DER ABZUG DER MARTIER

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Im August des Jahres 1964 machte ein Mann mit dem etwas unwahrscheinlichen Namen Hiram Pedro Ober-dorffer aus Chicago, Illinois, eine Erfindung, die er als anti-außerweltlichen subatomaren Superschwingungserzeuger bezeichnete.

Mr. Oberdorffer war in Heidelberg, Wisconsin, zur Schule gegangen, aber in den nachfolgenden fünfzig Jahren hatte er sich zu einem eingefleischten Leser von populärwissenschaftlichen Zeitschriften und von wissenschaftlichen Beiträgen in den Beilagen der Sonntagszeitungen und anderswo entwickelt. Er war ein leidenschaftlicher Theoretiker und, in seinen eigenen Worten (und wer sind wir, um ihm darin zu widersprechen) „wußte er in wissenschaftlichen Dingen besser Bescheid als diese Laboratoriums-Heinis."

Er übte seit langem das Amt eines Hausmeisters in einem Appartment-Haus in Dearbon Street in der Nähe von Grand Avenue aus und hatte eine Zweizimmerwohnung im Souterrain desselben Gebäudes inne. In einem der beiden Räume kochte, aß und schlief er. In dem anderen verbrachte er den Teil seines Lebens, auf den es ankam; dort war seine Werkstatt.

Neben einer Werkbank und einigen elektrischen Gerätschaften enthielt die Werkstatt noch einige Spinde, und in und auf diesen Spinden, auf dem Fußboden aufgestapelt oder in Kisten verpackt befand sich altes Automobil-, altes Radio-, altes Nähmaschinen- sowie altes Staubsaugerzubehör. Ganz zu schweigen von Waschmaschinen-, Schreibmaschinen-, Fahrräder-, Rasenmäher-, Außenbordmotor-, Fernsehapparat-, Uhren-, Telefon-, Kinderspielzeug-, Elektromotor-, Kamera-, Phonograph-, Ventilator-, Schrotflinten- und Geigerzähler - Teilen. Unendliche Schätze auf kleinstem Raum.

Seine Obliegenheiten als Hausmeister nahmen ihn, besonders im Sommer, nicht allzu stark in Anspruch; sie ließen ihm genügend Muße zum Erfinden und zu seinem einzigen anderen Vergnügen, das darin bestand, bei schönem Wetter auf dem nur zehn Minuten von seiner Arbeitsstätte entfernten Bughouse Square zu sitzen, zu entspannen und nachzudenken.

Bughouse Square ist ein Stadtpark von einem Straßenzug im Quadrat und hat noch einen anderen Namen, den nie jemand gebraucht. Meistens halten sich nur Bummler, Trunkenbolde und Halbverrückte dort auf. Stellen wir ein für allemal klar, daß Mr. Oberdorffer zu keinen von diesen gehörte. Er arbeitete für seinen Lebensunterhalt und trank ausschließlich Bier und das auch nur in mäßigen Mengen. Wer ihn beschuldigt hätte, nicht ganz richtig im Kopfe zu sein, dem hätte er jederzeit beweisen können, daß er im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten war. Er besaß nämlich Papiere, aus denen hervorging, daß er aus einer Irrenanstalt entlassen worden war, in der er vor einigen Jahren kurze Zeit zugebracht hatte.

Die Martier belästigten Mr. Oberdorffer weniger, als sie die meisten anderen Leute behelligten; er hatte das Glück völlig taub zu sein.

O, bis zu einem gewissen Grade belästigten sie ihn schon. Obwohl er nicht hören konnte, redete er gern. Man könnte sogar sagen, daß er laut dachte, da er aus Gewohnheit Selbstgespräche während des Erfindens führte. In diesem Falle war die Einmischung der Martier natürlich keine sonderliche Plage; obwohl er seine eigene Stimme nicht hören konnte, wußte er sehr wohl, was er zu sich selber sagte, ob er durch jemand übertönt wurde oder nicht. Aber er hatte einen Freund, mit dem er sich gern unterhielt, einen Mann namens Pete, und fand, daß die Martier sich gelegentlich in seine einseitige Unterhaltung mit Pete einmischten.

Sommersüber war Pete hauptsächlich auf dem Bug-house Square anzutreffen, wo er seinen Stammplatz hatte. Sobald es Herbst wurde, verschwand Pete; Mr. Oberdorffer nahm nicht ganz zu Unrecht an, daß er mit den Vögeln südwärts zöge. Aber im Frühling tauchte Pete stets wieder auf, und Mr. Oberdorffer konnte die Unterhaltung mit ihm fortsetzen.

Es war in der Tat eine sehr einseitige Unterhaltung, da Pete stumm war. Aber er hörte Mr. Oberdorffer gern zu und hielt ihn für einen Denker und einen großen Wissenschaftler, eine Ansicht, die Mr. Oberdorffer völlig teilte, und für seine Teilnahme an der Unterhaltung genügten ein paar einfache Zeichen — ein Nicken oder ein Kopfschütteln, um ja oder nein anzudeuten, ein Heben der Augenbrauen, um seinen Partner zu näheren Erklärungen zu veranlassen. Aber selbst diese Zeichen waren nur selten erforderlich; meistens genügte ein bewundernder Blick verbunden mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Noch seltener brauchten sie ihre Zuflucht zu Bleistift und Papier zu nehmen, die Mr. Oberdorffer stets bei sich trug.

In diesem Sommer nun hatte Pete in zunehmendem Maße ein neues Zeichen gebraucht und die Hand schalltrichterartig an das Ohr gelegt. Als Pete dieses Zeichen zum ersten Mal machte, hatte Mr. Oberdorffer sich gewundert, da er wußte, daß er genau so laut wie immer sprach, und hatte Pete Papier und Bleistift gereicht und ihn um eine Erklärung gebeten. Pete hatte geschrieben: „Kanicht heren. Martyers sufiel Krahch maachen."

Und so hatte Mr. Oberdorffer noch lauter gesprochen, sich aber doch geärgert, daß er die Stimme heben mußte. Die Unterhaltungen mit Pete waren seitdem nicht so angenehm wie früher. Allzu häufig verriet Petes Gesichtsausdruck, daß er abgelenkt wurde und Mr. Oberdorffer nicht mehr so gebannt zuhörte wie einst. Und wenn sich Mr. Oberdorffer in einem solchen Augenblick umschaute, erblickte er stets einen oder mehrere Martier und wußte, daß sie die Störenfriede waren.

Und so begann er mit der Idee zu spielen, etwas gegen die Martier zu unternehmen.

Es wurde jedoch Mitte August, ehe er sich endgültig dazu entschloß. Mitte August verschwand Pete plötzlich vom Bughouse Square. Für einige Tage traf Mr. Oberdorffer ihn dort nicht an und erkundigte sich bei anderen Parkbesuchern — solchen, die er oft genug gesehen hatte, um sie als Stammgäste zu erkennen — was aus Pete geworden sei. Kopfschütteln und Achselzucken waren für eine Weile die einzigen Antworten, die er bekam. Endlich begann ein graubärtiger Mann ihm etwas zu erklären, worauf Mr. Oberdorffer ihm mitteilte, daß er taub sei und ihm Papier und Bleistift reichte. Eine vorübergehende Schwierigkeit entstand, als sich herausstellte, daß der Bärtige weder lesen noch schreiben konnte, aber man fand einen Vermittler, der allerdings kaum nüchtern genug war, sich die Geschichte des Graubarts anzuhören und sie für Mr. Oberdorffer aufzuschreiben. Pete befand sich im Gefängnis.

Mr. Oberdorffer eilte auf das zuständige Polizeirevier und erfuhr nach einigen Schwierigkeiten, die auf die Tatsache zurückzuführen waren, daß es viele Petes gab und er den Familiennamen seines besten Freundes nicht wußte, wo Pete inhaftiert war. Schleunigst begab er sich dorthin, um ihm, wenn möglich, zu helfen.

Es stellte sich heraus, daß Pete bereits abgeurteilt war und dreißig Tage bekommen hatte, was ihn jedoch nicht hinderte, ein Darlehen von zehn Dollars anzunehmen, damit er sich während dieser Zeit Zigaretten kaufen konnte.

Es gelang Mr. Oberdorffer seinen Freund unter Zuhilfenahme von Papier und Bleistift kurz auszuhorchen und in Erfahrung zu bringen, was sich zugetragen hatte.

Von Rechtschreibungsfehlern befreit, lautete Petes Geschichte, daß er überhaupt nichts verbrochen habe und in eine Falle gelockt worden wäre; außerdem wäre er angetrunken gewesen und nur deshalb auf den verrückten Gedanken gekommen, bei hellem Tageslicht und mit Martiern in der Nähe einen Groschenladen zu betreten, um Rasierklingen zu stehlen. Die Martier hätten ihn dazu verführt und ihm versprochen, Schmiere zu stehen, aber dann hätten sie ihn verpfiffen und die Polizei in dem Augenblick geholt, als er die Taschen voll hatte. An der ganzen Geschichte waren nur die Martier schuld.

Diese rührende Geschichte erboste Mr. Oberdorffer derart, daß er auf der Stelle den Entschluß faßte, etwas gegen die Martier zu unternehmen. Noch am selben Abend. Er war ein geduldiger Mensch, aber jetzt war seine Geduld zu Ende.

Auf dem Heimweg beschloß er, eine alte Gepflogenheit zu durchbrechen und in einem Lokal zu essen. Es drängte ihn, seinen Plan so schnell wie möglich zu verwirklichen, und so wollte er sich nicht erst mit der Zubereitung einer Mahlzeit aufhalten.

In dem Restaurant bestellte er Eisbein und Sauerkraut und während er darauf wartete, fing er an nachzudenken. Aber sehr leise, um die anderen Gäste, die an der Theke hockten, nicht zu stören.

Er führte sich alles vor Augen, was er je über Martier in populärwissenschaftlichen Zeitschriften gelesen hatte sowie alles, was er über Elektrizität, Elektronenlehre und Relativität gelesen hatte.

Er fand die Lösung in genau dem Augenblick, als ihm das Eisbein serviert wurde. „Da hilft nur", erklärte er der Kellnerin, „ein anti-außerweltlicher subatomarer Superschwingungserzeuger." Ihre Antwort, falls sie eine gab, verhallte ungehört und ist nirgends aufgezeichnet.

Während er aß, konnte er selbstverständlich nicht wei-terdenken, aber auf dem restlichen Heimweg dachte er desto lauter. Zu Hause angekommen, stellte er das Signal ab (ein rot aufleuchtendes Licht anstelle einer Klingel), damit kein Mieter ihn stören und sich über einen tropfenden Wasserhahn oder einen widerspenstigen Kühlschrank beschweren könnte, und machte sich an die Konstruktion eines anti - außerweltlichen subatomaren Superschwingungserzeugers.

Die Grundlage dazu bildete ein Außenbordmotor, den er unter Zuhilfenahme eines Transformators in einen Gleichstromgenerator verwandelte. Nur ein einziges Mal stieß er auf ein ernsthaftes Hindernis. Das war, als er merkte, daß er eine Schwingungsmembrane von ungefähr acht Zoll Durchmesser benötigen würde. In seiner Werkstatt war nichts für diesen Zweck Geeignetes vorhanden, und da es bereits acht Uhr war und die Läden zugemacht hatten, gäbe er die Hoffnung für diesen Abend fast auf.

Doch dann fiel ihm zu seiner Rettung die Heilsarmee ein. Er ging nach der Clark Street und lief dort solange auf und ab, bis ein Mädchen von der Heilsarmee, das die Runde durch die Kneipen machte, des Wegs entlang kam. Erst als er sich bereit erklärte, dreißig Dollars für die gute Sache zu stiften, trat sie ihm ihr Tamburin ab; es war gut, daß sie bei diesem Preis nachgab, da er nicht mehr Geld bei sich hatte. Und wenn sie nicht nachgege-ben hätte, wäre er außerdem stark in Versuchung geraten, ihr das Tamburin zu entreißen und das Weite damit zu suchen, und auf diese Weise wäre er wahrscheinlich in demselben Gefängnis wie Pete gelandet. Er war ein stattlicher Mann, der nicht schnell rennen konnte und leicht außer Atem geriet.

Nachdem er die Glöckchen von dem Tamburin entfernt hatte, erwies es sich als genau zweckentsprechend. Mit einer dünnen Schicht magnetisierter Eisenspäne bedeckt und zwischen der Kathodenröhre und der Aluminiumpfanne angebracht, die als Gitter diente, würde es nicht nur die unerwünschten Deltastrahlen herausfiltern, sondern die Schwingungen der Späne würden, sobald der Motor lief, auch für die erforderliche Fluktuation in der Induktanz sorgen.

Endlich, eine ganze Stunde nach seiner gewöhnlichen Schlafenszeit, verlötete Mr. Oberdorffer die letzte Verbindung und trat einen Schritt zurück, um sein Meisterwerk zu betrachten. Er seufzte vor Zufriedenheit. Es war gut und hätte eigentlich funktionieren müssen.

Er vergewisserte sich, ob das Luftschachtfenster auch weit offen stand. Die subatomaren Schwingungen mußten eine Abzugsmöglichkeit haben, sonst würden sie nur im Zimmer wirken. Aber wenn sie erst einmal frei waren, würden sie von der Heavisideschicht abprallen und den Erdball wie Radiowellen umkreisen.

Er sah nach, ob der Tank des Außenbordmotors mit Treibstoff gefüllt war, wand die Kordel um den Anlasser, bereit abzuziehen — und zögerte. Den ganzen Abend waren ab und zu Martier im Zimmer gewesen, aber im Augenblick war keiner zu sehen. Und er wollte lieber warten, bis einer auftauchte, ehe er die Maschine in Gang setzte, damit er gleich sehen könnte, ob sie funktionierte oder nicht.

Er ging in das andere Zimmer, nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Kehrte damit in die Werkstatt zurück und setzte sich und wartete.

Irgendwo draußen schlug eine Uhr, aber da Mr. Oberdorffer taub war, hörte er nichts davon.

Plötzlich saß ein Martier direkt auf dem anti-außer-weltlichen subatomaren Schwingungserzeuger.

Mr. Oberdorffer stellte die Flasche beiseite, streckte den Arm aus und zog die Kordel ab. Der Motor sprang an, die Maschine lief.

Dem Martier passierte nichts.

„Muß erst richtig anlaufen", sagte Mr. Oberdorffer mehr zu sich selber als zu dem Martier.

Er setzte sich wieder, griff nach seinem Bier, trank einen Schluck und wartete, bis die Maschine auf vollen Touren laufen würde.

Es war schätzungsweise dreiundzwanzig Uhr fünf, Chicago Zeit, am Abend des 19. August, Mittwoch.

In Long Beach, Kalifornien, warf Margie Devereaux am 19. August 1964 nachmittags um sechzehn Uhr (als es in Chicago achtzehn Uhr war, ungefähr um die Zeit, da Mr. Oberdorffer, den Bauch voller Eisbein und Sauerkraut nach Hause kam, bereit, seinen anti-außerwelt-lichen subatomaren Superschwingungserzeuger zu konstruieren) einen Blick durch die Tür in Dr. Snyders Büro und fragte: „Sehr beschäftigt, Doktor?"

„Keineswegs, Margie. Treten Sie ruhig näher", sagte Dr. Snyder, der vor Arbeit nicht ein und aus wußte. „Nehmen Sie doch Platz."

Sie setzte sich. „Doktor", sagte sie, leicht außer Atem. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir Luke finden können."

„Das würde mich nur freuen, Margie. Es sind jetzt zwei Wochen her."

Es war sogar einen Tag länger her. Fünfzehn Tage und vier Stunden waren verstrichen, seit Margie in ihr Zimmer hinaufgegangen war, um Luke zu wecken und statt ihres Mannes einen an sie gerichteten Zettel vorgefunden hatte.

Sie war damit zu Dr. Snyder gelaufen, und da Luke kein Bargeld bei sich gehabt hatte, außer den paar Dollars, die sich in Margies Portemonnaie befunden hatten, war ihr erster Gedanke die Bank gewesen. Durch einen Anruf bei der Bank hatten sie erfahren, daß Luke fünfhundert Dollars von dem gemeinsamen Konto abgehoben hatte.

Nachträglich war nur noch eine einzige Tatsache ans Licht gekommen. Am folgenden Tage hatte die Polizei festgestellt, daß kaum eine Stunde nach Lukes Vorsprache bei der Bank ein Mann, auf den seine Beschreibung paßte, der jedoch unter anderem Namen aufgetreten war, einen gebrauchten Wagen gekauft und hundert Dollars in bar dafür bezahlt hatte.

Dr. Snyder war nicht ohne Beziehungen zum Polizeipräsidium, und dem gesamten Südwestabschnitt waren durch Rundschreiben Beschreibungen von Luke und dem Wagen, einem alten, gelb angestrichenen 1957 Mercury, zugegangen. Sämtliche Nervenheilanstalten des Bezirks waren von Dr. Snyder auf ähnliche Weise alarmiert worden.

„Wir waren uns darüber einig", sagte Margie, „daß er höchstwahrscheinlich die Hütte in der Wüste aufgesucht hat, wo er das Kommen der Martier erlebte. Glauben Sie das immer noch?"

„Selbstverständlich. Er glaubt, er hätte die Martier erfunden — wie er auf dem Zettel schreibt, den er für Sie hinterlassen hat. Der Gedanke liegt also durchaus nahe, daß er sich an diesen selben Ort zurückgezogen und versucht hat, dieselben Umstände zu rekon-struieren, um das rückgängig zu machen, was er angerichtet zu haben glaubt. Aber sagten Sie nicht, Sie hätten nicht den leisesten Schimmer, wo sich die Hütte befindet?"

„Ich weiß auch jetzt noch nicht mehr, als daß sie von Los Angeles aus mit dem Wagen zu erreichen sein muß. Aber mir ist gerade etwas eingefallen, Doktor. Luke hat mir vor einigen Jahren einmal erzählt, daß Carter Ben-son irgendwo eine Wohnhütte gekauft habe — in der Nähe von Indio, glaube ich. Das könnte sie sein. Ich möchte sogar wetten, daß sie es ist."

„Sie haben aber doch diesen Benson angerufen, nicht wahr?"

„Ja. Ich habe mich aber nur erkundigt, ob er seit Lukes Verschwinden etwas von ihm gesehen oder gehört hätte. Er behauptete nein, versprach jedoch, mir sofort Nachricht zukommen zu lassen, falls er etwas hören sollte. Aber ich habe ihn nicht danach gefragt, ob Luke die Hütte vergangenen März benützt hat! Und von selber hätte er mir das sicher nicht verraten, weil ich ihm nicht die ganze Geschichte erzählt und nichts davon erwähnt habe, daß sich Luke unserer Meinung nach wahrscheinlich dorthin zurückgezogen hat, wo er sich vergangenen März aufhielt. Weil — ich habe einfach nicht daran gedacht."

„Hm", machte Dr. Snyder. „Eine Möglichkeit ist es immerhin. Aber würde Luke die Hütte ohne Bensons Einwilligung benützen?"

„Wahrscheinlich hat er vergangenen März die Erlaubnis dazu gehabt. Diesmal hält er sich versteckt, vergessen Sie das nicht. Nicht einmal Carter soll wissen, wo er hingefahren ist. Und er konnte auch ziemlich sicher sein, daß Carter selber die Hütte jetzt im August nicht gebrauchen würde."

„Einleuchtend. Wollen Sie Benson noch einmal anrufen? Dort ist das Telefon."

„Ich rufe lieber aus dem Vorzimmer an, Doktor. Es könnte eine Weile dauern, ehe ich ihn erreiche, und Sie haben zu tun, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten."

Die Verbindung mit Carter Benson war jedoch allen Befürchtungen zum Trotz rasch hergestellt. Schon nach wenigen Minuten war Margie wieder zurück. Ihr Gesicht leuchtete.

„Doktor, Luke war vergangenen März tatsächlich in Carters Hütte. Und ich weiß jetzt auch, wie man hingelangt." Sie schwenkte einen Zettel hin und her.

„Tüchtig, tüchtig. Was unternehmen wir jetzt? Benachrichtigen wir die Polizei in Indio oder —?"

„Nichts Polizei. Ich fahre zu ihm. Sobald meine Schicht zu Ende ist."

„Solange brauchen Sie nicht zu warten, Kind. Aber meinen Sie, es ist ratsam, allein zu fahren? Wir wissen nicht, wie weit seine Krankheit unter Umständen fortgeschritten ist, und Sie treffen ihn womöglich — verstört an."

„Ich werde schon mit ihm fertig werden, darauf können Sie sich verlassen, Doktor." Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Viertel fünf. Wenn Sie wirklich nichts dagegen haben, daß ich jetzt gleich aufbreche, kann ich zwischen neun und zehn dort sein."

„Wollen Sie nicht doch lieber einen von den Wärtern mitnehmen?"

„Auf gar keinen Fall."

„Gut, Kind. Fahren Sie vorsichtig."

Am Abend des dritten Tages des dritten Mondes der Antilopen-Jahreszeit (ungefähr im gleichen Augenblick, als Mr. Oberdorffer in Chicago auf dem Bughouse Square Nachforschungen nach seinem vermißten Freund anstellte) wurde ein Medizinmann namens Bugassi, der zum Stamm der Moparobi in Äquatorialafrika gehörte, vor den Häuptling seines Stammes beordert. Der Häuptling hieß M'Carthi, war jedoch kein Verwandter eines früheren US-Senators gleichen Namens.

„Mach Juju gegen die Martier", befahl M'Carthi Bugassi.

Er nannte sie natürlich nicht Martier. Er gebrauchte das Wort g n a j a m k a t a , das soviel bedeutet wie „Grüne Zwerge vom Himmel".

Bugassi verbeugte sich. „Mach großes Juju", sagte er.

Und Bugassi wußte, daß es angeraten war, diesen Befehl verdammt wörtlich zu nehmen und auszuführen.

Er war nämlich eine heikle Geschichte, Medizinmann unter den Moparobi zu sein. Wer nicht ein sehr, sehr guter Medizinmann war, konnte nur mit kurzer Lebensdauer rechnen, denn das Stammesgesetz gebot, daß jeder, der versagte, seinen Beitrag zur Ergänzung der Fleischvorräte des Stammes leisten mußte. Und die Mo-parobi waren Kannibalen.

Unter den Moparobi hatte es sechs Medizinmänner gegeben, als die Martier kamen; Bugassi war der letzte Überlebende. Jeweils einen Mond auseinander (denn das Tabu verbietet es dem Häuptling, ein Juju anzuordnen, wenn nicht achtundzwanzig Tage seit dem letzten verstrichen sind) hatten die anderen fünf ihr Glück versucht, waren gescheitert und hatten ihren Beitrag geliefert.

Jetzt war Bugassi an der Reihe, und nach den hungrigen Blicken zu urteilen, mit denen M'Carthi und die übrigen Stammesgenossen ihn verschlangen, sah es fast so aus, als wünschten sie ihm Mißerfolg. Die Moparobi hatten seit achtundzwanzig Tagen kein Fleisch mehr gegessen, und sie waren fleischhungrig.

Ganz Afrika war fleischhungrig.

Einige Stämme, die ausschließlich oder fast ausschließlich von der Jagd gelebt hatten, waren tatsächlich am Verhungern. Andere Stämme waren gezwungen gewesen, weit entfernte Gebiete aufzusuchen, wo Pflanzennahrung wie Früchte und Beeren verfügbar waren.

Auf Jagd zu gehen, war einfach nicht mehr möglich.

Fast alle Tiere, auf die der Mensch zu Ernährungszwecken Jagd macht, sind schneller zu Fuß oder fliegen schneller als er. Man muß sich gegen den Wind so nahe an sie heranschleichen, bis man sie erlegen kann.

Mit Martiern in der Nähe war das ausgeschlossen. Sie liebten es, den Eingeborenen bei der Jagd zu helfen. Ihre Hilfe bestand darin, den Jägern vorauszueilen — oder zu kwimmen — und ihre Beute mit lautem Geschrei aufzuscheuchen.

Worauf sämtliches Getier eilends die Flucht ergriff.

Und was zur Folge hatte, daß die Jäger mit leeren Händen von der Jagd zurückkehrten, neunundneunzig Mal aus hundert, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, einen Pfeil abzuschießen oder einen Speer zu werfen, geschweige denn etwas getroffen zu haben.

Es war eine schwere Krise. Andersgeartet, aber zum mindesten so verheerend in den Auswirkungen wie die Wirtschaftskrisen in zivilisierteren Ländern.

Auch die Stämme, die Viehzucht trieben, waren betroffen. Die Martier machten sich ein Vergnügen daraus, sich auf die Rücken der Rinder zu schwingen und eine Panik unter ihnen hervorzurufen. Da Martier substanz- und gewichtslos waren, konnte eine Kuh einen Martier auf ihrem Rücken natürlich nicht spüren und war desto erschreckter, wenn der Martier sich nach vorn neigte und mit gellender Stimme „Iwrigo 'm N' gari" in das Ohr der Kuh schrie, während andere Martier dasselbe in die Ohren eines Dutzends anderer Kühe und Bullen schrien — und schon war die Panik da.

Afrika hatte nichts für die Martier übrig.

Aber zurück zu Bugassi.

„Mach großes Juju", hatte er M'Carthi erklärt. Und ein großes Juju sollte es werden, wörtlich und bildlich. Kurz nachdem die grünen Zwerge vom Himmel gekommen waren, hatte M'Carthi seine sechs Medizinmänner kommen lassen und lange und ernsthaft mit ihnen konferiert. Er hatte sie zu überreden und ihnen zu befehlen versucht, eine Art Kartell zu bilden und ihre Kenntnisse untereinander auszutauschen, damit jeder von ihnen über das Wissen aller sechs verfüge und das größte je dagewesene Juju veranstalten könnte.

Sie hatten das Ansinnen abgelehnt und waren selbst unter der Androhung von Tortur und Tod standhaft geblieben. Ihre Geheimnisse waren ihnen heilig und bedeuteten ihnen mehr als das Leben.

Aber man hatte einen Kompromiß geschlossen. Das Los sollte entscheiden, wer jeweils von Mond zu Mond an der Reihe war. Und sie waren übereingekommen, daß derjenige, welcher scheiterte, all seine Geheimnisse seinem Nachfolger anvertrauen sollte, ehe er in den Magen seiner Stammesgenossen wanderte.

Bugassi hatte den längsten Zweig gezogen und war jetzt, fünf Monde später, im Besitz sowohl sämtlicher Beschwörungsformeln seiner Vorgänger als auch seiner eigenen — und die Medizinmänner der Moparobi sind als die tüchtigsten von ganz Afrika bekannt. Außerdem verfügte er über genaueste Kenntnis aller Dinge und Worte, die bei den fünf erfolglosen Jujus eine Rolle gespielt hatten.

Bis in die Fingerspitzen mit diesem Wissen angefüllt, hatte er sein eigenes Juju von dem Tage an vorbereitet, da Nariboto, der fünfte der Medizinmänner, den Weg allen eßbaren Fleisches gegangen war. (Wovon sich Bu-gassi die Leber ausgebeten hatte, von welcher er noch ein kleines, bereits kräftig in Fäulnis übergegangenes Stück besaß, das sich trefflich für sein eigenes Juju eignete.)

Bugassi wußte, daß sein Juju nicht mißlingen konnte, nicht nur weil die Folgen für ihn unausdenkbar sein würden, wenn es mißlang, sondern weil, nun, weil das kombinierte Wissen sämtlicher Moparobi-Medizinmän-ner einfach nicht versagen konnte.

Es sollte ein Juju zur Beendigung aller Jujus werden, und gleichzeitig sollte es alle Martier vertreiben.

Es sollte ein Riesenjuju werden und alles enthalten, was in den fünf vorhergegangenen bereits enthalten gewesen war und außerdem noch elf Zutaten und neunzehn Zauberformeln (sieben davon Tanzschritte), die sein eigenes Geheimnis und den anderen fünf unbekannt gewesen waren.

Alle Zutaten waren greifbar und würden, winzig wie sie im einzelnen waren, zusammen die Blase eines Elefantenbullen füllen, die als Behälter dafür dienen sollte. (Der Elefant war selbstverständlich schon vor sechs Monaten erlegt worden; seit dem Kommen der Martier hatte man kein Großwild mehr zur Strecke gebracht.)

Die Zusammenstellung des Jujus würde jedoch die ganze Nacht in Anspruch nehmen, da es bei den einzelnen Zutaten sehr auf die richtigen Zauberformeln und Tanzschritte und alle Arten von eingestreuten Beschwörungen ankam.

In dieser Nacht machte kein einziger Moparobi ein Auge zu. Respektvoll im Kreise um das große Feuer hockend, das die Weiber von Zeit zu Zeit aufschütteten, sahen sie zu, wie Bugassi sich abmühte, tanzte und zauberte. Es war anstrengende Arbeit; er verlor Gewicht dabei, wie man bekümmert feststellte.

Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung warf sich Bugassi vor M'Carthi, dem Häuptling, zu Boden.

„Juju fertig", sagte er.

„Gnajamkata noch hier", sagte M'Carthi grimmig.

Die Martier waren tatsächlich noch sehr da; die ganze Nacht hindurch waren sie sehr aktiv gewesen, hatten bei den Vorbereitungen zugeschaut und so getan, als wollten sie dabei helfen; einige Male hatten sie Bugassi während des Tanzens zum Stolpern gebracht und einmal sogar zu Fall, indem sie unvermutet zwischen seinen Beinen hindurchgeschossen waren. Aber jedesmal hatte er die Reihenfolge geduldig wiederholt, damit kein Schritt verloren ginge.

Bugassi, im Schmutz liegend, stützte sich mit einem Ellbogen auf, und deutete mit dem anderen Arm auf den nächsten großen Baum.

„Juju muß so hängen, daß es Boden nicht berührt", sagte er.

M'Carthi erteilte einen Befehl, und drei Schwarze sprangen auf, um ihn auszuführen. Sie banden einen aus Ranken geflochtenen Strick um das Juju, und einer von ihnen kletterte auf den Baum und warf den Strick über einen Ast; die anderen beiden zogen das Juju hoch, und als es etwa drei Meter über dem Erdboden schwebte, rief Bugassi, der sich inzwischen mühselig aufgerafft hatte, ihnen zu, daß es hoch genug sei. Man band es fest, der Schwarze auf dem Baum kam herunter, und sie kehrten wieder in den Kreis der anderen zurück.

Bugassi ging auf den Baum zu mit Schritten, als täten ihm die Füße weh (was auch der Fall war) und blieb unter dem Juju stehen. Er wandte das Gesicht nach Osten, wo der Himmel bereits grau gefärbt war und die Sonne jeden Augenblick erscheinen mußte, und verschränkte die Arme.

„Sobald Sonnenstrahl auf Juju fallen", sagte er mit heiserer Stimme, „Gnajamkata verschwinden."

Der rote Rand der Sonne erschien über dem Horizont; ihre ersten Strahlen trafen den Wipfel des Baumes, in dem das Juju hing, und bewegten sich nach unten.

Noch ein paar Minuten, und sie würden auf das Juju fallen.

Durch Zufall, oder wie man es nennen will, war es genau in dem Augenblick, als in Chicago, Illinois, Vereinigten Staaten von Amerika, ein gewisser Hiram Pedro Oberdorffer vor seiner Bierflasche saß und darauf wartete, daß sein anti-außerweltlicher subatomarer Superschwingungserzeuger auf Touren kommen sollte.

Etwa eine dreiviertel Stunde vor diesem bewußten Augenblick, um etwa 21 Uhr 15 Pazifische Zeit, goß sich Luke Devereaux in einer Wüstenhütte in der Nähe von Indio, Kalifornien, das dritte Glas des Abends ein.

Es war sein vierzehnter enttäuschender Abend in der Hütte.

Es war der fünfzehnte Abend nach seiner Flucht aus dem Sanatorium, wenn man ein so einfaches Davonlaufen als Flucht bezeichnen kann. Auch der erste Abend war enttäuschend gewesen, aber aus einem anderen Grunde. Etwa halbwegs zwischen Long Beach und Indio, in Riverside, hatte er mit seinem Wagen, dem alten '57 Mercury, den er für hundert Dollars erstanden hatte, eine Panne gehabt. Er hatte ihn in eine Garage abschleppen lassen, wo man ihm erklärte, daß die Reparatur bis zum nächsten Nachmittag dauern würde. In einem Riverside Hotel hatte er einen langweiligen Abend und eine schlechte Nacht verbracht (es war so eigenartig und einsam wieder allein zu schlafen).

Am nächsten Vormittag hatte er Besorgungen gemacht und seine Einkäufe in die Garage geschafft, um sie in den Wagen zu verstauen, während ein Autoschlosser daran arbeitete. Er hatte sich selbstverständlich eine Reiseschreibmaschine und etwas Papier gekauft. (Er war gerade dabei gewesen, die Schreibmaschine auszuwählen, als um 10 Uhr Pazifischer Zeit Yato Ishurtis Rede über den Äther gekommen war und der Verkauf solange eingestellt wurde; der Inhaber hatte ein Radio eingeschaltet, und alle im Laden Anwesenden hatten sich darum versammelt. Da er wußte, daß Ishurtis fundamentale Prämisse — daß es wirklich Martier gäbe — falsch war, hatte sich Luke zuerst über die Unterbrechung seines Einkaufs geärgert, sich aber dann über die unsinnige Beweisführung Ishurtis amüsiert.)

Er kaufte einen Koffer, etwas Wäsche, einen Rasierapparat, Seife sowie einen Kamm und für ein paar Tage Lebensmittel und Spirituosen, damit er nicht gleich wieder nach Indio einkaufen fahren müßte.

Er bekam seinen Wagen am Spätnachmittag zurück — zusammen mit einer Reparaturrechnung, die fast die Hälfte des Betrages ausmachte, den er ursprünglich dafür bezahlt hatte — und erreichte sein Ziel kurz vor Anbruch der Dunkelheit. Er fühlte sich an jenem Abend zu müde, um sein eigentliches Vorhaben energisch zu betreiben, und schließlich fiel ihm ein, daß er ohnehin etwas vergessen hatte: Allein hatte er keine Möglichkeit festzustellen, ob es ihm geglückt war oder nicht.

Am nächsten Morgen führ er wieder nach Indio und kaufte sich den besten und teuersten kleinen Radioapparat, den er finden konnte, einen Apparat, mit dem er zu jeder Tages- und Nachtzeit Sendungen von überall her empfangen konnte.

Jede beliebige Nachrichtensendung würde es ihm verraten.

Der einzige Haken dabei war nur, daß er seit zwei Wochen, bis zum heutigen Abend, vergeblich auf eine Bestätigung durch den Funk gewartet hatte, wo noch immer direkt oder indirekt vom Vorhandensein der Martier die Rede war.

Und Luke versuchte alles, was er sich ausdenken konnte und wurde fast verrückt dabei.

Er w u ß t e , daß Martier nur imaginär waren, das Produkt seiner eigenen Phantasie (wie alles andere), daß er sie vor fünf Monaten im März erfunden hatte, als er sich die Fabel für einen Zukunftsroman ausdachte. Er hatte sie erfunden.

Doch er hatte schon hunderte anderer Fabeln erfunden und keine davon hatte sich wirklich zugetragen, nicht einmal scheinbar, daher mußte an jenem Abend etwas anders gewesen sein, und er gab sich alle Mühe, die genauen Umstände zu rekonstruieren.

Bis auf die genaue Getränkemenge und den leichten Trunkenheitsgrad, da auch das ein Faktor gewesen sein konnte. Wie bei seinem ersten Aufenthalt hier draußen, blieb er tagsüber völlig nüchtern — ganz gleich, ob er mit einem schweren Kopf erwachte — schritt im Zim-mer auf und ab und sann verzweifelt nach (damals über eine Fabel, diesmal über eine Lösung). Damals wie jetzt gestattete er sich das erste Glas erst, nachdem er sich etwas zum Abendessen gemacht und gegessen hatte und teilte sich seine Getränke dann sorgfältig ein — zum mindesten solange, bis er sein Vorhaben für den Abend angewidert aufgegeben hatte.

Was war eigentlich los?

Hatte er nicht die Martier erfunden, indem er sie sich eingebildet hatte? Warum konnte er den Vorgang nicht umkehren, jetzt, da er aufgehört hatte, sich welche einzubilden und die Wahrheit wußte? Selbstverständlich war ihm das, so weit es ihn selber betraf, gelungen. Doch warum hörten andere Leute nicht auf, sie wahrzunehmen und zu hören?

Es muß eine psychische Blockierung sein, sagte er sich. Aber dadurch daß er der Sache einen Namen gab, kam er auch nicht weiter.

Er nahm einen Schluck und starrte auf das Glas. Versuchte, zum tausendsten Male seit seinem Hiersein, sich daran zu erinnern, wieviele Gläser er an jenem Märzabend getrunken hatte. Viele waren es nicht gewesen, das wußte er; er hatte sie nicht stärker gespürt als die beiden, die er heute Abend getrunken hatte.

Oder hatte das Trinken überhaupt nichts damit zu tun?

Wieder nahm er einen Schluck, stellte das Glas ab und lief im Zimmer auf und ab. „Es gibt keine Martier", dachte er. „Es hat nie welche gegeben; sie existieren — genau wie alles andere — nur solange ich sie mir einbildete. Und jetzt bilde ich mir keine mehr ein.

Deshalb -"

Vielleicht hatte dies die gewünschte Wirkung gehabt. Er trat an das Radio, stellte es an und wartete, bis es warm geworden war. Hörte sich irgendein Geschwätz an und sagte sich, daß er, selbst wenn es ihm soeben geglückt war, ein paar Minuten würde warten müssen, ehe jemand merkte, daß die Martier weg waren, da sie nicht überall und ständig wahrgenommen wurden. Bis die Stimme eines Ansagers ertönte: „Augenblicklich versucht ein Martier direkt hier im Studio ..."

Luke schaltete den Apparat ab und fluchte.

Nahm noch einen Schluck und setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort.

Vielleicht sollte er die psychische Blockierung zu umgehen versuchen, anstatt dagegen anzurennen? Sie konnte sich nur gebildet haben, weil er zwar recht hatte, aber nicht genug Selbstvertrauen besaß. Vielleicht sollte er sich etwas anderes einbilden, etwas völlig Verschiedenartiges, und wenn seine Phantasie es dann ins Leben rief, so konnte selbst sein verdammtes Unterbewußtsein es nicht mehr leugnen, und dann, in diesem Moment . . .

Es war einen Versuch wert. Er hatte nichts dabei zu verlieren.

Er würde sich jedoch etwas vorstellen, was er wirklich herbeisehnte, und wonach sehnte er sich — abgesehen vom Verschwinden der Martier — im Augenblick am meisten?

Nach Margie natürlich.

Er fühlte sich furchtbar verlassen nach diesen zwei Wochen in der Einsamkeit. Und wenn er Margie durch intensives An-sie-denken herversetzen könnte, so würde er auch imstande sein, jene psychische Blockierung zu durchbrechen, das wußte er.

„Moment mal", dachte er. „Ich werde mir vorstellen, daß sie sich auf der Fahrt hierher befindet, schon durch Indio hindurch und nur noch eine halbe Meile entfernt ist. Bald werde ich den Wagen hören."

Alsbald hörte er den Wagen.

Am liebsten wäre er mit einem einzigen Satz bis an die Tür gesprungen, aber er zwang sich, langsam zu gehen. Als er die Tür öffnete, erblickte er näherkommende Scheinwerfer. Sollte er jetzt — ?

Nein, er würde warten, bis er ganz sicher war. Er glaubte zwar bereits zu erkennen, daß es Margies Wagen war, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Er würde warten, bis der Wagen hielt, bis Margie ausstieg, bis er wußte. Und dann in diesem goldenen Augenblick würde er denken: E s gibt keine Martier.

Und es würde auch keine geben.

In wenigen Minuten würde der Wagen hier sein.

Es war einundzwanzig Uhr fünf, Pazifische Zeit. In Chikago war es dreiundzwanzig Uhr fünf, und Mr. Oberdorffer trank Bier und wartete darauf, daß sein Superschwingungserzeuger auf Touren kommen sollte; in Äquatorialafrika brach der Tag an und ein Medizinmann namens Bugassi stand mit verschränkten Armen unter dem größten je dagewesenen Juju und wartete, daß die ersten Sonnenstrahlen darauf fallen sollten.

Vier Minuten später, einhundertsechsundvierzig Tage und fünfzig Minuten nach ihrem Erscheinen verschwanden die Martier. Überall gleichzeitig. Von der ganzen Erde.

Wo sie auch verblieben sein mochten, es gibt kein verbürgtes Beispiel dafür, daß von diesem Augenblick an je wieder einer gesehen wurde. Daß man Martier in bösen Träumen und im Delirium tremens sieht, kommt zwar noch vor, aber ein derartiges Sehen kann man kaum verbürgt nennen.

Bis zum heutigen Tage .. .

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