Teil Zwei Die verlorenen Kinder

Zehn

Erst jetzt kommt mir der Gedanke — falls Sie einem alten Mann verzeihen können, dass er den Text seiner Memoiren noch einmal Revue passieren lässt —, wie verstörend die Ankunft der Chronolithen auf die Generation gewirkt haben muss, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion volljährig wurde… die Generation meines Vaters, dem allerdings das Schlimmste erspart blieb.

Diese Generation hatte die Diktaturen der Dritten Welt eher mit Ungeduld als mit Empörung betrachtet, für sie waren die pompösen Paläste und Monumente die Ausschweifungen einer vergangenen Epoche, Spukschlösser, die in der steifen Brise von Nikkei und Nasdaq wankten.[23]

Der Aufstieg eines Kuin traf sie völlig unvorbereitet.

Sie nahmen die Bedrohung ernst, waren aber taub für seine Anziehungskraft. Dass sich eine Million unterernährte Asiaten für ihn begeisterten, konnten sie sich vorstellen. Das war zumindest entfernt plausibel. Doch als ihnen die eigenen Kinder und Kindeskinder mit Verachtung begegneten, verflog ihre Zuversicht.

Sie suchten mehrheitlich ihre Zuflucht in der Rüstung. Kuins Monumente mochten ans Wunderbare grenzen, doch sie prophezeiten schließlich die militärischen Eroberungen, in denen sie ihren Ursprung hatten, und eine gut gerüstete Nation konnte nicht erobert werden. So oder ähnlich wurde argumentiert. Der Jerusalem-Kuin rief eine zweite Woge nationaler Anstrengung hervor: Man verdoppelte die Investitionen in Forschung, in ein Netz von Spürsatelliten, eine neue Generation von Raketenabwehrdrohnen, intelligente Minen und Kampf- sowie Versorgungsroboter. 2029 wurde die Wehrpflicht wiedereingeführt und das stehende Heer wuchs um eine halbe Million Rekruten. (Was die allgemeine Rezession im Gefolge der Aquifer-Krise, des ramponierten Zustands der asiatischen Wirtschaft und der beginnenden jahrelangen Atchafalaya-Becken-Katastrophe zu verschleiern half.)

Wir (ich sage das als Amerikaner) hätten Kuin schon als Säugling bombardiert, hätte uns jemand verraten können, wo er sich befand. Doch in Südchina und im größten Teil von Südostasien herrschte zügellose Barbarei, Warlords in gepanzerten Geländefahrzeugen tyrannisierten hungernde Bauern. Jeder einzelne dieser engstirnigen Tyrannen hätte Kuin sein können. Die meisten behaupteten das auch. Dabei stand nicht einmal fest, dass Kuin ein Chinese war. Er hätte überall sein können.

Inzwischen scheint klar (im Gegensatz zu damals), dass Kuin gerade deswegen so gefährlich war, weil er sich nicht erklärt hatte. Er besaß keine andere Bühne als seine Eroberungen, keine andere Ideologie als den Endsieg. Indem er nichts versprach, versprach er alles. Die Enteigneten, die Entrechteten und die bloß Unglücklichen, sie alle neigten dazu, sich mit Kuin zu identifizieren. Mit Kuin, der die Berge einebnen und die Täler auffüllen würde. Kuin, der ihnen Gehör verschaffen würde, weil es sonst niemand tat.

Für die Generation nach mir repräsentierte Kuin das radikal Neue, den Sturz antiquierter Autoritätsstrukturen und den Aufstieg von Mächten so kalt und rücksichtslos modern wie die Chronolithen selbst.

Kurz gesagt, er nahm uns die Kinder weg.


Als ich den Anruf wegen Kait bekam (von Janice, ohne Videofenster, weil sie nicht wollte, dass ich sie weinen sah), da wusste ich, dass ich Baltimore verlassen musste, und zwar ohne einen Morris Torrance, der mir wie ein Schatten folgen würde.

Was nicht leicht war, aber sicher leichter als noch vor Jerusalem. Vor Jerusalem hatte Sue Chopra die Chronolithen-Forschung unter großzügiger Lenkung der Bundesbehörden geleitet. Diese Vorrangstellung war kompromittiert worden durch ihre bewusste Beschränkung auf die rein theoretischen Aspekte der Chronolithen-Forschung — ihre Besessenheit von der Mathematik der Tau-Turbulenz und ihr Desinteresse gegenüber ganz praktischen Fragen der Ortung und Abwehr — und nicht zuletzt durch ihren katastrophalen Auftritt im Kongress vom Juni 2028. Im Laufe der öffentlichen Befragung hatte sie sich geweigert, Senator Lazars Hypothese in Betracht zu ziehen, der zufolge der Jerusalem-Chronolith ein Vorbote der Endzeit sein könne. (Sie bescheinigte dem Senator eine »mangelhafte Bildung« und nannte die Idee einer »drohenden Apokalypse« eine absurde und kontraproduktive Mythologie, die dem Vorschub leistet, was wir mit aller Macht einzudämmen versuchen. Lazar, ehemaliger Republikaner, der es zum Scharfmacher der Föderalisten gebracht hatte, nannte Sue einen »Elfenbeinturm-Atheisten«, den man dringend »von der öffentlichen Brust entwöhnen« müsse.)

Sie war natürlich viel zu wertvoll, um sie kaltzustellen. Doch sie war nicht länger die zentrale Figur in der Koordination der Chronolithen-Forschung. Man hielt sie aus der öffentlichen Kritik heraus. Sie blieb die Koryphäe für die abgehobenen Kuriosa der Tau-Turbulenz, war aber längst nicht mehr das Aushängeschild der Nation.

Das Gute daran war, dass so ein kleiner Fisch wie ich nicht mehr im Fadenkreuz des FBI stand, auch wenn meine Akte immer noch in den digitalen Katakomben des Hoover-Gebäudes vor sich hin schmachtete.

Morris Torrance hatte beim FBI gekündigt, er hatte nicht warten wollen, bis man ihn mit einer neuen Aufgabe betraute. Morris war ein gläubiger Mensch. Er glaubte an die Göttlichkeit von Jesus Christus, die Redlichkeit von Sulamith Chopra und die Wahrhaftigkeit seiner Träume. Die Epoche der Chronolithen hatte solche Wandlungen möglich gemacht. Ich glaube, er war auch ein bisschen verliebt in Sue, wiewohl er sich (anders als Ray Mosely) nie irgendwelchen Illusionen über ihre Sexualität hingab. Er blieb ihr Leibwächter und Security-Chef, auch wenn sein Gehalt nur noch ein Bruchteil von dem gewesen sein dürfte, was ihm die Regierung gezahlt hatte.

Sue und Morris wollten mich nach wie vor am Projekt beteiligen — Sue, weil ich genau in ihr evolvierendes Muster signifikanter Zufälligkeit passte; und Morris, weil er glaubte, ich sei wichtig für Sue. Inwieweit sie noch legale Hebel in Bewegung setzen konnten, um mich bei der Stange zu halten, war schwer zu sagen. Morris war jetzt Zivilist. Trotzdem, wenn ruchbar wurde, dass ich fort wollte, würde er sich an meine Fersen heften. Vielleicht würde er sogar ein paar Fäden ziehen, nur um mich vor Ort zu halten. Morris mochte mich auf seine verhaltene Art, doch seine Loyalität galt in erster Linie Sue.

Sue war inzwischen damit beschäftigt, ihr zerschlagenes Chronolithen-Projekt als Internet-Zirkel Wiederaufleben zu lassen und alle Daten aufzugreifen, die das Verteidigungsministerium freigab, um sie in die Mathematik der Tau-Turbulenz zu füttern. Im Februar 2031 verlor sie die Mittel des Umweltministeriums und musste erneut um Unterstützung buhlen, derweil reichlich Geld in die Vorzeigeprojekte floss: in den Gammastrahlenlaser-Ringbeschleuniger in Stanford etwa und die Gruppe »Exotische Materie«, die außerhalb von Chicago arbeitete.

Ich verbrachte den Vormittag damit, den Code zu bereinigen, den ich für Sue geschrieben hatte, eine kleine Routine, die in die Welt hinausgehen sollte, um Medienknoten nach relevanten Synchronizitäten abzusuchen, und zwar mit einem Substantive sortierenden Algorithmus, den Sue selbst ausgeheckt hatte. Morris tauchte immer mal wieder im Büro auf; er wirkte schmäler als früher. Auch älter. Aber so vergnügt wie immer.

Sue war in ihrem eigenen Büro; ich unterbrach meine Arbeit und klopfte, um ihr zu sagen, dass ich jetzt ginge. In die Mittagspause natürlich, doch sie musste es mir angehört haben. »Richtig lange? Hast du's denn weit, Scotty?«

»Nicht weit.«

»Du weißt, wir sind noch nicht fertig.«

Sie hätte den Code meinen können, den wir ausgebrütet hatten, aber ich war mir nicht sicher.

Ihre Beinwunde war schon seit Jahren verheilt, doch das Jerusalem-Erlebnis hatte noch andere Narben hinterlassen. Jerusalem, gestand sie mir eines Tages, hatte ihr gezeigt, wie gefährlich ihre Arbeit war — dadurch, dass sie den Posten so nahe ans Zentrum der Tau-Turbulenz gelegt hatte, hatte sie nicht nur sich, sondern auch alle anderen in ihrer Umgebung gefährdet.

»Ich glaube, es ist unausweichlich«, sagte sie traurig, »das ist das Schlimmste daran. Du musst nur lange genug auf dem Gleis stehen, früher oder später kommt ein Zug.«

Ich erklärte ihr, das Debugging noch heute abzuschließen. Sie funkelte mich lange und skeptisch an. »Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«

»Im Moment nicht.«

»Wir reden noch mal«, sagte sie.

Wie die meisten ihrer Prophezeiungen sollte sich auch diese bewahrheiten.


»Wo gehen Sie essen?«, fragte Morris. »Was dagegen, wenn ich mitkomme?« Ich lehnte ab: Ich hätte ein paar Dinge zu erledigen und käme unterwegs wahrscheinlich nur zu einem Sandwich. Wenn er Verdacht schöpfte, so ließ er sich nichts anmerken.

Ich löste mein Konto bei der Zurich-American auf, transferierte das meiste Geld auf eine Transit-Card und ließ mir den Rest in altmodischen Banknoten auszahlen. Ich fuhr ein bisschen länger herum, um sicherzugehen, dass Morris mir nicht folgte, so abwegig das auch war. Eher hatte er mein GPS angezapft. Also gab ich den Chrysler bei einem Vertragshändler in der Innenstadt in Zahlung, sagte der Verkäuferin, draußen stünde nichts, was mir zusagte und ob es ihr etwas ausmache, wenn ich mich unter den anderen Marken umsähe. Nein, meinte sie, und sie würde mich gerne im Hinterzimmer durch den virtuellen Bestand führen. Ich tippte auf einen stupsnasigen VW-Edison in Rauchblau, nach meinem Dafürhalten das nichtssagendste Auto, das je vom Band lief; ließ meinen Chrysler auf dem Parkplatz stehen und akzeptierte eine Probefahrt durch die halbe Stadt. Der reale VW sah etwas mitgenommener aus als der virtuelle, aber das Triebwerk war, soweit ich das beurteilen konnte, robust und einwandfrei.

Der ganze Spionageplunder hinterließ natürlich eine elektronische Spur so breit wie der Missouri. Morris Torrance konnte zweifellos eins und eins zusammenzählen und mich abfangen, aber er war nicht schnell genug, um mich noch in Baltimore zu erwischen. Bei Einbruch der Dunkelheit war ich zweihundert Meilen weiter westlich, fuhr mit offenen Fenstern in einen warmen Juniabend hinein und warf Antacidtabletten ein, um meinen Magen zu beruhigen.

Wo der Highway den Ohio überquerte, gab es ein großes Auffanglager, schätzungsweise tausend fadenscheinige Zelte, die in der Frühlingsbrise schlackerten, Dutzende von Fässern, aus denen unstete Flammen schlugen. Die meisten Menschen hier waren wohl Flüchtlinge aus dem Tiefland von Louisiana, Arbeitslose aus den Raffinerien und petrochemischen Werken, Farmer aus den Überschwemmungsgebieten. Der durstige Ton des Atchafalaya-Beckens hatte trotz massiver Anstrengungen der US-Pioniertruppe bereits begonnen, den Mississippi aus seinen versandeten Deltas zu ziehen. Mehr als eine Million Familien waren von den Überschwemmungen dieses Frühlings vertrieben worden, ganz zu schweigen von dem Chaos, das durch zerstörte Brücken und Schleusen und unter Schlamm erstickten Straßen verursacht wurde.

Menschen säumten die Pannenspur und bettelten um Mitfahrgelegenheit in beide Richtungen. Trampen war hier schon seit fünfzig Jahren verboten und Mitfahrgelegenheiten waren eine Seltenheit. Doch diese Menschen (fast nur Männer) machten sich darüber keine Gedanken mehr. Sie standen da, steif wie Vogelscheuchen, und blinzelten ins Scheinwerferlicht.

Hoffentlich hatte Kait einen sicheren Platz zum Schlafen gefunden.


Als ich die Außenbezirke von Minneapolis erreichte, stieg ich in einem Motel ab. Der Empfangschef, so alt wie eine Schildkröte nur werden konnte, machte große Augen, als ich Bares aus der Brieftasche nahm. »Damit muss ich ja zur Bank«, sagte er missmutig. Also legte ich fünfzig Dollar drauf, und er war so nett, meine Identität nicht abzugleichen. Das Zimmer, das er mir gab, war eine Kammer mit Bett und Gratis-Terminal und einem Fenster, das auf den Parkplatz ging.

Ich war todmüde, wollte aber erst noch mit Janice reden.

Whit meldete sich. »Scott«, sagte er herzlich, aber freudlos. Er schien selbst Schlaf zu brauchen. »Ich nehme an, es ist wegen Kaitlin. Leider wissen wir immer noch nicht mehr. Die Polizei scheint davon auszugehen, dass sie immer noch in der Stadt ist, also sind wir vorsichtig optimistisch. Mehr können wir im Moment auch nicht tun.«

»Danke, Whit, aber ich möchte jetzt mit Janice sprechen.«

»Es ist spät. Sie braucht Ruhe, Scott.«

»Ich werde es kurzmachen.«

»Also gut«, sagte Whit und entfernte sich vom Terminal. Augenblicke später zeigte sich Janice, sie war im Nachthemd, aber offensichtlich hellwach.

»Scotty«, sagte sie. »Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber du warst nicht zu Hause.«

»Ja, ich bin in der Stadt. Können wir uns morgen treffen und die Sache bereden?«

»Du bist in der Stadt? Du hättest nicht extra kommen müssen.«

»Finde ich doch, Janice. Kannst du dich für eine Stunde freimachen? Ich kann vorbeikommen oder…«

»Nein«, sagte sie. »Wir treffen uns irgendwo. Wo übernachtest du?«

»Hier ist es auch nicht so gut. Wie wär's mit dem kleinen Steakhaus in Dukane, kennst du das?«

»Ich glaube, es hat noch auf.«

»Um zwölf?«

»Sagen wir um eins.«

»Und versuch zu schlafen«, sagte ich.

»Du auch.« Sie zögerte. »Es sind jetzt vier Tage, Scotty. Vier Nächte. Ich muss die ganze Zeit an sie denken.«

»Morgen reden wir«, sagte ich.

Elf

Das Videofenster ersetzt keine leibhaftige Begegnung. In den letzten Monaten hatte ich Janice sechs- oder siebenmal angerufen, doch ich hätte sie fast nicht erkannt, als sie durch die Tür kam.

Was sie so verändert hatte, war vermutlich die Kombination aus Wohlstand und Angst.

Whit hatte trotz des wirtschaftlichen Abschwungs Erfolg gehabt. Janice trug ein unverkennbar teures blaues Tweedkostüm mit kurzer Jacke, sah aber aus, als hätte sie in den Kleiderschrank gelangt und die Sachen vom Bügel gerissen — Kragen verdreht, Taschen nicht zugeknöpft. Die Augen waren gerötet, die Haut darunter geschwollen und grau.

Wir umarmten uns herzlich, aber neutral, und sie setzte sich mir gegenüber.

»Nichts Neues«, sagte sie. Sie fingerte an ihrer Handtasche herum, in der sich zweifellos das Handy befand. »Die Polizei will anrufen, wenn sich irgendwas ergibt.«

Sie bestellte einen Salat, den sie nicht anrührte, und eine Margarita, die sie zu hastig trank. Es hätte schön sein können, über etwas anderes zu reden, doch wir wussten, weshalb wir hier waren. Ich sagte: »Du musst die ganze Sache noch mal mit mir durchgehen. Kommst du damit klar?«

»Ja«, sagte sie, »ich denke schon, aber, Scott, du musst mir sagen, was du vorhast.«

»Was ich vorhabe?«

»Ja — ich meine, es liegt jetzt in den Händen der Polizei, und es könnte ein Problem geben, wenn du dich zu sehr einmischst.«

»Ich bin ihr Vater. Ich denke, ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was los ist.«

»Zu erfahren, ja sicher. Aber mehr auch nicht.«

»Ich habe nicht vor, mich einzumischen.«

Sie lächelte matt. »Warum überzeugt mich das so wenig?«

Ich wollte eine Frage stellen, doch Janice sagte: »Nein, warte eine Minute. Du sollst das hier haben.«

Sie griff in die Handtasche und reichte mir einen Manila-Umschlag. Ich machte ihn auf und fand ein ziemlich neues Foto von Kaitlin. Janice hatte es auf glänzendes Material ausgedruckt; ein klares, fesches Bild.

Kait war groß für ihre sechzehn Jahre und unbestreitbar hübsch. Das Schicksal hatte ihr den Fluch der Akne erspart und, so ausgeglichen wie sie wirkte, auch die pubertäre Unsicherheit. Melancholisch, aber gesund sah sie aus.

Einen Moment lang verstand ich nicht, was an diesem Bild so ungewöhnlich war. Dann fiel es mir auf. Kait trug das lange aschblonde Haar zu einem Zopf nach hinten geflochten, so dass ihre Ohren freiblieben.

Alle beide.

»Das hast du ermöglicht, Scott. Du sollst wissen, dass ich dir dafür dankbar bin.«

Die Innenohrprothese war selbstverständlich unsichtbar, aber die kosmetische Arbeit war tadellos. Wie es sich gehörte. Das Ohr war nicht künstlich; genetisch war es von ihr, aus ihren Stammzellen gezüchtet. Es waren keine Narben zu sehen bis auf eine feine verblasste Naht. Unsicher war sie aber noch Jahre nach der Operation gewesen.

»Als der Verband entfernt wurde, war alles noch rosarot, aber perfekt, weißt du? Wie eine frische Rose.«

Zur Operation war ich dagewesen, aber nicht, als man den Verband abnahm. Das war während der Damaskus-Krise gewesen, als ich bei Sue war.

Janice fuhr fort: »Ich sagte ihr, wie schön sie sei, gleich in der Klinik vor dem Arzt und vor den Schwestern. Sie legte den Kopf schief, als wüsste sie nicht genau, wo meine Stimme herkam. Du kannst dir ja denken, so was braucht seine Zeit. Und weißt du, was sie gesagt hat?«

»Was?«

Eine einzelne Träne rollte Janice über die Wange. »Du brauchst nicht so zu schreien, sagte sie.«

Es begann, so Janice, als sie zum Jugendtreff fuhr und nicht heimkam.

»Was für ein Jugendtreff?«

»Einfach ein — na ja…«, Janice stockte.

»Wenn wir nicht offen sind, hat alles keinen Sinn«, sagte ich.

»Es ist die Jugendabteilung einer Organisation, bei der Whit Mitglied ist. Du darfst das nicht falsch sehen, Scott. Es ist keine Pro-Kuin-Sache. Diese Leute suchen nach Alternativen zu Waffengewalt.«

»Jesus Christus«, sagte ich. »Janice — Whit ist ein Copperheadl«

In letzter Zeit hatten die Zeitungen den Begriff »Copperhead« aus der Mottenkiste geholt, und zwar als pauschale Verunglimpfung der verschiedenen kuinistischen Bewegungen. Janice schlug den Blick nieder und sagte: »Den Ausdruck benutzen wir nicht«, was ich so deutete, dass Whit ihn nicht mochte.[24] »Ich verstehe nichts von Politik. Das weißt du. Whit auch nicht, es war nur so, dass ein paar Leute aus der oberen Etage da eingetreten sind. Sich auf einen Krieg vorzubereiten, der vermutlich nicht geführt werden muss, sei ökonomischer Unsinn, meint Whit.«

Das war ein Standardargument der Copperheads, es aus dem Mund von Janice zu hören, verwirrte mich. Nicht, dass es völlig aus der Luft gegriffen gewesen wäre, aber daraus sprach auch die kuinistische Verachtung für demokratische Prozesse, die Idee, ein Kuin könne auf einem Planeten mit allzu viel ökonomischen, religiösen und ökologischen Gräben für Ordnung sorgen.

Ich hatte den Aufstieg der Copperhead-Bewegung im Netz verfolgt — zwangsläufig, da Sue sie für signifikant und Morris sie für potenziell gefährlich hielt. Was ich zu sehen bekam, gefiel mir gar nicht. »Und da hat er Kaitlin mit hineingezogen?«

»Kait wollte es. Anfangs ging sie mit zu den normalen Versammlungen, aber dann interessierte sie sich für die Jugendorganisation.«

»Und da hast du sie eintreten lassen — einfach so?« Sie sah mich flehend an. »Ehrlich, Scotty, ich hab mir nichts dabei gedacht. Du lieber Gott, sie bauen keine Rohrbomben. Es ging nur um Soziales. Ich meine, sie spielten Baseball. Sie spielten Theater. Teenager, Scott. So viel neue Freundschaften — Kait hatte zum ersten Mal in ihrem Leben richtige Freunde. Was hätte ich tun sollen, sie wegsperren?«

»Ich bin nicht hier, um den Richter zu spielen.«

»Eben.«

»Erzähl mir einfach, was passiert ist.« Sie seufzte. »Ich glaube, es gab ein paar Radikale unter den Mitgliedern. Man kann den Dingen nicht entfliehen, weißt du? Die jungen Leute sind besonders empfänglich. Es ist in den Nachrichten, es ist im Netz. Früher hat sie manchmal darüber geredet, über…«, sie senkte die Stimme, »über Kuin und dass man nicht verurteilen soll, was man nicht versteht, so was. Ich hätte nicht gedacht, dass es ihr so ernst damit war.«

»Sie ging zu einem Treffen und kam nicht zurück.«

»Sie nicht und zehn weitere, die meisten älter als Kait. Offenbar haben sie wochenlang über die Idee einer Wallfahrt geredet, den Hadsch, wie sie es nennen.«

Ich schloss die Augen.

»Die Polizei meint, sie wären wahrscheinlich noch in der Stadt«, fuhr Janice hastig fort, »würden mit einer anderen Clique von Möchtegernradikalen in einem leerstehenden Haus hocken, große Töne spucken und sich das Essen zusammenklauen. Wenn es das nur ist, wäre es ja schon schlimm genug.«

»Hast du mal auf eigene Faust gesucht?«

»Die Polizei hat abgeraten.«

»Und Whit?«

»Whit meint, wir sollen mit der Polizei kooperieren. Das gilt auch für dich, Scott.«

»Wie heißt euer Ansprechpartner bei der Polizei?«

Sie nahm ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb einen Namen samt Telefonnummer auf die Papierserviette, sie tat es widerwillig und bedachte mich mit langen, missmutigen Blicken.

Ich sagte: »Und wie dieser Copperhead-Club heißt, dem Whit angehört.«

Jetzt stockte sie. »Ich will nicht, dass du Schwierigkeiten machst.«

»Das ist nicht der Grund meines Kommens.«

»Scheiße. Du kommst hierher mit diesem ganzen — dieser moralischen Entrüstung…«

»Meine Tochter wird vermisst. Deshalb bin ich hier. Was daran macht dir solche Angst?«

Sie hielt inne. Dann sagte sie: »Kait ist noch keine Woche von zu Hause fort. Sie kommt vielleicht morgen schon zurück. Davon muss ich ausgehen. Und davon, dass die Polizei alles tut, was in ihrer Macht steht. Aber ich sehe diesen Ausdruck in deinen Augen. Und den kann ich nicht ausstehen.«

»Welchen Ausdruck?«

»Als wärst du jeden Augenblick bereit zu trauern.«

»Janice…«

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Nein. Scott. Es tut mir Leid. Ich bin dir dankbar für alles, was du für Kait getan hast. Ich weiß, du hast keine Mühe gescheut. Aber ich werde dir nicht aufschreiben, welchen Organisationen Whit angehört. Das ist seine Privatsphäre. Wir haben alles mit der Polizei besprochen, und dabei bleibt es, vorerst jedenfalls. Und jetzt guck nicht wieder mit diesem gottverdammten Begräbnisblick

Ich war getroffen, aber ich machte Janice keinen Vorwurf, auch dann nicht, als sie aufstand und auf die sonnengebleichte Straße hinausstakste. Ich wusste, wie es in ihr aussah. Kaitlin war in Gefahr, und Janice fragte sich, was sie falsch gemacht hatte, welchen Ball sie vermasselt hatte, wie, um alles in der Welt, alles so rasch hatte schiefgehen können.

Seit zehn Jahren stellte ich mir diese Fragen schon. Für Janice war es eine neue Erfahrung.

Nach dem Mittagessen fuhr ich nach Clarion Pharma, einem großen Industriekomplex draußen, wo die Stadtrandsiedlungen an die Weizenfelder grenzen, und erklärte dem Wachmann, ich wolle zu Mr. Delahunt. Er klemmte mir eine Karte unter den linken Scheibenwischer und wies mich darauf hin, mir am Haupteingang einen Besucherausweis zu ziehen. Aber die Security von Clarion war lax. Ich parkte, betrat das Gebäude durch eine unverschlossene Tür an den Laderampen, stieg in einen Aufzug und fuhr in die Etage, auf der laut Display das Büro von Whit lag.

Und marschierte wie selbstverständlich an seiner Sekretärin vorbei in eine anonyme Flucht aus türlosen Räumen hinein, in denen lauter adrette Männer und Frauen Telefonkonferenzen abhielten, bis ich im schmalen Korridor auf Whitman Delahunt stieß, der an einem Kühlbehälter stand und gerade seinen Becher mit gefiltertem Quellwasser leerte. Er machte große Augen, als er mich gewahrte.

Whit sah so tadellos aus wie immer. Ein bisschen grauer an den Schläfen und etwas fülliger um die Taille, aber das tat ihm keinen Abbruch, im Gegenteil. Er trug sogar den Anflug eines Lächelns im Gesicht, das aber sofort erlosch, als er meiner ansichtig wurde. Er warf den Pappbecher in den Abfalleimer. »Scott«, sagte er. »Jesus. Du hättest anrufen können.«

»Ich dachte, wir reden besser von Mann zu Mann.«

»Sollten wir, und ich will nicht herzlos erscheinen, ich weiß, was du durchmachst, aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick.«

»Ich möchte eigentlich nicht warten.«

»Scott, sei vernünftig. Vielleicht heute Abend…«

»Ich finde nicht, dass ich unvernünftig bin. Seit fünf Tagen ist meine Tochter Gott weiß wo. Schläft auf der Straße, soweit ich weiß. Tut mir Leid, wenn es dich bei der Arbeit stört, Scott, aber wir müssen uns unbedingt unterhalten.«

Er zögerte, dann blies er sich auf. »Es wäre mir verdammt peinlich, wenn ich die Security rufen müsste.«

»Denk drüber nach und setz mich inzwischen über deinen Copperhead-Club ins Bild.«

Seine Augen weiteten sich. »Nimm deine Zunge in Acht.«

»Oder wir unterhalten uns da, wo wir ungestört sind.«

»Zum Teufel mit dir, Scotty! Also gut. Jesus! Dann komm.«

Ich folgte ihm zur Chef-Kantine. Die Warmhaltetheken waren leer, die Küche hatte für heute geschlossen. Der Raum war verwaist. Wir saßen uns an einem lackierten Holztisch gegenüber, ganz wie zivilisierte Menschen.

Whit lockerte die Krawatte. »Janice hat es kommen sehen. Du würdest in der Stadt auftauchen und alles komplizieren. Du solltest wirklich mit der Polizei reden, Scott. Denn, was immer du im Schilde führst, ich gebe es weiter, verlass dich drauf.«

»Du hast den Copperhead-Club erwähnt.«

»Nein, du hast ihn erwähnt, und würdest du bitte diese scheußliche Bezeichnung unterlassen? Sie geht meilenweit an der Wahrheit vorbei. Es handelt sich um ein Bürgerkomitee, zum Kuckuck. Ja sicher, von Zeit zu Zeit wird über Abrüstung geredet, aber auch über Zivilschutz. Wir sind durchschnittliche Menschen, die sonntags in die Kirche gehen. Du darfst uns nicht danach beurteilen, was in der Zeitung steht, das sind Randerscheinungen.«

»Wie also soll ich dein Bürgerkomitee überhaupt nennen?«

»Wir sind…« Er besaß die Größe, Verlegenheit zu zeigen. »Wir sind das Twin Cities Peace with Honor Committee.[25] Du musst das verstehen, es steht einfach eine Menge auf dem Spiel. Die Kids haben Recht, Scott — die Rüstung verzerrt die Wirtschaft, und es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Kanonen und Bomben etwas gegen Kuin bewirken können, wenn er denn überhaupt eine Bedrohung für die Staaten darstellt, was noch lange nicht bewiesen ist. Wir stellen die weitverbreitete Überzeugung in Frage, dass…«

»Ich will kein Manifest, Whit. Was für Leute gehören dazu?«

»Prominente.«

»Wie viele?«

Wieder stieg ihm die Röte ins Gesicht. »Etwa dreißig.«

»Und du hast Kait in die Nachwuchstruppe gesteckt?«

»Weit gefehlt. Die jungen Leute nehmen das alles viel ernster als wir… als unsere Generation, meine ich. Sie gehen nicht zynisch damit um. Das beste Beispiel ist Kaitlin. Sie kommt vom Jugendtreff nach Hause und zählt alles auf, was ein Führer wie Kuin tun könnte, wenn wir ihn nicht immer und überall bekriegen würden. Als ob man gegen einen Mann kämpfen könnte, der die Zeit kontrolliert? Anstatt einen Weg zu suchen, die Zukunft zu instrumentalisieren

»Habt ihr das mal diskutiert, du und Kait?«

»Ich habe sie nicht indoktriniert, wenn du das meinst. Ich respektiere Kaitlins Meinung.«

»Aber sie hat sich auf Radikale eingelassen, richtig?«

Whit rückte sich zurecht. »Man muss sie nicht unbedingt in diese Schublade stecken. Ich kenne ein paar von den Kids. Sie übertreiben ein bisschen, aber das ist Enthusiasmus und kein Fanatismus.«

»Und alle sind spurlos verschwunden seit Samstag.«

»Mein Gefühl sagt mir, dass sie okay sind. So was kommt vor. Kids legen die GPS-Plakette ab, greifen sich ein Auto und verschwinden für ein paar Tage. Nicht schön, aber bestimmt kein Einzelfall. Tut mir Leid, wenn Kaitlin durch ein paar schwarze Schafe verleitet worden ist, Scott, aber die Jugend war noch nie ein Zuckerschlecken, nicht wirklich.«

»Wurde je über einen Hadsch gesprochen?«

»Wie bitte?«

»Einen Hadsch. Janice hat das Wort benutzt.«

»Hätte sie besser nicht. Auch ein Wort, das wir missbilligen. Ein Hadsch ist eine Wallfahrt nach Mekka. Aber die Kids meinen damit etwas anderes: die Reise zu einem Kuin-Denkmal oder dahin, wo eins erwartet wird.«

»Und du glaubst, dass sie so was vorhatten?«

»Keine Ahnung, was sie vorhatten, aber ich bezweifle, dass es ein Hadsch ist. Man kann nicht mit einem Daimler nach Madras oder Tokio fahren.«

»Du machst dir also keine Sorgen.«

Er rückte vom Tisch ab und sah aus, als wolle er ausspucken. »Das ist schon bösartig, Scott. Natürlich mache ich mir Sorgen. Die Welt ist gefährlich — gefährlicher als je zuvor, wenn du mich fragst. Ich will gar nicht daran denken, was Kait alles zustoßen kann. Deshalb will ich ja, dass die Polizei ungestört ihrer Arbeit nachgehen kann. Ich würde vorschlagen, du hältst dich daran.«

»Danke, Whit«, sagte ich.

»Und denk dran, Scott, für Janice ist es so schon schlimm genug.«

»Kann es denn schlimmer kommen?«

»Und wende dich an die Polizei. Ich meine es ernst. Ich kann dir die Arbeit auch abnehmen.«

Er hatte sich wieder gefangen. Ich stand vom Tisch auf: Ich wollte nicht länger schöne Worte über Kait hören, nicht aus seinem Mund.

Er saß da wie ein kleiner verwundeter Prinz und sah mir nach.

Aus dem Auto rief ich Janice an — ich wollte sie noch einmal sprechen, bevor Whit es tat.


Die Stadt hatte schwere Zeiten gesehen. Die Fenster, an denen ich vorbeifuhr, waren vergittert oder mit Brettern vernagelt; Discountläden, wo es früher gediegene Geschäfte gab; eingemietete Kirchen mit obskuren Namen. Der Streik der Müllabfuhr füllte die Bürgersteige mit Abfall.

Ich erzählte Janice per Handy, dass ich mit Whit gesprochen hatte.

»Du konntest wohl nicht anders, wie? Gerade als ich dachte, schlimmer kann es nicht kommen.«

Sie hatte einen Unterton, den ich nicht mochte. »Janice — hast du Angst vor ihm?«

»Nein, nicht wirklich, aber was ist, wenn er seinen Job verliert? Was dann? Du verstehst das nicht, Scotty. Eine Menge von dem, was Whit macht, ist bloß… er muss weitermachen, um voranzukommen, weißt du, was ich meine?«

»Meine Sorge gilt Kaitlin.«

»Ich weiß nicht, ob du Kait damit einen Gefallen tust.« Sie seufzte. »Die Polizei erwähnte eine Elterngruppe, vielleicht willst du da mal vorbeisehen.«

»Elterngruppe?«

»Eltern, deren Kinder abgängig sind, meistens Kinder mit kuinistischen Ideen. Hadsch-Eltern, wenn du weißt, was ich meine.«

»Das Letzte, wonach ich suche, ist eine Selbsthilfegruppe.«

»Du könntest Vergleiche anstellen, in Erfahrung bringen, was andere unternehmen.«

Ich war skeptisch. Doch sie zippte mir die Adresse und ich kopierte sie in mein Adressverzeichnis.

»Inzwischen«, sagte sie, »werde ich mich für deinen Auftritt entschuldigen.«

»Hat er sich entschuldigt, dass er Kait da mit hineingezogen hat?«

»Das geht dich nichts an, Scott.«

Zwölf

Gut einen Monat nach dem Jerusalem-Ereignis hatte ich einen Arzt aufgesucht und mit ihm ein langes Gespräch über Genetik und Wahnsinn geführt.

Mir war der Gedanke gekommen, Sues Logik des Zufalls könne eine persönliche Komponente haben. Was sie sagte, hieß doch mit anderen Worten, dass unsere Erwartungen die Zukunft prägen, und dass diejenigen von uns, die extremen Tau-Turbulenzen ausgesetzt sind, die Zukunft mehr prägen könnten als die meisten anderen.

Und wenn das, was der Welt widerfuhr, Irrsinn war, könnte einiges davon aus meinen dunkelsten seelischen Verliesen stammen? Hatte ich von meiner Mutter eine fehlerhafte Gensequenz geerbt und war es mein eigenes latentes Irresein, das Kugel- und Glasgarben in eine Hotelsuite auf dem Mt. Scopus geschickt hatte?

Besagter Arzt nahm eine Blutprobe und war bereit, in meinem Genom nach Markern für eine spät ausbrechende Schizophrenie zu fahnden. Aber so einfach sei das nicht, meinte er. Denn Schizophrenie an sich sei keine Erbkrankheit, genetisch bedingt sei lediglich die Disposition dazu. Grund genug, auf eine Gentherapie zu verzichten. Es gebe komplexe milieubedingte Auslöser. Er könne mir nur sagen, ob ich die Tendenz zu einer spätausbrechenden Schizophrenie geerbt habe — ein eher belangloser Befund ohne jeden Vorhersagewert.

Ich musste wieder daran denken, als ich das Motel-Terminal benutzte, um eine Weltkarte aufzurufen, auf der sämtliche Chronolithen verzeichnet waren. Wenn es denn Irrsinn war, hier waren seine greifbaren Symptome. Asien war eine rote Zone, zerfiel in fieberhafter Anarchie, obwohl sich in Japan, wo die regierende Koalition mit knapper Not ein Plebiszit überstanden hatte, und in Beijing, nicht aber in ländlichen Gegenden Chinas oder im Landesinnern, fragile nationale Regierungen hielten. Der indische Subkontinent war gezeichnet von Chronolithen, auch der Nahe Osten, nicht nur Jerusalem und Damaskus, sondern auch Bagdad, Teheran und Istanbul. Europa war von der physischen Manifestation des Kuinismus verschont geblieben, sie schien am Bosporus zum Stillstand gekommen zu sein, nicht aber ihre Fernwirkung: Rivalisierende »kuinistische« Splittergruppen hatten sich in Paris und Brüssel massive Straßenschlachten geliefert. Nordafrika hatte fünf katastrophale Nadelstiche hinter sich. Letzten Monat noch hatte ein kleiner Chronolith das äquatoriale Kinshasa entkernt. Der Planet war krank, sterbenskrank.

Ich schloss das Kartenfenster und wählte eine der Nummern, die Janice mir gegeben hatte: ein Polizeileutnant namens Ramone Dudley. Sein Interface sagte, er sei zur Zeit nicht erreichbar, aber mein Anruf werde zwecks Rückruf gespeichert.

Während ich wartete, gab ich die andere Nummer ein, die Janice mir aufgedrängt hatte: Die »Selbsthilfegruppe« entpuppte sich als das Hometerminal einer Frau mittleren Alters namens Regina Lee Sadler. Sie trug einen Bademantel, als sie antwortete, und ihr Haar war tropfnass. Ich entschuldigte mich, sie beim Duschen gestört zu haben.

»Macht überhaupt nichts«, sagte sie mit einer Altstimme so dunkel wie ihre Hautfarbe. »Es sei denn, Sie sind von der gottverdammten Inkassoagentur, entschuldigen Sie die Ausdrucksweise.«

Ich erzählte ihr die Sache mit Kaitlin.

»Ja«, sagte sie, »ich kenne den Fall. Ein paar betroffene Eltern haben sich uns angeschlossen — hauptsächlich Mütter. Die Väter sind uns gegenüber eher skeptisch, weiß der Himmel. Sie scheinen mir nicht zu diesem halsstarrigen Clan zu gehören?«

»Ich war nicht hier, als es passierte.« Ich erzählte ihr von Janice und Whit.

»Sie sind also ihr Briefvater, wenn ich das richtig sehe.«

»Nicht, wenn es nach mir ginge. Mrs. Sadler, darf ich offen zu Ihnen sein?«

»Ist mir lieber als andersherum. Und die allermeisten sagen Regina Lee zu mir.«

»Was habe ich davon, wenn ich diese Leute treffe? Wird es mir helfen, meine Tochter zu finden?«

»Nein, nein, das kann ich nicht versprechen. Wir sind eine Selbsthilfegruppe. Wir helfen uns gegenseitig. Viele Eltern in dieser Situation sind völlig verzweifelt. Manchen hilft es, ihre Gefühle mit anderen teilen zu können, die in derselben Notlage sind. Und jetzt, nehme ich an, gehen bei Ihnen schon die Jalousien runter und Sie denken: ›Mit Händchenhalten ist mir nicht gedient.‹ Mag sein. Aber anderen tut es gut und wir schämen uns nicht dafür.«

»Verstehe.«

»Ja, es gibt natürlich eine gewisse Vernetzung. Viele von uns haben Privatdetektive eingeschaltet, freiberufliche Fahnder und Psychologen. Die Ergebnisse werden verglichen, die Informationen werden ausgetauscht, aber ich halte, offen gesagt, sehr wenig von diesem Aktivismus, und die Resultate geben mir Recht.«

»Mit diesen Leuten«, erwiderte ich, »würde ich gerne reden, allein schon, um aus ihren Misserfolgen zu lernen.«

»Gut, wenn Sie heute Abend zu unserer Versammlung kommen…« Sie gab mir die Adresse einer Kirche. »Solche Gespräche werden sich ganz bestimmt ergeben. Aber wenn ich Sie im Gegenzug um etwas bitten dürfte. Kommen Sie nicht als Skeptiker. Kommen Sie ohne Vorurteile. Über sich selbst, meine ich. Sie machen einen ganz ruhigen, gefassten Eindruck, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, was Sie durchmachen, wie leicht man nach einem Strohhalm greift, wenn ein geliebter Mensch in Gefahr ist. Und machen wir uns nichts vor, Ihre Kaitlin ist in Gefahr.«

»Ich weiß das sehr wohl, Mrs. Sadler.«

»Wissen und Wissen ist nicht immer dasselbe.« Sie blickte über die Schulter, vielleicht auf eine Uhr. »Ich müsste mich jetzt fertigmachen. Darf ich sagen: ›Bis heute Abend‹?«

»Gerne.«

»Ich bete, dass alles zu einem guten Ende kommt, Mr. Warden, was immer sie unternehmen.«

Ich bedankte mich.


Die Gruppe traf sich im Versammlungsraum einer presbyterianischen Kirche; die Gegend war noch vor wenigen Jahren ein ehrbares Arbeiterviertel gewesen und seither unaufhaltsam verarmt. Regina Lee Sadler, die in ihrem geblümten Kleid auf dem Podium herumstolzierte, während das altmodische Bügelmikro vor ihrem Mund tanzte, sah robuster und gut zwanzig Pfund schwerer aus als im Videofenster. Ich fragte mich, ob Regina Lee wohl so eitel war, ihr Interface mit einem Schlankmacherprogramm zu frisieren.

Ich stellte mich nicht vor, drückte mich lediglich im rückwärtigen Teil der Halle herum. Das Prozedere erinnerte stark an das der Anonymen Alkoholiker. Fünf neue Mitglieder stellten sich und ihre Probleme vor. Vier hatten im letzten Monat Kinder an kuinistsche oder Hadschzellen verloren. Eine Frau vermisste ihre Tochter schon seit einem Jahr: Sie brauche jetzt einen Ort, wo sie ihren Kummer mit anderen teilen könne… nicht, dass sie die Hoffnung aufgegeben habe, ganz und gar nicht, doch sie sei einfach sehr, sehr müde und denke, wenn sie nur jemanden zum Reden hätte, sei sie vielleicht imstande, einmal eine Nacht durchzuschlafen.

Es gab gedämpften, mitfühlenden Applaus.

Dann stand Regina Lee wieder auf und verlas Neuigkeiten und Aktualisierungen — wiederaufgefundene Kinder, Gerüchte über neue kuinistische Bewegungen im Westen und Süden der USA, eine Lkw-Ladung minderjähriger Pilger, abgefangen an der mexikanischen Grenze. Ich machte mir Notizen.

Dann, als die Zusammenkunft persönlicher wurde und sich die Teilnehmer auf »Workshops« verteilten, um »alternative Strategien« zu diskutieren, schlüpfte ich still und leise aus der Tür.

Ich wäre schnurstracks ins Motel zurückgekehrt, hätte da nicht eine Frau auf den Kirchenstufen gesessen, die eine Zigarette qualmte.

Sie war etwa in meinem Alter, das Gesicht von Kummer gezeichnet, der Ausdruck nachdenklich und wach. Das Haar war kurz und glänzte im Schein der Straßenlaterne. Ihre Augen lagen im Schatten, als sie aufblickte. »Tut mir Leid«, sagte sie automatisch und drückte die Zigarette aus.

Ich winkte ab. Nach einem kürzlich erlassenen Gesetz waren Tabakpräparate rezeptpflichtig und nur noch gegen Vorlage eines Attests zu bekommen, aber ich hielt mich für liberal — ich war schließlich aufgewachsen, als der Konsum von Tabak noch legal gewesen war. »Reicht es?«, fragte sie mit einer Geste zur Kirchtür.

»Für heute ja«, sagte ich.

Sie nickte. »Für viele ist Regina Lee genau richtig und, weiß Gott, sie ist nicht aufzuhalten. Aber ich brauch das alles nicht. Glaub ich jedenfalls.«

Wir machten uns miteinander bekannt. Sie hieß Ashlee Mills und ihr Sohn hieß Adam. Adam war achtzehn und tief in das hiesige kuinistische Netzwerk verwickelt; er war seit sechs Tagen verschwunden. Genau wie Kaitlin. Also tauschten wir uns aus. Adam hatte Verbindung zu Whit Delahunts Nachwuchskader, aber auch zu einer Hand voll anderer radikaler Organisationen. Die beiden hatten sich wahrscheinlich gekannt.

»Das ist Zufall«, meinte Ashlee.

Ich verneinte. Das war kein Zufall.


Wir redeten immer noch, als die Versammlung sich aufzulösen begann und uns von den Stufen verscheuchte. Ich bot ihr an, sie irgendwo in der Nähe zu einem Kaffee einzuladen — sie wohnte in dieser Gegend.

Ashlee bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, er war so freimütig, dass ich ein wenig eingeschüchtert war. Sie schien eine Frau zu sein, die sich keine Illusionen über Männer machte. Dann sagte sie: »Okay. Gleich um die Ecke ist ein Cafe, neben der Apotheke.«

Ashlee gehörte nicht zu den Wohlhabenden, das war nicht zu übersehen. Rock und Bluse sahen aus wie Second-Hand-Sachen, gepflegt, aber schon lange nicht mehr neu. Doch sie trug sie mit einer Würde, die angeboren, nicht erworben war. Im Restaurant zählte sie Dollarmünzen ab, um ihren Kaffee zu bezahlen; ich erklärte ihr, sie sei eingeladen, und schob meine Karte über den Tresen. Sie bedachte mich wieder mit einem langen Blick, dann nickte sie. Wir fanden einen stillen Ecktisch abseits der plappernden Videotafeln.

Sie sagte: »Sie wollen mehr über meinen Sohn wissen, nicht wahr?«

Ich nickte. »Das hier ist aber kein Workshop von Regina Lee. Ich will einfach nur meiner Tochter helfen.«

»Da kann ich Ihnen nichts versprechen, Mr. Warden.«

»Das sagen alle.«

»Und alle haben Recht, leider. Ich weiß, wovon ich rede.«

Ashlee war in Südkalifornien geboren und zur Schule gegangen, sie war nach Minneapolis gekommen, um als Sprechstundenhilfe bei ihrem Onkel zu arbeiten, einem Fußpfleger, der inzwischen an einem Aneurysma gestorben war. An der Rezeption war sie Tucker Kellog begegnet, einem Tool&Dye-Programmierer, und hatte ihn mit zwanzig geheiratet. Als Adam fünf war, hatte Tucker sie verlassen. Er hatte nie mehr etwas von sich hören lassen. Ashlee hatte die Scheidung eingereicht und hätte auf Unterhalt für das Kind klagen können, ließ es aber bleiben. Sie wolle nichts mehr mit Tucker zu tun haben, sagte sie, nicht einmal am Rande. Vor zehn Jahren hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen.

Sie liebte ihren Sohn Adam, doch Adam hatte es ihr nicht leicht gemacht. »Unter uns, Mr. Warden, es gab Zeiten, da war ich verzweifelt. Selbst als er noch klein war. Wer geht schon gerne zur Schule? Aber egal was uns antreibt, jeden Tag da zu erscheinen, Pflichtgefühl oder Angst vor den Konsequenzen, mein Adam war immun dagegen. Da halfen keine Drohungen und keine Appelle.«

Mit psychiatrischen Programmen, Sonderschulen und Ausbildungsprogrammen hatte Adam Katz und Maus gespielt, manchmal auch mit dem Jugendheim. Nicht, dass er dumm gewesen wäre. »Er liest dauernd. Und nicht nur Geschichten. Und, mal ehrlich, gehört nicht auch eine Portion Grips dazu, so durchs Leben zu kommen wie er — die halbe Zeit auf der Straße? Adam ist eigentlich ein kluger Junge.«

Wenn Ashlee über ihren Sohn sprach, tat sie es mit einer Mischung aus Stolz, Schuldgefühl und Angst. Ihre großen Augen huschten hin und her, als befürchte sie, jemand könne mithören. Sie spielte mit der Papierserviette, faltete sie und öffnete sie wieder, riss sie schließlich in lange Streifen, die auf dem Tischtuch lagen wie vergebliche Origamiversuche.

»Mit zwölf ist er mal weggelaufen, aber das hatte nichts mit der Copperhead-Sache zu tun. Ich habe keinen blassen Schimmer, was Adam von diesem Kuin erwartet, abgesehen davon, dass er Städte zerstört und Menschen ins Elend stürzt. Aber er ist fasziniert von ihm. Die Art, wie er die Nachrichten verfolgt, ist fast schon erschreckend.« Sie senkte den Kopf. »Ich sag es nicht gerne, aber ich glaube, Adam mag es, wenn die Dinge so richtig zermalmt werden. Ich glaube, er identifiziert sich mit diesem Kuin. Er möchte den Fuß heben und alles zertreten, was er nicht leiden kann. Das Gerede über eine neue Art von Weltregierung ist reine Augenwischerei.«

»Hat er jemals Kaitlin oder ihre Gruppe erwähnt?«

Ashlee lächelte traurig. »Sie stellen vielleicht Fragen. Hat Ihre Kaitlin über so was geredet?«

»Wir haben geredet, ja. Aber Politik war nie ein Thema.«

»Trotzdem, eins zu null für Sie. Adam hat mir nie etwas anvertraut. Überhaupt nichts. Alles, was ich über meinen Sohn weiß, hab ich mir erschleichen müssen. Entschuldigen Sie, ich glaube, ich will noch einen Kaffee.«

Vermutlich brauchte sie eine Zigarette. Sie blieb kurz am Tresen stehen und bat um einen doppelten Espresso, dann verschwand sie in Richtung Toilette.

Schließlich kam sie zurück und ließ sich seufzend nieder. »Nein, Adam hat nie erzählt, wann, wo und mit wem er sich getroffen hat. Adam ist siebzehn, aber wie gesagt, er ist nicht naiv. Adam passt auf wie ein Schießhund. Aber, wie gesagt, ab und zu hab ich was spitzgekriegt. Ich wusste, er sympathisierte mit einem dieser Copperhead-Clubs draußen vor der Stadt, aber eine Zeit lang schien das fast ein Segen zu sein. Diese Leute hatten, wie soll ich sagen, Hintergrund. Perspektive. Vermutlich hatte ich im Hinterkopf, er würde Freunde finden und daraus könnte sich was ergeben, eine günstige Gelegenheit für später, wenn dieser ganze Zeitreisequatsch mal vorbei ist, entschuldigen Sie. Ich dachte, vielleicht findet er ein Mädchen oder irgendein Vater bietet ihm einen Job an.«

Mir fielen die Worte von Janice ein: Was hätte ich tun sollen, sie wegsperren?

Janice hatte sich ihre Tochter bestimmt nicht in Gesellschaft eines Adam Mills vorgestellt.

»Ich änderte meine Meinung, als ich eins seiner Telefongespräche mithörte. Er redete über diese Leute — zu denen wohl auch Ihre Kait gehörte. Und er war einfach nur bissig und giftig. Er sagte, in dem Club wären lauter…« Sie senkte beschämt den Kopf. »Lauter weiße bourgeoise Jungfern

Sie musste meine Reaktion bemerkt haben. Ashlee reckte ihr Kinn und nahm Haltung an. »Ich liebe meinen Sohn, Mr. Warden. Ich mache mir keine Illusionen über Adam — oder die Rolle, in die er sich geflüchtet hat, außer er dreht sich um hundertachtzig Grad. Adam hat sehr, sehr große Probleme. Aber er ist mein Sohn, und ich liebe ihn.«

»Dafür habe ich volles Verständnis«, sagte ich.

»Das hoffe ich.«

»Beide sind vermisst. Nur darüber müssen wir uns jetzt Sorgen machen, alles andere kann warten.«

Sie runzelte die Stirn, wohl wegen des »wir«. Ashlee war es gewöhnt, mit ihren Schwierigkeiten auf ihre Weise fertig zu werden; deshalb war sie aus Regina Lees Veranstaltung geflohen.

Ich allerdings auch.

Sie sagte: »Ich wäre offengestanden stocksauer, wenn Sie vorhätten, mich abzuschleppen, Mr. Warden.«

»Das war nicht meine Absicht.«

»Weshalb ich Sie um Ihre Telefonnummer bitte, damit wir wegen Adam und Kaitlin in Verbindung bleiben. Ich habe zwar keine harten Fakten zu bieten, aber, wenn Sie mich fragen, häkelt dieses Grüppchen an irgendeiner bescheuerten Wallfahrt, weiß der Himmel wohin. Also glucken sie zusammen. Also sollten wir in Verbindung bleiben. Ich will nur nicht missverstanden werden.«

Ich gab ihr meine Handynummer, sie mir die Nummer ihres Hometerminals.

Sie trank ihren Espresso aus und sagte: »Das waren ziemlich schlechte Nachrichten für Sie.«

»Nicht nur«, sagte ich.

Sie stand auf. »Nun denn, Mr. Warden, es hat gut getan, mit Ihnen zu reden.« Sie drehte sich um und ging aus der Tür. Ich sah ihr durchs Fenster nach, wie sie mit forschen Schritten den halben Häuserblock zwischen zwei Lichtinseln zurücklegte, um den Schlüssel in die Haustür direkt neben dem chinesischen Restaurant zu stecken. Ein Apartment über einem Restaurant. Ich stellte mir ein fadenscheiniges Sofa vor, vielleicht eine Katze. Eine Rose in einer Weinflasche oder ein gerahmtes Poster an der Wand. Die Echos ihres verschwundenen Sohnes.


Ramone Dudley, der für vermisste Personen zuständige Polizeileutnant, erklärte sich bereit, mich am Nachmittag des nächsten Tages in seinem Büro zu empfangen. Die Unterredung war von kurzer Dauer.

Dudley war ein sichtlich überarbeiteter Schreibtischpolizist, der zu oft die gleiche Hiobsbotschaft verkündet hatte. »Diese Kids«, sagte er (als seien diese Kids eine homogene Masse), »sie haben keine Zukunft und das wissen sie. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Wirtschaft ist am Boden, das Land ist verschuldet. Was haben wir ihnen denn zu bieten? Alles, was sie über die Zukunft hören, ist Kuin, Kuin, Kuin. Zum Teufel mit Kuin. Wenn es nach den Fundis geht, ist Kuin der Antichrist; also sprechen wir unsere Gebete und warten auf die Wiederkunft des Herrn. Washington rekrutiert die Kids für einen Krieg, den es vielleicht nie geben wird. Und die Copperheads sagen: Na, wenn wir uns höflich bücken, tut er uns vielleicht nicht ganz so weh. Lässt man das alles mal Revue passieren, ist das nicht gerade ein bunter Reigen von Möglichkeiten. Und dann der ganze Bockmist, den sie in der Musik zu hören kriegen oder in diesen verschlüsselten Chatrooms.«

Leutnant Dudley gab unüberhörbar uns die Schuld, meiner Generation. Im Laufe seiner Arbeit mussten ihm viele Eltern begegnet sein, darunter etliche Nieten. So wie er mich ansah, zählte er mich zu den Letzteren.

Ich sagte: »Was Kaitlin…«

Er fischte eine Akte vom Schreibtisch und schlug sie auf. Was er vorlas, war mir im Kern nicht neu. Insgesamt acht Jugendliche, alle im Juniorkader von Whitmans Club, waren nach einer Tagung nicht wieder nach Hause gekommen. Freunde und Eltern der vermissten Jugendlichen waren eingehend befragt worden… »Nur Sie nicht, Mr. Warden. Ich habe schon auf Sie gewartet.«

»Whit Delahunt hat Ihnen von mir erzählt?«

»Er hat Sie kurz erwähnt, als wir ihn befragt haben, halt, nein, warten Sie. Der Anruf kam von einem ehemaligen FBI-Agenten, Morris Torrance hieß er.«

Schnelle Arbeit. Andererseits war Morris immer sehr fleißig gewesen. »Was hat er Ihnen erzählt?«

»Er bat mich, mit Ihnen zu kooperieren, Mr. Warden. Soweit wie möglich, versteht sich. So, das wär's dann von meiner Seite. Viel wäre dem nicht hinzuzufügen, es sei denn, Sie haben noch Fragen. Ach, und er hat mich um noch etwas gebeten.«

»Das wäre?«

»Ich soll Ihnen sagen, Sie sollen sich mit ihm in Verbindung setzen. Die Sache mit Kaitlin täte ihm Leid und er könne Ihnen da womöglich helfen.«

Dreizehn

Vielleicht hätte ich doch die Gruppentherapie von Regina Lee nutzen und meine Angst vor Kuin zugeben sollen — die Angst und die Vorahnung von Leid, die jedes Mal herüberwehte, wenn ich die Augen schloss. Aber das war nicht meine Art. Ich hatte schon früh gelernt, angesichts der Katastrophe den Anschein von Ruhe zu bewahren. Und meine Angst für mich zu behalten — wie ein schmutziges Geheimnis.

Doch ich musste ständig an Kait denken. Für mich war sie immer noch die Kaitlin von Chumphon, fünf Jahre alt und so furchtlos, wie sie neugierig war. Kinder tragen ihr Wesen wie leuchtend bunte Sachen; deshalb sind ihre Lügen so leicht zu durchschauen. Erwachsensein ist die Kunst der Täuschung. Weil ich Kaitlin schon als kleines Kind gekannt habe, weiß ich auch um ihr verwundbares Herz. Warum es umso schmerzlicher war, sich vorzustellen (oder besser nicht vorzustellen), wo Kaitlin jetzt wohl sein mochte, und mit wem. Der elterliche Urtrieb ist der Trieb, die Jungen zu ernähren und zu beschützen. Um ein Kind zu trauern, heißt die eigene Ohnmacht eingestehen. Man kann nicht mehr beschützen, was unter die Erde kommt. Ein Grab kann man bestenfalls mit Grün zudecken.

Ich fand nachts nicht in den Schlaf, starrte aus dem Motelfenster und trank abwechselnd Bier und Cola Light (und musste jede halbe Stunde pinkeln), bis der Schlaf wie eine klebrige Woge über mich hereinbrach. Was ich träumte, war chaotisch und trivial. Das Erwachen im Frühling, unter einem sonnigen, bodenlos blauen Himmel war wie das Erwachen in einem anderen Traum, eine einzige brutale Ironie.

Ich hatte geglaubt, mein Kontakt mit Ashlee Mills habe sich erledigt, aber zehn Tage nach Kaitlins Verschwinden rief sie mein Handy an. Sie klang geschäftsmäßig und kam schnell zur Sache: »Ich bin mit jemandem verabredet«, sagte sie, »er weiß vielleicht etwas über Adam und Kaitlin, aber ich möchte nicht alleine hingehen.«

»Ich habe heute Nachmittag nichts vor«, sagte ich.

»Er arbeitet nachts. Falls Sie wissen wollen, was er macht; es wird Ihnen nicht gefallen.«

»Ist er Zuhälter?«

»Das nicht«, sagte sie. »Ein Dealer, würde ich sagen.«


In der Woche zuvor war ich viel im Internet gewesen, hatte das Phänomen der »Hadsch-Jugend« und der kuinisüschen Bewegung recherchiert und mir Zugang zu ihren versteckten Chatrooms verschafft.

Die kuinistische Bewegung gab es natürlich nicht. Ohne einen leibhaftigen Kuin war die Bewegung ein Flickwerk aus utopistischen Ideologien und quasi-religiösen Kulten, die versuchten, einander den Rang abzulaufen. Gemeinsam hatten sie den Gegenstand der Verehrung, die Anbetung der Chronolithen. Für die Hadschisten war jeder Chronolith ein Heiligtum. Hadschisten schrieben diesen Monolithen allerhand Wunderdinge zu: Erleuchtung, Heilungen, seelische Wandlungen und Epiphanien unterschiedlichen Grades. Aber anders als etwa die Menschen, die nach Lourdes pilgerten, waren die Hadschisten fast ausnahmslos blutjung. Es war eine »Jugendbewegung« (ein Begriff, den das 20. Jahrhundert geprägt hatte). Wie die meisten Bewegungen dieser Art bestand sie zur Hälfte aus Habitus. Nur ganz wenige Amerikaner pilgerten wirklich zu einem Chronolithen, doch Teenager mit einem Kuin-Logo waren keine Seltenheit — meistens das verbreitete »K+« im roten oder orangefarbenen Kreis. (Oder eines von den subtileren, vermutlich geheimen Zeichen: Narben an Brustwarzen oder Ohrläppchen, silberner Fußreif, weißes Stirnband.)

In Ashlees Viertel war das »K+« allgegenwärtig, es war mit Kreide oder Farbe an Wände und auf Gehsteige gekritzelt oder gesprayt. Ich hielt zur verabredeten Zeit neben dem chinesischen Restaurant und Ashlee huschte aus der Haustür und auf den Beifahrersitz. »Gut, dass Sie ein billiges Auto fahren«, sagte sie. »Ich will nicht auffallen.«

»Wohin fahren wir?«

Sie gab mir eine Adresse fünf Häuserblocks stadteinwärts, wo es nur noch Lagerhäuser, Fastfood zum Mitnehmen und Spirituosenläden gab.

»Der Bursche«, sagte Ashlee unvermittelt, »heißt Cheever Cox und hat die Finger in so ziemlich allen Geschäften, die man in keine Steuererklärung schreiben darf. Ich kenne ihn, weil er mir immer Tabak verkauft hat.« Sie sagte es ohne jede Auffälligkeit in der Stimme, vergewisserte sich aber flüchtig, was ich wohl für ein Gesicht machte. »Ich meine, bevor ich die Sucht attestiert bekam.«

»Was weiß er über Kait und Adam?«

»Vielleicht gar nichts, aber als ich ihn gestern anrief, da erwähnte er einen Billighadsch und ein neues Gerücht über Kuin und dass das nichts für eine unverschlüsselte Leitung sei. Cheever ist darin ziemlich paranoid.«

»Und, ist was dran? Was meinen Sie?«

»Wo bin ich mit Ihnen dran? Weiß man's?«

Sie fuhr das Fenster herunter, zündete sich eine Zigarette an und wartete fast trotzig auf meine Reaktion. Minnesota hatte mit die strengsten Tabakgesetze in den Staaten. Doch ich war aus einem anderen Bundesstaat und alt genug, um nicht schockiert zu sein. Ich sagte: »Ashlee? Schon mal ans Aufhören gedacht?«

»Oh — bitte!«

»Ich will Sie nicht maßregeln, ich mache lediglich Konversation.«

»Und ich rede höchst ungern darüber.« Sie blies geräuschvoll den Rauch aus dem Fenster. »Da war nicht sehr viel, was mich in den letzten paar Jahren zusammengehalten hat, Mr. Warden.«

»Scott.«

»Dann eben Scott. Nicht, dass ich zu schwach wäre. Aber… haben Sie jemals geraucht?«

»Nein.« Mir waren die Anti-Sucht-Impfungen erspart geblieben, die man damals den jungen Leuten aufgedrängt hatte, vor allem das Folgerisiko eines späteren Immunproblems; Tabak war einfach nicht mein Ding gewesen.

»Wahrscheinlich bringt es mich um, aber was hab ich denn anderes?« Sie schien nach einem Gedanken zu suchen, gab es dann aber auf. »Die Zigarette beruhigt.«

»Ich verurteile Sie nicht. Eigentlich mag ich den Geruch von brennendem Tabak. Aus der Entfernung zumindest.«

Sie zog ein halbes Lächeln. »Aha. Sie sind mir vielleicht ein Degenerierter.«

»Vermissen Sie Kalifornien?«

»Vermisse ich Kalifornien!« Sie rollte mit den Augen. »Ist das eine richtige Unterhaltung oder sind Sie bloß nervös wegen Cheever? Das brauchen Sie nicht. Er ist ein bisschen zwielichtig, aber kein schlechter Mensch.«

»Das ist beruhigend«, sagte ich.

»Sie werden sehen.«

Die Adresse war ein baufälliges Fachwerkhaus, eine Doppelhaushälfte. Die Verandabeleuchtung brannte nicht, vermutlich ein Dauerzustand. Die Stufen bogen sich durch. Ashlee öffnete das rostige Fliegengitter und pochte an die Tür.

Cheever Cox schloss auf, als Ashlee sich zu erkennen gab. Er war kahl, Mitte dreißig, trug Levis und ein blassblaues Hemd mit tomatenroten Spritzern auf der Kragenspitze. »Heh, Ashlee«, begrüßte er sie und drückte sie an sich. Mich bedachte er mit einem kurzen Blick.

Ashlee stellte mich vor und sagte zu Cox: »Wir haben telefoniert, du weißt schon.«

Im Wohnzimmer standen ein verblasstes Sofa, zwei hölzerne Klappstühle und ein Couchtisch mit Aschenbecher. Hinten im schummrigen Flur konnte ich die Ecke einer Küche sehen. Wenn Cox mit seinen illegalen Drogengeschäften viel Geld machte, dann hatte er es nicht in seine Einrichtung gesteckt. Aber vielleicht besaß er ja ein Landhaus.

Er bemerkte die Packung Zigaretten, die aus Ashlees Hemdtasche lugte. »Scheiße, Ashlee«, sagte er, »du bist auf Attest? Die Scheißregierung macht mir das Geschäft kaputt mit diesen legalen Krümelstäbchen.«

»Läuft nächstes Jahr aus und wird nicht mehr verlängert«, sagte Ashlee. »Dann droht mir eine Gentherapie oder eine Kur. Das Schlimmste: Ich verliere die Krankenversicherung.«

Er grinste. »Dann sehen wir uns also wieder öfter?«

»Keine Chance.« Sie sah mich flüchtig an. »Ich lass mir die Zähne aufhellen und finde einen guten Job.«

»Und wirst Bürger«, sagte Cox.

»Genau.«

»Und heiratest deinen Freund?«

»Er ist nicht mein Freund.«

»Okay, Ash. Mach dir nichts draus. Was willst du? Ein bisschen mehr, als der Apotheker rausrückt?«

»Es ist wegen Adam. Ich will dir ein paar Fragen stellen.«

»Ja sicher, aber das kann doch nicht alles sein.«

Cox ließ keinen Zweifel, dass er nur etwas zu sagen hatte, wenn Ashlee etwas kaufen würde. Geschäft sei Geschäft, meinte er.

»Es geht um meinen Sohn, Cheever.«

»Schon klar, und ich liebe dich, und ich liebe Adam, aber Ashlee, ich muss leben

Also gab sie ihm Geld für eine Schachtel freie Glimmstängel, die er aus dem Keller holte. Sie hielt die Schachtel im Schoß. Die Schachtel stank.

Cox machte es sich auf seinem Stuhl bequem. »Es ist so«, erzählte er Ashlee, »dass ich bei den Hausbsetzern aus- und eingehe, besonders unten auf der Franklin oder in Lowertown oder in den alten Cargill-Speichern: Also sehe ich die Kids. Und du weißt, dass sich da auch Adam herumtreibt. Das ist kein großer Markt für mich, weil diese Kids normalerweise keine Kohle haben. Das Essen klauen sie sich zusammen. Aber manchmal kommt einer zu was, ich frage nicht, wie, und sie wollen eine Schachtel, zwei Schachteln — Glimmstängel und Drinks und Tabletten und so weiter. Adam kam zum Beispiel ziemlich oft zu mir, denn er kannte mich ja aus der Zeit, als du hier noch ein- und ausgegangen bist.«

Bei dieser Erklärung senkte Ashlee den Blick, sagte aber nichts.

»Also ehrlich, Adam hat ein bisschen mehr drauf als die meisten von denen. Sie nennen sich Hadschisten oder Kuinisten und sind so politisch wie ein Pflasterstein. Weißt du, wer die richtigen Hadschisten sind? Reiche Kids. Reiche Kids und Promis. Sie gehen nach Israel oder Ägypten und brennen ihre Räucherkerzen oder sonst was ab. In der Stadt sieht das anders aus. Da würden die meisten von diesen Kids ihren Arsch nicht mal hochkriegen, wenn Kuin im Hinterhof einen Krönungsball gibt. Na ja, Adam hat das bald kapiert. Deshalb hat er sich bei diesen Copperhead-Clubs in Wayzata und Edina herumgetrieben — hat nach Leuten gesucht, die so dachten wie er, aber vielleicht ein bisschen leichtgläubiger und ein bisschen besser bei Kasse waren als die Kumpels in der Stadt.«

»Cheever«, sagte Ashlee, »weißt du, ob er noch in der Stadt ist?«

»Ich kann es nicht beschwören, aber ich habe da meine Zweifel. Wenn doch, dann hab ich ihn nicht gesehen. Ich rede mit Leuten, ich folge den Hinweisen, ich halte die Ohren offen. Es gibt immer Gerüchte. Erinnerst du dich noch an Kirkwell?«

In Kirkwell, New Mexico, hatte im vergangenen Sommer ein klinisch paranoider Rentner, ein ehemaliger Metzger, lauthals verkündet, er messe an einem trockenen Brunnen außerhalb der Stadt — zufällig auf seinem eigenen Grund und Boden — einen Anstieg der Radioaktivität. Wahrscheinlich wollte er aus dem Brunnen eine Touristenattraktion machen.

Die Saat ging auf. Bis September campten dort zehntausend mittellose Hadschisten. Die Nationalgarde warf Lebensmittel- und Wasserrationen ab und ermahnte die Pilger, nach Hause zu gehen. Erst der Cholera gelang es, den Grundbesitz zu räumen. Der ehemalige Metzger verschwand auf Nimmerwiedersehen, in seinem Kielwasser eine Reihe von Musterprozessen und Prozessen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.

»Solche Gerüchte kommen und gehen«, sagte Cox, »aber den Vogel schießt Mexiko ab. Ciudad Portillo. Vor drei Wochen war Adam in diesem Zimmer und hat darüber gesprochen — nicht dass jemand an seinen Lippen gehangen hätte. Das war, glaube ich, der Grund, warum er sich mit den Vorstadt-Copperheads eingelassen hat: Er wollte nach Mexiko und er hat gedacht, die würden ein bisschen Kohle beisteuern oder ihm eine Fahrgelegenheit anbieten.«

Ashlee sagte: »Er ist nach Mexiko?«

Cox hob die Hände. »Ich kann es nicht beschwören. Aber wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, er war on the road und zwar in Richtung Grenze, wenn er nicht schon drüben ist.«

Ashlee schwieg. Sie sah nachdenklich und blass aus, fast niedergeschlagen. Cox gab einen Laut von sich, der Mitgefühl signalisierte. »Das ist das Problem«, sagte er. »Dumme Leute machen Dummheiten, aber Adam ist so klug, dass er eine Riesendummheit macht.«

Wir redeten noch eine Weile drum herum, aber Cox hatte alles gesagt, was er wusste. Schließlich stand Ashlee auf und ging zur Tür.

Cox umarmte sie wieder.

»Du weißt ja. Ich bin immer für dich da…«


Auf der Rückfahrt fragte ich sie, wie sie erfahren habe, dass Adam überfällig war.

Sie sagte: »Wie meinen Sie das?«

»Es hört sich an, als hätte er in Hausbesetzerkreisen verkehrt. Wenn er nicht zu Hause gewohnt hat, woher wussten Sie dann, dass er überfällig war?«

Wir hielten am Bordstein. Ashlee sagte: »Ich zeig's Ihnen.«

Sie schloss die Haustür auf und führte mich eine schmale Treppe zu ihrem Apartment hinauf. Das Apartment war ein Wohnschlauch: großes Wohnzimmer zur Straße, zwei winzige Schlafzimmer rechts vom Flur, eine quadratische Küche mit Fenster zur rückwärtigen Gasse. Es roch muffig; Ashlee meinte, sie lasse die Fenster lieber zu, solange die Müllabfuhr streike. Doch die Wohnung war hübsch und praktisch eingerichtet. Das Zuhause eines Menschen, der zwar nicht viel Geld, dafür aber Geschmack und gesunden Menschenverstand hat.

»Das hier«, erklärte Ashlee, »ist Adams Zimmer. Er mag es überhaupt nicht, wenn man da reingeht, aber er ist ja nicht da.«

Der Blick in sein Zimmer war gewissermaßen mein erster Kontakt mit Adam. Ich rechnete wohl mit dem Schlimmsten: Pornografie, Graffiti, womöglich eine abgesägte Schrotflinte im Wäschekorb.

Aber Adams Zimmer war ganz anders. Es war erschreckend ordentlich. Das Bett war gemacht. Die Schranktür stand offen, und die Anzahl der freien Bügel ließ darauf schließen, dass Adam für länger fortbleiben wollte, doch die restlichen Sachen waren akkurat aufgereiht. Das Bücherregal war ein Provisorium aus Backsteinen und Brettern, doch die Bücher standen aufrecht und waren alphabetisch geordnet, nicht nach Autoren, sondern nach Titeln.

Bücher verraten viel über den Menschen, der sie auswählt und liest. Adam neigte unübersehbar zu eher technischen Sachbüchern — Handbücher zur Elektronik, Lehrbücher (u. a. Organische Chemie und Amerikanische Geschichte), Fundamentals of Computation sowie wahllose Biographien (Picasso, Lincoln, Mao Tse-tung), Famous Trials of the Twentieth Century, How to Repair Almost Anything, Ten Steps to a More Efficient Fuel Cell. Ein Astronomiebuch für Kinder und ein Handbuch über bemannte Satelliten. Ice and Fire: The Untold Story oj the Lunar Base Tragedy. Und natürlich Bücher über Kuin. Mainstreamwerke wie Asia Under Siege von McNeil und Cassel; die meisten waren auffällig bunte Randpublikationen wie End of Days und Fifth Horseman.[26]

Es waren keine Fotos von Mitmenschen zu sehen, aber die Wände waren mit Magazinbildern verschiedener Chronolithen tapeziert. (Ich verdrängte die Erinnerung an Sue Chopras Büro in Baltimore.)

Ashlee sagte: »Sieht das aus, als wollte er nie mehr nach Hause kommen? Das ist sein Mittelpunkt. Vielleicht hat er nicht jede Nacht hier geschlafen, aber von vierundzwanzig Stunden war er seine acht bis zehn hier. Immer.«

Sie machte die Tür wieder zu.

»Komisch«, sagte sie, »ich habe immer gedacht, ich hätte ihm ein Zuhause geboten. Aber dem war nicht so. Er hat sich sein eigenes Zuhause gemacht. Es war nur zufällig mitten in meinem.«

Sie brühte Kaffee auf, und wir unterhielten uns noch eine Weile, saßen auf dem langen Sofa beim Geräusch des Straßenverkehrs, der durch die geschlossenen aber einfach verglasten Fenster drang. Der Moment hatte etwas zutiefst Wohltuendes — Ashlee hantierte in der Küche, glättete geistesabwesend ihr widerborstiges Haar —, etwas beinah leiblich Wohltuendes, ein Schatten der Behaglichkeit, die ich vor mehr als zehn Jahren verloren hatte. Ich war ihr dankbar dafür.

Doch ein Moment ist von Natur aus flüchtig. Sie erkundigte sich nach Kaitlin, und ich erzählte ihr einiges (nicht alles) über Chumphon und wie ich die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Sie war beeindruckt, dass ich das Jerusalem-Ereignis miterlebt hatte, nicht etwa, weil ihr Kuin etwas bedeutete, sondern weil es bedeutete, dass ich mich, wenn auch nur am Rande, unter Menschen aufgehalten hatte, die sie zu den relativ Wohlhabenden und einigermaßen Berühmten zählte. »Sie haben wenigstens etwas getan«, sagte sie, »nicht bloß auf der Stelle getreten.«

Ich hielt ihr entgegen, sie habe auch nicht bloß auf der Stelle getreten: Für eine alleinstehende Frau sei es bestimmt nicht einfach gewesen, in dieser Wirtschaftskrise ein Kind großzuziehen.

»Auf der Stelle treten«, sagte sie, »heißt nicht vom Fleck kommen. Und genau so kommt es mir mit Adam vor. Ich hab versucht, ihm zu helfen, aber ich kam nicht voran.« Sie hielt inne, dann drehte sie mir ihr Gesicht zu, ihr Ausdruck war weniger beherrscht als bisher. »Angenommen, sie sind wirklich nach Mexiko — Adam und Kaitlin und diese Clique. Was machen wir dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich muss mit einigen Leuten reden.«

»Würden Sie Kaitlin nachreisen, den ganzen Weg bis Portillo?«

»Wenn ich ihr helfen könnte. Wenn es nützen würde.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher.«

Mein Handy klingelte. Ich hatte auf Anrufbeantworter geschaltet, sah aber nach, wer da anrief. Es hätte Janice sein können, weil Kaitlin wieder aufgetaucht und alles bloß ein Missverständnis gewesen war. Oder Ramone Dudley, weil die Polizei Kaits Leiche gefunden hatte.

Es war eine SMS von Sue Chopra. Sie hatte meine private Handynummer ausfindig gemacht (obwohl ich sie beim Verlassen von Baltimore geändert hatte) und bat mich, so bald wie möglich zurückzurufen.

»Etwas Privates«, erklärte ich Ashlee.

Sie brachte mich die Treppe hinunter und ging mit bis zum Auto. Sie gab mir die Hand. Es war spät, und die Straße lag verlassen. Die altmodischen Quecksilberdampflampen zauberten bernsteinfarbene Reflexe in ihr kurzes, blondgefärbtes Haar. Ihre Hand fühlte sich warm an.

»Wenn Sie etwas herausfinden«, sagte sie, »höre ich von Ihnen. Versprochen?«

Ich versprach es.

»Rufen Sie mich an, Scott.«

Ich glaube, sie wollte wirklich, dass ich sie anrief. Und ich glaube, sie hat nicht geglaubt, dass ich es tue.


»Erst mal«, sagte Sue und lehnte sich über die Aufnahmeoptik, so dass ihr Gesicht das Videofenster des Motelterminals wie ein unscharfer brauner Mond ausfüllte, »will ich, dass du weißt: Ich bin nicht stocksauer darüber, wie du die Stadt verlassen hast. Ich habe volles Verständnis für deine Gründe, und wenn du zu dem Ergebnis gekommen bist, dass du mir nicht vertrauen kannst, bin ich vermutlich selber schuld. Trotzdem weiß ich nicht, Scotty, warum du immer das Schlechteste von den Menschen annimmst. Auf die Idee, wir hätten dir helfen können, bist du wohl nicht gekommen?«

»Ihr wisst, was mit Kait ist?«

»Wir haben uns informiert, ja.«

»Ihr habt mit der Polizei geredet.«

»Du tust, was du tun musst, aber du sollst wissen, dass du deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben brauchst.« Etwas wehmütiger setzte sie hinzu: »Trotzdem möchte ich ab und zu mit dir reden. Was mich betrifft, arbeitest du immer noch hier. Ray ist ein guter Kontrast zur Mathematik, und Morris gibt sich alle Mühe zu verstehen, was wir so machen, aber ich brauche jemanden, der wach genug ist, um nichts zu übersehen, aber nicht in eingefahrenen Bahnen denkt.« Sie schlug den Blick nieder und fügte hinzu: »Aber vielleicht ist das nur eine Ausrede. Vielleicht brauche ich einfach nur jemanden zum Reden.«

Das war unter anderem ihre Art, sich für die ganze Schinderei in den letzten Jahren zu entschuldigen. Aber ich hatte mich nie beschwert. Nur ihre Hypothesen zur Tau-Turbulenz hätten mir zum Verhängnis werden können, ansonsten war Sue sorgfältig bedacht gewesen, mich gegen die Allmächtigen abzuschotten. Diese Allmächtigen konzentrierten ihre Aufmerksamkeit seit kurzem auf andere Personen; aber Sue war trotz allem an unserer Freundschaft gelegen.

Sie sagte: »Ich mach mir solche Sorgen wegen Kaitlin.«

»Ich kann dir nicht mehr sagen, als dass sie noch nicht nach Hause gekommen ist. Ich will jetzt nicht spekulieren. Lenk mich ab. Erzähl was. Hat Ray eine Freundin gefunden? Und du?«

»Trinkst du, Scotty?«

»Ja, aber nicht genug, um die Frage zu rechtfertigen.«

Sie lächelte traurig. »Okay. Ray streift immer noch durch die Wildnis. Ich treffe mich mit dieser Frau, die ich in einer Bar kennen gelernt habe. Ist ganz süß. Hat rotes Haar und sammelt Meißener Porzellan und tropische Fische. Aber es ist nichts Ernstes.«

Wie auch? Sue lebte ihre Liebschaften beinah aus der Distanz heraus, respektvoll und pessimistisch.

Ihre große Liebe war die Arbeit, und über die redete sie am liebsten. »Tatsache ist, Scotty, wir hatten einen winzigkleinen Durchbruch. Das treibt uns alle um. Das Meiste ist topsecret, aber da das Netz vor Gerüchten schwirrt, kann ich dir ein bisschen was erzählen.«

Sie erzählte mir wahrscheinlich mehr, als erlaubt war, doch viel kapierte ich ohnehin nicht. Der Kern war, dass es jemandem vom MIT gelungen war, negative Tau-Partikel aus dem Vakuum zu hexen (das nichts anderes als ein siedender Hexenkessel aus lauter, wie die Physiker sagen, virtuellen Teilchen ist) und sie lange genug am Leben zu erhalten, um den Effekt zu demonstrieren. Hadronen mit prinzipiell negativer Lebensdauer. Sie meißelten, wenn man so will, Löcher in die Vergangenheit — etwa eine Millisekunde tief, nicht Kuins zwanzigjahre und drei Monate, aber es war eben im Grunde das gleiche Phänomen.

»Wir sind kurz davor«, sagte Sue, »genau zu verstehen, was Kuin macht. Vielleicht wissen wir bald mehr als er. Über kurz oder lang werden wir ganz neue Technologien auf den Weg bringen. Interstellare Raumfahrt, Scotty: eine reale Möglichkeit!«

»Ist das wirklich so wichtig?«

»Natürlich ist das wichtig! Wir reden hier über eine potenziell neue Ära in der Geschichte dieser verdammten Spezies — ja, es ist wichtig!«

»Kuin hat bereits seine Fingerabdrücke auf dem halben Planeten hinterlassen. Mir wird speiübel bei dem Gedanken, wir könnten ihm das Tor zu den Sternen öffnen.«

»Gut, aber das ist dann auch kein Problem mehr. Wenn wir herausfinden, wie ein Chronolith funktioniert, können wir mitmischen. Wenn wir es richtig anstellen, könnten wir einen Chronolithen einfach zum Verschwinden bringen.«

»Und was ist damit erreicht?« Die letzten Tage hatten meinen Zynismus gesteigert. »Es ist ein bisschen spät dafür, findest du nicht?«

»Nein«, sagte sie, »finde ich nicht. Vergiss eins nicht, wir haben nicht Kuin zu fürchten. Nicht einmal die Chronolithen. Es ist die Rückkopplung, Scotty, das Feedback. Das wirkliche Problem hier ist die Wahrnehmung seiner Unbesiegbarkeit, die auf der Unbesiegbarkeit seiner Monumente beruht. Eins zu zerstören heißt den Mythos zu zerstören. Mit einem Schlag ist er nicht mehr die Allmacht in Person, sondern nur noch ein Hitler- oder Stalinverschnitt.«

Trotzdem mochte es inzwischen zu spät sein.

»Nicht, wenn wir seine Schwäche demonstrieren können.«

»Und kannst du?«

Sie hielt inne. Ihr Lächeln zuckte. »Na ja, vielleicht. Vielleicht schon bald«, meinte sie.


Aber nicht rechtzeitig genug für Kait, die vermutlich in Mexiko war, durchdrungen von ihren Ideen über Kuins Unbesiegbarkeit und seinen Verheißungen. Ich machte Sue darauf aufmerksam, dass ich noch zu tun hatte. Sie sagte: »Tut mir Leid, wenn ich dich aufgehalten hab, Scotty, aber ich halte es wirklich für wichtig, dass wir in Verbindung bleiben.«

Denn ihre pseudo-jungsche Idee, unser beider Zukunft sei dank Kuin miteinander verflochten, hatte sie natürlich nicht aufgegeben.

»Egal, warum ich wirklich anrufe«, sagte sie. »Ich habe mit jemandem gesprochen. Und er will dir helfen.«

»Nicht Morris«, sagte ich. »Morris ist mir lieb und teuer, aber selbst Morris wird zugeben, dass er mit so was keine Erfahrung hat.«

»Nein, nicht Morris, obwohl er gerne helfen würde. Nein, der Mensch hat total andere Qualifikationen.«

Jetzt hätte es bei mir klingeln müssen. Sue hatte von allen den tiefsten Einblick in meine Vergangenheit, vor allem in meine Zeit in Chumphon. Aber ich war wie vernagelt.

»Vielleicht erinnerst du dich«, sagte sie. »Er heißt Hitch Paley.«

Vierzehn

Irgendwann im Laufe der Woche — bevor Hitch eintraf, bevor die ersten Ereignisse aus dem Ruder liefen — sagte Ashlee mitten in einem Telefongespräch: »Kennst du die Charles-Dickens-Geschichte A Christmas Carol[27]

»Was ist damit?«

»Ich habe über Kuin und die Chronolithen nachgedacht. Weißt du noch, wie dieser Scrooge in die Zukunft geht und sein eigenes Begräbnis sieht? Und er zu dem Geist sagt: ›Sind das die Schatten der Dinge, die sein müssen oder sein können?‹ Oder so ähnlich?«

»Ja, und?«

»Die Chronolithen, Scott, müssen die oder können die sein?«

Das wisse niemand mit Sicherheit, sagte ich ihr. Doch wenn ich Sue richtig verstand, dann gehörten die Ereignisse, die von bereits existierenden Chronolithen bekundet wurden, zu denen, die auf die eine oder andere Weise sein mussten. Es gab keine strahlende alternative Zukunft, in der wir Kuin noch vor seinen Eroberungen aufhalten und die Chronolithen zu harmlosen unabhängigen Paradoxa machen konnten. Kuin würde Chumphon, Thailand, Vietnam und Südostasien erobern; die Zeit mochte flüssig sein, doch die Monumente selbst waren unabdingbar und elementar.

Warum also nicht verzweifeln? Sue würde vermutlich antworten, die Schlacht sei noch nicht geschlagen. Ein Großteil der zivilisierten Welt war noch frei von Chronolithen, was nahelegte, dass Kuins Eroberungszüge ein schrittweiser Prozess mit Erfolgen und Rückschlägen war. Es gab noch keinen Chronolithen auf nordamerikanischem Boden. Vielleicht würde es hier ja nie einen geben, wenn wir das Richtige taten. Was immer das war.

Sue hatte mir die Idee eines negativen Feedback eröffnet. Wenn das, was Kuin tat, so etwas wie ein positives Feedback erzeugte — ein Signal, das durch Zeit und menschliche Erwartung stabilisiert und verstärkt wurde —, dann lag die Lösung vielleicht im Gegenteil. Ein Chronolith, der erschien und anschließend zerstört wurde, würde den Prozess in Frage stellen; der wuchernde Eindruck von Kuins Unbesiegbarkeit wäre, wenn nicht zerschlagen, so doch geschwächt.

Wenn er die halbe Erde übernahm, dann wenigstens nicht unsere Hälfte. Daran glaubte Sue Chopra. Hoffentlich behielt sie Recht. Ich war bereit, mich nach dieser Hypothese zu richten.

Trotz meiner Skepsis.

Tja, da war er nun: Hitch Paley, der den Fuß aus einem zerbeulten Sony-Kompaktauto (das doch eigentlich ein Motorrad hätte sein müssen) auf den Parkplatzasphalt setzte. Wir waren für neun Uhr früh verabredet gewesen. Er hatte sich fünfzehn Minuten verspätet. Oder zehn Jahre, wenn man so will.

Er hatte sich kaum verändert. Ich wartete ein Dutzend Meter entfernt unter der Markise des Motelrestaurants und erkannte ihn auf Anhieb. Ich freute und fürchtete mich.

Er trug einen Vollbart und eine schlammgrüne Lederjacke. Er hatte ein bisschen zugenommen, was der breiten Nase, den hohen Wangenknochen und der Neandertalböschung des Schädels zugute kam. Er erblickte mich, kam säbelbeinig über die sonnige Distanz gestapft und streckte seine riesige Rechte aus.

»Hi, Kumpel«, sagte er. »Hast du das Paket, das du abholen solltest?«


Ich nuschelte irgendwas über das Paket; er grinste, schlug mir in den Rücken und sagte: »Ich verscheißere dich bloß, Scotty; wir reden später darüber.« Wir gingen ins Restaurant und nahmen eine Nische in Beschlag.

Natürlich hatte Sue Chopra über ihn Bescheid gewusst. Meine ganzen Anstrengungen — ihn beispielsweise beim Lügendetektortest außen vorzulassen — waren leicht zu durchschauen gewesen. Hitch gehörte zu Sues sogenannten Primär-Beobachtern und musst von Anfang an Bestandteil ihres Puzzle-Projekts gewesen sein. Hitch war tief in der Tau-Turbulenz gewesen, genauso tief wie ich.

Außerdem hatte ich angenommen, Hitch sei unauffindbar, aber da er nicht wusste, wie eingehend Augenzeugen unter die Lupe genommen wurden, hatte er sich wahrscheinlich ein bisschen zu lange in Chumphon aufgehalten — jedenfalls lange genug, um seine Internet-Signatur an das FBI zu verraten oder sich einen Positionssender einzuhandeln. Wie auch immer, man hatte ihn gefunden.

Man hatte ihn gefunden, und Sue hatte ihn vor die Alternative unverzüglicher Arrest oder Job gestellt. Hitch entschied sich — na, wofür wohl?

»Es ist kein richtiger Bürojob«, sagte er. »Das Geld stimmt, ich komme viel herum, keine Haken, keine Ösen. Angeblich ein sauberes Strafregister am Ende, obwohl kein Ende in Sicht ist. Zuerst haben sie mich rund um den Pazifik geschickt, ich sollte Gerüchte über Kuin sammeln, ohne dass dabei etwas Konkretes herauskam. Aber ich war beschäftigt, Scotty. Die Areale der Chronolithen auskundschaften, du weißt ja, in Ankara, Istanbul, hier und da ein paar inoffizielle Dinge erledigen, mit Kuinisten reden — wie neulich mit unseren Copperheads und Hadschisten.«

»Du bist ein Spitzel?«

Er zog eine säuerliche Miene. »Ja, ich bin ein Spitzel. Ich trinke Martinis und spiele Bakkarat.«

»Aber du weißt etwas über die Hadsch-Sache.«

»Ich weiß mehr über die ›Hadsch-Sache‹ als die allermeisten. Ich war mitten drin. Und ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen.«

Ich lehnte mich zurück. Wollte ich das wirklich? War das klug?

»Weißt du«, sagte Hitch, »wenn ich an Kait denke, dann sehe ich sie so vor mir, wie sie damals in Chumphon war. Wie sie am Wasser entlang lief in diesem pinkroten Einteiler, den Janice ihr so gerne anzog, und diese winzigkleinen Fußabdrücke im Sand, wie von einem Vogel, Ferse-Zehen, Ferse-Zehen. Wir hätten besser auf sie aufpassen sollen, Scotty.«

Er sagte wir und meinte mich.


Hitch hielt sich nicht lange mit Erinnerungen auf und kam rasch zur Sache. Die Details hatte er bereits von Ramone Dudley, und ich steuerte, während wir die Speisekarte studierten, das wenige bei, das ich selbst in Erfahrung gebracht hatte.

Er sagte: »Mexiko ist ein guter Tipp. Aber solange wir nicht mehr wissen, ergehen wir uns nur in Spekulationen.«

Er schlug ein weiteres Gespräch mit Whit Delahunt vor. Ich war einverstanden, aber nur unter der Bedingung, Janice nicht unnötig zu ängstigen. »Und wir sollten auch mit Ashlee Mills reden. Wenn sie zu Hause ist, könnten wir sie mit zu Whit nehmen.«

»Zu viele Mitwisser sind nicht gut«, gab Hitch zu bedenken.

»Ashlee ist in derselben Lage wie ich. Sie war hilfreicher als die Polizei, aber wirklich.«

»Du verbürgst dich für sie, Scotty?«

»Ja.«

»Okay.« Er musterte mich skeptisch. »Du hast wohl in der letzten Zeit zu wenig gefuttert und geschlafen, was?«

»Sieht man das?«

»Steak mit Spiegelei, war das nichts?«

»Ich hab keinen Hunger.«

»Steak mit Spiegelei, Scotty. Kait zuliebe, na komm.«

Ich wollte nicht, aber als die Kellnerin das Essen brachte, sah es ziemlich gut aus. Es fiel mir erstaunlich leicht, den Teller leerzuputzen.

»Na, wie fühlst du dich?«, fragte Hitch anschließend.

»Ich fühle, wie sich meine Arterien verhärten.«

»Quatsch. Du brauchst die Proteine. Vor uns liegt viel Arbeit, und nicht bloß heute.«

Ich hörte mich sagen: »Was meinst du? Ob wir sie finden?«

»Wir finden sie. Verlass dich drauf.«


Ashlee musste schlucken, als sie Hitch Paley zum ersten Mal sah, dann schleuderte sie mir einen Blick zu, der sagte: Solche Freunde haben Sie?

Die Frage war verständlich. Hitch sah immer noch wie ein Gauner aus — man hätte ihn für einen Dealer äla Cheever Cox halten können oder einen von diesen bulligen Typen, die Schulden eintreiben. Ich skizzierte das eine oder andere aus unserer gemeinsamen Vergangenheit und wiederholte einiges von dem, was Hitch mir erzählt hatte. Ashlee nickte, schien aber den Verdacht nicht loszuwerden, Hitch sei mehr als nur Sue Chopras verdeckter Ermittler.

Sie nahm mich beiseite und sagte: »Kann er uns helfen, Kait und Adam zu finden? Mehr will ich gar nicht wissen.«

»Ich glaube schon.«

»Gut«, sagte sie. »Fahren wir also zu diesem Whitman Delahunt.«

Ich saß am Steuer. Es war Nachmittag, eine sanfte Brise wehte, hohe Wolken marmorierten den Himmel. Hitch war schweigsam. Ashlee summte eine Melodie, es war ein altes Lied von Lux Ebone, etwas Trauriges. Etwas aus der Zeit, als Lieder noch etwas galten, als alle dieselben Lieder kannten. In diesem Jahr hörten sich alle Popsongs wie Marschmusik an: Trommeln und Becken und Trompeten und alles ertrank im eigenen Echo. Vermutlich hat jede Dekade die Musik, die sie verdient.

Hitch hatte die Nikotinverfärbung an Ashlees Fingern bemerkt. »Nun rauchen Sie schon«, sagte er. »Bin Schlimmeres gewöhnt.«


Man konnte nicht gerade sagen, dass das Haus, in dem Whit und Janice lebten, mit Würde alt geworden war, so wenig wie das Viertel ringsherum, aber beides lag immer noch deutlich über dem amerikanischen Durchschnitt. Diese Leute konnten es sich leisten, den Müll trotz Streik abfahren zu lassen. Die Rasenflächen waren grün. Die rostgesprenkelten Landschaftsroboter, die hier und da zwischen den Hecken herumkrochen, erinnerten an träge Gürteltiere. Blinzelte man ein bisschen, sah es aus, als hätten die letzten zehn Jahre nicht stattgefunden.

Whitman machte auf und prallte förmlich zurück, als er mich sah. Auch der Anblick von Hitch und Ashlee machte ihm keine Freude. Dann verbannte er jeden Ausdruck aus seinem Gesicht und sagte: »Janice ist oben, Scott. Soll ich sie rufen?«

»Wir wollen dir nur ein paar Fragen stellen«, sagte ich. »Wir können Janice in Ruhe lassen.«

Uns hereinzubitten, ging ihm deutlich gegen den Strich, doch seine Copperheadansichten vor eventuellen Passanten zu vertreten, schien ihm auch nicht ratsam. Also traten wir in den kühlen Schatten des Hauses. Ich stellte ihm Hitch und Ashlee vor, ohne näher darauf einzugehen, warum ich sie mitgebracht hatte. Als wir weit genug von der Haustür entfernt waren, ergriff Hitch die Initiative und sagte: »Scotty hat mir von Ihrem Club erzählt, Mr. Delahunt. Was wir jetzt brauchen, ist eine Liste aller erwachsenen Mitglieder.«

»Die habe ich bereits der Polizei gegeben.«

»Schon klar, aber wir brauchten auch eine.«

»Sie haben kein Recht…«

»Richtig«, schnitt Hitch ihm das Wort ab, »und Sie sind auch nicht verpflichtet, uns diese Liste zu geben; aber sie würde uns helfen, Kaitlin zu finden.«

»Das möchte ich bezweifeln.« Whit nahm mich aufs Korn. »Ich hätte die Polizei vor dir warnen können, Scott. Schade, dass ich es nicht getan habe.«

»Da war ich schon«, sagte ich. »Die Polizei ist gewarnt.«

»Und du wirst dich da wiederfinden, wenn du nicht aufhörst…«

»Ihre Tochter zu suchen?«, fiel Hitch ihm ins Wort. »Ihre Tochter aus dem Schlamassel zu retten, in den sie sich selbst hineinmanövriert hat?«

Whit sah aus, als wolle er mit dem Fuß aufstampfen. »Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie überhaupt sind! Was haben Sie mit Kaitlin zu tun?«

Hitch lächelte müde. »Früher hatte sie eine Narbe unter dem linken Knie, sie war in eine kaputte Flasche draußen vor dem Haat Thai gefallen. Hat sie die Narbe immer noch, Mr. Delahunt?«

Whit öffnete den Mund, um zu antworten, wurde aber unterbrochen…

»Ja.«

Janice. Sie hatte zugehört und kam jetzt die restlichen Stufen herunter, voller Anmut in ihrem Kummer. »Ja, sie hat sie immer noch. Aber sie ist kaum noch zu sehen. Hi, Hitch.«

Diesmal lächelte Hitch wirklich. »Janice«, sagte er.

»Du hilfst Scott bei der Suche nach Kaitlin?«

Hitch bejahte.

»Das ist gut. Whit, würdest du diesen Leuten die Informationen geben, die sie brauchen.«

»Das ist absurd. Die können doch nicht einfach herkommen und eine solche Forderung stellen.«

»Es hörte sich eher wie eine Bitte an. Vielleicht können sie Kait ja helfen, was willst du mehr?«

Whit schluckte einen Protest hinunter. In ihrer Stimme lag eine verhaltene Heftigkeit, ein alter und unbändiger Zorn. Mag sein, dass Hitch und Ashlee ihn nicht hörten, aber ich hörte ihn. Und Whit auch.

Es dauerte ein bisschen, aber dann gab er uns eine leidlich lesbare, handgeschriebene Liste mit Namen, Adressen und Terminalnummern.

»Haltet aber bitte meinen Namen aus der Sache heraus«, sagte er mürrisch.

Hitch nahm Janice in die Arme und Janice Hitch. Sie hatte nie viel um Hitch gegeben, aus gutem Grund vermutlich, doch die Tatsache, dass er hier war und sich an der Suche nach Kaitlin beteiligte, musste ihn in ihren Augen rehabilitiert haben. Sie nahm meine Hand zum Abschied und sagte: »Danke, Scott. Und ich meine das ernst. Was ich vor ein paar Tagen gesagt habe, tut mir Leid.«

»Dir muss nichts Leid tun.«

»Die Polizei sagt dauernd, Kait sei noch in der Stadt. Aber das stimmt nicht, oder?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Mein Gott, Scott, es ist einfach so…« Sie fand nicht das passende Wort. Sie legte die Hand auf den Mund. »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Ich meine, finde Kait, aber gib Acht auf dich.«

Ich versprach es ihr.

Als wir wieder draußen waren, sagte Hitch: »Weiß Janice, dass sie mit einem Arschloch verheiratet ist.«

»Sie schöpft allmählich Verdacht«, sagte ich.

Ashlee lud uns zum Abendbrot ein.

Ich half ihr in der Küche, während Hitch mit seinem Smartphone ein paar Anrufe tätigte. Ashlee bereitete ein Gericht aus Reis und Hühnerfleisch zu, das sie »Pilau für Arme« nannte.[28] Sie schnitt das rohe Fleisch mit einem einfachen Stahlmesser fein säuberlich in kleine Würfel und fragte, wie lange ich denn mit Janice verheiratet gewesen sei.

»Gut fünf Jahre«, sagte ich. »Wir waren noch jung. Sehr jung.«

»Dann seid ihr schon lange geschieden.«

»Manchmal kommt es mir nicht so vor.«

»Sie scheint zu wissen, was sie will.«

»Das ja, aber sehr belastbar ist sie nicht. Die Sache nimmt sie ziemlich mit.«

»Sie hat großes Glück, dass sie so ein Leben führen kann. Dafür sollte sie dankbar sein.«

»Ich glaube, momentan ist sie nicht sehr glücklich.«

»Nein, ich meine…«

»Schon verstanden, Ashlee.«

»Schon wieder voll ins Fettnäpfchen.« Sie blies sich das Haar aus den Augen.

»Soll ich schon die Möhren kleinschneiden?«

Sie schmeckte ab und würzte nach.

Wir ließen den Pilau braten und gesellten uns zu Hitch.

Hitch hatte die großen gestiefelten Füße auf Ashlees Couchtisch liegen. »So viel wissen wir jetzt«, sagte er, »dank Whitman und Ramone Dudley und ein paar anderen Quellen. Whites dämlicher Copperhead-Club hat achtundzwanzig zahlende Mitglieder, davon zehn aus dem oberen Management der Firma, bei der er seine Brötchen verdient, so dass er vermutlich Recht hat, wenn er behauptet, da nur wegen seiner Karriere mitzumachen. Achtundzwanzig Erwachsene, davon achtzehn Singles oder kinderlose Paare. Zehn Mitglieder haben Kinder verschiedenen Alters, aber nur neun haben ihren Nachwuchs im Juniorkader untergebracht. Darunter zwei Geschwister, das macht zehn Kids plus sechs Außenseiter wie Adam, die von sich aus beigetreten sind. Aber es gab eine verschworene Kerngruppe von acht Kids, zu denen auch Kait und Adam gehörten. Und genau die sind abgängig.«

»Okay«, sagte ich.

»Mal angenommen, sie haben die Stadt verlassen. Mit Flieger oder Bus wären sie zu sehr aufgefallen, vorausgesetzt sie reisen zusammen. Und per Anhalter, da hätten wahrscheinlich die Provinzler nicht mitgemacht angesichts der zahlreichen erwachsenen Arschlöcher, die bereits unterwegs sind. Bleiben noch die eigenen Räder. Wahrscheinlich ein Fahrzeug mit viel Platz. Ein Landau packt zur Not acht Leute, aber das fällt auf und macht die Leute sauer.«

»Das sind lauter Vermutungen.«

»Okay, aber gib mir noch eine Minute. Angenommen sie fahren selber, womit würden sie fahren?«

Ashlee sagte: »Ein paar von den Kids müssen Autos haben?«

»Richtig. Darum hat sich Ramone Dudley gekümmert. Vier von den acht haben tatsächlich Fahrzeuge, die auf ihren Namen zugelassen sind, aber kein Einziges wird vermisst. Die Eltern haben kein Auto als gestohlen gemeldet. Tatsache ist, dass, seit die Kids weg sind, so ziemlich jeder Autodiebstahl in der Stadt entweder das Werk von Profis oder irgendwelchen Strolchen war, deren Spritztour damit endete, dass die Karre demoliert oder ausgebrannt war. Ein Auto klauen ist nicht mehr so leicht wie früher. Selbst wenn du das personalisierte Schloss knacken kannst, sendet jedes Auto, das in den letzten zehn Jahren vom Band lief oder importiert wurde, routinemäßig seine Seriennummer und GPS-Koordinaten. Seitdem ist es kinderleicht, sein Auto auf einem Parkplatz wiederzufinden, und viel schwieriger, eins zu klauen. Der moderne Autodieb ist technisch versiert und hat eine Menge Kniffe und Tricks auf Lager, er besucht bestimmt nicht die High School.«

»Also haben sie keins von ihren Autos benutzt und auch keins gestohlen«, sagte Ashlee. »Na, fabelhaft. Da bleibt nichts übrig. Vielleicht sind sie ja doch noch in der Stadt.«

»Davon geht Ramone Dudley aus, aber das macht einfach keinen Sinn. Diese Kids sind ganz offensichtlich auf einem Hadsch. Also hab ich Dudley gebeten, die Autos von den Kids ein zweites Mal zu checken. Das hat er gemacht.«

»Und — hat er was gefunden?«

»Nichts. Alles wie gehabt. Drei von den Fahrzeugen sind noch genau da, wo sie die ganze letzte Woche über geparkt waren. Nur eines ist bewegt worden, aber lediglich für die Hin- und Rückfahrten zum örtlichen Lebensmitteldiscount — in der fraglichen Zeit nicht mehr als zwanzig Meilen laut Tacho. Der Junge hat den Schlüsselbund bei seiner Mom gelassen.«

»Also sind wir keinen Schritt weiter.«

»Mit einer Ausnahme. Diese Mom, die mit dem Wagen ihres Jungen einkaufen fährt, steht auf Whits Liste. Eleanor Helvig und ihr Mann Jeffrey sind angesehene Mitglieder des Copperhead-Clubs. Jeffrey ist ein Junior-Vice-President von Clarion Pharma, ein paar Stufen über Whit. Jeff verdient ziemlich gut, und es gibt drei Fahrzeuge, die auf die Familie zugelassen sind: seines, das seiner Frau und das von seinem Sohn. Wirklich schöne Autos. Zwei Daimler und ein Edison aus zweiter Hand für Jeff jr.«

»Aha?«

»Warum also fährt die Frau mit dem Edison Einkaufen, wo doch der Daimler ein großes Nutzfahrzeug ist, das hinten eine Menge Platz hat?«

Ashlee sagte: »Da fallen mir viele Gründe ein.«

»Trotzdem… ich finde, wir sollten sie fragen, was meint ihr?«


Das Essen dufte verlockend, erklärte ich Ashlee, aber die Zeit dränge. Ashlee entschied, zu Hause zu bleiben und Hitch und mir die Feldarbeit zu überlassen, nahm uns aber das Versprechen ab, sie sofort anzurufen, wenn es Neuigkeiten gab.

Im Auto sagte ich: »Was das Paket angeht…«

»Richtig, das Paket. Vergiss es, Scotty.«

»Ich vergesse keine alte Schuld, Hitch. Du hast mir das Geld vorgeschossen, damit ich Thailand verlassen konnte. Und dafür sollte ich dir diesen einen Gefallen tun, und dazu ist es nicht gekommen.«

»Jaja, aber du hast es doch versucht, oder?«

»Ich war da, wo du gesagt hast.«

»Easy's Packages and Parcels?« Hitch grinste dieses Grinsen, das mich früher schon immer aufgebracht hatte.

Ich sagte: »Ich bin hin, aber dann…«

»Du hast dem Burschen meinen Namen genannt?«

»Ja sicher…«

»Älter, graues Haar, ziemlich groß, kaffeebraun?«

»Kann schon sein. Aber da war kein Paket, Hitch.«

»Was? Das hat er gesagt?«

»Hm.«

»War er freundlich

»Im Gegenteil.«

»Er war also gereizt, richtig?«

»Hat praktisch zur Waffe gegriffen.«

Hitch nickte mehrmals. »Gut… gut.«

»Gut? Dann hatte das Paket Verspätung, oder was?«

»Nein. Scotty, es hat nie eins gegeben.«

»Das, was ich für dich abholen sollte?«

»Hat es nicht gegeben. Tut mir Leid.«

Ich sagte: »Aber das Geld, das du mir…«

»Nimm's mir nicht krumm, aber ich fand, dass du in Minneapolis besser aufgehoben warst. Ich meine, wie du da am Strand herumgelungert bist, Janice und Kaitlin auf und davon; du hast ganz schön gesoffen, mein Lieber, und Chumphon war nicht der richtige Ort für einen betrunkenen Amerikaner, zumal die ganzen Pressefritzen ringsherum auf legale Art geplündert wurden. Ich hatte Mitleid mit dir. Ich hab dir die Kohle gegeben. Ich hatte genug davon: Die Geschäfte liefen gut. Aber schenken, das war nichts für dich. Und leihen, das war nichts für mich. Ich wollte nicht, dass du mir auflauerst, nur um deine Schulden zu bezahlen. Was du getan hättest, gib es ruhig zu. Also hab ich mir die Sache mit dem Paket ausgedacht.«

»Du hast dir das ausgedacht

»Tut mir Leid, Scotty, du hast bestimmt gedacht, du wärst so was wie ein Trojaner für Drogen, und das fand ich nun wieder amüsant. Ich weiß doch, welchen Wert du auf deinen gebildeten, moralinklaren Lebenswandel legst. Ich dachte, ein kleines Dilemma brächte ein bisschen Abwechslung in dein Leben.«

»Nein«, sagte ich, »das ist Stuss. Der Bursche in dem Laden kannte deinen Namen… und du hast ihn mir vorhin beschrieben.«

Ich fuhr in den Sonnenuntergang hinein, und eben gingen die Lichter der Armaturen an. Die Luft, die durchs offene Fenster hereinwehte, war kühl und roch relativ frisch. Hitch ließ sich Zeit mit der Antwort.

Dann sagte er: »Ich will dir eine kleine Geschichte erzählen, Scotty. Meine Kindheit fand in Roxbury statt, bei meiner Mom und meiner kleinen Schwester. Wir waren arm, aber das war noch, als die Stütze gerade ausreichte, um über die Runden zu kommen, vorausgesetzt man ging gut um mit den Sachen. Ich hab das nicht als schlimm empfunden, ich wusste es nicht anders und war glücklich mit dem, was ich hatte und… na ja, so hab mitgehen lassen, du weißt schon. Aber meine Mom war eine einsame Frau, und als ich sechzehn war, hat sie diesen toughen Scheißkerl namens Easy G. Tobin geheiratet. Easy betrieb einen Zustelldienst und dealte hintenherum mit Koks und Methamphetaminen. Ich will ihm zugutehalten, dass er sie nicht ein einziges Mal geschlagen hat — oder mich oder meine Schwester. Er war kein Monster. Er hat auch die Drogengeschäfte von uns fern gehalten. Aber er war hundsgemein. Ich meine, in dem, was er sagte. Er brauchte nicht laut zu werden, mit ein paar Worten konnte er einen fertigmachen, weil — er wusste immer ganz genau, was man auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er tat das mit mir und er tat das mit meiner Schwester, aber wir waren zweite Liga. Hauptsächlich machte er es mit Mom. Bis ich ein paar Jahre später von zu Hause fort wollte, hatte ich mehr Tränen gesehen, als mir lieb war. Mom wollte ihn loswerden, aber wie? Easy hatte noch ein paar Ladies in Reserve. Eines Tages sind wir ihm nachgegangen — also ich und ein paar Kumpels — und sind rein in das Haus der Freundin und haben ihm ein bisschen auf die Finger geklopft. Wir haben ihn nicht bewusstlos geschlagen, aber wir haben ihm Angst gemacht und ihm ordentlich was verpasst und ihm geraten, sich ja nicht wieder blicken zu lassen oder wir würden beim nächsten Mal etwas kräftiger zulangen. Er war einverstanden, er habe mich und meine Schwester satt und Mom sei verbraucht — seine Worte — und er habe sowieso abhauen wollen, und ich sagte, ich würd ihn im Auge behalten. Er sagte: ›In einer Woche weiß ich nicht mehr, wie du heißt, du kleines Stück Scheiße‹, und ich sagte, ich würde ab und zu von mir hören lassen und er täte besser daran, meinen Namen zu behalten, weil ich seinen bestimmt nicht vergessen würde. Naja, dabei ist es dann geblieben. Aber ein paar Jahre lang hab ich dafür gesorgt, dass er immer mal wieder auf meinen Namen stieß, nicht oft, aber ab und zu. Eine Karte, ein Anruf, irgendein virtueller Rippenstoß. Nur um ihn bei Laune zu halten. Vergessen hat der mich nicht können, was, Scotty?«

Ich sagte: »Er hätte mich umbringen können.«

»Naja, aber das hab ich eher für unwahrscheinlich gehalten. Außerdem hast du eine hübsche Stange Geld bekommen. Und das Risiko war klitzeklein, hm?«

»Totaler Schwachsinn«, murmelte ich.

»Damit ist dir alle Dankbarkeit erlassen. Ist das nichts?«


Wir hatten Glück, Mrs. Jeffrey Helvig war zu Hause, allein.

Sie öffnete uns im Freizeitdress, war gleich argwöhnisch, als sie uns im Schein der Verandabeleuchtung erblickte. Wir erklärten ihr, dass es um ihren Sohn Jeff jr. ginge. Sie erklärte uns, sie habe bereits mit der Polizei gesprochen und wir sähen überhaupt nicht wie Polizisten aus — wer wir also wären und was wir wirklich von ihr wollten?

Ich zeigte ihr genügend Belege, um sie davon zu überzeugen, dass ich Kaitlins Vater war. Sie kannte Janice und Whit, allerdings nicht besonders gut, und war Kait mehr als einmal begegnet. Als ich deutlich machte, ich wolle mit ihr über Kaitlin reden, lenkte sie ein und bat uns ins Haus. Allerdings nur ungern.

Das Haus war pingelig sauber. Eleanor Helvig liebte Korkuntersetzer und Spitzendeckchen auf Rücken- und Armpolstern. In der Wohnzimmerecke summte ein Luftreiniger. Eleanor Helvig stand verdächtig nahe am Security-Paneel, das auf Fingerdruck einen Hilferuf samt Videoaufnahme an die örtliche Polizei sendete. Vielleicht wurden wir schon aufgezeichnet. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie Angst vor uns hatte, aber sie war zutiefst misstrauisch.

Sie sagte: »Ich weiß, was Sie durchmachen, Mr. Warden. Ich mache dasselbe durch. Sie müssen verstehen, dass ich nicht schon wieder über Jeffs Verschwinden reden möchte.«

Sie verteidigte sich gegen einen Vorwurf, den noch niemand erhoben hatte. Das gab mir zu denken. Ihr Mann war ein Copperhead — ein Fundamentalist, wenn Whit Recht hatte. Sie hatte ihn zu den meisten Veranstaltungen begleitet, aber nicht zu allen. Vermutlich würde sie seine Ansichten nachbeten, aber nicht aus tiefer Überzeugung. Hoffentlich nicht.

Ich sagte: »Wären sie überrascht, Mrs. Helvig, wenn ich sagen würde, es sieht ganz so aus, als wäre Ihr Sohn mitsamt den anderen auf einem Hadsch?«

Sie blinzelte. »Ich wäre sogar verletzt, Mr. Warden.

Dieses Wort so zu benutzen, beleidigt nicht nur den Islam, sondern auch ganz viele aufrichtige junge Menschen.«

»Aufrichtige junge Menschen wie Jeff?«

»Ich hoffe, Jeff ist aufrichtig, aber eine oberflächliche Erklärung dessen, was ihm zugestoßen ist, werde ich nicht hinnehmen. Ich sollte Ihnen der Ehrlichkeit halber sagen, dass ich mit Briefvätern, die sich in Krisenzeiten ihrer Kinder entsinnen, meine Probleme habe. Aber so ist die Gesellschaft, in der wir leben, nicht wahr? Voller Menschen, die Elternschaft als genetische Verschmelzung betrachten und nicht als heilige Verpflichtung.«

Hitch sagte: »Und Sie glauben, unter Kuin wird alles besser?«

Sie starrte ihn herausfordernd an. »Schlimmer kann es jedenfalls nicht werden.«

»Wissen Sie, was ein Hadsch ist, Mrs. Helvig?«

»Ich sagte Ihnen schon, ich mag…«

»Aber viele Leute benutzen das Wort. Auch viele idealistische Kinder. Ein paar habe ich gesehen. Sie haben Recht, wir leben in einer rauen Welt, vor allem die Kinder haben es schwer. Ich habe sie gesehen. Ich habe Hadsch-Kids gesehen, abgeschlachtet am Straßenrand. Kinder, Mrs. Helvig, vergewaltigt und getötet. Sie sind jung und vielleicht idealistisch, aber sie sind auch verdammt naiv, was das Überleben draußen außerhalb der Provinz angeht.«

Eleanor Helvig erbleichte. (Ich auch, glaube ich.) »Wer sind Sie?«, sagte sie zu Hitch.

»Ein Freund von Kaitlin. Sind Sie ihr jemals begegnet, Mrs. Helvig?«

»Sie ist wohl zwei- oder dreimal vorbeigekommen…«

»Ihr Jeff ist bestimmt ein kräftiger junger Mann, aber was ist mit Kaitlin? Was meinen Sie, wie sie da draußen zurechtkommt, Mrs. Helwig?«

»Wie soll ich…?«

»Draußen auf der Straße, unter all den Obdachlosen und Soldaten? Wenn die Kids tatsächlich auf einem Hadsch sind, dann wären sie doch besser in einem Wagen aufgehoben. Auch Jeff.«

»Jeff ist kein Kind mehr«, sagte Eleanor Helvig leise.

»Aber Sie würden doch alles tun, damit er nicht trampt?«

»Natürlich…«

»Wo ist das Auto Ihres Mannes, Mrs. Helvig?«

»Er ist damit zur Arbeit. Er ist noch nicht zurück, aber…«

»Und Jeffs Auto?«

»In der Garage.«

»Und Ihres?«

Sie zögerte lange genug, um Hitchs Argwohn zu rechtfertigen. »Es ist zur Reparatur.«

»In welcher Werkstatt genau.«

Sie antwortete nicht.

»Wir müssen das nicht vor der Polizei vertiefen«, sagte Hitch.

»Im Auto ist er besser aufgehoben. Das haben Sie selbst gesagt.«

Sie flüsterte inzwischen.

»Das ist zweifellos richtig.«

»Jeff hat kein Wort von… einer Wallfahrt gesagt, aber als er mich um den Wagen bat, hätte mich das stutzig machen müssen. Sein Vater meinte, das brauche die Polizei nicht zu wissen. Das würde Jeff nur zum Kriminellen machen. Oder uns — wegen Beihilfe. Er kommt schon wieder. Sie werden sehen.«

»Sie könnten uns helfen…«, begann Hitch.

»Alles steht doch auf dem Kopf, finden Sie nicht? Kann man den Kindern einen Vorwurf machen?«

»Geben Sie uns die Zulassung und die GPS-Signatur des Wagens. Die Polizei erfährt nichts davon.«

Sie griff geistesabwesend nach ihrer Handtasche, dann zögerte sie. »Wenn Sie die Kinder finden, sind Sie dann auch nett zu Jeff?«

Das konnten wir ihr versprechen.


Hitch telefonierte mit Morris Torrance, der den Wagen bis El Paso verfolgt hatte. Das GPS lag in einem lokalen Recycling-Hof; der Rest des Wagens fehlte, womöglich verkauft oder gegen einen sicheren Grenzübertritt getauscht. »Sie sind unterwegs nach Portillo«, sagte Hitch, »ich bin mir fast sicher.«

»Nichts wie hin«, sagte ich.

Er nickte. »Morris bucht den Flug. Wir müssen uns beeilen.«

Beeilen. »Es ist also mehr als ein Gerücht? Portillo, meine ich. Der Chronolith.«

»Du hast es erfasst«, sagte er tonlos. »Es ist mehr als ein Gerücht. Die Zeit drängt.«

Fünfzehn

An der Ausfahrt nach Portillo wurden wir von Soldaten abgewiesen: Die Stadt sei bereits unbewohnbar, voller Amerikaner, die wie Hunde auf den Straßen hockten, eine Schande. Wie zur Bestätigung winkten sie einen Konvoi aus Rot-Kreuz-Transportern durch.

Hitch diskutierte nicht lange und folgte dem mit Schlaglöchern und Rissen durchsetzten Highway ein paar Meilen weiter in südlicher Richtung. Es gab, so Hitch, noch einen anderen Weg nach Portillo, nicht viel mehr als ein Viehtrieb, aber durchaus befahrbar für den zerbeulten Van, den wir am Flughafen gemietet hatten.

»Solche Wege sind sowieso sicherer«, meinte er. »Vorausgesetzt man hält nicht an.« Solche Wege hatte er schon immer bevorzugt.

»Warum ausgerechnet hier?«, wunderte sich Ashlee, die durchs Fenster in die öde Landschaft von Sonora stierte: Agaven, gelbes struppiges Gras und hin und wieder eine Viehranch, die ums Überleben kämpfte.[29]

Die Kuin-Rezession hatte Mexiko schwer zugesetzt, hatte die Verdienste der Gonsalvez-Regierung zunichte gemacht und der ehrwürdigen und korrupten Partido Revolucionario lnstitutional wieder in den Sattel geholfen. Die Armut der Landbevölkerung war inzwischen wieder auf dem Niveau, wie es vor der Jahrtausendwende gewesen war. Gleichzeitig war Mexico City die Stadt mit der größten Bevölkerungsdichte auf dem Kontinent, und dazu noch die mit der höchsten Umweltbelastung und der höchsten Verbrechensrate. Portillo dagegen war ein staubiges Städtchen ohne ersichtliche strategische oder militärische Bedeutung, eines unter vielen, die verwelkten und dahinsiechten.

»Es gibt mehr Chronolithen außerhalb der Ballungszentren als innerhalb«, erklärte ich Ashlee. »Die Durchbruchsorte scheinen fast planlos, bis auf Fanale wie Bangkok oder Jerusalem. Warum, weiß keiner. Vielleicht ist es einfacher, einen Chronolithen dahin zu setzen, wo mehr Platz ist. Oder die kleineren Monumente werden schon errichtet, bevor die Städte an die Kuinisten fallen.«

Wir hatten eine Kühlbox mit Wasserflaschen und zwei Kartons Proviant dabei. Mehr als genug für drei Leute. Zuhause in Baltimore glich Sue Chopra nach wie vor Daten aus ihrem inoffiziellen Netzwerk an Informanten und aus der jüngsten Generation von Überwachungssatelliten ab. Die Erkenntnisse über Portillo waren nicht bekannt gemacht worden. Die Behörden fürchteten eine Flut von Pilgern. Aber genau das hatten Internetgerüchte trotz Nachrichtensperre bewirkt.

Unsere Vorräte reichten mindestens für fünf Tage, was mehr als genug war, denn nach Sue Chopras Einschätzung standen wir weniger als fünfzig Stunden vor dem Ereignis.


Der »Viehtrieb« war eine steinige Fahrspur durch niedrige Vegetation, gekrönt von einem endlosen türkisfarbenen Himmel. Wir hatten noch ein Dutzend Meilen bis Portillo, als wir die erste Leiche sahen.

Ashlee wollte partout, dass wir anhielten, obwohl klar war, dass wir nichts mehr tun konnten. Sie wollte Gewissheit. Denn der Leichnam, meinte sie, habe etwa die Größe von Adam.

Doch der junge Mann, angezogen mit einem schmutzigweißen Hanfhemd und gelber Kevlarhose, war schon eine ganze Weile tot. Die Schuhe hatte man ihm gestohlen, auch die Armbanduhr samt Terminal und vermutlich auch die Brieftasche. Ein stumpfer Gegenstand hatte ihm den Schädel zertrümmert. Der Körper war von Verwesung aufgedunsen und hatte offensichtlich eine Reihe von Aasfressern angelockt, von denen zur Zeit nur die Ameisen zu sehen waren, die einen trägen Pendelverkehr auf seinem ausgedörrten Arm unterhielten.

»Davon werden wir noch mehr zu Gesicht bekommen«, meinte Hitch und heftete den Blick auf den Horizont. »In diesem Teil des Landes gibt es mehr Diebe als Fliegen, vor allem seit die PR1 die letzte Wahl für ungültig erklärt hat. Zweitausend total blauäugige Amerikaner an ein und demselben Ort wirken auf jedes gewaltbereite Arschloch südlich von Juarez wie ein Magnet, und sie sind zu hungrig, um irgendwelche Skrupel zu haben.«

Gewiss, er hätte das etwas behutsamer sagen können, aber wozu? Der Beweis lag im Sand und stank.

Ich blickte Ashlee an. Ashlee betrachtete den toten jungen Amerikaner. Sie war blass, und ihre Augen glitzerten vor Bestürzung.


Ashlee hatte uns klar gemacht, dass es besser war, wenn wir sie mitnahmen, und ich hatte schließlich eingewilligt. Ich mochte imstande sein, Kaitlin aus diesem Debakel zu retten, aber auf Adam Mills hatte ich keinen Einfluss. Selbst wenn ich ihn fände, meinte Ashlee, wäre ich nicht in der Lage, ihm diesen Hadsch auszureden. Vielleicht konnte das niemand, auch sie nicht, aber versuchen — versuchen musste sie es.

Es war natürlich gefährlich, extrem gefährlich, doch Ashlee war fest entschlossen, nach Portillo zu reisen, ob mit oder ohne uns. Und ich konnte sie gut verstehen. Das Gewissen lässt einem manchmal keine Wahl. Das hat nichts mit Mut zu tun. Wir waren nicht hier, weil wir tapfere Krieger waren. Wir waren hier, weil wir hier sein mussten.

Doch der tote Landsmann war eine Demonstration aller Wahrheiten, denen wir nur allzu gerne ausgewichen wären. Der Wahrheit, dass unsere Kinder einen Ort aufgesucht hatten, an dem so etwas passierte. Dass es ebenso gut Adam oder Kaitlin hätte treffen können. Dass nicht jedes Kind, das in Gefahr schwebt, auch gerettet werden kann.

Hitch kletterte hinters Steuer. Ich und Ash stiegen hinten ein. Sie legte den Kopf an meine Schulter, das erste Mal, dass sie Erschöpfung zeigte, seit wir die Vereinigten Staaten verlassen hatten.

Es zeigte sich einmal mehr, dass wir nicht die einzigen Amerikaner waren, die diese Route genommen hatten. Wir kamen an einer verwaisten Limousine vorbei, die mit gebrochener Achse an einer Böschung hing, und ein rostzerfressener Edison mit Nummernschildern von Oregon überholte uns in waghalsigem Tempo und wirbelte alkalische Staubwolken in den Nachmittag. Und dann endlich hatten wir eine Anhöhe erklommen und sahen Portillo vor uns liegen, auf der Zufahrtsstraße lauter Konglomerate von Kuppelzelten, die an Insekteneier erinnerten. Die Hauptstraße durch Portillo wurde von Lehmziegelgaragen, Abfallhaufen, armseligen Behausungen und einem Chaos aus amerikanischen Autos gesäumt. Der Ort selbst war ein Schandfleck im Kolonialstil zwischen zwei lizensierten Motels und ebenso vielen Tankstellen. Das alles war kampflos an die Kuinisten gefallen. Hadsch-Jugend in allen Schattierungen hatte sich hier versammelt, die meisten ohne angemessene Ausrüstung und Erfahrung. Die Einwohner hatten zum großen Teil ihre Behausungen aufgegeben und sich auf den Weg zur Stadt gemacht. Diejenigen, die geblieben waren, so Hitch, waren Kranke oder Alte, Diebe oder Wasserverkäufer, Opportunisten oder überforderte Mitglieder der örtlichen Gendarmerie. Außerhalb der Versorgungszelte internationaler Hilfsorganisationen gab es so gut wie keine Lebensmittel. Die Armee blockierte die Zufahrten und wies fahrende Verkäufer ab, in der Hoffnung, Hunger würde die Pilgerscharen zerstreuen.

Ashlee starrte mit unübersehbarer Verzweiflung auf dieses staubgebleichte Mekka. »Selbst wenn sie tatsächlich hier sind«, sagte sie, »wie sollen wir sie finden?«

»Lasst mich mal machen«, sagte Hitch. »Das braucht ein bisschen Feldarbeit. Aber erst müssen wir mal da sein.«

Wir fuhren über Stock und Stein und erreichten schließlich eine rissige Teerdecke. Der Gestank des Hadsch drang mit dem Taktgefühl einer geballten Faust in den Van und Ashlee zündete sich eine Zigarette an, nicht zuletzt, um diesen Duft zu übertünchen.


Hitch parkte uns hinter einem rußigen Lehmziegelschuppen, etwa eine halbe Meile vor Portillo. Eine Gruppe verdorrter Jacarandas und ein paar Stapel kotverkrusteter Hühnerställe verbargen uns vor der Hauptstraße.

Nach dem Grenzübertritt hatte Hitch Waffen besorgt und bestand nun darauf, mich und Ashlee damit vertraut zu machen. Nicht, dass wir uns gesträubt hätten. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine Waffe abgefeuert — ich war in einer waffenscheuen Dekade aufgewachsen und brachte einen wohlbegründeten Abscheu vor Handfeuerwaffen mit. Ich bekam also eine Pistole mit vollem Magazin und Hitch vergewisserte sich, dass ich sie entsichern und so halten konnte, dass mein Handgelenk den Rückschlag schadlos überstehen würde.

Hitch wollte, dass Ashlee und ich beim Van blieben und denselben samt Proviant und Wasser bewachten, derweil er selbst in die Höhle des Löwen ging, um Adams Hadsch-Gruppe ausfindig zu machen und ein Treffen auszuhandeln. Ashlee dagegen wollte ohne Umschweife in den Ort — und ich verstand ihre Not —, doch Hitch blieb hart. Der Van war unverzichtbar und musste bewacht werden; ohne das Fahrzeug waren wir ein leeres Versprechen für die Kids.

Hitch steckte seine Waffe ein und marschierte los. Ich sah zu, wie die Dämmerung ihn verschluckte. Dann sperrte ich die Wagentüren zu und ging zu Ashlee nach vorne, wo es eine Mahlzeit aus Müsliriegel und Apfel gab, dazu lauwarmen Instantkaffee aus der Thermosflasche. Wir aßen schweigend, während der Himmel eindunkelte. Die Sterne kamen hervor, hell und scharf, trotz der verstaubten Windschutzscheibe und des Rauchschleiers, der von den nächtlichen Feuern rührte.

Ashlee legte den Kopf an meine Schulter. Seit wir Mexiko betreten hatten, hatten wir nicht mehr geduscht, und das machte sich bemerkbar, war aber unerheblich. Es war die Wärme, die zählte, die Berührung. Ich sagte: »Wir müssen abwechselnd schlafen.«

»Meinst du, es wär so gefährlich hier?«

»Und ob.«

»Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann.«

Als sie das sagte, unterdrückte sie ein Gähnen.

»Krabbel nach hinten«, sagte ich. »Deck dich mit der Decke zu und versuch zu schlafen.«

Sie nickte und streckte sich auf einer der hinteren Sitzbänke aus. Während sich die Hitze des Tages verlor, saß ich am Steuer, die Pistole griffbereit, und kam mir einsam, nutzlos und albern vor.

Selbst aus dieser Entfernung waren die nächtlichen Geräusche von Portillo zu hören. Im Grunde ein einziges Geräusch, ein weißes Rauschen aus menschlichen Stimmen, digitaler Musik, prasselndem Feuer, Lachen und Schreien. Das, ging es mir durch den Kopf, war der tausendjährige Wahnsinn, dem wir mit der Jahrhundertwende entkommen waren, Hunderte von Hadschisten, die Kapital aus dem moralischen Freibrief eines verbürgten Weltendes schlugen. Erlöser oder Zerstörer, Kuin gehörte das Morgen und Übermorgen, ihm gehörten alle Morgen, zumindest in den Augen der Hadschisten. Und zumindest jetzt, bei dieser Gelegenheit, würde er sie nicht enttäuschen: Der Chronolith würde wie angekündigt kommen; Kuin würde seine Siegessäule in nordamerikanischen Boden pflanzen. Von eben diesen Hadschisten würden vermutlich viele durch den Kälteschock oder die Erschütterung ums Leben kommen, und so sie es wussten, und das taten sie höchstwahrscheinlich, gaben sie nichts drum. Es war eine Lotterie. Großer Preis, großes Risiko. Kuin würde die Getreuen belohnen… zumindest die unter ihnen, die danach noch lebten.

Ich fragte mich unwillkürlich, wie viel von diesem Irrsinn Kait verinnerlicht hatte. Kaitlin hatte Phantasie, und sie war ein Einzelkind. Phantasievoll und naiv: keine gute Mischung, nicht in dieser Welt.

Setzte Kait wirklich auf Kuin? Auf einen Kuin, wie sie ihn aus ihrer eigenen Sehnsucht und Unsicherheit heraufbeschworen hatte? Oder war das alles nur ein Abenteuer, eine melodramatische Flucht aus den »Klostermauern« eines Whitman Delahunt?

Ich durfte nicht damit rechnen, dass sie über meinen Anblick erfreut war. Aber ich würde sie aus diesem Albtraum befreien… wenn es sein musste, mit brutaler Gewalt. Ich konnte Kaitlin nicht zwingen, mich zu mögen, aber ich konnte ihr das Leben retten. Und das reichte fürs Erste.

Die Nacht zog sich hin. Der Lärm von Portillo ebbte ab und schwoll an in jenem eigenwilligen stochastischen Rhythmus, mit dem Wellen an den Strand rollen. Im wilden Salbei östlich des Vans saß eine Grille und leistete ihren unverwechselbaren Beitrag zu dieser Kakophonie. Ich trank von Ashlees Kaffee und stieg kurz aus, um mich zu erleichtern, ging um eine verrostete Achse mit Antriebsstrang herum, die wie eine Tierfalle im hohen Unkraut lauerte. Ashlee regte sich und murmelte im Schlaf, als ich die Tür ins Schloss zog.

Auf der Straße war nur wenig Verkehr, hauptsächlich Hadschisten, die eine Spritztour machten und aus den Wagenfenstern johlten. Niemand sah uns; niemand hielt. Ich begann schon einzunicken, als Ashlee mir auf die Schulter tippte. Das Armaturenbrett zeigte 2:30 Uhr.

»Ablösung«, sagte sie.

Ich diskutierte nicht lange, zeigte ihr, wo die Pistole war, und streckte mich auf der Rückbank aus. Die Decke war noch wohlig warm. Kaum hatte ich die Augen zu, übermannte mich der Schlaf.


»Scott?«

Sie rüttelte mich sanft, aber mit Nachdruck.

»Scott!«

Ich fuhr auf — Ashlee lehnte aus dem Fahrersitz und schaukelte meine Schulter. Sie flüsterte: »Draußen sind Leute. Hörst du?«

Sie drehte sich ab und ließ sich nach unten rutschen, bis ihr Kopf außer Sicht war. Die Dunkelheit war nicht vollkommen. Ein Halbmond war aufgegangen. Eine Zeit lang herrschte absolute Stille. Dann, nicht sehr weit weg, das erschrockene Stöhnen einer Frau, gefolgt von ersticktem Lachen.

Ich sagte: »Ashlee…«

»Sie sind vor einer Minute gekommen. Ein Auto auf der Straße. Sie wurden langsamer, haben gehalten, und dann hörte man… ah… ein bisschen Schreien. Und dann — sehen konnte ich erst was, als ich den Seitenspiegel verstellt hab und dann war immer noch der Baum im Weg, aber es sah aus, als war jemand aus dem Wagen gestürzt und weggerannt. Eine Frau, glaube ich. Und zwei Burschen sind hinter ihr her.«

Ich überlegte. »Wie spät ist es jetzt?«

»Knapp vier.«

»Gib mir die Pistole, Ash.«

Sie zögerte. »Was tun wir?«

»Ich nehme die Pistole und steige aus. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, schaltest du das Fernlicht ein und startest den Motor. Ich versuche, in Sichtweite zu bleiben.«

»Und wenn dir was passiert?«

»Dann gibst du Gas und machst dich aus dem Staub. Wenn mir was passiert, haben die nämlich die Waffe. Trödel also hier nicht rum, verstanden?«

»Und wo soll ich hin?«

Gute Frage. In die Höhle des Löwen? Zurück zu den Versorgungszelten, zur Straßenblockade? Was sollte ich ihr sagen?

Doch dann schrie die Frau wieder, und mir war einen Augenblick, als hörte ich Kaitlin schreien. Kaitlin hörte sich anders an, aber sie war noch verdammt klein gewesen, als ich sie das letzte Mal hatte schreien hören.

Ich sagte Ashlee, ich würde schon auf mich aufpassen, aber wenn irgendwas schief gehe, solle sie auf jeden Fall von hier verschwinden — den Van womöglich etwas weiter in Richtung Portillo verstecken und gegen Morgen nach Hitch Ausschau halten.

Ich stieg aus und drückte die Tür behutsam ins Schloss. Als ich ein paar Schritt entfernt war, gab ich ihr das Zeichen, die Scheinwerfer einzuschalten.

Das Fernlicht stand den Suchscheinwerfern einer Flugabwehrbatterie in nichts nach, als es aus der sternklaren Nacht sprang, und der Motor brüllte wie eine Vorzeitbestie. Knapp zehn Meter entfernt erstarrten die Frau und die beiden Männer in der grellen Lichtflut.

Alle drei waren jung, vielleicht in Adams Alter. Was die Männer vorhatten, hieß juristisch »erzwungener Beischlaf«. Die Frau lag rücklings im Gras, der eine drückte ihr die Schultern an den Boden, der andere zwang ihr die Beine auseinander. Sie hatte das Gesicht aus dem Licht gedreht, während die Männer die Köpfe gehoben hatten wie Präriehunde, die ein Raubtier wittern.

Im Gegensatz zu mir schienen sie nicht bewaffnet zu sein, was mich ein bisschen leichtsinnig machte.

Ich hob die Waffe gegen ihre verblüfften Gesichter. Ich wollte ihnen befehlen, von ihr zu lassen und sich zu entfernen — das hatte ich vorgehabt —, aber ich war nervös, der Finger am Abzug zuckte, und der Schuss löste sich.

Ich hätte die Waffe beinah fallenlassen. Ich weiß nicht, wo der Schuss hinging… er traf jedenfalls keinen Menschen. Aber er hatte den beiden einen gehörigen Schrecken eingejagt. Geblendet vom Mündungsfeuer, ließ ich dennoch die verhinderten Vergewaltiger, die zu ihrem Wagen rannten, nicht aus dem Auge. Ich spielte mit dem Gedanken, noch einmal abzudrücken, verwarf ihn aber rasch, nur um das Schießeisen nicht wieder zu provozieren. (Später klärte Hitch mich darüber auf, dass die Waffe auf niedrigen Abzugswiderstand getrimmt und früher vermutlich für kriminelle Zwecke benutzt worden war.)

Die beiden schwangen sich mit affenartiger Gewandtheit ins Auto. Hätten sie dort Waffen gehabt, hätte ich in Schwierigkeiten kommen können — was mir reichlich spät einfiel —, aber entweder hatten sie keine oder sie benutzten sie nicht. Der Wagen erwachte zum Leben und machte einen Satz in Richtung Portillo, wobei die gestapelten Hühnerställe einen Hagel von Kies abbekamen.

Blieb noch das Mädchen.

Ich drehte mich um, die Mündung der Waffe wohlweislich steil nach unten gerichtet. Das rechte Handgelenk schmerzte noch vom Rückschlag.

Das Mädchen war in der grellen Lichtflut aufgestanden und dabei, ihre zerrissene Levis zuzuknöpfen. Sie sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht ganz ergründen konnte — ich glaube, sie hatte Angst und schämte sich. Sie war jung. Das Gesicht war tränenverschmiert. Sie war so dünn, dass sie fast magersüchtig wirkte; über die linke Brust zog sich eine lange, verkrustete Schramme.

Ich räusperte mich und sagte: »Sie sind weg — du hast jetzt nichts mehr zu befürchten.«

Vielleicht sprach sie kein Englisch. Wahrscheinlicher war, dass sie mir nicht glaubte. Sie drehte sich um und floh ins hohe Gras längs der Straße wie ein verschrecktes Tier.

Ich machte ein paar Schritte, folgte ihr aber nicht. Die Nacht war zu finster und ich wollte Ashlee nicht allein lassen.

Ich wünschte der Kleinen alles Gute, hatte aber meine Zweifel, ob es half.


An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich setzte mich nach vorne zu Ashlee. Wir waren hellwach und vollgepumpt mit Adrenalin. Ash steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem winzigen Gasfeuerzeug an. Wir redeten nicht über das, was wir gesehen hatten, doch wenig später, als im Osten das erste Blau dämmerte, sagte Ashlee: »Du darfst sie nicht danach fragen. Kaitlin, meine ich.«

»Wonach?«

Eine dumme Frage.

»Wahrscheinlich brauchst du diesen Rat gar nicht. Nicht, dass ich eine vorbildliche Mutter wäre. Aber wenn du Kaitlin zurück hast, dann frag sie nicht aus. Vielleicht redet sie mit dir, vielleicht nicht, lass sie selbst entscheiden.«

Ich sagte: »Wenn sie Hilfe braucht…«

»Wenn sie Hilfe braucht, wird sie dich darum bitten.«

Ich beließ es dabei. Ich wollte nicht darüber spekulieren, was Kait vielleicht widerfahren oder nicht widerfahren war. Ashlee hatte gesagt, was sie sagen wollte, und sah wieder aus dem Fenster. Was hatte sie bewogen, mir diesen Rat zu geben? Etwas, das sie selbst einmal erlitten und die ganze Zeit für sich behalten hatte?

Wir dösten, während die Sonne sich anschickte, die Welt zu erwärmen. Schließlich klopfte Hitch an die Scheibe und scheuchte uns aus dem Schlaf. Ashlee langte nach der Pistole, doch ich packte ihr Handgelenk.

Ich fuhr die Scheibe herunter.

»Imposante Wachmannschaft«, sagte Hitch. »Ich hätte euch bequem ins Jenseits befördern können.«

»Hast du sie gefunden?«

»Kaitlin ist da. Adam auch. Sagt mal, wollt ihr mich hinhalten? Vor uns liegt eine Menge Arbeit.«

Sechzehn

Wir lavierten im Kriechtempo durch Fußgängergruppen. Wir kamen nur langsam voran; die Hauptstraße war nicht mehr als eine Fahrrinne zwischen geparkten oder aufgegebenen Hadsch-Vehikeln und glich mit zunehmender Helligkeit immer mehr einer Jahrmarktsgasse, obwohl die Menschen sichtlich unter Schlafentzug standen. Pilger wanderten benommen und ziellos einher oder schliefen auf ihrem Schlafsack unter den zerlumpten Markisen des Städtchens, sorgloser bei Tag als bei Nacht. Wasserverkäufer mit geschulterten Kunststoffcontainern klapperten die Pilgerscharen ab. Die höher gelegenen Fenster waren mit kuinistischen Fahnen und Symbolen geschmückt. Die sanitären Einrichtungen von Portillo waren restlos überfordert und der entsetzliche Gestank der improvisierten Sickerlatrinen war allgegenwärtig. Die meisten Leute seien in den letzten drei Tagen gekommen, erklärte Hitch, und trotzdem verzeichneten die Versorgungszelte schon die ersten Fälle von Ruhr.

Adam und seine Clique waren westlich der Hauptstraße untergebracht, auf dem Parkplatz eines Steinmetzhofs. Im Laufe der Nacht hatte Hitch kurz mit Adam gesprochen, aber nicht mit Kait, doch der Junge hatte ihre Anwesenheit bestätigt. Adam hatte eingewilligt, mit Ashlee zu reden, und hatte, was Kait und mich betraf, sein Einverständnis nur unter Vorbehalt gegeben. Er hatte offenbar das Sagen und konnte im Namen der anderen sprechen; was Ashlee veranlasste, den Kopf hängen zu lassen und etwas vor sich hin zu murmeln.

Auch zugegen, zumindest am Ortsrand, waren die Medien. Verbarrikadiert in großen, kugelsicheren und untereinander in Verbindung stehenden Aufnahmetrucks mit polarisierten Fenstern. Etwas, das ich mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nahm. In Sues Interpretation der Chronolithen und deren Metakausalität fungierte die Presse als wichtiger Verstärker in der Feedbackschleife. Dieses um den Erdball gesendete Bild der Chronolithen trug entscheidend dazu bei, den Eindruck von Kuins Unbesiegbarkeit ins kollektive Gedächtnis zu brennen.

Aber was wäre die Alternative gewesen? Nachrichtensperre? Dementieren? Das war das Geniale an Kuins Monumenten: Sie waren auf groteske Weise unübersehbar und unmöglich zu ignorieren.

»Wir gehen hin«, sagte Hitch. »Ihr lasst mir den Vortritt, dann sehen wir weiter.«

»Superstrategie«, sagte ich.

»Mehr war nicht drin.«


Wir parkten den Van so nahe wie möglich bei der Zeltgruppe, zu der auch Adam und seine Clique gehörten. Die farbenfrohen Zelte wirkten nahezu albern in dieser ausgemergelten Gegend, blaue, rote und gelbe Nylonpilze, die in wenigen Tagen aus dem harten Boden des Parkplatzes geschossen waren. Ashlee reckte schon erwartungsvoll den Hals nach Adam. Kaitlin war nirgends zu sehen.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Hitch. »Ich mache den Unterhändler.«

»Unterhändler?«, fragte Ash in einem Anflug von Entrüstung.

Hitch bedachte sie mit einem warnenden Blick und drückte von außen die Tür ins Schloss.

Er ging ein paar Schritte auf ein achteckiges Zelt aus fotosensitivem silbernem Mylar zu und rief etwas für uns Unverständliches. Sekunden später wurde die Plane zurückgeschlagen und Adam Mills trat ins Freie. Es konnte nur Adam sein, so wie Ashlee Luft holte.

Er trug eine staubverkrustete Khakiuniform, sah aber recht gesund aus. Er war mager und groß, fast so groß wie Hitch, und hatte einen schwarzen Rucksack geschultert. Er würdigte den Van keines Blickes, wartete nur auf Hitchs Spruch. Aus dieser Entfernung konnte ich unmöglich seinen Gesichtsausdruck erkennen, doch der Junge wirkte sichtlich entspannt und alles andere als verängstigt.

Ashlee langte zum Türgriff, doch ich hielt sie zurück. »Warte noch eine Minute.«

Hitch redete. Adam redete. Schließlich zog Hitch ein gerolltes Bündel Geldscheine aus der Tasche und zählte sie Adam auf die Hand.

Ashlee sagte: »Was ist das, Bestechung? Er will Adam bestechen

Ich sagte, dass es so aussehe.

»Für was denn? Damit er dich zu Kait bringt? Damit ich mit ihm reden kann?«

»Ich weiß nicht, Ash.«

»Mein Gott, das ist so…« Sie fand kein Wort für ihre Verachtung.

»Wir haben komische Zeiten«, sagte ich. »Es passieren komische Dinge.«

Sie sank in den Sitz zurück, gedemütigt, und schwieg, bis Hitch uns herauswinkte. Ich aktivierte das Sicherheitssystem des Vans, eine Maßnahme, von der ich mir nicht allzu viel versprach. Draußen war die Luft trocken und der Gestank bestialisch. Ein paar Meter weiter schaufelte ein junger Mann in einer ehemals weißen Hose Erde in einen Latrinengraben.

Ashlee ging zögernd auf Adam zu. Schwer zu sagen, aber ich hatte den Eindruck, als scheue sie nun, da der lang ersehnte Augenblick gekommen war, davor zurück — als scheue sie vor der Zwecklosigkeit der Begegnung und seiner Verweigerung zurück. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. Adam starrte gleichmütig zurück. Er war jung, aber kein Kind mehr. Er gab keinen Zentimeter Boden preis, wartete nur, dass Ashlee sagte, was sie zu sagen hatte; für mehr war er vermutlich nicht bezahlt worden.

Jetzt entfernten sie sich ein paar Schritte auf einem Pfad zwischen den Zelten. Hitch sagte zu mir: »Eine total verlorene Sache. Sie weiß es nur noch nicht.«

»Was ist mit Kait?«

Er wies mit dem Kinn auf ein sonnengelbes Zelt.


Kairo kam mir in den Sinn. Der Chronolith war vor drei Jahren aufgetaucht. Sue Chopra hatte Videoaufnahmen aus einem Dutzend unterschiedlicher Blickwinkel bekommen, von allen Phasen des Ereignisses — die Ruhe vor der Manifestation, der Kälteschock und die thermischen Winde, eine Säule aus Eis und Staub, die in den trockenen blauen Himmel toste, und schließlich der Chronolith selbst, funkelnd hell, eingebettet in das Vorstadtgebiet von Kairo wie ein in den Fels gestoßenes Schwert.

(Und wer wird es aus dem Stein ziehen? Vielleicht die reinen Herzens sind. Briefväter und gescheiterte Ehemänner haben keine Chance.)

Was Kairo anging, waren es wohl die Widersprüche, die mich so nachhaltig beeindruckt hatten: die wabernde Wüstenhitze; das Eis. Die divergierenden historischen Schichten, Bürotürme errichtet auf den Trümmern einer tausendjährigen Herrschaft und dann das jüngste Monument, Kuin auf seinem frostigen Thron, mächtig und unnahbar wie ein Pharao.

Ich weiß nicht, wieso ich mich gerade jetzt so lebhaft daran erinnerte. Vielleicht, weil dieses ausgemergelte Nest in Sonora kurz davorstand, seinen eigenen frostigen Thron zu bekommen, und vielleicht lag ja schon ein Hauch von Kälte in der Luft, ein Schauder der Erwartung, der bittere Geschmack der Zukunft.

»Kaitlin?«, sagte ich.

Ein launischer Wind schlug die Plane beiseite. Ich ging in die Hocke und steckte den Kopf ins Innere.

Kait war allein, schälte sich aus einem Nest aus schmutzigen Decken. Sie blinzelte gegen die gelbe Helligkeit aus Sonne und Nylon. Ihr Gesicht war schmal, die Augen umringt von Müdigkeit.

Sie wirkte älter, als ich sie in Erinnerung hatte, was ich unwillkürlich auf den Hadsch zurückführte, den Hunger und die Ängste, unter denen sie gelitten haben musste; fest stand aber, dass sie mir entglitten war, dass sie aus meinem Bild von ihr herausgewachsen war, und das nicht erst, seit sie Minneapolis verlassen hatte.

Sie sah mich sehr lange an, ihr Ausdruck spiegelte nacheinander Ungläubigkeit, Argwohn, Dankbarkeit, Erleichterung und Schuldgefühl. Dann sagte sie: »Daddy?«

Ich brachte nur ihren Namen heraus. Vermutlich das Beste, was mir passieren konnte. Mehr wäre zu viel gewesen.

Sie kam aus den Decken und in meine Arme. Ich bemerkte die Blutergüsse an ihren Handgelenken, den blutverkrusteten Schnitt, der von der Schulter fast bis zum Ellbogen verlief. Doch ich stellte keine Fragen und begriff die Weisheit von Ashlees Rat: Ich konnte sie nicht von ihren Wunden heilen, nichts ungeschehen machen. Ich konnte sie nur halten.

»Ich bin hier, um dich nach Hause zu holen«, sagte ich.

Sie sah mir nicht in die Augen, sagte aber fast unhörbar: »Danke, Daddy.«

Wieder schlug eine Brise die Plane beiseite und Kaitlin fröstelte. Ich sagte ihr, sie solle sich so rasch wie möglich anziehen. Sie zog ein Paar zerlumpte Jeans an und warf sich einen einfachen Poncho über.

Ich schauderte. Die Luft schien ein bisschen zu kalt für diesen sengenden Morgen — unnatürlich kalt.

Draußen rief Hitch nach mir.


»Bring sie in den Wagen«, sagte er, »und beeil dich! Das war nicht abgemacht — ich hab fürs Reden bezahlt, nicht fürs Mitnehmen.« Er drehte das Gesicht in den Wind. »Ich habe das Gefühl, wir haben uns verrechnet.«

Kaitlin ließ sich auf eine der hinteren Sitzbänke sinken und wickelte sich in eine Decke. Ich riet ihr, sich noch eine Weile klein zu machen. Hitch verriegelte und ging Ashlee holen.

Kait schniefte und nicht bloß, weil sie den Tränen nahe war. Sie habe sich angesteckt, meinte sie. Eine Grippe oder eine dieser Magendarmgeschichten, die in Portillo kursierten, weil die Menschen immer durstiger und die Wasserverkäufer immer skupelloser wurden. Ihr Blick war verschleiert und ein bisschen abwesend. Sie hustete in die Faust.

Draußen schlappten die Zelte und Textilbehausungen im auffrischenden Wind. Hadschisten krochen ins Freie, aufgescheucht durch das unruhige Wetter, Dutzende verstörter Kuin-Jünger in zerrissener Kleidung beschatteten die Augen und fragten sich — begannen sich zu fragen —, ob dieser Sturmwind wohl der unmittelbare Vorbote eines sakralen Ereignisses war — eines Chronolithen, der sich durch fallende Temperaturen und heftige Böen ankündigte.

Alles war möglich. Der Kuin von Jerusalem war allerdings entschiedener aufgetreten, hatte nicht so viel Federlesens gemacht, doch es war bekannt, dass die Ankunft der Chronolithen keinem festen Ritual folgte. Intensität, Dauer und zerstörende Wirkung waren von Mal zu Mal anders. Sue Chopras Berechnungen basierten auf ziemlich problematischen Satellitendaten und mochten den Zeitpunkt um etliche Stunden verfehlen.

Mit anderen Worten, vielleicht schwebten wir in Lebensgefahr.

Ein Windstoß ließ den Van schaukeln und machte Kaitlin neugierig. Sie presste das Gesicht ans Fenster, gaffte mit offenem Mund auf die wirbelnden Staubwolken, die mit einmal aus der Wüste kamen. »Daddy, ist das…?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Ich hielt Ausschau nach Ash, doch die vielen immer nervöser werdenden Hadschisten versperrten mir die Sicht. Schwer zu sagen, wie weit westlich wir vom Zentrum Portillos waren… vielleicht eine Meile, auf keinen Fall mehr. Und keiner konnte sagen, wo genau der Chronolith erscheinen würde oder die Gefahrenzone begann.

Ich riet Kait, unter der Decke zu bleiben.

Dann kam Bewegung in die Menge, fast wie verabredet strebte sie vom Parkplatz in die benachbarten Straßen in Richtung Portillo. Erst sah ich den krausen schwarzen Bart von Hitch, dann Hitch selbst, dann Ashlee und Adam.

Hitch redete auf Ashlee ein und Ash auf Adam, die Hände wie flehend an seinen Armen. Adam rührte sich nicht von der Stelle, ertrug die mütterliche Geste, der Wind zauste in den blonden Strähnen vor seinen Augen. Wenn ihm der Hadsch zugesetzt hatte, dann konnte er es gut verbergen. Er blickte ungerührt vom Gesicht seiner Mutter in den düsteren Himmel hinauf. Er zog etwas aus dem Rucksack, das wie eine aufgerollte Thermojacke aussah.

Ich weiß nicht, was Ashlee zu Adam sagte — sie hat nie darüber gesprochen —, aber selbst aus dieser Entfernung wurde deutlich, dass Adam nicht mitkommen würde. Die Körpersprache der beiden bezeugte ein Leben voller Frustration. Ashlee zog an ihm, flehte ihn an — wollte sich nicht eingestehen, dass es ihm schlichtweg egal war, was sie wollte; dass es ihm schon lange egal war; dass ihm diese Art von Gleichgültigkeit vielleicht sogar angeboren war. Sie war für ihn lediglich eine Ablenkung von jenem ungemein interessanten Ereignis, das nun offenbar seinen Lauf nahm, der physischen Manifestation von Kuin, des Mythos, in den er seine ganze Loyalität investiert hatte.

Jetzt zerrte Hitch an Ashlee, wollte sie zum Van zurückbringen, das Gesicht zusammengekniffen, um dem prickelnden staubbeladenen Wind zu begegnen, seine Gesten waren fast verzweifelt. Ashlee ignorierte ihn so lange sie konnte, bis Adam sich losriss und sie es nur Hitch zu verdanken hatte, dass sie nicht auf den Knien landete.

Sie starrte ihren Sohn an und sagte noch etwas. Ich glaube, es war sein Name, gerade so wie ich Kaitlin beim Namen gerufen hatte. Ich bin mir nicht sicher, weil das Brausen des Sturms und der Lärm der Menge inzwischen so laut waren, aber ich glaube, es war der schmerzvoll klagende Ruf nach ihrem Sohn, der durch die staubgeschwängerte Luft schnitt.

Ich klemmte mich hinters Steuer. Kaitlin ächzte und verkroch sich in die Decke.

Hitch zog Ashlee zum Wagen und bugsierte sie hinein, dann kletterte er auf den Beifahrersitz. Ich hatte den Motor bereits gestartet.

»Gib Gas!«, sagte Hitch.

Doch die Flut von Hadschisten machte ein schnelles Vorankommen unmöglich. Hätte Adam nur ein bisschen näher an Portillo gelagert, wir hätten in der Falle gesessen. So wie die Dinge lagen, konnten wir uns zum Rand der Straße vorarbeiten, um dann langsam, aber stetig nach Westen zu fahren, während der Strom der Pilger immer dünner wurde.

Der Himmel hatte sich verfinstert; es war kalt geworden. Staub schlierte über die Windschutzscheibe und beschnitt die Sicht auf ein paar Fuß.

Ich hatte keine Ahnung, wohin die Straße führte. Das war nicht die Richtung, aus der wir gekommen waren. Mehr wusste Hitch auch nicht; die Straßenkarte lag irgendwo im Heck verstaut, aber genützt hätte sie uns auch nichts. Wir hatten keine Wahl.


Der Staubsturm verkrustete die Windschutzscheibe bis zur Undurchsichtigkeit und schien, wie es sich anhörte, auch den Motor zu verstopfen. Ich schloss die Fenster und drehte die Heizung auf, bis wir alle schwitzten. Die ungeteerte Straße endete an einer Holzbrücke über einem flachen, ausgetrockneten Bachbett. Die Brücke war gesplittert und schwankte unter den Böen, keine Chance für den schweren Van. Hitch sagte: »Fahr die Böschung runter, Scotty. Jeder Meter, den wir zwischen uns und Portillo legen, ist einer mehr.«

»Verdammt steil.«

»Hast du eine bessere Idee?«

Also bog ich von der Straße ab, fuhr über sprödes Gestrüpp und dann über den Rand. Der Van bremste sporadisch und auf dem Armaturenbrett flackerten Warnsignale. Ich glaube, wir hätten uns überschlagen, hätte ich nicht mit eisernem Griff das Steuer gehalten — rein instinktiv, nicht weil ich wusste, was ich tat. Hitch und Ashlee gaben keinen Laut von sich, nur Kaitlin — und der hatte etwa die Tonlage des Windes. Wir hatten eben den flachen und steinigen Grund erreicht, als eine entwurzelte Akazie wie ein steifer schwarzer Vogel über uns hinwegflog. Selbst Hitch hielt die Luft an, als er das sah.

»Kalt«, ächzte Kaitlin.

Ashlee faltete die restlichen Decken auseinander, gab zwei an Kait weiter und warf eine nach vorne. Im Wagen stank es nach heißen Heizschlangen, aber die Temperatur war kaum gestiegen. Ich hatte den Kälteschock in Jerusalem gesehen, aus der Ferne, hatte aber nicht gewusst, wie es sich anfühlte, wenn diese plötzliche, betäubende Kälte von den Extremitäten ins Herz strahlte. Fehlende Energie, der unmittelbaren Umgebung entzogen durch jene rätselhafte Kraft, die ein riesiges, massives Objekt Molekül um Molekül aus der Zeit schälte. Ein frischer Wind heulte oberhalb des Bachbetts und der Himmel nahm die Farbe von Fischschuppen an. Wir hatten sich selbst regelnde Thermokleidung im Gepäck. Kait bekam eine Jacke, die ihr viel zu groß war.

Mir kam ein entsetzlicher Gedanke, und ich langte nach dem Türgriff.

»Scotty?«, erkundigte sich Hitch.

»Ich muss das Kühlwasser ablassen«, sagte ich. »Wenn es gefriert, fährt der Wagen nicht mehr.«

Wir waren so umsichtig gewesen, das Trinkwasser in Beutel zu füllen, die sich nach Bedarf ausdehnen konnten. Außerdem hatten wir Frostschutz in den Kühler gefüllt. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, so nah am Ort des Geschehens zu sein. Ein heftiger Blitzfrost würde höchstwahrscheinlich unser Kühlsystem zerstören, und dann saßen wir fest.

»Jede Minute zählt.«

»Dann wünsch mir Glück. Und gib mir das Werkzeug.«

Ich zwängte mich nach draußen. Der Sturm schlug die Tür hinter mir zu. Der Wind kam von Süden das Bachbett herauf und speiste die steilen Temperaturgradienten des kommenden Chronolithen. Die Luft erstickend voll von Staub und Sand. Ich musste die Augen mit der Hand abschirmen und konnte sie doch nur einen Spalt weit öffnen. Ich tastete mich zur Motorhaube vor.

Der Wagen war im steilen Winkel heruntergekommen und hatte sich bis zur Stoßstange in eine Sandbank gegraben. Während ich mit beiden Händen schaufelte, explodierte über unseren Köpfen eine falsche Morgenröte. Die Thermojacke hielt meine Kerntemperatur aufrecht — bis jetzt zumindest —, doch der Atem gefror, kaum dass er von den Lippen war, und die Finger waren ungeschickt und feurig taub. Zu spät, um Handschuhe zu holen. Ich laschte die Werkzeugmappe auf und fingerte einen Schraubenschlüssel heraus.

Die Auslassöffnung für das Kühlwasser befand sich unter dem Kühler und war mit einer Mutter verschlossen. Ich setzte den Schraubenschlüssel an, aber die Mutter ließ sich nicht drehen. Hebelwirkung, dachte ich, setzte den Fuß gegen den Reifen und legte mich in den Schraubenschlüssel wie ein Ruderer ins Ruder. Das Windgeräusch war ohrenbetäubend, doch darunter gab es noch ein Geräusch, den Donnerschlag der Ankunft, dann kam die Schockwelle durch den Boden, ein heftiger Eselstritt von unten.

Die Mutter gab plötzlich nach, und ich fiel rücklings in den Sand.

Ein Rinnsal trat aus und fror augenblicklich auf dem Boden — genug, um den Druck im Kühler zu verringern, obwohl es noch eine ganze Reihe anderer lebenswichtiger Systeme gab, die, wenn wir Pech hatten, durch streunendes Eis lahmgelegt werden konnten.

Ich versuchte aufzustehen, nur um festzustellen, dass ich es nicht konnte.

Stattdessen wälzte ich mich in den dürftigen Schutz, der durch den seitlichen Winkel zwischen Van und Boden gebildet wurde. Mein Kopf war plötzlich zu schwer, um ihn noch hochzuhalten; ich steckte die tauben Hände zwischen die Oberschenkel, rollte mich in der spärlichen Wärme der Thermojacke zusammen und verlor das Bewusstsein.


Als ich die Augen öffnete, herrschte Stille. Ich befand mich wieder im Van.

Die Sonne brannte auf dem Gewebe aus Eis, das sich auf der Windschutzscheibe gebildet hatte. Die Heizung pustete feuchtwarme Luft in den Wagen.

Ich setzte mich auf, fröstelte. Ashlee war schon wach, rieb Kaitlins Hände. Was mich beunruhigte, doch Ashlee sagte sofort: »Es geht ihr gut. Sie atmet.«

Nachdem das Schlimmste vorüber gewesen war, hatte Hitch Paley mich in den Wagen geschleppt. Im Augenblick war er draußen und schraubte den Auslass wieder zu. Er kam hoch, spähte durch das beschlagene Seitenfenster und machte die Faust mit dem aufrechten Daumen, als er sah, dass ich aufgewacht war.

»Ich glaube, wir haben es geschafft«, sagte Ashlee heiser. Auch mir tat das Schlucken weh, ein bisschen auch das Atmen, fraglos eine Folge der kurzzeitig unterkühlten Luft, die wir geatmet hatten. Finger- und Zehenspitzen waren immer noch gefühllos. Ein bisschen geronnenes Blut in der rechten Handfläche, wo der frostige Schraubenschlüssel eine Hautschicht mitgenommen hatte. Aber Ashlee hatte Recht. Wir hatten es überstanden.

Kait stöhnte wieder. »Wir müssen sie gut verpackt halten«, sagte Ash. »Sie ist krank, Scott. Hoffentlich hat sie sich keine Lungenentzündung geholt.«

»Sie muss zurück in die Zivilisation.« Und vor allem wieder die Böschung hoch. Eine brenzlige Sache.

Als ich mich dazu imstande fühlte, öffnete ich die Fahrertür und kletterte ins Freie. Die Luft war wieder relativ warm und erstaunlich frisch, abgesehen von einem Staubschleier, der sich wie Puderschnee auf alles herabsenkte. Ein ganz normaler Westwind hatte den Eisnebel vertrieben.

Der Frost auf Steinen und Sand des Bachbetts verdampfte. Ich klomm die Böschung hinauf und blickte in Richtung Portillo — es war nicht viel davon übrig geblieben.

Das Monument war noch von Eis ummantelt, doch es war riesig. Der Kuin von Portillo stand aufrecht, den einen Arm erhoben, als wolle er die Menschen herbeiwinken.

Zu seinen überdimensionalen Füßen lag das Städtchen, verschwommen im Nebel, aber offensichtlich verwüstet.

Der Radius des thermischen Schocks war gewaltig. Danach zu urteilen konnte nur eine Hand voll Hadschisten überlebt haben. Am Rand des Städtchens bewegten sich einige Fahrzeuge, vermutlich mobile Rotkreuzstationen.

Ashlee kam keuchend aus dem Bachbett geklettert. Ihr Atem stockte, als sie das Ausmaß der Zerstörung sah. Ihre Lippen bebten. Das Gesicht war braun vom Staub, Tränen hinterließen ihre Spur.

»Vielleicht ist er davongekommen«, flüsterte sie und meinte niemand anderen als Adam.

Ich pflichtete ihr bei.

Teilen konnte ich ihre Hoffnung nicht.

Siebzehn

Auf ungeteerten Straßen und Viehtrieben gelang es uns, die dampfenden Ruinen von Portillo zu umgehen und zur Hauptstraße zurückzufinden.

Die Toten — es mussten sehr viele sein — blieben in Portillo zurück. Wir kamen an kleinen Trupps von Flüchtlingen vorbei. Viele hinkten, weil sie Erfrierungen davongetragen hatten. Manche waren durch die Eiskristalle erblindet, andere durch stürzendes Mauerwerk oder andere Auswirkungen der Schockwelle verletzt. Sie kannten keine Angst mehr, und Ashlee bestand zweimal darauf, anzuhalten und unsere wenigen Decken und ein paar Rationen zu verteilen. Und nach Adam zu fragen.

Doch keiner von den jungen Leuten kannte ihn oder hatte von ihm gehört, sie hatten dringendere Sorgen. Sie baten uns, Nachrichten zu übermitteln, Eltern oder Freunde oder ihre Familie in L.A. in Dallas oder in Seattle anzurufen… Die Parade des Elends war unerträglich und schließlich musste auch Ashlee sich abwenden, obschon sie nicht aufhörte, die Hadschisten nach Adam abzusuchen, bis wir schließlich so weit nordwärts waren, dass wir auch den gesundesten Flüchtling überholt haben mussten. Kolonnen von Versorgungstrucks und Militärambulanzen, die in Richtung Portillo brausten, konnten zwar ihr Gewissen beruhigen, aber nicht ihre Ängste. Sie sank in sich zusammen und rührte sich nur noch, wenn Kait es erforderlich machte.

Meine Angst um Kait wurde im Laufe der Fahrt größer. Der Infekt war schlimmer, als ich gedacht hatte, und der thermische Schock hatte alles noch schlimmer gemacht. Ashlee benutzte den Fiebermesser aus der Autoapotheke, runzelte beim Ablesen die Stirn und ließ Kait zwei fiebersenkende Kapseln mit viel Wasser schlucken. Wir mussten mehrmals anhalten, damit Kaitlin loshoppeln konnte, um in einiger Entfernung ihren Darm zu entleeren, und jedes Mal, wenn sie zurückgestolpert kam, war sie sichtlich geschwächt und unsäglich gedemütigt.

Wir mussten sie unbedingt in ein anständiges Krankenhaus bringen. Hitch meldete ein Gespräch mit Sue Chopra an und versicherte ihr, wir seien alle noch am Leben, nur Kait sei krank. Sue empfahl, Kait erst in ärztliche Behandlung zu geben, wenn wir wieder in den Vereinigten Staaten waren; zur Zeit würden junge Amerikaner, die ohne Papiere in Mexiko waren, kurzerhand eingesperrt. Der Grenzübergang bei Nogales sei völlig überlaufen. Es habe ein — diesmal falsches — Gerücht von einem bevorstehenden Chronolithen in dieser Stadt gegeben, aber sie werde dafür sorgen, dass uns jemand vom Konsulat über die Grenze bringe. In Tucson würde dann ein Krankenhausplatz reserviert sein.

Ashlee verabreichte Kait ein Breitbandantibiotikum aus der Autoapotheke, und Kait fiel in einen unruhigen Schlaf, der aber den ganzen heißen Nachmittag über anhielt. Hitch und ich wechselten uns am Steuer ab.

Ich dachte über Ashlee nach. Sie hatte gerade ihren Sohn verloren; das glaubte sie zumindest. Es war bemerkenswert, dass sie unter diesen Umständen überhaupt Augen und Ohren hatte für Kaitlin — dass sie unter der Bürde ihres Kummers mit so viel Umsicht handelte. Und Kait reagierte instinktiv auf diese Zuwendung. Sie fühlte sich wohl, wie sie so dalag, mit dem Kopf in Ashlees Schoß.

Ich spürte, dass ich sie liebte, alle beide.


Ich befolgte Ashlees Rat: Ich habe Kaitlin weder damals noch später gefragt, was ihr auf dem Hadsch zugestoßen war.

Ich sollte das vielleicht ein bisschen zurechtrücken. Es gab eine Zeit, da ich bei Kait im Krankenzimmer saß und auf den Arzt und ihr Blutbild wartete, als ich mich nicht zurückhalten konnte. Ich fragte sie nicht unumwunden, was in Portillo passiert war; nur, warum sie dorthin gegangen war — was sie bewogen hatte, von zu Hause wegzugehen und sich mit Adam Mills und seinesgleichen zu verbünden.

Sie drehte das Gesicht in brennender Verlegenheit von mir weg. Ihr Haar fiel über das frische weiße Kopfkissen, und ich sah die feine Naht der Cochlearoperation, eine ganz schwache, blasse Spur längs der absteigenden Linie des Halses.

»Ich wollte nur, dass sich was ändert.«


Ashlee blieb bei mir in Tucson, während Kait sich erholte.

Wir mieteten ein Motelzimmer und lebten eine Woche lang enthaltsam. Ashlee machte ihren Kummer ganz mit sich alleine aus, oft war ihr gar nichts anzumerken. Es gab Tage, da war sie fast wie früher, lächelte, wenn ich mit einer vollen Tragetasche vom Mexikaner oder Chinesen zurückkam. Wer weiß, vielleicht hegte sie in einem Winkel ihres Herzens die Hoffnung, Adam könnte überlebt haben (darüber sprechen wollte sie jedenfalls nicht, nicht einmal Adams Name durfte fallen).

Aber sie war sehr bedrückt, still. Sie verschlief die schwülen Nachmittage und fand nachts keine Ruhe, saß oft noch vor dem uralten kabelgespeisten Videodisplay, wenn ich schon lange im Bett lag und schlief.

Dennoch waren wir uns beachtlich nahe gekommen. Unsere Schicksalsfäden hatten sich miteinander verschlungen.

Nicht, dass wir über so etwas gesprochen hätten. Wir bemühten uns, nur über Belanglosigkeiten zu reden. Bis auf das eine Mal, als ich das Zimmer verließ, um zu dem 24-Stundenladen an der Ecke zu joggen. Ich fragte sie, ob sie etwas brauche.

»Eine Zigarette«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Und ich will meinen Sohn wiederhaben.«


Kait blieb noch eine knappe Woche länger im Krankenhaus, kam zu Kräften und musste noch eine Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Ich besuchte sie täglich, hielt die Besuche aber kurz, weil ich den Eindruck hatte, dass sie es so lieber mochte.

Dann, kurz vor ihrer Entlassung, erfuhr ich von Kaitlin und ihrem Arzt eine unangenehme Neuigkeit.

Ich wollte Ashlee nicht damit behelligen — jetzt noch nicht. Als ich ins Motelzimmer zurückkam, fand ich sie ein bisschen aufgeräumter, gesprächiger. Ich ging mit ihr zum Dinner, allerdings nicht sehr weit: ins Motelrestaurant. Es gab gewürfelte Rinderlende und Kaffee. Gerahmte Navajoimitationen und Rinderschädel an den Wänden waren entspannend trivial.

Ashlee erzählte (plötzlich schien es ihr ein Bedürfnis zu sein) von ihrer Kindheit und von der Zeit, bevor sie Tucker Kellog geheiratet hatte, Erinnerungen, die nicht aus Geschichten, sondern aus Schnappschüssen bestanden, die sich bei ihr festgesetzt hatten. Ein trockener, windiger Tag in San Diego, als ihre Mutter mit ihr unterwegs war, um Bettwäsche einzukaufen. Ein Schulausflug zu einem Streichelzoo. Ihr erstes Jahr in Minneapolis und wie sehr sie über die Winterstürme gestaunt hatte, über die vom Wind zusammengefegten Laubwälle und die Schneeverwehungen, die ihren Pendlerzug von und zur Arbeit blockiert hatten. Alte Shows, die sie sich früher angesehen hatte, von denen ich auch einige kannte: Someday, Blue Horizon, Next Week's Family.

Beim Nachtisch sagte sie: »Ich habe mit dem Roten Kreuz gesprochen. Sie sind immer noch in Portillo, nehmen Personalien auf und — zählen die Toten. Wenn Adam noch lebt, hat er sich bei keiner Hilfsorganisation gemeldet. Andererseits, wenn er tot ist…« Sie sagte das mit einer schlecht gespielten Lässigkeit. »Naja, identifiziert wurde er nicht und darin sind sie wirklich gut. Ich habe ihnen die Erlaubnis erteilt, aus seinen Krankenakten das Genomprofil abzurufen. Keine Übereinstimmung bis jetzt. Also weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist. Aber ich habe noch etwas anderes begriffen.«

Ihre Augen glitzerten. Ich sagte: »Du brauchst nicht darüber zu reden, Ash.«

»Schon gut, Scott. Ich habe begriffen, dass ich ihn so oder so verloren habe. Vielleicht sehe ich ihn wieder, vielleicht nicht, aber das entscheidet er — wenn er noch lebt, meine ich. Das war es, was er mir in Portillo sagen wollte. Nicht, dass er mich hasst, sondern dass er es für belanglos hält, mein Sohn zu sein. Dass er nicht mir gehört, sondern nur sich selbst. Es war nie anders, glaube ich.«

Sie schwieg eine Weile, dann trank sie ihren Kaffee aus und winkte ab, als die Kellnerin nachschenken wollte.

»Er hat mir etwas geschenkt.«

»Adam?«

»Ja. In Portillo. Es soll mich an ihn erinnern. Hier. Guck mal.«

Sie trug das Geschenk in ihrer Handtasche, eingewickelt in ein Taschentuch. Sie wickelte es aus und schob es über den Tisch. Es war eine billige Halskette mit Anhänger. Der Anhänger sah aus wie ein zerfressener schwarzer Klumpen Plastik mit einer Bohrung für die Kette. Das Ding war beinah demonstrativ hässlich.

»Adam sagt, er hätte die Kette von einem Händler in Portillo. Es wäre was Heiliges. Es wäre kein Stein, sondern…«

»Eine Kuin-Reliquie.«

»Ja, so hat Adam es genannt.«

Die Ankunft eines Chronolithen erzeugt die merkwürdigsten Trümmer. Durch die steilen Temperatur- und Druckgradienten in unmittelbarer Nähe des Ereignisses werden gewöhnliche Materialien gefroren, gesprengt, verformt oder sonstwie entstellt. Souvenirhändler verkaufen solche Gebilde en masse — die wenigsten sind echt.

»Die Reliquie soll aus Jerusalem stammen«, fügte Ashlee hinzu.

Wenn das stimmte, mochte das unansehnliche Ding einmal so nützlich gewesen sein wie ein Türknauf, ein Briefbeschwerer, ein Füller oder ein Kamm.

»Hoffentlich nicht«, sagte ich.

Ashlee schien enttäuscht. »Ich dachte, es würde dich interessieren. Wo du doch in der Nähe warst, als es passiert ist. Ist das kein Zufall?«

»Ich mag solche Zufälle nicht.«

Ich erzählte ihr von Sues Hypothese. Erklärte ihr, ich sei zu oft in der Tau-Turbulenz gewesen und dass diese Tatsache mein Leben auf höchst unliebsame Weise beeinflusst habe (sofern »beeinflusst« das richtige Wort für eine akausale Verbindung war).

Ashlee war entsetzt. Ihr Mund formte das Wort Tau-Turbulenz. »Kann man das fangen«, fragte sie, »von so einem Ding?«

»Wohl kaum. Das ist keine Krankheit, Ash. Es ist auch nicht ansteckend. Ich will nur nicht mehr daran erinnert werden.«

Sie faltete die Halskette ins Taschentuch und legte das kleine Bündel in die Handtasche zurück.

Wir gingen wieder aufs Zimmer. Ashlee schaltete das Videodisplay ein, sah aber kaum hin. Ich las ein Buch. Nach einer Weile kam sie ans Bett und küsste mich — nicht zum ersten Mal, aber drängender, als sie es eine Zeit lang getan hatte.

Es tat gut, sie wieder in die Arme zu nehmen und ihren kleinen, geschmeidigen Leib zu umfangen.

Später zog ich die Vorhänge auf, und wir lagen unsichtbar im Finstern und sahen die Autos auf dem Highway vorüberfahren, Scheinwerfer wurden zu Umzugsfackeln und Rücklichter zu schwebenden Glutstücken. Ashlee fragte mich nach meinem Besuch bei Kaitlin.

»Es geht ihr besser«, sagte ich. »Morgen kommt Janice mit dem Flugzeug und holt sie ab.«

»Hat sie über den Hadsch gesprochen?«

»Kaum.«

»Sie hat viel durchgemacht.«

»Nicht ganz ohne Folgen«, sagte ich.

»Wem sagst du das.«

»Nein, ich meine, ich habe mit dem Arzt geredet. Sie hatte noch eine Sekundärinfektion, eine Infektion der Gebärmutter. Etwas, das sie sich in Portillo geholt hat. Der Infekt ist auskuriert, aber nicht ohne Folgen geblieben. Kait kann keine Kinder haben, nicht auf natürlichem Wege, nicht ohne Leihmutter. Sie ist unfruchtbar.«

Ashlee rückte von mir ab und starrte in die Nacht hinaus. Sie tastete auf dem Nachttisch nach einer Zigarette.

»Das tut mir Leid«, sagte sie. Es klang nicht gerade überzeugend.

»Sie lebt. Das ist die Hauptsache.«

(Kait hatte geschwiegen, während der Arzt mich aufgeklärt hatte. Sie hatte mich ohne mit der Wimper zu zucken vom Bett aus beobachtet, hatte in meinem Gesicht lesen wollen, hatte wissen wollen, ob ich ihr meine Zuneigung entziehen und sie in diesem trostlos weißen Krankenhausbett wie Strandgut zurücklassen würde.)

»Ich weiß, was in ihr vorgeht«, sagte Ashlee.

»Du zitterst.«

»Ich weiß, wie das ist, Scott; als Adam geboren war, hat man mir dasselbe gesagt. Es gab Komplikationen. Ich kann auch keine Kinder mehr haben.«

Der Verkehr auf dem Highway nahm zu, wälzte Lichtbalken über den Rauputz der Zimmerdecke. Wir saßen im Dunkeln, besahen uns wie verwaiste Kinder und dann nahmen wir uns wieder in die Arme.


Am Morgen darauf packten wir für die Rückfahrt nach Minneapolis. Als ich mich rasierte, verließ Ashlee kurz das Zimmer.

Sie hat nicht geahnt, dass ich es bemerkte.

Durchs Fenster sah ich sie den Parkplatz überqueren; sie wich der hinteren Stoßstange eines zurücksetzenden Vans aus (es war der Lieferwagen eines Floristen), fischte ein faltiges Knäuel aus ihrer Handtasche, küsste es und warf es in einen offenen Abfallcontainer.

Im Laufe des Tages habe ich Ash diese Gefälligkeit vergolten: Ich rief Sue Chopra an und kündigte ihr meine Mitarbeit auf.

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