich schätze, wir könnten dir weniger …«
»Nein, das ist es nicht. Ich … ich vermute, die Müdigkeit macht mich ein wenig mürrisch. Alina kann …« Er machte eine Handbewegung und zog die Brauen zusammen, als suche er nach dem richtigen Wort. Sonea wartete. Obwohl ihr einige Wörter in den Sinn kamen – eifersüchtig, besitzergreifend, unsicher –, waren sie nicht gerade eine höfliche Art, das Verhalten seiner Frau zu beschreiben.
»Sie hat eine Menge Dinge, an die sie sich gewöhnen muss«, bemerkte sie stattdessen. »Ein müder Ehemann, der viel länger als sonst von zu Hause fort ist, eine Stadt, die sie nicht kennt, die Trennung von Menschen, die sie verstehen – und ich bin mir sicher, sie hat auch Angst um dich.«
Dorrien nickte. »Manchmal …«
Sonea wartete abermals ab, aber Dorrien blickte gequält drein und schüttelte den Kopf.
»Manchmal was?«, drängte sie ihn sanft.
Er schaute auf den Tisch hinab. »Manchmal«, sagte er mit einer leisen, von Schuldgefühlen gezeichneten Stimme, »wünschte ich, ich hätte sie nicht geheiratet.«
Sonea sah ihn überrascht an. Sie hatte ihn zum Sprechen gedrängt, weil sie angenommen hatte, er wolle zugeben, dass auch er Angst hatte. Er schaute zu ihr auf, seine Augen umschattet und undeutbar.
»Ich hätte eine Magierin heiraten sollen. Wir hätten … mehr gemeinsam gehabt.«
Sonea wandte den Blick ab und griff nach dem ersten Thema, das ihr einfiel, um ihn von diesem Gedankengang abzubringen. So wenig sie Alina mochte, sie wollte nicht miterleben, wie Dorrien seine Familie verletzte. Der Umzug in die Stadt hatte die Unterschiede zwischen ihm und seiner Frau deutlicher zutage treten lassen. Er hatte ihn von den Gemeinsamkeiten, die sie teilten, abgelenkt.
»Ihr habt das Dorf gemeinsam und die Liebe zum Landleben. Das mag jetzt weniger bedeutsam erscheinen, aber du hast immer das Gefühl gehabt, dass du dort hingehörst.«
Dorrien betrachtete sie unglücklich, dann sackten seine Schultern herunter, und er nickte. »Du hast recht. Es ist so, als wecke Alinas Misstrauen in mir die Frage, ob sie vielleicht etwas sieht, das ich nicht sehen kann. Ich bin ihrer Fragen müde.«
»Dreht es sich bei diesen Fragen um das Hospital? Und um die Suche?«
Er nickte. »Unter anderem.«
»Dann bring sie doch irgendwann einmal mit hierher. Zeig ihr, was wir tun. Zumindest kannst du einem Aspekt deiner Arbeit das Rätselhafte nehmen.«
Ein nachdenklicher Ausdruck glitt über seine Züge, dann sah er sie an und stand auf. »Nun, ich schätze, wir sollten die Plätze tauschen.«
Sie nickte, erhob sich und wartete, bis er hinter dem Tisch hervorgekommen war, bevor sie an ihm vorbeischlüpfte und sich auf den Stuhl setzte, auf dem zuvor er gesessen hatte.
»Keine Nachrichten von Cery?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete er.
Sie seufzte. »Der Administrator hat beschlossen, jeden Tag unsere Fortschritte zu begutachten«, warnte sie ihn. »Du darfst nicht überrascht sein, wenn er bei dir zu Hause vorbeikommt.«
Dorrien zuckte zusammen. »Das wird Alina wunderbar finden. Gute Nacht, Sonea.«
Sie lächelte. »Gute Nacht, Dorrien.«
Als die Tür sich hinter ihm schloss, schaute Sonea sich kurz im Raum um, um sich davon zu überzeugen, dass sie alle Heilmittel, Bandagen und Werkzeuge zur Hand hatte, die sie vielleicht brauchen würde, dann nahm sie wieder Platz. Es dauerte nicht lange, bis es zum ersten Mal an der Tür klopfte.
Sie zog Magie in sich hinein und sandte sie zur Tür. Zu ihrer Überraschung standen dort Dorrien und Heilerin Nikea.
»Es ist gerade eine Nachricht eingetroffen«, erklärte er ihr.
»Bring sie herein.«
Nikea reichte Dorrien ein Stück Papier, dann lächelte sie Sonea an und kehrte wieder in den Flur zurück. Dorrien trat ein und schloss die Tür hinter sich. Dann reichte er Sonea das Papier.
Großes Treffen heute Abend. Komm zum Abendessen. Bring Süßigkeiten mit.
Sie schaute zu Dorrien auf, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
»Das ist es«, sagte sie. »Die Gelegenheit, auf die wir gehofft haben.«
Sie hatte einige verschlüsselte Ausdrücke mit Cery vereinbart: Jedes bestätigte Arrangement zwischen Skellin und Anyis neuem Arbeitgeber oder dem Dieb, für den dieser arbeitete, wurde als »groß« bezeichnet. »Abendessen« bedeutete eine Stunde nach Sonnenuntergang. Eine Bitte um Süßigkeiten bedeutete, dass sie ihn in dem Raum unter dem Süßigkeitenladen treffen sollte.
»Ich sollte mich über diese Nachricht mehr freuen, als ich es tue«, murmelte Dorrien.
Sonea lächelte grimmig. »Keine Sorge. Ich werde feststellen, ob einer der Heiler hier sich uns anschließen kann. Ich würde lieber jemanden aus der Gilde anfordern, aber dafür haben wir keine Zeit. Obwohl wir vielleicht trotzdem eine Nachricht zur Gilde schicken sollten, ob nicht jemand aus dem Heilerquartier heute Abend hier aushelfen kann.«
Dorrien nickte. »Einen Versuch ist es wert.«
Lilia war viel ruhiger, jetzt, da sie einige Stunden Schlaf und eine Mahlzeit mit Menschen gehabt hatte, die nicht kurz zuvor einen Mann vor ihren Augen halbtot geschlagen hatten. So ließen sich ihre Befürchtungen um die Konsequenzen ihrer versäumten Rückkehr in den Ausguck leichter beiseitedrängen. Stattdessen erschien es ihr jetzt wichtiger, sich über die Menschen, denen sie wohl oder übel vertraut hatte, einige Gedanken zu machen.
Obwohl sie zuversichtlich war, dass sie ihr nichts antun konnten, da sie schließlich ihre Magie hatte, könnte es andere Möglichkeiten geben, wie sie sie vielleicht ausnutzen würden. Sie konnte nur hoffen, dass Lorandra sich an ihre Abmachung halten würde. Obwohl die alte Frau das zu tun schien, bezweifelte Lilia, dass sie ihre Bemühungen fortsetzen würde, wenn die Suche nach Naki sie mit einem Verbündeten in Konflikt brachte oder einen zu hohen Preis forderte.
Die Anstrengungen, die sie auf sich nimmt, um mir zu helfen, scheinen größer zu sein als das, was ich getan habe, um ihr zu helfen. Ich habe sie lediglich aus dem Gefängnis befreit. Dazu brauchte ich niemanden um Gefälligkeiten zu bitten. Jetzt, da ich die Welt gesehen habe, in die sie gehört, denke ich nicht, dass sie das Opfer zu schätzen weiß, das ich gebracht habe, indem ich etwas getan habe, was mir noch mehr Schwierigkeiten mit der Gilde eintragen wird. Sie versteht nicht, dass ich in die Gilde zurückkehren will und darauf hoffe, dort eines Tages wieder aufgenommen zu werden, denn sie hat der Gilde ja niemals angehören wollen.
Der Dieb, dessen Name Jemmi war, hatte ein Treffen mit einem anderen Dieb arrangiert, der vielleicht wusste, wo Naki war. Er, Lorandra, Lilia und ein Mann und eine Frau, bei denen es sich um Leibwächter zu handeln schien, waren vor etwa einer Stunde aufgebrochen und hatten sich über eine unterirdische Route in ein Lagerhaus begeben. Von dort traten sie auf die dunklen Straßen hinaus, in schwere Kapuzenumhänge gehüllt, während sie durch den Regen zu einem Bolhaus eilten.
Sie alle gingen hintereinander eine Treppenflucht hinauf und in einen kleinen Raum, der zwei Stühle und einen Tisch enthielt. Es war kalt, und Lilia fühlte sich versucht, die Luft zu erwärmen, aber Lorandra hatte sie davor gewarnt, ihre Magie zu benutzen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Der männliche Leibwächter rückte näher an Jemmi heran und sagte etwas. Der Dieb runzelte die Stirn und wandte sich an Lorandra.
»Wir müssen ein Honorar vereinbaren, bevor wir weitermachen.«
»Was für ein Honorar?« Lorandras seltsam geformte Augen wurden schmal. Sie sah Lilia an. »Bleibt, wo Ihr seid«, sagte sie. »Wir werden nicht weit entfernt sein.«
Sie ging auf die Tür zu. Jemmi betrachtete den männlichen Leibwächter und machte eine ruckartige Kopfbewegung zum Zeichen, dass er ihn nach draußen begleiten solle. Der Leibwächter sah seine Kollegin an und gab ihr ein kurzes Zeichen, bevor er in den Flur trat und die Tür schloss.
Verwundert setzte Lilia sich auf einen der Stühle.
Die Leibwächterin ging zur Tür und lauschte offenkundig auf die Stimmen dahinter. Lilia beobachtete sie und fragte sich, wie eine Frau zu einer solchen Arbeit kommen mochte. Sie ist jünger, als ich zuerst dachte, überlegte Lilia. Als sie noch genauer hinschaute, bemerkte sie an den Händen und am Hals der Frau einige Narben. Die Art, wie der Stoff des Umhangs von ihren Schultern hing und sich bewegte, ließ darauf schließen, dass darin Gegenstände verborgen waren. Messer vielleicht? Gewiss kein Schwert …
Die Frau drehte sich um und sah Lilia an. Ihre Miene verriet Unentschlossenheit. Sie schüttelte den Kopf, dann seufzte sie.
»Weißt du, wem man dich übergeben wird?«
Lilia blinzelte. »Mich?«
»Ja. Dich.«
»Sie bringen mich zu einem Treffen mit einem anderen Dieb.«
»So drücken sie es aus.« Die Frau schürzte die Lippen. »Der Name des Diebs ist Skellin. Weißt du, wer er ist?«
Skellin? Lorandras Sohn war ein Dieb? Lilia spürte den kalten Hauch der Angst auf ihrer Haut. Warum hat Lorandra mir nicht erzählt, dass sie mich zu ihrem Sohn bringt? Dachte sie, ich würde Angst bekommen und versuchen wegzulaufen? Sie schluckte. Ich denke, damit läge sie richtig. Er ist furchteinflößender als sie, da er seine magischen Kräfte gebrauchen kann.
Die Frau blickte sie erwartungsvoll an.
»Ich dachte, sie würde mir helfen, Naki zu finden, bevor sie zu ihrem Sohn geht«, erklärte Lilia. »Sie sagte, wir würden uns mit jemandem treffen, der eine bessere Chance hätte, sie zu finden, und vielleicht ist er der Beste …«
»Skellin ist ein Magier.« Die Frau entfernte sich von der Tür, legte die Hände um die Armlehnen von Lilias Stuhl und schaute auf sie herab.
»Ich weiß …«
»Und du verstehst dich auf schwarze Magie. Denkst du wirklich, er wird deine Freundin finden, ohne einen Preis zu verlangen? Er wird überhaupt nichts für dich tun, bevor du ihn nicht schwarze Magie gelehrt hast.«
»Ich werde mich weigern, solange er Naki nicht gefunden hat.«
Die Frau zuckte nicht mit der Wimper. »Angenommen, er ließe sich darauf ein – was dann?«
Lilia errötete. Die Leibwächterin blickte wieder zur Tür hinüber, dann seufzte sie abermals.
»Du brauchst nicht alle zu verraten, um deine Freundin zu finden«, sagte sie. »Es gibt andere, die dir helfen können. Andere, die dich nicht erpressen werden, weil sie wissen, dass es für alle besser ist, wenn die Diebe keinen Zugang zur Magie haben. Insbesondere zu schwarzer Magie.«
»Das … das wusste ich nicht.«
Die Frau ließ den Stuhl los und richtete sich auf. »Das hatte ich mir gedacht.«
Lilia schüttelte den Kopf. Sie kam sich töricht und hilflos vor, und sie hatte Angst. »Ich … jetzt ist es zu spät, nicht wahr? Was kann ich sonst tun?«
Die Leibwächterin schaute zur Tür hinüber, dann wieder zu Lilia. »Es ist noch nicht zu spät.« Ihr Wispern war drängend. »Ich kann dich von hier wegbringen und dich mit Menschen bekannt machen, die deine Freundin finden können, ohne von dir zu verlangen, dass du irgendjemanden schwarze Magie lehrst. Aber nur, wenn du jetzt mit mir kommst.«
Lilia blickte zur Tür. Lorandra hatte sich bereit erklärt, ihr zu helfen. Sie hatte einen Handel abgeschlossen und schien sich daran zu halten. Aber um Skellins Hilfe zu bekommen … er wird wahrscheinlich seinen eigenen Handel machen wollen … Falls es eine Chance gibt, von hier wegzukommen, muss ich es versuchen.
»Bist du sicher, dass du Naki finden kannst?«
»Ja.« Der Blick der Frau war ruhig und ihre Stimme voller Zuversicht. In der Hoffnung, dass sie es nicht bereuen würde, stand Lilia auf. »In Ordnung.«
Die Frau bedachte sie mit einem wilden Grinsen. »Folge mir.«
Mit einer einzigen anmutigen Bewegung stieg sie auf den Tisch und streckte die Arme zur Decke. Lilia hatte die Luke dort nicht bemerkt. Sie ließ sich lautlos öffnen. Die Frau streckte die Hand aus und half Lilia hinauf, dann packte sie sie an den Schenkeln und schob sie hoch. Lilia unterdrückte ein überraschtes Keuchen, ihr Kopf und ihre Schultern steckten im Dachraum. Sie stützte sich auf den Rahmen der Luke und zog sich mithilfe eines Stoßes von unten hinein.
Die Frau erschien in der Öffnung der Luke, schwang sich hoch und zog sie hinter sich zu. Sie legte einen Finger an die Lippen, dann kroch sie langsam und lautlos durch den Hohlraum zu der gegenüberliegenden Wand hinüber. Lilia, die ihr folgte, konzentrierte sich darauf, Hände und Knie vorsichtig auf die Deckenpaneele zu setzen und nicht mit den Füßen darüber zu scharren. Sie lauschte auf Geräusche, die vielleicht verrieten, dass ihr Verschwinden entdeckt worden war, aber keine Rufe drangen an ihr Ohr.
Was tue ich hier? Ich hätte bei Lorandra bleiben sollen. Aber irgendetwas sagte ihr, dass diese Frau recht hatte. Lorandra wäre vielleicht in der Lage gewesen, ihr zu helfen, Naki zu finden, aber der Preis wäre schrecklich gewesen. Diese Leibwächterin sollte sich jedoch besser nicht irren. Wenn sie Naki nicht finden kann, werde ich von ihr verlangen, dass sie mich zu Lorandra zurückbringt.
Am Ende des Gebäudes erreichten sie eine dreieckige Mauer. Ein einziges Fenster befand sich in der Mitte dieser Mauer, und die Frau strebte darauf zu. Kalte Luft und windgepeitschter Regen strömten herein, als das Fenster wie eine Tür nach innen aufschwang. Die Frau ging in die Hocke, schob erst ein Bein hindurch, dann den Leib und das andere Bein.
Lilia folgte ihr und fand sich im nächsten Moment auf einem Dach wieder. Die Leibwächterin ging am Dachfirst entlang, und an dessen Ende kauerte sie sich hin. Aufgrund der Lücke zwischen dem Dach und der Mauer des nächsten Gebäudes vermutete Lilia, dass sich unter ihnen eine Straße befand. Sie wählte ihre Schritte sehr bedächtig, denn durch den Regen waren die Dachpfannen rutschig geworden. Als Lilia die Leibwächterin erreichte, trat diese vom Rand des Daches zurück.
»Ich würde uns gern in dieses Haus dort hineinbringen.« Sie zeigte über die Straße auf ein dreistöckiges, steinernes Gebäude. »Siehst du diese Seile?«
Die Frau deutete auf zwei Seile, die sich über die Lücke zwischen einigen Häusern weiter unten in der Straße spannten. Sie nickte.
»Daran können wir hinüberkommen, dann über die Dächer zurück und durch das Dachfenster hinein, das du an der Seite gerade noch erkennen kannst.«
Lilia betrachtete die Seile, und eine unerwartete Welle der Bewunderung für die junge Frau stieg in ihr auf.
»Du machst so etwas ständig, nicht wahr?«
Die Leibwächterin lächelte. »Wir haben die Seile dort gespannt. Man kann nie wissen, wann man von irgendwo verschwinden muss.«
Lilia deutete mit dem Kopf auf die Straße. »Schaut jemand zu?«
Die Frau beugte sich über den Rand, blickte die Straße entlang und schüttelte dann den Kopf.
»In diesem Fall habe ich eine bessere Möglichkeit«, erklärte Lilia. »Halt dich an mir fest und schrei nicht.«
Sie zog Magie in sich hinein und schuf eine Scheibe unter ihren Füßen. Die Frau streckte unsicher die Arme aus, und Lilia hielt sie fest, um sie zu stützen. Dann befahl sie der Scheibe, sich zu erheben, und trug sie über die Straße auf das Dach auf der anderen Seite. Die Frau starrte sie an, als ihre Füße auf die Dachpfannen stießen.
»Rek hat sich geirrt. Du hast deine Kräfte zurück.«
Lilia nickte, bevor sie noch einmal zu dem Dach des Bolhauses hinüberschaute. »Sie nicht.«
»Das ist die beste Neuigkeit, die ich in dieser ganzen Nacht gehört habe.« Die Frau stellte sich vor das Dachbodenfenster. Es war von innen mit Brettern zugenagelt. Sie entfernte das Hindernis mit einem einzigen schnellen Tritt. Als Lilia ihr in den dunklen Raum folgte, eilte sie zur Tür, öffnete sie und lauschte. Dann schlich sie weiter ins Haus hinein und spähte durch Türen. »Nichts. Sieht nicht so aus, als sei jemand zu Hause. Das ist die zweitbeste Nachricht dieser Nacht.«
»Du bist eingebrochen, ohne zu wissen, ob jemand zu Hause ist?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Ich wäre schon damit fertig geworden.«
Lilia kam zu dem Schluss, dass sie gar nicht wissen wollte, wie. Sie folgte ihrer Retterin in ein Schlafzimmer. Die Frau näherte sich vorsichtig dem Fenster.
»Geh nicht zu nah heran«, warnte sie. Dann verkrampfte sie sich. »Ah. Da sind sie. Wenn wir auch nur einen Moment länger gebraucht hätten, hätten sie uns entdeckt.«
Lilia trat an die Seite des Fensters und spähte hinaus. Gestalten streiften unter ihnen durch die Straße. Eine Bewegung weiter oben lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Dach, wo zwei Personen balancierten; eine deutete auf die Seile, und die andere starrte über die Dächer.
»Ich sollte dieses Fenster besser wieder verschließen«, murmelte die Frau. Sie eilte die Treppe hinauf, und schon bald hörte Lilia ein gedämpftes Hämmern, von dem sie hoffte, dass man es außerhalb des Hauses nicht wahrnehmen konnte. Es hatte heftiger zu regnen begonnen. Vielleicht würde das Prasseln das Geräusch übertönen.
Die Frau kam zurück, diesmal mit zwei Stühlen, die sie zu beiden Seiten des Fensters hinstellte. Sie ließ sich auf einen fallen, und Lilia nahm auf dem anderen Platz.
»Wir werden hierbleiben«, erklärte sie Lilia, während sie abermals den Blick über die Straße wandern ließ. »Sie gehen die bekannten Routen ab und werden keine Häuser durchsuchen.« Sie grinste. »Ich nehme an, wenn ich gewusst hätte, dass du deine Kräfte zurückhast und Lorandra nicht, dann wären wir einfach dort hinausspaziert, aber in dem Fall wären sie uns gefolgt. Und es hat etwas höchst Befriedigendes, einem Feind davonzulaufen und sich dann direkt vor seiner Nase zu verstecken.« Plötzlich verblasste ihr Lächeln, und sie zog die Brauen zusammen, als sei ihr ein schlimmer Gedanke gekommen.
»Was ist los?«
Die Frau schnitt eine Grimasse. »Abgesehen davon, dass ich gerade meine Stellung verloren habe, gab es andere Dinge, die ich hätte tun sollen. Einige Leute werden auf meine Nachricht warten, und wenn sie nicht kommt, werden sie sich um mich sorgen.«
»Oh.« Lilia hatte Gewissensbisse. »Nun … danke, dass du mir geholfen hast – und auch für dein Angebot, Naki zu finden. Bist du dir sicher, dass du sie finden kannst?«
»Wir werden sie finden. Und wir werden dich zu diesem Zweck nicht bitten, die Verbündeten Länder zu verraten.« Die Frau richtete sich auf. »In der Zwischenzeit können wir uns geradeso gut miteinander bekannt machen. Obwohl ich schon erraten habe, wer du bist.«
»Ja. Ich bin Lilia, die Novizin, die versehentlich schwarze Magie erlernt hat«, sagte sie trocken.
»Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Lady Lilia.« Die Frau verbeugte sich schwach. »Mein Name ist Anyi.«
Es war eine raue Nacht auf See gewesen, und es hatte Dannyl erleichtert, als die Inava am frühen Nachmittag in eine kleine, geschützte Bucht eingelaufen war. Obwohl Achati geplant hatte, dass sie die meisten Nächte an Land verbrachten, wurde die Entfernung zwischen den Hafenstädten immer größer, je weiter sie nach Norden segelten. Tayend hatte am Abend zuvor eine zusätzliche Dosis von der Droge gegen Seekrankheit eingenommen und war prompt eingeschlafen, eine Fähigkeit, um die Dannyl ihn irgendwann zu beneiden begann. Obwohl Dannyl die unangenehmen Begleiterscheinungen einer Seereise mit Magie heilen konnte, kostete es manchmal einige Anstrengung, in dem in den Wellen auf- und absteigenden Schiff im Bett zu bleiben. Einige Stunden vor Tagesanbruch legte sich der Sturm endlich, und er bekam ein wenig Schlaf, aber nur allzu bald mussten sie wieder aufstehen.
Achati hatte dafür gesorgt, dass sie auf dem Anwesen eines Freundes Quartier nehmen konnten, der gegenwärtig zu Besuch in der Stadt weilte. Sie hatten das Haus ganz für sich allein – bis auf die Sklaven natürlich. Die Sklaven, denen man aufgetragen hatte, die Gäste ihres Herrn gut zu behandeln, hielten ein köstliches Mahl bereit und begleiteten sie zu Bädern, die um eine natürliche heiße Quelle herum erbaut waren. Achati sagte, dass sie sich dieses Erlebnis nicht entgehen lassen dürften.
Es sah jedoch so aus, als würde Tayend genau das tun. Ein Sklave hatte ihn mehr oder weniger vom Schiff tragen müssen und ihn dann in die wartende Kutsche gehoben. Den ganzen Weg bis zu dem Besitz, der ihr Ziel war, schnarchte er laut vor sich hin und wachte nur lange genug auf, um einem Sklaven in die Gästequartiere zu folgen. Die Sklaven berichteten, dass er eingeschlafen sei, sobald er das nächste Bett erreicht hatte.
Achati und Dannyl gingen gemeinsam zu den Bädern. Diese erwiesen sich als ein einziger langgestreckter Raum mit einer Tür an jedem Ende und ohne Fenster. Dafür gab es in der Decke eine Öffnung, die den sternenübersäten Nachthimmel preisgab. Dampfende Wasserbecken zogen sich durch die gesamte Länge des Raums; das heiße Wasser floss vom einen ins andere, und neben den Becken wand sich ein Pfad entlang, der über eine Buckelbrücke, die eins der Becken überspannte, einmal die Seiten wechselte. In der Luft lag ein metallischer, salziger Geruch.
»Das erste Becken ist warm«, erklärte Achati, als er sich zu entkleiden begann. »Es dient der Reinigung und hat einen eigenen Abfluss. Sobald Ihr sauber seid, könnt Ihr mit dem nächsten Becken anfangen und Euch den Raum hinunterbewegen, bis Ihr eines findet, das Euch gefällt. Die Becken in der Mitte sind heiß, dann werden sie wieder kühler, bis zum letzten, das kalt ist.«
»Sie beenden ihr Bad mit einem kalten Becken?«
»Ja. Um einen zu wecken. Es ist sehr erfrischend. Aber wenn Ihr nach dem Bad unverzüglich schlafen gehen wollt, ist es empfehlenswert, mit einem der wärmeren Becken zu enden. Dort unten befinden sich Umhänge, in denen Ihr Euch warmhalten könnt.« Achati, der sich aller Kleider bis auf seine Hose bereits entledigt hatte, sah Dannyl an, der noch nicht begonnen hatte, sich auszuziehen. »Die Sklaven werden Eure Kleider säubern und sie in Euer Zimmer bringen.«
Dannyl nickte, dann entkleidete er sich. Öffentliche Bäder waren in Imardin vor ungefähr hundert Jahren aus der Mode gekommen. Es war allenthalben bekannt, dass Bäder (und einige Dokumente behaupteten ziemlich herablassend, das Baden ebenfalls) von Sachakanern eingeführt worden waren, als sie Kyralia erobert hatten. Das Baden erfreute sich weiterhin einiger Beliebtheit, aber nicht der öffentliche Aspekt. Die Bäder der Gilde waren in private Räume unterteilt, ebenso wie die Einrichtungen in der Stadt – obwohl er gehört hatte, dass einige Badehäuser, die mit Bordellen verbunden waren, größere Becken für gemischte Gruppen besaßen.
In Elyne gab es noch immer einige öffentliche Bäder, aber Männer und Frauen benutzten sie getrennt und trugen ein züchtiges Hemd aus schwerem Tuch. Dannyl hatte sie einige Male mit Tayend besucht, als er Gildebotschafter in Elyne gewesen war. Es war gängig gewesen zu beklagen, dass die guten alten Tage des Nacktbadens vorbei waren, aber das schwere Tuch abzulegen kam dennoch niemandem in den Sinn …
Von all den anstößigeren sachakanischen Gewohnheiten – Sklaverei, schwarze Magie – sollte diese diejenige sein, an die man sich am leichtesten gewöhnen kann. Obwohl ich in Arvice nichts von öffentlichen Bädern gehört habe. Vielleicht sind sie auch in Sachaka aus der Mode geraten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihren Frauen erlauben, öffentlich zu baden.
Achati hatte jetzt all seine Kleider abgelegt und trat in das erste Becken. Seine dunklere Haut war plötzlich offensichtlicher, und obwohl Achati verglichen mit dem durchschnittlichen Sachakaner eher klein war, hatte er die gleichen breiten Schultern und den kräftigen Körperbau. Mit einem tiefen Atemzug streifte Dannyl die Magierrobe ab und entledigte sich seiner Hose. Er zwang sich, sich umzudrehen, zu dem Becken zu gehen und ins Wasser zu treten.
Er hatte Hitze erwartet, aber das Wasser war lauwarm. Achatis Gesichtsausdruck war neutral, als er auf eine Schale am Rand des Beckens deutete, in der sich Seifenstücke befanden. Er war umgeben von glitschigem Seifenschaum, der seinen Körper unter dem Wasser verbarg. Das Becken war groß. Reichlich Platz für sie beide – wahrscheinlich genug für vier Personen. Dannyl konzentrierte sich auf die Einzelheiten, weil er nicht allzu viel über die Tatsache nachdenken wollte, dass er sich nackt in der Gesellschaft eines Mannes befand, der angedeutet hatte, dass er sich mehr als bloße Freundschaft zwischen ihnen wünsche.
Die Seife war seltsam. Sie enthielt Sand, der Dannyl die Haut zerkratzte und rote Linien hinterließ. Als Achati aus dem Becken trat, bemerkte Dannyl, dass auf der Haut des Sachakaners keine solchen Male zu sehen waren.
Er schrubbte sich ab, dann stand er auf und folgte Achati zum nächsten Becken.
Dieses war heiß, und in die Seiten waren Sitze eingebaut. Dannyls Haut brannte aufgrund der hohen Temperatur. Achati blieb nicht lange dort, sondern ging von Becken zu Becken, bis er eines fand, von dem er erklärte, es sei das behaglichste.
»Heiß genug?«, fragte er Dannyl.
Dannyl nickte. »Sehr heiß.«
»Geht weiter ins nächste Becken. Ich werde hierbleiben. Wir können jeder eins mit Beschlag belegen und trotzdem weiterplaudern.«
Also stieg Dannyl in das nächste Becken hinunter, das angenehm warm war. »Ah, ja. Das ist das Richtige.« Er ließ sich in einer Sitznische nieder, in der er sich mühelos umdrehen konnte, um mit Achati zu reden. Obwohl er sich langsam daran gewöhnte, unbekleidet zu sein, musste er sich eine gewisse Erleichterung darüber eingestehen, dass sie jetzt durch die niedrige Wand des oberen Beckens voneinander getrennt waren.
Achati lachte leise.
»Was ist los?«, fragte Dannyl, als sein Gefährte ihm die Quelle seiner Erheiterung nicht erklärte.
Der Sachakaner lächelte schief. »Ihr. Ich dachte, Ihr würdet kehrtmachen und weglaufen.«
»Davor?« Dannyl zuckte die Achseln. »Ich gebe zu, es ist eine neue Erfahrung und keine ganz und gar behagliche.«
»Und doch habt Ihr es geschafft. Noch dazu in meiner Anwesenheit.«
Dannyl versuchte, darüber nachzudenken, wie er am besten darauf antworten sollte, aber bevor es ihm gelang, sprach Achati weiter.
»Ihr habt Euch sehr geschickt darin erwiesen, mich auf Armeslänge von Euch fernzuhalten.«
Auch darauf fiel Dannyl keine kluge Erwiderung ein. »Ach ja?«, brachte er heraus.
»Ja. Es war ein gerissener Schritt, Tayend zu bitten, uns zu begleiten.«
Dannyl richtete sich überrascht und entrüstet auf. »Ich habe Tayend nicht gebeten mitzukommen.« Er runzelte die Stirn. »Auf diese Idee ist er ganz allein gekommen.«
Achati zog die Augenbrauen hoch. Dann sah er Dannyl nachdenklich an. »Ich denke, ich glaube Euch.«
»Es ist wahr«, sagte Dannyl und versuchte, mit mäßigem Erfolg, nicht gekränkt zu klingen. »Obwohl es auch wahr ist, dass ich Euch auf Armeslänge von mir ferngehalten habe.«
»Warum?«
Dannyl wandte den Blick ab und seufzte. »Konsequenzen. Sich widersprechende Loyalitäten. Dergleichen Dinge.«
»Ich verstehe«, sagte Achati leise. Er schwieg eine Weile, dann stand er plötzlich auf und stieg in Dannyls Becken. Nachdem er sich gesetzt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. »So ist es besser.« Dann sah er Dannyl an. »Ihr macht Euch wegen der falschen Dinge Sorgen, Botschafter Dannyl.«
Dannyl blickte Achati in die Augen. »Tue ich das?«
»Ja. Meine Loyalität gilt zuerst Sachaka und meinem König.« Achatis Augen blitzten. »Eure gilt Kyralia, Eurem König, der Gilde und den Verbündeten Ländern – wenn auch nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge. Nichts wird jemals etwas daran ändern, und nichts sollte etwas daran ändern.« Er lächelte dünn. »Betrachtet es einmal so: Falls mein König mir befehlen sollte, Euch zu töten, würde ich gehorchen. Ohne zu zögern.«
Dannyl starrte den Mann an. Achatis Augen waren hart und seine Miene herausfordernd. Er meint ernst, was er sagt, aber andererseits – würde ich nicht das Gleiche tun, sollten wir zu Feinden werden? Vermutlich. Ich hätte ein schlechtes Gefühl deswegen, aber … wie wahrscheinlich ist das? Er schob diesen Gedanken beiseite. Eines stimmt allerdings: Ich hätte ein schlechtes Gefühl deswegen, ganz gleich wie nah wir uns stünden, und es ist nicht so, als könnten wir jemals etwas tun, das andere an unserer Loyalität zweifeln ließe – wir können zum Beispiel keine Kinder bekommen oder heiraten …
Es war nicht so, als wollte Achati überhaupt irgendeine Bindung. Ausnahmsweise einmal gefiel ihm das. Obwohl Dannyl eigentlich entsetzt über das Eingeständnis des Mannes sein sollte, dass er ihn töten würde, falls er den Befehl dazu bekäme … war es auch seltsam erregend.
»Also … Ihr würdet nicht zögern? Nicht einmal ein klein wenig?«, fragte er.
Achati lächelte, stieß sich von der Wand ab und bewegte sich in die Mitte des Beckens.
»Nun, vielleicht ein klein wenig. Ihr könntet hierherkommen und mich davon überzeugen, wie lange ich zögern sollte.«
Mit einem leisen Lachen angesichts der Einladung seines Freundes rutschte Dannyl ebenfalls in die Mitte des Beckens. Für einige Herzschläge sahen sie einander an. Die Zeit schien stehen zu bleiben.
Dann erstarrten beide, als vom Eingang des Badehauses gedämpfte Stimmen erklangen. Sie rückten hastig auseinander und standen auf, damit sie sehen konnten, wer sich dort näherte. Dannyl war erleichtert festzustellen, dass die Tür noch immer geschlossen war.
Die Stimmen verstummten, dann erklang ein Klopfen an der Tür. Achati sah Dannyl an, und sein Ärger war befriedigend offenkundig. »Ich habe den Sklaven den Befehl gegeben, uns auf keinen Fall zu stören, es sei denn, es wäre dringend.«
»Dann solltet Ihr besser herausfinden, was los ist«, erwiderte Dannyl.
Achati stieg aus dem Becken und holte sich mithilfe von Magie einen Umhang heran. Er warf ihn sich über und ging zur Tür.
»Herein.«
Die Tür wurde geöffnet. Dannyl bemühte sich hastig um einen neutralen Gesichtsausdruck, als er Tayend durch die Öffnung spähen sah. Je verärgerter ich wirke, desto argwöhnischer wird er sein. Im Innern hatte er das Gefühl, als koche sein Blut vor Zorn.
»Störe ich?«, fragte Tayend. »Die Sklaven sagten, Ihr wärt hier, und nachdem Ihr erzählt habt, wir müssten diese Bäder ausprobieren, schien es mir unhöflich, nicht herzukommen und sie mir anzusehen.«
»Natürlich stört Ihr nicht«, antwortete Achati. Er führte Tayend zu dem Reinigungsbad und erläuterte die Prozedur.
Als er dann zu Dannyl zurückkehrte, lächelte er und formte mit den Lippen lautlos ein Versprechen.
Später.
Nicht lange nachdem er auf der Krankenstation eingetroffen war, kam eine Magierin, um Lorkin zu den Höhlen der Steinemacher zu begleiten. Es widerstrebte ihm ein wenig fortzugehen, da die Frau, die an Kalias Stelle getreten war, immer noch dabei war, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wo alles aufbewahrt wurde und von welchen Gebrechen sich die Patienten in den verschiedenen Betten erholten. Aber als die Begleitung eintraf, scheuchte sie Lorkin davon.
»Geh«, befahl sie. »Ich komme schon mit allem klar.«
»Ich werde später zurückkehren«, versprach er.
Die Magierin, die ihn begleiten sollte, lächelte ihn schüchtern an und sprach wenig, während sie ihn zu den Höhlen führte. Es war so ungewöhnlich, dass eine Verräterin scheu und verlegen war, dass er der Versuchung widerstand, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Wenn eine Jugend an einem Ort, an dem Frauen Macht besaßen, ihr nicht geholfen hatte, kühn und selbstbewusst zu werden, dann musste die Verlegenheit sehr tiefe Wurzeln haben – und es würde vielleicht mehr schaden als nutzen, diesbezüglich etwas zu unternehmen.
Sie führte ihn weit in die Stadt hinein, in eine Tiefe im Berg, in der die meisten Verräterinnen nicht mehr gern lebten. Der Gang wurde kurvig, und sie kamen an Öffnungen von Höhlen zu beiden Seiten vorbei. Bei seinem letzten Besuch hier, als man ihn aus der Höhle eskortiert hatte, die Evar ihm gezeigt hatte, war es ihm nicht klug erschienen, allzu großes Interesse an diesen Höhlen zu zeigen. Jetzt stand es ihm frei hineinzuschauen.
Die Höhlen waren von unterschiedlicher Größe und Form. Man hatte sich offensichtlich einige Mühe gegeben, den Boden an manchen Stellen zu ebnen, aber die ungleichmäßigen, kantigen Wände waren unberührt geblieben. In einem größeren Raum bemerkte Lorkin, dass Plankenwege an die Wände gehängt worden waren, um die höheren Wandabschnitte zugänglich zu machen.
In allen Höhlen sah er Flächen glitzernder Farben, an Wänden, an der Decke und in manchen Fällen sogar auf den Böden.
Keine der Höhlen hatte Türen. Es schien eine seltsame Unterlassung in einem Teil der Stadt zu sein, der solche magischen Geheimnisse barg. Aber vielleicht kann man die Geheimnisse den Steinen nicht abringen. Vielleicht können sie nur von einem Geist an den anderen weitergegeben werden, wie schwarze Magie. Oder vielleicht wurden sie irgendwo in einem sicheren Raum in Büchern aufbewahrt.
Der gewundene Gang endete in einer weiteren Höhle. Die Führerin durchquerte sie, und sie kamen in die nächste Höhle und in die übernächste. In den Wänden und dem Boden des Gangs befanden sich Risse, über die man leicht hinwegsteigen konnte. Dann kamen sie auch über breitere Risse, die mit Steinplatten – aus dem gleichen Fels wie die Wände – überbrückt worden waren.
Und dann erreichten sie eine Tür.
Seine Begleiterin klopfte an, schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und ging hastig davon, bevor er sich bei ihr bedanken konnte. Er drehte sich wieder um und stellte fest, dass die Tür geöffnet worden war. Eine Stimme erklang.
»Komm herein, Lorkin.«
Er erkannte die Stimme. Sprecherin Savara. Als er in den Raum trat, sah er, dass sie und Sprecherin Halana sich auf zwei Sitzen eines Kreises von fünf Plätzen niedergelassen hatten. Savara deutete auf einen der Stühle, und er setzte sich.
»Weißt du über die Verantwortungsbereiche jeder Sprecherin Bescheid?«, fragte sie.
Er nickte. »Ja. Nun, zumindest in einigen Fällen. Sprecherin Riaya organisiert Zusammenkünfte, Wahlen, Gerichtsverhandlungen und dergleichen, Sprecherin Kalia war für die Gesundheit der Menschen verantwortlich, Sprecherin Shaiya beaufsichtigt die Produktion von Nahrungsmitteln und den Wasservorrat, und du bist für die Verteidigung zuständig.«
»Das ist korrekt. Sprecherin Lannas Verantwortungsbereich sind die Wohnverhältnisse, und Sprecherin Yvali kümmert sich um die Ausbildung. Sprecherin Halana«, sie deutete mit dem Kopf auf die andere Frau, »beaufsichtigt die Herstellung der Steine.«
Er sah die Frau an und neigte respektvoll den Kopf. »Also wirst du meine Lehrerin sein?«
Die Frau nickte. »Ja. Falls du damit einverstanden bist.«
Er lächelte. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum ich nicht einverstanden sein sollte.«
Halana erwiderte sein Lächeln nicht, obwohl in ihren Augen ein Anflug von Erheiterung lag. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck ließ einen Schauer der Warnung über seinen Rücken laufen. Er runzelte die Stirn und blickte Savara an.
»Gibt es einen Grund, warum ich nicht einverstanden sein sollte?«
Sie lächelte schief. »Wahrscheinlich. Ich habe vielleicht schon einmal erwähnt, dass ich einst Kyralia bereist habe. Ich war für eine Weile in Imardin, vor und während der Zeit, die du die Ichani-Invasion nennt.«
Er sah sie überrascht an. »Du hast die Invasion miterlebt?«
Ihre Miene war jetzt ernst. »Ja. Wir halten ein Auge auf die Ichani, da sie ständig in Bewegung sind und dem Sanktuarium manchmal zu nahe kommen. Größtenteils sind sie harmlos, zu sehr damit beschäftigt, gegeneinander zu kämpfen, um uns Schwierigkeiten zu machen. Aber jedwede Anzeichen dafür, dass sie sich vereinen, sind, wie du dir vorstellen kannst, besorgniserregend. Zu unserem Glück bestand ihre Absicht bei ihrem letzten Versuch in dieser Richtung nicht darin, uns Schwierigkeiten zu machen. Zum Pech für dein Volk hatten sie ihre Aufmerksamkeit auf Kyralia gerichtet. Wir bemerkten, dass sie Sklaven nach Kyralia schickten, also reiste ich dorthin, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Ereignisse, die ich miterlebt habe, machten ganz deutlich, dass die Gilde höhere Magie nicht benutzt und sogar verbietet.«
Lorkin nickte und senkte den Blick. »Man nennt sie schwarze Magie. Und sie ist nicht länger verboten.«
Ihre Augen wurden schmal. »Und doch darf sie nur eingeschränkt benutzt werden. Nur wenige Personen verstehen sich auf ihre Benutzung.«
»Ja.«
»Und wenn unsere Spione recht haben, ist auch das Wissen dieser wenigen Personen unvollständig.«
Er sah ihr in die Augen. »Ich weiß es nicht, da ich keiner der wenigen bin, denen es gestattet ist, schwarze Magie zu kennen.«
»Bist keiner von ihnen«, sagte sie und hielt seinen Blick fest, »oder warst du keiner?«
Er schaute beiseite. Sie fragte … was fragte sie? Ob er sich immer noch als Gildemagier betrachtete. Aber dahinter steckte eine unausgesprochene Frage: Wollte er sich die Möglichkeit offenhalten, jemals wieder einer zu sein? Wenn er schwarze Magie erlernte, würde er niemals in die Gilde zurückkehren können.
Erbot sie sich schlicht, ihn schwarze Magie anstelle der Herstellung von Steinen zu lehren? Das bezweifelte er.
Oder war dies eine Prüfung, um herauszufinden, ob er beabsichtigte, die Kenntnisse über die Herstellung von Steinen direkt zur Gilde zurückzubringen? Aber das ergab keinen Sinn. Die Königin hatte nichts davon gesagt, dass es ihm nicht gestattet sei, das Wissen weiterzugeben. Aber sie hatte ihm auch nicht ausdrücklich erlaubt, es zu tun.
»Ich frage dich das«, sagte Savara leise, »weil wir dich, um dich das Steinemachen zu lehren, höhere Magie lehren werden müssen.«
Er sah sie überrascht an. »Oh.«
»Und ich frage, ob dich das daran hindern würde, jemals in die Gilde zurückzukehren.«
»Ich verstehe …« Plötzlich ergab alles einen Sinn. Die Königin hatte das Gefühl, dass sie ihm als Entschädigung für die Kenntnis der heilenden Magie, die man ihm gestohlen hatte, etwas von gleichem Wert schuldig waren. Die einzige Magie, die er nicht besaß, waren schwarze Magie und die Magie zur Herstellung von Steinen. Da er Ersteres brauchte, um Letzteres zu erlangen, hatten sie beide denselben Preis: Er konnte nie mehr nach Hause zurückkehren. Und das muss bedeuten, dass sie die Möglichkeit erwogen haben, mich eines Tages vielleicht gehen zu lassen … Wie würde die Gilde auf seine Kenntnis schwarzer Magie reagieren? Würden sie es verzeihen, wenn er offenbarte, dass er eine neue Möglichkeit für sie gefunden hatte, sich zu verteidigen? Dann sanken seine Schultern herab. Ich hatte gehofft, einen Weg zu finden, schwarze Magie zu ersetzen, nicht sie zu benutzen. Wenn die Herstellung von Steinen den Einsatz von schwarzer Magie erfordert, dann bin ich gescheitert. Die Gilde würde es vielleicht nicht akzeptieren.
Im nächsten Moment begriff er, dass er das nicht wirklich glaubte. Die Gilde würde niemals die Gelegenheit ablehnen, eine neue Art von Magie zu erlernen, vor allem wenn die Benutzung der Steine keine Benutzung von schwarzer Magie erforderlich machte. Sie würde nur den Kreis jener beschränken, die die Steine herstellten.
Wenn sie von den magischen Edelsteinen profitieren wollten, würde die Gilde akzeptieren müssen, dass Lorkin schwarze Magie erlernt hatte, damit sie diese Steine bekommen konnten. Wenn sie es nicht taten … Nun, sie können mich und die Edelsteine haben oder keins von beidem. Geradeso wie ich akzeptieren muss, dass ich Steinmagie und schwarze Magie haben kann oder weder das eine noch das andere.
Und wenn die Gilde ihn zurückwies … Nun, er würde ins Sanktuarium zurückkehren. Die Gesellschaft der Verräterinnen war nicht ohne Fehler, aber welches Land oder welches Volk konnte das von sich behaupten? Doch bei dem Gedanken, niemals mehr nach Imardin zurückzukehren, durchzuckte ihn ein Stich des Bedauerns. Es musste irgendeine Möglichkeit geben, wie er seine Mutter, Rothen und seine Freunde besuchen konnte.
Das ist etwas, über das ich mir später Gedanken machen muss. Dies hier ist wichtiger. Es könnte katastrophal sein, wenn die Ashaki diese Magie vor der Gilde entdecken. Ich kann mich nicht mit Osen in Verbindung setzen und ihn bitten, eine Versammlung abzuhalten, um zu einer Entscheidung zu kommen. Ich muss diese Gelegenheit nutzen, die Herstellung von Steinen zu erlernen, und hoffen, dass die Gilde mich dafür nicht zurückweisen wird.
Er sah Savara an. »Die Kenntnis schwarzer Magie könnte mich auf Dauer daran hindern zurückzukehren«, erklärte er. »Ich würde meiner Heimat in Zukunft vielleicht nur kurze Besuche abstatten können. Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen, wenn du mir versicherst, dass es für mich im Sanktuarium immer ein Zuhause geben wird.«
Sie sah ihm direkt in die Augen, dann schaute sie zu Halana hinüber. Die andere Frau nickte. Savara drehte sich wieder um und lächelte. »Solange du niemals unsere Gesetze brichst, wirst du willkommen sein, unter uns zu leben.«
»Danke.«
»Und jetzt«, sagte sie, stand auf und gab Halana ein Zeichen. »Jetzt wird es Zeit, dass wir deine Ausbildung vollenden.« Im Vorbeigehen klopfte sie ihm auf die Schulter. »Ohne Zweifel machst du dir größere Sorgen wegen der höheren Magie. Keine Bange. Das ist der einfache Teil.«
Halana verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Beachte sie gar nicht«, sagte sie. »Sie hat recht damit, dass höhere Magie einfach zu erlernen ist, aber das Steinemachen ist wirklich nicht so schwierig, wenn du Geduld hast, sorgfältig bist und dich konzentrierst.«
Lorkin schaute noch einmal zu Savara hinüber. Die Frau schüttelte den Kopf, als sei sie anderer Meinung, dann schloss sie die Tür. »Und wenn man diese Eigenschaften nicht hat?«, fragte er und wandte sich wieder an Halana.
Die Frau zuckte die Achseln. »Das hängt von dem Stein ab, den du wachsen lässt. Wenn er dazu bestimmt ist, Wärme zu produzieren, und du dich nicht konzentrierst … Kannst du mit deinen heilenden Kräften Brandwunden behandeln?«
Er schluckte. »Ja.«
Sie lächelte. »Nun denn. Mit einem solchen Vorteil auf deiner Seite hast du keinen Grund zur Sorge.«
Es hatte Sonea nicht überrascht festzustellen, dass Cery nicht unter dem Süßigkeitenladen auf sie wartete und sie stattdessen eine Nachricht entdeckte, die ihnen Anweisungen gab, wie sie ihn finden konnten. Sie, Dorrien und Nikea hatten sich als ein Ehepaar mit Tochter verkleidet, das sein Gewerbe – das Sammeln von Lumpen und deren Vorbereitung für die Papierherstellung – auszudehnen bestrebt war. Cerys Nachricht führte sie in ein Bolhaus, über einen kleinen Abendmarkt und in ein Badehaus, bevor sie aus einem Keller stiegen, um festzustellen, dass Cery sich für die Nacht ein adrettes und überraschend gut eingerichtetes Haus organisiert hatte.
Wo die Bewohner waren, wollte Sonea gar nicht fragen. Überall waren Spuren von ihnen zu entdecken, angefangen von den Spielzeugen, die man durch die offene Tür eines Schlafzimmers sehen konnte, bis hin zu dem halbverzehrten Mahl auf dem Tisch. Sie fanden Cery in einem verdunkelten Raum, wo er am Fenster saß. Gol hatte sie im Keller erwartet und gewarnt, kein Licht zu schaffen.
»Das Treffen findet angeblich in diesem Raum dort drüben statt, im ersten Stock«, erklärte Cery und deutete aus dem Fenster.
Sonea blickte hinüber und erkannte auf der anderen Gassenseite ein von Lampen erhelltes Gästezimmer. Die Gasse war so schmal, dass sie mit wenigen Schritten in den anderen Raum hätte hineintreten können, wären nicht zwei Mauern dazwischen gewesen.
Sie erörterten, wie man in das andere Gebäude hineingelangen und die offenkundigen Fluchtwege abschneiden konnte. Cery hatte niemanden nahe genug heranbringen können, um nach verborgenen Fluchtrouten Ausschau zu halten, ohne dass der Betreffende das Risiko eingegangen wäre, gesehen zu werden. Das Haus, in dem sie sich befanden, brachte sie ihrem Ziel so nahe, wie er es wagte. Es war die Aufgabe der Magier, ihren Weg hinüber in den gegenüberliegenden Raum zu finden, sobald das Treffen begann.
Sonea entwarf zusammen mit Dorrien und Nikea einen Plan, aber sie bekamen keine Gelegenheit, ihn in die Tat umzusetzen. Der Raum gegenüber blieb leer.
Die Nacht verstrich langsam, und mit jeder Stunde zog Cery sich weiter in sich selbst zurück. Er sprach immer seltener, und schließlich verfielen sie alle in Schweigen, weil sie ihre Befürchtungen nicht in Worte fassen wollten. Schultern sanken herab, und Gesichter wurden lang vor Enttäuschung, als klar wurde, dass es kein Treffen geben würde, und keine Gefangennahme Skellins oder irgendeiner anderen Person. Als die Mauern außerhalb des Fensters heller wurden, brach Nikea schließlich das Schweigen.
»Was denkt Ihr? Sollten wir den Schluss ziehen, dass das Treffen abgesagt wurde?«
Alle tauschten Blicke, bis auf Cery, der ins Leere starrte.
»Wir werden auf Neuigkeiten warten«, erwiderte Sonea.
»Falls es Anyi gelungen ist, sich davonzustehlen oder eine Nachricht zu schicken, wo würden wir sie finden?«, fragte Dorrien Cery.
Die Falte zwischen Cerys Brauen vertiefte sich. »Sie würde nicht hierherkommen oder eine Nachricht hierherschicken, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.« Er stand auf, eine Bewegung, die nach Stunden der Stille und der Reglosigkeit abrupt wirkte. »Folgt mir.«
Sie gehorchten, kehrten in den Keller zurück und gingen wieder in das Badehaus. Dort trat die nicht mehr ganz junge Frau, die das Haus führte, nervös an Cery heran und reichte ihm ein Stück Papier.
»Es tut mir leid. Es ist vor einigen Stunden gekommen«, erklärte sie. »Ich wusste nicht, was ich damit anfangen soll. Ihr habt nie gesagt, dass ich vielleicht Nachrichten bekommen würde oder wo ich sie hinschicken sollte.«
»Ich habe nicht erwartet, dass Ihr in diese Lage kommen würdet«, erwiderte er. »Aber danke, dass Ihr darauf aufgepasst habt.«
Sie wirkte erleichtert und zog sich hastig aus dem Raum zurück. Cery las das Schreiben und seufzte vor Erleichterung.
»Sie lebt und ist in Sicherheit«, berichtete er ihnen. »Aber sie haben entdeckt, dass sie eine Spionin war.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte Schreibunterricht für sie arrangieren können.« Er hielt das Stück Papier mit zwei Kritzeleien darauf hoch. »Wir haben einen Code erarbeitet, aber er gibt nicht viele Einzelheiten preis.«
»Werdet Ihr sie treffen und herausfinden können, was geschehen ist?«, fragte Dorrien.
Cery nickte. »Wie bald dieses Treffen stattfinden kann, wird davon abhängen, wie viel ihr Arbeitgeber und der Dieb, der ihm seine Befehle gibt, über sie wissen und ob sie nach ihr suchen.« Seine Miene wurde wieder grimmig. »Ich werde euch Bescheid geben, sobald ich etwas in Erfahrung bringe.«
Sonea legte eine Hand auf seine. »Ich hoffe, es geht ihr gut. Und richte ihr unseren Dank aus.«
Er brachte ein hohles Lächeln zustande. »All das, und wir haben Skellin nicht gefangen.«
»Nun, lass uns hören, was sie sagt, bevor wir es als einen vollkommenen Fehlschlag bezeichnen. Vielleicht hat sie einige Informationen aufgeschnappt, die wir trotzdem benutzen können.«
Er nickte. »Dann sollte ich euch besser zur Gilde zurückbringen, in der gleichen Maskerade, in der ihr hierhergekommen seid.« Er machte ihnen ein Zeichen. »Kommt. Ich habe einige Arrangements getroffen.«
Nach einer nervösen Nacht, in der sie schweigend auf dem Dachboden des Hauses gewartet hatten, nachdem die Bewohner – eine Familie mit lärmenden kleinen Kindern – zurückgekehrt waren, folgte ein Tag rastlosen Schlafs in einem winzigen Zimmer unter einem Bolhaus. Lilia begann sich zu fragen, ob ihr Leben in Zukunft dauerhaft einem nächtlichen Zeitplan folgen würde.
Falls es so war, dann hoffte sie, dass sie sich schnell daran gewöhnen würde. Obwohl Anyi ihr versichert hatte, dass sie den Besitzer des Bolhauses kenne, und zuversichtlich genug war, um auf einem der schmalen Betten sofort einzuschlafen, wurde Lilia von jedem Geräusch geweckt. Und wenn man unter einem Bolhaus schlief, bedeutete das, dass es jede Menge Geräusche gab, von denen man erwachen konnte. Sie musste sich jedoch daran gewöhnt haben, denn irgendwann musste Anyi sie wachrütteln.
»Zeit aufzustehen«, sagte Anyi. »Ich habe dir einige Kleider beschafft, dann werden wir mit der Frau, die das Haus führt, zu Abend essen.«
Lilia richtete sich auf, gähnte und ergriff das oberste Kleidungsstück in dem Haufen am Fußende des Bettes. Ein schweres Robenoberteil. Sie runzelte die Stirn. Es war sauber, aber fadenscheinig an den Ellbogen.
»Deine Kleidung ist zu gut«, erklärte ihr Anyi. »Die Leute werden erkennen, dass du nicht hierhergehörst, sobald sie dich sehen. Wenn du verborgen bleiben willst, bis wir deine Freundin gefunden haben, wirst du dich kleiden müssen, als gehörtest du hierher.«
Lilia nickte. »Wenn Schwarzmagierin Sonea das kann, dann kann ich es ebenfalls.«
Anyi kicherte. »Ich werde rausgehen, während du dich umziehst.«
Die alten Kleider rochen nach Holzrauch und Seife. Obwohl sie von rauerem Tuch waren als die Kleider, die man Lilia im Ausguck zu tragen gegeben hatte, weckte etwas daran ein Gefühl behaglicher Vertrautheit in ihr.
Sie erinnern mich an mein Leben, bevor ich Novizin wurde. Sie sind wie die Kleider, die die Dienstboten getragen haben, die die gröberen, schmutzigen Arbeiten erledigt haben.
Sobald sie fertig war, ging sie zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Anyi wartete draußen und winkte ihr zu, als sie sie sah.
»Komm nach oben«, sagte sie. Der kleine Raum lag unter einer Treppe, und jetzt gingen sie in die Etage zwei Stockwerke darüber. Anyi klopfte an eine Tür, und als jemand »Herein« rief, lächelte sie Lilia zu, öffnete die Tür und trat ein.
»Hier ist sie, Donia«, sagte sie und deutete auf Lilia. Eine Frau in mittleren Jahren stand vor einigen im Halbkreis aufgestellten Gästezimmerstühlen. »Das ist Lilia.«
Die Frau verneigte sich. »Lady Lilia, ich denke, das ist der korrekte Titel.«
Lilia errötete. »Nicht direkt. Ich bin keine Magierin mehr. Zumindest keine Gildemagierin.«
Anyi deutete auf die Frau. »Das ist Donia, die Besitzerin diese Bolhauses und eine Kindheitsfreundin von Schwarzmagierin Sonea.«
Lilia sah Anyi überrascht an. »Ist das wahr?«
»Nicht direkt.« Donia schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Ich habe einen ihrer alten Freunde geheiratet, und er ist vor einigen Jahren gestorben. Bitte, nehmt doch Platz. Ich habe etwas zu essen heraufbringen lassen. Möchtet ihr ein Glas Wein?«
Lilia zögerte. Das letzte Mal hatte sie in der Nacht, bevor Nakis Vater gestorben war, Wein getrunken. Ihre Erinnerungen an diese Nacht wurden unterbrochen, als Anyi sie zu den Stühlen hinüberscheuchte.
»Ich werde ein wenig Bol trinken«, sagte Anyi zu Donia. »Falls du welchen anbietest.«
Donia lächelte. »Natürlich. Würdest du Bol vorziehen, Lilia? Ich fürchte, das Wasser hier ist nicht so gut trinkbar wie in den besseren Teilen der Stadt.«
»Wein wäre schön«, erwiderte Lilia bei der Erinnerung an das widerlich süße Getränk, das die Schläger ihr gegeben hatten, und es gelang ihr, nicht zu schaudern.
Donia trat vor einen schmalen Tisch und tippte gegen einen kleinen Gong. Draußen vor der Tür wurden Schritte laut, dann spähte eine jüngere Frau herein, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
»Einen Becher Bol, zwei Gläser und eine Flasche von dem guten Wein«, sagte Donia. Die Frau nickte und schloss die Tür. Mit einem Seufzen nahm Donia Platz. »Sie wird nicht lange brauchen. Also … Lilia. Kannst du uns erzählen, wie du in die Stadt gekommen bist, auf dem Weg zu einem Treffen mit Skellin?«
Die Frage wurde sehr sanft gestellt, und Lilia vermutete, dass die Frau, wenn sie sagte, sie könne nicht antworten, dies akzeptieren würde. Aber sie verspürte den Drang zu sprechen, irgendjemandem zu erzählen, was ihr widerfahren war, und herauszufinden, ob ihre Entscheidungen richtig gewesen waren oder nicht. War es klug, mit dieser Fremden zu sprechen?
Es schien, dass es immer neue Schwierigkeiten brachte, wenn irgendjemand wollte, dass sie etwas tat. Zuerst war es Naki gewesen, die sie gedrängt hatte zu versuchen, schwarze Magie zu erlernen. Danach war Lorandra gekommen und hatte sie zu einer Flucht aus dem Ausguck überredet.
Ich kenne Donia nicht. Ich kenne auch Anyi nicht, doch aus irgendeinem Grund vertraue ich ihr. Sie hätte mich direkt zur Gilde bringen können, aber das hat sie nicht getan. Tatsächlich hatte es ihr bisher geholfen, aus Schwierigkeiten herauszukommen, indem sie tat, was Anyi wollte. Ich habe ohnehin keine andere Wahl, als ihr zu vertrauen. Entweder das, oder ich muss versuchen, Naki allein zu finden.
»Du kannst Donia vertrauen«, sagte Anyi. »Sie hat sich jahrelang um mich gekümmert. Je mehr wir wissen, umso größer wird die Chance sein, dass wir deine Freundin finden.«
Lilia nickte. Sie begann mit der Nacht, in der sie und Naki in die Bibliothek gegangen waren und die Anweisungen für die Benutzung von schwarzer Magie ausprobiert hatten. Sie begann dort, weil sie ihnen von der Ermordung Lord Leidens erzählen musste, die vielleicht mit Nakis Verschwinden zusammenhing. Anschließend erzählte sie ihnen alles bis zu dem Punkt, an dem Anyi sie vor der bevorstehenden Begegnung mit Skellin gerettet hatte. Sie hielt nur dann inne, als die Dienerin mit den Getränken kam und später zwei männliche Diener das Essen hereinbrachten. Der Wein löste ihre Zunge noch mehr, und sie gestand einige dunklere Gedanken, die sie bisher für sich behalten hatte, wie zum Beispiel ihre Angst, dass sie Nakis Vater doch getötet und es dann wegen des Feuels und des Weins vergessen hatte.
»Feuel«, sagte Anyi mit unverhohlenem Abscheu. »Es würde mich nicht überraschen, wenn es dich dazu gebracht hätte, ihn zu töten.«
Lilia zuckte zusammen. »Dann denkst du also, ich habe es getan?«, fragte sie kleinlaut.
Anyis Augen weiteten sich. »Nein! Ich denke nicht, dass du das tun könntest. Es ist nur … es veranlasst die Menschen, Dinge zu tun, die sie normalerweise nicht tun würden. Ich denke jedoch nicht, dass es sie diese Taten vergessen lässt.« Dann wurde ihre Miene nachdenklich. »Hast du seit jener Nacht noch einmal Feuel benutzt?«
Lilia schüttelte den Kopf.
»Und … willst du mehr? Verspürst du ein Verlangen danach?«
Lilia überlegte kurz, dann schüttelte sie abermals den Kopf.
Anyi zog die Augenbrauen hoch. »Interessant. Angeblich wirkt es bei Magiern nicht anders als bei gewöhnlichen Leuten.«
»Einige Menschen leiden nicht so stark unter dem Verlangen wie andere«, bemerkte Donia.
Anyi sah die Frau an. »Du scheinst dir da sehr sicher zu sein.«
Donia nickte. »Ich habe es bei den Kunden gesehen. Manche Leute können nicht aufhören, andere können es durchaus. Es ist genauso wie beim Alkohol, obwohl ich wette, dass Feuel mehr Menschen süchtig macht, als Alkohol es tut.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist ein elendes Pech, wenn man einer dieser Leute ist oder einer ihrer Angehörigen.« Sie sah Lilia an und runzelte nachdenklich die Stirn. »Da hast du ja ein schönes Abenteuer erlebt. Viele Dinge ergeben keinen Sinn. Du sagst, du hättest mühelos schwarze Magie erlernt, aber deine Freundin hat die gleichen Anweisungen befolgt und sie nicht erlernt. Ihr Vater wurde durch schwarze Magie getötet, aber weder du noch deine Freundin habt es getan – was wahr sein muss, denn Sonea hat auch ihre Gedanken gelesen. Es gibt nur zwei andere Schwarzmagier, aber die Gilde glaubt nicht, dass sie die Schuldigen sind. Also muss es da draußen noch einen weiteren Schwarzmagier geben.«
»Wenn das so ist, hat Skellin keine Kontrolle über diesen Magier, sonst wäre Lorandra nicht so erpicht darauf gewesen, Lilia zu ihm zu bringen«, sagte Anyi. »Und er kann aus demselben Grund nicht der Schwarzmagier sein.«
»Nakis Vater wurde getötet, nachdem man Lorandra in den Ausguck gesperrt hatte«, bemerkte Donia. »Wenn sie gewusst hätte, dass Skellin schwarze Magie erlernt hätte, würde Sonea das erfahren haben, als sie Lorandras Gedanken las. Aber wenn Skellin erst nach ihrer Gefangennahme schwarze Magie erlernt hätte, würde sie nichts darüber wissen.«
Anyis Augen weiteten sich. »Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wer weiß, was er mit Lilia gemacht hätte, wenn er sie nicht brauchte? Wahrscheinlich hätte er sie getötet.«
»Falls er dazu in der Lage gewesen wäre. Sie ist ebenfalls eine Schwarzmagierin«, rief Donia ihr in Erinnerung.
»Ja, aber Lilia hat sich nicht gestärkt, indem sie Magie von anderen genommen hat.« Anyi wandte sich an Lilia. »Oder?«
Lilia schüttelte den Kopf.
»Und dieser andere Schwarzmagier hat es getan, weil er Nakis Vater getötet hat.« Anyi verzog das Gesicht. »Vielleicht ist es eine gute Sache, dass das Treffen nicht stattgefunden hat. Was wäre, wenn sich ein Schwarzmagier dort eingefunden hätte und er stärker gewesen wäre als Sonea und die anderen Magier?«
Donia breitete die Arme aus. »Was geschehen ist, ist geschehen.«
Lilia blickte zwischen der älteren und der jungen Frau hin und her. »Sonea sollte an dem Treffen teilnehmen?«
Anyi zuckte zusammen. »Ja. Nun, sie sollte weniger daran teilnehmen als es unterbrechen. Verstehst du, ich habe als Leibwächterin für Rek gearbeitet, damit ich bei ihm spionieren konnte. Mein eigentlicher Auftraggeber – die Person, die dir helfen wird, Naki zu finden – hat Sonea bei der Suche nach Skellin unterstützt.«
Lilia runzelte die Stirn. »Du arbeitest für die Gilde?«
»Nein. Ich arbeite für jemanden, der für die Gilde arbeitet – aber keine Sorge. Ich werde dich ihnen nicht ausliefern.«
»Warum nicht?«, fragte Lilia.
»Weil … weil ich versprochen habe, Naki für dich zu finden, und ich breche keine Versprechen.« Anyi lächelte schief. »Sie muss dir viel bedeuten, dass du so große Risiken für sie eingehst.«
Unerwartet wurde Lilias Gesicht warm. Sie nickte, wandte den Blick ab und schob die Erinnerung an einen Kuss beiseite. »Sie ist meine Freundin. Sie würde für mich das Gleiche tun.«
»Du musst es Cery erzählen«, sagte Donia.
Anyi richtete sich höher auf. »Nein. Er wird sie einfach Sonea ausliefern.«
Donia lächelte. »Er wird es tun wollen, aber du wirst ihn überzeugen müssen, es bleiben zu lassen.«
Anyi lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, legte die Hände zusammen und trommelte die Fingerspitzen gegeneinander. »Ich werde ihm sagen, ich hätte Lilia versprochen, dass er Naki finden würde. Gewiss würde er nicht wollen, dass ich ein Versprechen breche.«
»Du hast ihn offensichtlich noch nicht gut genug kennengelernt.« Donia kicherte. »Wenn du denkst, dass das funktionieren wird … Du musst darauf hinweisen, dass es für ihn von größerem Nutzen ist, Lilia bei sich zu behalten, als sie der Gilde zu übergeben.«
Lilia sah Donia entsetzt an. Diese Person namens Cery schien noch skrupelloser und selbstsüchtiger zu sein, als Anyi bisher hatte durchblicken lassen.
Anyi kniff die Augen zusammen. »Das kann ich tun.« Sie sah Lilia an, und ein Ausdruck der Sorge glitt über ihre Züge. »Keine Bange. Dazu wird keine schwarze Magie vonnöten sein. Oder irgendetwas, das du nicht tun darfst oder tun willst.«
Donia blickte Lilia an und nickte. »Sie hat recht. Im Gegensatz zu den meisten Männern in seiner Position hat er Grenzen, die er nicht überschreitet.«
»Sie sind lediglich ein wenig flexibler als die der meisten Menschen.« Anyi grinste und wandte sich an Donia. »Kann Lilia in der Zwischenzeit hierbleiben?«
»Natürlich.« Donia lächelte Lilia an. »Wenn du es wünschst, bist du hier willkommen. Du wirst allerdings wieder unter der Treppe schlafen müssen. Wir haben keine weiteren freien Betten.«
Lilia blickte zwischen Anyi und Donia hin und her, dann nickte sie. »Vielen Dank. Ich werde bleiben, und wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, um für mein Quartier und mein Essen zu bezahlen …«
Donia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Eine Freundin von Anyi ist eine Freundin von mir, und ich würde niemals auf die Idee kommen, eine Freundin bezahlen zu lassen.«
Anyi schnaubte. »Ich sollte Cery erzählen, dass du das gesagt hast.«
Die Frau sah Anyi mit schmalen Augen an. »Nicht wenn du nicht vorhast, für dein Bol zu bezahlen.«
Wieder im Hauptraum des Gästeflügels hörte Dannyl sich Achatis Beschreibung der Eskapaden an, in die er und der Besitzer des Gutes als junge Männer verwickelt gewesen waren. Eine Bewegung an der Tür erregte Dannyls Aufmerksamkeit, und er winkte, als er einen Sklaven zaudernd dort stehen sah.
Der Mann warf sich zu Boden. »Das Abendessen ist fertig, Meister, falls Ihr jetzt zu speisen wünscht.«
»Ja!«, sagte Achati. Er sah Dannyl an. »Ich habe mir einen gesunden Appetit geholt.«
Dannyl lächelte still in sich hinein bei dem Gedanken an Achatis stummes Versprechen. Zwar hatte Tayend den Ashaki den ganzen Tag über mit Beschlag belegt, aber irgendwann würde auch der Elyner schlafen müssen.
Vielleicht würde die Affäre mit Achati kurz sein, vielleicht würde sie in der Zukunft peinliche Konsequenzen haben, aber für den Augenblick fühlte sich alles richtig an. Außerdem, überlegte Dannyl, waren Tayend und ich jahrelang zusammen, und die Beziehung hat trotzdem ein Ende gefunden. Und nicht ohne Schmerz und Bedauern.
Als hätten seine Gedanken ihn herbeigerufen, kam Tayend aus seinem Zimmer. Er blinzelte sie an, und sein Blick wanderte von Achati zu Dannyl. »Tragt Ihr immer noch diese Badehausumhänge?«
Dannyl blickte an seinem Bademantel herab. Achati hatte keine Anstalten gemacht, seine übliche feine Kleidung wieder anzulegen, und so hatte auch Dannyl darauf verzichtet – und es tat ihm gut, einmal etwas anderes zu tragen als die immer gleichen Magierroben.
Achati lachte. »Es schien keinen Sinn zu machen, sich anzukleiden. In ein paar Stunden werden wir ohnehin zu Bett gehen.«
Tayend rümpfte die Nase. »Ich denke, ich werde aufbleiben. Ich habe in letzter Zeit so viel geschlafen.«
Dannyl spürte, wie seine gute Laune die ersten Risse bekam, als ihn ein bestimmter Verdacht beschlich. Er widerstand der Versuchung, zu Achati hinüberzuschauen, um festzustellen, ob diesem der gleiche Gedanke gekommen war. Wenn Tayend lange aufblieb …
»Zeit fürs Abendessen.« Achati winkte, als ein weiterer Sklave in der Tür des Hauptraums erschien. »Habt Ihr auch Hunger, Tayend?«
Ein köstlicher Geruch wehte in den Raum. Interesse spiegelte sich auf Tayends Gesicht, als er das Tablett in den Händen des Sklaven beäugte.
»Ja.«
»Dann setzt Euch und esst mit«, lud Achati ihn ein.
Tayend ließ sich auf einem Hocker nieder, und sie begannen zu essen und zu reden.
»Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte Achati Tayend nach einer Weile. »Gab es keine Probleme mit dem Mittel gegen Seekrankheit?«
»Nein.« Der Elyner zuckte die Achseln. »Ich habe mich unmittelbar nach dem Wachwerden etwas benommen gefühlt, aber das ist nach dem Bad besser geworden. Wann brechen wir wieder auf?«
»Morgen früh.«
Tayend nickte. »Hoffen wir, dass es keine Stürme geben wird.«
»Da kann ich Euch nur zustimmen.«
»Ich werde heute Nacht wahrscheinlich lesen. Ich hatte seit unserer Abreise nur wenig Gelegenheit dazu.«
»Braucht Ihr etwas zu lesen?«, erkundigte sich Achati.
Dannyl hörte zu, während sie über Bücher sprachen und den Bericht über den Versuch, die Duna-Stämme niederzuschlagen, den Achati ihm gegeben hatte. Achati schenkte Tayend seine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber es war auch sehr wahrscheinlich, dass Tayend den ganzen nächsten Tag verschlafen würde – und jeden weiteren Tag, den sie mit dem Schiff reisten. Falls er diesem Muster weiter folgte, würde er nicht viele Gelegenheiten bekommen, um mit Achati oder Dannyl zu reden.
Was mich, wie ich zugeben muss, selbstsüchtigerweise freut. Ich habe Achatis Aufmerksamkeit fast ganz für mich, selbst wenn wir nicht allein sind, da Tayend die meiste Zeit schläft, während wir wach sind. Alles dank des Heilmittels gegen die Seekrankheit …
Ein Heilmittel, das Achati Tayend gegeben hat. Ich nehme doch nicht an … Könnte Achati dies beabsichtigt haben? War es eine gerissene Methode, um zu verhindern, dass Tayend ihm in die Quere kommt? Uns in die Quere kommt?
Vielleicht war es nur eine bequeme Nebenwirkung. Schließlich hatte Achati gesagt, dass das Heilmittel nicht bei allen Menschen so stark wirke. Dannyl hatte sich erboten, Tayends Seekrankheit mithilfe von Magie zu heilen, aber der Elyner hatte abgelehnt. Tayend war zu stolz, um wegen magischer Erleichterung zu ihm zu kommen. Nicht wenn es eine Alternative gab. Hatte Achati ihn so weit durchschaut?
Was würde Tayend sagen, wenn er wüsste, worüber Achati und ich im Bad gesprochen haben? Schwache Gewissensbisse durchzuckten Dannyl, aber er war sich nicht sicher, ob sie von der Möglichkeit herrührten, Tayend könne sich darüber aufregen, dass er einen neuen Geliebten hatte, oder ob sie ihren Ursprung darin hatten, dass er Tayends Warnung vor Achati ignorierte.
Irgendwann wird Tayend schon dahinterkommen, oder aber ich werde es ihm sagen müssen. Für den Augenblick hat Achati recht: Es wäre besser, es Tayend mitzuteilen, wenn wir nicht gerade stundenlang auf einem Schiff eingepfercht sind. Tayend wird gewiss einige missbilligende Dinge dazu zu sagen haben. Ich werde einfach erklären müssen, dass ich ihn verstehe und dass es kein Arrangement von Dauer ist.
Bei dem letzten Gedanken durchzuckte Dannyl ein Stich. Was war, wenn es aufhörte, kein Arrangement von Dauer zu sein?
Darüber werde ich mir Sorgen machen, wenn es geschieht, denn anderenfalls werde ich kein unterhaltsamer Reisebegleiter sein. Wieder einmal.
Im Lagerraum des Hospitals hatten sich diesmal nicht zwei, sondern vier Personen eingefunden. Sie standen um einen Tisch nahe der Tür, Sonea und Dorrien auf der einen Seite, Cery und Anyi auf der anderen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen. Der andere Stuhl war verschwunden. Sonea nahm sich vor, einem der Heiler diesbezüglich Bescheid zu geben.
»Ich wünschte nur, ich hätte gewusst, dass Lorandra ihre Kräfte nicht wiederhatte«, jammerte Anyi. »Dann wäre ich nicht fortgegangen, und Ihr hättet die beiden vielleicht erwischt. Aber ich wusste nicht, ob Ihr in der Lage sein würdet, es mit beiden gleichzeitig aufzunehmen. Ich musste Euch warnen.«
Sonea lächelte. »Du konntest es nicht wissen«, erwiderte sie. »Es muss ein Schock für dich gewesen sein, dich im selben Raum mit ihr wiederzufinden. Bist du dir sicher, dass sie dich nicht von der Anhörung erkannt hat?«
Anyi runzelte die Stirn. »Ich denke nicht. Sie hat sich nicht so benommen, als habe sie mich wiedererkannt, aber sie könnte sich verstellt haben, damit ich blieb. Und sobald wir Skellin getroffen hätten, hätte sie es ihm überlassen, sich um mich zu kümmern.«
»Dann kann sie kein großes Zutrauen gehabt haben, dass Jemmi und Rek ihr glauben würden, wenn sie ihnen erklärt hätte, dass du eine Spionin seist.«
»Vielleicht haben sie sie davon überzeugt, dass ich mich gegen Cery gestellt hätte.«
»Ich an ihrer Stelle hätte darauf bestanden, dass Jemmi andere Leibwächter findet«, sagte Cery.
»Da sie das nicht getan hat, halte ich es für wahrscheinlicher, dass sie Anyi nicht erkannt hat«, erklärte Dorrien. »Sie hätte sich unwohl in der Nähe eines Menschen gefühlt, von dem sie wusste, dass er in der Vergangenheit für die Gilde gearbeitet hat, und sei es auch nur indirekt, vor allem wenn sie sich mit ihrem Sohn treffen wollte.«
»Was immer der Grund gewesen sein mag, wir haben unsere Chance, Skellin zu fangen, verpasst«, erwiderte Cery und seufzte. Dann sah er Sonea an. »Kann Skellin die Blockade in Lorandras Geist entfernen?«
»Wahrscheinlich.« Sonea blickte zu Anyi. »Hat irgendjemand Lilia erwähnt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Nun, wollen wir hoffen, das bedeutet, dass Lorandra sich Lilias entledigt hat, sobald sie ihr nicht mehr von Nutzen war. Oder dass Lilia klug genug war, um sich von Lorandra zu trennen.«
»Oder dass Lorandra sie getötet hat, sobald sie ihr nicht mehr von Nutzen war«, fügte Dorrien grimmig hinzu.
Sonea verzog das Gesicht. »Zumindest bedeutet es, dass Lilia Lorandra nicht verraten hat, dass sie schwarze Magie erlernt hat. Oder Lorandra war nicht klar, dass das bedeutete, dass Lilia sie unterweisen könnte. Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie Lilia nicht gehen lassen.«
»Lorandra kann nicht gewusst haben, weshalb Lilia eingekerkert worden war, wenn nicht Lilia selbst oder eine der Wachen es ihr erzählt hat«, sagte Dorrien nachdenklich. »Aber jetzt, da sich die Gerüchte über die Flucht der beiden verbreiten, wird Lorandra bald erfahren, was Lilia weiß. Wir müssen hoffen, dass sie keine Ahnung hat, wo Lilia ist, und zurückkehrt, um sie zu holen. Wir müssen Lilia so schnell wie möglich finden.«
»Nein. Müssen wir nicht.« Sonea seufzte, als alle in ihre Richtung schauten. »Schwarzmagier Kallen muss das tun. Ich soll Skellin finden.«
»Ich nehme an, das bedeutet, dass du dich mit Kallen treffen und ihm erzählen musst, was gestern Nacht geschehen ist«, vermutete Cery.
»Ja. Ohne weitere Verzögerung.«
Er nickte und machte eine Handbewegung, als wolle er sie aus dem Raum scheuchen. »Dann geh.« Er sah Anyi an. »Wir haben dir sonst nichts zu sagen.« Anyi schüttelte zustimmend den Kopf.
»Geh doch selber«, erwiderte Sonea und ahmte seine Handbewegung nach. »Du bist in meinem Hospital, schon vergessen?«
Er grinste. »Oh, das ist richtig.«
Er drehte sich um und führte Anyi zu der Geheimtür, durch die er den Raum betreten hatte. Sonea wartete, bis die beiden verschwunden waren und die Tür geschlossen, dann wandte sie sich an Dorrien. »Hat man dich Kallen schon vorgestellt?«
Er trat vor und öffnete ihr die Tür. »Nein. Sollte ich irgendetwas wissen, bevor ich ihm begegne?«
Sie ging in den Flur hinaus, sah eine Heilerin näher kommen und änderte ihre Meinung, was das betraf, was sie zu sagen beabsichtigte.
»Nur dass er nicht viel Sinn für Humor hat.«
»Das habe ich schon einmal gehört«, bemerkte Dorrien, während er ihr den Flur entlang folgte. »Obwohl, wenn ich jetzt darüber nachdenke, du warst diejenige, die das gesagt hat.«
»Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst.«
»Das ist doch gewiss gut so.«
Sonea sah ihn an. Er grinste. Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt Grenzen.«
»Was die Frage betrifft, eine Aufgabe ernst zu nehmen?«
»Was die Frage betrifft, mich aufzuziehen und damit durchzukommen«, erwiderte sie schroff. Sie traten auf die Straße hinaus. Die Kutsche, in der sie gekommen war, wartete dort, da Sonea für gewöhnlich darauf bestand, dass Dorrien seine Schicht beendete und nach Hause fuhr, sobald sie eingetroffen war. Sie wies den Fahrer an, zur Gilde zurückzukehren, dann stieg sie hinter Dorrien in den Wagen.
»Irgendetwas an dieser ganzen Angelegenheit kommt mir merkwürdig vor«, sagte Dorrien, nachdem die Kutsche losgefahren war.
Sie sah ihn an. »Wovon sprichst du?«
»Von gestern Nacht.« Er runzelte die Stirn und schaute aus dem Fenster, aber die Art, wie er das tat, legte die Vermutung nahe, dass er in Gedanken versunken war. »Anyis Geschichte. Vielleicht war es die Art, wie sie sie erzählt hat. Sie hat Dinge immer wieder neu formuliert oder mitten im Satz innegehalten, als müsse sie sich daran hindern, etwas zu sagen.«
Sonea dachte an die Begegnung zurück. Ihr war nichts Seltsames in Anyis Benehmen aufgefallen. Anyis Beschreibung der Ereignisse war stockend gewesen, aber Sonea hatte angenommen, dass der Grund dafür ihre Schwierigkeiten waren, ihre Verdächtigungen und die impulsiven Entscheidungen, die sie getroffen hatte, in Worte zu fassen.
»Vielleicht war sie nervös«, sagte Sonea. »Sie weiß, dass ich früher in den Hüttenvierteln gelebt habe, dass du jedoch aus den Häusern stammst.« Sie hielt das zwar nicht für wahrscheinlich, aber vielleicht hing Anyis normalerweise so direktes Benehmen auch davon ab, mit wem sie zu tun hatte.
Die Falte zwischen Dorriens Augen verschwand nicht. Er schüttelte den Kopf. »Mag sein. Aber ich denke, es steckt mehr dahinter, als sie uns erzählt hat. Hältst du es für möglich, dass sie erpresst wird?«
Soneas Magen krampfte sich zusammen. Seltsamerweise ließ diese Idee sie an Lorkin denken. Obwohl er gesagt hat, er werde sich den Verräterinnen aus freien Stücken anschließen, bedeutet es immer noch, dass andere sein Leben in Händen halten. Ich wünschte, ich hätte eine Nachricht von ihm bekommen.
»Alles ist möglich«, antwortete sie. »Aber wenn Skellin jemanden erpressen wollte, hätte ich erwartet, dass es Cery sein würde. Und wenn er Cery erpresst hätte, hätte er Anyi irgendwo eingesperrt und gedroht, sie zu töten, falls Cery nicht tat, was er wollte.«
Dorrien wirkte keineswegs überzeugt, aber er sagte nichts mehr. Die Straßen Imardins waren still. Jene, die die Wahl hatten, hielten sich in ihren Häusern auf, wo es warm war. Als die Kutsche durch das Gildetor rumpelte, begann es leicht zu schneien.
Sie gingen durch die Universität, über den Innenhof und zu den Magierquartieren. Sonea führte Dorrien zu Schwarzmagier Kallens Tür und klopfte an. Als die Tür nach innen aufschwang, drang ein würziger, rauchiger Geruch an ihre Nase.
Ein kalter Schauer überlief sie. Sie hatte noch nie den Rauch von Feuel gerochen, aber sie hatte viele, viele Male die Reste der Droge an Kleidungsstücken wahrgenommen. Bei der Erinnerung an Anyis Geschichte, dass sie Schwarzmagier Kallen beim Erwerb von Feuel beobachtet habe, verwandelte sich Soneas Erschrecken in Abscheu, als sie sah, dass Kallen und zwei mit ihm befreundete Magier und Assistenten in seinem Gästezimmer saßen und an kunstvoll verzierten Rauchpfeifen saugten. Kallen nahm seine Pfeife aus dem Mund und lächelte höflich.
»Schwarzmagierin Sonea«, begrüßte er sie und stand auf. »Und Lord Dorrien. Kommt herein.«
Sonea zögerte, dann zwang sie sich, den Raum zu betreten. Angesichts ihrer Kenntnisse über Feuel wollte sie nichts von dem Rauch einatmen, selbst wenn er wahrscheinlich zu schwach war, um sich auf ihren Geist auszuwirken.
»Was können wir für Euch tun?«, fragte Kallen.
»Wir sind hergekommen, um Euch über einen gescheiterten Hinterhalt zu berichten, den wir in der vergangenen Nacht versucht haben«, antwortete Dorrien. Sonea sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick mit einem Kopfschütteln.
Nachdem sie sich wieder auf den Grund ihres Besuchs besonnen hatte, beschrieb Sonea das geplante Treffen und warum es gescheitert war. Kallen stellte alle Fragen, die sie erwartet hatte, und sie war erleichtert, als klar wurde, dass sie fertig waren und sie gehen konnten. Kallen bedankte sich bei ihr für die Informationen und versicherte ihr, dass er alles in seiner Macht Stehende tun werde, um Lilia und Naki zu finden.
Wieder im Flur ließ Sonea ihrem Zorn freien Lauf. »Ich kann nicht fassen, dass er in seinem eigenen Quartier gesessen und Feuel geraucht hat!«, sagte sie. Was als ein Flüstern gedacht gewesen war, kam jedoch als ein Zischen über ihre Lippen.
»Es gibt kein Gesetz dagegen«, bemerkte Dorrien. »Tatsächlich lassen diese Pfeifen es beinahe respektabel aussehen.«
»Aber … begreift denn niemand, wie gefährlich es ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Selbst jene, die sehen, dass es eine üble Wirkung auf gewöhnliche Menschen hat, gehen davon aus, dass es nicht schlimmer als Alkohol sei, wenn es in Maßen und von vernünftigen Leuten benutzt wird – wie von Magiern.« Dorrien sah sie an. »Wenn es wirklich gefährlich ist, dann sollte Lady Vinara das ganz klar sagen.«
Sonea seufzte. »Das wird nicht geschehen, es sei denn, Magier finden sich bereit, sich untersuchen zu lassen. Diejenigen, die Feuel benutzen, weigern sich, und es wäre ungerecht, die, die es eigentlich nicht benutzen, möglicherweise in eine dauerhafte Abhängigkeit zu führen.«
»Das könnte sich ändern. Du brauchst nur einen Magier, der versucht, sich die Droge abzugewöhnen, und feststellt, dass er dazu nicht in der Lage ist.« Er blickte nachdenklich drein. »Ich werde mich umhören. Es könnte sein, dass sich einige bereits an diesem Punkt befinden und es ihnen zu peinlich ist, etwas zu sagen.«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Danke.«
»Als ob du noch ein weiteres drängendes Problem in deinem Leben gebrauchen könntest«, fügte er hinzu. Dann stahl sich ein wachsamer, zögernder Ausdruck in seine Züge.
»Was?«, fragte sie.
»Es ist nur … nun … wusstest du, dass das Parfüm, das du benutzt, aus Feuel-Blüten gewonnen wird?«
Sonea blieb stehen und starrte ihn an. »Nein …«
Er wandte schuldbewusst den Blick ab. »Ich hätte es dir schon früher sagen sollen. Ich war vor ein oder zwei Wochen in einer Parfümerie, und ich habe den Duft erkannt. Also habe ich gefragt, was es ist.«
Sie schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Von allen Parfüms kaufe ich ausgerechnet dieses. Aus einer Laune heraus. Nur weil ich beschäftigt wirken musste. Ich schätze, ich sollte es wegwerfen.«
»Das wäre schade.«
Sie blinzelte ihn fragend an. Zu ihrer Erheiterung wandte er den Blick ab.
»Es gefällt dir?«
Er schaute sie an, dann sah er wieder weg. »Ja. Du hast früher nie Parfüm benutzt. Es ist … schön.«
Erheitert setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie verließen die Magierquartiere und gingen auf die Universität zu.
»Also, warum warst du in einer Parfümerie? Um ein Geschenk für Alina zu kaufen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte sehen, ob ich vielleicht etwas für Tylia bekommen kann. Für ihre Aufnahmezeremonie.«
»Ah.« Sie nickte. »Also nicht der übliche elegante Schreibstift?«
»Nein.«
Den Rest des Weges bis zur Kutsche schwieg er; wahrscheinlich dachte er darüber nach, dass er eine Tochter hatte, die bereits alt genug war, um Novizin zu werden. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als Lorkin sein Gelübde abgelegt und seine ersten Roben bekommen hatte. Der Stolz, den sie empfunden hatte, wurde getrübt durch die Erinnerung daran, dass sie dieses Gelübde gebrochen hatte, die Erinnerung an den Tag, an dem die ganze Gilde vorbeimarschiert war und ihre und Akkarins Roben in einer symbolischen Geste der Zurückweisung zerrissen hatte, bevor man sie beide in die Verbannung schickte.
Wie damals schob sie diese Erinnerung beiseite. Lorkin mochte in eine verborgene Rebellenstadt gegangen sein, aber es hatte keine ernsthaften Gespräche darüber gegeben, ihn aufgrund seiner Entscheidung zu verbannen. Was beruhigend war. Wenn die Gilde immer noch glaubte, dass er den Weg zurück nach Hause finden würde, dann fiel es ihr selbst viel leichter, es ebenfalls zu glauben.
Etwas strich über Lorkins Sinne. Er ignorierte es, aber das Gefühl kam wieder, und etwas daran ließ seine Haut kribbeln. Die Störung war ärgerlich, aber wie man ihn gelehrt hatte, akzeptierte er sie und löste seinen Geist vorsichtig von dem wachsenden Edelstein.
Während seine Umgebung wieder in sein Bewusstsein drang, öffnete er die Augen und hielt in der Höhle Ausschau nach der Quelle der Störung. Es waren nicht die Steinemacher, die in der Nähe saßen. Sie sahen sich auf die gleiche Weise um wie er. Er war sich ziemlich sicher, dass es auch nicht die beiden Magierinnen an der Tür waren, obwohl ihre Haltung darauf schließen ließ, dass sie miteinander geredet hatten. Er hatte schon vor Tagen gelernt, Gespräche in der Nähe auszublenden.
Jetzt lauschte er und stellte fest, dass er ein schwaches, leises Geräusch hören konnte. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er unter den Händen, den Füßen und durch den Stuhl eine Vibration spüren konnte.
Sofort begann sein Herz zu rasen, und er zog hastig Magie in sich hinein und umgab sich mit einer starken Barriere.
Ein Beben, dachte er. Wie schlimm es wohl sein mag?
Nicht schlimm genug, um die anderen Magier dazu zu treiben, aus der Stadt zu fliehen, wie er feststellte. Wurden die Nichtmagier gerade in diesem Moment evakuiert? Als er das Tal draußen das letzte Mal gesehen hatte, hatte es unter einer tiefen Schneedecke gelegen. Der Gedanke an das, was geschehen könnte, sollte die ganze Stadt einstürzen und die gesamte Einwohnerschaft in der grimmigen Kälte enden, ließ ihn schaudern. Die Stadt hatte über viele Jahrhunderte hinweg überlebt, wenn auch mit einigen Zerstörungen. Das bedeutete nicht, dass es niemals einen Tag geben würde, da ein Beben stark genug war, um sie zu vernichten …
Es unterstreicht, warum einige Menschen hier glauben, dass die Verräterinnen das Sanktuarium irgendwann verlassen müssen.
Er schaute sich im Raum um. An den Wänden glitzerten kristalline Punkte reflektierten Lichts. Diese Auswüchse waren für ihn nicht länger lediglich ein buntes Geheimnis. Er wusste, was aus den Steinen jeden Bereichs einmal werden sollte – für welche magische Aufgabe sie herangebildet wurden.
Zwei Arten wurden hergestellt: gemusterte und mit Macht erfüllte. Den gemusterten Steinen hatte man lediglich die Fähigkeit zur Formung von Magie verliehen. Der Benutzer sandte Magie in den Stein, und der Stein formte diese Macht zu etwas Körperlichem: Gewalt, Hitze, Licht und verschiedenen vertrauten Kombinationen. Die Intensität des Ergebnisses wurde damit kontrolliert, wie viel Magie man in den Stein gab. Das war es, was Magier taten, wenn sie Magie aus sich selbst heraus kanalisierten, so dass die gemusterten Steine für einen Magier keinen großen Nutzen hatten, es sei denn, er oder sie hatte noch nicht gelernt, wie man Magie zu einem bestimmten Zweck formte, oder beherrschte dieses Formen noch nicht ausreichend. Für einen Nichtmagier waren diese Steine vollkommen nutzlos, da sie keine Magie aus sich selbst heraus kanalisieren konnten und ohnehin kaum über formbare Magie verfügten.
Ich habe nicht lange gebraucht, um zu begreifen, wie nützlich es wäre, Edelsteine für die Heilung zu züchten, also vermute ich, dass das auch einigen Verräterinnen bereits in den Sinn gekommen ist. Aber die Komplexität der Aufgabe, für die man einen Stein züchten kann, scheint ihre Grenzen zu haben; wenn also heilende Steine gemacht würden, könnten sie nur grundlegende Aufgaben erfüllen.
Die zweite Art von Steinen – die, die mit Macht gefüllt wurden – war für einen Magier von weitaus größerem Nutzen. Man lehrte sie, die gleiche Art von Aufgaben zu erfüllen, aber zusätzlich tränkte der Schöpfer sie mit seinem eigenen Vorrat an Magie. Doch diese Magie wurde mit der Verwendung erschöpft. Wenn Steine gut gemacht waren, konnte man sie von neuem mit Magie tränken; weniger erfolgreiche Steine taugten nur für eine einmalige Benutzung. Manchmal stellte man bewusst solche Steine her, wenn das, wozu sie benutzt wurden, sie zerstörte, aber die Mehrheit der mit Macht getränkten Steine war dazu bestimmt, wieder aufgefüllt zu werden.
Ganz ähnlich hält die Gilde die Arena aufrecht und jedwede andere mit Magie gestärkten Gebäude. Die Gebäude verlieren sehr langsam Magie, aber die Arena und die Barriere um sie herum werden während Kriegerlektionen und beim Training gelegentlich attackiert und müssen ständig neu gestärkt werden.
Die beiden Nutzungsweisen von Magie – zur Stärkung von Gebäuden und zur Herstellung von Steinen – waren einander so ähnlich, dass Lorkin es erstaunlich fand, dass die Gilde noch nie zuvor über Letzteres gestolpert war, bis ihm der Gedanke kam, dass es in Kyralia keine Höhlen voller natürlich auftretender Edelsteine gab. Sie konnten nicht mit importierten Steinen arbeiten, da diese, bis sie in Form von Schmuck in die Hände von Magiern gelangten, zu alt waren, um noch wirksam beeinflusst werden zu können.
Das andere Hindernis war der Umstand, dass der Architekt, der die Methode erfunden hatte, Stein mit Magie zu stärken, in einer Ära gelebt hatte, in der schwarze Magie verboten gewesen war. Ein Frösteln überlief Lorkin, als er sich daran erinnerte, wie mühelos und schnell er die Idee hinter der schwarzen Magie begriffen hatte. In weniger als einer Stunde hatte er seine Gelübde als Magier und ein jahrhundertealtes Tabu gebrochen.
Und trotz allem war es eine gewisse Enttäuschung. Ich bin nicht stärker geworden. Ich habe keine neuen Fähigkeiten gewonnen. Die schwarze Magie versetzt mich lediglich in die Lage, den Prozess des Steinemachens leichter zu verstehen und anzuwenden – einen Prozess, der für die Gilde nur von begrenztem Nutzen sein wird, es sei denn, man entdeckte in Kyralia Höhlen mit Edelsteinen oder fände heraus, wie man solche Steine sonst noch züchten könnte.
Außerdem hatte das Erlernen von schwarzer Magie ihm eine realistischere Anschauung der Magie in ihm selbst vermittelt, eine realistischere Betrachtung seiner eigenen Stärken und Verletzbarkeiten. Er hielt es für möglich, einen Stein großzuziehen, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, ohne schwarze Magie zu kennen, aber es wäre wahrscheinlich so, als arbeite er blind – unmöglich zu erkennen, ob er es richtig hinbekam, wie viel Magie der Stein aufnehmen konnte oder wann er einsatzbereit war.
Er schaute auf den kleinen grünen Edelstein in seinen Händen hinab. Während des größten Teils des Prozesses musste er damit arbeiten, während die Steine noch an der Wand saßen, und einige Male hatte er sie unter den Massen von Steinen dort verloren. Wenn er genügend lange auf sie eingewirkt hatte, konnten sie abgenommen und am Tisch weiterbearbeitet werden.
Lange Phasen ungebrochener Konzentration waren vonnöten. Er verstand jetzt, warum Tyvara gesagt hatte, sie habe keine Geduld für diese Arbeit. Sprecherin Halana hatte ihm außerdem erklärt, dass die Herstellung von Steinen, die Hitze oder explosive Gewalt produzierten, gefährlich sein konnte, wenn der Schöpfer in seiner Konzentration nachließ, zu viel Magie in einem Stein gelagert wurde oder der Stein mangelhaft war. Das war der Grund, warum ein Teil des Prozesses in entlegenen Höhlen vonstattenging, zu denen jeweils nur die dort arbeitenden Steinemacher Zutritt hatten.
Lorkin stellte gerade einen Leuchtstein her. Obwohl es schwieriger war, lehrte man ihn auch, wie er ihn mit Magie tränken konnte. Außerdem war es ein wenig gefährlich für einen noch in der Lehrzeit befindlichen Steinemacher, einen mit Macht getränkten Stein herzustellen, denn wenn er die Steine mit zu viel Macht tränkte oder nicht konzentriert genug arbeitete, konnte der Stein explodieren. Er hätte für diese Aufgabe auch einen Duplikatorstein benutzen können, mit dem sich beliebig viele Kopien des in ihnen gespeicherten Musters schaffen ließen – insbesondere solche Steine, die für eine komplexe Magie herangebildet werden sollten. Sprecherin Halana bestand jedoch darauf, dass alle Schüler zuerst lernten, wie man einen Stein ohne die Hilfe von Duplikatoren schuf, damit sich niemand allzu sehr auf diese Methode verließ.
Die Vibrationen waren jetzt verebbt. Lorkin blickte sich im Raum um. Die anderen Steinemacher waren an ihre Arbeit zurückgekehrt und hielten den Kopf über die Tische gesenkt. Er holte tief Luft und begann mit einer geistberuhigenden Übung. Er wusste nicht, ob die Verräterinnen ähnliche Übungen kannten, aber die einfachen Übungen, die man ihn an der Universität gelehrt hatte, erwiesen sich jetzt als sehr nützlich.
Als er gerade seinen Geist wieder in den Stein senden wollte, hörte er, wie jemand seinen Namen murmelte. Er schaute auf. Sprecherin Halana kam auf ihn zu.
»Wie kommst du zurecht, Lorkin?«, fragte sie, als sie seinen Tisch erreichte.
»Gut, Sprecherin Halana«, antwortete er. »Nun, bisher ist nichts schiefgegangen.«
Sie lächelte schwach, mit einem inzwischen vertraut gewordenen dunklen Humor, und griff nach dem Stein. Alle bis auf die jüngsten Steinemacher hatten einen ähnlichen fatalistischen Humor, wie ihm aufgefallen war. Obwohl Unfälle selten waren, kamen sie durchaus vor. Lorkin hatte einige übel vernarbte Frauen durch die Höhlen gehen sehen. Einmal hatte eine der jüngeren Steinemacherinnen ihm zugeflüstert, dass einige ihrer Kolleginnen nicht nur deshalb allein arbeiteten, weil sie gefährliche Ablenkungen vermeiden wollten, sondern weil sie es vorzogen, wenn andere ihre Narben nicht sahen. Einige von ihnen aßen, schliefen und arbeiteten auf Dauer in den inneren Höhlen, die sie so gut wie nie verließen.
Nachdem Halana den Stein aufmerksam betrachtet hatte, legte sie ihn wieder auf den Tisch. »Du machst deine Sache gut«, sagte sie. »Er ist ein wenig besser als die ersten Steine. In einigen Tagen sollten wir in der Lage sein, ihn zu aktivieren.«
Er lächelte. »Und dann?«
Sie hielt seinem Blick stand, hielt kurz inne und zuckte dann die Achseln. »Dann wirst du zu größeren Aufgaben weitergehen. Ich werde morgen wieder nach dir sehen.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging zur nächsten Schülerin weiter. Lorkin beobachtete sie und stellte Spekulationen über diese Pause nach seiner Frage an. Es war beinahe so, als habe die Frage sie überrascht, als habe sie angenommen, dass er es bereits wüsste.
Vielleicht hat sie nicht so weit vorausgedacht. Oder sie ist nicht an Schüler gewöhnt, die wissen wollen, was sie als Nächstes lernen werden. Oder die Antwort ist ziemlich offensichtlich.
Achselzuckend wandte er sich wieder dem Stein zu und beschloss, später darüber nachzudenken.
Mit ein wenig Magie erwärmte Lilia das Wasser in dem Eimer. Sie wagte nicht, es zu sehr zu erhitzen, damit die Diener das Wasser nicht dampfen sahen und daraus schlussfolgerten, dass Lilia nicht in die Küche gegangen war, um es zu erwärmen. In diesem Fall würden sie anfangen, sich Fragen zu stellen, was sie betraf. Sie kniete sich auf den Boden, tauchte ein Tuch in das Wasser und begann zu wischen und zu schrubben.
Eine Woche lang lebte Lilia nun schon in dem Bolhaus, schlief unter der Treppe und tat so, als sei sie eine der Putzfrauen. Donia war überrascht gewesen, als Lilia diese List vorgeschlagen hatte, bis sie erfuhr, dass Lilia aus einer Familie von Dienstboten stammte. Anyi war nach dem ersten Abendessen verschwunden, und als sie am nächsten Morgen zurückgekommen war, hatte es sie verärgert zu sehen, dass Lilia in der Küche Töpfe schrubbte. Lilia musste ihr die Idee ausreden, Donia zurechtzuweisen.
»Du bist eine Magierin«, sagte Anyi so leise, dass die anderen Diener es nicht hören konnten. »Es sollte keine Rolle spielen, ob du als Dienstbotin geboren wurdest oder nicht.«
»Tatsächlich bin ich keine Magierin – jedenfalls keine Gildemagierin«, bemerkte Lilia. »Sie haben mich hinausgeworfen, erinnerst du dich? Es macht mir nichts aus, diese Arbeiten zu verrichten, und ich kann kaum erwarten, ohne Gegenleistung hierbleiben zu dürfen.«
Anyi hatte Lilia von ihrem Treffen mit Cery erzählt. Er hatte sich einverstanden erklärt, der Gilde nicht zu verraten, dass Anyi Lilia gerettet hatte und wusste, wo sie war. Lilia konnte sich einer gewissen Neugier, was den Mann betraf, nicht erwehren. Anyi hatte klare Ansichten darüber, was Recht und was Unrecht war, und Lilia konnte sich nicht vorstellen, dass sie für jemanden arbeitete, der ihren Idealen nicht zustimmte. Nach dem, was Anyi von Cery erzählt hatte, arbeitete er unter großen Risiken für sich selbst darauf hin, dass die Unterwelt keine Magie in die Hände bekam. Donia dagegen schien Cery für pragmatischer – vielleicht sogar für skrupelloser – zu halten, als Anyi glaubte.
Ein Stiefel tauchte an ihrer Seite auf. Erschrocken zuckte sie zusammen, und ein schriller kleiner Schrei drang ihr über die Lippen. Als sie aufblickte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass der Stiefel Anyi gehörte.
»Du hast mich erschreckt«, sagte sie tadelnd und warf den Lappen wieder in den Eimer. »Kannst du nicht ein ganz klein wenig Lärm machen, wenn du hinter mich trittst?«
»Tut mir leid.« Anyi sah jedoch nicht so aus, als täte es ihr leid. Sie wirkte selbstgefällig. »Teil meiner Arbeit. Ich vergesse, dass ich es tue.« Sie betrachtete den Eimer und den nassen Boden. »Sieht so aus, als käme ich genau zum richtigen Zeitpunkt. Was ist es diesmal, das Donias Gäste dir zum Saubermachen dagelassen haben?«
Lilia verzog das Gesicht. »Das willst du gar nicht wissen. Und es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, wenn du hergekommen wärst, bevor ich die Schweinerei sauber machen musste.«
»Ich entschuldige mich dafür. Das nächste Mal werde ich versuchen, rechtzeitig aufzutauchen.« Sie grinste. »Bist du fertig? Wir müssen zu einem Treffen gehen.«
Lilias Herz setzte einen Schlag aus. »Ein Treffen mit Cery?«
»Ja.« Anyi zog die Augenbrauen hoch. »Du scheinst ganz erpicht darauf zu sein, ihn kennenzulernen.«
Lilia stand auf. »Nur weil du ihn so schilderst, als sei er ein interessanter Mensch.«
»Tue ich das? Nun, verrat ihm das nicht.« Anyi bückte sich, um den Eimer hochzuheben, aber Lilia schob ihn mit Magie außer Reichweite.
»Ich bin die Dienerin, vergiss das nicht. Ich stelle eben noch schnell den Eimer weg, bevor wir gehen.« Sie hob ihn hoch und machte sich auf den Weg die Treppe hinunter. Anyi brummte leise vor sich hin, während sie ihr folgte.
Sobald sie den Eimer ausgespült und auf den Eimerstapel zurückgestellt hatte, borgte Lilia sich einen schweren Umhang von Donia, dann führte Anyi sie durch eine Hintertür in eine Gasse hinaus, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete. Die Luft war sehr kalt, und Lilia musste der Versuchung widerstehen, sie zu erwärmen. Um ihr Unbehagen und ihre Frustration darüber, keine Magie benutzen zu können, noch zu verschlimmern, begann es zu regnen.
Die Gasse war menschenleer, wenn auch voller Abfälle und Kisten.
»Du musst einige Dinge wissen«, sagte Anyi leise. »Ich habe versucht, dieses Treffen zu verhindern, und zwar aus zwei Gründen …«
Sie hielt inne, als sie das Ende der Gasse erreichten, und überprüfte die Querstraße, bevor sie in eine weitere, noch schmalere Gasse traten.
»Erstens, mein Arbeitgeber versteckt sich ebenfalls. Es ist ein Risiko, dich zu ihm zu bringen. Dahinter steht folgende Überlegung: Wenn man zwei gesuchte Personen zusammenbringt, verdoppelt sich das Risiko, dass sie beide gefunden werden. Aber es ist sicherer, dich zu ihm zu bringen, als andersherum. Die Leute, die dich finden wollen, wollen dich einsperren. Die, die ihn finden wollen, wollen ihn töten.«
»Skellin will …?«
»Psst. Sprich seinen Namen nicht aus. Der Regen überdeckt unsere Stimmen, aber einige Worte erregen größere Aufmerksamkeit als andere. Doch … ja.« Anyi spähte um eine Ecke, dann ging sie weiter. »Er ist sehr mächtig, musst du wissen.« Anyi sah Lilia an. »Der mächtigste Dieb in der Stadt. Er hat überall Verbündete, hochgestellte und niedere.«
»Also … wenn dein Arbeitgeber sich versteckt und der mächtigste Dieb – der außerdem ein Magier ist – ihm im Nacken sitzt, wie wird er mir dann helfen können, Naki zu finden?«
Anyi blieb stehen und drehte sich zu Lilia um. »Er hat ebenfalls Verbündete. Nicht so viele, aber es sind verlässliche Leute. Die übrigen würden dich sofort ihm übergeben wollen.«
Lilia starrte die Frau an. Sie hatte Anyi offensichtlich gekränkt, indem sie Cerys Fähigkeiten infrage stellte. Was durchaus in Ordnung ist … Aber irgendetwas sagt mir, dass hinter ihrer Beziehung zu diesem Cery mehr steckt, als sie erkennen lässt.
»Du bist ihm sehr treu ergeben, nicht wahr?«, bemerkte sie.
Anyi holte tief Luft und stieß den Atem dann wieder aus. »Ja. Ich schätze, das bin ich.« Ihr Gesichtsausdruck war seltsam nachdenklich, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung.
Lilia bemerkte, dass es aufgehört hatte zu regnen, was eigentlich eine Erleichterung hätte sein sollen, nur dass es jetzt schneite und noch kälter wurde. Sie stieß die Hände tief in die Umhangtaschen und bedauerte es dann, als sich ihre Fingernägel an deren Grund in Sand bohrten.
»Gut«, sagte Anyi, mehr zu sich selbst als zu Lilia. »Ich hatte auf Schnee gehofft. Er wird die Leute von der Straße fernhalten.« Sie zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf.
»Also, was ist der zweite Grund?«, fragte Lilia.
Anyi runzelte die Stirn. »Der zweite Grund wofür?«
»Dieses Treffen zu vermeiden.«
»Ach ja.« Anyi verzog das Gesicht. »Obwohl er gesagt hat, er würde es nicht tun, war ich mir nicht ganz sicher, ob er dich nicht doch ausliefern würde.«
An die Gilde, beendete Lilia im Geiste den Satz. »Also bist du ihm treu ergeben, aber du vertraust ihm nicht.«
»Oh doch, das tue ich«, versicherte Anyi ihr. »Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Das Problem ist, ich würde ihm nicht das Leben der meisten anderen Menschen anvertrauen.«
»Das ist nicht sehr beruhigend.«
»Das ist mir klar. Aber du solltest es wissen. Er ist, was er ist.«
Eine Möglichkeit blitzte in Lilias Geist auf. »Ein Dieb?«
Anyi sah Lilia an und runzelte die Stirn. »War ich so durchschaubar?«
Lilia lächelte. »Entweder das, oder ich werde langsam besser in diesem Spiel.«
»Macht es dir etwas aus?«
»Nein. Ich habe erwartet, dass ich, um Naki zu finden, mit einigen zwielichtigen Leuten würde zusammenarbeiten müssen.«
»Ich dachte mir, dass du mit so etwas gerechnet hast, da du bereit warst, diesem mörderischen Weib zu vertrauen, obwohl du gewusst hast, wer sie war.«
»Ich habe L… dieser Frau nicht vertraut«, korrigierte Lilia sie. »Ich bin ein Risiko eingegangen, weil mir keine andere Möglichkeit einfiel, Naki zu finden.« Sie sah Anyi an. »Also, woher weißt du, dass Cery mich heute nicht an die Gilde ausliefern wird?«
Anyi kicherte. »Ich habe ihm einen guten Grund gegeben, dich zu behalten.«
»Was ist das für ein Grund?«
»Wir werden dich als Köder benutzen, um Skellin in die Falle zu locken.«
Lilia blieb stolpernd stehen. »Ihr werdet …«
»Anyi!«
Eine Frau war vor ihnen in die Gasse getreten, wo sie auf eine andere Straße traf. Sie drehten sich beide zu ihr um. Die Frau war hochgewachsen und sehr dünn, und nachdem sie einen flüchtigen Blick auf Lilia geworfen hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Anyi.
Anyi fluchte leise. »Heyla. Folgst du mir?«
Die Frau zuckte nicht mit der Wimper. »Ja. Ich will mit dir reden.«
Anyi verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann rede.«
Heyla sah Lilia an. »Unter vier Augen.«
Seufzend ging Anyi bis zur Ecke und blieb stehen. »Das muss reichen.«
Die Frau machte ein Gesicht, als würde sie vielleicht protestieren, doch dann schüttelte sie den Kopf und eilte zu Anyi hinüber.
Die beiden begannen sich leise zu unterhalten. Lilia konnte nur einige wenige Worte auffangen. Heyla sagte mehrmals: »Es tut mir leid.« Während Lilia das Gesicht der Frau beobachtete, las sie in deren Zügen Schuldgefühle, Bedauern und, seltsamerweise, Verlangen. Die Schultern der Frau hingen herunter. Ihre Hände bewegten sich schnell, und an einem Punkt streckte sie den Arm nach Anyi aus, nur um ihn hastig zurückzureißen.
Anyi dagegen wirkte gelassen und aufmerksam, aber etwas an der Anspannung in ihrem Kiefer und ihren schmalen Augen deutete darauf hin, dass sie sich über irgendetwas ärgerte und diesen Ärger verbarg. Je länger Lilia Anyi beobachtete, umso größer wurde ihre Überzeugung, dass sie im Gesicht ihrer Retterin noch etwas anderes sah. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob es Hoffnung oder Schmerz war. Dann sagte die Frau etwas, und Anyi zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.
Plötzlich deutete die Frau mit einer aggressiven Gebärde auf Anyi und murmelte einige leise Worte.
Anyi lachte bitter auf. »Wenn du ihn finden kannst, sag ihm, er sei ein Bastard. Er wird wissen, warum.«
Die Frau drehte sich wieder zu Lilia um. »Was ist mit ihr? Ist sie eine Kundin? Sollte ich sie warnen, ihr Schlafzimmer verschlossen zu halten? Oder ist sie meine Nachfolgerin?«
»Nun, sie hat sich noch nicht in eine verräterische, diebische Fäule-Süchtige verwandelt«, knurrte Anyi zur Antwort.
Heyla fuhr zu Anyi herum, eine Hand zur Faust geballt. Aber mit einer winzigen Veränderung ihrer Haltung war Anyi plötzlich kampfbereit. Heyla stutzte und trat zurück.
»Hure!«, zischte sie, dann stolzierte sie davon.
Anyi schaute der Frau nach, bis sie ein gutes Stück weit die Durchgangsstraße hinunter verschwunden war, dann winkte sie Lilia heran. »Wir sollten besser die Augen offen halten«, sagte sie. »Sie könnte versuchen, uns zu folgen – oder uns von jemand anderem beobachten lassen.«
Sie ging wieder in die Gasse, dann nahm sie einen schmalen, überdachten Durchgang zwischen zwei Gebäuden, der in eine weitere Gasse führte.
»Wer ist sie?«
»Eine alte Freundin, ob du es glaubst oder nicht.« Anyi seufzte. »Wir haben uns einmal nahegestanden. Dann hat sie versucht, mich an unsere Feinde zu verkaufen, für Geld zum Kauf von Fäule.«
»Was wollte sie gerade?«
»Geld. Wieder einmal.«
»Sie hat dich bedroht?«
»Ja.«
»Wenn du mir diese Bemerkung verzeihen willst«, sagte Lilia, »aber du hast ungefähr genauso viel Glück bei der Wahl deines Umgangs wie ich.«
Anyi lächelte nicht. Stattdessen blickte sie bekümmert drein, und Lilia bereute ihre Worte.
»Es tut mir leid.«
»Schon gut. Ich bin über sie hinweg«, sagte Anyi und beschleunigte ihre Schritte. Lilia fiel zurück, dann zwang sie ihre Beine, sich schneller zu bewegen, damit sie Anyi einholen konnte.
Ich bin über sie hinweg?, dachte sie. Das klingt nach etwas, das Leute sagen, wenn … Moment mal. Was hat Heyla noch gesagt? ›Sollte ich sie warnen, ihr Schlafzimmer verschlossen zu halten? Oder ist sie meine Nachfolgerin?‹ Das konnte etwas anderes bedeuten, aber …
Als ihr eine andere mögliche Bedeutung hinter den Worten der Frau dämmerte, konnte sie nicht umhin, nach vorn zu blicken, zu ihrer Führerin, und zu spekulieren. Vielleicht liege ich falsch mit dem, was ich über sie und Cery gedacht habe. Anyi war keine große Schönheit, aber sie war … beeindruckend. Gefasst, stark und klug. Tatsächlich, wenn Naki nicht wäre … Nein, denk so etwas nicht.
Denn es war nicht nur treulos gegenüber Naki, sondern würde eine Zusammenarbeit mit Anyi auch viel zu verwirrend machen.
Tayend, der blass und krank aussah, trat zu Dannyl und Achati an die Reling. Er hatte an diesem Morgen beschlossen, dass er nur eine halbe Dosis der Droge gegen die Seekrankheit einnehmen würde, damit er nicht so benommen war, wenn sie ihr Ziel erreichten. Dannyl wurde mit fatalistischer Klarheit bewusst, dass Tayend am Abend hellwach sein und jede Zweisamkeit zwischen Achati und ihm verhindern würde. Aber solche Zweisamkeit würde ohnehin folgenlos bleiben, denn Achati hat uns ja schon vorgewarnt, dass unser nächster Gastgeber ein – wie hatte er sich ausgedrückt? – »säuerlicher Moralist« sei.
»Willkommen in Duna«, erklärte Achati und deutete auf den vor ihnen liegenden Hafen.
Die Inava segelte auf ein breites Tal zu. Zu beiden Seiten wurde es von verwitterten Felsen gesäumt, die in mehreren Stufen aufstiegen. In der Mitte ergoss sich ein breiter, schlammiger Fluss ins Meer; sein braunes Wasser schob sich ein Stück weit ins Salzwasser hinein, bevor es sich mit dem Ozean vermischte.
Achati hatte sich bei seiner Erklärung nicht ganz korrekt ausgedrückt. Das Tal lag nicht an der Grenze des Landes der Duna. Das Schiff war schon während der vergangenen Tage an von Duna besiedeltem Land vorbeigesegelt; feste Grenzpunkte gab es nicht. Aber das Tal vor ihnen war der Ort, an dem die meisten Besucher von Bord gingen, wenn sie übers Meer kamen, und wenn die Duna überhaupt eine Hauptstadt hatten, dann war es die Siedlung in diesem Tal.
Im Gegensatz zu dem Wüstenland und den rauen Felsen, die sie während des größten Teils der Reise auf ihrer Linken gesehen hatten, war das Tal mit dichter, grüner Vegetation bedeckt. Die Häuser standen auf hohen Stelzen, an denen die Hochwassermarken von weit über Manneshöhe deutlich erkennbar waren. Leitern boten zu einigen davon Zutritt, während andere grobe Treppen aus zusammengebundenen Holzstämmen hatten. Die Hüttensiedlung wurde Haniva genannt, und das Tal hieß Naguh-Tal.
Der Kapitän rief den Sklaven Befehle zu, die sich daraufhin in Bewegung setzten, den Anker fallen ließen und die Segel strichen und bargen.
»Näher kommen wir ans Ufer nicht heran«, erklärte Achati. »Der Schlick des jährlichen Hochwassers macht das Wasser zu flach. Gelegentlich spülen Stürme einen Teil davon wieder weg, aber da sie wahrscheinlich jede Hafenanlage, die wir bauen könnten, zerstören würden, lohnt sich der Versuch nicht, die Bucht mit Magie freizuhalten.«
Als das Schiff gesichert war, ließen die Sklaven ein kleineres Ruderboot zu Wasser. Dannyl, Tayend und Achati bedankten sich bei dem Kapitän, dann kletterten sie über eine Strickleiter in das Boot hinunter. An Land warteten sie ab, während die Sklaven zum Schiff zurückkehrten, um ihre Reisetruhen zu holen, dann folgten sie den Sklaven, die die Truhen trugen, nach Haniva.
Die Stadt hatte keine Straßen, nur Pfade, die lediglich durch Benutzung erhalten wurden, und die Häuser schienen willkürlich verteilt zu sein – häufig in Gruppen, die durch schmale Gehwege miteinander verbunden waren. Offensichtlich rechnete man in der nächsten Zeit nicht mit Überschwemmungen, vermutete Dannyl aufgrund des Getreides, das rund um die Häuser wuchs. Das Getreide war so gepflanzt, dass es den gewaltigen Bäumen Platz ließ, von denen Früchte in Büscheln herabhingen. Die Bäume hatten glatte Stämme, über die sich ein regenschirmähnliches Geflecht von Ästen und gewaltigen Blättern wölbte. Hohe Dornen, die aus dem Boden schossen, verwirrten Dannyl zuerst, bis er sah, dass an einigen der größeren Blätter wuchsen. Er begriff, dass es sich um Wurzelsprosse der Bäume handelte, die ihre ganze Energie zunächst darauf verwendeten, hoch genug zu werden, um Überschwemmungen zu entgehen, bevor sie Blattwerk bildeten.
Als sie Menschen sahen, die auf dem Feld arbeiteten, fiel ihm auf, dass ihre Haut und ihr Körperbau einer Mischung zwischen den stämmigen, braunen Sachakanern und den grauhäutigen, schlanken Duna entsprachen. Er vermutete, dass die Rassen sich im Laufe der Jahrhunderte vermischt hatten. Normalerweise hatten die Duna nicht die Gewohnheit, sich in Ortschaften fest anzusiedeln, das wusste Dannyl aus dem, was er gelesen oder erzählt bekommen hatte. Sie waren ein Nomadenvolk.
Vielleicht könnte man diese Menschen als eine neue Rasse betrachten, überlegte er. Vielleicht könnte man sie »Naguhs« oder »Hanivaner« nennen.
Nachdem sie an einigen Dutzend Häusern vorbeigekommen waren, steuerten die Sklaven eine Gruppe von Gebäuden an, die allein auf einem Feld standen. Es war sofort offenkundig, dass diese Gebäude anders waren, obwohl sie aus den gleichen Materialien erbaut waren und ebenfalls auf Stelzen standen. Ihr Arrangement war jedoch symmetrisch, mit einem Haus von etwa dem Dreifachen der hier normalen Größe in der Mitte und kleinen Häusern zu beiden Seiten und hinter dem Haupthaus. Dazwischen lagen Gehwege. Eine breite Treppe führte zu dem Haus in der Mitte, und der Pfad, über den man dorthin gelangte, war gerade. Als die Sklaven ihn erreichten, blieben sie stehen und warteten darauf, dass Achati, Dannyl und Tayend vor ihnen hinaufstiegen.
Auf der Treppe änderte sich nicht nur der Ausblick auf die Stadt, sondern auch die Art, wie Dannyl die Stadt sah. Er konnte mehr Häuser erkennen, und er konnte die Menschen in den Häusern erkennen, ebenso wie die Arbeiter auf den Feldern. Plötzlich erschien ihm Haniva viel dichter bevölkert und einer Stadt ähnlicher.
Ein Haussklave kam heraus und warf sich mit dem Gesicht nach unten auf die hölzerne Plattform am oberen Ende der Treppe.
»Bring mich zu Ashaki Vakachi oder zu der Person, die in seiner Abwesenheit für ihn spricht«, befahl Achati.
Der Mann sprang auf und führte sie hinein. Im Innern waren die Wände weiß gestrichen und führten einen Flur entlang zu einem großen Raum. Wie in einem typischen sachakanischen Haus, nur dass die Wände gerade sind. Im Herrenzimmer erwartete sie ein Mann. Seine Haut hatte einen Anflug von staubigem Grau, und seine Schultern waren schmal, was auf ein wenig Duna in seinem Blut schließen ließ.
»Willkommen, Ashaki Achati«, sagte der Mann, und nachdem Achati sich bei ihm bedankt hatte, wandte er sich dessen beiden Begleitern zu. »Und Ihr müsst Botschafter Dannyl und Botschafter Tayend sein.«
»So ist es«, erwiderte Dannyl. »Und es ist uns eine Ehre, bei Euch wohnen zu dürfen.«
Der Mann lud sie ein, Platz zu nehmen. »Ich habe veranlasst, dass ein leichtes Mahl aufgetragen wird, und dann wird man jeden von Euch in Euer eigenes Obin bringen – eins der freistehenden Häuser, die Ihr zweifellos bei Eurer Ankunft bemerkt habt. Sie sind eine Erfindung der Einheimischen, im Allgemeinen erbaut für die Benutzung eines Sohnes nach dessen Verehelichung oder für einen ältlichen Verwandten, nachdem der Sohn das Haus geerbt hat – aber auch, um die unverheirateten jungen Männer und Frauen im Auge zu behalten.«
»Ist das eine Duna-Tradition?«, wollte Tayend wissen.
Vakachi zuckte die Achseln. »Ja und nein. Der Stamm des Naguh-Tals hat seine eigenen Traditionen, die sich von der der übrigen Duna unterscheiden. Obwohl sie ein niedergelassener Stamm sind und zivilisierter als ihre Vettern, betrachtet man sie als minderwertig, und sie zahlen denen vom Steilabbruch Tribut.«
»Ist es möglich, dass sich unter ihnen Hüter der Legende befinden?«, fragte Dannyl.
Vakachi hob die Hände. »Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Da die Hüter sich verborgen halten, indem sie ein gewöhnliches Leben führen und nichts von ihrem Status verlauten lassen, könnten einige von ihnen hier sein, aber niemand weiß es.« Er lächelte. »Nein, Eure beste Chance auf eine Begegnung mit einem Hüter besteht darin, den Steilabbruch hinaufzusteigen und unter den reinblütigen Stämmen nach einem zu suchen. Und selbst dort stehen Eure Chancen nicht gut. Die Duna haben die Gewohnheit, sich außerordentlich sperrig zu zeigen.«
»Das habe ich gehört und gelesen«, sagte Dannyl.
Vakachi nickte. »Trotzdem, es ist möglich, dass ein Fremdländer größeres Glück haben wird als ein Sachakaner. Ich habe für Euch alle den Transport zum Steilabbruch arrangiert; Ihr werdet morgen aufbrechen. Es wird einige Tage in Anspruch nehmen. In der Zwischenzeit«, er deutete auf die Sklaven, die hintereinander in den Raum traten, »esst, ruht aus und seid mir willkommen.«
Als Sonea den Behandlungsraum betrat, musterte Dorrien sie eingehend und runzelte die Stirn.
»Du siehst blass aus«, sagte er.
»Mir geht es gut«, erwiderte sie, während sie sich hinsetzte.
»Wann hast du das letzte Mal Sonnenlicht gesehen?«
Sonea dachte nach. Sie arbeitete jetzt seit einigen Wochen in der Nachtschicht und nahm sich nur dann frei, wenn sie sich mit Cery treffen musste. Der Morgen nach dem gescheiterten Versuch, Skellin zu fangen, war der letzte Tag gewesen, an dem sie Sonnenlicht gesehen hatte, obwohl sie gewiss …
»Wenn es so lange her ist, dass du dich nicht mehr richtig daran erinnerst, war es zu lange«, erklärte Dorrien ihr streng.
Sonea zuckte die Achseln. »Die kurzen Wintertage bedeuten, dass es dunkel ist, wenn ich die Gilde verlasse.«
»Wenn du wartest, bis die Tage länger werden, wirst du die Sonne vielleicht wochenlang nicht zu Gesicht bekommen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist wie eine unheimliche nächtliche Kreatur, und die schwarzen Roben und die schwarze Magie machen diesen Eindruck nicht gerade besser.«
Sie lächelte. »Du hast doch keine Angst vor mir, oder?«
Er kicherte. »Kein bisschen. Aber ich würde zögern, dich zum Abendessen einzuladen. Du könntest die Mädchen erschrecken.«
»Hmm … ich bin wahrscheinlich an der Reihe, ein Abendessen zu veranstalten.«
»Du brauchst die Einladung nicht zu erwidern«, erklärte er ihr. »Du hast zu viele andere Dinge im Kopf. Hast du in letzter Zeit etwas von Cery gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur einige rätselhafte Nachrichten. Er glaubt, dass Lorandra sich inzwischen Skellin angeschlossen haben wird.«
»Wie läuft Kallens Suche nach Lilia und Naki?«
»Er und seine Assistenten haben Flugblätter mit Zeichnungen und Beschreibungen der Mädchen erstellt und einige Leute angeheuert, die sie in der Stadt verteilen. Mehrere Leute haben berichtet, sie hätten eins der Mädchen oder beide gesehen, aber diese Hinweise haben zu nichts geführt.«
»Man hat Naki gesehen? Das bedeutet zumindest, dass sie lebt.«
»Falls das Mädchen, das die Leute gesehen haben, Naki war. Wie dem auch sei, die Wache hat keine Leichen von jungen Frauen gefunden, die wie sie aussehen.«
Dorrien blickte nachdenklich drein. »Wir sollten einige dieser Flugblätter in den Hospitälern aufhängen.«
Sonea nickte. »Das ist eine gute Idee.«
»Ich werde einen Boten zu Kallen schicken, bevor ich aufbreche. Ein Jammer, dass wir kein Bild von Lorandra haben anfertigen lassen, bevor sie entflohen ist.«
»Ihr Aussehen ist sehr viel auffälliger als das der Mädchen, und das Gleiche gilt für Skellin, aber die Beschreibungen, die wir von den beiden in Umlauf gebracht haben, haben ebenfalls zu nichts geführt.«
»Nein, ich nehme an …«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Sonea drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie die Tür aufschwang. Heiler Gejen nickte ihr höflich zu.
»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er ehrerbietig, bevor er sich an Dorrien wandte. »Eure Frau ist hier, um Euch zu sehen, Lord Dorrien.«
»Sagt ihr, ich werde kommen, sobald ich Sonea Bericht erstattet habe«, erwiderte Dorrien.
Als die Tür geschlossen wurde, seufzte Dorrien. »Ich habe mich gefragt, wie lange es dauern würde, bis sie den Mut aufbringt, hier nach mir zu sehen.«
»Nach dir zu sehen?«
»Ja. Um sich davon zu überzeugen, dass wir nichts treiben, das sie missbilligen würde.«
Sonea schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht. Was denkt sie denn, was wir hier tun? Hat sie Angst, dass ich einen schlechten Einfluss auf dich haben werde?«
»In gewisser Weise, ja.«
»Sie denkt, ich könnte dich vielleicht schwarze Magie lehren?« Sonea warf verärgert die Hände hoch. »Wie kann ich sie dazu bringen, mir zu vertrauen?«
»Es ist nicht so, dass sie dir misstraut. Sie hat große Ehrfurcht vor dir. Und sie ist eifersüchtig.«
Sie musterte Dorrien. Er hatte eine Miene aufgesetzt, die sie schon früher bei ihm gesehen hatte. Bevor sie seinen Gesichtsausdruck einordnen konnte, begann er wieder zu sprechen.
»Ich bin derjenige, dem sie nicht vertraut.«
»Du? Warum denn das?«
»Weil …« Er hielt inne, dann sah er sie unsicher an, als falle es ihm schwer, ihrem Blick standzuhalten. »Weil sie weiß, dass ich, sollte sich jemals eine Chance bieten, mit dir zusammen zu sein, diese Chance ergreifen würde.«
Sie starrte ihn an, überrascht und schockiert. Plötzlich verstand sie den Ausdruck auf seinem Gesicht. Schuldgefühle. Und eine vorsichtige Sehnsucht. Plötzlich regten sich auch in ihr Gewissensbisse, und sie musste den Blick abwenden. All diese Jahre, und er hat niemals aufgehört, mich zu wollen. Ich dachte, er hätte mich überwunden, als er Alina begegnete und sie heiratete. Ich war erleichtert, frei von der Last zu sein, seine Gefühle nicht zu erwidern.
Sie war damals tief in Trauer gewesen, weil sie immer noch den Mann liebte, den sie verloren hatte. Es hatte keinen Platz in ihrem Herzen gegeben, um einen anderen in Erwägung zu ziehen.
Gab es diesen Platz jetzt?
Nein, dachte sie. Doch gleichzeitig regte sich in ihr ein verräterisches Gefühl, dem zu widersprechen. Einen Moment lang geriet sie in Panik, dann schob sie die Regung beiseite. Ich darf Dorrien nicht begehren. Er ist verheiratet. Das würde die Dinge für uns alle nur peinlich und schmerzhaft machen. Sie musste irgendetwas sagen, das dieser Möglichkeit einen Riegel vorschob, bevor sie sich in ihrem Denken einnisten konnte. Etwas Taktvolles, aber Deutliches. Etwas … aber ihr fielen die richtigen Worte nicht ein.
Dorrien stand auf. »So. Ich habe es ausgesprochen. Ich …« Er brach ab, als sie aufblickte und ihm in die Augen sah, dann lächelte er schief. »Ich sehe dich morgen«, murmelte er. Er ging zur Tür, öffnete sie und verließ den Raum.
Es spielt keine Rolle, was ich sage, begriff sie. Es ist bereits peinlich und schmerzhaft, und es ist schon seit Monaten so. Ich habe die Situation lediglich erst jetzt begriffen.
Cerys Heim war ein Loch im Boden. Es war jedoch ein überraschend luxuriöses Loch, mit allen Annehmlichkeiten eines Herrenhauses in der Inneren Stadt. Es war so luxuriös, dass es Lilia leichtfiel zu vergessen, dass sie sich unter der Erde befand. Die einzige Erinnerung daran war die geringe Größe des Hauses – es enthielt nur wenige Zimmer – und sein Mangel an Dienstboten.
Hätte er Dienstboten eingestellt, hätte das bedeutet, dass Menschen kamen und gingen, und das wäre dem Ziel, ein geheimes Versteck zu haben, nicht dienlich gewesen. Cerys Leibwächter, Gol, hatte ihr versichert, dass es Nahrungsmittelvorräte gebe wie getrocknete Bohnen und Getreide, gesalzenes Fleisch und konservierte Früchte und Gemüse, die hier gelagert wurden, sollte es irgendwann einmal zu gefährlich werden, das Versteck zu verlassen. Sie hatte aber nie erlebt, dass irgendjemand etwas kochte. Stattdessen brachte Gol alle paar Tage frisches Essen in das Versteck.
Jetzt, da Lilia und Anyi dort wohnten, musste er häufiger Essen bringen, was es gewiss schwieriger machte, das Versteck geheim zu halten, oder zumindest das Risiko vergrößerte, dass jemand ihn erkannte und ihm folgte. Cery war jedoch sehr beharrlich gewesen mit seiner Forderung, dass sie blieben. Anyi hatte mit ihm gestritten und verloren.
Es hatte Lilia erstaunt zu sehen, wie unerschrocken Anyi mit ihrem Arbeitgeber umging, wenn man bedachte, dass der Mann ein Dieb war. Die junge Frau legte in Cerys Nähe eine Mischung aus Loyalität, Beschützerinstinkt und Trotz an den Tag, und er duldete Letzteres mit überraschender Geduld. Statt seinen Willen mit Befehlen und Disziplin durchzusetzen, gelang es ihm, ihre Forderungen oder Einwände geschickt zu umschiffen.
Anyi dazu zu bringen, sich bereit zu erklären hierzubleiben, hatte er nicht einmal versucht. Er hatte sich einfach an Lilia gewandt und einen Handel vorgeschlagen: Er würde ihr helfen, Naki zu finden, und sie sowohl vor der Gilde als auch vor Skellin versteckt halten, wenn sie als Gegenleistung dafür ihn und Anyi beschützte. Sie hatte zugestimmt.
Die beste Möglichkeit, Anyi zu beschützen, so stellte sich heraus, war die, sie dazu zu bringen, im Versteck zu bleiben. Die einfachste Möglichkeit, wie Lilia sie im Versteck festhalten konnte, bestand darin, selbst hierzubleiben. So einfach war es jedoch nicht. Je eingeengter Anyi sich fühlte, desto mehr war sie geneigt, ihre überschüssige Energie auf Widerspruch zu richten. Als Gol am Abend mit dem Essen zurückkam, umkreiste sie ihn voller Eifer.
»Hast du irgendein Zeichen dafür entdeckt, dass Lorandra, Jemmi oder Rek nach mir oder Lilia suchen?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete er, ging um sie herum und stellte einen Sack auf den niedrigen Tisch zwischen den Gästezimmerstühlen.
Anyi wandte sich an Cery. »Siehst du? Wenn sie die Verbindung hergestellt hätten, würden sie gewiss nach uns suchen.«
»Skellin ist nicht dumm«, erwiderte Cery. »Er weiß, dass du entweder bei mir bist oder allein draußen in der Stadt. Wenn du draußen wärst, wären die Chancen größer, dass jemand dich sehen und es ihm berichten würde. Wenn du bei mir bist … nun, er hat bereits jede Menge Leute, die nach mir suchen.«
»Aber was ist, wenn Rek Lorandra nicht erzählt hat, dass ich früher für dich gearbeitet habe?«
»Was soll er ihr und Jemmi denn sonst erzählen, um sie davon zu überzeugen, dass es nicht von Anfang an seine Idee war, dass du Lilia weggebracht hast?«
»Vielleicht hat er es nur Jemmi erzählt.«
Cery deutete auf einen Stuhl. »Setz dich, Anyi«, befahl er.
Sie gehorchte, starrte ihn aber weiter an, während Gol begann, gut eingepackte fertige Speisen aus dem Sack zu nehmen und die Verpackung aufzureißen. Sie sollte verhindern, dass der Geruch der Speisen entwich und eine Spur durch die Tunnel zum Versteck bildete. Köstliche Gerüche erfüllten den Raum.
»Jemmi wird Lorandra erzählt haben, dass du meine Spionin sein musst, in der Hoffnung, sie davon zu überzeugen, dass es keine Verschwörung gab«, fuhr Cery fort. »Ob es dir gefällt oder nicht, Anyi, sie wissen, dass dein Verrat nicht echt war. Du sitzt hier bei mir fest.«
Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Lilia, als Anyis Schultern heruntersackten. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Anyi Cery von ihrer Begegnung mit Heyla erzählt hatte.
»Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand nach dir sucht«, sagte Gol zu Anyi. »Aber ich habe gehört, dass die Leute nach jemandem suchen, bei dem es sich der Beschreibung nach um Naki handeln könnte. Es sind nicht unsere Leute oder die Gilde, denke ich. Es sind Leute, von denen sie meiner Meinung nach wirklich nicht will, dass sie sie finden.«
Lilia richtete sich höher auf. »Es sucht sonst noch jemand nach ihr?«
Gol nickte, dann sah er Cery an. Die Augen des Diebs wurden schmal.
»Also beginnt das Wettrennen«, sagte er.
»Wer sucht nach ihr?«, fragte Lilia. »Und warum?«
»Skellin«, antwortete Cery. »Es ist kein Geheimnis, dass Naki verschwunden ist und dass sie und Lilia versucht haben, schwarze Magie zu erlernen. Die Tatsache, dass Naki keinen Erfolg hatte, macht sie nur zu einer geringfügig weniger erstrebenswerten Gefangenen als Lilia. Sie kann Skellin trotzdem alles erzählen, was sie gelesen und getan hat. Wenn Lilia mit der gleichen Information Erfolg hatte, besteht schließlich die Chance, dass er es ebenfalls schaffen würde. Wenn er es nicht tut«, Cery sah Lilia an und verzog das Gesicht, »weiß er doch, dass Lilia etwas an Naki liegt. Er wird versuchen, sie dazu zu erpressen, ihn schwarze Magie zu lehren, im Austausch für Naki.«
»Wir müssen Naki als Erste finden«, stellte Anyi fest.
»Ja.« Cery lächelte dünn. »Skellins Suche nach ihr könnte uns helfen. Ich habe Leute, die seine Leute beobachten. Wenn sie den Eindruck erwecken, als hätten sie Antworten gefunden, werden meine Leute denselben Leuten dieselben Fragen stellen. Wenn sie den Eindruck erwecken, als stünden sie im Begriff, an einem anderen Ort zu suchen, werden meine Leute sie beobachten, bereit, Naki bei der Flucht zu helfen.«
Irgendwo hinter den Mauern läutete eine Glocke. Cery sah Gol an, der einen bedauernden Blick auf die geöffneten Päckchen mit Essen warf.
»Wir werden dir etwas aufheben«, versprach Cery.
Der massige Mann seufzte und eilte zu der versteckten, in die Vertäfelung des Raums eingebauten Tür. Anyi stand auf, nahm einige Teller und Besteck aus einem Seitenschrank und verteilte sie, bevor sie sich zu ihnen setzte. Lilia und Cery begannen sich zu bedienen und zu essen. Gol hatte mehrere gebackene Fische in süßsaurer Soße mitgebracht, außerdem gebratenes Wintergemüse und frisch gebackenes Brot.
Kurze Zeit später kehrte Gol zurück. Diesmal war es Cery, der enttäuscht wirkte, als er und Gol fortgingen. Sobald sie allein waren, sah Lilia Anyi an.
»Denkst du, Heyla ist da draußen und erzählt herum, dass sie uns gesehen hat?«
Anyis Miene verdüsterte sich. »Wahrscheinlich. Sie hat es schon früher getan. Wenn sie es tut, wird sie sich größeren Ärger einhandeln, als ihr bewusst ist.«
»Weiß Cery über sie Bescheid?«
»Irgendwie schon.« Anyi blickte gequält drein. »Ich habe angefangen für Cery zu arbeiten, als Heyla und ich bereits nicht mehr befreundet waren. Ich habe ihm erzählt, dass eine Freundin versucht habe, mich zu verkaufen, aber ich habe ihm nicht gesagt, wer sie war.«
»Wenn du nicht für Cery gearbeitet hast, wieso wusste sie dann über ihn Bescheid?«
Anyi stutzte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Oh, ich kannte ihn. Aus der Ferne. Wie dem auch sei … ich würde lieber nicht über sie reden.«
Lilia nickte. »Deine Geheimnisse sind bei mir sicher.«
Anyi schaute zu Lilia auf, aber sie lächelte nicht. Stattdessen musterte sie Lilia mit nachdenklicher Miene, in der ein Anflug von Spekulation lag.
»Was?«, fragte Lilia.
»Nichts.« Anyi wandte den Blick ab, dann sah sie sie wieder an. »Wie nah hast du Naki gestanden?«
Lilia blickte auf ihren Teller. »Sehr nah. Nun, nicht mehr so nah, nachdem sie dachte, ich hätte ihren Vater getötet.«
Anyi verzog mitfühlend das Gesicht. »Ja, das wäre eine Prüfung für eine Freundschaft. Nicht nur für sie, weil sie gedacht hat, du hättest es getan – es muss dich ebenfalls verletzt haben, dass sie auch nur diesen Verdacht haben konnte.«
Lilia sah Anyi nachdenklich an. Sie hat nicht ganz unrecht, ging es Lilia durch den Kopf. Wie konnte Naki denken, ich hätte es getan? Vor allem, nachdem Schwarzmagierin Sonea meine Gedanken gelesen und gesagt hat, ich sei es nicht gewesen.
Das gewohnte Muster von Glockengeläut und Klopflauten warnte sie, dass sich jemand dem Versteck näherte. Anyi sprang auf, antwortete ihrerseits mit einem mehrfachen Klopfen und bediente die Mechanismen, um Cery und Gol wieder in den Raum zu lassen.
»Das war ein Bote«, eröffnete Cery ihnen. »Von dem Dieb, Enka, der einer der wenigen ist, die Skellin noch nicht vollkommen in der Tasche hat. Er will, dass ich ihm helfe, ein Problem zu lösen, das er mit seinem Nachbarn hat, der behauptet, eine Magierin arbeite für ihn. Er denkt, ich könne veranlassen, dass die Gilde sie sucht.«
»Eine Magierin?«, fragte Lilia aufgeregt. »Ist es Naki?«
»Er hat von einer Magierin gesprochen«, erwiderte Gol. »Und seine Beschreibung passt kaum zu Lorandra.«
»Lorandra kann keine Magie mehr wirken«, bemerkte Anyi.
»Inzwischen kann sie es wahrscheinlich wieder«, meinte Lilia. »Skellin könnte die Blockade entfernt haben. Aber Nakis Kräfte sind nach wie vor blockiert.«
Cery runzelte die Stirn. »Vielleicht hat sie die Blockade selbst entfernt, genau wie du es gemacht hast.«
»Das war mir nur möglich, weil ich schwarze Magie erlernt hatte. Das hat Naki nicht.«
»Dann muss sie sich wohl auf ihren Ruf verlassen, um andere einzuschüchtern, und vielleicht verwendet sie auch irgendwelche Tricks, um die Leute glauben zu lassen, sie habe ihre Kräfte zurückgewonnen. Enka hat gesagt, er habe sie noch keine Magie wirken sehen. Wir sollten uns versichern, dass sie es tatsächlich ist, bevor wir uns zeigen, und natürlich vorbereitet sein für den Fall, dass es sich um eine von Skellin gestellte Falle handelt. Zumindest wissen wir, dass er und Lorandra nicht selbst auftauchen werden, weil er damit rechnet, dass auch Gildemagier kommen werden. Und wir haben Lilia, um uns vor nichtmagischen Angriffen zu beschützen«, fügte er hinzu und verbeugte sich vor ihr.
»Warum weihst du die Gilde nicht ein?«, fragte Gol stirnrunzelnd. »Das würde uns die Scherereien und das Risiko ersparen.«
Cery lächelte und sah Lilia an. »Weil die Gilde Lilias Flucht aus dem Ausguck milder betrachten wird, wenn sie Naki rettet.«
Lilia lächelte ihrerseits. Ich kann nicht glauben, dass ich dies über einen Dieb denke, aber ich fange wirklich an, Cery zu mögen.
Der Dieb rieb sich die Hände und ging zurück zu den Stühlen. »Kommt alle hier herüber. Beenden wir unsere Mahlzeit. Wir müssen raffinierte Pläne aushecken.«
»Also«, erklang eine vertraute Stimme. »Ich höre, du hast deinen ersten Stein fertiggestellt.«
Als Lorkin sich umdrehte, sah er Evar hinter ihm durch den Korridor kommen. Er grinste und verlangsamte seinen Schritt, um sich seinem Freund anzuschließen.
»Neuigkeiten verbreiten sich schnell in den Höhlen der Steinemacher«, bemerkte er.
Evar nickte. »Wir waren neugierig zu erfahren, wie es dir ergangen ist. Die Herstellung von Steinen ist nichts für jeden.«
»Ich kann verstehen, warum. Es bedarf großer Konzentration.« Lorkin musterte Evar kritisch. Der junge Mann wirkte gesund und entspannt. »Ich habe dich seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen. Ich dachte, wir würden einander in den Höhlen begegnen.«
Evar lächelte. »Du wirst mich in den Höhlen der Schüler nicht finden. Ich arbeite an viel raffinierteren Steinen.«
»Zu beschäftigt, um bei einem Freund vorbeizuschauen?«
»Vielleicht.«
Lorkin hielt inne. »Einen Moment mal. Du bist ein Mann, also kennst du keine schw… höhere Magie. Wie kannst du Steine machen?«
Das Lächeln verschwand aus Evars Zügen. Er biss sich auf die Unterlippe, dann blickte er entschuldigend drein. »Ähm … ich könnte meine Rolle dabei übertrieben haben.«
Lorkin starrte seinen Freund an, dann brach er in Gelächter aus. »Was tust du …? Nein, ich werde dir eine Antwort ersparen, indem ich gar nicht erst frage.«
»Ich bin ein Assistent«, sagte Evar und reckte in gespieltem Hochmut das Kinn vor. »Manchmal stelle ich zusätzliche Magie bereit.«
»Und was tust du bei anderen Gelegenheiten?«
»Die Höhlen erwärmen sich nicht von selbst, und Steinemacher haben die lästige Angewohnheit zu vergessen, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen.«
Lorkin schlug ihm sanft auf die Schulter. »Alles wichtig für die Prozedur.«
»Ja.« Evar richtete sich auf. »Das ist wahr.«
In behaglichem Schweigen gingen sie weiter und bogen von dem kleineren Gang in eine breitere, belebtere Passage ein. Lorkin hatte erst wenige Schritte gemacht, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Er schaute sich um und sah die Magierin, die vor einigen Wochen vor den Räumen der Königin Wache gestanden hatte. Sie winkte ihn heran.
»Ich muss gehen«, sagte er zu Evar. »Vielleicht sehe ich dich morgen?«
Evar zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich. Ich muss früh anfangen. Wir haben im Moment ziemlich viel zu tun.«
Lorkin nickte, dann eilte er auf die Magierin zu.
»Du sollst dich bei der Königin einfinden«, informierte sie ihn. Sie drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Sie bahnten sich einen Weg zwischen den Menschen hindurch, die ebenfalls durch den breiten Flur gingen. An einem Punkt führte sie ihn durch eine Tür, durch die sie in einen verlassenen, schmalen Gang gelangten.
»Ich wusste gar nicht, dass dieser Gang existiert«, murmelte er, als sie in vertrautere Teile der Stadt gelangten.
»Abkürzung«, sagte sie und lächelte knapp.
Einige Biegungen später erreichten sie die Tür zu den Räumen der Königin. Die Magierin klopfte an und trat zurück, als die Tür geöffnet wurde. Zu Lorkins Überraschung und Freude stand dort Tyvara. Sofort hob sich seine Stimmung, ungeachtet der Tatsache, dass er ohnehin bereits guter Laune gewesen war.
»Tyvara«, sagte er lächelnd.
Nur ihre Mundwinkel zuckten empor, wie sie es immer taten, wenn sie versuchte, ernst zu wirken.
»Lorkin. Komm herein.«
Wie zuvor saß die Königin auf einem der schlichten Stühle, die in einem Kreis aufgestellt waren. Er legte eine Hand aufs Herz, und anders als bei seinem vorherigen Besuch nickte sie höflich als Antwort.
»Nimm bitte Platz, Lorkin«, sagte sie und deutete auf den Stuhl neben ihr.
Er gehorchte. Tyvara setzte sich auf die andere Seite der alten Frau. Eine Bewegung in der Tür zum Nebenzimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Als er aufblickte, sah er Pelaya, die Assistentin der Königin, in den Raum spähen. Sie lächelte und zog sich wieder zurück.
»Ich höre, du hast einen Stein vollendet«, sagte die Königin.
Neuigkeiten verbreiten sich schnell. »Ja.«
»Zeig ihn mir.«
Er griff in die Tasche seines Gewands und nahm den winzigen Kristall heraus. Die Königin streckte eine runzelige Hand aus, und er ließ den Stein hineinfallen.
Sie betrachtete den Stein einen Moment lang, und er begann zu leuchten. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus, und sie sah Lorkin mit leuchtenden Augen an.
»Gut gemacht. Nicht viele Schüler bringen bei ihrem ersten Versuch einen makellosen Stein zustande. Einige hier würden sagen, Steine lägen dir im Blut.« Sie zuckte die Achseln. »Offensichtlich nicht buchstäblich.« Sie gab ihm den Stein zurück. Er verblasste bereits. »Ich bin sehr erfreut, und nicht nur deshalb, weil du empfangen konntest, was wir dir als Entschädigung für das Wissen angeboten haben, das dir genommen wurde. Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Er blinzelte überrascht, dann wurde ihm ein wenig flau im Magen.
»Du zögerst«, bemerkte sie. Ihre Augen wurden schmal. »Was ist los?«
»Nichts«, sagte er und fügte dann, weil das offensichtlich nicht der Wahrheit entsprach, hinzu: »Ich habe mich darauf gefreut, einen weiteren Stein zu machen. Mehr zu lernen. Aber das kann warten.«
Zarala lachte leise. »Ach ja? Nun, was Kalia dir genommen hat, waren grundlegende Kenntnisse der magischen Heilkunst. Wir haben dir grundlegende Kenntnisse der Fertigung von Steinen gegeben. Ich fürchte, du wirst, genau wie sie, mithilfe von Experimenten mehr lernen müssen, ohne die Unterstützung von in Generationen gesammeltem Wissen.«
Lorkin nickte, obwohl er nicht glücklich war – man würde ihn nicht nur nichts mehr lehren, Kalia würde es auch gestattet sein zu benutzen, was sie ihm gestohlen hatte.
»Außerdem hast du keine Zeit mehr, alles zu lernen, was wir über die Herstellung von Steinen wissen«, fuhr sie fort. »Es gibt dringendere Angelegenheiten, um die du dich kümmern musst. Das ist der Grund, warum ich dir befehle, das Sanktuarium zu verlassen und nach Kyralia zurückzukehren.«
Er sah sie überrascht und, unerwarteterweise, entsetzt an. Er wollte nicht fortgehen. Nein, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ich will durchaus gehen. Ich will meine Mutter und meine Freunde wiedersehen. Aber ich will auch ins Sanktuarium zurückkehren können. Er schaute Tyvara an. Werde ich sie wiedersehen? Sie lächelte. Es war ein beruhigendes Lächeln. Es schien zu sagen: »Abwarten.«
Ein wissender Ausdruck trat in die Züge der Königin und vielleicht ein Anflug von Schelmerei. Sie richtete den Blick auf Tyvara, dann wieder auf ihn. Ihre Miene wurde erneut ernst. »Wenn du dort eintriffst und gut aufgenommen wirst, sollst du ein Bündnis zwischen uns und den Verbündeten Ländern aushandeln.«
Lorkin konnte es nicht verhindern: Er keuchte vor Überraschung leise auf. Das ist es, worauf ich gehofft habe! Nun, ich hatte gehofft, die Verräterinnen und die Gilde würden magisches Wissen nach einem Bündnis austauschen, nicht vorher, aber …
»Tyvara wird dich aus den Bergen führen, dann wirst du nach Arvice reisen, um dich wieder dem kyralischen Botschafter anzuschließen. Um das, was du über uns weißt, geheim zu halten, werden wir dir einen Blockadestein geben. Obwohl es für den König und die Ashaki von politischem Schaden wäre, wenn jemand gegen deinen Willen deine Gedanken läse, könnten sie zu dem Schluss kommen, es sei die Sache wert, um die Chance zu erhalten, uns zu finden. Wir würden dich direkt zu dem Pass bringen, der nach Kyralia führt, aber zu dieser Zeit des Jahres ist eine Reise über die Berge zu gefährlich, denn die Ichani werden kühner, wenn der Hunger sie plagt.« Sie musterte ihn mit ihren leuchtenden Augen. »Wirst du es tun?«, fragte sie.
Er nickte. »Mit Freuden.«
»Gut. Also, ich muss dir etwas geben.«
Sie griff nach einem kleinen Beutel, der auf ihrem Schoß lag und den er zuvor nicht bemerkt hatte. Nachdem sie die Schnüre gelöst hatte, kippte sie den Beutel, und ein Ring fiel in ihre Hand. Sie hielt den Ring hoch und musterte ihn, ihre Miene nachdenklich und traurig, dann streckte sie Lorkin die Hand hin.
Er nahm den Ring entgegen. Er war aus Gold, aber sehr grob gearbeitet, als habe ein Kind ihn aus Ton gefertigt. In den Ring eingelassen war ein dunkelroter Edelstein.
»Dein Vater hat mir diesen Ring vor langer Zeit geschenkt. Tatsächlich habe ich ihn gelehrt, ihn zu machen. Natürlich funktioniert er nicht mehr.«
Ein Frösteln überlief Lorkin, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Vater hat diesen Ring gemacht! Er drehte ihn hin und her, und der Stein fing das Licht auf. Hatte sein Vater sich auf die Herstellung von Steinen verstanden? Gewiss nicht. Die Antwort war ihm plötzlich klar. Es muss ein Blutstein sein. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis trafen ihn wie ein Schlag. »Du hast die ganze Zeit über mit ihm in Verbindung gestanden!«
Zarala nickte. Ihre Augen waren umwölkt. »Ja. Für eine Weile.«
»Also weißt du, warum er nicht hierher zurückgekehrt ist!«
»Falls er diesbezüglich jemals eine Entscheidung getroffen hat, hat er es mir nicht mitgeteilt.« Sie seufzte. »Ich weiß, dass er aus Furcht vor einer Invasion der Ichani nach Hause zurückgekehrt ist, und ich war nicht seiner Meinung. Ich glaubte nicht, dass die Gefahr unmittelbar drohte. Anschließend … es gab immer irgendetwas, das ihn daran hinderte, Kyralia zu verlassen. Und bei unserem Handel ging es um mehr als um einen Austausch von höherer Magie und Freiheit als Gegenleistung für die magische Heilkunst.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nie in der Lage, meine Seite des Handels einzuhalten. Es ging mir wie ihm: Die Situation daheim war schwieriger zu überwinden, als ich gehofft hatte. Nach dem Tod meiner Tochter habe ich … habe ich aufgehört, mich mit ihm in Verbindung zu setzen. Ich wusste, dass ich zum Teil mitschuldig war an ihrem Tod, weil ich zu viel von ihm verlangt und mich meinerseits verpflichtet hatte, als Gegenleistung zu viel zu geben.« Die alte Königin holte tief Luft und stieß den Atem dann wieder aus. Ihre mageren Schultern hoben und senkten sich. »Wir waren beide jung und idealistisch und dachten, wir könnten mehr ausrichten, als in unserer Macht stand. Ich glaube, es war seine Absicht zurückzukehren. Mein Volk glaubte das nicht, und ich konnte es nicht vom Gegenteil überzeugen, ohne zu offenbaren, was es war, das mir zu tun misslungen war.« Sie beugte sich vor, legte beide Hände um Lorkins Hand und schloss sie um den Stein. Über ihre Hände hinweg schaute sie ihn an, und ihr Blick war fest. »Indem ich dich nach Kyralia schicke, werde ich zu einem guten Teil einhalten, wozu ich mich bereitgefunden habe. Ich hoffe nur, dass ich anders als dein Vater lange genug leben werde, um mein Versprechen zu halten. Und nun geh.« Sie ließ seine Hände los und richtete sich auf. »Tyvara hat die Vorbereitungen getroffen, und heute ist eine klare Nacht. Sei vorsichtig und gib auf dich acht.«
Er erhob sich, verneigte sich respektvoll und verließ hinter Tyvara den Raum und die Stadt, von der er erwartet hatte, dass sie erheblich länger als nur einige Monate sein Zuhause sein würde.
Die Pferde, die die Menschen die Straße am Steilabbruch hinauftrugen, waren kleine, stämmige Tiere. Dannyl war davon überzeugt, dass seine Füße über den Boden scharren würden, wäre sein Reitpferd nicht so breit gewesen. Die Tiere trugen nicht häufig Menschen, da Besucher in Duna – oder in dessen trockeneren Gebieten – selten waren. Sie waren mehr daran gewöhnt, Nahrungsmittel und andere Vorräte zu tragen.
Kutschen waren zu breit für die schmale Straße, die sich zudem in sehr engen Kurven emporwand. Es ging ständig so dicht an der Felswand entlang, dass Dannyl gelegentlich mit einem Stiefel dagegenschrammte. Der andere Stiefel schwebte derweil über dem Abgrund.
Obwohl er keine Höhenangst kannte, machte ihm die ständige Drohung eines Absturzes zu schaffen. Achati schien mit den Zähnen zu knirschen und hielt den Blick entschlossen auf die Straße vor ihm gerichtet. Tayend machte das ganze Unternehmen offenbar überhaupt nichts aus, obwohl er nicht über beruhigende Magie verfügte, die er hätte heraufbeschwören können, sollte er oder sein Pferd ausrutschen.
Der Vorteil der ungeschützten, gefährlichen Route war die Aussicht.
Die Straße hatte etwa auf halber Länge des Tals ihren Ausgang genommen. Hinter ihnen lag der breitere Teil des Talgrunds, unterteilt in Felder, an deren Rändern in Gruppen Häuser standen. Ein bleiches Band aus grauem Sand trennte am Ende das grüne Land vom blauen Meer. Vor ihnen wurde das Tal schmaler, und die Felsen rückten von beiden Seiten her immer dichter zusammen. Ein Band aus Wasser schlängelte sich durch die ganze Länge des Tals und glitzerte, wann immer die Sonne sich auf seiner Oberfläche spiegelte.
Dannyl, der geradeaus blickte, sah, dass an der nächsten Biegung mehrere Menschen standen. Die einzigen Stellen des Pfades, die breit genug waren, dass Reisende aneinander vorbeigehen konnten, waren die Haarnadelkurven. Die Menschen, die dort warteten, waren offensichtlich Duna: schlank, mit grauer Haut und nur mit einem Tuch bekleidet, das sie sich um die Lenden schlangen. Sie trugen auf den Schultern große Säcke.
Der Führer rief einige Grußworte, als er näher kam. Die Duna – allesamt Männer – antworteten nicht und bewegten sich auch nicht. Vielleicht machten sie zum Gruß irgendein Zeichen, denn der Führer lächelte, als er sich umdrehte und den nächsten Teil der Straße hinaufritt. Achati drehte sich als Nächster um, und die grimmige Entschlossenheit in seinen Zügen, die er an den Tag gelegt hatte, seit sie mit dem Aufstieg begonnen hatten, veränderte sich nicht. Dannyl lächelte die Männer im Vorbeireiten an. Sie starrten zurück, und ihre Gesichter waren leidenschaftslos, verrieten weder Feindseligkeit noch Freundlichkeit. Er fragte sich, ob ihre Neugier auf ihn genauso groß war wie seine Neugier auf sie. Hatten je zuvor Kyralier ihre Länder besucht? Hatten Gildemagier es getan? Ich bin vielleicht der erste.
Er schaute zurück und sah Tayend lächeln, als sein Pferd hinter Dannyl einbog. Der Elyner sah, dass Dannyl ihn beobachtete, und grinste. »Aufregend, hm?«
Dannyl lächelte unwillkürlich zurück. Als er sich abwandte, verspürte er eine unerwartete Welle der Zuneigung zu seinem früheren Geliebten. Er nimmt das Leben, als sei alles ein großes Abenteuer. Diese Eigenschaft ist es, die ich durchaus vermisse.
»Und wir sind fast da«, fügte Tayend hinzu.
Dannyl blickte auf und sah, dass der nächste Abschnitt der Straße kurz war. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er beobachtete, wie der Führer nach rechts abbog und verschwand. Achati folgte ihm, danach war Dannyl an der Reihe.
Nach einem ganzen Tag im Sattel war die Veränderung ihrer Umgebung so abrupt, dass Dannyl für einen Moment die Orientierung verlor. Plötzlich war der Horizont zurückgekehrt. Das Land war flach; zwischen Dannyl und der Linie, an der die graue Erde auf den Himmel traf, war nichts.
Nichts bis auf eine Menge Zelte, korrigierte er sich, während sein Pferd wendete, um Achatis zu folgen. Die Ansammlung provisorischer Unterkünfte vermischte sich mit der Farbe des Landes. Das Ganze sah aus wie ein Gewirr aus Tuch und Pfählen.
»Es ist heiß hier oben«, bemerkte Tayend, der jetzt neben Dannyl herritt. »Wenn das Wetter im Winter schon so ist, bin ich froh, dass wir nicht im Sommer hergekommen sind.«
»Wir müssen ungefähr so weit nördlich sein wie Lonmar«, erwiderte Dannyl. »Der Unterschied zwischen den Jahreszeiten ist dort nicht so groß wie im Süden. Für Duna könnte das Gleiche gelten.«
Er fügte nicht hinzu, dass es das Ende des Tages war und die Hitze, die die jetzt tief am Himmel hängende Sonne spendete, vielleicht nicht so stark war, wie sie es mittags sein würde. Wie in Lonmar war die Luft trocken, aber hier hatte sie einen anderen Geschmack.
Asche, dachte er. Sie wehte ihm ins Gesicht, feiner als der Sand, der in Lonmar in alles hineinkroch. Ich frage mich, ob sie hier die gleichen heftigen Staubstürme haben.
Die Zelte reichten bis auf einige hundert Schritt an den Steilabbruch heran. Als die Reiter näher kamen, hielten die Duna inne, um sie anzustarren. Der Führer rief einige Grußworte, dann ließ er sein Pferd ein Dutzend Schritte vor der Versammlung stehen bleiben.
»Diese Leute sind hergekommen, um mit den Stämmen zu sprechen«, sagte er, leiser jetzt und respektvoll. »Wer hat die Stimme?«
Zwei Männer deuteten auf eine Lücke zwischen den Zelten. Der Führer bedankte sich bei ihnen, dann lenkte er sein Pferd auf die Öffnung zu. Achati, Dannyl und Tayend folgten ihm. Etwa alle zehn Zelte wiederholte der Führer die Frage, und jedes Mal ritt er dann in die Richtung, in die die Duna zeigten.
Schon bald waren sie umringt von Zelten. Dannyl konnte nicht erkennen, wo das Lager aufhörte. Einige der Zelte waren zerlumpt und gut geflickt; andere sahen neuer aus. Alle waren bedeckt mit grauem Staub, und alle waren ungefähr gleich groß und schienen von Großfamilien bewohnt zu werden, von kleinen Kindern bis hin zu verhutzelten alten Männern und Frauen. Die meisten gingen irgendwelchen Arbeiten nach – sie kochten, nähten, webten, schnitzten, wuschen oder flickten Zelte –, aber alle taten dies mit langsamen, stetigen Bewegungen. Einige Duna hielten in ihrer Arbeit inne, um die Fremden vorbeireiten zu sehen. Andere machten weiter, als seien die Besucher vollkommen uninteressant.
Eine kleine Schar von Kindern begann ihnen zu folgen. Es schlossen sich ihr schnell weitere an, aber obwohl sie kicherten und redeten und mit dem Finger zeigten, waren sie nicht ungezogen oder laut.
Als sie ihr Ziel erreichten, stand die Sonne dicht über dem Horizont. Draußen vor einem Zelt, das nicht ungewöhnlicher war als die übrigen, saßen in einem Kreis im Schneidersitz einige alte Männer auf einer Decke auf dem Boden. Der Führer schwang sich aus dem Sattel.
»Diese Leute sind gekommen, um mit den Stämmen zu sprechen«, erklärte er ihnen und deutete auf Achati, Dannyl und Tayend. »Sie haben Fragen. Wer hat die Stimme? Wer kann die Fragen beantworten?«
»Wir sind heute die Stimme«, antwortete einer der alten Männer. Er stand auf und ließ den Blick von dem Führer zu Achati, Dannyl und Tayend wandern, während sie dem Beispiel ihres Führers folgten und absaßen. »Wer stellt die Fragen?«
Der Führer drehte sich um und nickte Achati zu. »Stellt Euch vor«, wies er ihn leise an. »Nur Euch selbst, nicht Eure Gefährten.«
Achati trat vor. »Ich bin Ashaki Achati«, sagte er. »Berater von König Amakira und Begleiter von … diesen Männern.«
Dannyl stellte sich neben ihn und neigte nach kyralischer Art den Kopf. »Ich bin Botschafter Dannyl von der Magiergilde Kyralias.«
Tayend folgte mit einer höfischen Verneigung. »Ich bin der elynische Botschafter Tayend. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.«
Der alte Mann tauschte einen Blick mit seinen Gefährten, die nickten. Sie bewegten sich rückwärts, um den Kreis zu vergrößern. »Setzt Euch«, lud er sie ein.
»Wir haben Geschenke mitgebracht«, sagte Achati. Er ging zu den Satteltaschen seines Pferdes, nahm ein Päckchen heraus, kehrte dann zurück und stellte es in die Mitte des Kreises.
»Ihr kennt unsere Sitten«, bemerkte der Sprecher. »Und folgt ihnen.« Letzteres kam mit einem Anflug trockener Überraschung heraus. Einer der anderen alten Männer griff nach dem Päckchen und öffnete es. Darin befanden sich elegant gefertigte Messer, eine Schachtel mit einer gläsernen Linse, eine Rolle hochwertigen Papiers und Schreibutensilien, bestehend aus Feder und Tinte. Die alten Männer brummten vor Freude. Die Art, wie sie die Gegenstände handhabten, machte klar, dass ihr Verwendungszweck ihnen bekannt war, obwohl diese Dinge gewiss in Duna nicht leicht zu haben sein würden. Der Sprecher nickte.
»Stellt Eure Fragen. Wisset, dass wir vielleicht nicht sofort antworten werden. Wir werden vielleicht überhaupt nicht antworten.«
Achati sah Dannyl an und nickte. Dannyl ging im Geiste all die Herangehensweisen durch, die er sich während der Reise zurechtgelegt hatte.
»Vor vielen Jahren habe ich mit einer Arbeit begonnen«, erklärte er. »Ich habe eine Geschichte der Magie geschrieben. Dafür habe ich nach der Antwort auf viele Fragen gesucht, die sowohl alte wie auch jüngere Ereignisse betreffen, und …« Er seufzte. »Die Antworten haben zu weiteren Fragen geführt.«
Dies entlockte einigen der alten Männer ein schwaches Lächeln.
»Die verwirrendste Entdeckung, die ich gemacht habe, betraf den Umstand, dass mein Volk vor vielen Hunderten von Jahren etwas besaß, das sich Lagerstein nannte. Der Stein wurde in Arvice aufbewahrt, bis ein Magier ihn aus Habgier oder Wahnsinn stahl. Die Unterlagen aus jener Zeit legen die Vermutung nahe, dass er ihn benutzt hat, vielleicht in einer Auseinandersetzung mit seinen Verfolgern, vielleicht versehentlich, vielleicht sogar absichtlich, um das Ödland zu schaffen, das an die Berge zwischen Sachaka und Kyralia angrenzt.«
Die alten Männer nickten. »Wir wissen von diesem Ödland«, sagte der Anführer.
»Meine Fragen sind … was war dieser Lagerstein? Gibt es noch weitere seiner Art? Existiert noch immer das Wissen, wie man solche Steine macht? Wenn ja, wie könnte irgendein Land sich gegen seine Verwendung verteidigen?«
Der Sprecher lachte leise. »Ihr habt viele Fragen.«
»Ja«, pflichtete Dannyl ihm bei. »Sollte ich sie begrenzen?«
»Ihr dürft so viele stellen, wie Ihr wünscht.«
»Ah, das ist gut.« Dannyl lächelte dankbar. »Ich habe eine Menge Fragen. Nun, vor allem möchte ich etwas über magische Edelsteine wissen. Es geht mir natürlich nicht um die Geheimnisse ihrer Herstellung. Aber sie sind für mich eine neue Art von Magie. Was können sie ausrichten? Welches sind ihre Grenzen? Ein Duna-Fährtensucher namens Unh hat mir erzählt, dass die Verräterinnen Euch einen Teil dieses Wissens gestohlen haben. Wie viel wissen sie?«
Der alte Mann sah Achati an. »Das ist eine Frage, auf die Ihr ebenfalls gern eine Antwort hättet.«
Achati nickte. »Natürlich. Aber wenn Ihr wünscht, mit Dannyl allein zu sprechen, dann werde ich gehen.«
Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch und sah seine Gefährten der Reihe nach an. Sie zeigten keine Reaktion, die Dannyl wahrnehmen konnte, aber irgendwie übermittelten sie ihm ihre Gefühle. Als er den letzten von ihnen angeschaut hatte, blickte er zu Dannyl auf.
»Sind das alle Fragen, die Ihr habt?«
Dannyl nickte, dann lächelte er schief. »Es sei denn, die Antworten werfen weitere Fragen auf.«
»Wir müssen erörtern und entscheiden, welche Antworten wir Euch geben können«, sagte der Mann. »Und einige Fragen können nur von einem Hüter der Legende beantwortet werden, der sich vielleicht nicht bereit erklären wird, mit Euch zu sprechen. Wir haben hier ein Zelt für Gäste, in dem Ihr gern schlafen könnt, während Ihr wartet.«
Dannyl sah Achati an, der nickte. »Es wäre uns eine Ehre – und wir wären sehr dankbar dafür«, erwiderte Dannyl.
Der alte Mann rief einige Worte, und ein junger Mann kam aus einem Zelt geeilt. »Gan wird Euch dort hinführen«, sagte der Sprecher und deutete auf den Neuankömmling.
Achati, Dannyl und Tayend erhoben sich und schlossen sich ihrem Führer an, der dem jungen Mann in den Wald aus Zelten folgte.
Die spätnachmittägliche Sonne tauchte die Gärten der Gilde in ein warmes Licht. Bäume und Hecken warfen tiefe Schatten, und Sonea hatte eine Weile gebraucht, um eine Bank zu finden, die noch von der Sonne beschienen wurde. Glücklicherweise hielten sich nur wenige Magier in den Gärten auf, da in der Luft noch immer eine scharfe, winterliche Kühle lag. Sie konnte die Kälte der Holzleisten durch den Stoff ihrer Roben spüren.
Es waren zwei Tage vergangen, seit sie mit Dorrien gesprochen hatte. Am vergangenen Abend hatte sie ihre Ankunft im Hospital so lange hinausgezögert, bis er mit Sicherheit fort war. Aus Feigheit, das wusste sie.
Aber ich habe noch nicht entschieden, was ich ihm sagen will. Sie wusste, dass sie ihm sagen sollte, dass sie keine andere Beziehung als Freundschaft mit ihm haben konnte. Aber er wird erkennen, dass das eine ausweichende Antwort ist. »Nicht haben können« war etwas anderes als »nicht haben wollen«. Er würde von ihr verlangen klarzumachen, dass sie seine Gefühle, die er ihr eingestanden hatte, nicht erwiderte. Und wenn ich ihm das sage, wird er meine Unsicherheit und meine Zweifel wahrnehmen.
Als sie die Idee erwog, verspürte sie eine verräterische Sehnsucht, aber sie war sich auch in diesem Fall nicht sicher, was deren Quelle war. Habe ich einfach das Verlangen nach Gesellschaft? Nach jemandem, zu dem ich nach Hause kommen kann? Oder wollte sie einfach körperliche Nähe?
So viel zu meiner Bemerkung Rothen gegenüber, ich wolle keinen Ehemann. Und doch … ich will auch keinen.
Gesellschaft und Verlangen waren nicht alles, was eine Beziehung dieser Art brauchte. Es musste auch Liebe im Spiel sein. Romantische Liebe. Und das ist der Punkt, an dem ich stolpere. Liebe ich Dorrien? Ich weiß es nicht. Gewiss würde ich es wissen, wenn ich ihn liebte …
Die andere Zutat, die sie für überaus wichtig hielt, war Respekt, und das machte ihr die größten Schwierigkeiten. Dorrien ist verheiratet. Wenn er Alina mit mir betröge, würde ich den Respekt vor ihm verlieren. Und vor mir selbst.
Wenn sie sich vorstellte, ihm das zu sagen, verspürte sie ein solches Widerstreben, die Dinge zu verderben, dass sie Zweifel an ihren eigenen Zweifeln bekam. Wie konnte sie sich nicht sicher sein, ob sie ihn liebte, während es ihr gleichzeitig so sehr widerstrebte, jedwede Möglichkeit von Liebe zwischen ihnen zu zerstören?
Wie sehr ich mir wünschte, ich könnte mit Rothen darüber sprechen. Er würde es missbilligen, das wusste sie. Gleichzeitig würde er – vielleicht indirekt – darauf hinweisen, dass es allein ihre Schuld sei, weil sie ihre Chance bei Dorrien ungenutzt gelassen hatte. Es würde ihn außerdem aus der Ruhe bringen, dass Dorrien und Alina nicht gut miteinander auskamen.
Ich wünschte, Dorrien würde mit seiner Frau einfach zurück in ihr Dorf gehen, dachte sie, aber sofort meldete sich ihr Gewissen. Zumindest wäre Alina dort glücklicher, konnte sie nicht umhin, im Geiste hinzuzufügen. Dorrien wäre es nach einer Weile ebenfalls. Das ist der Ort, von dem er immer fand, dass er dort hingehöre.
Er hatte sich jedoch bemerkenswert gut an das Leben in der Stadt gewöhnt. Vielleicht war er dem Leben auf dem Lande nicht so tief verbunden, wie er immer behauptet hatte. Dies war ein glücklicher Umstand, da sie seine Hilfe bei der Suche nach Skellin so dringend benötigte.
Aber brauche ich seine Hilfe wirklich? Cery erledigt nach wie vor den größten Teil der Arbeit. Zwei Magier konnten es niemals mit dem Netzwerk der Spione eines Diebes aufnehmen. Aber ich brauche trotzdem jemanden, der mir hilft, Skellin gefangen zu nehmen – umso mehr jetzt, da Lorandra entkommen ist. Ich darf nicht zulassen, dass irgendwelche Gefühle zwischen Dorrien und mir uns daran hindern, die wilden Magier zu fangen.
Indem sie nicht mit Dorrien redete, tat sie genau das.
Die Schatten waren jetzt so lang, dass das Sonnenlicht nur noch Soneas Schultern streifte. Seufzend stand sie auf und ging auf den Pfad zu, der neben der Universität verlief. Ich kann die ganze Angelegenheit ebenso gut hinter mich bringen. Sie erreichte den Pfad und ging auf die Vorderseite des Gebäudes zu. Wenn sie jetzt aufbrach, würden noch ein oder zwei Stunden bleiben, bevor ihre Schicht offiziell begann. Reichlich Zeit, diese Sache zu klären.
Das Warten auf die Kutsche und die Fahrt zum Hospital schienen länger zu dauern als gewöhnlich. Ihr Herz schlug ein wenig zu schnell, als sie durch den Flur des Hospitals zu dem Raum ging, in dem Dorrien arbeitete. Sie klopfte an die Tür und holte tief Luft, als sie geöffnet wurde.
»Schwarzmagierin Sonea«, erklang hinter ihr eine unerwartete Stimme. Sie erhaschte einen Blick auf Dorriens Gesicht – das gleichzeitig Hoffnung und Schuldbewusstsein widerspiegelte –, bevor sie sich zu dem Sprecher umdrehte. Es war ein junger Heiler – ein schüchterner Lonmar, der nach seinem Abschluss beschlossen hatte, ein wenig Erfahrung mit der Arbeit unter gewöhnlichen Menschen zu sammeln, bevor er in seine Heimat zurückkehrte.
»Ja?«
Der Mann verbeugte sich, reichte ihr einen zusammengefalteten und mit Wachs versiegelten Bogen Papier, errötete und eilte davon.
Sie brach das Siegel auf und las den Brief. Ein Schauer der Erwartung überlief sie, als sie Cerys Anweisungen studierte, ungeachtet der Tatsache, dass Nachrichten wie diese in der Vergangenheit zu Enttäuschungen geführt hatten. Sie wandte sich Dorrien zu, der sie nachdenklich musterte.
»Du bist für heute hier fertig, Dorrien«, sagte sie. »Aber du solltest besser Alina eine Entschuldigung schicken, weil du das Abendessen versäumen wirst. Wir müssen in der Stadt etwas erledigen.«
»Wartet hier.«
Obwohl er klein und dünn war, legte der Mann, den der Dieb namens Enka ausgeschickt hatte, damit er sie zu dem Treffpunkt führte, eine Kälte und Effizienz an den Tag, die ihn für Lilia beängstigender machten als Cerys massigen Leibwächter.
Er hat etwas an sich, das mich beunruhigt, ging es ihr durch den Kopf. Ich schätze, er würde alles tun, was sein Arbeitgeber ihm befiehlt, und es würde ihm nichts ausmachen. Überhaupt nichts.
Er führte sie, Anyi, Cery und Gol in ein halbzerstörtes, leeres Lagerhaus auf einem der weniger häufig benutzten Kais des Hafens. Anyi hatte ihr versichert, dass noch weitere von Cerys Leuten an der Sache beteiligt waren und in diskreter Entfernung folgten. Sie würden Plätze finden, von denen aus sie das Geschehen verfolgen konnten, Plätze, von denen sie schnell zu Hilfe eilen konnten, falls Cery mit einem Signal darum bat.
»Wo sollen wir uns postieren?«, fragte Anyi. Sie blickte auf. »Ein Jammer, dass wir nicht dort oben hinauf können.«
Lilia folgte dem Blick der jungen Frau. Das Grundgerüst des Lagerhauses – Außenmauer, Balken und Pfosten – war gut erkennbar, da die Zwischendecken und Wände, wo es welche gegeben hatte, inzwischen weitgehend fehlten. Und die starken Balken wirkten mehr als stabil genug, um das Gebäude noch für eine lange Zeit aufrechtzuerhalten. Am Ende des Baus hatte sich früher einmal ein Zwischengeschoss mit einer Reihe von Fenstern befunden, aber die Dielenbretter von dessen Boden waren verfault oder gestohlen worden. Sie konnte erkennen, warum Anyi der Platz an den Fenstern gefiel. Von dort aus würde man den Kai und das Hafenbecken überblicken können.
Der Mond schien durch die Fenster und machte es schwer, im Gegenlicht Einzelheiten der Fensterwand von innen zu erkennen. Als sie die Augen beschattete, sah Lilia, dass einer der großen Balken unterhalb der Fensteröffnungen an der Außenmauer entlanglief.
»Wenn wir hinaufkämen, könnten wir dann auf diesem Balken Halt finden?«, fragte Lilia.
Anyi trat neben sie, blickte noch einmal hinauf und zuckte die Achseln. »Ohne Weiteres.« Sie sah Cery und Gol an. »Was ist mit euch beiden?«
Cery erwiderte ihren Blick und lächelte. »Ich schätze, ich würde zurechtkommen. Gol?«
»Ich denke ja. Aber wie kommen wir dort hinauf?«
»Ganz einfach, mit Lilias Hilfe«, sagte Anyi. Lilia blickte zwischen Anyi und Gol hin und her und verbarg ein Lächeln. Dies war nicht das erste Mal, dass sie eine gewisse Rivalität zwischen den beiden wahrnahm. Sie folgte Anyi zu der Mauer mit den Fenstern im Zwischengeschoss. Die Frau drehte sich um und fasste Lilia an den Armen.
»Mach dein Ding, Lilia.«
Lilia schuf eine Scheibe aus Magie unter ihren Füßen und hob sie beide zu dem Balken empor. Anyi trat grinsend darauf, und Lilia schwebte wieder hinab.
Mit einem kaum merklichen Achselzucken ergriff Cery Lilias Arme. Sie ließ ihn mit sich zu dem Balken hinaufschweben, und als er sicher darauf stand und sich am Rahmen des nächstgelegenen Fensters festhielt, ließ sie sich wieder auf den Boden hinab.
Gol sah sie mit großen Augen an, dann schaute er zu Cery empor. Er trat einen Schritt zurück, die Hände in einer abwehrenden Geste.
»Ich werde nicht …«
»Komm hier rauf, Gol«, befahl Cery angespannt. Lilia blickte auf. Cery spähte durch eins der Fensterlöcher nach draußen.
Sie hörte, dass Gol wieder näher trat, und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf ihn. Er zögerte abermals. Dann hörte sie von draußen Schritte.
»Sofort«, zischte Cery.
Irgendjemand kam.
Lilia trat vor, packte Gol an den Armen und hoffte, dass er nicht vor Entrüstung oder Furcht aufschreien würde. Sie ließ sich mit ihm emporschweben. Er gab, das musste man ihm lassen, nur ein leises Aufjaulen der Überraschung von sich. Sie schwebte bis zu einer Stelle auf dem Balken, wo ein Pfosten ihm Halt geben würde, und er schlang sofort die Arme darum.
Sobald sie selbst auf dem Balken stand, dehnte sie die Scheibe aus, um einen Schild zu formen, der sie alle umschloss, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Schild unsichtbar zu machen.
Die Tür unter ihnen wurde geöffnet. Drei Männer traten ein.
»Still«, sagte einer von ihnen. »Die Angeln sind geölt worden.«
»Für das heutige Treffen oder für ein anderes?«
Niemand antwortete, und die drei schauten sich im Lagerhaus um. Einer sah sogar zu den Fenstern hinauf, schien sie aber nicht zu bemerken. Wahrscheinlich geblendet vom Mondlicht, so wie wir es waren.
Die Männer gingen. Lilia stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, und schob sich an eines der Fenster. Glas und Fensterkreuz hatten diese schon vor langer Zeit eingebüßt. Sie spähte vorsichtig an der Kante des Fensterlochs vorbei, und was sie draußen sah, ließ ihr Herz aussetzen.
Ein Fischerboot hatte am Kai festgemacht. Die drei Männer, die das Lagerhaus in Augenschein genommen hatten, gingen auf vier weitere Personen zu, die paarweise zusammenstanden. Einer davon war ein schlanker, alter Mann, den sie für Enka hielt, weil ihr Führer in das Lagerhaus, Enkas Leibwächter, sich dicht bei ihm hielt.
Das andere Paar bestand aus einem ziemlich fetten, gut gekleideten Mann und einer schlanken Frau, die im Mondschein noch schöner zu sein schien als bei Tageslicht. Lilia hatte das Gefühl, als beginne ihr das Herz im Leib zu glühen.
Naki! Endlich habe ich sie gefunden!
Weitere Männer hielten sich im Hintergrund. Lilia vermochte nicht zu erkennen, ob sie zu Nakis Dieb oder zu Enka gehörten.
Es spielt keine Rolle, dachte sie. Sie sind keine Magier. Sie können mich nicht aufhalten. Sie stieg mit einem Fuß auf das Fenstersims, dann hielt sie inne.
»Dein Einsatz«, wisperte eine Stimme neben ihr. Sie drehte sich um und sah, dass Anyi sich über den Balken ebenfalls an das Fensterloch geschoben hatte. »Cery sagt, du sollst daran denken, Enka und seinen Helfer zu beschützen.«
Lilia nickte dankbar, dann zog sie Magie in sich hinein und sandte sie aus, um Cerys Verbündete und Naki mit ihrem Schutz zu umgeben. Sie stieg ganz auf das Sims, zog den Kopf ein, um sich unter dem Fenstersturz hindurchzuducken, und trat auf die Scheibe, die sie direkt vor dem Fenster mit ihrer Magie schuf.
Die Menschen draußen bemerkten nicht, dass sie zu Boden schwebte, aber Naki schaute sich um – sie hatte den Schild um sie herum wahrgenommen, als er gegen ihren eigenen gestoßen war. Oh, gut, dachte Lilia. Sie kann sich selbst schützen. Sie ließ den Schild fallen. Irgendetwas an Nakis Schild beunruhigte sie jedoch. Halb verborgen hinter den drei Männern, die das Lagerhaus untersucht hatten, ging sie auf Naki zu.
»Hier ist ein weiterer Magier«, sagte Naki mit warnender Stimme.
Sofort schauten alle Übrigen sich um und entdeckten Lilia. Die drei Männer wichen angstvoll und unsicher zurück, als Lilia zwischen ihnen hindurchschritt.
»Naki«, sagte Lilia lächelnd. Ihre Freundin starrte sie überrascht an. »Es ist so schön, dich wiederzusehen. In was für Schwierigkeiten hast du dich diesmal gebracht?«
»Lilia.« Naki sprach den Namen zu Lilias Erleichterung nicht hasserfüllt oder anklagend aus. Aber es lag auch keine Zuneigung in ihrer Stimme. »Warum bist du hier?«
»Um dir zu helfen.«
Naki sandte einen Lichtblitz durch ihren Schild. »Wie du erkennen kannst, brauche ich deine Hilfe nicht.«
Lilia sah ihre Freundin an und begriff, was sie beunruhigt hatte. Sie hat recht. Sie braucht meine Hilfe nicht. Sie hat Magie. Irgendwie hat sie oder jemand anders ihre Blockade entfernt. Das ist es, was so seltsam an ihrem Schild war – sie sollte nicht in der Lage sein, einen heraufzubeschwören. Und dann traf sie die wahre Bedeutung hinter Nakis Worten mit voller Wucht.
Naki will nicht gerettet werden. Sie ist völlig zufrieden, für einen Dieb zu arbeiten. Tatsächlich ist sie wahrscheinlich mit Absicht verschwunden. Es sei denn …?
Dann ging Lilia ein Risiko ein. Sie benutzte ihre Gedankenstimme, so leise wie möglich und in der Hoffnung, dass niemand in der Gilde es hören würde.
Wirst du erpresst?
Naki lachte. »Nein, du begriffsstutzige Närrin. Genau das habe ich die ganze Zeit geplant: von der Gilde und ihren Regeln wegzukommen, von ihrem erstickenden Urteil, und die Freiheit zu haben, zu tun, was immer ich will.«
Ihr Blick war jetzt voller Hass. Eine vertraute Woge von Schuldgefühlen schlug über Lilia zusammen, aber sie widerstand dem Drang wegzuschauen. Ich habe ihren Vater nicht getötet, sagte sie sich. Sie hat keinen Grund, mich zu hassen. Aber die Ungewissheit blieb. Naki wollte offensichtlich nicht gerettet werden. Was tue ich jetzt?
Naki brach das Gesetz. Und sie wusste es. Sie darauf hinzuweisen würde sie nicht dazu bringen, in die Gilde zurückzukehren. Wenn sie jedoch erfuhr, worauf Skellin aus war, würde sie es vielleicht tun. Sie würde den Schutz der Gilde brauchen. Es sei denn … Was, wenn Naki mit Freuden einen Dieb als Arbeitgeber gegen einen anderen einzutauschen bereit war? Lilia begriff, dass sie es auf eine andere Weise versuchen musste. Eine, die Nakis Wesen entsprach.
»Bist du wahrhaft frei?«, fragte Lilia. Sie sah den fetten Dieb vielsagend an.
Naki lächelte. Offenkundig hatte sie diesen Einwand erwartet. »So frei ich sein will. Freier, als ich es in der Gilde wäre.«
»Aber für wie lange?«, hakte Lilia nach. »Es sind Leute hinter dir her. Nicht die Gilde. Mächtige wilde Magier.«
»Wunderbar.« Naki zuckte die Achseln. »Wir werden zusammen etwas trinken und uns Geschichten erzählen.«
»Sie sind nicht auf Gespräche aus«, erklärte Lilia, verärgert über Nakis Weigerung, diese Gefahr zu erkennen. »Sie werden dich zwingen, ihnen zu sagen, was in dem Buch stand, und dann werden sie dich töten.«
Naki runzelte die Stirn. »Das Buch?« Vom Lagerhaus gellte ein durchdringender Pfiff, und Naki schaute in diese Richtung, bevor sie sich wieder an Lilia wandte. »Oh, du meinst schwarze Magie? Wirklich, denkst du, ich würde sie das lehren?«
Etwas begann gegen den Schild zu dreschen, den Lilia um Cerys Verbündete gelegt hatte. Sie schaute zur Seite und sah, dass der mit Cery befreundete Dieb und sein Helfer sich zu befreien versuchten. Dann bemerkte sie, dass der fette Dieb sich mit seinen Männern zu dem Fischerboot zurückzog. In der Hoffnung, dass niemand mehr übrig war, um Cerys Verbündeten etwas anzutun, ließ sie den Schild um sie sinken.
Naki kam auf sie zu. Die Schatten ließen ihr Lächeln wie ein wahnsinniges Grinsen aussehen.
»Weißt du«, sie neigte den Kopf zur Seite, und ihre Miene wurde nachdenklich, »wenn der Preis stimmte, könnte mich das vielleicht in Versuchung führen, mit den wilden Magiern zusammenzuarbeiten.«
Naki befand sich nur noch wenige Schritte entfernt. Ihr Blick war raubtierhaft und gefährlich. Lilia wich unwillkürlich zurück. Und stärkte den Schild, der sie selbst umgab.
»Das würdest du nicht tun.«
»Oh, natürlich nicht. Es wäre nicht klug, nicht wahr? Ich würde mir potenzielle Feinde schaffen, die genauso mächtig wären wie ich.«
»Genauso mächtig wie …« Lilia hörte auf zurückzuweichen. »Du hast doch in dieser Nacht schwarze Magie erlernt!«
»Nein.« Nakis schöner Mund verzog sich zu einem hässlichen, selbstzufriedenen Lächeln. »Das habe ich mir beigebracht, bevor wir beide uns überhaupt kennengelernt haben.«
Sie spreizte die Finger, und ein magischer Schlag krachte gegen Lilias Schild. Dies war kein vorsichtiger Übungsangriff im Kriegskunstunterricht. Es war ein Schlag, der Lilia zurückzwang, bevor sie verzweifelt mehr Macht in sich hineinzog, als sie jemals zuvor benötigt hatte, um ihren Schild aufrechtzuerhalten.
Ich sollte zurückschlagen. Die Erinnerung an ihre Lektionen trat an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Ein Schild erforderte mehr Magie als ein Schlag. Wenn zwei Kämpfer gleich stark waren, würde derjenige, der sich mehr auf seinen Schild konzentrierte, als erster scheitern.
Aber es ist Naki. Was ist, wenn ich sie verletze? Was ist, wenn ich sie töte?
Naki hatte offensichtlich nicht die gleichen Zweifel. Ihre Worte hallten in Lilias Kopf wider. Das habe ich mir beigebracht, bevor wir beide uns überhaupt kennengelernt haben. Das bedeutete, dass Naki gewusst hatte, dass die Anweisungen in dem Buch funktionieren würden. Sie hatte gewusst, dass sie Lilias Leben zerstörte. Lilia spürte, wie sie vor dem Gedanken zurückschreckte. Warum sollte Naki das tun? Um das Verbrechen mit einem anderen zu teilen? Was bedeutete, dass Lilia in der Nacht der Ermordung Lord Leidens nicht die einzige Person im Haus gewesen war, die sich auf schwarze Magie verstand.
Aber gewiss würde sie doch nicht ihren eigenen Vater töten …
Wer hätte es sonst gewesen sein können? Plötzlich musste Lilia es mit Bestimmtheit wissen – und die einzige Möglichkeit, wie sie das tun konnte, bestand darin, dass sie Nakis Gefangennahme sicherstellte, damit Schwarzmagierin Sonea ihre Gedanken lesen konnte. Oder ich. Ich könnte ihre Gedanken lesen. Und die beste Chance, die sie hatte, um das zu tun, war ein Gegenangriff.
Vorsichtig. Sie würde die Wahrheit niemals erfahren, wenn Naki starb.
Also schleuderte sie Naki Magie entgegen. Zuerst waren ihre Schläge schwach im Vergleich zu Nakis Angriffen, und das andere Mädchen lachte, aber Lilia gewöhnte sich schnell daran, mehr Macht zu benutzen. Nakis Schläge waren achtlos, was Lilia mit einem Anflug von Furcht erfüllte.
Ist sie vielleicht stärker geworden, wenn sie die schwarze Magie schon so lange beherrscht? Ich habe kein einziges Mal schwarze Magie benutzt. Ich bin nur so stark, wie ich es aus mir selbst heraus bin, und ich habe eine Menge Kraft auf das Schweben verwendet.
Bei diesem Gedanken schlug eine Welle der Panik über Lilia zusammen. Sie schob die Regung beiseite, so gut sie konnte. Obwohl sie zitterte, gelang es ihr, ihre Schläge akkurat und ihren Schild ruhig zu halten. Ein Teil von ihr war erheitert zu sehen, dass Naki sich, obwohl Kriegskunst ihre beste Disziplin gewesen war, nicht die Mühe machte, etwas Trickreiches oder Raffiniertes zu tun, aber ihre Erheiterung löste sich in Luft auf, als sie begriff, dass Naki es deshalb nicht tat, weil sie es nicht nötig hatte. Sie wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Als Lilia das nächste Mal nach Macht griff, musste sie feststellen, dass ihre Reserven erschöpft waren. Sie schnappte vor Entsetzen und Ungläubigkeit nach Luft, als ihr Schild zusammenbrach, und wappnete sich gegen den Schlag, der sie töten würde. Naki heulte triumphierend auf, aber der Schlag kam nicht. Zu Lilias ungeheurer Erleichterung hörte das Mädchen auf, sie anzugreifen, und kam auf sie zu.
»Du hast keine Magie genommen, nicht wahr?«, fragte Naki und griff nach Lilias Arm. Sie schüttelte den Kopf. »Du warst die ganze Zeit frei und hast kein einziges Mal Macht genommen. Du warst schon immer dumm und leichtgläubig.« Mit einem Stoß drehte sie Lilia um und drückte ihr den Arm hinter den Rücken. Schmerz durchzuckte Lilias Arm und Schulter.
»Wenn du so klug bist, warum arbeitest du dann für einen Dieb?«, erwiderte Lilia. »Warum arbeitet er nicht für dich?«
Naki lachte leise. »Oh, ich lerne gerade erst die Grundlagen des Gewerbes.«
Sie bewegte sich, und etwas Kaltes, Scharfes berührte Lilias Hals. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie sich das Mondlicht auf der Schneide eines Messers fing. Ein kalter Schauer überlief sie, als sie begriff, was Naki vorhatte, gefolgt von einem tiefen, reißenden Schmerz in der Brust. Sie wird mich doch töten. Die ganze Zeit habe ich gehofft, dass sie sich in einen ihrer verrückten Pläne verstrickt hat. Dass sie leichtsinnig ist und mich nicht wirklich verletzen will. Aber sie liebt mich nicht. Sie hat es vermutlich nie getan.
Sie hat recht. Ich bin dumm …
Dann riss Naki Lilia zurück und ließ sie los. Lilia hörte ein Krachen, als sie, aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte und auf den Rücken fiel.
Irgendwo in der Nähe fluchte jemand leise. Rufe erklangen, dann das Geräusch von Menschen, die rannten. Als Lilia sich umschaute, sah sie Anyi, Gol und Cery herbeieilen. Aus einer anderen Richtung kam eine Magierin, deren schwarze Roben hinter ihr herflatterten.
Sonea?
Die Schwarzmagierin eilte an Lilia vorbei, ohne sie zu beachten. Lilia drehte sich um und sah, dass Sonea sich neben Naki auf die Knie geworfen hatte; Naki lag auf dem Kai, und Sonea hielt den Kopf des Mädchens umfangen, der in einem ungewöhnlichen Winkel vom Körper abstand.
Vor ihren Augen bewegte sich der Kopf langsam wieder zurück in eine natürliche Position, und die Farbe kehrte in Nakis Züge zurück. Das Mädchen stöhnte und öffnete die Augen. Als sie zu Sonea aufschaute, stöhnte sie abermals.
»Ja. Ich.« Der erleichterte Ausdruck in Soneas Zügen verschwand, und an seine Stelle trat Grimm. Sie stand auf. »Ihr werdet es mir vermutlich nicht danken, dass ich Euch das Leben gerettet habe.«
Naki richtete sich auf und rieb sich den Hals. »Warum sollte ich? Ihr hättet mich beinahe getötet.«
Sonea sah sie an, als wolle sie mehr sagen, besann sich aber eines anderen. Sie griff Naki am Arm und zog sie auf die Füße, bevor sie sich Lilia zuwandte. »Cery versichert mir, dass Ihr jetzt freiwillig in die Gilde zurückkehren werdet.«
Lilia folgte ihrem Blick und sah, dass Cery, Anyi und Gol direkt hinter ihr standen, zusammen mit zwei in grüne Roben gekleideten Magiern, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ja«, erwiderte Lilia. »Jetzt, da ich sie gefunden habe.«
Anyi streckte die Hand aus und half Lilia auf die Füße. »Irgendetwas gebrochen?«, murmelte sie.
»Nur mein Stolz.«
»Und dein Herz, denke ich.«
Lilia starrte Anyi an, die sie mit einem wissenden Blick bedachte, bevor sie zurücktrat. »Nun wirst du wohl in die Gilde zurückkehren. Komm ab und zu mal vorbei. Du wirst immer willkommen sein.«
Lilia zuckte die Achseln. »Ich denke nicht, dass ich viel Gelegenheit bekommen werde, irgendjemanden zu besuchen.«
Anyis Lächeln verblasste. »Nun denn … in dem Fall werden wir einfach bei dir vorbeikommen müssen.«
Sonea blickte nachdenklich zwischen Anyi und Lilia hin und her, bevor sie sich an Cery wandte. »Wir beide müssten mal ein Wort miteinander reden.«
Er lächelte. »Jederzeit gern. Aber jetzt würde ich lieber warten, bis du nicht mehr alle Hände voll zu tun hast, und die Gilde wird bestimmt erpicht darauf sein, dieses Früchtchen hier wieder in die Finger zu bekommen.« Er deutete mit dem Kopf auf Naki.
Sie nickte. »Das ist gewiss richtig. Gut, dann bis bald.«
Er nickte und trat mit einer höflichen Geste zurück. »Gute Nacht.«
Als die Schwarzmagierin sich zum Gehen wandte, tätschelte Anyi Lilias Schulter. »Sie sollen dich besser gut behandeln, oder ich werde persönlich kommen, um dich rauszuholen.«
»Ich werde schon zurechtkommen«, erwiderte Lilia, aber sie war sich keineswegs sicher, ob dem wirklich so war.
Als sie sich Sonea, Naki und den anderen Magiern anschloss, machten Cery, Gol und Anyi sich auf den Weg zurück in das Lagerhaus. Plötzlich kam Lilia ein Gedanke. Sie hatte das Trio ja dort oben zurückgelassen. »Wie seid ihr von dem Balken heruntergekommen?«, rief sie ihnen nach.
Anyi blieb stehen, drehte sich um und grinste. »Ich mit weniger Mühe und Flüchen als die anderen.«
Dann verschwand sie in der Dunkelheit, und Lilia fragte sich, ob sie ihre Retterin jemals wiedersehen würde.
Die Gegend außerhalb des Sanktuariums hatte sich seit Lorkins Ankunft dort so sehr verändert, dass es fast schien, das Tal sei auf unerklärliche Weise in eine völlig andere Umgebung versetzt worden. Alles war schneebedeckt. Der Schnee sammelte sich in hohen Wechten und klebte an den felsigen Hängen. Eiszapfen hingen von jedem Vorsprung und jedem vom Wind verkrümmten Baum.
Als sie die Stadt verlassen hatten, hatte Tyvara ihm eine Augenbinde umgelegt und ihn durch einen langen Flur aus einem weiteren geheimen Eingang ins Freie geführt. Sobald sie draußen waren, hatten sie sich an die Täler gehalten und den trügerischen Schnee auf den Bergen gemieden, der wahrscheinlich dem Druck eines Fußes nicht standgehalten hätte. Auch ihr Transportmittel war ein anderes. Jeder von ihnen hatte ein glattes Brett, das vorn gebogen war, während auf dem hinteren Teil Vorräte festgezurrt waren. Darauf hügelabwärts zu gleiten war berauschend und eindeutig besser, als die Schlitten durch den Schnee bergauf hinter sich herzuziehen.
Drei Tage waren sie so gereist und langsam, aber stetig vorangekommen. In jeder Nacht rollten sie die Matratzen aus, die Teil der Reiseausrüstung einer Verräterin waren, und schliefen unter den Sternen, wobei sie sich mit Magie warm hielten. Von Zeit zu Zeit redeten sie miteinander, wenn das Schlittenfahren oder die Anstrengung, durch den Schnee zu stapfen, sie nicht daran hinderte, aber bei Nacht waren sie beide zu erschöpft für Gespräche.
Am dritten Tag waren sie noch nicht lange unterwegs, als der Himmel sich verdunkelte und ein immer heftigerer Wind sie zu beuteln begann. Die Schneeflocken verdichteten sich bald zu einem wirbelnden Vorhang, der ihre Sicht auf einige wenige Schritte beschränkte. Tyvara führte ihn auf einen schmalen Pfad, der an einer Felswand entlang hinabging. Sie mussten die Schlitten tragen, was den Abstieg noch gefährlicher machte. Er fragte sich, warum Tyvara nicht stehen blieb und ein geschütztes Plätzchen suchte, wo sie den Sturm abwarten konnten, aber bevor er diesen Vorschlag machen konnte, waren sie am Eingang zu einer Höhle angelangt.
Ohne zu zögern, traten sie in die Dunkelheit und den Schutz der Höhle. Tyvara hielt kurz inne, um eine Lichtkugel zu schaffen, in deren Schein sie Einzelheiten erkennen konnten. Die Höhle war langgestreckt, fast tunnelartig, und eine ihrer Wände bestand aus Eis. Dies ist wahrscheinlich ein Überhang, dachte Lorkin, während er Tyvara folgte. Sie ging auf einen flachen Bereich der Höhle zu und stellte dort ihren Schlitten ab. Er ließ seinen neben ihren fallen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Wir können hierbleiben, bis das Wetter besser wird«, sagte sie.
Lorkin nickte zustimmend. Während Tyvara die Schlafmatratzen auf dem Boden ausrollte, hob sich seine Stimmung langsam. Zumindest konnten sie jetzt ein wenig Zeit miteinander verbringen, in der sie nicht entweder erschöpft waren oder damit beschäftigt, ihre nächste Reiseetappe zu bewältigen. Und es würde den Moment hinauszögern, in dem sie sich trennen mussten.
Er setzte sich auf seine Matratze und machte sich daran, ein wenig Wasser zu erhitzen und Raka zu kochen. Sie lächelte, als er ihr einen dampfenden Becher reichte.
»Dies ist der Beginn eines größeren Tals, das sich bis in das sachakanische Flachland hinab erstreckt«, erklärte sie. »Du wirst mühelos hinuntergelangen, auf die Straße.«
»Dann wirst du mich also nur bis hierher begleiten?«
Sie sah ihn mit undeutbarer Miene an. »Ja.«
Was dann?, fragte er sich. Werden wir einander jemals wiedersehen? Wird sie mich überhaupt vermissen? Eine Mischung von Gefühlen stieg in seiner Kehle auf: Sehnsucht, Zweifel, Bedauern, sogar Verbitterung. Er wollte ihr das alles irgendwie übermitteln, aber dann erinnerte er sich daran, was Chari über Tyvara gesagt hatte. Sie wollte nicht belastet werden. Wenn er sie an sich zu binden versuchte, würde er sie damit nur vertreiben.
»Ich …«, begann sie. Er wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie runzelte die Stirn und verfiel in Schweigen.
»Ja?«, fragte er. Jemanden nicht an sich zu binden ist eine Sache, aber ihn mit geheimnisvollen, unvollendeten Sätzen davonkommen zu lassen, eine ganz andere.
Tyvara schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass dies geschehen würde. Ich wollte mich nicht an dich binden, weil ich wusste, wenn ich es täte, würde dich irgendetwas mir wegnehmen.«
Plötzlich konnte er nicht mehr aufhören zu lächeln. Sie blickte auf und runzelte die Stirn.
»Was ist daran so komisch?«
»Ich liebe dich auch«, sagte er.
Sie starrte ihn an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihren Zügen aus. »Ich mache das nicht besonders gut, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Grauenhaft.«
»Nun … so ist es eben. Was für ein Paar wir abgeben. Nur dass wir kein Paar sind, da du nach Hause gehst und ich … nun, ich gehe ebenfalls nach Hause.«
»Wenn es dir hilft, werde ich versprechen zurückzukommen.«
Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Mund. »Gib keine Versprechungen.«
Er machte einen Laut des Protestes und ergriff ihre Hand. »Keine Versprechungen? Ich würde zumindest gern wissen, ob du dich zu jemand anderem ins Bett legst, während ich fort bin.«
Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Trotz all unserer Bemühungen, die Rollen, die Männer in anderen Gesellschaften spielen, zu übernehmen, ist es uns Verräterinnen nicht gelungen, uns alle abscheulichen Angewohnheiten der Männer anzueignen. Obwohl ich zugebe, dass es gewiss einige Frauen gibt, die erpicht zu sein scheinen, jeden Mann im Sanktuarium in ihr Bett zu holen«, fügte sie mit einer Grimasse hinzu.
Er sah sie an. »Das ist kein Versprechen.«
»Das ist alles, was du bekommen wirst«, entgegnete sie.
Er zuckte die Achseln und nippte an seinem Raka. Nun, es ist nicht so, als hätte ich sie gebeten, mich zu heiraten. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie das hier funktioniert. Frauen wählen ihre Männer aus, also nehme ich an, dass sie mich fragen müsste.
»Du solltest Macht von mir nehmen, bevor du gehst«, sagte sie leise.
Überrascht sah er sie an. »Ich soll schwarze Magie benutzen?«
»Natürlich. Da es nicht in der Öffentlichkeit geschieht, ist es dir nicht aufgefallen, aber die Nichtmagier unter den Verräterinnen spenden den Magiern regelmäßig Macht. Vor unserem Aufbruch blieb keine Zeit, das für dich zu arrangieren. Ich habe jede Menge zusätzlicher Macht, und ich kann sie, wenn ich zurückkehre, leicht genug ersetzen. Du solltest dich nicht nach Sachaka hineinwagen, ohne zuerst deinen Vorrat an Macht zu vergrößern. Den Ashaki könnte ein kyralischer Magier, der ohne Roben durch ihr Land wandert, verdächtig vorkommen. Sie könnten dich erkennen und, da sie wissen, wo du gewesen bist, wie einen Verräter behandeln. Der Stein, der deinen Geist abschirmt, wird sie daran hindern, durch Gedankenlesen etwas über uns in Erfahrung zu bringen, aber es wird sie nicht daran hindern, diese Informationen auf andere Weise aus dir herauszuholen. Wenn du jetzt zusätzlich etwas Macht von mir nimmst, wirst du sie damit nicht lange aufhalten können, aber es wird möglicherweise reichen, damit du das Weite suchen kannst, wenn sie nicht damit rechnen.«
Ein Schauer überlief Lorkin. Er wandte den Blick ab und hoffte, dass sie ihm seine Furcht nicht ansah.
»Ist das erlaubt?«, fragte er.
»Natürlich ist es erlaubt. Tatsächlich hat die Königin es vorgeschlagen. Sie hat auch vorgeschlagen, dass ich dich den Liebestod lehre.«
Er drehte sich um und starrte sie an, dann schoss ihm die Wärme ins Gesicht. »Mit … dir?«
Sie lächelte. »Wer ist denn sonst noch hier?«
»Aber …« Sie wollte offensichtlich nicht, dass er sie tötete, und er hoffte gewiss, dass die Königin nicht beabsichtigte, dass Tyvara ihn tötete.
Tyvara lächelte. »Keine Sorge«, sagte sie. »Der Name ist nicht gerade reizvoll, aber es ist nicht nur nützlich, um Leute zu töten oder sie bis zur Erschöpfung zu leeren. Für die meisten Paare oder Liebenden ist es einfach die vergnüglichste Methode, Macht zu geben oder zu empfangen.« Bei den Worten »vergnüglichste Methode« hatte sie die Brauen hochgezogen, und jetzt sah sie ihn kokett an, ihre Augen dunkel und einladend.
Sein Herz begann zu rasen. Er glaubte zu wissen, was sie vorschlug. Aber er konnte sich irren …
»Also. Willst du, dass ich es dich lehre?«
Er nickte.
»Es erfordert eine gewisse Selbstbeherrschung des Mannes, um eine Frau zu dem Punkt zu bringen, an dem er Macht von ihr nehmen kann. Denkst du, du schaffst das?«
Er lächelte und nickte abermals.
»Nun, dann lass uns mit der Lektion beginnen.«
Für die nächste Zeit – und wen scherte es, wie lange es war? – lernte er mehr als eine exotische Art von Magie kennen. Wie befohlen stimmte er sich auf ein vollkommen neues Bewusstsein der Macht in seinem Körper ein und auf das Gefühl dafür, wo diese Macht ihre berührte. Als er spürte, wie ihre natürliche Barriere ins Wanken geriet … es war auf allen möglichen Ebenen faszinierend, und er vergaß beinahe zu versuchen, Macht von ihr zu nehmen.
Und dann spürte er, wie das Nehmen von Macht den Augenblick für sie in die Länge zog, und er begriff, warum Evar seine fast vollständige Entleerung nicht allzu sehr bekümmert hatte. Plötzlich freute er sich wirklich darauf zu lernen, wie es war, Macht zu geben. Er hörte auf, von ihr zu nehmen, der Überlegung folgend, dass er nicht wusste, wie viel Macht er sich gefahrlos einverleiben konnte.
»Vertraust du mir?«, fragte sie, als sie wieder sprechen konnte.
Er nickte hastig. Sie lachte und lehrte ihn dann, warum Geben noch besser war als Nehmen.
Trotz der harten, schmalen Betten, Tayends Schnarchen und des ständigen, lästigen Gefühls von Staub in Nase und Lunge schlief Dannyl tief und fest. Als er erwachte, fiel Sonnenlicht durch die halb geschlossene Lasche des Zelts. Er erhob sich und trat ins Freie. Eine Decke lag ausgebreitet vor dem Zelt, und er schüttelte den Staub davon ab, bevor er sich hinsetzte, um das Treiben im Lager zu beobachten.
Nicht lange danach spähte eine Frau um das Zelt, sah ihn, lächelte und verschwand. Kurz darauf kehrte sie mit einem gewebten Beutel voller Speisen und einer Schale Wasser zurück. Das Essen war die gleiche Art von Kost, die der Führer ihnen angeboten hatte – Früchte und getrocknetes Fleisch aus dem Canyon unter ihnen. Hier oben kann eigentlich nicht viel wachsen, und obwohl ich einige Haustiere bemerkt habe, habe ich noch keine Pflanzen gesehen, die sie fressen könnten.
Er grübelte verwundert darüber nach, wie die Duna aus dem Lager sich selbst und ihre Tiere wohl ernährten, bis zwei weitere Bewohner des Zeltes zum Vorschein kamen. Tayend und Achati blinzelten in der Morgensonne, dann setzten sie sich zu Dannyl auf die Decke. Achati hatte zuvor noch ihren Führer geweckt.
Der Mann kam murrend heraus, machte aber schnell ein fröhlicheres Gesicht, als er den Beutel mit Essen sah. Er ging durch die Zelte davon, dann kam er mit einem Päckchen voller Essgeschirr zurück. Als Becher und eine Tüte Raka-Pulver auftauchten, nahm Dannyl sie in Empfang und begann das Getränk vorzubereiten, indem er zuerst mit Magie das Wasser erhitzte und es dann in die Becher über einige Löffel voll Raka schüttete.
Sie aßen. Sie warteten. Die Sonne stieg höher, und sie mussten sich in das Zelt zurückziehen, um der Hitze zu entfliehen. Im Zelt war es ebenso stickig wie heiß, aber zumindest verbrannte ihre Haut nicht.
Kurz nachdem die Sonne ihren Zenit überschritten hatte, trat der Stammesälteste, der am vergangenen Abend für die Gruppe gesprochen hatte, ins Zelt.
»Wenn wir als eine Stimme sprechen, sind wir namenlos«, sagte er. »Aber jetzt spreche ich als eine Stimme. Ich heiße Yem.« Er berührte mit einer knochigen Hand kurz seine Brust, dann wurde seine Miene ernst. »Wir haben geredet, bis die Sonne zurückkam, dann haben wir eine Entscheidung getroffen. Wir haben unsere Entscheidungen der Prüfung von Schlaf und einem zweiten Gespräch unterzogen. Sie sind unverändert geblieben. Wir werden unsere Antworten nur einem Mann geben.« Er wandte sich an Dannyl. »Botschafter Magier Dannyl.«
Dannyl sah Achati an, der die Achseln zuckte. Ich nehme an, das kann keine Überraschung für ihn sein. Die Duna haben kaum einen Grund, ihm zu vertrauen. Aber andererseits haben sie auch keinen Grund, mir zu vertrauen. Tayend hatte den Mund geöffnet, als wolle er protestieren, sagte jedoch nichts. Yems Blick wanderte zu ihm hinüber.
»Habt Ihr ebenfalls Fragen?«
Tayend schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nur neugierig auf die Antworten.«
»Es wird Botschafter Magier Dannyls Entscheidung sein, ob Ihr sie hören dürft«, erklärte Yem.
Dannyl griff nach seinem Notizbuch und stand auf. »Es ist mir eine Ehre, dass Ihr mich erwählt habt, um von Euch und Eurem Volk zu hören.«
Yem lächelte, dann winkte er ihn heran und trat aus dem Zelt. Als Dannyl sich kurz umdrehte, sah er, dass Achati ermutigend lächelte; Tayend wirkte bereits gelangweilt. Er wandte sich ab und folgte Yem durch die Zelte.
»Wir haben eine Hüterin der Legende gefunden, die bereit ist, mit Euch zu sprechen«, erklärte Yem. »Schwört Ihr, nicht nach ihrem Namen zu forschen oder anderen von ihr zu erzählen?«
»Ich schwöre, dass ich nicht nach ihrer Identität forschen oder sie enthüllen werde«, erwiderte Dannyl.
Sie umrundeten ein weiteres Zelt und befanden sich plötzlich draußen in der grauen Wüste. Vor sich sah Dannyl einen Unterschlupf, der aus Pfosten bestand, über die eine große Stoffbahn gespannt war. Deren Ecken waren an kurze Pflöcke im Boden gebunden. Die Erde unter seinen Füßen war hart und staubig. Ist es eigentlich eine Wüste, wenn überhaupt kein Sand vorhanden ist?, fragte sich Dannyl.
Die Sonne brannte unbarmherzig. Dannyl spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildete, und er wischte ihn mit dem Handrücken ab.
Yem lachte leise. »Es ist heiß.«
»Ja«, stimmte Dannyl zu. »Und doch haben wir Winter.«
Der alte Mann zeigte nach Westen. »Weit entfernt in dieser Richtung sind die Vulkane mit Schnee bedeckt. Es ist hoch und kalt.«
»Ich wünschte, ich könnte das sehen.«
Yem zog die Schultern hoch. »Wenn die Vulkane erwachen, schmilzt der Schnee. Dann haben wir Überschwemmungen. Sehr gefährlich. Aber nicht so gefährlich wie die Fluten aus geschmolzenem Stein.« Er sah Dannyl an. »Wir nennen die Fluten ›Vulkantränen‹, und die roten Flüsse sind ›Vulkanblut‹.«
»Und die Asche?«
»Der Vulkan niest.«
Dannyl lächelte erheitert. »Er niest?«
Yem lachte – ein schnelles Bellen, das Dannyl an Unh erinnerte. »Nein. Ich lüge. Wir haben viele Namen für Asche. Es gibt viele Arten von Asche. Heiße Asche und kalte Asche. Neue Asche und alte Asche. Asche, die trocken herabfällt, und Asche, die nass herabfällt. Asche, die den Himmel erfüllt. Wir haben für jede Art einen Duna-Namen. Vor mehr als fünfzig Wintern ist einer der Vulkane explodiert, und der Himmel war viele Monate lang voller Asche.«
»Das muss der Vulkanausbruch gewesen sein, der die langen Winter in Kyralia verursacht hat.«
»Die Reichweite dieses Vulkanausbruchs war so groß?« Yem nickte vor sich hin. »Es ist ein mächtiger Vulkan.«
Dannyl erwiderte nichts, da sie den Unterstand erreicht hatten. Als er in dessen Schatten trat, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Dieselben alten Männer, mit denen er am vergangenen Abend gesprochen hatte, saßen im Kreis auf einer Decke, aber es waren noch zwei Männer und eine Frau hinzugekommen. Yem bedeutete Dannyl, sich in einer Lücke zwischen zwei Männern niederzulassen. Er selbst ging um den Kreis herum, um sich auf der gegenüberliegenden Seite auf einen freien Platz zu setzen.
Yem schaute jeden der Männer einzeln an, dann wandte er sich an die Frau.
»Sprich, Hüterin. Gib Botschafter Magier Dannyl deine Antworten.«
Die Frau hatte Dannyl angestarrt, ihr Blick scharf und forschend. Obwohl ihre Miene undeutbar war, hatte ihr Verhalten etwas Ängstliches und Missbilligendes.
»Ihr wünscht zu erfahren, was Steine tun können?«, fragte sie.
Er nickte. »Ja.«
»Sie tun, was immer Magier tun können«, erklärte sie ihm. »Sie verwandeln Magie in Hitze. Sie können wie ein Damm sein oder wie ein Schild. Sie machen Licht. Sie können etwas festhalten.« Ihr Blick konzentrierte sich auf einen fernen Punkt, und ihre Stimme nahm den Tonfall einer Lehrerin an, die eine vertraute Lektion herunterspulte. »Zwei Arten von Steinen können geschaffen werden. Einen kann man eine Aufgabe lehren, aber die Magie muss von seinem Besitzer kommen. Einen kann man eine Aufgabe lehren, und er trägt die Magie für die Aufgabe in sich. Beide können so geschaffen werden, dass man sie ein einziges Mal oder viele Male benutzen kann, aber der Vorrat muss wieder aufgefüllt werden, wenn er geleert ist.« Sie blinzelte und sah ihn an. »Versteht Ihr?«
»Ich denke, ja«, erwiderte er. »Wenn also ein Stein einen Vorrat an Magie enthalten kann, ist es ein Lagerstein?«
Sie reckte das Kinn vor. »Nicht ein solcher Stein wie der, von dem Ihr gestern Abend gesprochen habt. Ein vorsichtiger Steinemacher macht einen Stein so, dass er gerade genug enthält. Die meisten Steine können nur eine gewisse Menge aufnehmen, sonst zerbrechen sie. Um das Zerbrechen zu verhindern, werden sie so geschaffen, dass sie nur gerade genug enthalten.« Sie legte die Hände zusammen. »Der Stein, von dem Ihr gesprochen habt, hatte keine Grenze.« Sie breitete die Arme aus und spreizte die Finger. »Steine, die nicht zerbrechen, sind selten. Wir wissen nicht, wie wir erkennen können, ob sie es nicht tun werden. Und selbst wenn sie es nicht tun, sind sie trotzdem gefährlich. Je mehr Magie sich in dem Stein befindet, desto gefährlicher ist es – geradeso, wie es gefährlich ist, wenn ein Magier zu viel Macht nimmt und in sich festhält. Es ist leicht, die Kontrolle zu verlieren.«
Dannyl richtete sich interessiert auf. »Ihr sagt, dass ein Schwarzmagier – ein Magier, der sich auf höhere Magie versteht – so viel Macht nehmen kann, dass seine Kontrolle darüber ins Wanken gerät?«
Sie hielt inne und ließ sich offensichtlich Zeit, um die weniger vertrauten Worte, die er benutzt hatte, zu übersetzen. Dann nickte sie. »Vor sehr, sehr langer Zeit lebten viele Völker dort, wo jetzt die Duna und die Sachakaner sind. Sie hatten Städte in den Bergen, in denen die Steine gemacht wurden, und lagen ständig im Krieg miteinander. Wer immer die meisten Steine hatte, war der Stärkste. Eine Königin verlor ihre Steinhöhlen und trachtete danach, selbst zu einem Stein zu werden. Sie nahm immer mehr und mehr Magie von ihren Untertanen. Aber sie verlor die Kontrolle über diese Macht und verbrannte, und da wurde der erste Vulkan geboren. Er färbte ihr Volk in der Farbe von Asche.« Sie nahm eine Hautfalte ihres Arms zwischen Daumen und Zeigefinger und lächelte. »Lagersteine sind wie Magier. Es ist besser, nur wenig Macht zu haben und sie dann zu benutzen und wieder aufzufüllen.«
Ich frage mich, wie viel Macht ein Schwarzmagier haben muss, um die Kontrolle zu verlieren, überlegte Dannyl. Offensichtlich mehr als das, was Sonea und Akkarin genommen haben, um Imardin zu verteidigen. Hm, ich sollte Sonea besser darüber in Kenntnis setzen. Wir wollen schließlich nicht, dass Imardin sich in einen Vulkan verwandelt.
»Habt keine Furcht«, sagte die Frau, die seinen besorgten Gesichtsausdruck falsch deutete. »Niemand macht heute noch Lagersteine. Sie haben aufgehört, es zu versuchen, weil es zu gefährlich war, und dann haben sie vergessen, wie man es macht.«
Er nickte. »Das ist gut zu wissen.« Ein neuer Gedanke kam ihm, und er runzelte die Stirn. »Wenn man einen Stein alles lehren kann, wozu ein Magier imstande ist, kann man ihn dann auch schwarze Magie lehren? Das, was die Sachakaner höhere Magie nennen? Können Steine von einer Person Magie nehmen?«
Sie lächelte. »Ja und nein. Ein Stein kann dazu geschaffen werden, Magie aufzunehmen, aber er würde nur funktionieren, wenn die Haut der Person, die ihn berührt, aufgeschnitten würde, oder man den Betreffenden dazu überlisten oder zwingen würde, ihn zu verschlucken. Der Stein wird nur so viel Magie aufnehmen, wie aufzunehmen er geschaffen wurde, oder er würde zerbrechen. Er würde sehr viel Magie aufnehmen müssen, um einen Magier zu töten.«
Dannyl schauderte bei dem Gedanken, einen mit schwarzer Magie getränkten Stein im Magen zu haben, der ihm das Leben aussaugte. Aber vielleicht würde der Stein nicht in der Lage sein, genug Macht von ihm zu nehmen, um ihn zu töten, und er würde ihn bald auf natürliche Weise ausscheiden. Trotzdem, es würde eine Person schwächen und eine Menge Schaden in ihrem Inneren anrichten, wenn der Stein zerbräche.
»Was geschieht, wenn ein Stein bricht?«, fragte er.
»Er kann in viele Stücke zerbrechen«, sagte sie und hielt die Finger beider Hände hoch. »Oder er könnte Risse bekommen. Wenn Magie darin gelagert ist, kann sie auf viele Arten freigesetzt werden. Vielleicht so, wie es dem Zweck des Steins entspricht, vielleicht ungeformt, vielleicht auf eine andere Weise geformt.«
Dannyl nickte. Also hat man entweder ein warmes Leuchten in sich oder wird in Fetzen geschnitten und verbrannt. Hübsch. Mir scheint, dass diese Steine uns viel mehr Möglichkeiten geben, Schaden anzurichten, als Gutes zu tun.
»Wie viel wissen die Verräterinnen über die Herstellung von Steinen?«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Alles, was wir wissen, und noch mehr. Sie haben früher mit uns gehandelt, aber unser Vertrauen missbraucht, indem sie uns unsere Geheimnisse genommen haben.«
Dannyl nickte mitfühlend. Es entsprach der Wahrheit. Er dachte darüber nach, was er als Nächstes fragen sollte. Er wollte wissen, wie einfach oder zeitaufwendig die Herstellung der Steine war, aber er vermutete, dass er damit zu sehr in die Einzelheiten gehen würde. Wenn die Herstellung der Steine schwierig war, könnte dieses Wissen gegen die Duna benutzt werden. Nein, wenn er irgendwelche neuen Fragen stellen wollte, sollte er die Gelegenheit nutzen, um nach etwas zu suchen, mit dem er sein Buch ergänzen konnte.
»Was glauben die Duna, wie das Ödland geschaffen wurde?«
»Wir wissen nur das, was Ihr uns erzählt habt«, sagte sie achselzuckend. »Vorher wussten wir nur, dass die Gilde es geschaffen hat.«
Was sonst konnten ihm diese Leute über die Geschichte der Magie erzählen? Er würde gern mehr über ihre Ursprünge erfahren. Vielleicht konnten sie ihm auch etwas über die alten Völker erzählen, die in den Bergen gelebt hatten. Vielleicht über das, das einst die Ruinen von Armje in Elyne bewohnt hatte.
»Ich würde gern mehr über das Volk erfahren, von dem Ihr gesprochen habt, das Volk, das vor langer Zeit in den Bergen lebte.«
»Was wir wissen, sind nur Geschichten«, warnte sie ihn.
»Trotzdem, sie sind alles, was wir aus diesen Zeiten haben, und Geschichten, die so lange überdauern, sind im Allgemeinen gute Geschichten.«
Sie lächelte. »Also schön.« Dann sah sie Yem an. »Aber es gibt sehr viele Geschichten. Vielleicht werde ich sie Euch ein andermal erzählen.«
»Nachdem dieses Treffen beendet ist«, pflichtete Yem ihr bei. Er sah Dannyl abschätzend an. »Es gibt noch mehr, was wir Euch zu erzählen wünschen«, fuhr er fort. »Andere Dinge als die Antworten auf Eure Fragen.«
Dannyl schaute die alten Männer an, die ihn jetzt alle aufmerksam beobachteten. »Ja?«
»Ihr wisst, dass die Verräterinnen uns unsere Geheimnisse gestohlen haben. Heute wissen sie mehr, als wir jemals gewusst haben. Wir sind in der Lage, Steine zu machen, die einen Magier daran hindern, Gedanken zu lesen. Sie haben Steine, die diesen Magier dazu bringen können, Gedanken zu sehen, die er erwartet.«
Dannyls Herz setzte einen Schlag aus. Auf diese Weise vermeiden Spione also eine Entdeckung und halten ihre wahre Heimat geheim! Dann durchströmte ihn ein Gefühl der Kälte. Wenn Achati dies erführe … er würde es seinem König erzählen und dann vielleicht noch anderen Ashaki. Sie würden ihre Sklaven nach Steinen durchsuchen und sie ihnen abnehmen. Sie würden Tausende von Sklaven töten – nachdem sie ihre Gedanken gelesen hatten. Das Bollwerk der Verräterinnen würde gefunden und vernichtet werden – und Lorkin mit ihm.
Was bedeutete, dass er es Achati nicht erzählen konnte. Selbst wenn Lorkin in Sicherheit gewesen wäre, hätte Dannyl nicht die Verantwortung für den Tod so vieler Menschen tragen können. Eine derart wichtige Entscheidung steht ohnehin nicht mir zu. Eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Erleichterung überkam ihn. Es muss der Gilde überlassen bleiben, und sie würde sich wahrscheinlich den Wünschen des kyralischen Königs unterwerfen, wenn nicht den Wünschen aller Regenten der Verbündeten Länder.
Wenn den Männern und der Hüterin der Legende Dannyls Überraschung und Erschrecken aufgefallen waren, so machten sie keine Bemerkung darüber.
»Vor einem halben Mondzyklus kamen die Verräterinnen in unsere Steinhöhlen und zerbrachen alle Steine«, fuhr Yem fort. Dannyl schaute auf, begegnete dem Blick des alten Mannes und begriff, was das für die Duna bedeuten musste. »Wir fürchten, dass sie planen, einen Krieg zu führen. Vielleicht gegen Duna. Vielleicht gegen die Ashaki.«
»Warum sollten sie Eure Steine zerbrechen, wenn sie einen Bürgerkrieg mit den Ashaki beginnen wollen?«
»Um sicherzustellen, dass keine magischen Steine gegen sie benutzt werden können.«
»Wenn sie in Duna einfielen, würden die Ashaki etwas dagegen unternehmen.«
Yem nickte. »Ein Kampf mit Duna ist ein Kampf mit den Ashaki, ob wir es wünschen oder nicht.«
Dannyl bedachte diese Neuigkeiten. Gewiss würden die Verräterinnen sich nicht die Mühe machen, in Duna einzumarschieren, bevor sie die Ashaki angriffen. Aber vielleicht gab es einen strategischen Grund dafür, das zu tun … Er würde darüber nachdenken müssen. Die Motive der Duna waren jedoch klar.
»Habt Ihr mir von den Steinen erzählt, die verhindern, dass man die Gedanken ihres Besitzers lesen kann, damit ich den sachakanischen König warne?«, fragte er.
»Nein«, sagte Yem entschieden. »Wir suchen Freundschaft mit Kyralia und den Verbündeten Ländern.«
Dannyl schaute überrascht in die Runde. Alle Anwesenden erwiderten erwartungsvoll seinen Blick.
Yem nickte. »Wir haben lange darüber debattiert. Die Ashaki haben gelernt, dass ein Einmarsch in Duna einen hohen Preis hat. Die Verräterinnen wissen das nicht. Aber die Ashaki sind grausamer als die Verräterinnen. Wir wissen, wen wir als Nachbarn bevorzugen, aber sie wollen uns nicht.« Er lächelte grimmig. »Falls Kyralia und Elyne zustimmen, können wir einander vielleicht helfen.«
Dannyl sah den alten Mann an, der seinen Blick fest erwiderte, während er über all die Dinge nachdachte, die ihm angeboten und ausgesprochen worden waren. Ein Bündnis. Mit einem Volk, das über Kenntnisse in der Herstellung von Steinen verfügt. Er lächelte.
»Es wäre mir eine Ehre, ein solches Bündnis auszuhandeln«, erklärte er. »Und es würde mir große Freude machen, wenn ich eine solche Freundschaft zwischen unseren Völkern schmieden könnte.«
Das Lächeln, mit dem der alte Mann ihm antwortete, war breit und zeigte seine Zahnlücken.
Und während sie besprachen, wie ihre Völker einander helfen könnten, stellte Dannyl fest, dass eine Reise, die ausschließlich Forschungszwecken hatte dienen sollen, sich plötzlich um alles drehte, was seine Aufgaben als Botschafter umfasste.
Keiner der Magier im Büro des Administrators gab einen Laut von sich, als Lilia zu sprechen aufhörte. Sie sah sich schnell um. Einige von ihnen starrten sie an, andere wirkten distanziert und nachdenklich.
Jetzt, nachdem sie alles berichtet hatte, was sich zugetragen hatte, seit sie zum ersten Mal mit der Frau im Ausguck gesprochen hatte, fühlte sie sich vollkommen erschöpft. Ihre Müdigkeit kam nicht von magischer Erschöpfung, da ihre Kräfte sich nach dem Kampf mit Naki zum größten Teil erholt hatten. Sie war auch nicht körperlicher Natur, da sie Heilung benutzt hatte, um gegen die aus Schlafmangel resultierende Müdigkeit zu kämpfen. Sie fühlte sich ausgelaugt von all der Hoffnung, der Furcht, der Kränkung, den Schuldgefühlen, der Wut, der Erleichterung und der Dankbarkeit, die sich im Laufe des vergangenen Tages ihrer bemächtigt hatten.
Jetzt schwankte ihre Stimmung zwischen Ergebenheit und einem dumpfen Sichabfinden. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr egal war, was die Gilde tun würde, um sie dafür zu bestrafen, dass sie aus dem Ausguck geflohen und eine wilde Magierin geworden war, oder ob sie sich einfach nicht dazu überwinden konnte, darüber nachzudenken. Sie war der Geheimnisse müde und dankbar, dass sie sich ihrer entledigen konnte.
Sie hatte wohl daran gedacht, die Tatsache zu verbergen, dass sie die Blockade ihrer Magie erfolgreich gebrochen hatte, aber sie vermutete, dass Sonea früh genug zur Stelle gewesen war, um sie mit Naki kämpfen zu sehen. Was das für ihre Zukunft bedeutete, konnte sie nicht erahnen. Sie konnten sie und Naki einsperren, aber es würde nicht einfach sein, sie festzuhalten.
Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Nakis Verrat zurück.
»Das habe ich mir beigebracht, bevor wir beide uns überhaupt kennengelernt haben.«
Warum hatte Naki ihre Freundschaft gesucht? Entsprachen die Gerüchte, nach denen sie andere Frauen mochte, überhaupt der Wahrheit, oder waren ihre Küsse Teil der Täuschung gewesen? Warum hatte sie Lilia ermutigt – vielleicht sogar überlistet –, schwarze Magie zu erlernen? Hatte sie ihren Vater durch ein Versehen getötet und es so arrangiert, dass man Lilia dafür verantwortlich machen würde?
Das ergab keinen Sinn. Zum einen hatte Lord Leiden noch gelebt, als Lilia ihn das letzte Mal gesehen hatte, und danach war sie jeden Moment mit Naki zusammen gewesen bis nach ihrem Versuch, schwarze Magie zu erlernen.
Dann muss sie geplant haben, ihn zu töten und mir die Schuld an dem Vorhaben zuzuschieben.
Aber gewiss musste Naki gewusst haben, dass es keinen Beweis für Lilias Schuld geben würde, wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, Lord Leiden getötet zu haben. Vielleicht hatte sie gehofft, dass das andere Indiz – das Blut an Lilias Händen – ausreichen würde, um zu ihrer Verurteilung zu führen.
Wie ist dieses Blut überhaupt an meine Hände gekommen?
»Wie kann es so viele Unterschiede zwischen Lilias Geschichte und dem geben, was Schwarzmagierin Sonea nach Lord Leidens Tod in Nakis Gedanken gelesen hat?«, sprach Lady Vinara die Frage aus, die Lilia die ganze Zeit über zu schaffen gemacht hatte.
»Ich kann nur drei Möglichkeiten erkennen, und keine ist wahrscheinlich«, erwiderte Administrator Osen. »Entweder war Schwarzmagierin Sonea nicht erfolgreich, als sie Nakis Gedanken gelesen hat, oder Naki ist in der Lage, eine Gedankenlesung zu vereiteln, oder Lilia ist dazu in der Lage.«
»Dann schlage ich vor, dass Schwarzmagier Kallen jetzt die Gedanken der beiden jungen Frauen liest«, sagte der Hohe Lord Balkan.
Osen blickte sich im Raum um. Alle Magier nickten, Sonea eingeschlossen. Lilia unterdrückte einen Seufzer und wappnete sich gegen einen weiteren Geist, der in den ihren eindringen würde.
Was immer nötig ist, dachte sie. Ich werde jede Strafe akzeptieren, die ich verdiene, solange ich nicht für etwas bestraft werde, das ich nicht getan habe. Mehr wollte sie nicht, jetzt, da sie Naki nicht länger liebte. Ich dachte zwar schon, ich würde mir das nur selber einreden, aber ich glaube, ich liebe sie wahrhaftig nicht mehr. Es ist schwierig, jemanden zu lieben, der versucht hat, einen zu töten. Die Liebe ist doch nicht so bedingungslos, wie es die Lieddichter immer behaupten.
»Lasst Naki herholen«, sagte Osen. Dann nickte er Kallen zu. »Ihr habt meine Erlaubnis, Lilias Gedanken zu lesen.«
Schwarzmagier Kallen trat von der Wand weg, an der er gestanden hatte, und ging um die Stühle herum zu Lilia, die vor Osens Schreibtisch stand. Er musterte sie nachdenklich, dann legte er beide Hände an ihren Kopf. Sie schloss die Augen.
Diesmal war die Erfahrung auf kaum merkliche Weise anders als beim letzten Mal. Seine Suche war langsamer, obwohl das daran liegen mochte, dass er sorgfältiger zu Werke ging, da er ja wusste, dass Soneas Lesung nichts über ihre Schuld zutage gefördert hatte. Kallen betrachtete all ihre Erinnerungen, aber sie spürte nichts von ihm, und er sprach sie nicht ein einziges Mal an. Der einzige Hinweis auf eine Reaktion war der Umstand, dass er ihre früheren Gefühle für Naki ziemlich schnell überging, sobald er auf sie traf.
Sie begriff erst, dass es vorüber war, als der Druck seiner Hände auf ihre Schläfen nachließ. Sie öffnete die Augen und blickte zu Kallen auf. Er sah sie stirnrunzelnd an.
»Ich sehe nichts, was sie uns nicht erzählt hat«, stellte er fest. »Keine Täuschung. Alles, was sie gesagt hat, hält sie für die Wahrheit.«
Kallen trat beiseite. Sie sah, dass die Höheren Magier sich umgedreht hatten, um auf die gegenüberliegende Seite des Raums zu schauen, und als sie bemerkte, was sie beobachteten, krampfte ihr Herz sich zusammen.
Gleichzeitig überkam sie eine merkwürdige Panik, und die unangenehm lebhafte Erinnerung an das Gefühl der kalten Klinge an ihrem Hals beherrschte ihr Denken.
»Bringt sie her«, befahl Osen.
Nakis Gesicht war bleich und mürrisch. Als einer der beiden Magier, die links und rechts von ihr gestanden hatten, sie energisch an ihren Platz schob, runzelte sie finster die Stirn. Ihr Blick flackerte zu Lilia herüber und wurde höhnisch, und ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen.
Sie ist nicht länger schön, durchzuckte es Lilia. Etwas hat sie verändert. Etwas hat sich in ihr verändert. Schockiert und von einem Gefühl der Übelkeit befallen bewegte sie sich so weit von Naki fort, wie sie das tun konnte, ohne den Ring der Magier zu verlassen.
Kallen legte Naki die Hände an die Schläfen und starrte sie eine Zeitlang an. Alle beobachteten sie schweigend. Naki hielt die Augen offen und schaute auf einen Punkt irgendwo hinter Kallens Brust. Ihre Miene war ausdruckslos, obwohl eine kleine Falte der Konzentration zwischen ihre Brauen trat.
Nach einer unerträglich langen Zeit ließ Kallen sie los. Er machte einen Schritt zurück und schaute Naki stirnrunzelnd an, offensichtlich nicht glücklich, bevor er sich umdrehte.
»Sie hat vor Lord Leidens Tod schwarze Magie mithilfe von Experimenten erlernt, aber ihr war nicht klar, dass sie Erfolg hatte. Anderenfalls hätte sie Lilia nicht ermutigt, es auszuprobieren. Ein Dieb hat von ihr gehört und sie erpresst, damit sie für ihn arbeitete. Er hat ihr auch befohlen, Lilia zu töten.«
»Wie hat sie die Blockade ihrer Magie entfernt?«, fragte Sonea.
»Sie denkt«, sagte Kallen und drehte sich zu ihr um, »dass die Blockade erst gar nicht richtig funktioniert hat, dass sie nicht anständig eingerichtet worden ist.«
Sonea zog die Augenbrauen hoch, erwiderte jedoch nichts darauf.
»Ich denke, diese beiden jungen Frauen sollten am besten in ihre derzeitigen Zellen zurückgebracht werden«, stellte Osen fest. »Dann werden wir diese Angelegenheit ausführlich erörtern.«
Naki wurde als Erste hinausgeführt, und Lilia war erleichtert, als sie fort war. Da Sonea Lilia zu dem Treffen gebracht hatte, wurden andere Magier herbeigerufen, um Lilia wegzubringen, damit Sonea bleiben konnte.
Es dauerte nicht lange, da ging Lilia den Flur der Universität hinunter, wobei sie die beiden Magier, die sie bewachten, kaum beachtete, während sie über die Tatsache nachgrübelte, dass weder Sonea noch Kallen in Nakis Gedanken hatten schauen können.
Und wenn sie es selbst mit schwarzer Magie nicht konnten, sollte ich mich dann wirklich so schlecht fühlen, weil ich es auch nicht konnte?
Lorkin schreckte jäh aus dem Schlaf hoch und stellte fest, dass sein Bein zwischen den beiden Schlafmatten hindurchgerutscht und in Berührung mit dem eisigen Stein darunter gekommen war. Er rollte sich wieder auf die Matte und starrte zum Dach der Höhle empor. Licht drang durch die Wand aus Eis und tauchte alles in einen kühlen blauen Schimmer. Als er genauer hinschaute, konnte er erkennen, wo die Wärme von Tyvaras Schild die kühle Luft von außen so weit erwärmte, dass sie dampfte.
Tyvara …
Er drehte sich zu ihr um; sie lag halb unter der Decke. Die Decke war nicht notwendig, da die Luft innerhalb des Schildes ja warm war, aber er musste zugeben, dass sie einen Eindruck von Schutz vermittelte, den er zu schätzen gelernt hatte, während die Sturmwinde draußen pfiffen und heulten. Sein Verstand konnte die Überzeugung nicht abschütteln, dass es kalt war und daher unvernünftig, seine Haut entblößt zu lassen.
Sein Körper wusste Tyvaras Mangel an Bekleidung jedoch zu schätzen. Er sehnte sich danach, sie zu berühren, doch er widerstand der Versuchung. Je früher sie aufwachte, umso früher würden sie sich trennen müssen. Also lag er da, betrachtete sie und hoffte, dass dieses Bild ihm für alle Zeit im Gedächtnis haften bleiben würde.
Ich werde zurückkommen, sagte er sich. Wenn mein Vater einen solchen Grund gehabt hätte, wäre er gewiss ebenfalls zurückgekehrt.
Seit seinem letzten Gespräch mit der Königin hatte er sich gefragt, ob irgendetwas zwischen ihr und seinem Vater gewesen war, und war zu dem Schluss gekommen, dass es unwahrscheinlich war. Sie waren sich nur kurz begegnet, und es musste ein beträchtlicher Altersunterschied zwischen ihnen bestanden haben. Vielleicht hatten sie durch den Blutring ein gewisses Band entwickelt, aber wenn es so war, hörte es sich an, als habe der tragische Tod der Tochter der Königin dieses Band zerrissen.
Er betrachtete den Blutring. Er war nutzlos, jetzt, da sein Schöpfer tot war. Trotzdem hatte die Königin ihn nicht weggeworfen. Vielleicht hatte er die Vereinbarung symbolisiert, die sie mit Akkarin getroffen hatte. Was war ihre Seite ihrer Vereinbarung gewesen? Was hatte sie nicht zu tun vermocht und hoffte sie jetzt zu erreichen, indem sie Lorkin nach Hause schickte?
Vielleicht ein Bündnis zwischen unseren Ländern. Dazu hätte sie ihr Volk davon überzeugen müssen, dass es eine gute Idee war. Keine einfache Aufgabe, aber sie war damals jünger und hatte vielleicht nicht begriffen, wie schwer es sein würde.
Tyvaras Lider öffneten sich flatternd, und ein schwaches Gefühl der Mutlosigkeit stieg in ihm auf, aber als sie sich umdrehte und ihn anlächelte, verschwand das Gefühl wieder. Sie rollte sich herum, und sie küssten sich eine Weile. Als er dachte, dass dies vielleicht zu mehr führen würde, löste sie sich von ihm und stand auf. Die Decke fiel herunter. Tyvara musterte die Wand aus Eis und seufzte.
»Wir haben länger geschlafen, als wir es hätten tun sollen«, sagte sie, bevor sie begann, sich anzuziehen. »Ich hätte nach Hause gehen sollen, sobald sich der Sturm gelegt hatte. Zu dieser Jahreszeit weiß man nie, wie viel Zeit einem bis zum nächsten Sturm bleibt.«
Ein Stich der Sorge um sie durchzuckte Lorkin, eine Sorge, die er auch dann nicht zur Gänze abschütteln konnte, als er sich ins Gedächtnis rief, dass sie eine mächtige Magierin war und durchaus imstande, Stürme zu überleben. Er stand auf und begann sich anzukleiden. »Bist du häufig im Winter unterwegs?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wenn ich es vermeiden kann.«
Er sah sie streng an. »Nun, ich bin froh, ein Weilchen länger mit dir zusammen sein zu können, aber wenn es bedeutet, dass du vielleicht nicht sicher nach Hause kommen wirst, dann fürchte ich, muss ich darauf bestehen, dass du auf der Stelle aufbrichst.«
Sie lachte, doch dann verblasste ihr Lächeln schnell. Sie trat dicht vor ihn und küsste ihn entschlossen. »Gib du ebenfalls auf dich Acht. Du bist noch nicht ganz aus den Bergen heraus.«
»Das mache ich«, versprach er. »In Kyralia gibt es übrigens ebenfalls Schnee und Berge.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Berge, die du nie besucht hast – außer auf dem Weg nach Sachaka zu einer Jahreszeit, als es dort keinen Schnee gab.«
»Verflixt. Das hätte ich dir nicht erzählen sollen.«
Sie schüttelte den Kopf und ging zu den Schlitten hinüber. »Soll ich dir noch einmal den Weg beschreiben, wie du zurück nach Arvice kommst?«, fragte sie, während sie die Schlafmatten und das Geschirr von der Mahlzeit des vergangenen Abends wegpackte.
»Ich fahre mit dem Schlitten ins Tal hinunter zu der Hütte des Jägers. Den Schlitten lasse ich dort zurück und gehe zur Straße. Sklaven werden mich erwarten, um mich zum nächsten Landgut zu bringen, und von dort aus meine Weiterreise arrangieren.«
»Das ist richtig. Wenn du sie aus irgendeinem Grund verfehlst, ist es das Gut mit vier großen Bäumen zu beiden Seiten der Zufahrtsstraße. Du solltest eigentlich auf keinen Ashaki treffen; sie reisen zu dieser Zeit des Jahres gewöhnlich kaum. Solltest du doch einem Ashaki begegnen, sag ihm, wer du bist, und bitte darum, dass man dich zum Gildehaus zurückbringt. Sie werden aus politischen Gründen verpflichtet sein, dir zu helfen.«
Obwohl sie zuversichtlich klang, stand in ihren Augen ein besorgter Ausdruck. Was ist das Schlimmste, was geschehen könnte?, fragte er sich. Die Ashaki könnten politische Verpflichtungen in den Wind schlagen, zu dem Schluss kommen, dass ich jetzt ein Verräter sei und nicht mehr geschützt durch irgendwelche diplomatischen Regeln, und versuchen, mich zu töten. Aber das würden sie wahrscheinlich nicht tun, ohne zuvor meine Gedanken zu lesen. Er rieb sich den Daumen, wo unter dem Muskel der Stein lag, der eine Gedankenlesung blockieren würde. Es juckte noch immer ein wenig, obwohl er die Schnittwunde geheilt hatte. Tyvara hatte die Position dafür empfohlen, da neue Steine oft etwas juckten und ein Sklave, der sich wunde Hände rieb, nichts Ungewöhnliches war.
Er hatte nicht viel Zeit gehabt, um zu lernen, wie man einem Gedankenleser gefälschte Gedanken zuspielte. Selbst mit Tyvaras Magie bezweifle ich, dass ich den Angriff eines Ashaki lange abwehren könnte. Wenn der Ashaki dann spürt, dass seine Gedankenlesung scheitert, könnte er versuchen, mich zu foltern, um die Informationen aus mir herauszuholen. Ich weiß nicht, ob ich dem trotzen könnte oder wie lange ich standhalten würde. Besser ist es auf jeden Fall, ungesehen zum Gildehaus zu kommen und mich unter Botschafter Dannyls Schutz zu stellen.
»Ich werde tun, was ich kann, um außer Sicht zu bleiben«, versicherte er ihr. »Und diesmal versucht nicht die Hälfte der Spione der Verräterinnen, uns zu finden und auszuliefern.«
Sie nickte. »Trotzdem, sei vorsichtig damit, wem du vertraust. Kalias Fraktion mag geschwächt sein, aber es gibt immer noch Verräterinnen, die dich für das hassen, was dein Vater getan hat. Sie werden nichts unternehmen, was das Sanktuarium in Gefahr bringen könnte, aber sie könnten dir das Leben unangenehm machen.«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe in einem Loch in der Erde geschlafen. Mit ein wenig Unbehagen werde ich schon fertig.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe nachgedacht … Ist es klug, dass Kalia die Einzige ist, die weiß, wie man mit Magie heilt?«
Tyvara hob die Augenbrauen. »Ich bin mir sicher, dass der Königin lieber wäre, sie wäre nicht die Einzige, aber in diesem Punkt haben wir keine Wahl.«
»Nun … du könntest eine Wahl haben … wenn ich dich heilende Magie lehre, bevor du gehst.«
Ihre Augen weiteten sich ein wenig, dann lächelte sie und schüttelte den Kopf. »Nein, Lorkin. Dafür haben wir keine Zeit.«
»Wir könnten noch eine Nacht hierbleiben.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »So reizvoll das klingt, ich muss trotzdem jetzt gehen. Es gibt andere Gründe, warum ich schnell zurück sein muss. Die Tatsache, dass Kalia diesen einen kleinen Vorteil uns gegenüber hat, ist das Einzige, was ihre Gruppe glücklich macht.«
»Niemand muss es erfahren.«
Sie kicherte. »Zarala hat gesagt, dass du das vielleicht anbieten würdest.«
»Wirklich?« Er fühlte sich seltsam gekränkt. War er denn so berechenbar?
»Ja. Sie hat mir aufgetragen, das Angebot abzulehnen.« Dann hob sie die Zugseile der Schlitten hoch und reichte eins davon Lorkin. »Lass uns aufbrechen.«
Sie gingen zum Eingang der Höhle und traten hinaus in eine Landschaft, die bedeckt war von frischem, makellosem Schnee. Helles Morgenlicht färbte alles blendend weiß. Die Wände des Tals waren steil und nah, wurden jedoch breiter, wo sie nach Osten führten. Er konnte die Linie des Pfades ausmachen, den sie genommen hatten, um in das Tal hinabzusteigen, und einen weiteren schmalen Pfad, der zu dem Talboden und einem gefrorenen Fluss hinunterführte.
Sie wandten sich einander zu. Sie sahen einander an. Keiner von ihnen sprach.
Dann ließ ein fernes Rumoren sie beide zum Himmel aufblicken. Sie waren zu tief im Tal, um das kommende Wetter zu sehen. Tyvara fluchte leise.
»Ich werde zuerst aufbrechen, damit ich keinen Schnee auf dich hinabwerfe«, sagte sie. »Versuch, die Hütte des Jägers vor dem nächsten Sturm zu erreichen.«
Er nickte. Sie ging davon und schob mit Magie Schnee von ihrem Pfad. Er schaute ihr nach und hatte das Gefühl, dass jeder Schritt, den sie machte, ein unsichtbares Band zwischen ihnen in die Länge zog. Sie drehte sich nicht noch einmal um, und er konnte sich nicht entscheiden, ob er enttäuscht oder erleichtert war.
Als sie endlich das obere Ende der steilen Wand erreicht hatte, blieb sie stehen. Sie blickte zu ihm herunter und hob einen Arm, um ihm zuzuwinken. Es war weniger eine Geste des Abschieds als eine Geste der Ungeduld. Seine Fantasie beschwor ihre Stimme und ihre Miene herauf. »Worauf wartest du? Setz dich in Bewegung!« Er lachte leise und machte sich auf den Weg ins Tal, wobei er den Schnee mit Magie vor sich herschob. Unten angekommen blickte er nach oben.
Sie war fort. Er verspürte eine seltsame Leere.
Dann wurde sein Blick auf die Wand aus Eis gelenkt, die eine Seite der Höhle bedeckte, in der sie den letzten Tag und die letzte Nacht verbracht hatten, und er schnappte nach Luft. Er sah einen gefrorenen Vorhang aus Wasser vor sich.
Ein Wasserfall, dachte er. Er ist wunderschön.
Er wünschte, Tyvara wäre bei ihm gewesen, um es ebenfalls zu sehen. Aber andererseits war sie wahrscheinlich schon früher über diesen Weg gereist und hatte den Wasserfall bereits gesehen. Trotzdem, es wäre schön gewesen, einen solchen Anblick mit ihr teilen zu können.
Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, sich zu wünschen, die Dinge stünden anders, und er musste alle romantischen Vorstellungen beiseiteschieben und sich darauf konzentrieren, nach Kyralia zurückzukommen. Vor ihm lagen raue und gefährliche Zeiten und, wenn alles gutging, wichtige Treffen und Verhandlungen.
Er drehte sich um und zog seinen Schlitten in die Richtung, die nach Hause führen würde.
Der Weg den Pfad hinunter ins Tal schien viel gefährlicher zu sein als der Weg nach oben.
Achati war noch schweigsamer und schmallippiger als zuvor. Tayend war untypisch still. Niemand wollte sich im Sattel umdrehen, um jemand anderen anzusehen, aus Angst, die Bewegung könnte die Pferde aus dem Gleichgewicht bringen und zu nahe an den Abgrund führen.
Dies gab Dannyl viele Stunden Zeit, um darüber nachzudenken, was er von den Duna erfahren hatte.
Es war schon spät gewesen, als er sich in der vergangenen Nacht wieder zu Achati und Tayend gesellt hatte, nachdem er viele Stunden damit verbracht hatte, zuzuhören und die Legenden und Geschichten der Hüterin niederzuschreiben. Er erzählte ihnen, was er über Lagersteine erfahren hatte, und teilte seine Erleichterung mit ihnen, dass ihre Herstellung so schwierig und gefährlich war und dass Steine, die solche Macht in sich bergen konnten, sehr selten vorkamen.
Er erwähnte nicht, dass die Verräterinnen Steine hatten, die eine Gedankenlesung blockieren und einem Gedankenleser die Dinge präsentieren konnten, die er vielleicht erwarten würde. Der Umstand, dass er eine solche Information vor Achati verborgen hielt, bescherte ihm Gewissensbisse, aber er wusste, dass er sich viel schlimmer fühlen würde, wenn er sie weitergab und Tausende von Sklaven und Rebellen deswegen niedergemetzelt wurden. Obwohl Dannyl es den Verräterinnen verübelte, dass sie Lorkin fortgeholt hatten, hatten sie den jungen Mann nicht getötet und verdienten es gewiss nicht, gejagt und ermordet zu werden.
Es gab auch jede Menge strategischer Gründe, das Wissen zu verbergen. Wenn die Ashaki den Verräterinnen das Wissen über die Herstellung magischer Steine stahlen, würde Kyralias ehemaliger Feind noch stärker werden und noch weniger geneigt sein, seine Gepflogenheiten zu ändern, um den Verbündeten Ländern beizutreten. Die Duna hatten ihm die Informationen in der Hoffnung anvertraut, dass sie freundschaftliche Bande zu den Verbündeten Ländern würden knüpfen können. Vielleicht würden sie als Gegenleistung für irgendetwas die Kenntnis der Herstellung von Steinen eintauschen.
Was könnten wir ihnen dafür anbieten?, überlegte er. Schutz? Wie könnten die Verbündeten Länder den Duna jemals helfen, solange die Ashaki sich zwischen Duna und Kyralia befinden und nur zwei Gildemagier schwarze Magie benutzen dürfen?
Überhaupt nicht. Kyralia besaß keine Höhlen voller Steine, soweit er wusste, daher würden die Kenntnisse des Steinemachens für die Gilde gleichermaßen nutzlos sein. Aber es könnte Höhlen in Elyne oder in anderen der Verbündeten Länder geben. Die Höhle der höchsten Strafe könnte ein solcher Ort sein. Doch was das betraf, hatte er seine Zweifel. Die Höhle hatte zu symmetrisch ausgesehen, um natürlichen Ursprungs zu sein. Er vermutete, dass sie erbaut oder aus dem Fels gehauen worden war und dass irgendjemand die Kristalle später an den Wänden befestigt hatte.
Die Duna wussten, dass die Verbündeten Länder ihnen keinen ausreichenden Schutz bieten konnten. Sie wollten Handel. Sie würden die Gilde mit magischen Steinen versorgen – sobald ihre eigenen Höhlen sich von dem Angriff der Verräterinnen erholt hatten. Es war Sache der Gilde, etwas zu finden, das die Duna im Austausch für die Steine würden haben wollen.
Die Hüterin hatte ihm erzählt, dass die Verräterinnen immer darauf hingearbeitet hätten, magische Steine, die die Ashaki den Duna gestohlen hatten, zu vernichten oder ihrerseits zu stehlen, und die Duna gewarnt hätten, sie würden versuchen, jeden Handel der Wüstenbewohner mit Kyralia zu verhindern. Die Duna erlaubten ihrem eigenen Volk normalerweise nicht, magische Steine aus ihren geheimen Verstecken zu holen. Es würde ein Weg gefunden werden müssen, die Steine außer Landes zu bringen, ohne den Verdacht der Verräterinnen oder Sachakas zu erregen.
Solche Vorsichtsmaßnahmen sowohl auf Seiten der Duna als auch auf Seiten der Verräterinnen erklärten, warum die Ashaki praktisch vergessen hatten, dass solche Steine existierten.
Es würde mich nicht überraschen, wenn einige auf ihren Anwesen einen geheimen Schatz versteckt hätten. Vielleicht geben sie das Wissen, wie man sie benutzt, an ihre Erben weiter, vielleicht haben sie vergessen, dass sie etwas Größeres in ihrem Besitz haben als nur hübschen Schmuck.
Wenn die Gilde vergessen konnte, dass sie jemals schwarze Magie benutzt hatte, war es schließlich auch möglich, dass die Ashaki vergessen hatten, dass sie den Duna jemals magische Edelsteine gestohlen hatten.
Dannyl hoffte, dass es so war, denn anderenfalls könnte es schwierig werden, die Steine von Duna nach Kyralia zu schaffen, ohne dass die Ashaki es bemerkten. Es musste nur eine einzige Schiffsladung entdeckt werden, um ihn in eine diplomatisch peinliche und gefährliche Situation zu bringen. Achatis Ärger würde dann die geringste von Dannyls Sorgen sein.
Er hatte noch keine Chance gehabt, sich mit Administrator Osen in Verbindung zu setzen. Im Zelt war er in Versuchung gewesen, hatte sich aber Sorgen gemacht, dass Achati denken würde, er habe es ungewöhnlich eilig, seinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten, obwohl er im Wesentlichen nur erfahren hatte, dass Lagersteine keine Bedrohung darstellten, und der Rest der Informationen sich lediglich auf seine Forschungsarbeiten bezog.
Wie wäre es jetzt?, fragte er sich. Er musste zugeben, der Gedanke gefiel ihm nicht, seine Aufmerksamkeit an einen anderen Ort zu lenken, wenn nur wenige Schritte entfernt ein tödlicher Abgrund lauerte. Der Führer hatte ihnen versichert, dass die Pferde den Weg von allein fanden. Sie kannten den Pfad und waren ebenso erpicht darauf, nicht abzustürzen, wie ihre Reiter es waren. Ich werde einfach darauf vertrauen müssen, dass mein Reittier nicht spürt, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin, und mich nur zum Spaß abwirft. Obwohl diese Pferde bisher ein verlässliches, friedliches Temperament an den Tag gelegt hatten, waren ihm in seinem Leben genug andere Tiere begegnet, um den Verdacht zu haben, dass die Spezies als Ganzes einen schelmischen Sinn für Humor hatte und geneigt war, Streiche zu spielen, sobald die Aufmerksamkeit ihres Reiters nachließ.
Er schob sein Widerstreben beiseite, holte Osens Ring aus seiner Robe, streifte ihn über einen Finger und schloss die Augen.
– Osen?
– Dannyl!
– Könnt Ihr frei reden? Ich habe einige Informationen für Euch.
– Wir warten auf den Beginn einer Anhörung, und bis es so weit ist, habe ich ein wenig Zeit. Ich könnte das Gespräch jedoch abrupt beenden müssen.
– Ich werde mich so präzise ausdrücken, wie ich kann.
Dannyl beschrieb seine Begegnung mit den Duna-Sprechern und der Hüterin und berichtete von ihrem Vorschlag.
– Wie interessant.
Osens Erregung war schwach wahrnehmbar wie das Geräusch einer fernen Vibration.
– Ein Stein, der eine Gedankenlesung blockiert und falsche Gedanken übermittelt.
Dannyl verspürte Erheiterung und ein wenig Frustration. Er hatte erwartet, dass der Vorschlag eines Handels mit Duna Osen mehr interessieren würde.
– Wie ich schon sagte, wenn die Ashaki und der sachakanische König dies herausfinden, werden sie …
– Die Anhörung beginnt. Entschuldigt mich, Dannyl. Ich muss gehen. Nehmt bitte den Ring ab.
Dannyl öffnete die Augen, streifte den Ring wieder vom Finger und steckte ihn ein. Zweifel nagte an ihm. Hatte Osen die Bedeutung dessen, was Dannyl ihm erzählt hatte, begriffen? Hatte er das Potenzial erkannt, das ein Handel mit den Duna darstellte? Und wichtiger noch, begriff er die Gefahren eines solchen Unternehmens und der Möglichkeit, dass die Ashaki etwas über die Steine erfahren könnten, die eine Gedankenlesung blockierten?
Ich werde darauf vertrauen müssen, dass er es tut – oder tun wird, wenn er die Gelegenheit bekommt, darüber nachzudenken.
Dannyl verdrängte die Zweifel. Ich wünschte doch, ich könnte dies mit irgendjemandem besprechen, aber ich kann mich nicht einmal Tayend anvertrauen. Nicht jetzt, da er ein elynischer Botschafter ist.
Die einzige Person in Sachaka, mit der er über die Steine hätte sprechen können, war Lorkin, und dieser war weit fort in den Bergen, ein freiwilliger Gefangener der Verräterinnen.
Stimmengewirr erfüllte die Gildehalle, während die Magier darauf warteten, dass die Anhörung begann. Sonea, die vorn an einer Seite der Halle stand, blickte zu den Höheren Magiern empor und bemerkte auf ihren Gesichtern die gleiche Mischung aus Sorge und Ungeduld, die in ihr selbst wuchs.
Wo ist Osen? Warum sind Kallen und Naki noch nicht eingetroffen?
Lilia, die neben ihr stand, schien von der wachsenden Anspannung nichts mitzubekommen. Die junge Frau hatte ihren Blick auf ein anderes Ziel gerichtet. Ihre Miene war traurig und resigniert.
Sie ist in diesen letzten Monaten sehr erwachsen geworden, ging es Sonea durch den Kopf. Die verwirrte, benommene junge Frau, deren Gedanken Sonea nach Lord Leidens Ermordung gelesen hatte, war naiv und kurzsichtig gewesen – wie es eine Person gewiss sein musste, um mit schwarzer Magie zu experimentieren, ohne an die Konsequenzen zu denken.
Um gerecht zu sein, sie war von Feuel benommen und vollkommen vernarrt gewesen. Eins dieser Dinge allein könnte die meisten Novizen zu Dingen verleiten, die sie später bereuen würden.
Lilia war jedoch reifer geworden. Sie hatte gelernt, innezuhalten und zu versuchen, die Auswirkungen ihrer Taten im Voraus abzuschätzen. Sie war weniger vertrauensvoll. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, als sie sich bereitfand, mit Lorandra zu fliehen, obwohl sie gewusst hatte, dass die Frau vielleicht nicht vertrauenswürdig war. Auch wenn es eine schlechte Entscheidung gewesen war, war es Lilias Meinung nach die beste Chance gewesen, ihre Freundin zu retten.
Was mich beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie bereit war, ihre eigene Zukunft – und vielleicht ihr eigenes Leben – zu opfern, um Naki zu finden. Ich wünschte nur, sie hätte mir in Bezug auf Lorandra vertraut. Aber andererseits ist es vielleicht meine Schuld, dass ich sie nicht davon überzeugt habe, dass ich alles in meiner Macht Stehende tat, um Naki zu finden.
Was nicht viel gewesen war, gestand Sonea sich ein. Sie hatte die Angelegenheit Kallen überlassen. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen.
Nicht einmal Cery hat mir genug vertraut, um mir zu offenbaren, dass er Lilia bei sich hatte. Vielleicht hat er uns beide beschützt. Solange ich nichts darüber wusste, fühlte ich mich nicht verpflichtet, mich darum zu kümmern. Es macht mir allerdings Sorgen, dass er Lilia ausgeschickt hat, um Naki zu retten. Ist ihm denn nicht der Gedanke gekommen, dass Naki vielleicht nicht gerettet werden wollte? Wenn ich nicht da gewesen wäre, hätte Naki Lilia getötet.
Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Cery gehofft hatte, Lilia für sich behalten zu können. Hätte Lilia dem zugestimmt?
Was Naki betraf, so war das einzige Verbrechen, das sie zugegeben hatte, das Erlernen und die Benutzung von schwarzer Magie. Sie hatte dies aus dem gleichen törichten Drang heraus getan, der auch Lilia dazu verleitet hatte, diese Dinge zu lernen. Ihre Geschichte über Erpressung und die Arbeit für einen Dieb war ein wenig dürftig. Sonea, Dorrien und Nikea hatten Naki zu Lilia sagen hören, dass sie gerade erst die Grundlagen des Gewerbes erlerne. Vielleicht hatte Naki die Hoffnung aufgegeben, aus der Unterwelt zu entkommen, und sich überlegt, dass ihre einzige Zukunft in ebendieser Welt lag – selbst bis zu dem Punkt, an dem sie einen Befehl, Lilia zu töten, befolgen würde.
Womit der Dieb ihr auch immer gedroht hat, falls sie nicht für ihn arbeitete, es war jedenfalls nicht die Ermordung Lilias gewesen. Was für eine Drohung war es dann gewesen? Kallen hat nichts darüber gesagt.
Nachdem Naki und Lilia die Zusammenkunft der Höheren Magier in Osens Büro verlassen hatten, hatte Kallen ihnen berichtet, dass Naki die Gilde für ihre Situation verantwortlich machte. In ihren Augen trug die Gilde die Schuld daran, dass sie erpressbar und für Verbrecher zu leicht erreichbar war, indem sie sie gezwungen hatte, außerhalb der Gilde zu leben.
Sonea argwöhnte, dass viele Verständnis für diese Sicht der Dinge haben würden. Obwohl Naki genau wie Lilia mithilfe törichter Experimente schwarze Magie erlernt hatte, war sie dazu gezwungen worden, für einen Dieb zu arbeiten. Lilias Position war ein wenig heikler. Sie war absichtlich davongelaufen – und hatte dabei auch Lorandra befreit. Sie hätte einwenden können, dass Lorandra sie überredet habe zu gehen – das entsprach zum Teil der Wahrheit –, aber das würde den positiven Aspekt ihrer Hingabe an die Suche nach ihrer Freundin auslöschen. Trotzdem, die Tatsache, dass Lilias einziges Motiv die Suche nach Naki gewesen war und dass sie Erfolg gehabt hatte, würde ihr beträchtliche Unterstützung eintragen.
Beide jungen Frauen verstanden sich auf schwarze Magie. Wenn die Gilde sich entschied, sie dafür zu bestrafen, war das Geringste, was sie erwarten könnten, eine Einkerkerung. Das Problem war, dass die Blockade ihrer Magie gescheitert war. Sonea wusste, dass einige Magier behaupteten, sie habe in diesem Punkt schlechte Arbeit geleistet. Sie wünschen, dass es so wäre, daher glauben sie, dass es sich so verhielt, dachte sie. Zweifellos würde Kallen beim nächsten Mal die Blockade vornehmen. Sie glaubte nicht, dass er Erfolg haben würde. Was würde geschehen, wenn Kallens Blockade versagte? Wenn sich herausstellte, dass die Kräfte eines Schwarzmagiers nicht blockiert werden konnten, was würde dann mit den Mädchen geschehen? Man könnte sie trotzdem einkerkern, aber ihre Wachen würden Magier sein müssen, und …
Der Nebeneingang auf der anderen Seite der Halle wurde geöffnet. Ein Novize spähte nervös in den Raum, doch als sein Blick auf Sonea fiel, richtete er sich auf. Er zeigte auf sie, dann auf Lilia, dann winkte er sie heran.
Ihr Herz verkrampfte sich. Hatte Kallen irgendwelche Probleme mit Naki?
Sonea sah Lilia an, die den Novizen offensichtlich bemerkt hatte und besorgt wirkte.
»Kommt mit mir«, sagte Sonea.
Das Summen der Stimmen verebbte, als sie durch die Halle gingen. Der Novize war ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann, der sich verneigte und dann vorbeugte, um Sonea ins Ohr zu flüstern.
»Der Administrator möchte, dass Ihr Lilia in sein Büro bringt, Schwarzmagierin Sonea.«
Sonea nickte. Sie ging, gefolgt von Lilia, zur Tür und schlüpfte hinaus in die Große Halle.
Die Stille dieses Raums war dramatisch nach dem Lärm in der Gildehalle. Sonea bedeutete Lilia, neben sie zu treten, dann ging sie zur Stirnseite der Universität. Als sie die Eingangshalle erreichten, eilte sie durch den Bogengang zu ihrer Rechten und blieb vor Osens Tür stehen. Sie schwang auf ihr Klopfen hin nach innen auf.
Zu ihrer Erleichterung standen Kallen und Naki gelassen da. Kallen fing ihren Blick auf, aber er sah ebenso neugierig und besorgt aus wie sie selbst. Naki wirkte gelangweilt.
»Schwarzmagierin Sonea«, begann Osen. »Ich habe gerade etwas sehr Interessantes erfahren, und es hat eine Frage aufgeworfen, die ich beantwortet wissen will, bevor die Anhörung beginnt.« Er wandte sich an Kallen. »Bitte, nehmt Naki den Ring ab.«
Sofort weiteten sich Nakis Augen. Sie presste die Hände auf die Brust, so dass eine die andere bedeckte, und blickte zwischen Osen und Kallen hin und her.
»Nein! Es ist der Ring meines Vaters. Das einzige Erinnerungsstück, das ich von ihm habe.«
Osen zog die Augenbrauen hoch. »Abgesehen von einem ganzen Herrenhaus und all seinen Besitztümern – abgesehen von einem gewissen Buch, das Anweisungen über schwarze Magie enthält.«
Kallen ergriff Nakis Arm. Sie widersetzte sich, als er die verborgene Hand unter der anderen hervorzog. Etwas fing das Licht auf und warf es zurück. Sonea hörte, wie Lilia scharf die Luft einsog. Sie drehte sich zu dem Mädchen um.
»Was ist los?«
»Das ist der Ring, der mit dem Buch in dem Schrank war.« Sie sah Sonea an. »Sie hat gesagt, er habe ihrer Großmutter gehört und besitze magische Eigenschaften.«
Kallen zog Naki den Ring vom Finger und reichte ihn Osen. Der Administrator untersuchte ihn eingehend. Er streifte ihn selbst über, und ein Ausdruck der Konzentration glitt über seine Züge, dann zuckte er die Achseln und nahm den Ring ab.
»Ich kann nichts Magisches daran spüren.«
»Natürlich nicht«, sagte Naki und bedachte ihn mit einem gezwungenen Lächeln. »Sie war eine verrückte alte Frau, die gern Geschichten für Kinder gesponnen hat.«
Osen betrachtete sie, sein Blick hart und abschätzend, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Dann schaute er zu Kallen hinüber.
»Lest ihre Gedanken.«
Sowohl Kallen als auch Naki erstarrten. Kallen wirkte überrascht; Naki wurde langsam weiß. Sie erholte sich als Erste.
»Nein«, sagte sie zornig und zog an der Hand, die sie noch immer am Arm festhielt. »Wie viele Male muss ich es noch zulassen, dass jemand in meinen Kopf eindringt?«
Die beiden Männer tauschten einen Blick. Osens Miene verhärtete sich, und er nickte zum Zeichen, dass Kallen fortfahren solle. Kallen zog Naki näher heran.
»Wartet!«, rief sie, Panik in ihrer Stimme. »Ist es nicht genug, dass ein Dieb mich entführt und gezwungen hat, für ihn zu arbeiten? Ist es nicht genug, dass … dass mein Vater ermordet wurde?« Sie deutete mit der freien Hand auf Lilia. »Von ihr. Ihr solltet noch einmal in ihre Gedanken schauen. Ihr solltet …«
»Falls es in Euren Gedanken nichts Neues zu sehen gibt, dann erlaubt Kallen, sie zu lesen«, erwiderte Osen.
»Nein!«, schrie Naki. Sie wand sich, um von Kallen wegzukommen. »Ich bin in Trauer! Ich will nicht, dass Ihr das seht! Lasst mich in Ruhe!« Sie schlug sich die freie Hand vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Kallen runzelte die Stirn. Zu Soneas Überraschung sah er fragend zu ihr herüber. Sie begegnete seinem Blick und bemerkte das Widerstreben in seinen Augen. Als sie sich zu Osen umdrehte, überlief sie ein kleines Frösteln, weil in seinen Zügen keinerlei Mitgefühl lag. Er griff nach Nakis freier Hand und zog sie von ihrem Gesicht.
Da waren keine Tränen. Naki starrte die Männer einen nach dem anderen an, die Augen vor Angst geweitet.
»Tut es, Kallen«, sagte Sonea leise. Naki bekämpfte ihn mit Magie, aber der Kampf währte nicht lange. Als er ihren Kopf ergriff, sah Sonea Lilia an, besorgt darüber, dass das Mädchen Angst haben könnte, aber Lilia beobachtete das Geschehen mit gelassener Eindringlichkeit.
Nach einem langen Schweigen ließ Kallen Naki mit einem Laut des Abscheus los. Er wandte sich an Osen.
»Ihr hattet recht. Der Ring verbirgt die wahren Gedanken und Erinnerungen des Trägers.«
Osen blickte auf den Ring hinab, und seine Lippen verzogen sich in grimmigem Triumph. »Was hat sie verborgen?«
Kallen holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus. »Sie hat tatsächlich schwarze Magie gelernt, bevor sie Lilia begegnet ist – mit Absicht. Sie verübelte die Einschränkungen, die ihr Vater und die Gilde ihr auferlegt hatten, und wollte frei sein zu tun, was immer ihr beliebte.« Seine Miene verdüsterte sich. »Sie hat sich mit Lilia angefreundet und sie dazu verleitet, schwarze Magie zu erlernen, damit sie Leiden töten konnte und ein anderer unter Verdacht geraten würde – außerdem hat sie Lilia Drogen eingeflößt und Blut auf ihre Hände gestrichen, damit sie schuldig wirkte.« Er sah Lilia mitfühlend an, dann richtete er den Blick wieder auf Osen. »Inspiriert hat sie Skellin, den sie bewundert hat, weil er sich so lange einer Gefangennahme entziehen konnte. Die Blockade ihrer Magie war etwas, das sie nicht eingeplant hatte, aber es war einfach, daran vorbeizukommen – ich vermute, dass bei einem Schwarzmagier keine gewöhnliche Blockade wirkt. Dann fand Naki einen Dieb, der bereit war, sie zu lehren, wie man in der Unterwelt überlebte – als Gegenleistung für magische Dienstleistungen.« Kallen drehte sich voller Verachtung zu Naki um. »Er hat ihr Leute gebracht, die niemand vermissen würde, so dass sie deren Kraft nehmen konnte, und er hat dafür gesorgt, dass die Leichen niemals gefunden wurden.«
Sonea starrte das Mädchen an, während ihre Entrüstung über deren grausame Manipulationen und die Ermordung des eigenen Vaters sich in Entsetzen verwandelte. Wie konnte sie das tun? Menschen töten, die ihr nichts Böses wollten … Naki stand jetzt mit steifem Rücken und vor der Brust verschränkten Armen da, ihre Lippen in mürrischem Trotz verzogen. Alles, damit sie tun konnte, was ihr gefiel.
»Sonea«, sagte Osen.
Sie riss den Blick von Naki los und sah ihn an. Er hielt den Ring hoch.
»Ich möchte, dass Ihr versucht, meine Gedanken zu lesen.«
Sie blinzelte überrascht, dann verstand sie, als er den Ring wieder überstreifte. Sie trat vor, legte ihm beide Hände an die Schläfen und schloss die Augen.
Nachdem sie ihren Geist ausgesandt hatte, schlüpfte sie an den Schutzwällen seines Geistes vorbei und suchte nach seinen Gedanken. Sie nahm ein starkes Gefühl seiner Persönlichkeit wahr, aber die wenigen Gedanken, die sie auffing, waren vage und bruchstückhaft. Sie zog ihr Bewusstsein zurück und öffnete die Augen.
»Das ist … seltsam. Eure Gedanken waren unzusammenhängend, als hättet Ihr Mühe, Euch zu konzentrieren.«
Er lächelte dünn. »Ich habe an Lorlen gedacht.«
Sie musterte ihn nachdenklich. Osen hatte den ehemaligen Administrator bewundert und jahrelang mit ihm zusammengearbeitet, und er betrauerte seinen Tod zutiefst. Es bestand keine Chance, dass sie diese Gedanken und die dazugehörigen Gefühle übersehen hätte – nicht ohne irgendeine Art von magischer Einmischung.
»Ich habe diese Zusammenhanglosigkeit nicht gespürt, als ich zum ersten Mal Nakis Gedanken gelesen habe«, bemerkte Kallen.
»Ich auch nicht«, erwiderte Sonea und drehte sich zu ihm um. »Vielleicht gibt es irgendeinen Trick oder eine besondere Fähigkeit für die Benutzung des Rings.«
»Nach dem, was ich erfahren habe, ist genau das der Fall«, erklärte Osen ihnen. Er lächelte, als sie ihn beide ansahen. »Botschafter Dannyl hat mir Bericht erstattet, als ich mich gerade für die Anhörung fertig machte. Er hatte von der Existenz von Steinen erfahren, die das Gedankenlesen blockieren. Da es so viele Ungereimtheiten zwischen dem gab, was Sonea und Kallen in Nakis und Lilias Gedanken gelesen haben, habe ich beschlossen, zu überprüfen, ob eins der Mädchen einen Edelstein trug, bevor wir weitermachten.«
»Was tun wir jetzt?«, fragte Kallen.
»Wir beginnen die Anhörung«, sagte Osen, den Blick auf Naki gerichtet. Sie funkelte ihn an. Er wandte sich an Sonea. »Ihr und Lilia kehrt als Erste zurück. Ich werde mit Kallen nachkommen.«
Sie nickte. Er ging zur Tür, und zu ihrer Überraschung folgte er ihr und Lilia hinaus und schloss die Tür hinter sich.
»Bevor Ihr geht«, sagte er mit leiser Stimme. Sein Blick wanderte von Sonea zu Lilia und zurück, um anzudeuten, dass er das Wort an sie beide richtete. »Erwähnt diesen Ring noch niemandem gegenüber.« Er schaute Sonea an. »Errichtet eine Barriere des Schweigens und sagt den Höheren Magiern, dass Kallen Nakis Gedanken gelesen habe, nachdem eine Blockade entfernt wurde, die eine Gedankenlesung verhinderte. Erklärt ihnen, dass man ihnen die Einzelheiten nach der Anhörung mitteilen werde.«
Sie nickte, und als er ihr bedeutete, dass sie gehen konnten, eilte sie mit Lilia an ihrer Seite davon.
»Also«, sagte Lilia, als sie die Große Halle betraten. »Wenn Naki des Mordes für schuldig befunden wird … des Mordes mithilfe von schwarzer Magie …«
Ein Schauer überlief Sonea. Die Strafe würde eine Hinrichtung sein. Sie sah Lilia an, und eine Woge des Mitgefühls schlug über ihr zusammen. Sie hat sich für ihre Vernarrtheit definitiv das falsche Mädchen ausgesucht. Lilia war nicht nur das Herz gebrochen worden, sie hatte auch herausfinden müssen, dass das Objekt ihres Verlangens andere ermordet, sie selbst in eine Falle gelockt und dann versucht hatte, sie zu töten. Jetzt ist es wahrscheinlich, dass ihre Freundin hingerichtet wird. Ich hoffe, sie wird damit zurechtkommen. Ich sollte ein Auge auf sie halten …
Das Mädchen wandte den Blick ab.
»Der König könnte ihr einen Straferlass gewähren«, sagte Sonea.
Lilia stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Das wird nicht geschehen.«
Sonea seufzte. »Nein, es ist nicht wahrscheinlich.«
Als sie die Tür zur Gildehalle erreichten, kam Sonea ein anderer Gedanke, der sie innehalten ließ. Plötzliches Grauen erfüllte ihr Herz.
Wer wird die Hinrichtung durchführen müssen?
Lorkin, der vor der Hütte des Jägers stand, schaute sich um und fragte sich, wie spät es sein mochte. Er wusste nur, dass die Sonne aufgegangen war, denn der Nebel um ihn herum war zu hell, als dass er von Mondlicht erleuchtet werden konnte.
Soll ich hierbleiben, bis der Nebel sich hebt?
Weil der Sturm Tyvara und ihn aufgehalten hatte, gingen seine Vorräte langsam zu Neige. Obwohl er bereit war, einen Tag lang zu hungern, wusste er, dass unten am Ende des Tals als Sklavinnen getarnte Verräterinnen auf ihn warteten. Je länger er brauchte, um dort anzukommen, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass man sie auf dem Besitz, zu dem sie gehörten, vermissen würde.
Solange ich immer hügelabwärts gehe, dürfte ich mich eigentlich nicht verirren. Tyvara sagte, ich würde nicht vom Weg abkommen, wenn ich bei Nacht marschiere, weil die Straße den Eingang des Tals kreuzt. Sie sagte, ich solle einfach weitergehen, bis ich auf die Straße stoße, und dann soll ich mich links halten und ihr folgen.
Er schaute zu der Hütte zurück, die größtenteils durch den Nebel verborgen war. Den Schlitten hatte er Tyvaras Rat folgend unter dem Schnee vergraben. Irgendjemand würde ihn schon bald ins Sanktuarium zurückbringen, vermutete er. Er hatte auch seinen Rucksack zurückgelassen und die Art Kleider angezogen, die Jäger normalerweise im Winter trugen – eine grob geschneiderte Hose und ein Gewand, über dem er einen Kapuzenumhang aus zusammengenähten Tierhäuten trug. Seine Stiefel waren aus Leder, mit dem Fell auf der Innenseite. Außerdem hatte er schlichte Handschuhe aus Tierhaut. Jäger waren eine weitere Gruppe von Sachakanern, die nicht recht in die simple Unterteilung in Sklaven und Ashaki hineinpassten. Sie waren freie Männer, aber sie waren keine Magier. Sie lebten auf Gütern, im Austausch gegen Felle, Fleisch und andere Produkte, die sie eintauschen konnten, aber sie wurden nicht als Sklaven betrachtet. Da sie einen großen Teil des Jahres an entlegenen Orten verbrachten, würde es für einen Herrn schwierig werden, sie unter Kontrolle zu halten. Außerdem hatten sie eine Art Übereinkunft mit den Verräterinnen, die sie in Ruhe ließen, solange sie sich von bestimmten Gebieten in den Bergen fernhielten. Einige unterstützten die Verräterinnen aktiv, indem sie ihnen erlaubten, ihre Hütten zu benutzen. Obwohl sie in diesem Punkt vielleicht keine große Wahl hatten: Wenn sie frei sein wollten, um in den Bergen zu jagen, mussten sie sich mit den Magiern, die dort lebten, gutstellen.
Die Aufmachung eines Jägers war die perfekte Tarnung für Lorkin. Falls irgendein Ashaki ihn sah, würde er ihn ignorieren, und es war nicht allzu seltsam, dass ein Jäger allein im Freien unterwegs war. Nicht dass jemand ihn heute sehen würde.
Er wandte den Bergen den Rücken zu und setzte sich in Bewegung. Der Nebel war so dicht, dass er auf dem Boden ständig Ausschau nach Hindernissen halten musste. Nachdem er in Senken gestolpert war und über den Rand des Flusses, der unter dem Schnee verborgen lag, brach er einen Ast von einem der dürren Bäume ab und benutzte ihn, um die Verwehungen vor ihm abzutasten. Das verlangsamte sein Vorankommen, daher rechnete er nicht damit, die Straße in nächster Zeit zu finden. Als leichtes Vorwärtskommen auf einem ebenen Teilstück ihn zu einer Stelle brachte, an der sein nächster Schritt ins Nichts geführt hätte, blieb er stehen und sah sich um. Als er sich nach links und rechts bewegte, stellte er fest, dass der flache Bereich sich beiderseits fortsetzte. Das musste die Straße sein.
Tyvara hat gesagt, ich soll mich links halten. Wenn ich mich irre und dies nicht die Straße ist, wird das flache Gelände bald enden, und ich werde auf den Seitenhang des Tals stoßen.
Also ging er über den flachen Streifen Land in die ihm gewiesene Richtung. Nach mehreren hundert Schritten entspannte er sich ein wenig. Die Oberfläche blieb gerade und, abgesehen von einer gelegentlichen Furche oder Pfütze, eben. Da er hier nicht mehr nach Hindernissen Ausschau halten musste, konnte er sich umsehen und in dem Nebel nach irgendwelchen Spuren von den Verräterinnen suchen, die auf ihn warteten.
Nach einer Weile begann er sich zu sorgen, dass er unbemerkt an ihnen vorbeiwandern würde. Obwohl der Nebel Geräusche erstickte, erschienen ihm seine Schritte, die durch den Schnee knirschten und gelegentlich auf eine Pfütze trafen, sehr laut, und er musste der Versuchung widerstehen, sich leiser zu bewegen.
Zumindest sollte ich eine Kutsche früh genug hören, um von der Straße verschwinden und mich verstecken zu können. Es wird auch keine Rolle spielen, dass es nichts gibt, wohinter ich mich verstecken könnte. Ich brauche lediglich in die Hocke zu gehen und reglos sitzen zu bleiben, und falls irgendjemand mich sieht, wird er mich wahrscheinlich für einen Steinbrocken halten.
Hinter ihm wurde eine Stimme laut, und Lorkin erstarrte. Er konnte nicht ausmachen, was die Stimme sagte, aber es war definitiv eine Person gewesen, die nach einer anderen gerufen hatte.
Nach mir?
Er überdachte, was Tyvara über die Wahrscheinlichkeit gesagt hatte, Ashaki zu begegnen. »Du solltest auf keinen Ashaki treffen. Sie reisen zu dieser Zeit des Jahres gewöhnlich kaum.« Er bezweifelte, dass irgendjemand sich bei diesem Nebel freiwillig hinauswagen würde, und er hatte weder das Knarren und Rumpeln einer Kutsche noch Hufschläge gehört. Die einzigen Menschen, die bei diesem Wetter draußen sein würden, waren wahrscheinlich die Personen, die nach ihm suchten. Vielleicht hatten sie seine Spuren gesehen und begriffen, dass er an ihnen vorbeigegangen war.
Die Stimme erklang abermals, weiter entfernt diesmal. Lorkin ging voran. Binnen weniger Schritte sah er etwas, das sich bewegte. Er machte eine Gestalt aus, die auf ihn zukam. Ein zuversichtlich ausschreitender Mann. Bekleidet mit Hose und einer kurz geschnittenen Jacke.
Ashaki.
Er blieb stehen, aber es war zu spät. Der Mann hatte ihn gesehen. Lorkins Herz begann zu rasen. Sollte er sich zu Boden werfen und hoffen, dass der Mann ihn für einen Sklaven hielt? Aber ein Jäger würde das nicht tun.
»Ihr seid nicht Chatiko«, sagte der Mann und hielt inne. Dann kam er näher und beugte sich vor, während er Lorkin anstarrte. »Ich kenne Euch. Ich habe Euch schon einmal gesehen.« Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. »Ihr seid dieser kyralische Magier! Der, der verschwunden ist!«
Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Tyvaras Worte stiegen aus seiner Erinnerung empor.
»Solltest du doch einem Ashaki begegnen, sag ihm, wer du bist, und bitte darum, dass man dich zum Gildehaus zurückbringt. Sie werden aus politischen Gründen verpflichtet sein, dir zu helfen.«
»Ich bin Lord Lorkin von der Magiergilde Kyralias«, sagte er. »Ich ersuche Euch förmlich darum, mich zum Gildehaus in Arvice zurückzubringen.«
Der Mann lächelte und klopfte ihm auf die Schulter. »Nun, heute ist Euer Glückstag. Wir sind selbst in diese Richtung unterwegs. Wir wollten eigentlich abwarten, bis das Wetter sich bessert, aber Meister Vokiro hat darauf bestanden, dass wir beim ersten Tageslicht aufbrechen. Ich bin Meister Akami.«
Lorkin suchte nach irgendeiner Erwiderung. Zwei von ihnen sind Meister. Sie stehen im Rang nicht so hoch wie Ashaki. Das könnte für mich von Vorteil sein. Er brachte ein Lächeln zustande.
»Vielen Dank, Meister Akami.«
Der Sachakaner warf Lorkin angesichts seiner kyralischen Manieren einen vertraut erheiterten Blick zu, dann deutete er die Straße hinunter. »Die Kutsche steht dort drüben. Meister Chatiko hat angehalten, um sich zu erleichtern.« Lorkin schloss sich dem Mann an. »Er hat so lange gebraucht, dass ich mich auf die Suche nach ihm gemacht habe. Versteht Ihr jetzt, welches Glück Ihr hattet? Wir hätten vorbeifahren können, ohne Euch zu sehen. Ah! Da ist er ja wieder.«
Neben der Kutsche stand ein anderer Mann. Als er Lorkin sah, musterte er ihn von Kopf bis Fuß, und auf seinem Gesicht spiegelten sich Erstaunen und Abscheu wider.
»Sieh dir an, was ich gefunden habe«, erklärte Meister Akami. »Einen verschollenen kyralischen Magier! Und ich wette, er hat einige Geschichten zu erzählen. Er wird uns den ganzen Weg bis zurück in die Stadt unterhalten!«
Kaum waren die Reisetruhen auf das Deck der Inava geschleppt worden, hievten die Schiffssklaven auch schon den Anker hoch und setzten Segel.
Dannyl, Tayend und Achati wurde an Deck ein Platz zugewiesen, wo sie dem Kapitän und seiner Sklavenmannschaft nicht im Weg waren.
Achati sah Dannyl an. »Also, seid Ihr zufrieden mit dem, was Ihr hier erfahren habt, Botschafter?«
Dannyl nickte. »Ja, obwohl ich gern noch einmal herkommen und weitere dieser Duna-Legenden aufzeichnen würde. Ich habe darum gebeten, die Geschichten über Magie zu hören, aber es muss jede Menge weiterer Legenden geben, die nichts mit Magie zu tun haben. Ich schätze, das ist ein Buch, das ein anderer schreiben muss.«
Achati nickte. »Vielleicht könnte Eure Assistentin ein solches Buch schreiben. Sie scheint sich sehr für die Stämme zu interessieren.«
Dannyl verspürte leise Gewissensbisse, weil er Merria zurückgelassen hatte. Aber irgendjemand musste im Gildehaus bleiben. »Ja, das stimmt.«
»Und was ist mit Euch, Botschafter Tayend?«, fragte Achati den Elyner.
Tayend machte eine vage Handbewegung, die viele Dinge hätte bedeuten können. Er wirkte ein wenig bleich, wie Dannyl auffiel.
»Habt Ihr das Heilmittel gegen Seekrankheit genommen?«, erkundigte sich Achati.
»Noch nicht«, gestand Tayend. »Ich wollte den letzten Ausblick auf all das hier nicht versäumen …« Er schluckte und deutete auf das Tal. »Ich werde das Mittel nehmen, sobald wir die Bucht verlassen haben.«
Achati runzelte besorgt die Stirn. »Es wird eine gewisse Verzögerung geben, bevor das Mittel wirkt, und es wird überhaupt keine Chance haben, wenn Ihr es nicht unten behalten könnt.«
»Ashaki Achati«, rief der Kapitän.
Sie drehten sich um und sahen, dass der Mann zur Nordseite der Bucht zeigte. Seine Augen leuchteten, und sein Gesicht zeigte ein grimmiges Lächeln. Schwarze Wolken verdunkelten den Himmel, und der Horizont verschwamm hinter Strömen von Regen.
Achati lachte leise. »Da braut sich ein Sturm zusammen.« Er machte einen Schritt auf den Kapitän zu. »Ich werde Euch Beistand leisten.«
Der Mann musterte den Ashaki. »Ihr habt Erfahrung?«
Achati grinste. »Zur Genüge.«
Der Mann nickte, und sein Lächeln kehrte zurück. Als Achati sich abwandte, glänzten seine Augen vor Erregung. Dannyls Haut kribbelte.
»Wir kehren nicht um?«, fragte Tayend mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
»Nein«, erwiderte Achati. »Ihr solltet dieses Heilmittel besser sofort einnehmen.«
»Ihr und der Kapitän freut Euch darüber, nicht wahr?«, fragte Dannyl, als der Elyner davoneilte.
Achati nickte. »Das stimmt. Stürme sind zu dieser Jahreszeit alltäglich. Wir nutzen sie seit Jahrhunderten. Jeder Ashaki, der mit einem Schiff reist – das heißt, jeder, dem sein Leben teuer ist –, lernt, diese Stürme zu reiten. Mit Magie, die das Schiff zusammenhält, und einem erfahrenen Kapitän, der das Schiff steuert, kann man binnen weniger Tage von Duna nach Arvice segeln.«
Wie um diesen Punkt zu betonen, drosch eine Sturmböe auf das Schiff ein, als es den Schutz der Bucht verließ. Dannyl und Achati hielten sich an der Reling fest.
»Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte Dannyl. Er musste rufen, um sich im Sturm Gehör zu verschaffen.
In Achatis Lachen lag ein Anflug von Zuneigung wie von Geringschätzung. »Keine Sorge. Der König wird sicherstellen, dass das, was der Kapitän und ich an Magie benutzen, ersetzt werden wird.«
Mit anderen Worten, nur ein höherer Magier besitzt die Stärke für ein solches Tun.
Es war Dannyl noch nie so bewusst gewesen, dass er kein Schwarzmagier war. Seltsamerweise war das der Grund, warum es ihm widerstrebte, sich in den Schutz der Kajüte zu stehlen.
»Dann werde ich bleiben und zusehen«, sagte er.
»Später«, erwiderte Achati kopfschüttelnd. »Das Heilmittel gegen Seekrankheit kann kein Wunder vollbringen. Tayend wird Eure Hilfe brauchen.«
Dannyl sah dem Sachakaner in die Augen und las Sorge darin. Seufzend nickte er und folgte dem elynischen Botschafter in die Kajüte.
Als Sonea sich dem Ende des Flurs näherte, sah sie durch die Eingangshalle der Universität eine Kutsche vorfahren. Der Augenblick, in dem das Fenster des Wagens sichtbar war, reichte, um in der Kutsche ein vertrautes Gesicht auszumachen.
Dorrien.
Sie fluchte leise. Wenn sie die Halle durchquerte, würde er sie bemerken und mit ihr reden wollen. Sie war nicht in der Stimmung für eine solche Begegnung, die voller unausgesprochener Fragen, Schuldgefühle und Verlangen sein würde. Nicht jetzt, da das Grauen, das sich während der Anhörung ihrer bemächtigt hatte, sie schon den ganzen Tag nervös machte.
Also drehte sie sich um, ging durch den Flur wieder zurück und schlüpfte in ein leeres Klassenzimmer. Die Novizen waren längst fort. Die Reihen von Tischen und Stühlen brachten Erinnerungen zurück, angenehme wie unangenehme.
Oder wäre es treffender zu sagen, erträglicheund unangenehme? Obwohl ich es durchaus genossen habe, Magie zu erlernen, hatte ich davon abgesehen mit meinen Mitnovizen nicht viel Spaß, selbst wenn sie mir das Leben nicht schwer machten, mich geringschätzig behandelten oder, in Regins Fall, neue und zunehmend demütigende und schmerzhafte Methoden fanden, mich zu quälen.
Nachdem sie wieder in die Gilde aufgenommen worden war, war die Beendigung ihrer Ausbildung schwierig gewesen, da sie ihre Lektionen lernen musste, ohne dass irgendein Lehrer ihr die komplexeren Konzepte direkt in ihre Gedanken übermittelt hätte. Sie hatte es geschafft, trotz dieser Erschwernis. Und trotz der Trauer um Akkarins Tod. Und ihrer Schwangerschaft mit Lorkin.
Regin hat sich zu einem guten Mann entwickelt, ging es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Dann lächelte sie schief. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal denken würde. Oder dass ich ihn vermissen würde.
Was sie in gewisser Weise tat. Während der Suche nach dem wilden Magier war es besser gewesen, einen Gehilfen zu haben, der nicht in sie vernarrt war. Die Situation mit Dorrien war viel zu kompliziert geworden. Sie wünschte, sie könnten sich beeilen und Skellin und Lorandra finden. Oder dass Dorriens Tochter früher der Gilde beitrat, so dass er und Alina aufs Land zurückkehren konnten.
Ich schätze, das bedeutet, dass ich nicht in ihn verliebt bin, begriff sie. Vielleicht wäre ich es gewesen, wären da nicht so viele Umstände, die alles verdarben. Oder vielleicht … wenn es Liebe wäre, dann wären diese Dinge nicht in der Lage, es zu verderben. Anscheinend haben Leute ständig Affären. Die Vorstellung, einen Ehemann oder eine Ehefrau zu betrügen oder einen Skandal zu verursachen, genügt nicht, um sie abzuschrecken.
Sie seufzte und ging auf die Klassenzimmertür zu. Dorrien sollte die Halle inzwischen durchquert haben. Sie hielt inne, als sie Stimmen und Schritte näher kommen hörte; sie wollte nicht, dass jemand sah, dass sie sich in einem Klassenzimmer versteckte.
»… hat Euch das nicht davon überzeugt, dass Ihr aufhören müsst, Feuel zu nehmen?«, fragte eine Frau.
Die Stimme war vertraut. Noch während sie begriff, dass es Lady Vinara war, die sprach, hörte sie eine andere Stimme antworten und erschrak leicht, als sie auch diese erkannte.
»Ich bin überzeugt, aber dies ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt«, erwiderte Schwarzmagier Kallen, als sie an dem Klassenzimmer vorbeikamen. »Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen …«
»Es gibt niemals einen guten Zeitpunkt«, unterbrach ihn Vinara. »Denkt Ihr, ich höre das nicht jeden Tag von …«
Die Stimme der Heilerin verklang, während die beiden sich rasch entfernten. Sie waren sicher auf dem Weg zu Osens Büro, wo auch Sonea hinwollte.
Sie zählte bis fünfzig, dann trat sie aus dem Raum und setzte ihren Weg fort. Triumph und Sorge vermischten sich miteinander, während sie über das nachdachte, was sie eben gehört hatte. Triumph, dass sie recht gehabt hatte: Kallens Feuelgebrauch war ein Problem. Sorge, dass sie recht hatte: Kallens Benutzung war ein Problem. Was es, weil er ein Schwarzmagier war, auch zu ihrem Problem machte.
Die Tür zu Osens Büro war noch nicht wieder zugefallen, als Sonea sie erreichte, so dass sie sich gerade noch hindurchschieben konnte. Rothen war bereits anwesend. Sie lächelte ihm im Vorbeigehen zu. Die Oberhäupter der Disziplinen saßen auf ihren gewohnten drei Stühlen. Kallen stand an der Wand. Der Administrator saß. Er schaute ihr in die Augen, und sie tauschten ein Nicken, dann nahm sie ihren gewohnten Platz neben seinem Schreibtisch ein.
Die wenigen noch fehlenden Höheren Magier trafen kurz darauf ein, und Osen begann die Besprechung, indem er erklärte, was vor der Anhörung geschehen war: Dannyls Informationen, woraufhin er Kallen mit Naki und Sonea mit Lilia gerufen hatte, und was Kallen in Nakis Geist gesehen hatte, sobald ihr Ring entfernt worden war.
»Der König hat Naki keinen Gnadenerlass gewährt«, eröffnete Osen ihnen, nachdem er mit seinen Erklärungen zum Ende gekommen war.
Stille folgte dieser Ankündigung. Sonea betrachtete die Gesichter der Magier. Einige nickten und waren wenig überrascht. Andere wirkten schockiert. Rothen beobachtete sie mit mitfühlender, besorgter Miene. Ihr wurde flau im Magen, und ihr Mund wurde trocken.
Was werde ich tun, wenn sie mich bitten, die Hinrichtung vorzunehmen? Sie hatte bereits beschlossen, nicht dagegen zu protestieren, falls man es ihr befahl, aber wenn man ihr die Gelegenheit gab, es zu vermeiden, dann würde sie diese Gelegenheit nutzen. Es gibt keine richtige Entscheidung in diesem Fall. Entweder, ich tue es und bin für einen weiteren Tod verantwortlich, oder ich weigere mich und zwinge einen anderen, diese Bürde auf sich zu nehmen.
Der andere würde höchstwahrscheinlich Kallen sein. Er hatte noch nie zuvor jemanden getötet – gewiss nicht mit schwarzer Magie, und wenn Naki sterben sollte, ohne dass ihre Magie entfesselt wurde, dann musste man ihr vorher ihre Kräfte nehmen. Naki war kein feindlicher Eindringling, sie war eine junge Frau und Kyralierin. Obwohl Sonea den Mann nicht mochte, würde sie ihm die Bürde, jemanden töten zu müssen, nicht wünschen.
Wenn ich es tue, werden die Menschen mich anders sehen. Als gnadenlos und kalt. Wenn ich vor dieser Pflicht zurückschrecke, werden sie mich als illoyal und feige betrachten. Sie werden …
»Ich habe die Angelegenheit mit Schwarzmagier Kallen und dem Hohen Lord Balkan besprochen«, sagte Osen. »Kallen wird Nakis Macht nehmen, und Balkan wird die Strafe ausführen.«
Sonea blinzelte überrascht, noch während Erleichterung sie durchflutete. Sie war nicht die Einzige im Raum, deren Ausatmen eher wie ein Stöhnen klang.
»Der König hat zugestimmt, dass es keine öffentliche Hinrichtung sein sollte«, fuhr Osen fort. »Trotz der abschreckenden Wirkung, die eine solche Hinrichtung vielleicht haben würde.« Alle Magier im Raum nickten zustimmend. »Es wird noch heute Abend geschehen. Die Existenz dieser Edelsteine, die eine Gedankenlesung blockieren, muss ein Geheimnis bleiben«, sprach Osen energisch weiter. »Außer den hier Anwesenden darf niemand davon erfahren. Die Sachakaner wissen nichts von ihnen, und wenn sie von dieser Art von Magie erfahren, könnten die Konsequenzen katastrophal sein.«
Er nahm sich die Zeit, jedem Magier in die Augen zu sehen, bis er von allen ein Nicken oder ein verständnisvolles Murmeln erhalten hatte; dann entspannte er sich und forderte zu Fragen auf. Sonea hörte nicht, was gefragt wurde, so sehr war sie mit ihrer eigenen Erleichterung beschäftigt.
Verspätet begriff sie die Überlegungen hinter Osens Entscheidung: Balkan war als Hoher Lord der Anführer der Gilde und als Krieger ausgebildet, daher war es passend, dass er dem Gesetz Genüge tat. Sie und Kallen waren nur deshalb als Schwarzmagier akzeptiert worden, damit sie die Gilde gegen eine Invasion verteidigen konnten. Wenn Kallen Naki ihre Macht nahm, war das eine praktische Maßnahme und unterschied sich kaum von dem, was er und Sonea für sterbende Magier taten, um sicherzustellen, dass sie aus dem Leben schieden, ohne dass die in ihnen verbliebene Magie irgendwelche Zerstörungen anrichtete.
Dann stahl sich eine törichte Sorge in Soneas Gedanken. Haben sie geglaubt, ich könne oder wolle es nicht tun? Dachten sie, man könne mir nicht trauen?
Oh, gib Ruhe, sagte sie sich.
Kurz darauf war die Zusammenkunft beendet. Rothen schloss sich Sonea an, als sie das Büro verließ.
»Gehst du heute Abend ins Hospital?«, fragte er.
Sie begaben sich in die Eingangshalle und blieben in den geöffneten Türen der Universität stehen. Beide schauten in den Wald hinaus, der von Schnee überstäubt war.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sonea. »Ich habe heute nicht geschlafen. Ich könnte in meine Räume zurückkehren, aber damit ist nichts getan. Natürlich könnte ich ins Hospital gehen, aber ich habe den Verdacht, dass ich … ein wenig abgelenkt sein werde.«
Er brummte. »Ich denke, das werden wir alle sein, bis die Tat getan ist.«
»Und noch für ein Weilchen danach. Wie lange ist es her, seit die Gilde zum letzten Mal ein Mitglied – oder ein ehemaliges Mitglied – hinrichten musste?«
Er zuckte die Achseln. »Sehr lange. So lange, dass ich es in einem Geschichtsbuch nachschlagen musste.«
Sonea blickte über ihre Schulter. Die Eingangshalle war verlassen, nachdem die Höheren Magier alle gegangen waren.
»Ich gebe zu, dass ich erleichtert über Osens Wahl des Henkers bin«, murmelte sie. »Obwohl es hart für Kallen sein wird, dort zu sein und eine Rolle dabei zu spielen. Er hat nie … er ist unerfahren.«
»Viele sind der Ansicht, dass man dir bereits eine Menge abverlangt hat«, erwiderte Rothen leise. »Sie fühlen sich schuldig wegen Lorkin.«
Sie drehte sich um, um ihm in die Augen zu sehen. Sie sollten sich schuldig fühlen, dass sie Lorkin nach Sachaka geschickt haben, dachte sie triumphierend, aber nicht ohne Verbitterung. Rothens Augen blickten ruhig und deuteten noch mehr an. Sie fragte sich, wie oft die Höheren Magier über sie sprachen.
»Ist das der Grund, warum sie Lorkin noch nicht offiziell aus der Gilde verstoßen haben?«, fragte sie.
Er nickte.
»Oder haben sie Angst vor dem, was ich sagen und tun würde, falls sie ihn ausschließen sollten?«
Rothen lachte leise. »Das auch.« Dann wurde seine Miene wieder ernst. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir eine traurige Nachricht zu übermitteln – es geht um jemand anderen, nicht um Lorkin.«
»Was ist denn passiert?«
»Regins Frau hat versucht, sich das Leben zu nehmen.«
»Oh! Wie schrecklich.«
»Anscheinend versucht sie es schon seit Jahren. Dies ist das erste Mal, dass es … öffentlich geschehen ist. Es hat Gerüchte gegeben, aber …« Rothen verzog das Gesicht. »Ich mochte ihnen keine große Beachtung schenken.«
»Armer Regin«, sagte sie.
»Ja«, entgegnete Rothen. »Aber … nicht ganz aus dem Grund, den du im Sinn hast, vermute ich.«
»Wie meint Ihr das?«
Rothen seufzte. »Einigen Gerüchten zufolge fanden ihre Selbstmordversuche immer dann statt, wenn er von einem ihrer Geliebten erfahren und ihn davongejagt hatte.«
Sonea zuckte zusammen. »Oh.«
»Ich habe Berichte gehört, nach denen er auf dem Rückweg nach Imardin ist und um Räume in der Gilde gebeten hat. Er hat sein Haus in Elyne der einen Tochter gegeben und seinen Familiensitz in Imardin der anderen.«
»Die Tat eines zornigen Mannes.«
»So ist es.«
Ein wenig passender und leicht verräterischer Hoffnungsfunke glomm in Sonea auf. Außerdem ein Mann, der etwas braucht, womit er sich beschäftigen kann – wie die Jagd auf einen wilden Magier.
»Gibt es eine Menge Eheleute, die im Moment Probleme haben, oder kommt mir das nur so vor?« Sie hakte sich bei Rothen unter und zog ihn zurück zum Flur der Universität.
»Wer hat denn sonst noch Probleme in seiner Ehe?«, fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Nur … irgendwelche Leute. Und was Personen betrifft, die nach Hause zurückkehren, gibt es da etwas, worüber ich mit Euch sprechen wollte. Etwas, das uns mit vereinten Kräften gelingen sollte, ohne Anstoß zu erregen.«
Zu Lilias Erleichterung wurde sie in einem Raum in der Universität festgehalten und nicht in der stickigen Kuppel. Dies schenkte ihr ein klein wenig Hoffnung, dass die Gilde ihre jüngeren Verbrechen mit etwas mehr Nachsicht betrachten würde und dass ihre Absicht, in ihr Gefängnis zurückzukehren, nachdem sie Naki gefunden hatte, sie davon überzeugt hatte, dass man ihr keine härtere Strafe zu geben brauchte.
Was diese Hoffnung schwächte, war die Tatsache, dass man ihr seit der Anhörung nichts mehr erzählt hatte. Diener hatten ihr ihre Mahlzeiten gebracht und was sie sonst noch benötigte, aber sie weigerten sich zu sprechen, selbst wenn Lilia ihnen Fragen stellte. Die Magier, die ihre Tür bewachten, geboten ihr Schweigen, wenn sie klopfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Ihr blieb wenig anderes zu tun übrig, als über Naki nachzudenken. Obwohl ihr Herz immer noch wehtat, galt dieser Kummer einer Person, die nie wirklich existiert hatte. Naki hatte sich nicht deshalb mit Lilia angefreundet, weil sie sie gemocht hatte.
Wie konnte sie ihren eigenen Vater töten? Aber ich nehme an, er war nicht ihr richtiger Vater. Er war nur der Mann, der ihre Mutter geheiratet hat. Sie hat mir erzählt, er habe ihr nicht geglaubt, als sie sagte, ihr Onkel habe sie missbraucht. War das überhaupt wahr gewesen? Vielleicht. Ich weiß nicht, ob er ihren Hass verdient hat. Ich schätze, ich werde es nie erfahren.
Zorn wirkte der Kränkung darüber, von Naki hereingelegt und verraten worden zu sein, entgegen. Sie war es müde, von Menschen manipuliert zu werden. Zuerst Naki, dann Lorandra. Cery und Anyi waren zumindest ehrlich mit dem gewesen, was sie von ihr wollten. Soweit sie wusste.
Ich werde mich nicht noch einmal von irgendjemandem benutzen und täuschen lassen. Die Menschen werden ihre Vertrauenswürdigkeit beweisen müssen, bevor ich ihnen vertraue. Zumindest bedeutet die Gefangenschaft hier, dass ich viel weniger Menschen begegnen werde, über deren Vertrauenswürdigkeit ich mir Sorgen machen muss.
Schritte und Stimmen draußen vor der Tür lenkten sie von ihren Gedanken ab. Die Tür wurde geöffnet, und Schwarzmagierin Sonea trat ein. Lilias Herz sang vor Hoffnung, nur um sofort wieder in Mutlosigkeit zu verfallen, als sie die Miene der Frau sah. Sie stand auf und verneigte sich hastig.
»Lilia«, sagte Sonea. »Es scheint, ich muss mich im Namen der Gilde dafür entschuldigen, dass man Euch über die Ereignisse des letzten Tages in Unkenntnis gelassen hat. Das Problem ist, dass wir noch nicht entschieden haben, was wir mit Euch tun werden.«
Lilia wandte den Blick ab. Es konnte kein gutes Zeichen sein, wenn sie Mühe hatten, zu einer Entscheidung zu kommen. Soweit sie sehen konnte, bestanden ihre Alternativen darin, sie hinzurichten oder einzukerkern, und da man ihre Kräfte nicht blockieren konnte, würde Letzteres bedeuten, dass zwei Magier als Wachen fungieren mussten. Auf Dauer.
»Ich kann Euch versichern, dass niemand die Todesstrafe für Euch vorgeschlagen hat«, fuhr Sonea fort.
Erleichterung durchströmte Lilia wie die Wärme eines geheizten Raums nach einem Spaziergang durch die winterliche Kälte. Ein Aufkeuchen der Erleichterung drang ihr über die Lippen, dann errötete sie angesichts der unbeabsichtigten Zurschaustellung von Gefühlen.
»Der Punkt, in dem wir keine Einigkeit erzielen können, ist die Frage, was mit Euch geschehen soll. Einige Magier wollen Euch wieder in den Ausguck sperren. Andere wollen Euch wieder in der Gilde sehen.«
Überrascht blickte Lilia auf.
Sonea lächelte. »Natürlich unter strengen Auflagen.«
»Natürlich«, wiederholte Lilia.
»Ich bin für letztere Lösung. Was der Grund ist, warum ich veranlasst habe, dass Ihr in meinen Räumen wohnen werdet, bis die Entscheidung getroffen ist.«
Lilia starrte Sonea ungläubig an. Sie konnte nicht entscheiden, ob dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Es würde bequemer und weniger einsam sein als dieser Raum, und es deutete darauf hin, dass die Gilde ihr vielleicht hinreichend vertraute, um davon auszugehen, dass sie nicht noch einmal versuchen würde zu fliehen. Aber sie würde bei Sonea wohnen. Bei einer Schwarzmagierin.
Was genau das ist, was du ebenfalls bist, rief sie sich ins Gedächtnis.
Trotzdem fanden alle Novizen die beiden Schwarzmagier ein wenig beängstigend. Und sie hatte den Verdacht, dass es etlichen Magiern, die ihren Abschluss hatten, nicht viel anders erging. Sonea hatte schwarze Magie benutzt. Sie hatte damit getötet.
Nur zur Verteidigung Kyralias. Nicht wie Naki es getan hat.
Sonea winkte sie heran. »Kommt. Ich bringe Euch zu meinen Räumen.«
Lilia, die ihrer Stimme nicht traute, nickte nur und folgte der schwarz gewandeten Frau aus ihrem Gefängnis. Die beiden Wachen beäugten Sonea nervös, was Lilia nicht gerade ermutigte. Sie folgte Sonea gehorsam durch die Gänge und Flure der Universität und über den Innenhof zu den Magierquartieren.
In dem breiten Flur des Gebäudes kamen sie an zwei Alchemisten vorbei. Der Mann und die Frau nickten Sonea höflich zu, aber ihr Blick wanderte zu Lilia. Sie erwartete Missbilligung oder Argwohn. Stattdessen wirkten die beiden grimmig und mitfühlend.
Erst als sie oben an der Treppe angelangt war, kam sie dahinter, warum.
»Naki«, entfuhr es ihr.
Sonea sah sie an. »Ich habe auch sie betreffend Neuigkeiten. Aber kommt zuerst herein.«
Sofort erfüllte Lilia ein tiefes Grauen. Die Neuigkeiten werden nicht gut sein, dachte sie. Es sollte mir gleichgültig sein, was mit Naki geschehen ist, nach dem, was sie mir angetan hat. Aber sie wusste, dass es ihr nicht gleichgültig sein würde.
Sie blieben vor einer Tür stehen, die nach innen aufschwang. Sonea bedeutete Lilia voranzugehen. Lilia tat wie geheißen. Sie nahm die schlichte, aber luxuriöse Umgebung wahr und stellte fest, dass jemand vor den Stühlen im Gästezimmer stand. Als sie die Frau erkannte, machte ihr Herz einen Satz.
»Anyi!«
Die junge Frau lächelte, trat vor und umarmte Lilia schnell. »Lilia«, sagte sie. »Ich musste sehen, wie es dir geht.« Sie blickte Sonea an. »Habt Ihr es ihr schon gesagt?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Ich wollte es gerade tun.« Sie schaute Lilia in die Augen, ihre Miene ernst und mitfühlend. »Ihr hattet recht: Der König hat Naki keinen Gnadenerlass gewährt. Sie ist gestern am späten Abend hingerichtet worden.«
Obwohl Lilia es erwartet hatte, war die Nachricht dennoch ein Schock. Sie setzte sich auf den ihr am nächsten stehenden Stuhl. Für eine Weile konnte sie nichts anderes tun, als zu atmen.
Tot. Naki ist tot. Sie war so jung. Wie sie sagen, hatte sie großes Potenzial. Aber vielleicht ist es etwas Gutes, dass ihr Potenzial ungenutzt geblieben ist. Wer weiß, wie viele weitere Menschen sie getötet hätte?
Jemand legte ihr eine Hand auf den Rücken. Ihr wurde bewusst, dass Anyi neben ihr saß. Die junge Frau lächelte, aber ihre Augen waren voller Sorge.
»Ich werde schon zurechtkommen«, sagte Lilia.
»Ich lasse euch beide jetzt allein, damit ihr miteinander reden könnt«, meldete Sonea sich zu Wort. Dann öffnete sie die Tür und schlüpfte hinaus.
Lilia starrte auf die Tür.
»Was ist los?«, fragte Anyi.
»Sie hat mich allein hier zurückgelassen.«
»Allein? Ich bin hier.«
Lilia schüttelte den Kopf. »Entschuldigung. Ich meinte, unbewacht. Von Magiern.« Sie sah Anyi mit schmalen Augen an. »Es sei denn, es gibt da etwas, das du mir nicht erzählt hast.«
Anyi lachte. »Es gibt immer etwas, das ich irgendjemandem nicht erzähle. Das ist Teil meiner Arbeit. Aber nein, ich bin keine Magierin. In mir ist kein Funken Magie. Ich habe mich einmal testen lassen, als ich noch ein Kind war. Ich dachte, wenn ich in die Gilde aufgenommen würde, wäre das eine großartige Methode, um Cery eins auszuwischen.«
»Um Cery eins auszuwischen? Warum sollte dir das gelingen, indem du der Gilde beitrittst?«
Überraschung zeichnete sich in Anyis Zügen ab, dann Begreifen. Sie fluchte und schlug sich mit der Hand an die Stirn.
»Was ist los? Du hast gerade etwas verraten, nicht wahr?« Lilia dachte über Anyis Worte nach. »Du hast Cery schon gekannt, als du noch ein Kind warst.« Kein Wunder, dass Anyi so loyal war. Nur dass sie früher einmal den Wunsch gehabt hatte, ihm eins auszuwischen. Als ob … »Er ist dein Vater!«
Anyi stieß ein Stöhnen aus und nickte. »Ich bin als Leibwächterin offensichtlich viel besser als in der Wahrung von Geheimnissen.«
»Warum sollen die Leute nicht wissen, dass dein Vater ein Dieb ist?«
Anyi verzog das Gesicht. »Skellin hat Cerys zweite Ehefrau und meine Halbbrüder ermorden lassen.«
»Oh.« Lilias Befriedigung darüber, die Wahrheit erraten zu haben, schmolz dahin. »Also hast du Angst, dass er, wenn er herausfindet, dass du Cerys Tochter bist, versuchen wird, auch dich zu töten.«
Anyi zuckte die Achseln. »Er würde mich ohnehin töten, wenn er die Chance bekäme, weil ich Cerys Leibwächterin bin. Wenn er herausfände, dass wir verwandt sind, ist es wahrscheinlicher, dass er mir etwas antun wird, um Cery zu verletzen oder zu erpressen.«
»Nun … dein Geheimnis ist bei mir sicher. Obwohl, wenn Kallen oder Sonea jemals meine Gedanken lesen sollte …«
»Sonea weiß es. Kallen dagegen …« Anyi runzelte die Stirn, dann zog sie eine Augenbraue hoch und sah Lilia an. »Ich nehme nicht an, dass du Lust hättest, mit mir davonzulaufen? Mit Cerys Hilfe kann ich dich an einen Ort bringen, an dem die Gilde dich niemals finden würde.«
Lilias Herz schlug einen Purzelbaum. »Nein. Es ist verlockend, aber hierzubleiben ist … es ist einfach das Richtige. Früher war es mir nie allzu wichtig, das Richtige zu tun, aber heute sehe ich das anders.«
»Selbst wenn sie dich wieder in den Ausguck sperren? Wie kann das richtig sein? Es wäre eine Verschwendung.«
»Nein.« Lilia schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Gesetz gebrochen und meinen Schwur. Ich habe es aus Dummheit getan, nicht aus Bosheit, aber die anderen Magier müssen sehen, dass ich bestraft werde, damit Novizen wie Naki nicht ebenfalls die Dinge tun, die sie getan hat.« Sie schauderte. »Die Gilde kann es sich eigentlich nicht leisten, Zeit und Magie auf mich zu verschwenden, während sie alle ihre Kräfte benötigt, um Skellin und Lorandra zu finden.«
Aber wenn ich doch fortginge, dachte Lilia plötzlich, könnte ich helfen, Anyi zu beschützen. Und Cery. Ich könnte mich für die Dinge erkenntlich zeigen, die sie für mich getan haben …
Anyi nickte langsam. »Nun, es ist deine Entscheidung.« Sie ergriff Lilias Hand und drückte sie. »Ich hoffe, sie sperren dich nicht ein, denn ich mag dich inzwischen recht gern. Ich würde mich freuen, wenn ich dich wiedersehen könnte.«
Lilia lächelte dankbar. »Mir geht es genauso.«
Ein Klopfen an der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Anyi ließ Lilias Hand los und stand gerade in dem Moment auf, als Sonea eintrat.
»Entschuldigt die Störung«, sagte Sonea und sah Anyi an. »Ich habe gerade eine ziemlich rätselhafte Nachricht von Cery erhalten.« Sie reichte der jungen Frau einen kleinen Zettel. »Ich denke, er möchte, dass du zurückkehrst.«
Anyi las die Notiz und nickte. »Er will, dass ich unterwegs ein paar süße Brötchen besorge.« Anyi drehte sich wieder zu Lilia um und lächelte. »Viel Glück.«
Zu Lilias Erheiterung winkte Sonea und führte sie in ein kleines Schlafzimmer. Dann schloss sie die Tür.
»Hier werdet Ihr schlafen«, erklärte Sonea. Sie beugte sich zur Tür vor, offensichtlich um zu lauschen. »Cery nimmt immer einen anderen Weg als den Flur, um in den Raum zu gelangen, und ich vermute, Anyi hat dieselbe Methode benutzt«, fuhr sie fort. »Ich will nicht wissen, wie, für den Fall, dass jemals jemand meine Gedanken lesen sollte.«
Lilia hörte einen dumpfen Aufprall. Dies musste ein Signal gewesen sein, da Sonea die Klinke drehte und die Tür öffnete. Das Gästezimmer war jetzt leer.
Sonea schaute Lilia an. »Geht es Euch gut?«
»Ja.« Lilia nickte. Obwohl die Nachricht über Nakis Hinrichtung ein Schock gewesen war, fühlte sie sich besser, als sie erwartet hatte. Sie war nicht glücklich, akzeptierte jedoch den Gang der Dinge und hoffte, dass die Zukunft besser sein würde.
»Mir geht es gut«, sagte sie. »Danke. Danke, dass Ihr mir erlaubt, hier zu wohnen.«
Sonea lächelte. »Hoffentlich werden wir bald ein dauerhafteres Zuhause für Euch haben. In der Zwischenzeit macht es Euch hier bequem.«
Lorkin fuhr jäh aus dem Schlaf hoch.
Er schaute sich um und erkannte im schwachen Licht des Wageninneren seine »Retter« und Mitreisenden. Alle schliefen. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Die drei Meister hatten ihn bedrängt, Geschichten aus seiner Zeit bei den Verräterinnen zu erzählen, seit er sich ihnen angeschlossen hatte. Er hatte sich geweigert, sich selbst zu den nichtigsten Einzelheiten des Lebens der Verräterinnen zu äußern, und erklärt, er wage es nicht, irgendetwas zu sagen, bevor Botschafter Dannyl es ihm erlaubte. Glücklicherweise gingen ihre fortgesetzten Versuche, Informationen aus ihm herauszuholen, eher auf eine Art sportlichen Ehrgeiz zurück als auf das ernsthafte Verlangen, etwas Wichtiges zu finden. Sein Schweigen zu dem Thema war eine Herausforderung für sie, aber sie wollten nicht den Tadel jener riskieren, die weiter oben in der sachakanischen Hierarchie standen – und vor allem wollten sie den König nicht verärgern.
Die drei Männer waren entschlossen, Lorkin so schnell wie möglich nach Arvice zu bringen. Lorkin hoffte, dass ihr Motiv in dem Wunsch bestand, diejenigen zu sein, die die Anerkennung für seine Rettung und sichere Rückkehr einheimsten; dieses Motiv war ihm lieber als die andere Möglichkeit: dass sie erwarteten, dass der König Lorkin so schnell wie möglich in die Hände bekommen wollte, um ihn auszuhorchen. Meister Akami hatte den Sklaven befohlen, die Kutsche im höchsten Tempo zu fahren, das möglich war, ohne die Pferde zu ruinieren, und bei den Besitzen entlang des Weges Halt zu machen, um die Pferde gegen frische auszutauschen. Die Sklaven fuhren abwechselnd, wobei sich jene, die sich ausruhten, an den Außensitz am hinteren Teil der Kutsche banden, damit sie nicht herunterfielen, wenn sie einnickten.
Im Wagen hatte sich ein unangenehmer Geruch ausgebreitet, was nicht besser wurde durch den Gestank der Jägerkleider, die Lorkin trug. Sie hatten darauf bestanden, dass er den Kapuzenumhang wegwarf, aber als sie ihm typische sachakanische Gewänder anboten, hatte er dankend abgelehnt mit der Begründung, es sei passender, wenn seine nächsten frischen Kleider Gilderoben sein würden.
Als Lorkin nun aus dem Kutschenfenster schaute, sah er, dass das Land draußen in ein helles Licht getaucht war. Es beleuchtete Mauern zu beiden Seiten der Straße, und das konnte nur eines bedeuten.
Arvice! Wir haben die Stadt erreicht! In nur zwei Tagen und Nächten.
Es schien unglaublich, wenn man bedachte, wie lange er gebraucht hatte, um von der Stadt in die Berge zu kommen, aber er und Tyvara waren zu Fuß unterwegs gewesen, nicht in Kutschen, die im größtmöglichen Tempo fuhren und frische Pferde bekamen, wann immer die alten Tiere müde waren.
»Wir sind zurück«, sagte jemand. Lorkin schaute auf und stellte fest, dass Meister Akami wach war. Der junge Mann streckte Arme und Beine aus und gähnte gleichzeitig. Dann lächelte er, klopfte ans Dach der Kutsche und rief: »Zum Palast!«
Ein Schauder überlief Lorkin. »Direkt zum Palast?«, fragte er.
Akami nickte. »Wir sollten Euch so bald wie möglich abliefern.«
»Aber … ich habe darum gebeten, zum Gildehaus gebracht zu werden. Es wäre besser, wenn ich baden und Roben anziehen könnte, bevor ich mich dem König präsentiere.« Lorkin verzog das Gesicht. »Es ist noch früh, und wenn ich der König wäre, würde ich nicht im Morgengrauen geweckt werden wollen, nur um von einem verdreckten kyralischen Magier begrüßt zu werden.«
Akami runzelte die Stirn, während er darüber nachdachte.
»Er hat recht.«
Lorkin drehte sich um und stellte fest, dass auch Meister Chatiko jetzt wach war. Der Mann rieb sich die Augen. »Man wird den Palast über die Rückkehr von Lord Lorkin verständigen müssen, aber er braucht nicht dort herumzulungern, bis der König auftaucht.« Chatiko gähnte. »Und wahrscheinlich würden alle ihre Zeit verschwenden, da Lord Lorkin vermutlich verpflichtet ist, sich mit dem Botschafter zu beraten, bevor er mit dem König spricht.«
Akami blickte nachdenklich drein. Er stieß Meister Voriko mit dem Fuß an, und der dritte junge Meister tauchte widerstrebend aus dem Schlaf auf.
»Was denkst du, Vori? Bringen wir Lorkin zum Palast oder zum Gildehaus?«
Voriko musste dreimal gefragt werden, bevor er wach genug war, um zu verstehen. Er schaute zwischen Lorkin und Akami hin und her, wobei er die Augenbrauen hochzog, als hielte er seinen Freund für einen Idioten.
»Wir bringen ihn natürlich zum Gildehaus. Sie werden ihn in seinem Zustand gar nicht erst in den Palast hineinlassen. Vielleicht würden sie ihn nicht einmal erkennen.«
Akami zuckte die Achseln, dann nickte er. Er klopfte erneut ans Dach. »Bringt uns zum Gildehaus.«
Als die Kutsche wendete, konnte Lorkin einen Blick auf die Kreuzung werfen, auf die sie zugefahren waren. Die Bäume und Blumen waren vertraut. Es war die Prachtstraße, die direkt zum Palast führte. Das war knapp.
Er hoffte, dass er nicht allzu erleichtert wirkte.
Eine stille Wartezeit folgte, in der alle außer Lorkin und Akami wieder einschliefen. Als die Kutsche endlich das Tor des Gildehauses passierte, stieß Lorkin einen – wie er hoffte, stummen – Seufzer der Erleichterung aus.
»Da wären wir, Lord Lorkin«, sagte Akami, bevor er den Wagenschlag mit Magie öffnete. Die anderen erwachten und richteten sich auf. »Willkommen daheim.«
»Danke«, erwiderte Lorkin. »Und danke, dass Ihr mich hergebracht habt.«
Akami lächelte und tätschelte Lorkin die Schulter, der bereits aus der Kutsche stieg. »Wir werden im Palast Bescheid geben, dass Ihr zurück seid.«
Lorkin drehte sich um und schaute der abfahrenden Kutsche nach. Die Sklaven des Gildehauses schoben die Tore hinter der Kutsche zu. Als er sich umwandte, sah er zwei Sklaven mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Einer war der Türsklave. Er erinnerte sich an den Mann.
»Steht auf«, befahl er.
Die beiden Sklaven erhoben sich, hielten den Blick jedoch gesenkt. Er verspürte lange vergessenen Abscheu und Ärger über ihre Situation, gefolgt von Neugier. War einer dieser Männer vielleicht ein Spion der Verräterinnen?
»Ich bin Lord Lorkin, Botschafter Dannyls Assistent«, sagte er. »Bringt mich zu Botschafter Dannyl.«
»Botschafter Dannyl ist nicht hier«, sagte der Türsklave.
»Oh. Nun. Bringt mich hinein. Ich würde mich gern waschen und saubere Roben anziehen.«
Der Türsklave winkte und ging auf das Gildehaus zu. Lorkin folgte ihm. Beim Anblick des Herrenzimmers und der sanft gekrümmten Wände bemächtigten sich seiner machtvolle, sentimentale Empfindungen.
Ich habe es geschafft. Ich bin endlich wieder dort, wo alles begonnen hat.
Der Mann, der ihn durchs Haus geführt hatte, blieb stehen, um mit einer Sklavin zu flüstern. Sie nickte und eilte davon. Eine weniger angenehme Erinnerung setzte ihm zu, als der Türsklave ihn in seine alten Räume führte: die Erinnerung an eine tote Frau, die nackt auf seinem Bett lag. Dieser Raum war dunkel. Der Sklave führte ihn zu einem anderen Schlafzimmer in dieser Gruppe von Räumen, dann warf er sich zu Boden. Lorkin schickte ihn weg.
Er schuf eine Lichtkugel, schaute sich um und nickte. Es war sehr rücksichtsvoll von dem Sklaven gewesen, einen anderen Raum auszuwählen.
Die Sklavin kehrte mit einer großen Wasserschüssel und einigen Handtüchern zurück, dann ging sie wieder. Eine weitere Sklavin brachte frische Roben. Lorkin erwärmte das Wasser mit Magie, dann streifte er das Jägergewand ab und begann sich zu waschen.
Ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tür. Er erwartete einen weiteren Sklaven, aber stattdessen fand er sich einer Frau in grünen Roben gegenüber. Sie starrte ihn mit dem gleichen Erstaunen und einer Spur Feindseligkeit an.
Dann begriff er, wer sie sein musste.
»Ihr seid meine Nachfolgerin«, rief er aus. Eine weibliche Assistentin? Hier in Sachaka? Sofort verspürte er Bewunderung für ihren Mut, sich freiwillig für eine solche Aufgabe zu melden.
Sie blinzelte, dann dämmerte ihr die Erkenntnis. »Lord Lorkin! Ihr seid zurück!«
Er nickte. »Ja. Wo ist Botschafter Dannyl?«
Sie verdrehte die Augen. »In Duna, wo er sich damit amüsiert, die Einheimischen kennenzulernen. Er hat mich ganz allein zurückgelassen, damit ich mich um alle anfallenden Dinge kümmere.« Sie senkte den Blick auf die Jägerhose, dann schaute sie ihm wieder ins Gesicht. »Wie zum Beispiel um Euch.«
Duna! Es könnte Wochen dauern, bis er zurückkommt. Was werde ich tun, wenn der König mich vor Dannyls Rückkehr rufen lässt?
»Ich heiße übrigens Merria«, sagte sie und lächelte. »Ich lasse Euch jetzt allein, damit Ihr Euch ankleiden könnt. Wenn Ihr fertig seid, schickt einen der Sklaven zu mir. Ich werde im Herrenzimmer sein. Wir sollten uns besser überlegen, was wir tun wollen. Braucht Ihr zuerst ein wenig Schlaf?«
»Nein, aber etwas zu essen wäre schön.«
Sie nickte. »Ich werde dafür sorgen.«
Dannyl, der gerade aus einem Nickerchen erwacht war, blickte sich in der Kajüte um. Von Tayends Bett kam ein leises Schnarchen. Das Stampfen und Rollen des Schiffes war immer noch sehr deutlich, aber es hatte jetzt schon vor einiger Zeit aufgehört, in allen Fugen zu beben und zu ächzen. Dannyl hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Mehr als nur einige wenige Tage, vermutete er.
Er hörte schwere Schritte, dann wurde ihm bewusst, dass dies das Geräusch war, das ihn geweckt hatte. Die Tür der Kajüte wurde geöffnet. Achati hielt auf der Türschwelle inne, dann ließ er den Rahmen los, taumelte vorwärts und hielt sich an der Kante seines Bettes fest. Er kroch hinein und ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf die Matratze fallen.
Dannyl erhob sich aus dem Sessel und ging auf den Sachakaner zu. »Ist alles in Ordnung mit Euch?«, erkundigte er sich.
Achati stöhnte, dann seufzte er. »Ja. Nur … müde.« Mit Mühe rollte er sich auf den Rücken. »Der Sturm ist weitergezogen. Seht es Euch auf Deck an, wenn Ihr wollt.«
Dannyl, der sich ein Kichern verkniff, verließ die Kajüte durch die offene Tür und zog sie hinter sich zu. Dann ging er die kurze, steile Treppe zum Oberdeck hinauf und trat durch die Luke ins Sonnenlicht.
Die wenigen Sklaven, die noch auf Deck waren, standen mit herabgesunkenen Schultern da und hielten sich an Seilen oder an der Reling fest, als seien sie zu schwach, um ihr eigenes Gewicht zu tragen. Der Kapitän schaute zu, während ein anderer Sklave das Steuerrad hielt, und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Als der Mann Dannyls Blick auffing, nickte er. Dannyl erwiderte die Geste. Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen des Kapitäns, dann verschwand es wieder.
Während Dannyl sich auf dem Schiff umschaute, konnte er keine Spuren von irgendwelchen Schäden entdecken. Er hob den Blick und sah, dass der Himmel im Südosten dunkel von Wolken war. Der Sturm, vermutete er, der über sie hinweggezogen war.
Aufgrund der Position der Sonne ging er davon aus, dass es mitten am Nachmittag war. Rechts von ihm war die Küste zu sehen. Ein Land ohne besondere Merkmale, das zur See hin ein flaches, von den Wellen schon sehr mitgenommenes Kliff begrenzte. Nachdenklich schätzte er die Höhe der Klippe ab. Auf der Reise nach Norden war ihm aufgefallen, dass die Klippen stetig höher geworden waren. Wenn er etwas entdeckt hätte, das ihm als Maßstab ihrer Größe hätte dienen können, wäre es ihm möglich gewesen, ihre Entfernung von Arvice grob zu schätzen.
»Sind wir schon da?«
Überrascht drehte Dannyl sich um und sah Tayend durch die Luke aufs Deck treten. Der Elyner wirkte müde und krank, aber nicht so müde wie Achati und nicht so krank, wie er es gewesen wäre, hätte Dannyl seit ihrem Aufbruch aus Duna seine Seekrankheit nicht mit Magie geheilt.
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Dannyl.
»Achati schläft.« Tayend trat neben Dannyl und schaute sich um. »Der Sturm ist weitergezogen.«
Seine Beobachtungen schienen keiner Antwort zu bedürfen, daher sagte Dannyl nichts darauf. Sie starrten aufs Meer. In behaglichem, freundschaftlichem Schweigen, dachte Dannyl, aber er stellte fest, dass er, je länger ihr Schweigen währte, sich Tayends Anwesenheit deutlicher bewusst wurde.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er schließlich.
»Gar nicht so schlecht.« Tayend zuckte die Achseln. »Ich werde wahrscheinlich bald etwas von diesem Heilmittel einnehmen.«
»Das brauchst du nicht«, versicherte ihm Dannyl.
»Nein, ist schon gut. Ich könnte ein wenig Schlaf gebrauchen.«
Dannyl nickte. »Also, hat dir die Reise Spaß gemacht?«
Tayend antwortete nicht, und als Dannyl sich umwandte, um ihn anzuschauen, sah er, dass der Elyner nachdenklich die Lippen geschürzt hatte.
»Ja und nein«, erwiderte Tayend. »Ich bin ein wenig enttäuscht, weil ich einen so großen Teil der Zeit unter Drogen gestanden habe. Als wir nach Duna kamen, war es besser, obwohl dieser Ritt den Canyon hinauf ziemlich beängstigend war. Die Stämme waren interessant, aber wir sind nur für einen Tag dort geblieben, und sie haben nur mit dir gesprochen.«
Dannyl seufzte. »Das tut mir leid.«
»Oh, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war nicht deine Entscheidung.«
Sie verfielen wieder in Schweigen. Tayend drehte sich im Kreis, betrachtete das Schiff und hielt nach der Küste Ausschau. Er blieb stehen und wandte sich zu Dannyl um.
»Und du?«, fragte er. »Bist du zu irgendeiner Entscheidung gelangt?«
In seiner Frage lag ein anklagender Unterton. Dannyl runzelte die Stirn. Der Blick des Elyners war scharf und ruhig. Obwohl Dannyl wusste, dass Tayend sehr viel klüger war, als man das aus seinem Benehmen häufig schließen konnte, stellte er plötzlich fest, dass sein ehemaliger Geliebter wie ein vollkommen anderer Mensch wirkte. Ein älterer Mensch, dachte er. Ein reiferer Mensch.
»Ich weiß es, Dannyl«, sagte Tayend mit leiser Stimme. »Ihr zwei seid definitiv mehr als … Freunde. Denkst du, ich würde es nicht merken können, nachdem ich so lange mit dir zusammengelebt habe?«
Dannyl wandte den Blick ab, aber nicht um Schuldgefühle zu verbergen, begriff er. Er wollte es vermeiden, Tayend zornig anzufunkeln.
Er widerstand dem Drang, zu dem Kapitän hinaufzuschauen oder zu den Sklaven, um festzustellen, ob irgendjemand etwas gehört hatte. Stattdessen schuf er eine Barriere um sie beide herum, die keinen Laut nach außen dringen ließ.
»Es ist nichts passiert.«
Tayend rümpfte angewidert die Nase. »Nein?«, sagte er. Dannyl hielt seinem Blick stand. Tayends Augen wurden schmal, dann lächelte er dünn. »Ah, gut. Dann habe ich es also geschafft, einen Teil deiner Dummheiten zu verhindern.«
»Du hast uns also auseinandergehalten?«, entgegnete Dannyl anklagend. »Ich dachte, du würdest vielleicht eifersüchtig sein, aber das ist ja wohl …«
»Mit Eifersucht hat das nicht das Geringste zu tun«, zischte Tayend. »Er ist ein Sachakaner. Ein Ashaki. Ein Schwarzmagier.«
»Du denkst, mir wäre das nicht aufgefallen?«, erwiderte er.
»Offenbar nicht«, sagte Tayend mit ernster Miene. »Denn anderenfalls müsste ich drei Möglichkeiten in Erwägung ziehen: Entweder bist du senil geworden, oder du bist blind vor Liebe, oder du bist zum Verräter geworden. Für die ersten beiden Möglichkeiten habe ich keine Beweise, was mich als Botschafter in eine heikle Situation bringt.«
»Ich werde nicht zum Verräter«, entgegnete Dannyl. »Soweit ich weiß, ist es kein Akt des Verrats, einen fremdländischen Geliebten zu haben, denn anderenfalls hätte ich nie das Bett mit dir geteilt.«
Tayend verschränkte die Arme vor der Brust. »Das hier ist etwas anderes. Unsere Länder sind Verbündete. Sachaka ist …«
Als Tayend den Satz nicht beendete, zog Dannyl die Augenbrauen hoch. »Der Feind? Es wird immer unser Feind sein, wenn wir niemals aufhören, es als solchen zu behandeln.«
»Es wird niemals unser Verbündeter sein, solange Sachakaner wie Achati Sklaven halten und schwarze Magie benutzen.« Tayends Augen wurden schmal. »Erzähl mir nicht, dass du deine Position auch in diesen Punkten verändert hast.«
Dannyl schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Gut. Denn ich behalte dich im Auge, Botschafter Dannyl. Sobald du dich in einen Sachakaner verwandelst, werde ich es wissen.« Tayend wandte sich ab und ging zurück zur Luke, so dass Dannyl gezwungen war, seinen schallschluckenden Schild rasch zu senken. »Jetzt werde ich ein wenig schlafen.«
Als die Luke sich schloss, wandte Dannyl sich ab, um wieder aufs Meer hinauszublicken.
Mich in einen Sachakaner verwandeln. Wie lächerlich.
Aber wie es ihm so oft mit Tayend geschah, spürte er, dass ein kleiner Same des Zweifels Wurzeln schlug. Was, wenn er es wirklich tat? War Achati der Grund? Oder lag es einfach daran, dass er sich allzu sehr an die sachakanischen Sitten und Gepflogenheiten gewöhnte?
Wenn das so ist, dann besteht kein Grund zur Sorge. Sobald wir wieder im Gildehaus sind, wird Normalität einkehren.
Die meisten Novizen bekommen diesen Raum niemals zu sehen, dachte Lilia, während sie Schwarzmagierin Sonea in Administrator Osens Büro folgte. Ich habe ihn öfter gesehen, als ich es jemals wollte.
Der Administrator saß hinter seinem Schreibtisch, und Schwarzmagier Kallen hatte auf einem der Stühle für Gäste Platz genommen, aber als sie und Sonea eintraten, standen beide Männer auf. Ein dritter Magier, verborgen hinter der Rückenlehne des Stuhls, auf dem er saß, erhob sich. Zu ihrer Überraschung war es Universitätsdirektor Jerrik.
»Lilia«, sagte Osen, als er um seinen Schreibtisch herumging und auf sie zukam. »Wie fühlt Ihr Euch?«
Sie blinzelte ihn an, ein wenig überrascht angesichts einer solch höflichen Frage.
»Mir geht es gut, Administrator Osen«, erwiderte sie. Ich bin es müde, darauf zu warten zu erfahren, ob ich wieder eingesperrt werde, fügte sie im Stillen hinzu.
»Das freut mich«, sagte er. »Wie Ihr wisst, haben wir darüber gesprochen, was mit Euch geschehen soll. Ich bin glücklich, Euch berichten zu können, dass wir zu einer Entscheidung gelangt sind und dass der König sie gebilligt hat.« Er lächelte. »Ihr dürft in die Gilde zurückkehren und Eure Ausbildung vollenden.«
Sie sah ihn ungläubig an, dann sprang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Danke.«
Seine Miene wurde ernst. »Das Angebot ist jedoch mit einigen Bedingungen verbunden. Ihr werdet das Gelübde der Novizen noch einmal ablegen müssen.«
Lilia nickte zum Zeichen, dass sie dazu bereit war.
»Es wird Euch nicht gestattet sein, das Gelände der Gilde zu verlassen, es sei denn, Ihr hättet die Erlaubnis von mir persönlich, dem Hohen Lord Balkan, Schwarzmagier Kallen oder Schwarzmagierin Sonea«, fuhr Osen fort. »Es wird Euch nicht gestattet sein, schwarze Magie zu benutzen, es sei denn, der König würde irgendwann in Zukunft zustimmen, dass Ihr die Position einer Schwarzmagierin einnehmt. Um Euch als eine Person zu identifizieren, die sich auf schwarze Magie versteht, werdet Ihr ein schwarzes Band an den Ärmeln Eurer Roben tragen.«
Lilia nickte abermals und hoffte, dass man ihr ihre Enttäuschung nicht anmerkte. Seit sie mit Anyi gesprochen und von der Gefahr gehört hatte, die ihr und ihrem Vater von Skellin drohte, hatte Lilia gehofft, eine Möglichkeit finden zu können, ihr zu helfen. Wenn sie das Gelände der Gilde nicht verlassen durfte, wie konnte sie das dann tun?
»Wegen Eurer Kenntnisse der schwarzen Magie werdet Ihr nicht an Lektionen teilnehmen können, die eine Verbindung von Geistern verlangen. In diesen Situationen wird Schwarzmagier Kallen oder Schwarzmagierin Sonea Euch die Lektion erteilen.«
Sie versuchte, bei dem Gedanken an weitere geistige Verbindungen zu diesen beiden Magiern nicht zusammenzu-zucken. Aber eine Gedankenlesung ist etwas ganz anderes als die von Geist zu Geist erteilten Lektionen, die ich in der Vergangenheit hatte. Trotzdem … ich hoffe, Sonea ist diejenige, die mich unterrichtet. Kallen ist so streng und missbilligend.
»Kallen hat sich erboten, Euer Mentor zu werden. Wir denken, dass ein Mentor in Eurem Fall den Leuten klarmachen wird, dass wir Euch fest in der Hand haben.« Osens Tonfall klang beinahe unbeschwert, als er das sagte. »Da wir Proteste von den Eltern erwarten, wenn Ihr in den Novizenquartieren bleibt, werdet Ihr weiterhin in Schwarzmagierin Soneas Räumen wohnen.«
Lilia unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, sie würde vielleicht bei Kallen wohnen müssen, aber jetzt, da sie darüber nachdachte, wusste sie, dass es als unpassend für eine junge Frau erachtet werden würde, im Quartier eines ledigen Mannes zu leben, ganz gleich wie groß der Altersunterschied zwischen ihnen sein mochte.
»Akzeptiert Ihr diese Bedingungen?«, fragte Osen.
»Ja«, erwiderte sie und nickte abermals.
»Dann schwört es.«
Sie hielt inne, als sie begriff, dass er von ihr erwartete, dass sie sich an das Gelübde der Novizen erinnerte. Zu ihrer Überraschung fielen ihr die Worte mühelos wieder ein.
»Ich schwöre, dass ich niemals einem anderen Mann oder einer anderen Frau Schaden zufügen werde, es sei denn, zur Verteidigung der Verbündeten Länder«, sagte sie. »Ich werde die Regeln der Gilde befolgen. Ich werde den Befehlen jedes Magiers der Gilde gehorchen, es sei denn, ich müsste zu diesem Zweck ein Gesetz brechen. Ich werde niemals Magie benutzen, es sei denn, ein Gildemagier fordert mich dazu auf.«
Osen lächelte anerkennend. Dann wandte er sich an Direktor Jerrik und nickte ihm zu. Der Mann ging zu dem Stuhl zurück, auf dem er gesessen hatte, und hob etwas auf. Als er zurückkam, hielt er es Lilia hin.
Es war ein Bündel Novizenroben. Dankbarkeit überspülte sie wie eine warme Welle. Zu ihrer Verlegenheit spürte sie in den Augenwinkeln das Brennen von Tränen.
»Danke«, krächzte sie.
Osen legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. »Willkommen zurück.«
Die anderen Magier murmelten dieselben Worte. Lilia war so überwältigt, dass sie nicht sprechen konnte. Sie spürte Soneas Hand auf ihrem Arm.
»Ich denke, das war es.« Sie sah die anderen an, die nickten. »Lasst uns in Euer Zimmer zurückkehren, damit Ihr Euch umziehen könnt.«
In stummer Dankbarkeit ließ Lilia sich von der Frau aus dem Raum führen und zurück in ein Leben als Gildemagierin. Obwohl meine Kenntnisse der schwarzen Magie bedeuten, dass ich immer unter größeren Auflagen stehen werde als die meisten anderen Magier, dachte sie. Das ist erheblich besser, als eingesperrt zu sein. Oder tot.
Und vielleicht konnte sie irgendwie trotzdem eine Möglichkeit finden, Anyi zu helfen.
Als die Kutsche vor dem Nebeneingang des Hospitals anhielt, schob Sonea ein nagendes Widerstreben beiseite und stieg aus. Sie lächelte und nickte den Heilern und den Helfern zu, die sie begrüßten, beantwortete Fragen und erkundigte sich, was sie seit ihrem letzten Besuch dort verpasst habe.
Ihre Freundlichkeit machte sie glücklich, und sie war einmal mehr dankbar dafür, dass man ihr nicht die Aufgabe gegeben hatte, Naki hinzurichten. Sie ging zur Tür des Behandlungszimmer, nahm all ihre Entschlossenheit zusammen und klopfte an.
Die Tür schwang nach innen auf. Dorrien winkte sie lächelnd herein. Sie ging durch den Raum und setzte sich.
»Warum der ernste Blick?«, fragte er.
Sie holte Luft, um zu antworten, dann geriet ihr Mut ins Wanken. Wir sollten ein wenig plaudern, bevor ich ihm die schlechten Neuigkeiten überbringe.
»Ich habe mich gefragt, wie die Leute reagieren würden, hätte man mich zu Nakis Henker bestimmt«, sagte sie.
Er bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Ernste Gedanken, in der Tat.« Während er überlegte, schaute er sie nicht an. »Ich glaube nicht, dass sie es dir übelgenommen hätten.«
»Aber sie hätten zwangsläufig daran gedacht, wenn ich in der Nähe gewesen wäre. Sie hätten mich noch mehr gefürchtet.«
»Dich gefürchtet? Sie fürchten dich nicht«, sagte er.
Sie sah ihn ungläubig an. Er erwiderte ihren Blick, dann schüttelte er den Kopf.
»Du schüchterst sie ein, Sonea. Das ist etwas anderes. Sie haben Angst vor schwarzer Magie, aber sie haben nicht Angst vor dir. Du hast ihnen bewiesen, dass schwarze Magie einen Menschen nicht zum Mörder macht.«
»Ich habe sie benutzt, um zu töten«, bemerkte sie.
Er breitete die Arme aus. »Das ist etwas anderes. Du hast es zur Verteidigung Kyralias getan. Sie würden an deiner Stelle das Gleiche tun.«
Sie sah ihn nicht an. »Ich habe auch magische Heilkunst benutzt, um zu töten. Das kommt mir noch viel schlimmer vor.« Sie blickte sich im Raum um. »Ich bin eine Heilerin. Ich soll Menschen gesund machen, nicht töten. Wenn ich Naki hätte hinrichten müssen, denke ich, wäre es den Menschen schwergefallen, diese beiden Dinge miteinander in Einklang zu bringen.«
Dorriens Kiefermuskeln verspannten sich. »Sie hat mit Absicht schwarze Magie gelernt und zu ihrem eigenen Nutzen damit getötet.«
Sonea zuckte die Achseln. »Trotzdem, ich glaube, es hätte die Art, wie die Menschen mich sehen, verändert. Ich habe nie eine Chance gehabt, eine Disziplin zu wählen. Ich hätte mich dafür entschieden, Heilerin zu werden. Ich arbeite als Heilerin, aber ich darf niemals die grünen Roben tragen. Ich bin eine Schwarzmagierin. Obwohl ich nicht zögern würde, Kyralia abermals zu verteidigen, habe ich diese Rolle nicht gewählt.«
Er lächelte schief. »Ich ziehe es vor zu denken, dass die Heilkunst mich erwählt hat.«
Sie nickte. »Und mich ebenfalls, obwohl du da auch ein starker Einfluss warst.«
Sie musterten einander voller Zuneigung. Vielleicht mit zu viel Zuneigung in Dorriens Fall. Sie nahm ihren Mut und ihre Entschlossenheit zusammen. Es wird Zeit, dem hier ein Ende zu machen.
»Dorrien, ich habe viel über … uns … nachgedacht.«
»Es gibt kein ›uns‹, oder?«, fragte er.
Sie sah ihn überrascht an. Er lächelte hohl.
»Vater ist zu mir gekommen. Er hat mir die guten Neuigkeiten überbracht. Tylia wird sich den Novizen anschließen, die im Winter der Gilde beitreten. Kallen wird wahrscheinlich die Suche nach Skellin übernehmen. ›Warum kehrst du nicht in dein Dorf zurück?‹, hat er vorgeschlagen.«
Sonea starrte ihn an. »Kallen wird die Suche nach Skellin übernehmen?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Das hast du nicht gewusst? Vater hat nicht gesagt, dass es mit Gewissheit feststeht.«
»Nein.« Sie widerstand dem Drang, von ihrem Stuhl aufzuspringen und direkt in Osens Büro zurückzumarschieren. Es sei denn … Rothen könnte das erfunden haben, damit Dorrien keinen weiteren Vorwand mehr hat, in Imardin zu bleiben. Aber das schien etwas weit zu gehen. Vielleicht … Ich habe ihm nie von Dorriens Vernarrtheit in mich erzählt, aber hat er es möglicherweise erraten? Sie sah Dorrien wieder an.
Erneut lächelte er schwach. »Er mag alt sein, aber es ist immer noch sehr schwierig, Geheimnisse vor ihm zu verbergen.«
Sie bewegte sich auf ihrem Stuhl und schob ihre Verärgerung beiseite. »Ich habe ihn nur gebeten festzustellen, ob Tylia nicht schon im Winter beitreten könnte.«
»Warum?«
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Damit du frei wärst, nach Hause zurückzukehren, falls die Zusammenarbeit mit mir für dich unerträglich werden sollte, nachdem ich dir gesagt habe, dass … nun … dass es kein ›uns‹ geben wird.«
Er zuckte zusammen. Sie konnte erkennen, dass er versuchte, diese Regung zu unterdrücken, doch ohne Erfolg. »Warum kann es das nicht geben?«
»Weil du verheiratet bist. Weil mir zwar die Idee an ein ›uns‹ gefällt, sie mir aber nicht so gut gefällt, dass ich Alina und deinen Töchtern wehtun würde. Und weil ich die Achtung vor dir verlieren würde, wenn du ihnen wehtun würdest. Und die Achtung vor mir selbst.«
Er senkte den Blick. »Ich verstehe. Vater sagte auch etwas in der Art. Er hat außerdem darauf hingewiesen, dass meine Beziehung zu Alina sich erst so verschlechtert hat, nachdem wir nach Imardin gekommen sind.« Er seufzte. »Ich war bereit, es mit dem Leben in der Stadt zu versuchen. Sie nicht.« Er brachte ein schuldbewusstes Lächeln zustande. »Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass mir durchaus etwas an ihr liegt?«
Ein Stich der Zuneigung zu ihm durchzuckte sie. »Das würde ich.«
Er nickte. »Ich muss es versuchen. Das ist nur gerecht. Wir waren schon früher unterschiedlicher Meinung, aber wir haben es immer überwunden.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein Jammer, dass sie so eifersüchtig auf dich war. Sie ist für gewöhnlich so nett zu den Menschen.«
Sonea zuckte die Achseln. »Ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen. Auch wenn sie nicht so scharfsichtig ist wie Rothen, müsste sie immer noch all diese schwarze Magie und meinen Ruf als Mörderin übersehen können.«
Dorrien drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Lass das. Vergiss nicht, du bist das, was zu sein du dich entschieden hast. Deine Roben mögen schwarz sein, aber du hast das Herz einer Heilerin.«
Sonea senkte den Blick und zuckte erneut die Achseln. »Nun, zumindest lassen sie mich größer erscheinen.«
Er lachte leise, dann stand er auf. »Ich sollte wohl besser nach Hause fahren und anfangen, Pläne für unsere Rückkehr ins Dorf zu machen.«
Sonea erhob sich, und sie tauschten die Plätze. »Wann werdet ihr aufbrechen?«
»Einige Wochen nachdem Tylia der Universität beigetreten ist.«
»Denkst du, sie wird sich gut einleben?«
Er nickte. »Sie hat bereits einige Freunde gefunden, sowohl unter den zukünftigen Novizen, die zur gleichen Zeit anfangen werden wie sie, als auch unter denen, die im Sommer an der Universität begonnen haben. Rothen wird ein Auge auf sie halten.«
»Und wir wissen beide, dass er seine Sache ganz hervorragend machen wird.«
Er lächelte. »Das wird er. Gute Nacht, Sonea.«
»Gute Nacht, Dorrien.«
Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, betrachtete Sonea noch eine Weile den verwaisten Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Es war nicht so schmerzhaft gewesen, wie sie befürchtet hatte. Für einen Moment durchzuckte sie ein Stich des Bedauerns. Wenn Dorrien nicht verheiratet gewesen wäre …
Sie schob diesen Gedanken weit von sich, ging zur Tür und öffnete sie; dann winkte sie einem Heiler zu, zum Zeichen, dass sie bereit war, Patienten zu empfangen.
Lorkin schlüpfte in seine Roben, strich den feinen, in einem kräftigen Purpurton gefärbten Stoff glatt und seufzte sowohl vor Dankbarkeit als auch vor Wehmut. Es war seltsam tröstlich, wieder in Roben gekleidet zu sein. Nachdem er in sein neues Zimmer zurückgekehrt war, um ein wenig Schlaf nachzuholen, hatte er sogar, wenn auch nur kurz, erwogen, in ihnen zu schlafen.
Die Jägerkleider hatten so viel mehr gejuckt, und doch fühlte sich die Masse an Tuch unmäßig luxuriös und schwer an nach den schlichten, praktischen Gewändern der Verräterinnen. Er konnte jedoch nicht umhin, die volle, dunkle Farbe auszukosten. Obwohl die Farben, die im Sanktuarium hergestellt wurden, sanfte Töne ergaben und er gelernt hatte, die ästhetische Schönheit in ungefärbtem Stoff zu erkennen, hatte das Purpur der Alchemisten etwas zutiefst Befriedigendes.
Und doch, ich sollte sie nicht tragen. Ich sollte überhaupt keine Roben tragen. Nicht nur weil er durch sein Versprechen gebunden war, in das Sanktuarium und zu Tyvara zurückzukehren, sondern weil er eins der höchsten Gesetze der Gilde gebrochen hatte. Ich habe schwarze Magie erlernt. Selbst wenn sie es über sich bringen könnten, mir das zu verzeihen, würden sie jetzt wahrscheinlich darauf bestehen, dass ich schwarze Roben trage.
Wie und wann er es ihnen erzählen würde, hatte er noch nicht entschieden.
Lorkin ging in den zentralen Raum der Wohnung hinüber; Merria, die darin auf und ab gegangen war, blieb stehen, als sie ihn bemerkte.
»Ah, Lorkin. Ihr seid wach. Gut.« Sie eilte auf ihn zu. »Da ist etwas, das mir erst eingefallen ist, als Ihr schon geschlafen habt. Dies hier.«
Sie hielt ihm einen Ring hin. Ein Blutstein glitzerte in der Fassung. Lorkins Herz machte einen Satz, und er streckte die Hand danach aus.
»Der Blutring meiner Mutter?«
»Ja. Da Botschafter Dannyl Administrator Osens Ring mitgenommen hat, hat er diesen hier zurückgelassen, damit ich mich mit der Gilde in Verbindung setzen kann.« Sie musterte ihn eindringlich. »Ihr werdet ihr erzählen wollen, dass Ihr wieder da seid, aber ich sollte den Ring wahrscheinlich trotzdem behalten. Ist das in Ordnung?«
Er lächelte. »Natürlich. Ich werde sowieso nirgendwo hingehen, bis Dannyl zurück ist.«
Sie wirkte erleichtert. »Das ist gut zu wissen.« Sie sah zuerst den Ring an, dann ihn, und schließlich lächelte sie. »Ich werde Euch jetzt allein lassen.« Sie verließ den Raum.
Lorkin setzte sich, starrte auf den Ring und sammelte seine Gedanken. Dann streifte er ihn über.
– Mutter?
– Lorkin? Lorkin! Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?
– Ja. Alles ist bestens. Kannst du frei reden?
– Natürlich! Warte … ich habe einen Patienten. Ich werde nur …
Eine lange Pause folgte.
– Jetzt bin ich allein. Wo bist du? Kannst du es mir erzählen?
– Ich bin im Gildehaus in Arvice.
– Nicht mehr bei den Verräterinnen?
– Nein. Königin Zarala hat mich hierhergeschickt. Sie hat mich mit einer Art Mission betraut.
– Königin Zarala?
– Von den Verräterinnen.
– Du arbeitest jetzt für sie?
– Ja. Aber sie weiß, dass ich niemals irgendeiner Aufgabe zugestimmt hätte, die eine Gefahr für die Verbündeten Länder bedeutet hätte.
– Wie rücksichtsvoll von ihr.
Er nahm einen Anflug von Missbilligung und Groll im Tonfall seiner Mutter wahr. Er lächelte. Alles andere hätte ihn auch überrascht.
– Wie geht es dir?, fragte er.
– Gut. Während der letzten Tage konnte die Gilde einige Probleme lösen. Ich fürchte, wir haben eine weitere Schwarzmagierin. Zwei Novizinnen ist es gelungen, aus einem Buch schwarze Magie zu erlernen. Eine hat es mit Absicht gelernt und damit getötet und die andere dazu überlistet, es zu lernen, damit man dieses zweite Mädchen für einen der Morde verantwortlich machte. Die erste Novizin wurde gefangen und hingerichtet. Die andere … sie hat sich als so ehrenhaft erwiesen, dass die Gilde und die Universität sie wieder aufgenommen haben, wenn auch unter einigen Vorbehalten.
Bei dieser Mitteilung regte sich eine schwache Hoffnung in Lorkin. Wenn die Gilde einer Novizin das Erlernen von schwarzer Magie verziehen hatte, weil sie sich als ehrenhaft erwiesen hatte, würden sie dann auch ihm verzeihen, dass er es gelernt hatte, um ihnen die Magie zu bringen, mit der sie magische Edelsteine herstellen konnten?
Sie werden ohnehin flexibler werden müssen, was schwarze Magie betrifft, wenn sie die Magie zur Fertigung von Steinen annehmen wollen, rief er sich ins Gedächtnis. Und wenn sie nicht flexibler werden, werde ich ohnehin ins Sanktuarium zurückkehren.
– Hört sich so an, als hättest du aufregende Zeiten hinter dir, sagte er.
– Das meiste weißt du gar nicht. Wir haben außerdem fremdländische wilde Magier in der Stadt, die den größten Teil der Unterwelt beherrschen. Aber diese Geschichte werde ich aufsparen, bis du wieder hier bist.
– Ich freue mich darauf, sie zu hören.
– Also, was ist das für eine Mission, mit der die Königin der Verräterinnen dich betraut hat?
– Ich soll ein Bündnis zwischen den Verräterinnen und den Verbündeten Ländern aushandeln.
Sonea schwieg mehrere Herzschläge lang.
– Ich nehme an, das betrifft nicht den Rest von Sachaka.
– Nein.
– Was wohl bedeutet, dass aufregende Zeiten vor uns liegen.
– Ja.
– Willst du, dass ich Osen und Balkan diese Neuigkeit übermittle?
– Ja. Die Königin hat mich hierhergeschickt, weil die Route zum Pass um diese Jahreszeit nicht sicher ist. Ich vermute, wenn ich versuchen sollte, Arvice zu verlassen, werden die Sachakaner mich aufhalten. Ich sitze hier fest, bis Dannyl zurückkehrt und mir offiziell eine Heimkehr nach Kyralia befiehlt.
– Ich werde mich sofort darum kümmern. Also, was ist der Anlass zu dieser Bereitschaft, ein Bündnis anzustreben? Ich hatte den Eindruck, dass die Verräterinnen zu heimlichtuerisch sind, um eine Verbindung mit der Außenwelt zu wollen.
– Ja und nein. Es hat etwas mit Vater zu tun.
– Ah. Dannyl hat mir ausgerichtet, was du ihm erzählt hast: dass Akkarin ihnen als Gegenleistung für die schwarze Magie etwas versprochen, es ihnen dann aber nicht gegeben hat.
– Er hat versprochen, sie die magische Heilkunst zu lehren, aber er ist in die Gilde zurückgekehrt, weil er alle vor den Ichani warnen wollte. Zarala hat mir einen Blutring gegeben, der ihm gehört hat …
– Oh! Er sagte, er habe drei Blutringe gemacht, aber er hat nie erwähnt, wo der dritte war.
– Sie hat ihn benutzt, um mit ihm Verbindung zu halten. Sie sagte, dass irgendetwas ihn stets daran gehindert habe zurückzukehren, und nach dem Tod ihrer Tochter habe sie aufgehört, den Ring zu benutzen. Eine Krankheit hatte die Verräterinnen befallen und viele von ihnen getötet, und man hat Vater die Schuld daran gegeben, weil sie glaubten, man hätte sie mit Magie heilen und retten können. Das war jedoch nicht alles, worum es bei ihrem Handel ging. Zarala hat Vater versprochen, dass sie noch etwas anderes tun würde, und sie ist gescheitert. Sie hat mir nicht erzählt, was es war, aber es war so geheim, dass sie es nicht einmal ihren Leuten sagen konnte. Sie meinte, dass sie mich jetzt ausschickt, ein Bündnis auszuhandeln, habe etwas mit dem Versuch zu tun, das zu erreichen, was sie versprochen hatte.
Lorkin wartete ab, während seine Mutter all das in sich aufnahm.
– Ich würde diese Frau wirklich gern kennenlernen, sagte sie schließlich. Was nicht das war, womit er gerechnet hatte. Er hatte damit gerechnet, dass sie etwas in der Art sagen würde, dass sein Vater vor ihnen allen Geheimnisse gehabt hatte …
– Hoffentlich kann ich das arrangieren. Sie ist jedoch sehr alt. Ich weiß nicht, ob sie in der Lage sein wird, es zu einem Treffen zu schaffen.
– Alt, sagst du? Also muss sie erheblich älter gewesen sein als Akkarin, als die beiden sich begegnet sind. Kennst du irgendwelche Einzelheiten, was die vorgeschlagenen Bedingungen des Bündnisses betrifft?
– Nein. Das Spionagenetzwerk unter den Sklaven ist bereit, Anweisungen weiterzugeben. Wir lassen sie wissen, ob und wann die Gilde so weit ist, sich mit den Verräterinnen zu treffen, und die Verräterinnen werden einen sicheren Ort auswählen. Aber eines kann ich dir sagen: Ich habe während meiner Zeit dort gelernt, Edelsteine mit magischen Eigenschaften zu fertigen.
– Dannyl hat vor kurzem von diesen Edelsteinen erfahren, als er in Duna war. Er sagte, die Verräterinnen hätten den Duna das Wissen gestohlen. Es wird ihn sehr interessieren, dass sie es dir gegeben haben. Nun, die ganze Gilde wird sich dafür interessieren.
– Du hast von ihm gehört?
– Er hat sich vor einigen Tagen mit Osen in Verbindung gesetzt.
– Er war noch in Duna?
– Ja.
Lorkin murmelte einen Fluch. Dannyl würde viele Tage brauchen, um nach Arvice zurückzukehren.
– Könntest du Osen bitten, Dannyl wissen zu lassen, dass ich hier bin? Und dass er sich beeilen und zurückkommen soll.
– Natürlich. Bieten die Verräterinnen uns für ein Bündnis noch andere Dinge an?
– Nun … die Herstellung von Steinen ist nutzlos, wenn man keinen Vorrat an Edelsteinen hat, und vielleicht beinhaltet sie ein Risiko, das die Gilde nicht einzugehen bereit sein wird. Ich glaube, die Verräterinnen würden es in Erwägung ziehen, Steine gegen irgendetwas einzutauschen. Sie verfügen jetzt über grundlegende Kenntnisse der magischen Heilkunst, aber sie könnten von der Hilfe guter Lehrer profitieren. Sie werden uns vielleicht außerdem Hilfe anbieten, falls Sachaka die Verbündeten Länder jemals wieder angreifen sollte.
– Oh, die Gilde wird begeistert davon sein! Gibt es sonst noch irgendetwas? Ich sollte es ihnen sofort mitteilen.
– Ich glaube nicht. Wenn mir etwas einfällt, werde ich den Ring überstreifen. Und ich werde mich alle paar Stunden bei dir melden, falls die Gilde irgendwelche Fragen hat oder du mit mir sprechen musst.
– Das ist eine gute Idee. Und, Lorkin?
– Ja?
– Ich bin so glücklich, dass du zurück bist. Und ich liebe dich, und ich bin sehr stolz auf dich.
– Noch bin ich nicht zurück, Mutter. Aber … danke. Ich liebe dich auch.
Er nahm den Ring ab und schob ihn in die Tasche. Ihm wurde bewusst, dass er lächelte, obwohl niemand da war, der es sah. Aufregende Zeiten, dachte er. Glücklicherweise habe ich diesen Ring und kann über Mutter Verhandlungen führen, sonst könnte ich, während ich auf Dannyls Rückkehr warte, nichts anderes tun, als zu essen, zu schlafen und mit Merria zu reden.
Nach dem unablässigen Geplapper zu schließen, dass Dannyls neue Assistentin an diesem Morgen von sich gegeben hatte, vermutete er, dass die Heilerin, die mit nur wenig Arbeit und ohne Gesellschaft im Gildehaus festsaß, sich seit Dannyls Fortgang sehr gelangweilt hatte und einsam gewesen war. Obwohl sie zumindest einige Freundinnen unter den Sachakanerinnen gefunden hatte, hatte sie das Gildehaus in Dannyls Abwesenheit nicht verlassen können.
Er musste jedoch zugeben, dass er darauf brannte, nach all dieser Zeit mit einem anderen Gildemagier zu sprechen. Es würde guttun, genauere Berichte über die Ereignisse in Imardin zu erhalten. Und herauszufinden, welche Fortschritte Dannyls Forschungen gemacht hatten, seit Lorkin fortgegangen war – insbesondere in Bezug auf den Lagerstein.
Lilia saß zusammengesunken auf dem Stuhl, betrachtete den Stapel Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch und seufzte.
Sie hatte sich am Morgen mit Universitätsdirektor Jerrik getroffen, vor ihrer ersten Unterrichtsstunde, seit sie schwarze Magie erlernt hatte. Er hatte ihr erklärt, dass er ihre Lehrer befragt und eine Sammlung von Übungen, praktischen Aufgaben und Aufsätzen zusammengetragen habe, die ihr helfen würden, Versäumtes nachzuholen und den Anschluss an ihre Mitschüler zu finden. Da sie die Winterprüfungen versäumt hatte, würde sie auch dafür lernen müssen. Wenn man bedachte, dass sie der Universität nur ein oder zwei Monate ferngeblieben war, schien das eine Menge Arbeit zu sein, und sie musste diese Dinge neben der Arbeit für ihre täglichen Kurse erledigen. In den nächsten Wochen würde sie sehr viel zu tun haben.
Zumindest konnte sie die zusätzlichen Arbeitsstunden in ihrem Zimmer verbringen, das an Soneas Gästezimmer angrenzte. Dort war es still, und die Mätzchen der anderen Novizen würden sie nicht ablenken. Nach dem heutigen Unterricht hatte sie den Verdacht, dass sie dafür noch doppelt dankbar sein würde. Die anderen Novizen hatten sie ignoriert, wenn sie ihr nicht gerade düstere, argwöhnische Blicke zugeworfen hatten. Ihre alten Freunde hatten klargemacht, dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten. Würden sie irgendwann vergessen, was sie getan hatte, oder würden sie ihr weiterhin ihre Missbilligung und Furcht zeigen, vielleicht auf andere, bösartigere Weise?
Ein gedämpfter Aufprall aus dem Gästezimmer ließ sie zusammenzucken. Mit rasendem Herzen stand sie auf und ging zur Tür. Dann legte sie das Ohr dagegen und lauschte eingehend.
Und zuckte zusammen, als jemand laut an die Tür klopfte.
»Lilia? Bist du da?«
Beim Klang der vertrauten Stimme wurde Lilia leichter ums Herz. Sie öffnete die Tür.
»Anyi!«
Das hochgewachsene Mädchen blickte grinsend auf sie herab, dann trat es ein, drehte sich im Kreis und streckte die Arme aus. Lilia lächelte, als sie den langen Mantel aus schwarzer Tierhaut erkannte, den sie Anyi als Dankeschön geschickt hatte. Zu ihrer Erleichterung passte er perfekt. Tatsächlich wirkte Anyi darin noch atemberaubender.
»Ich liebe diesen Mantel«, sagte Anyi.
»Er steht dir«, erwiderte Lilia.
»Ich weiß«, pflichtete Anyi ihr bei und strich über die Ärmel. Lilia lachte über die freudige Eitelkeit der jungen Frau. »Cery sagt, ich soll dir für die Messer danken.«
»Sonea hat mir geholfen, sie auszusuchen.«
Anyi kicherte. »Ja, sie weiß genau, was seinem Geschmack entspricht.« Dann sah sie Lilia gedankenvoll an. »Du weißt doch, dass Sonea und Cery als Kinder befreundet waren, oder?«
Lilia schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wusste, dass sie aus den alten Hüttenvierteln stammt und während der Invasion mit den Dieben zusammengearbeitet hat.«
»Ja, Cery war ihre wichtigste Kontaktperson unter den Dieben. Akkarin hat ihn rekrutiert, um ihm bei der Jagd auf sachakanische Spione zu helfen.«
»Also sind sie über all die Jahre hinweg in Verbindung geblieben?«
Anyi zuckte die Achseln. »Ich schätze, so ist es. Als Cery mir erzählte, wie ich hierherkomme, habe ich ihn gefragt, warum er sich all diese Mühe gemacht habe. Er sagte, dass Sonea bis vor kurzem das Gelände der Gilde nicht verlassen durfte – so wie du jetzt. Die einzigen anderen Orte, die sie aufsuchen durfte, waren die Hospitäler.«
»Was meinst du mit ›all diese Mühe‹?«
Anyi streifte den Mantel ab. »Man muss ein wenig klettern, und anscheinend neigen die Tunnel heutzutage dazu einzustürzen. Er würde etwas dagegen unternehmen, wenn er sich nicht vor Skellin verstecken müsste.« Sie warf den Mantel über die Rückenlehne eines Stuhls, dann zögerte sie und schaute genauer hin. »Verflucht. Die Rückseite ist auf dem Weg nach oben ein wenig zerkratzt worden.«
Lilia setzte sich auf einen der Sessel im Gästezimmer, und Anyi ließ sich auf den daneben fallen. »Sonea hat mir erzählt, sie gehe immer ins Schlafzimmer, wenn Cery aufbricht, damit sie nicht sieht, auf welchem Wege er hereinkommt. Ich nehme an, ich sollte das Gleiche tun, wenn du gehst.«
Anyi nickte. »Er hat mir geraten, so vorzugehen.«
»Klingt so, als hättest du die Absicht, mich regelmäßig zu besuchen.«
»So ist es.« Anyi lächelte. »Wenn du das möchtest.«
Lilia nickte. »Sehr gern sogar. Die Freunde, die ich hier hatte, habe ich verloren. Die anderen in meiner Klasse wollen nicht mit mir reden. Naki ist … fort. Ich denke nicht, dass irgendjemand anders mein Freund sein will …« Sie hob die Arme, um die schwarzen Bänder vorzuzeigen, die auf die Ärmel genäht waren. »Jetzt, da ich schwarze Magie beherrsche. Selbst wenn sie es wollten, würden ihre Eltern es ihnen verbieten. Und wenn sie es trotz allem wollten, müsste ich mir Sorgen machen, welches ihre wahren Absichten sind.«
Anyi sah Lilia mitfühlend an. »Das dürfte hart werden.«
»Es wird auch nicht aufhören, wenn ich meinen Abschluss habe.«
»Zumindest ist Sonea bereit, dir zu vertrauen.« Anyi blickte sich im Raum um. »Sie hat Freunde, hier und außerhalb der Gilde. Selbst wenn andere darin kein gutes Zeichen sehen, solltest du es tun. Du solltest außerdem wissen …« Anyi beugte sich über die Armlehne ihres Sessels und streckte die Hand aus, um Lilias Wange zu berühren.
Überrascht sah Lilia Anyi in die Augen. Die Miene der Frau war nachdenklich und eindringlich. Anyi ließ sich von ihrem Sessel gleiten und kniete sich mit einer anmutigen Bewegung neben Lilia. Sie nahm die Hand dabei nicht von Lilias Wange und löste den Blick nicht von Lilias Gesicht.
»Du solltest auch dies wissen«, sagte sie.
Sie beugte sich vor und küsste Lilia. Es war ein langsamer, gründlicher Kuss. Es war definitiv nicht der Kuss bloßer Freundschaft, und Lilia konnte nicht anders, als entsprechend darauf zu reagieren. Es bestätigte alles, was sie in Bezug auf Anyi geahnt und in Bezug auf sich selbst vermutet hatte. Es war nicht nur Naki, ging es ihr durch den Kopf. Ich bin es – und Anyi ist es. Und es könnten ich und Anyi sein.
Anyi zog sich ein wenig zurück, dann lächelte sie und ließ sich wieder in ihren Sessel sinken. Sie wirkte, überlegte Lilia, ziemlich selbstgefällig.
»Ich weiß, es ist noch zu früh nach Naki«, sagte sie. »Aber ich fand, du solltest es wissen. Für den Fall, dass du Interesse hast.«
Lilia legte eine Hand auf ihr Herz. Es schlug sehr schnell. Sie fühlte sich beschwingt und verwegen. Sie lachte leise in sich hinein, dann sah sie Anyi an.
»Ich habe definitiv Interesse – und es ist nicht zu früh nach Naki.«
Anyis Lächeln wurde breiter, aber dann wandte sie den Blick ab und runzelte die Stirn. »Trotzdem, ich fände es grässlich, wenn Sonea uns erwischen würde …«
»Sie ist bei einer Versammlung und geht anschließend direkt ins Hospital. Nachtschicht. Wird vor morgen früh nicht zurück sein.«
»… oder ihre Diener«, fügte Anyi hinzu. Sie klopfte mit den Fingern auf die Kante des Sessels, dann hielt sie inne und lächelte. »Verrate mir, wie viel weißt du über die Tunnel unter der Gilde?«
»Ich weiß von ihrer Existenz, aber ich habe sie nie gesehen. Niemand darf dort unten sein.«
»Nun, sofern es dir nicht wirklich ernst damit ist, keine Regeln mehr brechen zu wollen, könnte ich dich ein wenig herumführen.«
Lilia betrachtete die Kratzer auf der Rückseite von Anyis Mantel, dann sah sie ihre Freundin an.
»Ich … ich werde darüber nachdenken.«
Sonea setzte sich mit stummer Befriedigung auf den Stuhl, den Osen ihr angeboten hatte. Der Administrator hatte dafür gesorgt, dass weitere Stühle in sein Büro gebracht wurden, und die Diener hatten sie im Kreis vor seinem Schreibtisch aufgestellt. Osen hatte darauf bestanden, dass Kallen nicht länger an der Wand stehen solle, was bedeutete, dass Sonea sich ebenfalls nicht mehr verpflichtet fühlte, stehen zu bleiben.
Jetzt saßen sie und Kallen links und rechts von Osen und Balkan. Die übrigen Höheren Magier hatten sich, wie Sonea bemerkte, nicht in einer bestimmten Rangfolge platziert. Im Allgemeinen scharten sich die Oberhäupter der Disziplinen umeinander. Sie erwartete jedoch, dass sie bei diesem Treffen die stimmgewaltigsten sein würden. Manche Dinge änderten sich nie.
Rothen schaute zu ihr auf und lächelte. Unwillkürlich sprang auch auf ihre Lippen ein Lächeln. Er war überglücklich gewesen, von Lorkins Rückkehr zu hören, und seit er erfahren hatte, dass Lorkin versuchen würde, ein Bündnis auszuhandeln, und dass er der Gilde eine neue Art von Magie zu bringen beabsichtigte, war er vor Stolz fast geplatzt. An einem Punkt hatte er geseufzt und bekümmert dreingeblickt, und als Sonea sich erkundigt hatte, was ihn bedrücke, hatte er sie entschuldigend angesehen. Sie zuckte zusammen, als sie sich an seine Worte erinnerte.
»Es ist ein Jammer, dass sein Vater das nicht miterleben kann.«
Was ihr aus mehr als den offenkundigen Gründen wehtat. Dass Rothen dies von Akkarin sagen konnte, deutete auf ein Ausmaß der Vergebung für den ehemaligen Hohen Lord hin, von dem Sonea nie gedacht hatte, dass Rothen es jemals erreichen würde.
So sehr Lorkin die anderen auch beeindruckt haben mochte, Sonea war sich nur allzu deutlich darüber im Klaren, dass er noch nicht in Sicherheit war. Was er tat, war riskant. Selbst wenn die Sachakaner nichts davon wussten, mussten sie ihn dennoch als eine potenzielle Informationsquelle betrachten, was die Verräterinnen betraf. Er würde erst sicher sein, wenn er nach Kyralia zurückkehrte.
»Der König ist zu einer Entscheidung gelangt«, eröffnete Osen ihnen. Er wandte sich an Balkan. »Der Hohe Lord hat sich heute Abend noch einmal mit ihm getroffen. Was hat er gesagt?«
»Er konnte die Zustimmung der anderen Anführer der Verbündeten Länder gewinnen«, berichtete Balkan. Sonea verspürte ein seltsames Gefühl irgendwo zwischen Stolz und Bedauern. Vor zwanzig Jahren wäre es nicht möglich gewesen, sich so schnell mit dem Rest der Verbündeten Länder zu beraten. Jetzt bekamen alle Gildebotschafter Blutringe, damit sie sich mit dem Hohen Lord in Verbindung setzen konnten, wann immer die Notwendigkeit dazu gegeben war. »Das Treffen wird stattfinden, und man wird in Verhandlungen eintreten. Sie haben ihre bevorzugten Bedingungen dargelegt. Sie haben sich damit einverstanden erklärt, dass ein Gildemagier die Verbündeten Länder repräsentieren wird. Der König hat die Wahl des Repräsentanten uns überlassen.«
»Das Risiko bei der ganzen Angelegenheit ist nicht gering«, sagte Osen. »Wenn König Amakira von dem Treffen erfährt, wird er versuchen, es zu verhindern. Er könnte es als einen kriegerischen Akt ansehen. Schließlich erwägen wir ein Bündnis mit den Leuten, die er als Rebellen und Verräter betrachtet.«
»Wen wir auch schicken, er wird verletzbar sein. Wir könnten die ganze Gilde schicken und nicht stark genug sein, um einen Angriff abzuwehren«, bemerkte Balkan, dann lächelte er schief. »Amakira würde es wohl kaum übersehen, wenn wir ihm eine Armee von Magiern schickten. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, dass nur zwei Magier gehen werden.«
»Allerdings«, fuhr Osen fort, »haben zwei von uns das Potenzial, so stark zu sein wie eine ganze Armee von Gildemagiern.«
Sonea stockte der Atem. Gewiss würden sie nicht sie selbst und Kallen nach Sachaka schicken? Wer würde dann übrig bleiben, um Kyralia zu verteidigen? Lilia war viel zu unerfahren und nicht einmal ausgebildet …
»Wir werden einen Schwarzmagier und einen Assistenten hinschicken«, sagte Balkan. »Der Assistent muss bereit sein, wenn nötig seine magische Stärke zur Verfügung zu stellen. Da das Risiko besteht, dass die beiden Magier im Falle eines Angriffs einer Gedankenlesung unterzogen werden, darf der Assistent kein Höherer Magier sein und auch nicht mehr über den Zweck der Mission erfahren, als unbedingt notwendig ist. Der Schwarzmagier wird durch Lord Leidens Ring vor dem Lesen seiner Gedanken geschützt sein.«
Osen lächelte dünn. »Also, wie Ihr sehen könnt, beschränken sich unsere Wahlmöglichkeiten auf einen von zwei Schwarzmagiern.« Er sah Kallen an, dann Sonea. »Seid Ihr beide bereit, diese Rolle auszuüben?«
»Ja«, erwiderte Sonea. Kallen sagte das Gleiche.
Osen schaute in die Runde. »Dann müssen wir Übrigen jetzt die Entscheidung treffen. Ich werde Euch alle nacheinander bitten, Eure Meinung zu sagen. Lady Vinara?«
Sonea war wie erstarrt, während die Höheren Magier recht offen erörterten, warum sie lieber sie oder Kallen als ihren Repräsentanten sahen. Es überraschte sie nicht, als Lord Garrel unumwunden die Frage ihrer Vertrauenswürdigkeit aufwarf und Bezug nahm auf ihre Entscheidung, schwarze Magie zu lernen, und ihre Weigerung, der Gilde zu gehorchen, was zu ihrer Verbannung geführt hatte. Die anderen protestierten nicht und stimmten auch nicht zu, sondern gingen lediglich zu anderen Fragen über, als sei das, was er gesagt hatte, nicht wichtig. Als die Diskussion sich dem Ende näherte, war sie sich nicht sicher, ob die Mehrheit der Höheren Magier sich für sie oder für Kallen ausgesprochen hatte.
»Ich denke, wir haben alle Fragen erörtert«, sagte Osen. »Jetzt werden wir zur Abstimmung kommen. Alle, die dafür sind, dass Schwarzmagierin Sonea die Verbündeten Länder in diesen Verhandlungen vertritt, heben bitte die Hand.«
Sonea zählte. Sie bemerkte, dass einige der Magier, die sich für sie ausgesprochen hatten, ihre Meinung geändert hatten, und umgekehrt. Sie lag mit einem Handzeichen zurück. Soneas Herz schlug noch schneller vor Aufregung und Sorge. Osen wandte sich an den Hohen Lord Balkan.
»Habt Ihr Eure Meinung geändert?«
Balkan sah Sonea an und schüttelte den Kopf.
»Meine Stimme und die des Hohen Lords gehören Sonea«, erklärte Osen. »Was zu ihren Gunsten den Ausschlag gibt.« Er sah sie an und lächelte grimmig. »Herzlichen Glückwunsch.«
Sie nickte, zu überwältigt, um zu sprechen. Auch wenn sie gehofft hatte, dass man sich für sie entscheiden würde, damit sie Lorkin so bald wie möglich sehen und beschützen konnte, war die Last der Verantwortung, nicht nur die Gilde und Kyralia, sondern auch die gesamten Verbündeten Länder zu repräsentieren, einschüchternd. Das Gleiche galt für die Aussicht auf eine Rückkehr nach Sachaka, obwohl sie diesmal keine Verbannte sein und nicht von Ichani gejagt werden würde.
Nach allem, was ich Dorrien darüber gesagt habe, dass ich Heilerin sein wolle, habe ich eine Aufgabe übernommen, die die Benutzung von schwarzer Magie notwendig machen wird. Aber ich werde nicht töten müssen. Jene, die mir Macht geben, werden das aus freien Stücken tun, und hoffentlich werde ich auch diese Macht nicht benutzen müssen, um zu töten.
»Es müssen Einzelheiten geklärt und Vorbereitungen getroffen werden«, richtete Osen das Wort an sie alle. Er stand auf. »Schwarzmagierin Sonea wird so bald wie möglich aufbrechen, aber ich nehme an, dass das noch mindestens einige Tage dauern wird. Vielleicht einige Wochen. Lorkin wird unsere Entscheidung über das Netzwerk der Sklavenspione an die Verräterinnen weitergeben und auf eine Antwort warten müssen. Außerdem muss noch ein Assistent ausgewählt werden, und das wird weitere Erörterungen und Beratungen erfordern. Vielen Dank für Eure Vorschläge und Euren Rat. Ich brauche Euch nicht daran zu erinnern, dass dies alles streng geheim ist. Gute Nacht.«
Als die Magier sich erhoben, trat Balkan vor und berührte Sonea an der Schulter. »Bleibt«, murmelte er.
Sie nickte, keineswegs überrascht. Als die letzten Höheren Magier mit Ausnahme von Osen und Balkan den Raum verlassen hatten, ließ sie sich mit einem Seufzen wieder auf den Stuhl fallen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch gratulieren soll oder nicht«, bemerkte Osen, während er zu seinem Platz zurückkehrte.
Sonea lächelte schief. »Es ist beruhigend und sogar schmeichelhaft, dass Ihr bereit seid, mir diese Aufgabe anzuvertrauen. Vor allem, da ich bei der letzten Aufgabe, die Ihr mir übertragen habt, gescheitert bin.«
Osen runzelte die Stirn, dann zog er die Augenbrauen hoch. »Ihr sprecht von der Suche nach Skellin?« Er zuckte die Achseln. »Das ist eine schwierigere Aufgabe als die, die Ihr jetzt habt.«
»Wer wird sie übernehmen?«
»Höchstwahrscheinlich Schwarzmagier Kallen«, erwiderte er. »Werden Eure Verbindungsmänner bereit sein, mit ihm zusammenzuarbeiten?«
Sonea dachte nach. »Ja, ich denke schon. Es bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig. Darf ich einen Vorschlag machen?«
Er nickte. »Natürlich.«
»Lilia hat sich, während sie nach Naki suchte, mit einer der loyalen Mitarbeiterinnen meines Verbindungsmannes angefreundet. Da Kallen außerdem ihr Mentor ist, könnte es für alle von Nutzen sein, wenn Lilia seine Assistentin würde – oder eine seiner Assistentinnen.«
Osen blickte nachdenklich drein, dann nickte er. »Ich werde es erwägen und Kallen vorschlagen. Es würde nicht gegen die Einschränkungen verstoßen, die wir ihr in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit auferlegt haben, wenn sie unter Kallens Befehl stünde.«
Sonea versuchte, sich ein Treffen zwischen Cery und Kallen vorzustellen, und scheiterte. Sie bemühte sich, nicht zusammenzuzucken.
Tut mir leid, Cery, aber ich kann nicht gleichzeitig an zwei Orten sein. Wenn Kallen irgendetwas ist, dann gründlich und gewissenhaft. Ich bin mir sicher, dass er Skellin irgendwann finden wird. Sie fragte sich, ob sie sonst noch etwas tun konnte, um ihm zu helfen.
»Nun, habt Ihr jemand Bestimmten im Sinn, den Ihr gern als Assistenten mitnehmen würdet?«
Sie zwang sich, sich auf ihre neue Aufgabe zu konzentrieren, dachte über die Frage nach und nickte.
Alles wurde von Lampenlicht erhellt. Als die Inava am Kai längsseits ging, warfen die Sklaven auf Deck Festmachleinen an Land, die dort von eifrigen Helfern an Pollern belegt wurden. Dannyl hielt sich abseits des Geschehens, um niemandem in die Quere zu kommen, und blickte auf die Stadt. Es gab nicht viel zu sehen. Da die Mehrzahl der Gebäude in Arvice einstöckig war, bot sich ihm ein ziemlich langweiliger Ausblick auf ähnliche Dächer.
»Ah, seht«, sagte Achati. »Die Kutsche des Gildehauses ist eingetroffen. Ich hätte Euch anderenfalls mit meiner nach Hause gebracht.«
Dannyl musterte den Sachakaner und runzelte besorgt die Stirn. »Vielleicht ist es besser, dass Ihr auf direktem Weg nach Hause fahrt. Ihr seht immer noch sehr müde aus.«
Achati lächelte. »Ich bin auch ein wenig müde, aber nicht weil ich zu viel Macht gebraucht hätte. Das Reisen erschöpft mich heutzutage mehr als früher. Wie Ihr wisst, habe ich gestern Nacht nicht viel Schlaf bekommen.«
Ein erheitertes Glitzern war in seine Augen getreten. Dannyl lächelte und wandte den Blick ab. Am Tag nachdem der Sturm weitergezogen war, hatte das Schiff bei einem Besitz Halt gemacht, der einem Freund von Achati gehörte. Sie waren auf die angebotenen Betten gefallen, hatten bis spät in den nächsten Tag hinein geschlafen und dann beschlossen, am darauf folgenden Tag früh morgens aufzubrechen, um nicht bei Nacht segeln zu müssen. Trotzdem hatten ungünstige Winde dazu geführt, dass sie Arvice zu später Stunde erreicht hatten.
Der Besitz war luxuriös und riesig gewesen. Es hatte Dannyl nicht überrascht, dass Tayend, nachdem er festgestellt hatte, dass ihr Gastgeber möglicherweise über Waren verfügte, die sich für den Handel mit Elyne eigneten, darauf bestanden hatte, dass Achati ihm bei allen Gesprächen über dieses Thema zur Seite stand. Und die Gespräche hatten bis tief in die Nacht angedauert.
»Sieht so aus, als müssten wir von hier aus getrennt weiterfahren«, bemerkte Tayend, als er durch die Luke an Deck kam und seine Umgebung in sich aufnahm. Dann wandte er sich lächelnd an Achati. »Vielen Dank, Ashaki Achati, dass Ihr dieses Abenteuer für uns arrangiert und uns herumgeführt habt.«
Achati neigte nach kyralischer Sitte den Kopf. »Es war mir eine Freude und eine Ehre«, erwiderte er.
»Werden wir Euch bald im Gildehaus begrüßen können?«
»Ich hoffe es«, antwortete Achati. »Ich werde natürlich zuerst meinem König Bericht erstatten und mich um die Dinge kümmern, die während meiner Abwesenheit liegen geblieben sind. Sofern diese Dinge nicht einen von Euch oder Euch beide betreffen, werde ich Euch, sobald es mir freisteht, einen freundschaftlichen Besuch abstatten.«
Der Kapitän trat an sie heran, um ihnen zu berichten, dass das Schiff gesichert sei und sie von Bord gehen könnten. Sie tauschten noch einige Höflichkeiten aus, während ihre Reisetruhen von Bord getragen wurden, dann folgten sie ihrem Gepäck in ihre jeweiligen Kutschen.
Sobald sie in die Kutsche des Gildehauses gestiegen waren, wurde Tayend untypisch still. Dannyl erwog, ihn in ein Gespräch zu verstricken, während der Wagen durch die Straßen rollte, aber der Elyner machte den Eindruck, als sei er tief in Gedanken versunken. Schweigend beobachteten sie, wie die Mauern von Arvice an ihnen vorbeizogen.
Als sie schließlich durch die Tore des Gildehauses fuhren, holte Tayend tief Luft und seufzte. Er sah Dannyl lächelnd an.
»Nun, das war gewiss ein interessantes Abenteuer. Ich kann jetzt sagen, ich hätte sechs Länder besucht, obwohl ich annehme, dass Duna streng gesehen nicht als ein Land eigenen Rechts gilt.«
Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich nehme an, das könnte es geradeso gut sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ashaki es jemals wirklich beherrschen werden – oder auch nur den Wunsch danach verspüren, falls sie vernünftig sind.«
Tayend drückte die Tür auf und stieg aus. Dannyl folgte ihm und bemerkte die Sklaven, die auf dem Boden lagen.
»Steht auf«, befahl er. »Kehrt zu euren Pflichten zurück.«
Der Türsklave eilte zum Eingang und führte sie hinein. Sie traten vom Ende des Eingangsflurs in das Herrenzimmer. Heilerin Merria erwartete sie … und ein weiterer Magier. Dannyl sah den Alchemisten an und riss erstaunt die Augen auf.
»Lorkin!«
Der junge Magier lächelte. »Botschafter. Ihr habt ja keine Ahnung, wie erleichtert ich bin, Euch zu sehen. Wie war Eure Reise?«
Dannyl umfasste Lorkins Arm zum Gruß mit beiden Händen. »Nichts im Vergleich zu Eurer, davon bin ich überzeugt. Ihr habt ja keine Ahnung, wie erleichtert ich bin, Euch zu sehen.«
Lorkin grinste. »Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es erraten kann. Wollt Ihr Euch gern waschen und etwas essen, bevor ich Euch von meinen Neuigkeiten berichte?«
Dannyl ging zu einem der Hocker hinüber und setzte sich.
Lorkin lachte. »Ich nehme an, das ist ein ›Nein‹.«
»Wenn Ihr nichts dagegen habt«, sagte Tayend, »ich würde mich gern waschen und etwas essen. Ihr könnt mir gewiss später alles erzählen.«
»Natürlich«, erwiderte Dannyl. »Gib den Sklaven Anweisung, dass sie etwas vorbereiten sollen.«
Der Elyner eilte den Flur zu seinem Zimmer entlang. Lorkin und Merria nahmen Platz, und Dannyl bemerkte, dass beide besorgt dreinblickten.
»Also, bringt Ihr gute oder schlechte Nachrichten?«
Lorkin lächelte schief. »Sowohl als auch. Die schlechte Nachricht ist dies hier …«
Er reichte Dannyl einen Brief. Dannyl bemerkte das Siegel des sachakanischen Königs, das bereits gebrochen worden war, dann öffnete er den Brief und las. Ein kalter Schauer überlief ihn.
»Aha«, sagte er. »Er verbietet Euch, das Land zu verlassen, und befiehlt Euch, sich bei ihm einzufinden, sobald ich zurückgekehrt bin. Das ergibt durchaus einen Sinn. Ihr habt viele Monate bei den Rebellinnen verbracht, also will der König natürlich alles wissen, was Ihr herausgefunden habt.«
»Ihr erwartet doch nicht von mir, dass ich es ihm erzähle, oder?«
»Nein, es sei denn, die Gilde – nein, unser König – würde es Euch befehlen.«
Lorkin sah ihn besorgt an. »Kann er mich daran hindern, das Land zu verlassen? Muss ich mich mit ihm treffen?«
»Das hängt davon ab, wie weit er den Frieden zwischen unseren Ländern auf die Probe zu stellen bereit ist.« Dannyl runzelte die Stirn. »Die Tatsache, dass Ihr fortgegangen seid, um bei den Rebellinnen zu leben, hat diesen Frieden bereits ziemlich auf die Probe gestellt. Wenn wir diesen Befehl ignorieren und Euch nach Hause schicken, wird das eine noch größere Beleidigung sein.«
»Also, was tun wir?«
»Ihr zeigt Euch entgegenkommend. Ihr bleibt hier. Ihr trefft Euch mit ihm. Ihr erzählt ihm nichts, und das tut Ihr respektvoll und höflich. Wir – ich selbst, die Gilde und der König und jeder andere, den wir überreden können, uns zu helfen – werden uns bemühen, ihn dazu zu bewegen, Euch gehen zu lassen.«
»Das könnte lange dauern.«
Dannyl nickte. »Höchstwahrscheinlich.«
Lorkin wirkte jetzt noch ängstlicher. Er sah Merria an, dann schaute er zu der Tür hinüber, durch die Tayend verschwunden war.
»Da ist … noch etwas. Da Ihr überrascht wart, mich hier zu sehen, nehme ich an, dass Ihr keinen Kontakt zu Osen gehabt habt?«
Ein weiteres Frösteln überlief Dannyl. »Nein. Wir hatten einen Sturm, und … ich war zu beschäftigt, um den Ring anzulegen.« Er verwünschte sich im Stillen. Die Blutringe waren so nützlich und gleichzeitig so beschränkt. Wenn es ihm nur gestattet gewesen wäre, selbst einen Blutring zu machen und dem Administrator dazulassen, dann hätte Osen ihn von sich aus kontaktieren können.
Lorkin sah Dannyl mit ernster Miene in die Augen. Er wirkte plötzlich viel älter, als er war – oder älter, als Dannyl ihn eingeschätzt hatte.
»Ich kann hier nichts davon direkt mit Euch besprechen, da wir belauscht werden könnten. Ihr müsst Euch mit Osen in Verbindung setzen«, sagte Lorkin. »Sofort.«