Robert Charles Wilson Die Chronolithen

Teil eins Die Cronolithen tauchen auf

Eins

Hitch Paley schob sein ramponiertes Daimler-Motorrad über den festgetretenen Sandstrand hinter dem Haat-Thai-Tanzzelt[1]; er hatte mich eingeladen, mich vom Ende einer Epoche zu überzeugen. Nicht nur der meinen. Doch ich mache Hitch keinen Vorwurf.

Es gibt keinen Zufall. Jetzt weiß ich das.

Er kam näher und grinste, was bei Hitch gewöhnlich nichts Gutes verhieß. Er trug, was man als Amerikaner in Thailand in diesem letzten intakten Sommer zu tragen pflegte: Militärshorts und Jesussandalen, ein schlottergroßes Khaki-T-Shirt und ein geblümtes Spandex-Stirnband. Er war ein Mordskerl, ein Ex-Marinesoldat, der sich der hiesigen Lebensweise angepasst hatte, bärtig und mit Bauchansatz. Eine furchteinflößende, fast schon bedrohliche Erscheinung.

Ich wusste genau, dass Hitch die Nacht im Partyzeilt verbracht und mit Hasch verschnittene Gewürzplätzchen gefuttert hatte; eine Beamtin des deutschen diplomatischen Korps hatte sie ihm geschenkt und ließ sich damit füttern, bis sie bei Flut mit ihm nach draußen ging, um den Mondschein auf dem Wasser zu bewundern. Hitch wäre besser nicht wach gewesen um diese Stunde, geschweige denn vergnügt.

Auch ich wäre besser nicht wach gewesen.

Nach ein paar Stunden am Lagerfeuer war ich heimgegangen zu Janice, doch geschlafen haben wir nicht. Kaitlin war stark erkältet und Janice hatte den ganzen Abend abwechselnd unsere Tochter beruhigt und es mit lauter daumengroßen Küchenschaben aufgenommen, die in den warmen und fettigen Hohlräumen des Gasherds siedelten. Das und die Hitze der Nacht und die Spannung, die bereits zwischen uns herrschte, machten es wohl unausweichlich, dass wir fast bis Tagesanbruch stritten.

Folglich waren Hitch und ich ganz und gar nicht ausgeschlafen, vielleicht nicht einmal eines klaren Gedankens fähig, obwohl mich die Morgensonne munter stimmte und mich darin bestärkte, eine so strahlend helle Welt müsse auch verlässlich und von Dauer sein. Die Sonne legte Glanz auf das bleierne Wasser der Bucht, ließ die Fischerboote wie Punkte auf dem Radarschirm erscheinen und verhieß einen weiteren wolkenlosen Nachmittag. Der Strand war so breit und flach wie ein Highway, der zu einem namenlosen und vollkommenen Ziel führte.

»Also das Geräusch diese Nacht«, nahm Hitch das Gespräch auf, wie meistens ohne jede Einleitung, als wären wir nur kurz getrennt gewesen, »wie von einem Navy-Jet, hast du das gehört?«

Hatte ich. Ich hatte es gegen vier Uhr früh gehört, kurz nachdem Janice wütend zu Bett gegangen war. Kaitlin war endlich eingeschlafen und ich saß allein am vernarbten Linoleumküchentisch vor meinem bitteren Kaffee. Das Radio plauderte leise, ein US-Jazzsender.

Für etwa dreißig Sekunden wurde die Übertragung spröde und sonderbar. Es tat einen Donnerschlag gefolgt von rollenden Echos (Hitchs »Navy-Jet«) und knapp darauf ließ eine merkwürdige kalte Brise die eingetopften Bougainvilleas von Janice ans Fenster klopfen. Die Lamellen der Rouleaus hoben sich und fielen in einem leisen Salut; die Türe zu Kaitlins Schlafzimmer trat aus dem Schloss und Kaitlin drehte sich in ihrem netzverhangenen Bettchen und gab einen leisen, traurigen Laut von sich, wachte aber nicht auf.

Es war mehr ein Sommergewitter als ein Navy-Jet, ein aufkeimender oder sterbender Sturm, der vor sich hin murmelte draußen über dem Golf von Bengalen. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit.

»Am Duc hat heute früh ein Trupp von Caterfirmen Halt gemacht und das ganze Eis aufgekauft«, sagte Hitch. »Waren unterwegs zur Datscha eines Reichen. Soll richtig was los sein draußen an der Straße in den Bergen, wie Feuerwerk oder Artillerie. Ein paar Bäume wurden umgeknickt. Kommst du mit, Scotty?«

»Ist doch egal«, sagte ich.

»Was?«

»Ja, ich komme mit.«

Diese Entscheidung sollte mein Leben unwiderruflich verändern, dabei traf ich sie aus einer Laune heraus. Schuld ist Frank Edwards.

Frank Edwards war ein Rundfunksprecher des vorigen Jahrhunderts, der angeblich wahre Wundergeschichten zu einem Buch zusammentrug (»Stranger than Science«, 1959), darunter solche Dauerbrenner wie das Rätsel um Kaspar Hauser und das »Raumschiff«, das 1910 über der Tunguska in Sibirien explodierte. Dieses Buch und eine Hand voll Fortsetzungen waren ein wichtiger Bestandteil unseres Haushalts, damals, als ich noch so naiv war, solche Geschichten für bare Münze zu nehmen.

Mein Vater hatte mir eine ausrangierte (weil ziemlich lädierte) Bibliotheksausgabe von »Stranger than Science« geschenkt und ich hatte sie — mit zehn — in drei Nächten ausgelesen. Wahrscheinlich hielt mein Vater diese Lektüre für geeignet, die Phantasie eines Jungen anzuregen. Wenn ja, so hatte er Recht. Tunguska war eine Welt weit weg von dem umzäunten Gehege in Baltimore, wo Charles Carter Warden sein geplagtes Weib und sein einziges Kind gepflanzt hatte.

Ich überwand die Gewohnheit, solcherart Dinge zu glauben, doch das Wort »strange« war mir zum Talisman geworden. »Merkwürdig« war mein Lebenslauf. »Merkwürdig« war der Entschluss, nach Auslaufen der Verträge in Thailand zu bleiben. »Merkwürdig« diese langen Tage und zugedröhnten Nächte an den Stränden von Chumphon, Ko Samui und Phuket; so merkwürdig wie die schlingenförmige Geometrie der uralten Wats[2].

Vielleicht hatte Hitch Recht. Vielleicht war irgendein dunkles Geheimnis in der Provinz gelandet. Wahrscheinlicher war aber ein Waldbrand oder eine Schießerei zwischen narkotisierten Junkies, doch Hitch bestand darauf, die Caterleute hätten ihm erklärt, es handle sich um etwas »aus dem Weltraum« — und wer war ich, um daran zu zweifeln? Ich war nervös und sah einem weiteren Tag fruchtloser Wortgefechte mit Janice entgegen. Was mir überhaupt nicht schmeckte. Also schwang ich mich auf den Sozius von Hitchs Daimler — scheiß auf die Konsequenzen — und wir fuhren in einer blauen Wolke aus Auspuffgasen landeinwärts. Ich machte nicht Halt, um Janice von meiner Spritztour in Kenntnis zu setzen. Vermutlich war es ihr egal gewesen; wie auch immer, bei Einbruch der Dunkelheit wollte ich wieder daheim sein.

In Chumphon und Satun verschwanden damals viele Amerikaner: gekidnappt, um Lösegeld zu erpressen, oder wegen Kleingeld ermordet oder als Heroinschmuggler rekrutiert. Ich war zu jung, um mich um so etwas zu sorgen.


Wir kamen am Phat Duc vorbei, dem Schuppen, wo Hitch angeblich Angelzeug verkaufte, in Wahrheit aber einheimisches Marihuana an die vielen Party-Touris vertickte, und bogen auf die neue Küstenstraße ab. Der Verkehr war mäßig, lediglich ein paar schwere Sattelzüge aus den C-Pro-Fischfarmen, kleine Linienbusse und Songthaews, kleine Touristenbusse geschmückt wie Karnevalswagen.[3] Hitch fuhr so rasant und unbekümmert wie ein Einheimischer, was die Fahrt zu einer Feuerprobe im Wasserhalten machte. Doch der Ansturm feuchter Luft brachte Kühlung, besonders als wir auf die Zubringerstraße Richtung Landesinnere abbogen, und der Tag war jung und ging schwanger mit wundersamen Dingen.

Abseits der Küste ist Chumphon gebirgig. Landeinwärts hatten wir die Straße nahezu für uns allein, bis eine Phalanx Grenzpolizei in einem Hagel aus Kies an uns vorbeibrauste. Also war tatsächlich etwas zugange. Wir hielten an einer Tankstelle namens Hawng Nam, damit Hitch sich erleichtern konnte, derweil ich mein Taschenradio auf den englischsprachigen Sender in Bangkok einstellte. Eine Menge US- und UK-Top-Forty-Hits, kein Wort über Marsmenschen. Doch gerade als Hitch von der Pissrinne zurückkam, brauste eine Brigade königlicher Thaisoldaten an uns vorbei, drei Truppentransporter und eine Hand voll greiser Hummerjeeps, der örtlichen Polizei hinterher. Hitch sah mich an, ich sah ihn an. »Nimm die Kamera aus der Satteltasche«, sagte er, diesmal ohne zu lächeln. Er wischte sich die Hände an den Shorts ab.

Weit voraus über den zusammengewürfelten Hügeln stach eine strahlend helle Säule aus Nebel oder Rauch in den Himmel.


Was ich nicht wusste, war, dass meine Tochter Kaitlin, fünf Jahre alt, mit hohem Fieber aus dem Morgenschlaf erwacht war, und dass Janice gut zwanzig Minuten vergeudet hatte, mich ausfindig zu machen, ehe sie aufgab und Kait in die Charite brachte.

Der Arzt war ein Kanadier, der schon seit 2002 in Chumphon war und mit Spendenmitteln aus irgendeinem Fond der Weltgesundheitsorganisation einen ziemlich modernen OP eingerichtet hatte. Das Strandvolk nannte ihn Doktor Dexter. Der richtige Mann bei Syphilis oder Darmparasiten. Als er Kaitlin untersuchte, hatte sie über 40° Fieber und kam nur zeitweise zu sich.

Janice war natürlich außer sich. Sie musste das Schlimmste befürchtet haben: die Japanische Enzephalitis, über die man in diesem Jahr in den Zeitungen las, oder das Denguefieber, das so viele Menschen in Myanmar getötet hatte. Doktor Dexter diagnostizierte eine gewöhnliche Grippe (wie sie seit März unter den Menschenmassen von Phuket und Ko Samui kursierte) und pumpte sie voll mit Antiviralen.

Janice saß im Warteraum und versuchte wiederholt mich zu erreichen. Doch ich hatte mein Handy in der gemieteten Hütte gelassen, im Rucksack auf dem Regal. Womöglich hätte sie versucht, Hitch zu erreichen, aber Hitch hielt nichts von unverschlüsselter Kommunikation; er hatte ein GPS und einen Kompass bei sich, seiner Meinung nach mehr als genug für einen richtigen Freibeuter.


Als ich durch den porösen Vorhang des Waldes zum ersten Mal einen Blick auf die Säule erhaschte, hielt ich sie für den Chedi eines entfernten Wat, eines buddhistischen Tempels, wie sie über ganz Südostasien verstreut sind. In jeder Enzyklopädie findet man beispielsweise ein Foto von Angkor Wat. Wer sie einmal gesehen hat, würde sie wiedererkennen: turmhohe steinerne Reliquienschreine, die seltsam organisch anmuten, als seien hier im Dschungel die Gebeine eines gigantischen Trolls versteinert.

Aber dieser Chedi — und ich habe mehrere gesehen, während wir dem Auf und Ab der langen Kammstraße gefolgt sind — hatte nicht die richtige Form, nicht die richtige Farbe.[4]

Wir erklommen den Kamm und stießen auf eine Straßensperre der königlichen Thaipolizei, Grenzstreifen und allerlei Bewaffneten in korrodierten Geländewagen. Jedweder Verkehr wurde abgewiesen. Vier Soldaten hatten ihre Waffen auf einen uralten Hyundai-Songthaew gerichtet, der mit zeternden Hühnern beladen war.

Die Grenzpolizisten sahen blutjung und ziemlich feindselig aus, sie trugen Khakiuniform und Pilotenbrille und hielten die Gewehre in nervöser Bereitschaft. Ich ließ Hitch wissen, dass ich sie auf keinen Fall zu provozieren gedachte.

Ich weiß nicht, ob er es gehört hatte. Seine Aufmerksamkeit galt dem entfernten Monument — wie ich es diesmal nennen will.

Wir konnten es jetzt deutlicher sehen. Es stand auf einer höheren Bergterrasse, teilweise hinter einem Dunstring verborgen. Die Größe war ohne sichtbare Relation schwer abzuschätzen, doch ich ging davon aus, dass es mindestens hundert Meter hoch war.

Bei unserem derzeitigen Wissensstand hätten wir es gut und gerne für ein Raumschiff oder eine Waffe halten können, doch die Wahrheit ist, dass ich es, sowie ich klare, unverstellte Sicht hatte, für eine Art Denkmal hielt. Man stelle sich ein abgestumpftes Washington Monument aus himmelblauem Glas und mit allseits abgerundeten Ecken und Kanten vor. Ich hatte keinen Schimmer, wer es fabriziert hatte oder wie es dorthin gekommen war — offenbar in einer einzigen Nacht —, doch bei all seiner Fremdheit sah es eindeutig nach Menschenwerk aus, und Menschen fabrizieren solche Objekte nur zu einem Zweck: um sich kundzutun, um ihre Präsenz und ihre Macht zu demonstrieren. Dass es überhaupt hier war, war schier unglaublich, doch es gab keinen Zweifel — es war massiv, wuchtig, imposant und passte hierher wie die Faust aufs Auge.

Dann stieg der Dunst und trübte die Sicht.

Zwei Uniformierte kamen forsch und sichtlich missgelaunt auf uns zu. »Wie es aussieht«, sagte Hitch — die gedämpfte, gedehnte Aussprache des Südwestlers klang in dieser Situation ein bisschen zu gedehnt —, »wimmelt es hier bald von US- und UN-Ärschen und noch mehr von diesen Scheißbullen.« Über dem Kamm kreiste bereits ein neutraler, aber unverkennbar militärischer Hubschrauber, der Abwind wühlte den Bodennebel auf.

»Dann lass uns umkehren«, sagte ich.

Er knipste ein einziges Mal, dann steckte er die Kamera weg. »Nicht unbedingt. Es gibt einen Schmugglerpfad, der sich da raufschraubt. Er zweigt eine halbe Meile hinter uns von der Straße ab. Den kennen nur wenige.« Er grinste.

Vermutlich habe ich zurückgelächelt. Dann kamen mir Bedenken, knüppeldick, doch ich kannte Hitch und wusste, er würde sich das nicht ausreden lassen. Hinzu kam, dass ich hier nicht ohne fahrbaren Untersatz zurückbleiben wollte. Er machte mit seinem Motorrad kehrt und die Thai-Cops starrten wütend unserem Auspuff hinterher.

Das war wohl gegen zwei oder drei Uhr nachmittags, um die Zeit also, da aus Kaitlins linkem Ohr blutiger Eiter zu sickern begann.


Wir fuhren den Schmugglerpfad hinauf, solange er befahrbar war, dann versteckten wir die Daimler in einem Dickicht und gingen noch eine Viertelmeile zu Fuß.

Der Pfad war beschwerlich, ausgesucht wegen der Deckung, die er bot, nicht wegen seiner Bequemlichkeit. Steile Immobilie, nannte Hitch ihn. Hitch hatte sich aus der Satteltasche der Daimler bedient und trug Wanderstiefel, ich aber musste sehen, wie ich mit meinen hohen Turnschuhen zurechtkam.

Hätten wir dem Pfad weit genug folgen können, wir wären ohne Zweifel zu irgendeinem Drogenversteck gelangt oder einer Drogendestille, vielleicht sogar zur burmesischen Grenze, doch bereits zwanzig Minuten brachten uns nahe genug an das Monument heran — näher wäre gar nicht möglich gewesen.

Wir waren keine tausend Meter mehr entfernt.

Wir waren nicht die Ersten, die es aus dieser Nähe zu sehen bekamen. Es blockierte schließlich eine Straße und das schon seit mindestens elf Stunden, vorausgesetzt das Geräusch des »Navy-Jet« letzte Nacht markierte tatsächlich die Ankunft des Artefakts.

Aber wir gehörten zu den Ersten.

Hitch machte bei den gestürzten Bäumen Halt. Der hiesige Wald — hauptsächlich Kiefern und ein bisschen wilder Bambus — war in einem radialen Muster rings um die Basis des Monuments kollabiert und die Trümmer begruben den Pfad unter sich. Die Kiefern waren offensichtlich von einer Druckwelle umgelegt worden, Feuer hatte jedenfalls keine Rolle gespielt. Im Gegenteil. Die Blätter des entwurzelten Bambus waren immer noch grün und begannen in der Nachmittagshitze erst vereinzelt zu welken. Alles hier — die Bäume, der Pfad, der Boden an sich — war auffällig kühl. Kalt eigentlich, wenn man die Hand in den Windbruch steckte. Hitch machte mich darauf aufmerksam. Ich tat mich schwer, den Blick von dem Monument zu lösen.

Hätte ich geahnt, was noch bevorstand, meine Ehrfurcht wäre nicht ganz so groß gewesen. Das hier war — im Lichte dessen, was noch kommen sollte — ein relativ kleines Wunder. Doch ich wusste lediglich, dass ich in ein Ereignis gestolpert war, das unsäglich seltsamer war als alles, was Frank Edwards in den zurückliegenden Ausgaben der Pittsburgh Press aufgedeckt hatte, und ich empfand zweierlei: Angst und eine schwindelnde Hochstimmung.

Das Monument. Es war erst einmal keine Statue; das heißt, es wies keine menschliche oder tierische Gestalt auf. Es war eine vierkantige Säule, die in einer konischen Spitze gipfelte, alles daran war glatt und abgerundet. Das Material sah wie Glas aus, aber Glas in dieser Größenordnung erschien albern und undenkbar. Es war blau: das tiefe, unergründliche Blau eines Bergsees, irgendwie friedlich und unheilvoll zugleich. Es war nicht durchsichtig, vermittelte aber den Eindruck von Lichtdurchlässigkeit. Von dieser Seite — der nördlichen — trug es weiße, schorfige Flecken: Eis, wie ich erstaunt zur Kenntnis nahm, welches sich an der feuchten Tagesluft bildete. Über dem zerstörten Wald lag feuchter Bodennebel, und der Fuß des Monuments verschwand unter schmelzenden Schneehügeln.

Das Eis und die unnatürliche Kälte, die vom zerstörten Wald herüberwehte, machten die Szenerie besonders unheimlich. Ich stellte mir vor, der Obelisk wachse wie ein gigantischer Turmalin aus irgendeinem unterirdischen Gletscher… aber so etwas gibt es nur im Traum. Ich sagte das zu Hitch.

»Dann sind wir eben im Land der Träume, Scotty. Vielleicht in Oz.«

Noch ein Hubschrauber kam um den Gipfel herum, gottlob zu niedrig. Wir knieten uns zwischen die gestürzten Kiefern, die der kühlen Luft eine erdige Note verliehen. Als der Hubschrauber über dem Gipfel verschwand, tippte Hitch mir auf die Schulter. »Genug gesehen?«

Ich nickte. Es war natürlich nicht ratsam, länger zu bleiben, auch wenn ein sturer Teil von mir lieber verweilt hätte, bis das Monument einen Sinn ergab oder bis seine eisblauen Tiefen wenigstens eine Spur Normalität preisgaben.

»Hitch«, sagte ich.

»Was?«

»Da ganz unten… sieht das nicht wie eine Inschrift aus?«

Er kniff die Augen zusammen und widmete dem Obelisken einen letzten angestrengten Blick. Machte ein letztes Foto. »Buchstaben, vielleicht. Kein Englisch. Zu weit weg und näher gehen wir nicht ran.«

Wir hatten schon zu lange gewartet.


Was ich später — viel später — von Janice erfuhr, war Folgendes:

Gegen drei Uhr nachmittags hatten Bangkoks Medien von einem amerikanischen Touristen Videoaufnahmen des Monuments bekommen. Bis vier war das halbe Strandvolk der Provinz Chumphon unterwegs, sich dieses Wunder mit eigenen Augen anzusehen und wurde en masse an den Straßensperren abgewiesen. Botschaften wurden unterrichtet; die internationale Presse begann aufzuhorchen.

Janice blieb bei Kaitlin in der Klinik. Um diese Zeit schrie Kaitlin vor Schmerz, trotz der Schmerzmittel und Antivirale, die ihr Doktor Dexter gegeben hatte. Er untersuchte sie noch einmal und erklärte Janice, unsere Tochter habe sich eine rasch nekrotisierende bakterielle Ohrinfektion zugezogen, möglicherweise beim Schwimmen am Strand. Er melde seit fast einem Monat verstärktes Auftreten von E. Coli und einem Dutzend anderer Mikroben, aber die Gesundheitsbehörden würden nicht reagieren, vielleicht weil die C-Pro-Fischfarmen ihre Muskeln spielen ließen.

Er verabreichte Kaitlin eine massive Dosis Fluorchinolone und rief die Botschaft in Bangkok an. Die Botschaft schickte einen Ambulanz-Hubschrauber und kümmerte sich um einen Platz im amerikanischen Krankenhaus.

Janice wollte ohne mich nicht fort. Sie rief wiederholt in der Hütte an und hinterließ, als das nichts half, ihre Nummer bei unserem Vermieter und ein paar Freunden, die ihr Mitgefühl bekundeten, mich aber seit Stunden nicht gesehen hatten.

Doktor Dexter sedierte Kaitlin, derweil Janice zur Hütte eilte, um ein paar Sachen zu packen. Als sie zur Klinik zurückkam, wartete der Hubschrauber bereits.

Sie erklärte Doktor Dexter, ich sei bestimmt nach Einbruch der Dunkelheit erreichbar, wahrscheinlich im Partyzelt. Wenn ich mich meldete, sollte er mir die Nummer des Krankenhauses geben; ich könnte dann Vorkehrungen treffen, um nachzukommen.

Dann hob der Hubschrauber ab. Janice nahm selbst ein Beruhigungsmittel, während ein Trio von Sanitätern noch mehr Breitband-Antibiotika in Kaitlins Kreislauf pumpte.

Sie müssen schon ziemlich hoch über der Bucht gewesen sein, als Janice aus der Vogelperspektive die Ursache für all das sah — die Kristallsäule, die wie eine unbeantwortbare Frage über dem üppig grünen Vorgebirge hing.


Der Schmugglerpfad entließ uns mitten in ein Nest thailändischer Militärpolizei.

Hitch machte den tapferen Versuch, mit eingeschlagenem Lenker zurückzusetzen und so den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, doch es gab nur einen Ausweg und der lief sich tot, wie wir wussten. Als eine Kugel die Erde neben dem Vorderrad aufwirbelte, bremste Hitch und stellte den Motor ab.

Wir mussten uns hinknien, die Hände in den Nacken legen. Ein Soldat kam herüber und setzte erst Hitch, dann mir die Pistole an die Schläfe. Er sagte etwas, das ich nicht verstand; seine Kameraden lachten.

Ein paar Minuten später saßen wir in einem Militär-Lkw, bewacht von vier bewaffneten Männern, die kein Englisch konnten oder zumindest so taten. Ich fragte mich, wie viel Schmuggelware Hitch bei sich trug und ob mich das zum Komplizen oder Mitwisser eines Verbrechens machte, das mit dem Tod bestraft wurde. Doch niemand sagte etwas von Drogen. Sie sagten gar nichts. Dann setzte sich der Wagen mit einem Ruck in Bewegung.

Wohin wir denn führen, erkundigte ich mich höflich. Der Soldat neben mir — ein Jüngling mit auseinander stehenden Zähnen und gewölbter Brust — zuckte die Achseln und hob in einer flüchtigen Drohgebärde den Gewehrkolben.

Sie nahmen Hitch die Kamera ab. Er bekam sie nie zurück. Sein Motorrad übrigens auch nicht. Was das anging, handelte das Militär durchaus ökonomisch.


Wir fuhren beinah achtzehn Stunden mit dem Lkw und verbrachten die nächste Nacht in einem Gefängnis in Bangkok, in getrennten Zellen und ohne Verständigungsmöglichkeit. Später erfuhr ich, dass sich ein sogenanntes Lagebewertungsteam von uns informieren lassen wollte (verhört sollten wir werden), und zwar bevor wir mit der Presse reden konnten; folglich hockten wir in unseren Einzelzellen mit einem Eimer als Toilette, während weltweit diverse wohlgekleidete Herren Flüge zum Don Muang Airport buchten. Solche Sachen brauchen Zeit.

Meine Familie war keine fünf Meilen von hier im Botschaftskrankenhaus, aber das wusste ich nicht. Auch Janice wusste nicht, wie nah wir uns waren.

Kaitlins Ohr blutete die ganze Nacht.

Doktor Dexters zweite Diagnose war richtig gewesen. Kaitlin hatte sich mit ominösen und weitgehend resistenten Bakterien infiziert, die ihr Trommelfell so gründlich auflösten — erklärte mir ein Arzt —, als habe ihr jemand ein Fläschchen Säure ins Ohr geschüttet. Hinzu kam, dass in der Zeit, die die Fluorchinolone brauchten, um die Infektion erfolgreich zu bekämpfen, auch Knöchelchen und Nervengewebe ringsherum befallen wurden. Am folgenden Abend stand zweierlei fest:

Kaitlin war außer Lebensgefahr.

Und sie würde nie wieder hören können mit diesem Ohr. Im rechten Ohr würde sie zwar ein gewisses Hörvermögen behalten, aber es würde beeinträchtigt sein.

Ich sollte vielleicht sagen, dass dreierlei feststand. Denn als die Sonne unterging, hatte Janice entschieden, dass meine Abwesenheit unentschuldbar war und dass sie nicht bereit war, mir die jüngste Fehlentscheidung zu verzeihen. Diesmal nicht — es sei denn, meine Leiche würde an den Strand geschwemmt, doch vielleicht nicht einmal dann.


Das Verhör gestaltete sich so:

Drei freundliche Herren trafen im Gefängnis ein und zeigten sich zutiefst zerknirscht ob der Bedingungen, unter denen wir untergebracht waren. Was das beträfe, stünden sie mit der thailändischen Regierung im Gespräch, »eben jetzt, in diesem Moment«, und ob wir in der Zwischenzeit nicht ein paar Fragen beantworten könnten?

Zum Beispiel unsere Namen und Adressen und unsere US-amerikanischen Verbindungen und wie lange wir schon in Thailand seien und was wir hier täten?

(Flitch muss sich darüber amüsiert haben. Ich sagte einfach die Wahrheit: Ich sei in Bangkok gewesen, um Software für eine Hotelkette mit Sitz in den Staaten zu entwickeln, und sei noch rund acht Monate nach Ablauf meines Vertrages geblieben. Ich ließ unerwähnt, dass ich vorgehabt hatte, ein Buch zu schreiben über Aufstieg und Fall einer Strandkultur von freiwilligen Exilanten im Land des Lächelns, wie es die thailändischen Reiseführer zu nennen pflegten — ein Buch, das sich vom Sachbuch zum Roman verwandelt hatte, bevor es endgültig scheiterte —, oder dass ich vor sechs Wochen meine Ersparnisse geplündert hatte. Ich erzählte ihnen von Janice, unterschlug ihnen aber, dass wir ohne das Geld, das sie sich von ihrer Familie geborgt hatte, arm wie Kirchenmäuse gewesen wären. Ich erzählte ihnen auch von Kaitlin, doch ich ahnte nicht, dass Kaitlin vor nur achtundvierzig Stunden fast gestorben wäre… und falls die Herren Bescheid wussten, zogen sie es vor, ihr Wissen für sich zu behalten.)

Alle übrigen Fragen betrafen das Chumphon-Objekt: Woher wir davon gewusst hätten; wann wir es zuerst gesehen hätten; wie nahe wir herangekommen wären; unsere »Eindrücke« von dem Objekt. Ein thailändischer Gefängniswärter sah finster zu, wie ein US-Arzt von uns Blut- und Urinproben nahm. Dann bedankten sich die Herren und versprachen uns, uns sobald wie möglich hier herauszuholen.

Am Tag darauf führten sich drei weitere freundliche Herren bei uns ein und stellten uns dieselben Fragen und machten uns dieselben Zusagen.

Zu guter Letzt wurden wir entlassen. Manches von dem, was sich in unseren Brieftaschen befunden hatte, wurde uns zurückgegeben, und wir traten irgendwo auf der falschen Seite des Chao Phrya in die Hitze und den Gestank von Bangkok hinaus. Verwahrlost und ohne einen Pfennig in der Tasche marschierten wir zur Botschaft, wo ich einem Beamten solange zusetzte, bis er uns das Fahrgeld für eine Busfahrt nach Chumphon und ein paar Telefonate vorschoss.

Ich versuchte Janice in unserer Miethütte zu erreichen. Vergebens. Doch es war Mittag, und ich ging davon aus, dass sie mit Kait unterwegs war, um das Nötigste für eine Mahlzeit zu besorgen. Ich versuchte es bei unserem Vermieter (ein graumelierter Brite namens Bedford), erreichte aber nur seinen Anrufbeantworter. Das war der Zeitpunkt, da uns eine hübsche Botschaftsangestellte nachdrücklich ermahnte, nur ja nicht unseren Bus zu verpassen.


Ich erreichte die Hütte, als es längst dunkel war, immer noch fest überzeugt, hier Janice und Kaitlin vorzufinden; natürlich würde sie mir böse sein, bis sie erfuhr, was passiert war; es würde eine tränenreiche Aussöhnung folgen und vielleicht sogar ein bisschen Leidenschaft.

In der Eile, rechtzeitig zur Charite zurückzukehren, hattejanice die Tür nicht ins Schloss gezogen. Sie hatte einen Koffer für sich und Kaitlin gepackt — und den Rest hatten Diebe mitgenommen: die Sachen im Kühlschrank, mein Handy und den Laptop.

Ich lief die Straße hinauf und weckte unseren Vermieter, der sich erinnerte, dass Janice irgendwann einen Koffer an seinem Fenster vorbeigeschleppt hatte und dass Kaitlin krank gewesen war, doch in dem ganzen Wirbel um das Monument seien ihm die Einzelheiten entfallen. Ich durfte sein Telefon benutzen (ich war zum Telefonschnorrer geworden) und erreichte Doktor Dexter, der mich über die Details von Kaitlins Infektion und ihren Transport nach Bangkok aufklärte.

Bangkok. Und dahin durfte ich von Colins Telefon aus nicht anrufen; das sei ein Ferngespräch, erklärte er, und ob es nicht schon reiche, mit der Miete im Rückstand zu sein?

Ich fuhr per Anhalter zum Phat Duc, Hitchs angeblichem Fastfood- und Anglerladen.

Hitch hatte ebenfalls Probleme — er hegte die leise Hoffnung, die verschwundene Daimler aufzustöbern —, eröffnete mir aber, ich könnte vorerst im Hinterzimmer des Duc übernachten auf einem feuchten Ballen Sinsemilla[5], malte ich mir aus und das Telefon im Laden so oft benutzen, wie ich wollte; wir würden das später abwickeln.

Ich brauchte bis zum Morgen, um herauszufinden, dass Janice und Kaitlin das Land bereits verlassen hatten.


Ich mache ihr keinen Vorwurf.

Nicht, dass ich nicht wütend war; sechs Monate war ich wütend. Doch wenn ich versuchte, diese Wut vor mir zu rechtfertigen, kamen mir meine Entschuldigungen dürftig und unangebracht vor.

Immerhin hatte ich sie mit nach Thailand genommen, als sie viel lieber in den Staaten geblieben wäre, um ihr Postdoc-Forschungsstipendium zu beenden. Ich hatte sie hierbehalten, als meine Verträge ausliefen, und sie erfolgreich zu einem Leben unterhalb der Armutsgrenze gezwungen, derweil ich den Rebellen und Rückzügler mimte, was mehr mit unverarbeiteten postpubertären Existenzängsten zu tun hatte als mit etwas Substanziellem. Ich hatte Kaitlin den Gefahren eines Exillebens ausgesetzt (worunter ich vorzugsweise eine »Erweiterung ihres Horizonts« verstand) und am Ende, als meine Tochter in Lebensgefahr schwebte, war ich weder anwesend noch erreichbar gewesen.

Ohne Zweifel gab Janice mir die Schuld an Kaitlins hochgradiger Taubheit. Mir blieb nur die Hoffnung, dass Kait selbst mir nicht die Schuld gab. Zumindest nicht dauerhaft. Nicht für immer.

Inzwischen wollte ich nur eins: heimkehren. Janice hatte sich in das Haus ihrer Eltern nach Minneapolis zurückgezogen, wo sie meine Anrufe beharrlich ignorierte. Man gab mir zu verstehen, die Scheidung sei eingereicht.

Das alles war zehntausend Meilen weit weg.

Am Ende eines deprimierenden Monats eröffnete ich Hitch, dass ich ein Ticket in die Staaten brauchte, meine Mittel aber restlos erschöpft seien.

Wir saßen in der Bucht auf einem angeschwemmten Baumstamm. Windsurfer glitten in das weite Blau hinaus, unbeeindruckt von der Bakterienkonzentration. Lustig, wie einladend der Ozean wirken kann, selbst wenn er verseucht ist.

Am Strand herrschte reger Betrieb. Chumphon war zum Mekka für Bildjournalisten und neugierige Müßiggänger geworden. Tagsüber wetteiferte man um den günstigsten Standort für Stativaufnahmen des sogenannten Chumphon-Objekts; nachts trieb man die Preise für Alkohol und Logis in die Höhe. Alle miteinander hatten sie mehr Geld im Portemonnaie, als ich in einem Jahr zu Gesicht bekommen hatte.

Für Journalisten hatte ich nicht viel übrig und das Monument hasste ich bereits. Janice traf keine Schuld am Lauf der Dinge und ich tat mich verständlicherweise schwer, mir selbst die Schuld zu geben, aber ich konnte bedenkenlos das mysteriöse Objekt verantwortlich machen, von dem alle Welt so fasziniert war.

Der Witz ist, dass ich das Monument bereits gehasst habe, als noch niemand daran gedacht hatte, es zu hassen. Schon bald sollte die Silhouette dieses kühlen blauen Steins zu einem Symbol werden, das die allermeisten Menschen kannten und hassten (oder perverserweise liebten). Doch zur Zeit war ich Weltmeister in dieser Disziplin.

Die Quintessenz ist vermutlich, dass die Geschichte den Finger nicht immer auf die anständigen Leute legt.

Und nicht zu vergessen: Es gibt keinen Zufall.

»Wir brauchen beide eine Gefälligkeit«, sagte Hitch und grinste sein gefährliches Grinsen. »Vielleicht tun wir uns den Gefallen gegenseitig. Ich kann dir vielleicht helfen, nach Hause zu kommen, Scotty. Wenn du dafür etwas für mich tust.«

»Solche Vorschläge machen mir Sorgen«, sagte ich.

»Ein bisschen Sorgen können nicht schaden.«


Am Abend druckten die englischsprachigen Zeitungen den Text der Inschrift, die man am Fuß des Monuments entdeckt hatte — ein offenes Geheimnis hier in Chumphon.

Die Inschrift, zolltief in das Material der Säule getrieben und verfasst in einem Pidgin-Mandarin und Basic-English, war ein schlichtes Statement zur Erinnerung an eine Schlacht. Wir hatten es also mit einer Art Siegessäule zu tun.

Sie pries die Kapitulation von Süd-Thailand und Malaysia vor den alliierten Streitkräften von »Kuin«, wer oder was immer das war. Und unter dem Text stand das Datum dieser historischen Schlacht.

21. Dezember 2041.

Zwanzig Jahre in der Zukunft.

Zwei

Ich flog in die Staaten, mit einer frischgebackenen Fluggesellschaft, die je ein Standbein in Beijing, Düsseldorf, Gander und Boston hatte — einmal um die Erde, mit nervtötenden Zwischenstationen — und landete schließlich im Logan Airport, mit imitierten Designerkoffern in bester Bangkok-Tradition, einem Fünftausend-Dollar-Guthaben und einer unliebsamen Verpflichtung, alles dank Hitch Paley. Ich war daheim, was immer ich mir davon versprach.

Es war erstaunlich, wie unverdient reich mir Boston nach einer Strandsaison erschien, und zwar noch ehe ich das Terminal verließ, als seien die ganzen schimmernden Lokale und Zeitungskioske nach einem kräftigen Regenguss wie Pilze aus dem Boden geschossen. Hier war nichts älter als fünf Jahre, weder das Terminalgebäude noch die Atlantikverfüllung, auf der es stand, eine Errungenschaft, die jünger war als die meisten ihrer Schirmherren. Ich unterwarf mich einer nicht-invasiven Zollkontrolle, durchquerte den hallenden Arrivals-Komplex und steuerte auf einen Taxistand zu.

Das Rätsel des Chumphon-Chronolithen — wie ihn ein Wissenschaftsjournalist erst vorigen Monat getauft hatte — war bereits in der öffentlichen Wahrnehmung verblasst. Es wurde noch darüber berichtet, aber hauptsächlich in den Supermarktblättchen (Totem des Teufels oder Posaune des Jüngsten Gerichts) und in zahllosen verschwörungsorientierten Webjournalen. Dem zeitgenössischen Leser mag es unbegreiflich erscheinen, aber die Welt war zu den näher liegenden Dingen übergegangen — Brazzaville 3, die Windsor-Hochzeiten, der Mordversuch an der Diva Lux Ebone auf dem Roma-Festival am letzten Wochenende. Es war, als warteten wir allesamt auf das, was dem neuen Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken sollte, auf das Etwas oder die Person oder das abstrakte Ereignis, das wir für das absolute Novum, das Wahrzeichen des einundzwanzigsten Jahrhunderts halten würden. Und selbstverständlich erkannten wir es nicht, wenn es sich zum ersten Mal in die Nachrichten drängelte. Der Chronolith war etwas Einzigartiges, faszinierend, ja, aber äußerst unergründlich und daher äußerst langweilig. Man legte ihn beiseite wie ein frustrierendes Kreuzworträtsel.

Tatsächlich gab es auch weiterhin großes Interesse an dem Ereignis in Thailand, aber nur von bestimmten nachrichtendienstlichen und militärischen Kreisen auf nationaler wie internationaler Ebene. Der Chronolith war schließlich eine unverhohlen feindliche militärische Intervention großen Stils und äußerster Heimtücke, auch wenn die einzigen Opfer ein paar tausend knorrige Bergkiefern waren. Die Provinz Chumphon gehörte zur Zeit zu den bestüberwachten Gegenden der Welt.

Doch was ging mich das an? Ich gedachte das alles von mir abzuschütteln, indem ich ein paar tausend Meilen nach Westen flog.

So dachten wir damals.


Der Herbst war ungewöhnlich kalt. Wolken eilten am Himmel dahin; ein starker Wind beutelte die letzte Fischerflotte des Jahres. Außerhalb des Straßenatriums des AmMag-Bahnhofs knatterte eine Phalanx von Fahnen.

Ich bezahlte das Taxi, durchquerte die Eingangshalle und erstand ein Ticket für den Northern Tier Express: Detroit, Chicago und über die Prärie nach Seattle, obwohl ich nur bis Minneapolis wollte. Einsteigen ab 19.00 Uhr, teilte mir der Automat mit. Ich erstand eine Zeitung und las sie auf dem Münzmonitor, bis die Bahnhofsuhr 16.30 zeigte.

Dann stand ich auf, sondierte die Halle nach verdächtiger Aktivität (nichts) und trat auf die Washington Street hinaus.

Fünf Blocks südlich des Magnetschwebebahnhofs gab es eine winzige, uralte Poststelle mit Namen Easy's Packages and Parcels.

Der Laden schien kaum frequentiert, die Mylarfolie hinter der Schaufensterscheibe starrte vor Fliegendreck. Ein Mann mit stählernem Laufgestell bugsierte sich durch die Eingangstür und tauchte nach zehn Minuten mit einem braunen Papierumschlag wieder auf. Das war vermutlich der typische Kunde in solchen Klitschen wie Easy's, einer aus dem goldenen Zeitalter, bis zum Erbrechen loyal gegenüber dem, was von der US-Post noch übrig war.

Es sei denn, der Gentleman mit der Gehhilfe war ein Verbrecher mit Latexmaske. Oder ein Polizist.

Ob ich Skrupel hatte bei dem, was ich vorhatte? Viele — zumindest Bedenken. Hitch hatte meine Heimreise finanziert und der Gefallen, den ich ihm dafür tun sollte, hatte, als wir ohne einen Pfennig Geld am Strand gelegen hatten, durchaus simpel geklungen. Als der Chumphon-Chronolith aufgetaucht war, kannte ich Hitch kaum ein Jahr; er gehörte zu den wenigen Stammkunden des Haat Thai, deren Gesprächsstoff sich nicht in sexuellen Eroberungen und Designerdrogen erschöpfte. Er war ein Meister in dubiosen Geschäften, war aber im Grunde eine ehrliche Haut (wie ich Janice immer wieder beteuert hatte) und »kein schlechter Mensch«. Was immer das hieß. Ich vertraute ihm — in Grenzen natürlich.

Doch während ich dastand und nach Anzeichen fahndete, ob Easy's Packages polizeilich überwacht wurde — wobei ich eine professionelle Überwachung sicher nicht bemerkt hätte, es sei denn, das Finanzministerium hätte zufällig eine Anzeigetafel gemietet, um seine Anwesenheit kundzutun —, kamen mir meine Kopfnoten für Hitch oberflächlich und naiv vor. Hitch hatte mich gebeten, Easy's aufzusuchen, seinen Namen zu nennen und »ein Paket« entgegenzunehmen, das ich solange behalten sollte, bis er sich mit mir in Verbindung setzte; Fragen durfte ich keine stellen.

Fest stand, dass Hitch ein Dealer war, wiewohl sich sein Strandgeschäft auf Cannabis, exotische Pilze und die milderen Phenylethylamine beschränkte. Und Thailand war seit Marco Polo ein Herkunftsland und ein etablierter Umschlagplatz für Rauschgift.

Ich war nicht eben bescheiden, was Rauschmittel betraf, und ich hatte nicht wenige probiert. Praktisch jede psychotrope Substanz war irgendwo erlaubt und fast alle waren im liberalen Westen entkriminalisiert, aber in den Vereinigten Staaten und insbesondere in Massachusetts wurde das Befördern harter Drogen unverändert schwer bestraft. Sollte Hitch es irgendwie gedeichselt haben, sich selbst, sagen wir, ein Kilo Black-Tar-Heroin zu schicken — und sollte sein Humor ausreichen, es in meine Obhut zu geben —, dann würde ich mein Ticket in die Heimat womöglich mit Gefängnis bezahlen. Dann würde ich Kaitlin womöglich nur noch durch Drahtglas zu sehen bekommen, mindestens bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag.

Urplötzlich regnete es in Sturzbächen. Ich lief über die Straße, schnaufte die feuchte Luft und betrat Easy's Packages.

Easy persönlich oder jemand wie er — ein großer, kompliziert gerunzelter, muskulöser schwarzer Mann von vielleicht sechzig oder achtzig — stand hinter der Hartholztheke und bewachte eine Reihe nebelgrau mattierter Alu-Briefkästen. Er sah mich kurz an. »Kann ich helfen?«

»Ich bin hier, um ein Paket abzuholen.«

»Welche Mailbox-Nummer?«

Hitch hatte mir keine Nummer gegeben. »Hitch Paley sagt, hier wartet ein Paket auf mich.«

Seine Augen verengten sich und sein Kopf schien sich in plötzlicher Entrüstung um ein Viertelzoll zu heben. »Hitch Paley

Nach dem Tonfall zu urteilen, ging die Sache bereits schief, aber ich nickte.

»Hitch zum Teufel mit Paley!« Er hieb die Faust auf die Theke. »Ich weiß nicht, wer, zum Teufel, Sie sind, aber wenn Sie zufällig Hitch Paley treffen, dann bestellen Sie dem Arschloch, wir wären noch lange nicht quitt! Er soll sich seine Scheißpakete sonstwo hinstecken!«

»Sie haben also nichts für mich?«

»Habe ich was für Sie? Was habe ich denn für Sie? Meine Stiefelspitze hätte ich für Sie!«

Ich war im Nu zur Tür hinaus.


So wurde aus dem schlechten Journalisten, dem schlechten Ehemann und dem schlechten Vater auch noch ein schlechter Krimineller.

Der AmMag trug mich aus Massachusetts hinaus, durch den Stadtkorridor in die Hüttensiedlung und das düstere Farmland dahinter. Ich versuchte die Rätsel aus meinem Kopf zu verbannen.

Irgendetwas war schiefgelaufen zwischen Hitch Paley und Easy's Packages. Na und? Ich hatte getan, worum Hitch mich gebeten hatte, und ich war offengestanden froh, kein in Pergamentpapier gewickeltes Belastungsmaterial mit mir herumzuschleppen. Das einzige potenzielle Problem war ein Hitch, der in naher Zukunft sein Geld zurückhaben wollte.

Mitternacht kroch vorüber in der regnerischen Finsternis. Ich kippte meine Rückenlehne nach hinten und dachte über die Zukunft nach. Westlich des Mississippi boomte die Wirtschaft. Die neuen kovalenten Prozessorsockel hatten ein Meer an neuartiger komplexer Software ermöglicht, und ich war mir sicher, bei einem der Silicon-Ring-NASDAQ-Kandidaten zumindest einen Einstiegsjob zu finden. Ich würde meinen Abschluss nutzen, bevor er veraltet war. Und ich würde beizeiten meine Schulden bei Hitch tilgen. So zeugt Verbrechen Rechtschaffenheit.

Ich würde noch rechtzeitig zu Ansehen kommen; Janice würde sehen, was in mir steckt, und mir verzeihen, und Kait würde mir auf wackeligen Beinchen in die Arme laufen.

Aber mein Vater wollte mir nicht aus dem Kopf — ich sah ihn in meinem Spiegelbild im regenschraffierten Fenster. Misserfolg ist Entropie, schien die Erscheinung zu sagen, und Entropie ist ein Naturgesetz. Aus Liebe wird Schmerz. Schließlich wirst du ihn ignorieren. Du erreichst das Nirwana der Gleichgültigkeit. Nicht, dass es leicht fiele. Doch nichts, was sich lohnt, fällt leicht.

Hitch und ich waren unter den Ersten, die den Chumphon-Chronolithen gesehen hatten, und in der großen Durchdringung von Zeit und Geist in der Folge… na ja, da frage ich mich natürlich, wie viel von meinem eigenen Pessimismus (oder dem meines Vaters) in diesem Slalom steckte.

Ganz zu schweigen von einer Prise Wahnsinn mütterlicherseits. Kaltluft rieselte in das abgedunkelte Abteil, und ich entsann mich, wie leidenschaftlich meine Mutter die Kälte gehasst hatte. Sie hatte sie persönlich genommen, besonders in den letzten Jahren vor ihrem Tod. Als persönlichen Affront. Sie war ein Feind von Eis, Schnee war ihr eine Qual.

Sie hat mir mal erzählt, Schnee sei Engelskot; er stinke nicht, weil er engelhaften Ursprungs sei, er sei aber nichtsdestoweniger ein Marterwerkzeug, so vollkommen rein, dass sterbliche Haut sich daran verbrenne.

Als ich den Kontrollabschnitt meines Tickets wegstecken wollte, bemerkte ich unter dem AmMag-Logo die laufende Nummer 204f — die Jahreszahl auf dem Chronolithen.


Im Bahnhof Minneapolis/Saint Paul kaufte ich das Lokalblatt und ein populärwissenschaftliches Magazin mit einem Artikel über den Chronolithen.

Das Magazin präsentierte aktuelle Bilder; vieles hatte sich verändert, seit Hitch und ich dagewesen waren. Bulldozer und Planierraupen hatten das ihre getan; rings um die Säule erstreckte sich eine weite erdbraune Leere; an der gerodeten Peripherie standen Zelte, offene Polygone mit Gerätschaften und Behelfslabors sowie eine Phalanx ockerfarbener Chemietoiletten. Die pazifischen Vertragsmächte hatten einen multinationalen Pool wissenschaftlicher Ermittler eingesetzt, zum größten Teil Werkstoffspezialisten, die eingestandenermaßen vor einem Rätsel standen. Der Chronolith war außergewöhnlich reaktionsträge. Er schien überhaupt nicht auf seine Umgebung zu reagieren, nicht auf Säure, nicht auf Laserstrahlen; so tief man grub, er wollte kein Ende nehmen; seine Temperatur, zumindest seit der eisigen Druckwelle seines Auftauchens, war nie um den Bruchteil eines Celsiusgrades von der Umgebungstemperatur abgewichen. Das Ding zierte sich ungemein.

Die Spektralanalyse der Säule erwies sich als besonders unergiebig. Bestimmte Wellenlängen im blaugrünen Anteil des sichtbaren Lichts wurden durchgelassen und reflektiert — dasselbe galt unerklärlicherweise für ein paar harmonische Wellenlängen des Infrarot- und Ultraviolettbereichs. Andere Frequenzen wurden entweder total reflektiert oder total absorbiert, und zwar so total, wie es praktisch nicht vorkam. Input und Output spielten anscheinend ein Nullsummenspiel, doch niemand war sich da ganz sicher und selbst diese mutmaßliche Symmetrie widersetzte sich einer einfachen Erklärung. Schließlich spekulierte der Artikel über einen gänzlich neuen Materiezustand, der weniger eine Erklärung als ein Eingeständnis von Ratlosigkeit war, allerdings so formuliert, dass der stete Strom der Forschungsmittel dadurch nicht ins Stocken geriet.

Die Spekulationen über die Inschrift des Chronolithen waren noch wilder und noch weniger aufschlussreich. War »Zeitreise« wirklich eine praktikable Möglichkeit? Die meisten Autoritäten wiesen diesen Gedanken strikt von sich. Dann war die Inschrift vielleicht eine Form von Tarnung, eine Art Ablenkungsmanöver. Auch der Name »Kuin« war verdächtig nichtssagend. Falls er echt war, hätte er aus dem Chinesischen kommen können, eher aber aus dem Niederländischen; das Wort tauchte auch im Finnischen und Japanischen auf; es gab sogar einen Stamm von Ureinwohnern Perus, die Huni Kuin hießen, obwohl man die Huni Kuin getrost außen vor lassen konnte.

Die Alternative — dass irgendein asiatischer Kriegsherr in nur zwanzig Jahren ein Monument zum Gedenken an eine unbedeutende Schlacht errichten und in die jüngste Vergangenheit projizieren ließ — war einfach zu albern, um wahr zu sein. (Sollte man das inzwischen für kurzsichtig halten, gebe ich zu bedenken, dass die Wissenschaft, was den Kuin-Monolithen betraf, bereits eine ganze Reihe offensichtlicher Absurditäten hatte schlucken müssen und verständlicherweise vor dieser äußersten Unmöglichkeit zurückscheute. Damals ging man freimütiger mit dem Wort »unmöglich« um.)

Das war die übereinstimmende Meinung im Herbst 2021.

Das Lokalblatt hatte ich aus eher praktischen Erwägungen gekauft. Ich durchsuchte den Anzeigenteil nach einer Mietwohnung näher am Stadtrand, wo die Digital-Design-Konsortien saßen. Heraus kam eine ganze Liste von Objekten. Bis Mittwoch hatte ich mir ein Anderthalbzimmerapartment in einem Mietshaus ohne Fahrstuhl »erkauft«, und zwar genau westlich der Twin Cities Agricultural Enclave.[6] Die Wohnung war unmöbliert. Ich kaufte Stuhl, Tisch und Bett. Mehr wäre ein Ausdruck von Pessimismus gewesen. Die Bude sollte ein Provisorium sein, mehr nicht. Danach ging ich auf Jobsuche. Ich rief Janice nicht an, nicht sofort jedenfalls, denn ich wollte etwas vorzeigen können, einen Beweis meiner Glaubwürdigkeit: ein Einkommen zum Beispiel. Hätte es ein Verdienstabzeichen für Gute Staatsbürgerschaft gegeben, ich hätte darum ersucht.

Natürlich half das alles nichts. Was vorbei ist, ist vorbei, eine Tatsache, die der Leser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit versteht. Die jüngere Generation weiß darüber besser Bescheid als unsereins. Ganz unfreiwillig.

Drei

Im Februar 2022 waren Janice und Kaitlin in eine hübsche Eigentumswohnung in der Vorstadt gezogen; Janice nahm einen weiten Weg zur Arbeit in Kauf, dafür war Kaits Schulweg umso kürzer. Nach unserem Scheidungsvertrag vom Dezember durfte ich Kait im Durchschnitt eine Woche pro Monat zu mir nehmen.

Was Kait anging, hatte Janice mit sich reden lassen, und ich hatte meine Tochter seit der Trennung schon häufiger zu Gesicht bekommen. Laut Plan sollte ich Kait diesen Samstag übernehmen. Doch ein vom Scheidungsgericht verordnetes Beisammensein ist nicht nur ein Beisammensein. Es ist auch Befremden, Verlegenheit und Unbehagen.

Ich erschien um 8.45 Uhr bei Janice, es war ein sonniger, aber bösartig kalter Samstagmorgen. Janice bat mich in ihre Wohnung und erklärte, Kait sei noch bei einer Freundin, und die beiden sähen sich bis zur verabredeten Zeit die morgendlichen Trickfilme an.

Die Etage duftete nach frisch gereinigten Teppichen und Frühstück. Janice in Freizeitbluse und Jeans goss mir Kaffee ein. Mir war, als hätten wir eine Art Wiederannäherung erreicht — uns ebenso gut aufeinander freuen können, wäre da nicht das Gepäck an Schmerz und Schuldzuweisungen gewesen, das jeder von uns mit sich herumschleppte. Ganz zu schweigen von gekränkter Zuneigung, enttäuschter Hoffnung und stillem Kummer.

Janice setzte sich zu mir an den Frühstückstisch. Sie hatte ein paar von ihren Antiquitäten auf dem Tisch gelassen. Zufall? Sie sammelte gedruckte Magazine aus dem letzten Jahrhundert, Life und Time zum Beispiel. Sie lagen da in ihren steifen Kunststoffumschlägen wie Werbeprospekte für ein verlorenes Zeitalter, entwertete Tickets von der Titanic. »Du bist noch bei Campion-Miller?«, fragte sie.

»Ein neuer Halbjahresvertrag.« Und Dreitausend rückwirkend. Auf diese Weise konnte sich mein Netto über kurz oder lang bis zum Level eines Junior-Programmierers mausern. Den Bonus hatte ich größtenteils für ein Breitwanddisplay ausgegeben, als Heimkino für Kait und mich gedacht. Noch vor Weihnachten hatte mein Notebook dafür herhalten müssen.

»Sieht längerfristig aus.«

»Abwarten.« Ich nahm einen Schluck aus der Tasse. »Der Kaffee ist übrigens lausig.«

»Oh?«

»Du hast immer schon schlechten Kaffee gemacht.«

Janice lächelte. »Und jetzt bringst du es fertig, mir das zu sagen?«

»Mm-hm.«

»Die ganzen Jahre hast du also meinen Kaffee gehasst?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn gehasst habe. Nur, dass er schlecht war.«

»Du hast nie eine Tasse abgelehnt.«

»Nein. Das stimmt.«

Kaitlin kam von den Nachbarn zurück — platzte in tropfnassen Kunststoffstiefeln und plissierter Winterjacke durch die Vordertür. Ihre Brillengläser beschlugen sich augenblicklich. Die Brille war ihre neueste Errungenschaft. Kaitlin war nur leicht kurzsichtig, aber operative Korrekturen nahm man an Kindern ihres Alters nicht vor. Sie wischte mit den Fingern über die Gläser und starrte mich eulenhaft an.

Früher hatte Kait mich immer mit einem breiten Lächeln empfangen. Sie lächelte mich immer noch an. Aber nicht automatisch.

Janice sagte: »Hast du deine Cartoons gesehen, Liebes?«

»Nein.« Kaits Augen ließen nicht von mir ab. »Mr. Levy wollte unbedingt die Nachrichten sehen.«

Ich kam nicht auf den Gedanken zu fragen, warum Mr. Levy das gewollt hatte.

Hätte ich gefragt, hätte ich den Nachmittag womöglich nicht mit Kait verbracht.

»Viel Spaß mit Daddy«, sagte Janice. »Musst du nicht noch zur Toilette vorher?«

Kaitlin war entrüstet über diese Taktlosigkeit. »Nein!«

»Na gut.« Janice straffte sich und sah mich an. »Acht Uhr, Scott?«

»Acht«, versprach ich.


Wir schnurrten in meinem Gebrauchtwagen dahin, von Annäherungsprotokollen sorgfältig in den starken Samstagsverkehr gefädelt. Ich hatte Kaitlin den Ausflug zu einer Vergnügungsmall versprochen, und sie durchklomm bereits die Höhen der Begeisterung und die Tiefen der Erschöpfung und ließ sich jedes Mal, wenn sie ausgeplappert hatte, mit einer verzweifelten Sind-wir-endlich-da?-Miene ins Polster sinken.

Immer wenn sie still war, prüfte ich mein Gewissen… vorsichtig, so wie man mit einer betäubten, aber giftigen Schlange umgeht. Ich versuchte mich mit den Augen von Janice zu sehen und sah (wie jedes Mal) den Mann, der sie und ihre Tochter in ein Drittweltland gelotst hatte; der sie dort nahezu an den Bettelstab gebracht und sie einer Strandkultur von Exilanten ausgesetzt hatte, die zwar farbenfroh und interessant, aber auch von Drogen bestimmt war, gefährlich und hoffnungslos unproduktiv.

Das freundliche Wort für so ein Verhalten ist »gedankenlos«. Weniger freundliche heißen »egoistisch« und »rücksichtslos«.

Hatte ich mich geändert? Na ja, vielleicht. Aber noch immer schuldete ich Hitch Paley mehrere tausend Dollar (obwohl ich seither nichts von ihm gehört hatte und nun die vorsichtige Hoffnung nährte, er könne es dabei bewenden lassen) — und auf ein Leben, zu dessen Zutaten ein Hitch Paley zählt, kann unmöglich Verlass sein.

Trotzdem, da war Kaitlin, es ging ihr gut, wie ein angeschirrter Kapuzineraffe titschte sie immer wieder gegen die Polsterung. Ich hatte ihr beigebracht, die Schuhe zu binden. In einer wolkenlosen Nacht in Chumphon hatte ich ihr das Kreuz des Südens gezeigt. Ich war ihr Vater, und sie ertrug mit Freuden meine Gegenwart.

Wir verbrachten drei Stunden in der Mall, länger hätte Kait nicht durchgehalten. Sie war fasziniert, wenn auch ein bisschen eingeschüchtert von den Clowns in ihren morphenden Kostümen und Masken. Sie vertilgte eine erstaunliche Menge Mall-Food, ließ zwei halbstündige Surround-Adventures von der ersten bis zur letzten Minute über sich ergehen und schlief aufrecht sitzend während der ganzen Rückfahrt zu meiner Wohnung.

Zu Hause angekommen, drehte ich die Beleuchtung hoch und sperrte die winterliche Präriedämmerung aus. Zum Dinner schob ich Tiefkühlhähnchen und grüne Bohnen in die Mikrowelle, Proletenessen, das aber lecker roch in der winzigen Küche; beim Essen sahen wir uns Downloads an. Kaitlin sagte nicht viel, aber die Atmosphäre war heimelig.

Und wenn sie nach rechts sah, konnte ich ihr taubes Ohr sehen, das in einem Nest aus Goldhaar schlief. Es war nicht sehr deformiert, bloß ein bisschen gekräuselt, da wo die Bakterien kleine Kerben ausgefressen hatten, die rötlich vernarbt waren.

In dem anderen Ohr trug sie eine Hörhilfe, die wie eine winzige, glänzende Muschel aussah.

Nach dem Dinner spülte ich, dann redete ich ihr mit Engelszungen die Trickfilme aus und schaltete die Nachrichten ein.

Es gab Neuigkeiten aus Bangkok.

»Das«, sagte Kaitlin säuerlich, als sie vom Klo zurückkam, »ist das, was Mr. Levy sehen wollte.«


Es handelte sich, wie Sie sicher erraten haben, um den ersten Chronolithen, der eine City gesprengt hatte — praktisch der erste Hinweis, dass in Südostasien weit mehr passierte als eine »Stranger-than-Science«-Episode.

Ich setzte mich neben Kaitlin, die sich gleich an meine Rippen kuschelte, derweil ich den Bericht verfolgte.

Bei ihr brach sofort die Langeweile aus. Kinder in ihrem Alter sehen nicht den Zusammenhang; eine Videosequenz ist wie die andere. Und sie sind schonungslos aufmerksam. Sie war beeindruckt, wenn auch verwirrt von den Aufnahmen, die aus einem Hubschrauber gefilmt worden waren, von den zerstörten und überfrorenen Stadtvierteln am Fluss, die in der Sonne dampften. Es standen wohl nur wenige Aufnahmen zur Verfügung und die Nachrichtensender strahlten sie immer wieder aus, unterlegt mit einem akustischen Schleier aus geschätzten Opferzahlen und bedeutungslosen »Interpretationen«. Die greifbare Atmosphäre aus Verwirrung, Angst und Skepsis, die aus den Kommentatoren sprach, legte Kaits Stirn noch ein paar Minuten länger in Falten; dann fielen ihr die Augen zu, und ihr Atmen ging in zierliche, teilnahmslose Schnarchtöne über.

Wir waren da, Kait, du und ich.

Aus der Luft erinnerte das zerstörte Bangkok an den Fehldruck einer Straßenkarte. Ich erkannte den Chao Phrya, der sich durch die Stadt krümmte, und den verwüsteten Rattanakosin-Distrikt, die alte Königsstadt, wo der Khlong Lawd[7] in den größeren Fluss mündete. Der grüne Fleck konnte der Lumphini Park sein. Doch das Straßennetz war nur mehr eine undefinierbare Wüste aus Steinen und Armierungen, Blech und Pappe und frostbedingten Asphaltverwerfungen, und alles glitzerte vor Eis und war von Nebel überwuchert. Das Eis hatte nicht verhindert, dass viele offene Gasleitungen Feuer gefangen hatten, flammende Inseln im eisigen Trümmerhaufen. Hier seien sehr, sehr viele Menschen ums Leben gekommen, unterstrichen die Kommentatoren unermüdlich. Einige der sackartigen Objekte, die auf den Straßen herumlagen, waren wohl menschliche Leichen.

Das einzige intakte Bauwerk zwischen hier und den Vororten stand genau im Zentrum der Katastrophe: der Chronolith selbst.

Er sah anders aus als der Chumphon-Chronolith. Er war höher, gewaltiger, komplizierter geformt und kunstvoller ausgestaltet. Was ich sofort wiedererkannte, war die durchscheinend blaue Oberfläche, die an Stellen zutage trat, wo der Frost abbröckelte, dieses unverkennbare, unnahbare Material.

Explosionsartig aufgetaucht war das Monument nach Einbruch der Dunkelheit, Bangkok-Zeit, versteht sich. Diese Aufnahmen waren Stunden später entstanden, ein paar noch in der chaotischen Nacht, die jüngsten am Morgen. Mit der Zeit übertrugen die Nachrichtensender mehr Luftaufnahmen. Man konnte nun den neuen Chronolithen in einer Art Puzzle sehen: Während er nämlich den Mantel aus kondensierter und gefrorener Feuchtigkeit verlor, verwandelte er sich zusehends von der scheinbar gigantischen, seltsam unförmigen, weißen Säule in das, was er tatsächlich war — eine stilisierte menschliche Gestalt.

Man fühlte sich sofort an die gigantischen Denkmäler des stalinistischen Russlands erinnert; die geflügelte Siegesgöttin von Leningrad zum Beispiel. Oder den Koloss von Rhodos, wie er breitbeinig über der Hafeneinfahrt stand. Solche Denkmäler schüchtern nicht bloß wegen ihrer enormen Größe ein, sondern weil sie so unpersönlich wirken. Das hier war nicht das Abbild, sondern die Abstraktion eines Menschen, selbst das Gesicht suggerierte eine eurasische Vollkommenheit, wie sie bei wirklichen Menschen nicht vorkam. Auf den Augenwölbungen und in den Nasenlöchern klebte noch Eisschorf. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Männlichkeit hätte die Statue jeden Menschen darstellen können. Zumindest jeden, in dem grenzenloses Selbstvertrauen und absolute Macht eine stille Allianz bildeten.

Kuin, nehme ich an, wie er wollte, dass man ihn sah.

Sein Torso verschmolz mit dem säulenförmigen Sockel. Der Fuß des Chronolithen, etwa eine Viertelmeile im Durchmesser, grätschte über den Chao Phrya. Wo er auf Wasser traf, hatten sich dünne Eisschichten gebildet, die in der Sonne abbrachen und flussabwärts trieben, Treibeis in den Tropen, das in die gekenterten Touristenboote stieß.

Um zehn rief Janice an und wollte wissen, was ich mit Kait unternommen hatte. Ich sah auf die Uhr, knirschte mit den Zähnen und entschuldigte mich. Ich erklärte ihr, wie wir den Tag verbracht hatten und wie ich mich von dem Bangkok-Chronolithen hatte ablenken lassen.

»Von dem Ding?«, sagte sie, als sei die Sache bereits Schnee von gestern. Und für Janice mochte das zutreffen: Sie hatte die Chronolithen bereits zu einer diffusen symbolischen Bedrohung verarbeitet, etwas Schreckliches, das weit weg war. Sie schien nicht glücklich, dass ich es zur Sprache gebracht hatte.

»Ich kann Kaitlin noch heute Nacht zurückfahren«, sagte ich, »oder sie bis morgen früh hierbehalten, wenn dir das lieber ist. Sie liegt auf dem Sofa und schläft.«

»Gib ihr ein Kissen und eine Decke«, sagte Janice, als wären mir solche Gedanken fremd. »Sie könnte genauso gut durchschlafen, was meinst du?«

Ich machte es noch besser: Ich trug Kaitlin ins Bett und blieb fast bis zum Morgengrauen auf dem Sofa sitzen und sah bei leise gestelltem Ton fern. Die Kommentare waren nicht zu verstehen und das war vielleicht gut so. Nur die Bilder blieben übrig, wurden eingehender, als die Nachrichtenteams tiefer in das Trümmerfeld vordrangen. Gegen Morgen war Kuins mächtiger Schädel regelrecht umwölkt; Regen begann die brennende Stadt zu löschen.


Im Sommer (dem Sommer, da Kaitlin radfahren lernte, auf dem Fahrrad, das ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte) entkernte ein dritter Chronolith die Stadt Pjöngjang und die Asiatische Krise nahm ihren Anfang.

Vier

Es verging Zeit.

Sollte ich mich für diese Auszeiten entschuldigen — hier ein Jahr, da ein Jahr? Geschichte ist schließlich nicht linear. Sie hat Untiefen und Engpässe, sumpfige Passagen und Buchten. (Und tückische Strömungen und verborgene Strudel.) Und selbst Memoiren haben Geschichte.

Ich finde aber, es hängt von den Menschen ab, für die ich schreibe, und genau das ist mir noch nicht ganz klar.

An wen richte ich mich? An meine Generation, von der so viele gestorben sind oder im Sterben liegen? Unsere Erben, die diese Ereignisse vielleicht gar nicht erlebt haben, sie aber wenigstens aus Schulbüchern erfahren können? Oder richte ich mich an eine spätere Generation von Männern und Frauen, die, so Gott will und gegen alle Wahrscheinlichkeit, ein wenig von dem vergessen dürfen, was in diesem Jahrhundert passiert ist?

Mit anderen Worten, wie viel muss ich erklären und wie eingehend?

Doch diese Frage ist müßig.

Tatsächlich gibt es hier und jetzt nur uns beide.

Mich. Und Sie. Wer immer Sie sind.


Es vergingen nahezu fünf Jahre zwischen dem Tag, da ich mit Kaitlin die Mall besucht hatte, und dem Tag, da mich Arnie Kunderson mitten aus einem Batch-Sort-Test in sein Büro rief — was vielleicht der nächste bedeutende Wendepunkt in meinem Leben war, falls Sie an lineare Kausalität glauben und daran, dass sich die Zukunft respektvoll der Vergangenheit beugt. Wenn Sie sich nicht erinnern, dann kosten Sie von diesen Jahren und machen sich ein Bild von ihnen.

Fünf Sommer — warme Sommer, in denen die Nachrichten (zwischen den Kuin-Ereignissen) vom anhaltenden Raubbau am Oglalla Aquifer beherrscht wurden. New Mexico und Texas waren praktisch nicht mehr in der Lage, ihr Land zu bewässern. Das Oglalla Aquifer, ein Grundwasserreservoir so groß wie der Huronsee und ein Relikt aus der letzten Eiszeit, war unverzichtbar für die Landwirtschaft in Nebraska, in Teilen von Wyoming und Colorado, in Kansas und Oklahoma — und der Grundwasserspiegel sank und sank dank rücksichtslos effizienter Zentrifugalpumpen. Die Nachrichtensender brachten die Landflucht in immer denselben, stereotypen Bildern: Familien in ramponierten Lkws, die auf den Highways liegengeblieben waren, die bockigen Kinder mitHeadsets, die ihnen Augen und Ohren verstellten. Schlangen von Tagelöhnern in Los Angeles und Detroit, die Kehrseite unserer blühenden Wirtschaft. Weil die meisten von uns Arbeit hatten, erlaubten wir uns den Luxus von Mitgefühl.

Fünf Winter. In diesen Jahren waren sie trocken und kalt. Die Wohlhabenden trugen zum ersten Mal Thermalkleidung und die schickeren Einkaufsviertel sahen aus wie nach einer Invasion durch Außerirdische, die im Polyester-Jogginganzug mit Gasmaske herumliefen, derweil wir in unförmigen Parkas durch die Straßen huschten oder erst gar nicht aus den Skywalks kamen.[8] Haushaltsroboter (autonome Staubsauger und Rasenmäher, intelligent genug, um keine kleinen Kinder zu verstümmeln) gehörten bald zum Alltag; der Gassiführer von Sony wurde aus dem Verkehr gezogen, nachdem die Presse ausführlich über einen Unfall berichtet hatte, an dem eine defekte Straßenbeleuchtung und ein Shi-Tzu-Pärchen beteiligt waren. In jenen Jahren hörten auch die Älteren auf, »Fernseher« zu ihren Breitwanddisplays zu sagen. Lux Ebone verkündete zweimal ihren Rückzug. Cletus King besiegte die amtierende Marylin Leahy und übergab das Weiße Haus den Föderalisten, obwohl die Demokraten nach wie vor den Kongress führten.

Phrasen, die inzwischen fast vergessen sind: »Mir das Meine.«

»Brutal aber süß!«

»Wie Tageslicht in der Schublade.«

Namen und Orte, die wir für wichtig hielten: Doctor Dan Lesser, the Wheeling Courthouse, Beckett und Goldstein, Kwame Finto.

Ereignisse: die zweite Welle von Mondlandungen; die Zairische Seuche; die europäische Währungskrise und der Sturm auf Den Haag.

Und Kuin natürlich, wie ein schwellender Paukenschlag.

Pjöngjang, dann Ho-Chi-Minh-City; schließlich Macao, Sapporo, die Kanto-Ebene, Yichang…

Und die ganze frühe Kuin-Psychose und Kuin-Faszination, jene zehntausend Webseiten mit ihren sonderbaren und widersprüchlichen Theorien, das endlose Köcheln der Mystery-Presse, die Kuin-Symposien und Kuin-Komitees, die Expertenkommissionen und die vom Kongress angestrengten Untersuchungen. Der junge Mann in Los Angeles, der seinen Namen legal in »Kuin« ändern ließ, und der ganze Rattenschwanz seiner Nachahmer.

Kuin, was immer oder wer immer das war, hatte bereits den Tod von Hunderttausenden verursacht (es wurden auch höhere Zahlen genannt). Grund genug, seinem Namen in angesehenen Kreisen Gewicht beizumessen. Aus demselben Grund erfreute er sich bei Komikern und T-Shirt-Designern großer Beliebtheit. Gewisse Schulen untersagten »Kuinistische« Darstellungen, bis die ACLU[9] intervenierte. Weil der Name für nichts Erkennbares stand, abgesehen von Zerstörung und Eroberung, wurde er zur Schiefertafel, auf der die Unzufriedenen ihre Manifeste schmierten. Nichts davon wurde schrecklich ernst genommen in Nordamerika. Woanders klang das seismische Grollen bedrohlicher.

Ich habe alles genau verfolgt.

Zwei Jahre habe ich in der Forschungsabteilung von Campion-Miller außerhalb von Saint Paul gearbeitet und sich selbst entwickelnden kommerziellen Interface-Code optimiert. Dann wurde ich in die Stadt versetzt, wo ich zu einem Team gehörte, das so ziemlich dasselbe tat, allerdings mit sehr viel sensiblerem Material, mit Campion-Millers bestgehütetem Quellcode, dem schlagenden Herzen unserer Spitzenprodukte. Die meiste Zeit kam ich mit dem Wagen zur Arbeit, nur an den schlimmsten Wintertagen fuhr ich mit der neuen Hochbahn, einem Aluminiumbehältnis mit zu vielen Pendlern, zu warm und zu feucht, zu viel Körpergeruch und Aftershave, die Stadt nur noch ein bleiches Leinen hinter dampfenden weißen Fensterscheiben.

(Auf einer solchen Fahrt fiel mir eine junge Frau auf, die ein Stück weit von mir entfernt saß und einen Hut trug, auf dem die Worte TWENTIE AND THREE standen — zwanzig Jahre und drei Monate, der konstante Abstand zwischen dem Auftauchen eines Chronolithen und dem darauf vorhergesagten Sieg. Sie las eine zerfledderte Ausgabe von »Stranger than Science«, ein Titel, der bestimmt seit sechzig Jahren vergriffen war. Ich wollte mich ihr nähern, um sie zu fragen, welchen Umständen sie diese Zutaten zu verdanken hatte, diese Echos aus meiner Vergangenheit, aber ich war wohl zu schüchtern und wie auch hätte ich die Frage formulieren sollen? Ich bin ihr nie wieder begegnet.)

Ein paarmal habe ich mich verabredet. Fast ein ganzes Jahr lang ging ich mit Annalie Kincaid aus, einer Frau aus der Qualitätskontrolle von Campion-Miller; sie liebte Türkis und das Neue Drama und nahm regen Anteil am aktuellen Geschehen. Sie schleppte mich zu Vorträgen und Lesungen, die ich sonst ignoriert hätte. Schließlich trennten sich unsere Wege, denn sie hatte tiefe und komplexe politische Überzeugungen und ich nicht; ich war ein Kuin-Beobachter, ansonsten politisch unbeleckt.

Bei einer Gelegenheit zumindest konnte ich ihr imponieren. Sie hatte bei Campion-Miller jemandes Papiere benutzt, um uns Zugang zu einer akademischen Konferenz an der Universität zu beschaffen — »The Chronoliths: Scientific and Cultural Issues«.[10] (Diesmal ebenso meine wie ihre Idee. Tatsächlich eher meine. Annalie hatte bereits gegen die Luft- und Satellitenaufnahmen von Chronolithen protestiert, die mein Schlafzimmer zierten, und gegen die ganzen Kuin-Downloads, die im Apartment herumlagen.) Wir saßen die Präsentation von drei Referaten und den größten Teil eines wunderschönen Samstagnachmittags aus, bevor Annalie entschied, der Diskurs sei ein bisschen zu abstrakt für ihren Geschmack. Doch auf dem Weg durch das Foyer wurde ich freudig von einer älteren Frau in lockeren Jeans und einem weiten erbsengrünen Pullover begrüßt, die mich durch ihre monströse Brille anstrahlte.

Sie hieß Sulamith Chopra. Ich hatte sie in Cornell kennen gelernt. Ihre Karriere hatte sie tief in die fundamentale Physik der Chronolithenforschung geführt.

Ich machte Annalie mit Sue bekannt.

Annalie war baff. »Ms. Chopra, ich kenne Sie doch. Ich meine, man hört ständig Ihren Namen in den Nachrichten.«

»Tja, man tut, was man kann.«

»Es freut mich, Sie kennen zu lernen.«

»Ganz meinerseits.« Doch Sues Augen hatten mich nicht losgelassen. »Seltsam, dir ausgerechnet hier in die Arme zu laufen, Scotty.«

»Findest du?«

»Komisch. Hat vielleicht etwas zu bedeuten. Oder auch nicht. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.«

Ich fühlte mich geschmeichelt. Ich hätte mich nur zu gerne mit ihr unterhalten. Großspurig reichte ich ihr meine Visitenkarte.

»Nicht nötig«, sagte sie. »Ich finde dich, wenn ich dich brauche, Scotty. Keine Bange.«

»Meinst du?«

Doch sie war bereits in der Menge verschwunden.

»Du hast gute Beziehungen«, sagte Annalie auf der Heimfahrt.

Aber das stimmte nicht. (Sue rief nicht an — nicht in diesem Jahr — und meine Anstrengungen, sie zu erreichen, liefen ins Leere.) Ja, ich hatte Beziehungen, keine guten, aber auch keine x-beliebigen. Sue Chopra in die Arme zu laufen, war ein Omen, so wie diese Frau in der Hochbahn; doch die Bedeutung war mir ein Rätsel, eine Prophezeiung in einer nicht zu entziffernden Sprache, ein Signal versteckt im Rauschen.


In Arnie Kundersons Büro gerufen zu werden, bedeutete nichts Gutes. Er war mein Vorgesetzter, seit ich bei Campion-Miller war, und ich wusste: Gab es gute Nachrichten, brachte er sie. Musste man zu ihm, musste man mit dem Schlimmsten rechnen.

Ich hatte ihn wütend erlebt, vor kurzem, als das Team, das ich leitete, ein Order-sort-and-mail-Protokoll versiebt hatte, was uns beinahe den Vertrag mit einer landesweiten Einzelhandelskette gekostet hätte. Aber als ich an diesem Tag sein Büro betrat, wusste ich, dass es sich um etwas noch Ernsteres handelte. Wenn Arnie wütend war, dann kochte er, lief rot an. Heute saß er hinter seinem Schreibtisch mit der Miene eines Mannes, der eine scheußliche, aber unumgängliche Pflicht zu erfüllen hat — der Miene eines, sagen wir, Bestattungsunternehmers. Er vermied jeden Blickkontakt.

Ich zog mir einen Sessel heran und wartete. Wir gingen ganz normal miteinander um. Jeder war zum Grillen beim anderen gewesen.

Er faltete die Hände und sagte: »Es gibt Dinge, die kann man noch so schön verpacken. Was ich sagen will, Scott: Campion-Miller wird Ihren Vertrag nicht erneuern. Er wird aufgelöst. Das ist die offizelle Kündigung. Ich weiß, das kommt ohne jede Vorwarnung, und es tut mir weiß Gott furchtbar Leid, Ihnen das sagen zu müssen. Sie bekommen natürlich die volle Abfindung und großzügige Ausgleichszahlungen für die restlichen sechs Monate.«

Ich war scheinbar nicht so bestürzt, wie Arnie erwartet hatte. Der wirtschaftliche Zusammenbruch in Asien hatte große Teile der Auslandsmärkte wegbrechen lassen. Noch im letzten Jahr war die Firma von einem multinationalen Konzern aufgekauft worden, dessen Management ein Viertel der Belegschaft entlassen und die meisten Tochtergesellschaften von CM zum Bodenwert veräußert hatte.

Ich fühlte mich ein bisschen wie jemand, der in einen Hinterhalt geraten ist.

Die Arbeitslosigkeit war hoch in diesem Jahr. Die Oglalla-Krise und der Zusammenbruch der asiatischen Wirtschaft hatten eine Menge Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Fünf Häuserblocks weiter, gleich hier am Fluss, gab es eine Zeltstadt. Ich sah mich schon da hausen.

Ich sagte: »Setzen Sie das Team in Kenntnis oder soll ich das übernehmen?«

Mein Team arbeitete an Software, die Marktprognosen erlaubte, eine von CMs lukrativeren Produktlinien. Es ging insbesondere darum, in Applikationen, die Verbraucherverhalten und Preisentwicklung modellierten, echte statt empfundener Zufälligkeit zu implementieren.

Sagt man einem Computer, er soll zwei beliebige Zahlen zwischen eins und zehn nennen, dann wird er Zahlen in einer echten Zufallssequenz ausgeben — vielleicht 2 und 3; vielleicht 1 und 9 und so weiter. Bittet man eine Reihe Menschen dasselbe zu tun und notiert ihre Antworten, dann erhält man eine Verteilung, die deutlich 3 und 7 favorisiert.

Wenn Menschen das Wort Zufall hören, denken sie an »unauffällige« Zahlen — nicht zu dicht an den Grenzen und auch nicht genau in der Mitte; sie dürfen auch nicht Teil einer unterstellten Sequenz sein (2,4,6)…

Mit anderen Worten, es gibt etwas, das man intuitive Zufälligkeit nennen könnte, und die unterscheidet sich beträchtlich von der richtigen.

War es denkbar, diesen Unterschied zu unserem Vorteil auszunutzen? In umfangreichen kommerziellen Anwendungen, bei denen es zum Beispiel um Wertpapierbestände oder Marketing oder Produktpreisplatzierung ging?

Wir gingen davon aus, dass wir ein kleines Stück vorangekommen waren. Die Arbeit war so gut gediehen, dass Arnies Nachricht (gelinde gesagt) wie ein Aberwitz wirkte.

Er räusperte sich. »Wir missverstehen uns. Das Team bleibt.«

»Wie bitte?«

»Es ist nicht meine Entscheidung, Scott.«

»Das sagten Sie bereits. Okay, es ist nicht Ihre Schuld. Aber wenn das Projekt weiterläuft…«

»Verlangen Sie keine Rechtfertigung von mir. Ich habe keine.«

Er ließ die letzten drei Worte regelrecht abtropfen.

»Fünf Jahre«, sagte ich. »Scheiße, Arnie. Fünf Jahre!«

»Es gibt keine Garantien. Nicht mehr. Sie wissen das so gut wie ich.«

»Es würde mir helfen, wenn ich wüsste, warum so entschieden wurde.«

Er wand sich in seinem Sessel. »Ich bin nicht befugt, darüber zu reden. Ihre Arbeit war ausgezeichnet, und ich werde das zu Papier bringen, wenn Sie wollen.«

»Soll das heißen, ich habe mir Feinde im Management gemacht?«

Er nickte kaum merklich. »Die Arbeit, die wir hier machen, ist ziemlich sensibel. Man ist nervös. Ich weiß nicht genau, ob Sie sich Feinde gemacht haben. Vielleicht haben Sie die falschen Freunde.«


Aber das war unwahrscheinlich. Ich hatte nicht sehr viele.

Leute, mit denen man mittags am Tisch saß oder sich ein Spiel der Twins ansah, sicher. Aber niemanden, den ich ins Vertrauen zog. Irgendwie war ich infolge einer schleichenden emotionalen Erosion einer von den Jungs geworden, die hart arbeiten und liebenswürdig lächeln und zu Hause den Abend mit ein paar Dosen Bier vor dem Breitwanddisplay verbringen.

Was ich übrigens auch an dem Tag tat, da Arnie Kunderson mich gefeuert hatte.

Das Apartment hatte sich nicht wesentlich geändert, seit ich es bezogen hatte. (Abgesehen von der Trennwand zum Schlafzimmer, die ich als eine Art Anschlagbrett benutzte. Nachrichtenausdrucke, Fotos der Chronolithen und ein Fülle eigenhändiger Notizen zu dem Thema.) Was es hier an Verbesserungen gab, war hauptsächlich Kaitlin zu verdanken. Kait war jetzt zehn und kritisierte vernichtend meinen Geschmack. Vermutlich kam sie sich dabei erwachsen vor. Ich hatte das Sofa ausgemustert, weil ich es leid war zu hören, wie »unzeitgemäß« so ein Möbel sei — Kaits bevorzugte Spottvokabel.

Wie dem auch sei, das alte Sofa war fort; statt seiner stand jetzt eine in gedämpftem Blau gepolsterte Sitzbank da, die fabelhaft aussah, bis man versuchte, es sich darauf bequem zu machen.

Ich überlegte, ob ich Janice anrufen sollte, entschied mich aber dagegen. Janice schätzte keine spontanen Anrufe. Sie zog es vor, von mir nach einem regelmäßigen und vorhersehbaren Zeitplan zu hören. Und was Kaitlin anging… besser man störte sie auch nicht. Und falls ich es doch tat, würde sie mir bestimmt wieder einen Vortrag halten, was sie heute alles mit ihrem Stiefvater unternommen hatte. Whit, wie sie ihn nannte und nennen sollte, war nach Kaits Ansicht ein toller Bursche. Whit brachte sie zum Lachen. Vielleicht sollte ich ja mit Whit reden. Vielleicht brachte er mich auch zum Lachen.

Also tat ich an diesem Abend überhaupt nichts, außer ein paar Dosen Bier in Reichweite zu deponieren und durch die Satelliten zu surfen.

Selbst die billigen Server brachten eine Reihe von Beiträgen aus Wissenschaft und Natur. Ein Beitrag zeigte aktuelles Material aus Thailand, von einer wirklich gefährlichen Expedition den Chao Phrya hinauf zu den Ruinen von Bangkok, gesponsert von der National Geographie Society und einem halben Dutzend Unternehmen, deren Logos im Vorspann gebührend zur Geltung kamen.

Ich drehte den Ton ab, ließ die Bilder für sich sprechen.

In den Jahren nach 2021 war von Bangkoks Stadtkern nur wenig wieder aufgebaut worden. Niemand wollte zu nahe am Chronolithen wohnen oder arbeiten — Gerüchte über eine »gesundheitsgefährdende Nähe« schreckten die Leute ab, obwohl die offiziellen klinischen Befunde nichts von einer derartigen Diagnose wussten. Banditen und Rebellenmilizen waren allerdings ziemlich real und allgegenwärtig. Trotz allem herrschte am Fluss ein lebhafter Handel, selbst im Schatten Kuins.

Die Kamera flog in mehreren Sequenzen über die Stadt. Primitive, schräge Rampen, die den Zugang zu roh gezimmerten Lagerhäusern erlaubten; ein Marktplatz; Bestände an frischem Obst und Gemüse; Ordnung, die in den Trümmern um sich griff; geräumte Straßen, die für den Handel offen waren. Aus dieser Höhe hatte man den Eindruck, Zeuge menschlicher Beharrlichkeit im Angesicht der Katastrophe zu werden. Aus Augenhöhe sah das nicht so ermutigend aus.

Während sich die Expedition dem Stadtzentrum näherte, war der Chronolith in jeder Einstellung präsent: Aus der Ferne beherrschte er den braunen Fluss, aus der Nähe ragte er in den tropischen Mittag.

Das Monument war auffallend sauber. Selbst Vögel und Insekten mieden es. Staub hatte sich in den wenigen windgeschützten Spalten des Gesichts gesammelt, ließ den geistesabwesenden Blick von Kuin eine Spur weicher scheinen. Aber selbst in diesem geschützten Nährboden wuchs nichts; das Monument war absolut steril. Wo es an einem Flussufer aufsaß, hatten ein paar Kletterpflanzen versucht, den riesigen achtkantigen Sockel zu erklimmen; doch die spiegelglatte Oberfläche bot keinerlei Halt, war abweisend.

Die Expedition ging in Flussmitte vor Anker und man stieg ans Ufer, um noch mehr Bildmaterial zu sammeln. In einer solchen Sequenz fegte ein Unwetter über die uralte City. Sturzbäche kamen den Chronolithen herunter, kleine Wasserfälle wühlten Schlammwolken vom Grund des Flusses auf. Die dockseitigen Händler deckten ihre Stände mit Planen und Kunststofffolien ab und suchten Schutz darunter.

Harter Schnitt zu einem wilden Affen auf einer zusammengebrochenen Exxon-Reklametafel, der den Himmel anblaffte.

Die Wolken rings um den vorspringenden Teil von Kuins Riesenschädel rissen auseinander.

Nahe am grünen Horizont brach die Sonne hervor, der Schatten des Chronolithen fiel wie der Zeiger einer gigantischen, trostlosen Sonnenuhr über die Stadt.

Es kam noch mehr, aber nichts Aufschlussreiches. Ich schaltete ab und ging schlafen.


Wir im Westen hatten uns inzwischen auf bestimmte Begriffe geeinigt, um die Chronolithen zu beschreiben. Sie tauchten auf oder kamen an… obgleich manche das Verb aufsetzen vorzogen, als handle es sich um eine Art landenden Senkrechtstarter. Der jüngste Chronolith war vor mehr als achtzehn Monaten aufgetaucht (angekommen, gelandet) und hatte das Hafenviertel von Macao eingeebnet. Nur ein halbes Jahr zuvor hatte ein ähnliches Monument Taipeh zerstört.

Beide Denkmäler »erinnerten« wie üblich an militärische Siege, die ungefähr zwanzig Jahre in der Zukunft stattfanden. Dreiundzwanzig: mitnichten eine menschliche Lebensspanne, aber lange genug für Kuin (so er existierte, so er mehr war als nur ein gesponnenes Symbol oder eine Abstraktion), um eine Streitmacht für seine mutmaßlichen Eroberungen in Asien aufzustellen. Lange genug für ein junges Mädchen, um eine junge Frau zu werden.

Aber über ein Jahr lang war nirgends auf der Welt ein Chronolith angekommen und manche von uns hatten sich glauben gemacht, die Krise sei, wenn schon nicht richtig vorüber, so doch lediglich eine asiatische — geographisch begrenzt, durch die Meere in Schranken gehalten.

Unsere öffentlichen Auslassungen waren freimütig und distanziert. Ein Großteil Südchinas stagnierte in einem politischen und militärischen Chaos, war ein Niemandsland, in dem Kuin womöglich schon dabei war, Gefolgsleute um sich zu scharen. Und ein Leitartikel in der Zeitung vom Vortag hatte gefragt, ob sich Kuin nicht auf lange Sicht als positive Kraft herausstellen könnte: Nun sei ein Kuin-Imperium wohl kaum eine wohlwollende Diktatur, doch es könne durchaus wieder Berechenbarkeit in eine bedrohlich instabile Region bringen. Was noch von der ramponierten Beijing-Bürokratie übrig war, hatte bereits versucht, den sogenannten Kuin von Yichang aus dem letzten Jahr mit einer taktischen Nuklearwaffe zu zerstören und war kläglich damit gescheitert. Ergebnis war ein Dammbruch und eine Flut gewesen, die radioaktiven Schlamm bis ins Ostchinesische Meer gespült hatte. Und wenn ein verstümmeltes Beijing zu so etwas fähig war, wie sollte man da ein Kuin-Regime fürchten?

Ich hatte dazu keine Meinung. Wir alle waren Ignoranten damals, auch die Interessierten, die die Chronolithen analysierten (nach Datum, Größe, Eroberung und dergleichen), damit wir so tun konnten, als verstünden wir sie. Ich habe da nie mitgemacht. Seit es mit meiner Ehe bergab gegangen war, hatten die Chronolithen mein Leben überschattet. Sie standen geradezu für alle unheilvollen und unberechenbaren Mächte der Welt. Es gab Zeiten, da sie mir tiefe Angst einjagten. Und ich habe diese Angst auch zugelassen — ganz oft.

Ist das eine fixe Idee? Annalie war der Meinung.

Ich versuchte Schlaf zu finden. Schlaf, der des Grams verworrn Gespinst entwirrt…[11] Schlaf, der die Pause zwischen Mitternacht und Tagesanbruch unschädlich machte.

Nicht einmal das war mir vergönnt. Eine Stunde vor Sonnenaufgang schnurrte das Handy. Ich hätte warten sollen, bis sich der Server einschaltete. Stattdessen grapschte ich nach dem Ding und schnippte es auf, besorgt — wie stets, wenn spät nachts jemand anrief —, es könnte Kait etwas zugestoßen sein. »Hallo?«

»Scott«, sagte eine raue männliche Stimme. »Scotty.«

Einen paranoiden Moment lang kam mir Hitch Paley auf seiner Maschine entgegen, ein stocksaures Gespenst aus der Vergangenheit. Ich hatte seit 2021 nichts mehr von ihm gehört.

Aber es war nicht Hitch.

Es war ein anderes Gespenst.

Ich lauschte dem röchelnden Atem, dem Kommen und Gehen der Nachtluft in einer welken Lunge. »Dad?«

»Scotty…«, sagte er, als komme er nicht über den Namen hinaus.

»Dad, hast du getrunken?« Ich war so taktvoll, das Wörtchen »wieder« wegzulassen.

»Nein«, sagte er verärgert. »Nein, ich… ähm, scheiß was drauf. So behandelt man… behandelt man… na ja, du weißt schon… Scheiße

Dann war er fort.

Ich wälzte mich aus dem Bett.

Ich sah zu, wie im Osten die Sonne über den landwirtschaftlichen Genossenschaften aufging, unseren großen selbstständigen Farmkollektiven, unserem Bollwerk gegen den Hunger. Schnee lag wie Puderzucker auf den Feldern, weiß glitzernd zwischen den leeren Saatfurchen.


Später fuhr ich zu Annalies Wohnung, klopfte an die Tür.

Wir hatten uns seit einem Jahr nicht mehr verabredet, gingen aber, wenn wir uns in der Kantine oder in der Cafeteria trafen, immer noch sehr nett miteinander um. Sie hegte zu jener Zeit entfernt mütterliche Gefühle für mich — erkundigte sich eingehend nach meiner Gesundheit, als erwarte sie, dass früher oder später etwas ganz Schlimmes passieren würde (vielleicht war es längst passiert, obwohl ich nach wie vor die Gesundheit eines Pferdes hatte).

Doch als sie die Tür aufmachte und mich dastehen sah, war sie verblüfft. Verblüfft und unverkennbar erschrocken.

Sie wusste, dass man mich entlassen hatte! Vielleicht wusste sie noch mehr.

Weshalb ich sie aufgesucht hatte: wegen der vagen Möglichkeit, Licht in meine Angelegenheit zu bringen.

»Scotty«, sagte sie, »he, du hättest erst anrufen sollen.«

»Du hast zu tun?« Sie sah nicht danach aus. Sie trug einen lockeren Hosenrock und ein verschossenes gelbes Hemd. Vielleicht war sie gerade dabei, die Küche aufzuräumen.

»In ein paar Minuten geh ich aus. Ich würde dich ja hereinbitten, aber ich muss mich noch umziehen und… Was führt dich her?«

Sie hatte, wie ich feststellte, tatsächlich Angst vor mir — oder davor, mit mir gesehen zu werden.

»Scott?« Sie sah den Flur hinauf und hinunter. »Hast du Probleme?«

»Warum soll ich Probleme haben, Annalie?«

»Naja — ich habe gehört, man hat dir gekündigt.«

»Seit wann?«

»Ich verstehe nicht.«

»Seit wann du weißt, dass ich entlassen werden sollte?«

»Du meinst, ob alle Bescheid wussten? Nein, Scott. Mein Gott, das war ja demütigend. Nein, man hört Gerüchte…«

»Was für Gerüchte?«

Sie schob steile Fältchen zwischen die Brauen und nagte an der Unterlippe. Das war neu an ihr. »Das, woran Campion-Miller arbeitet, verträgt keinen Ärger mit der Regierung.«

»Was, zum Teufel, hat das mit mir zu tun?«

»Schrei nicht so!«

»Annalie — Ärger mit der Regierung

»Ein paar Leute sollen sich nach dir erkundigt haben. Regierungsleute oder so.«

»Polizei?«

»Hast du Ärger mit der Polizei? Nein, Leute in Zivil. Vielleicht vom Finanzamt, ich weiß nicht.«

»Das ergibt keinen Sinn.«

»Das wird geredet, Scott. Das kann alles Quatsch sein. Ich hab keine Ahnung, warum man dich gefeuert hat. Es ist nur, dass CM — dass man auf die ganzen Genehmigungen angewiesen ist. Das ganze technische Zeug für Übersee. Wenn jemand kommt und Erkundigungen über dich einzieht, sind eben alle betroffen.«

»Annalie, ich bin kein Sicherheitsrisiko.«

»Weiß ich, Scott.« Das wusste sie eben nicht. Sie mied meine Augen. »Ehrlich, ich bin mir sicher, dass alles nur Quatsch ist. Aber jetzt muss ich mich wirklich umziehen.« Sie begann die Tür zentimeterweise zu schließen. »Das nächste Mal ruf um Himmels willen an!«

Sie wohnte im zweiten Stock eines kleinen dreistöckigen Backsteingebäudes in der Altstadt von Edina. Apartment 203. Ich starrte auf die Zahl an der Tür. Zwanzig und Drei.

Ich habe Annalie Kincaid nie wiedergesehen. Gelegentlich frage ich mich, was sie wohl für ein Leben führt. Wie es ihr erging in den langen schweren Jahren.


Ich ließ Janice nicht wissen, dass ich arbeitslos war. Nicht, dass ich noch immer versucht hätte, ihr etwas zu beweisen. Mir selbst schon eher. Und Kaitlin ganz sicher.

Nicht, dass Kait sich geschert hätte, wie ich meine Brötchen verdiene. Mit zehn nahm sie die Angelegenheiten der Erwachsenen als undurchsichtig und uninteressant wahr. Sie wusste nur, dass ich »zur Arbeit« ging und genug verdiente, um ein angesehenes, wenn nicht wohlhabendes Mitglied der Erwachsenenwelt zu sein. Und das war gut so. Es gefiel mir, mich gelegentlich mit Kaits Augen zu sehen: Gefestigt. Berechenbar. Langweilig sogar.

Aber nicht enttäuschend.

Und bestimmt nicht gefährlich.

Ich wollte nicht, dass Kait — oder Janice oder gar Whit — erfuhren, dass man mich gefeuert hatte… zumindest nicht gleich, nicht bevor ich etwas hatte, das ich der Geschichte hinzufügen konnte. Wenn schon kein Happy-End, so doch ein zweites Kapitel, eine Antwort auf die Frage: Was nun?

Sie kam in Form eines weiteren unerwarteten Anrufs.

Kein Happy-End, nein. Überhaupt kein Ende. Und ganz gewiss kein glückliches.


Janice und Whit luden mich zum Dinner ein. Sie taten dies vierteljährlich, so wie man sich an einem Versorgungsplan beteiligt oder eine ehrenwerte karitative Einrichtung unterstützt.

Janice war keine alleinerziehende Mutter mehr und sie musste auch nicht mehr zur Miete wohnen. Indem sie Whitman Delahunt geheiratet hatte, ihren Vorgesetzten aus dem Biochemielabor, hatte sie diese Stigmata abgestreift. Whit war ein ambitionierter Bursche mit ernst zu nehmenden Führungsqualitäten. Als den Westmärkten im Zuge der Asienkrise die biochemischen Billigimporte aus China und Taiwan abhanden kamen, hatte Clarion Pharma naturgemäß prosperieren können. (Whit redete manchmal von den Chronolithen als »Gottes kleinem Schutzzoll«, was Janice ein nervöses Lächeln entlockte). Ich glaube nicht, dass Whit mich besonders mochte, aber er akzeptierte mich als eine Art Hinterwäldler, den ein leidiger Unfall zum Vater von Kaitlin gemacht hatte.

Ich muss fairerweise sagen, dass er sich — zumindest an diesem Abend — redlich bemühte, nett zu sein. Er machte die Tür seines zweistöckigen Eigenheims auf, stand in einer Aura aus goldenem Licht und grinste. Whit war einer von diesen rundlichen Softies mit der Figur und der Behaarung eines Teddybären. Nicht stattlich, aber das, was Frauen »süß« nennen. Er war zehn Jahre älter als Janice, bekam eine Glatze und stand dazu. Sein Grinsen war so breit, dass es bereits unglaubwürdig wirkte, und seine Zähne waren strahlend weiß. Whit hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den besten Zahnarzt, den besten Kardiologen und den besten Wagen vom ganzen Block. Ob es für Janice und Kaitlin eine Strapaze war, die beste Frau und die beste Tochter zu sein?

»Hereinspaziert, Scott«, rief er. »Zieh die Stiefel aus und wärm dich am Kamin.«

Wir speisten im geräumigen Esszimmer, wo Bleiglasscheiben vom Feinsten an ihren Rahmen rüttelten. Kait plauderte ein bisschen über die Schule. (Sie hatte dieses Jahr Probleme, vor allem in Mathe). Whit erzählte mit weitaus größerem Enthusiasmus von seiner Arbeit. Janice fuhr nach wie vor ziemlich monotone Proteinsynthesen bei Clarion und verlor kein Wort darüber. Es schien ihr nichts auszumachen, dass Whit das große Wort führte.

Kait entschuldigte sich und stürmte ins angrenzende Zimmer, wo der Fernseher schon die ganze Zeit mit dem Wind um die Wette murmelte. Whit holte eine Karaffe mit Brandy. Er servierte die Drinks etwa so linkisch wie ein Westmensch, der eine japanische Teezeremonie zelebrieren möchte. Whit trank nicht eben viel.

Er sagte: »Ich fürchte, ich habe die ganze Zeit geredet. Wie steht es mit dir, Scott? Wie geht es dir?«

»Fortune presents gifts not according to the book.«[12]

»Scotty rezitiert mal wieder«, lachte Janice.

»Was ich meine, ist: Man hat mir einen Job angeboten.«

»Du willst bei Campion-Miller aufhören?«

»Es ist jetzt zwei Wochen her, dass sich unsere Wege getrennt haben.«

»Oh! Mutige Entscheidung, Scott.«

»Danke, Whit, aber danach sah es erst mal nicht aus.«

Janice schien besser zu verstehen, worum es ging. »Und bei wem bist du jetzt?«

»Na ja, es ist noch nicht spruchreif, aber — erinnerst du dich an Sue Chopra?«

Janice runzelte die Stirn. Dann weiteten sich ihre Augen. »Ja! Cornell, richtig? Die Junior-Professorin, die diese spinnerte Einführungsvorlesung gehalten hat.«

Janice und ich waren uns an der Universität begegnet. Als ich sie das erste Mal sah, spazierte sie durchs Chemielabor mit einer Flasche Lithium-Aluminiumhydroxid in der Hand. Hätte sie die Flasche fallen lassen, hätte sie uns damit umbringen können. Erste Regel einer stabilen Beziehung: Lass die verdammte Flasche nicht fallen.

Es war Janice, die mich mit Sulamith Chopra bekannt gemacht hatte, einer lächerlich großen und klotzigen Promovierten, die dabei war, sich im Fachbereich Physik zu profilieren. Man hatte Sue (wahrscheinlich als Strafe für irgendeine akademische Indiskretion) ein fachbereichsübergreifendes Seminar für Zweit- und Drittsemestier aufgehalst, das Anglistikstudenten als naturwissenschaftliche und Studenten der Naturwissenschaft als anglistische Veranstaltung angerechnet wurde. Weshalb sie spornstreichs ein Curriculum schrieb, das so einschüchternd war, dass es alle abschreckte, bis auf ein paar naive Kunstapostel und versponnene Computerfreaks. Und mich. Die erfreuliche Überraschung war, dass Sue keinerlei Interesse hatte, jemanden durchfallen zu lassen. Sie hatte die Seminarbeschreibung so verfasst, dass die Parvenüs außen vor blieben. Mit dem Rest von uns wollte sie einfach nur eine interessante Unterhaltung führen.

Also wurde aus Metaphor and Reality-Modeling in Literature and the Physical Science[13] ein allwöchentlicher Salon und alles, was wir für ein »befriedigend« tun mussten, war zu zeigen, dass wir ihre Papiere gelesen hatten, und zu vermeiden, sie mit unseren Einlassungen zu langweilen. Gewonnen hatte man, wenn man sie nach ihren bevorzugten Forschungsobjekten fragte (die Calabi-Yau-Geometrie zum Beispiel oder den Unterschied zwischen prä- und kontextuellen Einflüssen); dann konnte sie zwanzig Minuten am Stück reden und benotete uns nach der Glaubwürdigkeit, mit der wir unsere gespannte Aufmerksamkeit zur Schau trugen.

Aber mit Sue konnte man auch lachen und sich zu abstrusem Unsinn versteigen, so dass ihre Stunden meist ausufernde und zwanglose Diskurse waren. Und gegen Ende des Semesters hatte ich aufgehört, in ihr den sechs Fuß vier Zoll großen, glupschäugigen und unmöglich gekleideten Kauz zu sehen und angefangen, sie als die lustige, vor Intelligenz sprühende Frau wahrzunehmen, die sie war.

Ich sagte: »Sue Chopra hat mir eine Stelle angeboten.«

Janice wandte sich an Whit und sagte: »Eine von den Cornell-Profs. Stand sie nicht kürzlich in der Zeitung?«

Schon möglich, aber das kam mir jetzt ungelegen. »Sie gehört zu einem mit Bundesmitteln finanzierten Forschungsprojekt. Sie hat genug Einfluss, um eine Hilfskraft einzustellen.«

»Sie hat sich mit dir in Verbindung gesetzt?«

Whit sagte: »Das klingt aber jetzt gar nicht nett.«

»Schon gut, Whit. Janice will sagen: Was kann eine Powerfrau wie Sulamith Chopra schon mit einem kleinen Programmierer wie mir anfangen? Die Frage ist berechtigt.«

Janice sagte: »Und die Antwort…?«

»Vermutlich braucht man noch so einen kleinen Programmierer.«

»Du hast ihr gesagt, du suchst Arbeit?«

»Naja, du weißt schon. Wir halten Kontakt.«

(Ich finde dich, wenn ich dich brauche, Scotty. Keine Bange.)

»Ah-ah«, machte Janice, womit sie mir zu verstehen gab, dass sie mir nicht glaubte. Aber sie hakte nicht nach.

»Prima, Scott«, sagte Whit. »Harte Zeiten, um ohne Arbeit zu sein. Wirklich prima.«

Damit war die Sache ausgestanden, aber nur bis nach dem Essen. Whit hatte sich entschuldigt und Janice wartete, bis er außer Hörweite war. »Du hast doch noch etwas auf dem Herzen.«

Etliches, doch erst mal das: »Der Job ist in Baltimore.«

»Baltimore?«

»Baltimore, Maryland.«

»Du meinst, du ziehst an den Atlantik?«

»Wenn ich den Job kriege. Wie gesagt, das ist noch nicht raus.«

»Du hast doch Kaitlin nichts gesagt.«

»Nein, hab ich nicht. Ich wollte erst mit dir darüber reden.«

»Ahaahh. Tja, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich meine, das kommt wirklich plötzlich. Die Frage ist, wie Kait reagiert. Schwer zu sagen. Nichts für ungut, aber in letzter Zeit redet sie nicht mehr so viel von dir.«

»Ich verschwinde doch nicht aus ihrem Leben. Wir können uns sehen.«

»Besuche ersetzen nicht den Vater, Scott. Ein Onkel kommt auf Besuch. Aber ich weiß nicht. Vielleicht ist es besser so. Sie und Whit kommen ganz gut miteinander aus.«

»Auch wenn ich nicht in der Stadt bin, bin ich immer noch ihr Vater.«

»Soweit du es immer warst, ja, das stimmt.«

»Das klingt, als wärst du böse.«

»Bin ich nicht. Ich frage mich nur, ob das kein Fehler ist.«


Dann kam Whit die Treppe herunter, und wir plauderten noch eine Zeit lang. Doch der Wind wurde lauter, harter Schnee tickte an die Fensterscheiben, und Janice äußerte sich besorgt über den Zustand der Straßen. Also verabschiedete ich mich von Whit und Janice und wartete an der Tür auf Kait.

Sie kam in die Diele. Statt mich wie sonst zum Abschied zu drücken, hielt sie ein paar Schritte Abstand. Ihre Augen blitzten und ihre Unterlippe zitterte.

»Kaity-Täubchen?«, sagte ich.

»Bitte nenn mich nicht so. Ich bin kein Baby.«

Dann kam ich dahinter. »Du hast gelauscht.«

Ihr Handycap hinderte sie nicht am Lauschen. Im Gegenteil, es hatte sie nur noch neugieriger und verstohlener gemacht.

»He«, sagte sie, »macht doch nichts. Du ziehst weg. Na und?«

Von allen Entgegnungen, auf die ich hätte kommen können, suchte ich mir diese aus: »Du solltest keine fremden Unterhaltungen belauschen, Kaitlin.«

»Sag mir nicht, was ich tun soll«, sagte sie, machte kehrt und rannte auf ihr Zimmer.

Fünf

Einen Tag, bevor ich nach Baltimore zu einer Unterredung mit Sue Chopra fahren sollte, rief Janice an. Ich war überrascht, sie am Telefon zu hören — außerhalb der verabredeten Zeiten rief sie selten an.

»Nichts Schlimmes«, beeilte Janice sich zu sagen. »Ich wollte dir nur viel Glück wünschen, du weißt schon.«

Das Glück, das mich fern halten sollte? Aber das war kleinkariert. »Danke«, sagte ich.

»Ich meine es ernst. Ich habe nachgedacht. Und ich will, dass du es weißt — ja, Kaitlin tut sich ziemlich schwer damit. Aber sie wird sich beruhigen. Wenn du ihr egal wärst, würde sie nicht so reagieren.«

»Danke, dass du mir das sagst.«

»Da ist noch etwas.« Sie zögerte. »Ähm… Scott, wir haben so ziemlich alles falsch gemacht, stimmt's. Die Zeit in Thailand. Es war einfach zu verrückt. Zu fremd alles.«

»Ich habe dich um Verzeihung gebeten.«

»Ich rufe nicht an, damit du dich entschuldigst. Hörst du mir überhaupt zu? Vielleicht war es zum Teil auch meine Schuld.«

»Lass uns nicht richten, wer wie viel Schuld hat, Janice. Aber ich bin froh, dass du es so siehst.«

Ich musterte unwillkürlich das Apartment. Es sah schon verlassen aus. Die Fenster unter den abgenutzten Rouleaus waren weiß vom Schnee.

»Du hast dir wirklich Mühe gegeben, es wieder gut zu machen. Nicht an mir. Ich bin ja außen vor. Aber an Kaitlin.«

Ich schwieg.

»Die ganze Zeit, die du bei Campion-Miller warst… Weißt du, ich war besorgt, als du damals von Thailand zurückkamst. Ich wusste nicht, ob du mich belagern würdest, um mich zu schikanieren; ob es für Kaitlin gut war, dich überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Aber ich muss zugeben, was immer ein geschiedener Vater drauf haben muss, du hast das Zeug dazu. Du hast Kait durch dieses ganze Trauma gebracht wie jemand, der durch ein Minenfeld vorangeht und das ganze Risiko auf sich nimmt.«

So vertraulich hatten wir seit Jahren nicht mehr geredet, und ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte.

Sie fuhr fort: »Es war, als wolltest du dir etwas beweisen, beweisen, dass du fähig warst, anständig zu handeln, Verantwortung zu übernehmen.«

»Nicht beweisen«, sagte ich. »Tun.«

»Tun, ja, aber auch um dich zu bestrafen. Dich zur Rechenschaft zu ziehen. Was dazugehört, wenn man Verantwortung übernimmt. Aber ab einem bestimmten Punkt, Scott, wird so ein Verhalten zum Problem. Nur Mönche kasteien sich von früh bis spät.«

»Ich bin kein Mönch, Janice.«

»Dann handle danach. Wenn du in diesem Job eine Chance siehst, Scott, dann greif zu! Kait wird nicht aufhören, dich zu lieben, nur weil ihr euch nicht mehr jede Woche seht. Jetzt ist sie fertig mit der Welt, aber sie wird Verständnis aufbringen, glaub mir.«

Das war eine lange Rede. Die bislang aufrichtigste Absolution und Anerkennung dafür, dass ich bereute, so viel Unglück über uns gebracht zu haben.

Und das tat gut. Das war großherzig. Aber so hörte sich auch eine Tür an, die zuschlug. Janice gab mir die Erlaubnis, mich nach einem besseren Leben umzusehen, weil auch die leiseste Hoffnung, es könnte noch einmal so werden wie früher, nichts weiter als eine Fata Morgana war.

Sicher, das wussten wir. Doch was der Kopf zugibt, will das Herz nicht immer wahrhaben.

»Ich muss jetzt Tschüss sagen, Scotty.«

Ihre Stimme hatte einen kleinen Aussetzer. Fast ein Schluckauf.

»Okay, Janice. Alles Gute auch für Whit.«

»Ruf an, wenn du eine Stelle hast.«

»Mach ich.«

»Kait muss weiter von dir hören, egal wie sie darüber denkt. In solchen Zeiten, du weißt schon, die Welt ist, wie sie ist…«

»Ich verstehe.«

»Und sei vorsichtig auf dem Weg zum Flughafen. Die Straßen sind noch glatt vom letzten Schnee.«


In der Flughafenhalle von Baltimore hielt ich nach einem Fahrer Ausschau, der ein Pappschild hielt, auf dem mein Name stand, doch es war Sulamith Chopra höchstpersönlich, die mich abholte.

Es gab keinen Zweifel, auch nach all den Jahren nicht. Sie überragte alle. Selbst ihr Kopf war länglich, eine rundliche braune Erdnuss mit schwarzen Fransen obendrauf. Sie trug ballonförmige Khakihosen und eine Bluse, die vielleicht früher einmal weiß gewesen und dann ein paarmal mit nicht farbechten Sachen in die Waschmaschine gewandert war. Sie sah derart nach einem Heilsarmeeladen aus, dass ich mich fragte, ob sie wirklich in der Position war, irgendjemand einen Job anzubieten, aber dann dachte ich, Welt der Akademiker und Wissenschaft.

Sie grinste. Ich grinste, nicht ganz so energisch.

Ich streckte die Hand aus, doch Sue wollte nichts davon wissen; sie schnappte mich, umarmte mich ungestüm und gab mich eine Zehntelsekunde, bevor es wehtun konnte, wieder frei. »Der alte Scotty«, sagte sie.

»Die alte Sue«, brachte ich heraus.

»Ich bin mit dem Wagen hier. Hast du schon zu Mittag gegessen?«

»Nicht mal gefrühstückt.«

»Dann bist du eingeladen.«

Vor zwei Wochen hatte mich ihr Anruf aus einem traumlosen Nachmittagsschlaf geweckt. Ihre ersten Worte waren: »Hallo, Scotty. Ich höre, du hast deinen Job verloren?«

Wohlgemerkt, eine Frau, mit der ich nicht mehr gesprochen hatte seit unserer zufälligen Begegnung in Minneapolis. Eine Frau, die seither keinen meiner Anrufe erwidert hatte. Ich brauchte ein paar schlaftrunkene Sekunden, nur um die Stimme unterzubringen.

»Tut mir Leid, dass ich erst jetzt auf dich zurückkomme«, fuhr sie fort. »Es gab Gründe. Aber ich habe dich nicht aus den Augen verloren.«

»Mich nicht aus den Augen verloren

»Das ist eine lange Geschichte.« Ich wartete. Statt sie zu erzählen, erging sie sich in Erinnerungen an Cornell und erhellte schlaglichtartig ihre Karriere seit damals — ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit den Chronolithen, was mich ungemein interessierte. Und zerstreute mich nicht von ungefähr, wie ich mir sicher bin.

Sie ging derart ins Detail, das ich nicht mehr folgen konnte: »Calabi-Yau-Räume«; etwas wie »Tau-Turbulenz«.[14]

Bis ich sie schließlich fragte: »Gut, ich hab also meinenjob verloren — wie hast du das erfahren?«

»Na ja, das hat damit zu tun, dass ich anrufe. Ich fühle mich gewissermaßen mitverantwortlich.«

Mir fiel ein, was Arnie Kunderson über »Feinde im Management« gesagt hatte. Und über »Leute in Zivil«. Ich sagte: »Egal, was du mir erzählen musst, leg los.«

»Okay, aber du musst Geduld haben. Ich gehe davon aus, dass du nirgends hin musst. Nicht noch aufs Klo?«

»Ich halte dich auf dem Laufenden.«

»Okay. Tja. Wo soll ich anfangen? Hast du noch nie bemerkt, wie schwer es ist, Ursache und Wirkung auseinander zu halten? Alles wird immer verwickelter.«

Als der Chumphon-Chronolith auftauchte, hatte Sue bereits eine beträchtliche Anzahl von Aufsätzen über bestimmte Formen exotischer Materie und C-Y-Transformationen veröffentlicht (»Non-Baryonic Matter and How to Untie Knots in String«).[15] Viele befassten sich mit Problemen der zeitlichen Symmetrie — ein Konzept, das sie mir, wie es schien, unbedingt erklären wollte, bis ich sie stoppte. Nach dem Chumphon-Monument, als der Kongress die potenzielle Bedrohung durch die Chronolithen ernstzunehmen begann, da hatte man sie eingeladen, sich an einem Forschungsprojekt zu beteiligen, das von einer Hand voll Sicherheitsdiensten gesponsert und aus einem Topf bereits bewilligter Bundesmittel finanziert wurde. Man erklärte ihr, es handle sich um Grundlagenforschung, an der auch die Cornell-Fakultät und etliche ältere Kollegen beteiligt seien, ein Halbtagsjob, etwas, das ihrer Karriere nur förderlich sei. »Das war wie Los Alamos, verstehst du, nur ein bisschen entspannter.«

»Entspannter?«

»Anfangs wenigstens. Also hab ich zugesagt. Es war in diesen ersten paar Monaten, als ich auf deinen Namen stieß. Damals ging es noch ziemlich offen zu. Ich bekam allerhand Akten zu Gesicht. Unter anderem ein Stammverzeichnis von Augenzeugen, die man in Thailand verhört hatte.«

»Aahh.«

»Und da warst du natürlich dabei. Wir überlegten, ob wir die ganzen Leute einbeziehen sollten, also alle, die wir auftreiben konnten, für Blutproben und so weiter, aber wir entschieden uns dagegen — zu viel Arbeit, zu viel Aufsehen, und dass dabei etwas Verwertbares herauskam, war ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem hätte es juristische Probleme gegeben. Aber ich erinnerte mich an deinen Namen auf der Liste. Ich wusste, dass du es warst, weil man praktisch deine komplette Vita festgehalten hatte, einschließlich Cornell, einschließlich eines Hypertext-Links zu mir

Und wieder kam mir Hitch Paley in den Sinn. Hitch musste auch auf der Liste gestanden haben. Vielleicht hatte man seine Geschäfte ein bisschen gründlicher durchleuchtet. Vielleicht saß er hinter Gittern. Vielleicht hatte es deshalb bei Easy's Packages nichts zum Abholen gegeben und vielleicht hatte ich deshalb nichts mehr von ihm gehört.

Das alles behielt ich natürlich für mich.

Sue fuhr fort. »Na ja, ich hab mir sozusagen eine mentale Notiz gemacht und das war's dann schon, bis vor kurzem wenigstens. Du musst verstehen, Scott, die Entwicklung der Krise hat uns ziemlich paranoid gemacht. Berechtigterweise vielleicht. Besonders seit Yichang; Yichang hat uns den Rest gegeben. Weißt du, wie viele Menschen allein durch die Flut ums Leben gekommen sind? Ganz zu schweigen vom Einsatz einer Nuklearwaffe — das hat es zum letzten Mal vor der Jahrhundertwende gegeben.«

Das musste sie mir nicht erzählen. Ich hatte alles verfolgt. Ich hätte mich gewundert, wenn NSA oder CIA oder FBI nicht die Finger in dem Forschungsprojekt gehabt hätten. Die Chronolithen waren zu einer existenziellen Bedrohung geworden. Was wir im Hinterkopf hatten — selten angesprochen, selten expressis verbis —, war das Bild eines Chronolithen auf amerikanischem Boden: Kuin, der auf Houston oder New York oder Washington herabsah.

»Als ich dann wieder auf deinen Namen stieß… na ja, da stand er auf einer anderen Liste. Das FBI kümmert sich wieder um die Augenzeugen. Ich meine, man hat dich von Anfang an im Auge behalten. Nicht richtig überwacht, nein, aber wenn du zum Beispiel Staatsgrenzen passiert hast, dann wurde das zu Protokoll genommen…«

»Christus, Sue!«

»Alles harmlose Beschäftigungstherapie. Bis vor kurzem. Als deine Arbeit bei Campion-Miller auf dem Radar erschien.«

»Ich schreibe Business-Software. Wo ist da…?«

»Das ist viel zu bescheiden, Scotty. Du hast richtig sensible Arbeit gemacht mit Marketing-Heuristik und kollektiver Erwartung. Ich hab mal reingeguckt in deinen Code…«

»Du hast Quellcode von Campion-Miller gesehen?«

»Campion-Miller zog es vor, den Behörden Einblick zu gewähren.«

Ich begann eins und eins zusammenzuzählen. Ein inquisitorischer FBI-Besuch bei Campion-Miller musste beim Management Alarmstufe Eins ausgelöst haben, zumal es Kerncode war, der auf den Prüfstand sollte. Und das erklärte auch Arnie Kundersons merkwürdige Verschlossenheit, diese Aura von Vorhang-zu/Licht-aus, die meinen Rausschmiss begleitet hatte.

»Willst du damit sagen, dass du meinen Rausschmiss betrieben hast?«

»Niemand wollte, dass du deinen Job verlierst. Aber als es passierte, kam es nicht ungelegen.«

Nicht ungelegen war die letzte Umschreibung, die ich benutzt hätte.

»Siehst du, wie das zusammenhängt, Scotty? Du bist vor Ort, als der Chumphon-Chronolith auftaucht, was dir alleine schon wie ein Feuermal anhaftet. Jetzt, fünf Jahre später, stellt sich heraus, du entwickelst Algorithmen, die für unsere Sache von eminenter Bedeutung sind.«

»Sind sie das?«

»Vertrau mir. Ich hab den Aktenvermerk gelesen. Ich hab ein gutes Wort für dich eingelegt, und das hat sie ein bisschen gebremst, aber ich will offen zu dir sein, ein paar sehr einflussreiche Leute regen sich viel zu sehr auf. Es ist nicht bloß Yichang, es ist die Wirtschaft, es sind die Krawalle, die ganzen Scherereien bei der letzten Wahl… der Grad an Nervosität ist unbeschreiblich. Als ich hörte, du seist rausgeflogen bei Campion-Miller, hatte ich die glänzende Idee, dich hierher zu holen.«

»Als was? Als Gefangenen?«

»Wohl kaum. Ich nehme deine Arbeit ernst, Scotty. Was die Code-Ökonomie angeht, einfach Spitze. Und sehr, sehr relevant. Es sieht vielleicht nicht so aus, aber eine ganze Menge von dem, was ich neulich sehen durfte, modelliert die Auswirkungen von Erwartungen auf das Massenverhalten. Wendet Feedback- und Rekursionstheorie sowohl auf physikalische Ereignisse als auch auf menschliches Verhalten an.«

»Ich bin ein kleiner Programmierer, Sue. Ich will erst gar nicht so tun, als verstünde ich die Algorithmen, die ich da gezüchtet habe.«

»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Das ist bahnbrechende Arbeit. Und es wäre offengestanden viel schöner, wenn du sie für uns machen würdest.«

»Ich frage mich die ganze Zeit: Bist du an meiner Arbeit interessiert oder an der Tatsache, dass ich in Chumphon war?«

»An beidem. Ich glaube nicht an diesen Zufall.«

»Aber es ist Zufall.«

»Ja, im herkömmlichen Sinne, aber… o Scotty, das kann man nicht alles per Telefon bereden. Du musst unbedingt herkommen.«

»Sue…«

»Du willst mir sagen, du fühlst dich, als hätte ich dich mit dem Kopf in den Mixer gesteckt. Du willst mir sagen, du kannst so eine Entscheidung jetzt nicht treffen, weil du im Schlafanzug dastehst und Dosenbier trinkst und dir selbst Leid tust.«

Ich trug Jeans und Sweatshirt. Das andere stimmte.

»Also entscheide dich jetzt nicht«, sagte sie. »Aber komm unbedingt nach Baltimore. Auf meine Kosten. Dann können wir reden. Ich organisiere das.«

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften von Sulamith Chopra ist, dass sie tut, was sie sagt.


Baltimore war schwerer von der Rezession betroffen als Minneapolis / Saint Paul. Anfang des Jahrhunderts hatte sich die Stadt tapfer geschlagen, doch die City hatte ihren kurzen Glanz von Wohlstand verloren, war zu leerstehenden Ladenfronten, geborstenen Plasmadisplays und Reklametafeln verkommen, deren Farben durch Sonne und Wetter verblasst waren. Sue parkte auf der Rückseite eines kleinen mexikanischen Restaurants und eskortierte mich nach drinnen. Sie war beim Personal bekannt und wurde mit Namen begrüßt. Unsere Kellnerin sah aus, als sei sie einer Mission aus dem 17. Jahrhundert entsprungen, zählte aber in einem gestutzten New-England-Akzent die Tagesspezialitäten auf. Sie lächelte Sue auf eine Weise an wie ein Pächter seinen wohlwollenden Grundbesitzer anlächelt — vermutlich gab Sue immer ein großzügiges Trinkgeld.

Wir plauderten eine Zeit lang über dies und das — aktuelle Ereignisse, die Oglalla-Krise, den Pemberton-Prozess. Sues Versuch, den alten Umgangston zwischen uns wiederherzustellen, den Ton familiärer Vertrautheit, den sie mit all ihren Studenten an der Cornell-Universität gepflegt hatte. Sie hatte es nie gemocht, als Autorität behandelt zu werden. Sie beugte sich niemandem und wollte niemand sein, dem man sich beugte. Sue war so altmodisch, sich arbeitende Wissenschaftler als gleichwertige Prozessparteien vor der absoluten Schranke der Wahrheit vorzustellen.

Seit Cornell, erzählte sie, habe das Chronolithenprojekt sie immer mehr beansprucht; es sei praktisch zu ihrem Beruf geworden. Sie hatte wichtige theoretische Aufsätze publiziert, aber jedes Mal das Placet der National Security einholen müssen. »Und die wichtigste Arbeit, die wir geleistet haben, darf und kann gar nicht publiziert werden, weil wir sonst Gefahr laufen, Kuin in die Hände zu spielen.«

»Also weißt du mehr, als du sagen kannst?«

»Ja, viel mehr… aber nicht genug.« Die Kellnerin brachte Reis mit Bohnen. Sue kaute an ihrem Lunch, die Stirn in Falten. »Ich weiß auch von dir, Scotty. Du hast dich von Janice scheiden lassen oder umgekehrt. Deine Tochter lebt jetzt bei ihrer Ma. Janice hat wieder geheiratet. Du hast fünf Jahre lang gute, aber extrem beschränkte Arbeit bei Campion-Miller hinter dir, was eine Schande ist, denn du gehörst zu den gescheitesten Leuten, die ich kenne. Kein Rollstuhlgenie, aber blitzgescheit. Du kannst mehr.«

»Das hat man mir immer schon ins Zeugnis geschrieben: kann mehr.«

»Bist du je über Janice hinweggekommen?«

Sue stellte intime Fragen und klang dabei brüsk wie ein Zöllner. Sie schien gar nicht auf die Idee zu kommen, jemand könne Anstoß nehmen.

Folglich keinen Anstoß genommen. »Im Großen und Ganzen, ja.«

»Und das Mädchen? Kaitlin, richtig? Gott, ich weiß noch, wie Janice schwanger war. Dieser mächtig dicke Bauch. Als hätte sie einen VW-Beetle geklaut.«

»Kait und ich, wir kommen gut miteinander aus.«

»Du liebst deine Tochter immer noch?«

»Ja, Sue, ich liebe sie immer noch.«

»Natürlich tust du das. Sonst wärst du nicht Scotty.« Sie schien sich richtig zu freuen.

»Na, und du? Irgendwas Aktuelles?«

»Nö«, sagte sie. »Ich lebe allein. Es gibt da jemanden, den ich ab und zu sehe, aber das ist keine Beziehung.« Sue schlug die Augen nieder und setzte hinzu: »Sie ist Dichterin. Eine von den Dichterinnen, die tagsüber im Laden stehen. Ich bring es nicht fertig, ihr zu sagen, dass das FBI sie bereits duchleuchtet hat. Sie würde explodieren. Egal, sie hat noch mehr Bekannte. Wir sind nicht monogam. Polyamourös. Meistens sind wir nicht mal zusammen

Ich hob mein Glas. »Merkwürdige Zeiten.«

»Merkwürdige Zeiten. Skol. Übrigens, ich höre, du sprichst nicht mehr mit deinem Vater?«

Ich hätte mich fast verschluckt.

»Hab dein Telefonprotokoll gesehen«, erklärte sie. »Die Anrufe sind von ihm. Sie dauern nicht länger als dreißig Sekunden.«

»Das ist eine Art Spiel«, sagte ich. »Wer als Erster auflegt. Verdammt, Sue, das sind private Dinge.«

»Er ist krank, Scotty.«

»Klär mich auf.«

»Nein, wirklich. Von den Ephysemen weißt du wahrscheinlich. Aber er war beim Onkologen. Leberkrebs, therapieresistent, metastatisch.«

Ich legte die Gabel hin.

»O Scotty«, sagte sie. »Es tut mir Leid.«

»Du siehst, ich kenne dich nicht.«

»Natürlich kennst du mich.«

»Ich kannte dich vor sehr langer Zeit. Nicht näher. Ich kannte eine Junior-Akademikerin, keine Frau, die meinen Rausschmiss betreibt und mein Telefon abhört.«

»Es gibt schon lange keine Privatsphäre mehr, nicht wirklich.«

»Er stirbt, hast du gesagt?«

»Wahrscheinlich.« Sie bekam ein langes Gesicht, als sie merkte, was sie gesagt hatte. »O Gott — verzeih mir, Scotty. Ich rede, bevor ich denke. Als war ich am Autismus vorbeigeschrammt.«

Das zumindest wusste ich über sie. Ihr Defekt, da bin ich mir jetzt sicher, ist genetisch bedingt und hat längst einen Namen: ein latentes Unvermögen, die Gefühle anderer zu lesen oder vorauszusehen. Und sie redete für ihr Leben gern — zumindest damals.

»Geht mich nichts an«, sagte sie. »Du hast Recht.«

»Ich brauche keine Ersatzmutter. Ich weiß nicht mal, ob ich diesen Job noch will.«

»Scotty, ich war es nicht, der dich hat abhören lassen. Und Davonlaufen ist zwecklos. Ob du den Job annimmst oder nicht, dein Leben wird nie mehr in normalen Bahnen verlaufen. Aus diesem Zug bist du ausgestiegen, damals in Chumphon.«

Mein Vater stirbt, dachte ich.

War mir das egal?


Wieder im Auto, sagte Sue reumütig: »Lieg ich so falsch, wenn ich sage, dass wir beide Schwierigkeiten haben? Dass die Chronolithen unser Leben bestimmt haben, ohne dass wir daran etwas ändern können? Aber ich versuche das Beste daraus zu machen, Scotty. Ich brauche dich hier, und ich glaube, die Arbeit wird dir besser gefallen als das, was du bisher gemacht hast.« Sie überfuhr eine Gelbphase, schielte auf den blinkenden Verweis in ihren Armaturen. »Liege ich falsch, wenn ich unterstelle, dass du eigentlich ganz gerne mit dabei wärst?«

Nein, aber die Genugtuung, es aus meinem Mund zu hören, gönnte ich ihr nicht.

»Außerdem…« Wurde sie rot? »Ehrlich, ich würde mich riesig freuen über deine Gesellschaft.«

»Du hast bestimmt eine Menge Gesellschaft.«

»Ich habe Kollegen, keine Gesellschaft. Nicht wirklich. Außerdem ist das Angebot gar nicht mal so schlecht. Nicht in einer Welt wie dieser.« Sie fügte beinah schüchtern hinzu: »Und du wirst reisen. Fremde Länder kennen lernen. Wunder bestaunen.« Stranger than Science.

Sechs

Wie bei Bundesbehörden nicht anders zu erwarten, ließ man mich geschlagene drei Wochen zappeln. Sulamith Chopras Arbeitgeber brachte mich in einem Motelzimmer unter, und das war's dann schon. Meine Anrufe bei Sue wurden von einem Beamten namens Morris Torrance abgefangen, der mir den Rat gab, mich in Geduld zu üben. Der Zimmerservice war frei, doch der Mensch lebt nicht vom Zimmerservice allein. Solange ich nicht etwas Langfristiges unterzeichnet hatte, wollte ich mein Apartment in Minneapolis nicht aufgeben, und jeder Tag, den ich in Maryland verbrachte, war ein fiskalischer Nettoverlust.

Das Motelterminal wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angezapft, und das FBI war vermutlich in der Lage, mein Notebook zu lesen, noch ehe mein Signal den Satelliten erreichte. Nichtsdestoweniger tat ich, was man vermutlich von mir erwartete: Ich fuhr fort, Kuin-Daten zu sammeln und befasste mich ein bisschen näher mit Sues Publikationen.

Sie hatte zwei wichtige Aufsätze ins Nature-Netz und einen in die Saence-Site gestellt. Alle drei befassten sich mit Dingen, die meine Kompetenz überstiegen und anscheinend nur entfernt mit den Chronolithen zu tun hatten: A Hypothetical Tauon Unification Energy, Non-Hadronic Material Structures und Gravitation and Temporal Binding Forces.[16] Ich konnte dem Text lediglich entnehmen, dass Sue ein paar interessante Lösungen für fundamentale physikalische Probleme ausgebrütet hatte. Die Aufsätze gingen mir zu sehr ins Detail und blieben für mich so undurchsichtig wie ihre Verfasserin.

In diesen Wochen dachte ich viel über Sue nach. Diejenigen von uns, die sie näher kennen gelernt hatten, hatten natürlich mehr als den Lehrer in ihr gesehen. Aber was ihr eigenes Leben betraf, war sie nie sehr mitteilsam gewesen. In Madras geboren, war sie als Dreijährige mit ihren Eltern eingewandert. Ihre Kindheit war introvertiert, ihre Aufmerksamkeit verteilte sich auf die Schularbeit und ihre aufkeimenden intellektuellen Interessen. Sie war lesbisch, ja, redete aber selten über ihre Partner, die nie sehr lange in Sichtweite blieben. Und sie hatte kein Wort darüber verloren, wie das Outing auf ihre Eltern gewirkt haben könnte, die sie als »reichlich konservativ und ein bisschen religiös« beschrieb. Man gewann den Eindruck, ihr seien diese Dinge viel zu trivial, um sich damit zu befassen. Falls sie alten Schmerz mit sich herumtrug, dann konnte sie ihn gut verbergen.

Doch, es gab Frohsinn in ihrem Leben, aber der kam nur in ihrer Arbeit zum Ausdruck — sie arbeitete mit einem Enthusiasmus, der unverkennbar authentisch war. Ihre Arbeit oder ihre Fähigkeit dazu war die Auszeichnung, die das Leben für sie bereitgehalten hatte, und sie betrachtete dieses Geschenk als angemessenen Ausgleich für alles, was ihr eventuell fehlte. Ihre Freude war tief empfunden, hatte aber etwas Klösterliches.

Das war sicher nicht die ganze Sue, aber alles andere hatte sie für sich behalten.

A Hypothetical Tauon Unification Energy. Was hieß das?

Es hieß, dass sie in das Räderwerk des Universums hineingelauscht hatte. Und dass sie mit den fundamentalsten Dingen vertraut war.


Ich war einsam, aber zu unschlüssig, um etwas dagegen zu unternehmen, und ich litt derart unter Langeweile, dass ich begonnen hatte, die Autos auf dem Parkplatz zu mustern, um — so es ihn gab — den Wagen mit der FBI-Crew ausfindig zu machen.

Als ich schließlich und endlich mit dem FBI in Verbindung trat, war daran überhaupt nichts Spektakuläres. Morris Torrance rief an, um mir mitzuteilen, wann ich mich im Bundeshaus einzufinden hatte; ich solle damit rechnen, dass man mir eine Blutprobe entnehme und mich einem Lügendetektortest unterziehe. Die Tatsache, dass ich diese Hürden zu nehmen hatte, um eine Anstellung als Sue Chopras »Codegenerator« zu bekommen, bewies nur, wie ernst die Regierung Sues Forschung nahm oder zumindest die darin investierten Kongressmittel.

Das Bundeshaus lag in der City, und Morris hatte unterschätzt, was man dort von mir verlangen würde. Man unterzog mich nicht nur einer Blutentnahme, sondern auch einer Röntgenuntersuchung des Brustbereichs und einer Laserabtastung des Schädels. Man nahm Urin-, Stuhl- und Haarproben von mir. Man nahm meine Fingerabdrücke, ich unterschrieb eine Einverständniserklärung zur Chromosomensequenzierung, dann erst eskortierte man mich in die Lügendetektorkabine.

Seit ich am Telefon das Wort »Lügendetektor« gehört hatte, kehrten meine Gedanken immer wieder zu Hitch Paley zurück.

Das Problem war, ich wusste Dinge über Hitch, die ihn ins Gefängnis bringen konnten, vorausgesetzt er war noch auf freiem Fuß. Hitch war zu keiner Zeit mein bester Freund gewesen, und ich war mir nicht sicher, welchen Grad an Loyalität ich ihm nach so vielen Jahren noch schuldete. Doch ich hatte mich im Laufe einer schlaflosen Nacht dazu durchgerungen, lieber Sues Angebot auszuschlagen, als seine Freiheit zu gefährden. Ja, Hitch war ein Krimineller, und ihn hinter Gitter zu bringen, mochte nach dem Buchstaben des Gesetzes richtig sein; aber ich sah keine Gerechtigkeit darin, einen Mann einzusperren, nur weil er Marihuana an reiche Dilettanten verhökerte, die sonst ihre Kohle in Wodkadrinks, Coke oder Methamphetamine investiert hätten.

Auch wenn es Hitch ziemlich egal war, was er da verkaufte, mir war nicht egal, was oder wen ich verkaufte.

Der Mann am Lügendetektor glich eher einem Rausschmeißer als einem Arzt, da half auch der weiße Kittel nicht. Der unvermeidliche Morris Torrance begleitete uns in den kahlen Untersuchungsraum, um den Test zu beaufsichtigen. Morris war offenkundig ein Bundesbeamter, vielleicht dreißig Pfund über dem Normalgewicht und zehn Jahre jenseits der besten. Sein Haar hatte sich auf eine Weise gelichtet, wie man es ganz früher bei Mönchen absichtlich herbeigeführt hatte. Doch sein Händedruck war fest, sein Benehmen locker und er wirkte zur Zeit überhaupt nicht feindselig.

Ich ließ mir die Elektroden anlegen und beantwortete ohne zu stottern die Eichfragen. Dann übernahm Morris den Dialog und führte mich Detail um Detail durch meine anfänglichen Erlebnisse mit dem Chumphon-Chronolithen, legte gelegentlich eine Pause ein, derweil der Detektor-Guru seine Notizen auf den laufenden Ausdruck kritzelte. (Der Apparat wirkte nicht nur antiquiert, er war es auch, konstruiert nach Maßgaben aus dem Prozessrecht des 20. Jahrhunderts.) Ich erzählte die Geschichte wahrheitsgemäß wenn auch mit Bedacht und zögerte nicht, Hitch Paleys Namen zu erwähnen und sogar seinen Beruf und schnalzte noch mit den Fingern beim Erwähnen des Anglerladens, der ja — bisweilen wenigstens — ein durchaus legitimes Gewerbe war. Als ich auf das Gefängnis in Bangkok zu sprechen kam, fragte Morris: »Wurden Sie nach Drogen durchsucht?«

»Ich wurde mehr als einmal durchsucht. Vielleicht nach Drogen, schwer zu sagen.«

»Hat man bei Ihnen irgendwelche Drogen oder verbotene Substanzen gefunden?«

»Nein.«

»Haben Sie verbotene Substanzen über nationale oder Staatsgrenzen transportiert?«

»Nein.«

»Wurden Sie vor dem Chronolithen gewarnt, bevor er auftauchte? Haben Sie vorher irgendetwas über das Ereignis gewusst?«

»Nein.«

»Sie wurden davon überrascht?«

»Ja.«

»Kennen Sie den Namen Kuin?«

»Nur aus den Nachrichten.«

»Haben Sie die Statue gesehen, die aus den neueren Monumenten herausgemeißelt ist?«

»Ja.«

»Ist Ihnen das Gesicht vertraut? Erkennen Sie das Gesicht?«

»Nein.«

Morris nickte und besprach sich leise mit dem Mann im weißen Kittel. Nach ein paar Minuten wurde ich von dem Apparat getrennt.

Morris brachte mich aus dem Gebäude. Ich sagte: »Hab ich bestanden?«

Er lächelte. »Ist nicht meine Abteilung. Aber an Ihrer Stelle würde ich mir keine Sorgen machen.«


Am nächsten Morgen rief Sue an, um mir mitzuteilen, ich könne die Arbeit antreten.

Die Bundesregierung steuerte aus Gründen, die der Senior-Senator von Maryland wahrscheinlich am besten kannte, diesen Zweig der Chronolithen-Forschung aus einem nichtssagenden Gebäude heraus, das in einem Industriepark in den Außenbezirken von Baltimore stand. Die Zentrale lag in einem der unteren Geschosse: eine Bürosuite und eine provisorische Bibliothek, mehr nicht. Die eigentliche Forschungsarbeit, erklärte Sue, werde an Universitäten und in Bundeslaboratorien geleistet. Was sie hier betreibe, sei eher eine Denkfabrik, die Resultate sichte und als Beraterfirma und Clearingstelle für die Kongressmittel fungiere. Sues Arbeit bestand im Wesentlichen darin, die aktuellen Erkenntnisse zu beurteilen und vielversprechende Forschungsansätze zu erkennen. Ihre unmittelbaren Vorgesetzten waren Geheimdienstler und Kongressassistenten. Von dem, was man innerhalb der Chronolithenforschung vernünftigerweise als Wissenschaft bezeichnen konnte, war Sue die höchste Instanz.

Ich fragte mich, was eine so enthusiastische Forscherin bewogen haben könnte, einen besseren Managerjob zu machen. Und hörte auf, mich das zu fragen, als sie die Tür ihres Büros aufmachte und mich hereinwinkte. In dem großen Raum standen ein lackierter Second-Hand-Schreibtisch und unzählige Aktenschränke. Rings um ihr Terminal wimmelte es von Zeitungsausschnitten, Zeitschriften und ausgedruckten E-Mails. Und die Wände waren mit Fotos tapeziert.

»Willkommen im Allerheiligsten«, strahlte Sue.

Fotos von Chronolithen.

Alle waren sie hier versammelt, strenge Profi-Aufnahmen neben Schnappschüssen von Touristen und kryptischen Falschfarbenaufnahmen aus dem Orbit. Da hing Chumphon in einer Auflösung, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, die Buchstaben der Inschrift durch schräg einfallendes Licht betont. Da hing Bangkok und das erste dreidimensionale Götzenbild von Kuin. (Sicher keine wirklichkeitsnahe Darstellung, wie Experten vermuteten. Die Züge waren zu klischeehaft, fast so, als habe man einem Graphikprozessor befohlen, das Standbild eines »Weltenführers« zu entwerfen.)

Da hingen Pjöngjang und Ho-Chi-Minh-City. Da waren Taipeh und Macao und Sapporo; da war der Chronolith der Kanto-Ebene, der über zwei zersprengten Getreidesilos dräute. Da war Yichang vor und nach dem vergeblichen Atomschlag, das Monument erhaben und unverwundbar, der Gelbe Fluss eine sprudelnde Arterie, wo die Explosion den Damm zerrissen hatte.

Da hing eine Satellitenaufnahme der braunen Schlammflut, die sich ins Chinesische Meer ergoss.

Über allem das umwölkte, makellose, friedliche Antlitz von Kuin, der alles im Blick hatte.

Sue, die mich beobachtet hatte, sagte: »Wenn man mal überlegt, dann haben wir es fast mit dem totalen Gegenteil eines Monuments zu tun. Monumente sollen Botschaften an die Zukunft sein — die Toten sprechen zu ihren Erben.«

»Look upon my works, ye Mighty, and despair[17]

»Genau. Aber bei den Chronolithen klingt es genau andersherum. Nicht: ›Ich war hier.‹ Eher wie: ›Ich komme. Ich bin die Zukunft, ob ihr wollt oder nicht.‹«

»Seht auf meine Werke und habt Angst.«

»Man muss diese Perversität geradezu bewundern.«

»Bewundern?«

»Ich muss dir gestehen, Scotty: Bisweilen raubt es mir den Atem.«

»Mir auch.« Ganz zu schweigen von meiner Frau und meiner Tochter: Die hatte es mir auch geraubt.

Es war verstörend, an Sue Chopras Wand der eigenen Obsession zu begegnen. Als hätte ich entdeckt, dass wir durch ein und dieselbe Lunge atmeten. Dabei war genau das der Grund, warum sie sich zu dieser Arbeit hatte hinreißen lassen: Hier hatte sie die Chance, buchstäblich alles über die Chronolithen zu erfahren, was es zu erfahren gab. Praktische Forschungsarbeit (Refraktionsringe zählen oder scheue Bosonen jagen) hätte ihren Blickwinkel viel zu stark eingeengt.

Und sie konnte sich trotzdem mit der involvierten Mathematik befassen — effektiver sogar, weil ihr Wissensstand täglich aktualisiert wurde.

»Na, was sagst du, Scotty?«

»Zeig mir meinen Arbeitsplatz.«

Sie brachte mich zu einem separaten Büro mit Schreibtisch und Terminal. Das Terminal war wiederum an eine Phalanx quanten-organischer Workstations angeschlossen — eine Verarbeitungskapazität, von der Campion-Miller nur träumen konnte.

In einer Ecke saß Morris Torrance auf einem Holzstuhl, mit der Lehne an die Wand gekippt und las die Druckausgabe von Golf.

»Gehört er mit zum Inventar?«, wollte ich wissen.

»Ihr müsst für eine Weile miteinander auskommen. Morris muss in meiner Nähe sein, körperlich präsent sozusagen.«

»Ihr seid gute Freunde?«

»Morris ist mein Leibwächter, unter anderem.«

Morris lächelte und ließ das Magazin sinken. Er kratzte sich am Kopf, eine linkische Geste, die wohl nur die Pistole zeigen sollte, die er unter dem Jackett trug. »Ich bin meistens harmlos«, sagte er.

Wir schüttelten uns wieder einmal die Hand… herzlicher diesmal, da es nicht um eine Urinprobe ging.

»Heute«, sagte Sue, »machst du dich mit meiner Arbeit vertraut. Als ›Codegenerator‹ bin ich dir weit unterlegen, also mach dir Notizen. Ende der Woche sehen wir weiter.«

Genau damit verbrachte ich meinen ersten Tag. Ich besah mir weniger Sues Eingaben oder Ergebnisse als die Verarbeitungsebenen, die Protokolle, mit deren Hilfe Probleme in Regelsysteme übersetzt wurden und die Lösungen sich reproduzieren und sterben durften. Sie hatte bereits die besten genetischen Programme installiert, die auf dem Markt zu finden waren, aber sie waren schlichtweg ungeeignet (oder viel zu umständlich) für das, was sie wollte — millimetergenaue Anwendungen nämlich; früher befanden wir solche Instrumente als gut genug für eine erste Annäherung, mehr nicht.

Morris legte Golf beiseite, ging uns im Delikatessenladen an der Ecke ein Lunchpaket holen und kaufte sich die neueste Ausgabe von Fly Fisherman. Während er sich mit Letzterer die Nachmittagsstunden verkürzte, schaute Sue regelmäßig herein, um uns anzustrahlen. Wir waren ihre Pufferzone, eine Isolationsschicht zwischen der Welt und Kuins Geheimnissen.


Es war nach meiner ersten Woche beim Projekt, als mir auf der Heimfahrt in mein neues, nahezu leeres Apartment aufging, wie plötzlich und unwiderruflich sich mein Leben geändert hatte.

Vielleicht lag es an der Monotonie der Fahrt; vielleicht am Anblick der Zeltkolonien und abgestellten Rostlauben am Straßenrand; vielleicht auch nur an der Aussicht auf ein einsames Wochenende. »Ignoranz« hat keinen guten Ruf, aber Gleichmut soll angeblich eine Tugend sein, und Gleichmut heißt, sich beharrlich weigern, vor einer schrecklichen Wahrheit zu kapitulieren. Neulich war ich ausgesprochen gleichmütig gewesen. Doch ich wechselte die Spur, um einen Tankzug zu überholen, und von hinten fuhr ein kleiner gelber Leica-Lieferwagen auf, und der Tankzug begann aus der seinen in meine Fahrspur zu rücken. Der Fahrer musste seine Annäherungsprotokolle abgeschaltet haben, eine höchst illegale, aber bei selbstständigen Truckern nicht unübliche Maßnahme. Ich befand mich in seinem toten Winkel, und der Leica weigerte sich zu bremsen. Für gute fünf Sekunden hatte ich die schreckliche Vision, hinter meiner Lenksäule zum Pfannekuchen zu werden.

Dann entdeckte mich der Trucker im Seitenspiegel, zog nach rechts und ließ mich vorbei.

Der Leica überholte, als sei nichts geschehen.

Und ich hockte in kalten Schweiß gebadet hinter dem Steuer — nicht angeschnallt, von allen guten Geistern verlassen und flog auf einer grauen Straße zwischen Vergessenheit und Vergessen dahin.


Eine Woche später gab es eine gute Nachricht: Janice rief an, um mir zu sagen, das Kait ein neues Ohr bekam.

»Sie wird wieder richtig hören, Scott, das heißt, wenn sie mit einem normalen Gehör zur Welt kam und noch die ganzen Nervenbahnen hat. Sie bekommt eine sogenannte Mastoid-Cochlear-Prothese.«

»Und so was kann man?«

»Die Methode ist relativ neu, aber bei Patienten mit Kaits Krankengeschichte ist die Erfolgsquote fast hundert Prozent.«

»Ist es gefährlich?«

»Nicht besonders. Aber es ist ein größerer Eingriff. Sie muss mindestens für eine Woche ins Krankenhaus.«

»Wann?«

»Heute in sechs Monaten.«

»Kostenpunkt?«

»Whit ist versichert. Die Genossenschaft ist bereit, einen gewissen Anteil zu übernehmen. Meine Versicherung kann auch beispringen, und Whit ist darauf vorbereitet, den Rest aus eigener Tasche zu zahlen. Vielleicht muss er eine zweite Hypothek aufnehmen. Aber es bedeutet auch, dass Kaitlin eine normale Kindheit haben wird.«

»Lass mich beisteuern.«

»Ich weiß, dass du zur Zeit nicht gerade wohlhabend bist, Scott.«

»Ich habe Geld auf der Bank.«

»Und ich danke dir für das Angebot. Aber… ehrlich gesagt, Whit fühlt sich wohler, wenn er das regelt.«

Kait hatte den Gehörverlust gut kompensiert. Wer nicht merkte, wie sie den Kopf neigte oder die Stirn runzelte, wenn die Unterhaltung leise wurde, kam nicht auf die Idee, sie könne Hörprobleme haben. Trotzdem war sie gezeichnet, insofern sie dazu verurteilt war, in der Klasse ganz vorne zu sitzen, wo sich zu viele Lehrer mit übertriebener Aussprache an sie wandten und so taten, als sei ihre Behinderung eine geistige. Wenn sie auf dem Schulhof mit anderen spielte, war sie unbeholfen, zu leicht von hinten zu überraschen. Das und eine natürliche Schüchternheit waren schuld, dass sie ein bisschen zu viel im Netz surfte, ein bisschen zu egozentrisch und gelegentlich auch arrogant war.

Doch das würde sich ändern. Der Schaden würde, wie es aussah, dank jüngster Fortschritte in der Biochemotechnik behoben werden. Auch dank Whitman Delahunt. Und wenn diese Intervention zugunsten meiner Tochter ein bisschen aufs Ego drückte… na ja, dachte ich, zum Teufel mit dem Ego.

Kaitlin würde wieder heil sein. Das allein zählte.

»Aber ich möchte mich beteiligen, Janice. Das bin ich Kaitlin schuldig und nicht erst seit gestern.«

»Ach was, Scott. Das mit dem Ohr war nicht deine Schuld.«

»Ich möchte helfen.«

»Tja… wenn du darauf bestehst, Whit wird sicher nicht nein sagen.«

Die letzten fünf Jahre waren fünf fette Jahre gewesen. Ich übernahm die Hälfte der OP-Kosten.


»Na dann, Scotty«, sagte Sue Chopra, »bist du reisefertig?«

Ich hatte ihr von Kaitlins Operation erzählt und sagte ihr, dass ich bei Kaits Genesung dabei sein wolle — ohne wenn und aber.

»Das ist noch ein halbes Jahr hin«, sagte Sue. »Dann sind wir längst wieder zurück.«

Kryptisch. Doch schließlich schien sie bereit, zu erläutern, was sie neulich schon angedeutet hatte.

Wir saßen in der geräumigen, aber weitgehend verwaisten Cafeteria, zu viert am einzigen Fenster mit Blick auf die Schnellstraße. Ich, Sue, Morris Torrance und ein junger Mann namens Raymond Mosely.

Ray Mosely war ein postgraduierter Physiker vom MIT, der mit Sue an der naturwissenschaftlichen Bestandsaufnahme arbeitete. Er war fünfundzwanzig, schmerbäuchig, ungepflegt und strahlte wie ein neues Zehncentstück. Und er war schüchtern. Er war mir wochenlang aus dem Weg gegangen, wohl weil ich ein fremdes Gesicht war, und begann eben erst zu kapieren, dass ich mich nicht zwischen ihn und Sue Chopra drängen wollte.

Sue war immerhin ein Dutzend Jahre älter als er und ihre sexuelle Vorliebe galt nun einmal nicht unsereinem, schon gar nicht zaghaften jungen Physikern, die eine längere Unterhaltung über Wechselwirkungen zwischen Myonen für eine Aufforderung zu sexuellen Intimitäten hielten. Sue hatte ihm das wiederholt erklärt. Und Ray, sollte man meinen, hatte diese Erklärungen auch akzeptiert. Doch er schickte ihr nach wie vor verträumte Blicke über den klebrigen Tisch und beugte sich Sues Meinungen mit der Loyalität des Verliebten.

»Erstaunlich ist«, begann Sue, »was uns die Chronolithen seit Chumphon alles nicht verraten haben.

Ein bisschen beschreiben können wir sie, mehr nicht. Wir wissen zum Beispiel, dass man ein Kuin-Monument auch dann nicht ins Wanken bringen kann, wenn man sein Fundament freilegt, denn es verharrt in ein und demselben Abstand vom Gravitationszentrum der Erde und auch sonst in ein und derselben Lage, selbst wenn das bedeutet, dass es — ja — schwebt. Wir wissen, dass ein Kuin-Monument außergewöhnlich reaktionsträge ist; wir wissen, dass es einen bestimmten Brechungsindex hat; aus Untersuchungen wissen wir, dass die Objekte eher modelliert als herausgemeißelt sind, und so weiter und so fort. Aber nichts von alledem hat mit einem richtigen Verständnis zu tun. Wir verstehen diese Objekte so, wie ein mittelalterlicher Theologe ein Auto verstanden hätte. Das Objekt ist schwer, die Polsterung wird bei direkter Sonnenbestrahlung heiß, bestimmte Teile sind scharfkantig, bestimmte schön glatt und fließend. Manche Details sind vielleicht wichtig, die meisten sicher nicht; aber bewerten lassen sie sich nur mit Hilfe einer umfassenden Theorie. Und genau die fehlt uns.«

Der Rest von uns nickte verständig, wie wir es gewöhnlich taten, wenn Sue sich anschickte, eine These zu entwickeln.

»Aber manche Details sind interessanter als andere«, fuhr sie fort. »Zum Beispiel: Wir haben hinreichende Beweise, dass es in den Wochen vor dem Erscheinen eines Chronolithen zu einem allmählichen, schrittweisen Anstieg der örtlichen Strahlenbelastung kommt. Nicht gefährlich, aber eindeutig messbar. Ein Punkt, mit dem die Chinesen beschäftigt waren, als sie sich aus der Kooperation mit uns verabschiedeten. Auch die Japaner hatten einen Glückstreffer. Rings um die Fusionsreaktoren von Sapporo/Technics unterhalten sie routinemäßig ein Netz aus Strahlungssensoren. Tage, bevor der Chronolith auftauchte, versuchte Tokio die Quelle der ganzen Streustrahlung zu orten. Beim Auftauchen des Chronolithen waren die Messwerte am höchsten, danach fielen sie ganz rasch auf die normalen regionalen Werte zurück.«

»Was bedeutet«, sagte Ray Mosely, als sorge er sich um die Dummen am Tisch, »dass wir das Erscheinen eines Chronolithen zwar nicht verhindern, aber mit einer gewissen Sicherheit voraussagen können.«

»Um die Menschen zu warnen«, sagte Sue.

»Klingt vielversprechend«, sagte ich. »Wenn ich weiß, wo ich suchen muss.«

»Ja«, gab Sue zu, »da liegt der Hase im Pfeffer. An vielen Stellen wird aber die Strahlenbelastung der Luft überwacht. Und Washington hat mit einer ganzen Reihe befreundeter Staaten die Überwachung größerer Ballungsgebiete organisiert. Für den Zivilschutz heißt das, wir können die Menschen rechtzeitig evakuieren.«

»Während wir«, setzte Ray hinzu, »daran interessiert sind, vor Ort zu sein.«

Sue bedachte ihn mit einem scharfen Blick, als habe er ihr die Pointe verhagelt. Ich sagte: »Ist das nicht ein bisschen riskant?«

»Um das Ereignis aufzuzeichnen, um an die exakten Daten der finalen Eruption zu kommen, um den eigentlichen Prozess zu sehen… wäre das von unschätzbarem Wert.«

»Hoffentlich aus einer gewissen Entfernung«, warf Morris Torrance ein.

»Wir können jede Gefahr für Leib und Leben minimieren.«

Ich sagte: »Und das passiert schon bald?«

»Wir brechen in ein, zwei Tagen auf, Scotty, und das bringt uns in Zeitdruck. Das kommt alles ein bisschen plötzlich, ich weiß. Aber unsere Vorposten sind bereits eingerichtet und wir haben Spezialisten vor Ort. Die Messdaten legen nahe, dass es in gerade mal fünfzehn Tagen zu einer gewaltigen Manifestation kommt. Die bevorstehende Evakuierung müsste heute Abend noch für Schlagzeilen sorgen.«

»Wohin geht also die Reise?«

»Nach Jerusalem«, sagte Sue.


Ich bekam vierundzwanzig Stunden für meinen geordneten Rückzug aus dem Büro samt Packen eingeräumt.

Stattdessen setzte ich mich ans Steuer.

Sieben

Ich war zehn Jahre alt. Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, war Mutter dabei, die Küche zu schrubben. Daran war nichts Ungewöhnliches. Aber dann tat ich etwas, das ich seit einiger Zeit häufiger tat: Ich beobachtete sie.

Meine Mutter war keine schöne Frau. Das habe ich wohl damals schon gewusst. (Oder besser »geahnt«.) Sie hatte ein hartes, schmales Gesicht und lächelte nur selten — was ihr Lächeln zu einem denkwürdigen Ereignis machte. Wenn sie gelächelt hatte, lag ich abends im Bett und durchlebte das Ereignis ein ums andere Mal. Sie war damals erst fünfunddreißig. Sie trug nie Make-up und konnte sich an manchen Tagen nicht einmal aufraffen, ihr Haar zu bürsten. Gott sei Dank war es dunkel und glänzte von Natur aus.

Kleider zu kaufen, war ihr verhasst. Sie trug alles, was sie hatte, bis es buchstäblich untragbar war. Manchmal, wenn sie mit mir einkaufen ging, schämte ich mich wegen ihres blauen Pullovers mit dem kleinen braun verschmorten Loch in der Seite, durch das ich den Träger ihres BHs sehen konnte; oder wegen der gelben Bluse mit dem Bleichfleck auf der rechten Schulter, der an eine Karte von Kalifornien erinnerte.

Sagte ich ihr das, starrte sie mich wortlos an, ging ins Haus zurück und zog sich um, was kaum einen Unterschied machte. Aber ich hasste es, so etwas zu sagen, weil ich mir dabei pingelig und weibisch vorkam, wie ein kleiner Junge, der sich nicht schmutzig machen will. Dem war aber nicht so. Ich wollte einfach nicht, dass man zwischen den Regalen im Supermarkt nach ihr schielte.

Als ich an diesem Tag heimkam, trug sie Bluejeans und eins von Vaters Hemden, das ihr viel zu groß war. Sie steckte bis zu den Ellbogen in gelben Gummihandschuhen, die — wie mir entging — eine Reihe tiefer blutender Schrammen verbargen. Das war ihr Putzdress. Und wie sie geputzt hatte. Die Küche stank nach Lysol und Salmiakgeist und einem halben Dutzend anderer Reiniger und Desinfektionsmittel, die sie im Schränkchen unter der Spüle hortete. Ihr Haar unter dem roten Kopftuch war zurückgebunden und ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Bodenfliesen. Sie nahm mich erst wahr, als ich meine Butterbrotdose auf die Anrichte knallte.

»Bleib aus der Küche«, sagte sie tonlos. »Das hab ich dir zu verdanken.«

»Mir zu verdanken?«

»Er ist dein Hund, oder etwa nicht?«

Sie redete von Chuffy, unserem Springerspaniel, und ich begann mir Sorgen zu machen — mehr wegen des Tonfalls, nicht so sehr wegen der Worte.

In dem Tonfall sagte sie manchmal Gute Nacht. Jeden Abend kam sie in mein Zimmer, beugte sich über mein Bett, richtete Laken und Steppdecke, küsste ihre Fingerspitzen und berührte damit meine Stirn. Und zu neunzig Prozent tat das genauso gut, wie es klingt. Doch an manchen Abenden — Abenden, an denen sie vielleicht schon ein bisschen getrunken hatte —, da dronhte sie über mir mit einem unbändigen Geruch nach Schweiß und Alkohol, einem Geruch, den sie abstrahlte wie ein Kohleherd die Wärme, und obwohl sie dieselben Worte sagte, dasselbe »Gute Nacht, Scotty, schlaf gut«, klang es wie auswendig gelernt und ihre Fingerspitzen fühlten sich kalt und rau an. An solchen Abenden zog ich mir das Bettzeug über den Kopf und zählte die Sekunden (einundzwanzig, zweiundzwanzig), bis ihre Schritte auf dem Flur verstummt waren.

Jetzt klang sie genauso. Ihre Augen waren zu rund und der Mund war zu einem Strich gepresst und ich hatte das Gefühl, nur näher herangehen zu müssen, um denselben widerlichen Gestank wahrzunehmen, den ein Strand bei Ebbe verströmt.

Sie putzte weiter, und ich schlich mich ins Wohnzimmer, machte den Fernseher an und glotzte in die syndizierte Neuauflage von Seinfeld, bis mich Mutters Bemerkung über Chuffy wieder einholte.[18]

Mutter hatte Chuffy nie gemocht. Sie tolerierte ihn, doch Chuffy gehörte meinem Vater und mir, nicht ihr. Vielleicht hatte Chuffy auf den Küchenboden gepinkelt. Hätte das nicht ihre Reaktion erklärt? Wo steckte Chuffy eigentlich? Normalerweise saß er um diese Zeit auf dem Sofa und erwartete, dass man ihm die Ohren kraulte. Ich rief nach ihm.

»Das Tier ist ekelhaft«, sagte meine Mutter aus der Küche. »Lass es, wo es ist.«

Ich fand Chuffy oben, eingesperrt in der Toilette des Elternschlafzimmers, Hinterteil und Beine roh geschrubbt, wahrscheinlich mit einem Brillo-Stahlschwämmchen, wie wir sie für stark verschmutztes Kochgeschirr benutzten. Da wo kein Fell mehr war, blutete Chuffy aus einem Dutzend Wunden, und als ich ihn trösten wollte, schlug er mir die Zähne in den Unterarm.


Die Zeit hatte ihn stiefmütterlich behandelt, den Vorort in Maryland, wo mein Vater lebte. Aus der halbbäuerlichen Gegend war ein Nest aus Geschäftszeilen, Sexshops und Hochhäusern mit Arbeiterwohnungen geworden. Die umzäunte Gemeinde existierte noch, aber das Pförtnerhaus war verwahrlost und mit arabischen Graffiti besprüht. Das Haus an der Provender Lane, in dem ich aufgewachsen war, das Haus hinter den klumpigen Schneebarrieren, war kaum noch wiederzuerkennen. Eine der Dachrinnen hatte sich gelöst und die Schindeln dahinter hingen alarmierend durch. Es war nicht mehr das Haus, an das ich mich erinnerte, aber es schien das Haus zu sein, das zu meinem Vater passte — heruntergekommen und ungastlich.

Ich parkte, stellte den Motor ab und blieb sitzen.

Natürlich war es töricht gewesen, hierher zu kommen. Ich war einem dieser verwegenen Impulse gefolgt… große Gefühle, nichts dahinter. Ich hatte mich aufgeschwungen, meinen Vater zu besuchen, bevor ich das Land verließ (und er das Zeitliche segnete) — doch was genau sollte das bringen? Was hatte ich ihm zu sagen und was er mir? Was?

Ich langte schon nach dem Zündschlüssel, als er auf die knarrende Holzveranda kam, um seine Abendzeitung zu holen. Die Verandabeleuchtung ließ ihn in der blauen Dämmerung ganz gelbsüchtig erscheinen. Er blickte herüber, bückte sich nach der Zeitung und blickte wieder herüber. Schließlich kam er in Pantoffeln und Unterhemd bis zur Bordsteinkante. Er keuchte infolge der ungewohnten Anstrengung.

Ich fuhr die Scheibe herunter.

Er sagte: »Ich dachte mir, dass du es bist.«

Der Klang seiner Stimme weckte eine Vielzahl unerfreulicher Erinnerungen. Ich schwieg.

»Komm schon rein«, sagte er. »Ist kalt hier draußen.«

Ich verriegelte den Wagen hinter mir und aktivierte die Sicherheitsautomatik. Weiter unten auf der Straße verfolgten drei Asiaten mit ausdrucksloser Miene, wie ich meinem todgeweihten Vater zur Haustür folgte.

Chuffy erholte sich von seinen Verletzungen, kam aber nie wieder in Reichweite meiner Mutter. Dagegen waren die Verletzungen meiner Mutter dauerhaft und lähmend. Irgendwann während ihres Verfalls erklärte man mir, sie leide an einer Folge von Schizophrenie, die erst im Erwachsenenalter ausbreche; dabei handle es sich um eine neurologische Erkrankung, um einen Fehler irgendwo in den mysteriösen, aber natürlichen Gehirnabläufen. Ich glaubte das nicht, weil ich aus unmittelbarer Erfahrung wusste, dass das Problem nicht nur einfacher, sondern auch schrecklicher war: Eine gute Mutter und eine schlechte Mutter teilten sich seit geraumer Zeit ein und denselben Körper. Und dass ich die gute Mutter liebte, machte es möglich, ja unumgänglich, die schlechte zu hassen.

Oje, und sie vermengten sich. Gab die gute Mutter mir morgens einen Abschiedskuss, konnte es sein, dass, wenn ich (spät und widerstrebend) von der Schule heimkam, die wahnsinnige das Sagen hatte. Als Teenager hatte ich keine engen Freunde, denn wenn man Freunde hat, muss man sie auch mit nach Hause bringen können; und als ich das zum letzten Mal versucht hatte, als ich einen schüchternen rothaarigen Jungen namens Richard mitbrachte, der mir in Erdkunde geholfen hatte, da hielt sie ihm zwanzig Minuten lang eine Standpauke über die Gefahr von Videomonitoren für seine künftige Zeugungsfähigkeit. Was sie tatsächlich sagte, klang anschaulicher. Am Tag darauf verhielt Richard sich reserviert und teilnahmslos, als hätte ich mir Gott-weiß-was herausgenommen. Ich könne nichts dafür, wollte ich ihm erklären, genauso wenig wie meine Mutter. Wir waren die Opfer eines unheimlichen Spuks.

Weil sie nicht an ihre Krankheit glaubte, schrieb sie alles meiner Schwäche zu, nicht der ihren, und ich weiß nicht mehr, wie oft sie im Laufe meiner Teenagerzeit verlangt hat, ich solle endlich damit aufhören, sie »so« anzusehen — das heißt mit solcher Panik in den Augen. Eine der Ungereimtheiten paranoider Schizophrenie ist, dass sie ihre dunkelsten Erwartungen mit beinahe mathematischer Genauigkeit erfüllt. Sie dachte, wir — also Vater und ich — hätten uns verbündet, sie in den Wahnsinn zu treiben.

Nichts von alledem ließ Vater und mich näher zusammenrücken. Im Gegenteil. Er verleugnete die Diagnose fast so hartnäckig wie meine Mutter, nur direkter. Er fand wohl immer, er habe unter seiner Würde geheiratet, habe seinen Schwiegereltern in Nashua, New Hampshire, einen Gefallen getan, ihnen die launische und verstockte Tochter abzunehmen. Vielleicht hatte er ja erwartet, die Heirat würde sie bessern. Irrtum. Mutter hatte ihn enttäuscht — und er sie wohl auch. Doch er stellte nach wie vor hohe Anforderungen an sie. Er tadelte sie für jede irrationale Handlung, als sei sie zu moralischen und ethischen Urteilen fähig — was sie durchaus war, aber nur sporadisch. Also büßte die gute Mutter für die Sünden der schlechten. Die schlechte mochte verbittert und garstig sein, die gute konnte verschüchtert und zaghaft sein. Die gute Mutter konnte auf den Zustand der Bußfertigkeit reduziert werden, und Vater vollzog regelmäßig diese alchimistische Wandlung an ihr. Er schrie sie an, schlug sie manchmal, demütigte sie regelmäßig, derweil ich mich in meinem Zimmer verkroch und mir eine Welt vorgaukelte, in der es weder ihn noch die ungebetene Pseudo-Ma gab. Wo die gute Ma und ich ein zufriedenes Leben führten, so wie sie es zumindest einmal gewollt hatte, während mein Vater fortfuhr, sein irrationales Schattenweib an irgendeinem entlegenen Ort zu bekriegen — sagen wir, in einer Gefängniszelle oder in einem Irrenhaus.

Später, mit sechzehn und nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, aber noch bevor sie in das Heim in Connecticut eingewiesen wurde, wo sie ihre letzten Jahre verbracht hat, da machte Vater mit uns einen Ausflug nach New York City. Er muss wohl geglaubt haben — wie verzweifelt muss er gewesen sein, um nach diesem Strohhalm zu greifen? —, dass ein Urlaub ihr gut tun würde, ihr »den Kopf durchpusten« würde, wie er gerne sagte. Also beluden wir den Wagen, ließen das Öl wechseln und den Tank füllen und machten uns wie eigensinnige Pilger auf den Weg. Mutter bestand darauf, die hintere Sitzbank für sich allein zu haben. Ich saß vorne, als Navigator, und blickte ab und zu über die Schulter, um Mutter anzuflehen, nicht an den Lippen zu pflücken, auf denen sich bereits Blut zeigte.

Ich habe nur zwei lebhafte Erinnerungen an das Wochenende in New York City.

Am Samstag besuchten wir die Freiheitsstatue, und mir ist, als sehe ich noch jede einzelne der blanken Stufen vor mir, die wir auf dem Weg zur Spitze erklimmen mussten. Ich erinnere mich an den widersprüchlichen Eindruck von Kleinheit und Größe, als wir oben waren, den Geruch nach Schweiß und heißem Kupfer in der windstillen Juliluft. Beim Anblick von Manhattan scheute Mutter zurück, ein leises Wehklagen auf den Lippen, derweil ich hingerissen zusah, wie die Seemöwen aufs Meer hinunterstießen. Ich nahm als Souvenir ein hohles, handgroßes Messingmodell der Freiheitsstatue mit nach Hause.

Und ich erinnere mich an den Morgen darauf, den Sonntagmorgen, als meine Mutter das Hotelzimmer verließ, während Vater noch duschte und ich unten im Korridor stand und die Softdrinkmaschine mit 25-Cent-Stücken fütterte. Als ich zurückkam und das Zimmer verwaist fand, bekam ich es mit der Angst, brachte es aber nicht fertig, Vater aus dem Bad zu holen, wohl weil ich noch mehr Angst vor seinen Vorwürfen hatte. Stattdessen schritt ich ein paarmal den roten Läufer im Korridor ab, vorbei an stummen Dienern und Wägelchen mit weißem Bettzeug, bevor ich mit dem Lift ins Foyer fuhr. Ich sah das dunkle Haar meiner Mutter, wie sie das Foyer durch die Drehtür verließ. Ich rief ihr nicht hinterher, weil das ein peinliches Aufsehen erregt hätte, rannte ihr stattdessen nach und hätte fast das Zeitungsregal vor dem Souvenirladen umgerissen. Doch bis ich aus der Drehtür und auf dem Gehsteig war, war sie nicht mehr zu sehen. Der rot gekleidete Pförtner blies auf seiner Pfeife, ich wusste nicht, warum, und dann sah ich sie auf der Bordsteinkante liegen und hörte sie stöhnen, während der Fahrer des Lieferwagens, der sie angefahren hatte (sie hatte beide Beine gebrochen), heraussprang und sich zitternd über sie beugte, die Augen weit aufgerissen, groß wie zwei Vollmonde. Und alles, was ich empfand, war eine brutale Eiseskälte.


Nach dem Wochenende in New York wurde Mutter in das Pflegeheim eingewiesen — das heißt, nachdem ihre Beine wieder geheilt waren (solange Mutter Gips trug, hatten sich die Ärzte des Central Mercy gezwungen gesehen, sie unter Haldol[19]. Das Wohnzimmer, in dem ich nun mit meinem Vater saß, hatte sich seither erstaunlich wenig verändert. Nicht, dass er Anstalten gemacht hätte, das Haus zu einem Schrein für Ma zu machen. Er hatte einfach nichts verändert. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, etwas zu verändern.

»Ich hab 'nen Haufen Anrufe bekommen, immer ging es um dich. Dachte schon, du hättest 'ne Bank ausgeraubt.«

Die Vorhänge waren zugezogen. Es war eins von den Häusern, die nicht viel Licht hereinließen, egal was man dagegen tat. Auch die uralte Flurleuchte konnte die Düsternis nicht vertreiben.

Er saß in seinem abgenutzten grünen Lehnstuhl, atmete flach und wartete, dass ich etwas sagte.

»Es ging um einen Job«, sagte ich. »Man hat mich ein bisschen durchleuchtet.«

»Merkwürdiger Job, wenn das FBI Hausbesuche macht.«

Das Unterhemd zeigte deutlich, wie abgemagert er war. Er war früher mal ein stattlicher Kerl gewesen. Stattlich und leicht reizbar, kein Mann, mit dem sich spaßen ließ. Jetzt hatte er die Arme eines Skeletts, an denen kaum noch Fleisch hing. Die einst gewölbte Brust war auf die Rippen geschrumpft, der Dorn vom Gürtel war mindestens im fünften Loch, und das lose Ende baumelte am Hüftgelenk.

»Ich bin jetzt eine Zeit lang außer Landes«, ließ ich ihn wissen.

»Wie lange?«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht.«

»Hat dir das FBI gesagt, ich war krank?«

»Ist mir zu Ohren gekommen.«

»Vielleicht bin ich nicht so krank, wie sie denken. Es geht mir nicht gut, aber…« Er zuckte die Achseln. »Diese Ärzte wissen gar nichts, benehmen sich aber wie Moses. Willst du 'nen Kaffee?«

»Lass nur. Die Kaffeemaschine steht bestimmt noch an derselben Stelle.«

»Du meinst, ich bin zu gebrechlich, um Kaffee zu machen?«

»Das hast du gesagt.«

»Ich kann immer noch Kaffee machen, Jesus Christus.«

»Lass dich nicht aufhalten.«

Er ging in die Küche. Ich stand auf, um ihm zu folgen, hielt aber an der Türschwelle inne, als ich sah, wie er heimlich einen ordentlichen Schuss Jack Daniels in seine Tasse kippte. Seine Hände bebten.

Ich wartete im Wohnzimmer und besah mir die Bücherregale. Die meisten Bücher hatten meiner Mutter gehört. Mutters Geschmack war Nora Roberts gewesen, »The Bridges of Madison County«, und unzählige Titel von Tim LaHaye. Mein Vater steuerte die alten Romane von Tom Clancy bei und »Stranger than Science«. Ich hatte viele Bücher besessen damals, als ich hier gelebt hatte. Ich war ein Muster-Student gewesen, vermutlich nur, weil ich Angst gehabt hatte, nach Hause zu kommen — hatte aber meine Detektivromane auf einem gesonderten Brett stehen, pingelig darauf bedacht, Conan Doyle oder James Lee Burke von Autoren wie V. C. Andrews und Catherine Coulter fern zu halten.

Mein Vater kam mit zwei dampfenden Bechern zurück. Mir gab er den mit Coriolis Shipping, dem stark verblassten Namen seines letzten Arbeitgebers. Dreiundzwanzig Jahre lang hatte er das Coriolis-Vertriebsnetz verwaltet und kassierte nach wie vor jeden Monat sein Ruhegeld. Der Kaffee war bitter und schlabbrig in einem. »Richtige Milch oder Sahne hab ich nicht«, sagte er. »Ich weiß, dass du ihn weiß trinkst. Ich habe Milchpulver genommen.«

»Ist gut so«, sagte ich.

Er lehnte sich im Stuhl zurück. Vor ihm auf dem Beistelltisch lag eine Fernbedienung, vermutlich für sein Videodisplay. Er schaute sie sehnsüchtig an, griff aber nicht danach. Er sagte: »Das muss ein merkwürdiger Job sein, auf den du dich beworben hast, denn diese FBI-Leute haben ein paar seltsame Fragen gestellt.«

»Zum Beispiel?«

»Naja, wie soll ich sagen, da war das Übliche, wo du zur Schule gegangen bist und was für Abschlüsse du gemacht hast und wo du gearbeitet hast. Aber sie wollten es ganz genau wissen. Ob du Sport getrieben hast, was du in deiner Freizeit gemacht hast, ob du viel über Politik und Geschichte geredet hast. Ob du viele Freunde hattest oder eher zurückgezogen warst. Wer dein Hausarzt war, ob du irgendwelche ungewöhnlichen Kinderkrankheiten hattest, ob du jemals beim Psychiater warst. Und eine Menge über Elaine. Dass sie krank war, wussten sie. Bei so was hab ich meistens gesagt, sie sollten sich verpissen. Sie wussten schon ziemlich Bescheid, das war auffallend.«

»Sie haben nach Ma gefragt?«

»Sagte ich schon.«

»Was für Fragen waren das?«

»Nach ihren — du weißt schon — Symptomen. Wann sie auftraten und wie sie sich benommen hat. Wie du das aufgenommen hast. Dinge, die eindeutig nur uns etwas angehen, sonst keinen. Christus, Scotty, sie wollten mit ihrer Nase überall rein. Den alten Krempel von dir in der Garage wollten sie sehen. Ob du's glaubst oder nicht, sie haben Proben vom Leitungswasser genommen.«

»Willst du damit sagen, sie sind hier aufgekreuzt?«

»Hm.«

»Was haben sie sonst noch mitgenommen, ich meine, außer Leitungswasser?«

»Keine Ahnung, sie kamen im Rudel, und ich konnte nicht überall sein. Wenn du den alten Krempel sehen willst, der Karton ist noch da, hinter dem Buick.«

Neugierig und verstört nahm ich das Angebot an und ging in die ungeheizte Garage.

In dem fraglichen Karton war lauter Kram aus meiner High-School-Zeit. Jahrbücher, zwei akademische Auszeichnungen, alte Romane und DVDs, ein paar Spielsachen und Andenken. Und nicht zuletzt die kleine Freiheitsstatue aus Messing, die ich von New York mitgebracht hatte. Der grüne Filz unter dem Sockel war verschlissen, der hohle Messingkörper fleckig angelaufen. Ich nahm die Figur und steckte sie in die Rocktasche. Sollte in diesem Sammelsurium etwas fehlen, ich würde es nicht merken. Doch die Vorstellung von anonymen FBI-Agenten, die Kartons mit persönlichen Habseligkeiten in der Garage durchwühlten, war ätzend.

Zuunterst lag ein Packen Bilder, die ich in meiner Schulzeit gemalt hatte. In Kunst war ich nie besonders gut gewesen, aber Mutter hatten diese Bilder so gut gefallen, dass sie sie aufgehoben hatte. Abblätternde Deckfarbenbilder auf braunem Papier, das die Konsistenz von altem Herbstlaub hatte. Hauptsächlich Schneemotive. Krumme Kiefern, primitive eingeschneite Hütten — einsame Dinge in einer weiten Landschaft.

Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, war Vater im Stuhl eingenickt. Die Kaffeetasse balancierte auf der gepolsterten Armlehne. Ich setzte sie auf das Tischchen. Er fuhr auf, als das Telefon klingelte. Ein altes Telefon mit Hörer und Schnur, die zu einem Digital-Adapter an der Wand lief.

Er hob ab, blinzelte und sagte ein paarmal »Ejah«, bevor er mir den Hörer reichte. »Für dich.«

»Für mich?«

»Siehst du sonst noch einen?«

Sue Chopra war am Apparat, die niedrige Bandbreite der Schnur dünnte die Stimme aus.

»Du machst uns Kummer, Scotty«, sagte sie.

»Danke gleichfalls.«

»Willst du nicht wissen, wie wir dich gefunden haben? Sei froh, dass es uns gelungen ist. Einfach so wegzulaufen, du hast uns richtig Angst eingejagt.«

»Sue, ich bin nicht weggelaufen. Ich verbringe den Nachmittag mit meinem Vater.«

»Ich verstehe. Besser, du hättest einen Ton gesagt, bevor du die Stadt verlässt. Morris hat dir jemanden nachgeschickt.«

»Morris kann mich mal. Willst du damit sagen, ich brauche eine Erlaubnis, um die Stadt zu verlassen?«

»Das ist kein geschriebenes Gesetz, aber es wäre nett gewesen. Scotty, ich weiß, wie sauer du bist. Mir ist es genauso ergangen. Was soll ich sagen? Die Zeiten ändern sich. Heute lebt es sich gefährlicher. Wann kommst du zurück?«

»Heute Abend.«

»Gut. Ich denke, wir müssen reden.«

Das, sagte ich ihr, dächte ich auch.


Ich blieb noch ein paar Minuten bei meinem Vater sitzen, dann erklärte ich ihm, ich könne nicht länger bleiben. Das schwache Tageslicht jenseits des Fensters war restlos erloschen. Das Haus war zugig und roch nach Staub und trockener Hitze.

Er verlagerte sein Fliegengewicht und sagte: »Du bist weit gefahren, nur um einen Kaffee zu trinken und herumzunuscheln. Ich weiß genau, warum du hier bist. Ich werd dir was sagen, ich fürchte mich nicht besonders vor dem Sterben. Auch nicht vor dem Reden darüber. Man wacht auf, liest die Post, sagt sich, na ja, heute wohl nicht. Aber das heißt nicht, dass man's nicht weiß.«

»Ich verstehe.«

»Nichts verstehst du. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Das klang erstaunlich aus seinem Mund. Ich brachte keine Antwort zustande.

Er erhob sich. Die Hose hing tief an den knochigen Hüften. »Ich habe deine Mutter nicht immer richtig behandelt. Aber ich war da, Scotty. Vergiss das nicht. Auch als sie im Krankenhaus war. Auch als sie phantasiert hat. Ich habe dich nur mitgenommen, wenn ich wusste, dass sie einen guten Tag hat. Sie hat Sachen gesagt, die einem die Schuhe ausziehen. Und dann warst du fort, zum College.«

Nicht lange vor meinem Abitur war sie an einer Lungenentzündung gestorben. »Du hättest mich rufen können, als sie krank wurde.«

»Warum? Damit du mitkriegst, wie dich die eigene Mutter auf dem Sterbebett verflucht? Wo liegt da der Sinn?«

»Ich habe sie auch geliebt.«

»Ein Kinderspiel für dich. Vielleicht habe ich sie geliebt, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich war bei ihr, Scotty. Die ganze Zeit. Ich war nicht unbedingt nett zur ihr. Aber ich war bei ihr.«

Ich ging zur Tür. Er kam mir ein paar Schritte hinterher, dann blieb er stehen, außer Atem.

»Ich wollte immer, dass du das weißt«, sagte er.

Acht

Im Flughafen Ben Gurion ging es chaotisch zu, er war überfüllt mit fliehenden Touristen. Die landende El-Al-Maschine — mit vier Stunden Verspätung auf Grund der Wetterverhältnisse und mit dreitägiger »diplomatischer« Verzögerung, über die Sue sich ausschwieg — war nahezu leer gewesen. Beim Abflug würde sie allerdings restlos ausgelastet sein. Die Evakuierung von Jerusalem war in vollem Gange.

Ich verließ die Maschine inmitten einer Kerngruppe aus Sue Chopra, Ray Mosely und Morris Torrance, umgeben von einem Kordon aus FBI-Agenten mit Sichtverstärkern vor den Augen und verdeckten Waffen. Am Fuß der Rampe erwarteten uns fünf IDF-Rekruten in Jeans und weißem T-Shirt, die uns mit geschulterten Uzis eskortierten.[20] Wir wurden rasch durch den israelischen Zoll und aus dem Flughafen zu einem Gefährt geschleust, das wie ein Scheruti aussah, ein privates Großtaxi, das man für diesen Ausnahmezustand requiriert hatte. Sue schlitterte in den Sitz neben mir, sie war noch benommen von der Anreise. Morris und Ray kletterten hinter uns in den Wagen, und wir fuhren mit schnurrendem Antrieb los.

Monotoner Regen zog einen Schmierfilm über Highway One. Die lange Kette von Autos, die Richtung Tel Aviv kroch, glitzerte traurig unter fliegenden Wolken, nur die Straßen nach Jerusalem lagen wie ausgestorben. Voraus verkündeten riesige Verkehrsdisplays die Evakuierung. Hinter uns zeigten sie die einzelnen Evakuierungsrouten an.

»Macht ein bisschen nervös«, sagte Sue, »irgendwo hinzugehen, wo keiner bleiben will.«

Der Rekrut der Defense Force, der ganz hinten saß — er sah aus wie ein Teenager —, schnaubte respektlos.

Morris sagte: »Hier ist man ziemlich skeptisch. Und sauer. Die Likkudpartei könnte die nächste Wahl verlieren.«

»Aber nur, wenn nichts passiert«, sagte Sue.

»Wie stehen die Chancen?«

»Eins zu einer Million.«

Der junge Israeli schnaubte wieder.

Eine Regenböprasselte gegen den Scheruti. Januar, Februar ist Regenzeit in Israel. Ich blickte aus dem Fenster und sah einen windgebeutelten Olivenhain. Meine Gedanken kreisten immer noch um das, was Sue mir im Flugzeug erzählt hatte.

Nach meinem Abstecher ins Elternhaus hatte sie sich tagelang rar gemacht und die diplomatischen Schwierigkeiten heruntergespielt, die uns bis zur vorletzten Minute in Baltimore hielten.

Ich nutzte die Woche, um den Code zu überarbeiten, und verbrachte ein paar Abende mit Morris und Ray — an der Theke, versteht sich.

Die Gesellschaft der beiden war erfreulicher, als ich erwartet hatte. Ich war ausgesprochen sauer auf Morris, weil er mir bis zu meinem Elternhaus nachspioniert hatte… doch Morris Torrance gehörte zu den Männern, die Leutseligkeit zu einer Kunstform erheben. Oder instrumentalisieren. Ärger prallte an ihm ab wie die Kugel an Supermans Brust. Er war nicht dogmatisch, was die Chronolithen anging, favorisierte keine Ansicht über die Bedeutung Kuins, aber sein Interesse war unverkennbar groß. Und das hieß, wir konnten mit ihm albern und Unsinn reden: Ideen loslassen, manche haarsträubend, ohne Angst, in irgendwelche religiösen oder politischen Fettnäpfchen zu treten. Oder tat er nur so? Immerhin vertrat er das FBI. Höchstwahrscheinlich landete alles, was wir sagten, in einem Aktenordner. Sein Talent bestand darin, uns darüber hinwegzutäuschen.

In seiner Gegenwart wurde sogar Ray Mosely mitteilsam. Ich hatte Ray als einen aufgeweckten, aber kontaktarmen Typen eingestuft, dessen Sexualradar hoffnungslos und anmaßend auf Sue fixiert war. Da war sicher etwas dran. Doch wenn er sich entspannte, offenbarte er eine Leidenschaft für American League-Baseball, die ihn mir sympathisch machte. Ray mochte das erweiterte Team aus seiner Heimatstadt Tucson und brachte es fertig, mit einigen Bemerkungen über die Orioles einen Burschen am Nachbartisch zu nerven. Wovon er keinen Deut abrückte, als er zur Rede gestellt wurde. Ray war kein Feigling. Er war einsam, ja, aber das war überwiegend eine intellektuelle Einsamkeit. Hatte er sich so verstiegen, dass wir ihm nicht mehr folgen konnten, und er bemerkte es, dann ließ er die Unterhaltung im Sande verlaufen. Er war deshalb nicht herablassend — zumindest nicht sehr oft —, nein, man sah ihm an, dass er traurig war, seine Gedanken nicht mit uns teilen zu können.

Es war, glaube ich, genau diese Einsamkeit, die Sue bei ihm befriedigte. Es war ihm egal, dass sie ihre physische Sexualität für kurze Kontakte aufhob, die absolut nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben durften. Ich glaube, mit ihr zu fachsimpeln war für Ray wie Sex.

Sue ließ sich kaum blicken. »Genau so war es auch in Cornell«, erklärte ich Morris und Ray. »Für ihre Studenten, meine ich. Sie brachte uns zusammen. Aber die besten Gespräche fanden nach dem Seminar statt, ohne sie.«

»Muss so etwas wie eine Kostümprobe gewesen sein«, philosophierte Morris.

»Für welches Stück? Hierfür? Für die Chronolithen?«

»Davon konnte sie ja damals nichts wissen. Aber habt ihr nicht manchmal auch das Gefühl, als sei euer Leben eine einzige Generalprobe für ein kritisches Ereignis gewesen?«

»Schon möglich. Manchmal.«

»Als hätte sie damals in Cornell das falsche Ensemble gehabt«, sagte Morris, »und als hätte das Skript noch einer Überarbeitung bedurft. Aber Sie müssen gut gewesen sein, Scott.« Er lächelte. »Die endgültige Fassung ist Ihr Werk.«

»Und wo ist das kritische Ereignis?«, fragte ich. »Die Sache in Jerusalem?«

»Die Sache in Jerusalem… oder irgendwas danach.«


Sue und ich konnten erst unter vier Augen reden, als wir hoch oben über dem Atlantik waren. Sie winkte mich nach hinten in die verwaiste Economyklasse und sagte: »Tut mir Leid, dass ich dich außen vor gelassen habe, Scotty. Und das mit deinem Dad tut mir auch Leid. Ich dachte, das wird ein Acht-Stunden-Job für dich und kein…«

»Hausarrest?«, sprang ich bei.

»Richtig, Hausarrest. Was anderes ist es doch nicht. Und nicht bloß für dich. Mir ergeht es genauso. Man will uns zusammenhalten und rund um die Uhr observieren.«

Sue hatte sich einen Schnupfen geholt und bekämpfte ihn so entschieden, wie sie alle Widrigkeiten bekämpfte. Sie saß da, die Hände im Schoß, und zwirbelte mitten in einem Sonnenstrahl an ihrem Taschentuch, so offenkundig zerknirscht und so unerschütterlich wie Mahatma Gandhi. Am entgegengesetzten Ende teilte ein El-Al-Steward Kunststoffbehältnisse mit Rührei und Toast aus. Ich sagte: »Warum ich, Sue? Niemand will mir diese Frage beantworten. Du hättest dir einen weiß Gott besseren Programmierer ins Boot holen können. Ich war in Chumphon, ja, aber das erklärt gar nichts.«

»Stell dein Licht nicht untern Scheffel«, sagte sie. »Aber ich weiß, was du meinst. Die Überwachung durchs FBI, die Agenten im Haus deines Vaters. Scotty, vor ein paar Jahren hab ich einen Fehler gemacht; ich wollte einen Aufsatz publizieren, der sich mit einem Phänomen befasste, das ich ›Tau-Turbulenz‹ nannte. Ein paar einflussreiche Leute haben ihn gelesen.«

Von einer Antwort, die sich in abstrakte Theorien verstieg, versprach ich mir überhaupt nichts. Ich wartete stirnrunzelnd, derweil sie sich lautstark schnauzte.

»Entschuldige«, sagte sie. »In dem Aufsatz ging es um Kausalität, man könnte sagen, um Kausalität im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen temporaler Symmetrie und Chronolithen. Hauptsächlich Mathematik, und das meiste davon befasste sich mit ein paar strittigen Aspekten des Quantenverhaltens. Aber ich habe auch darüber spekuliert, wie die Chronolithen unsere herkömmliche Auffassung von Ursache und Wirkung im makroskopischen Bereich aufmischen könnten. Im Prinzip habe ich lediglich gesagt, dass in einem lokalisierten Tau-Ereignis — sagen wir, dem Erzeugen eines Chronolithen — die Wirkung offenbar der Ursache vorausgeht; nun erzeugt so ein Ereignis aber auch so etwas wie einen fraktalen Raum, in dem die wesentlichen Verbindungen zwischen den Ereignissen nicht determinierend, sondern korrelierend wirken.«

»Und was bitte soll das heißen?«

»Stell dir einen Chronolithen als lokales Ereignis in der Raumzeit vor. Es gibt ein Interface, einen Grenzbereich zwischen dem konventionellen Zeitfluss und der Negativ-Tau-Anomalie. Die Zukunft kommuniziert mit der Gegenwart, aber so einfach ist das nicht. Es gibt kleine Wellen, Wirbel und Strömungen. Die Zukunft beeinflusst die Vergangenheit und diese wiederum die Zukunft. Kannst du mir folgen?«

»Halbwegs.«

»Wir haben es also mit einer Art Turbulenz zu tun, die nicht so sehr durch Ursache und Wirkung oder gar paradoxes Verhalten gekennzeichnet ist als durch einen Schaum aus Korrelation und Koinzidenz. Man kann nicht nach der Ursache für die Bangkok-Manifestation fahnden, weil sie schlichtweg noch gar nicht existiert, aber man kann nach Anhaltspunkten in der Turbulenz suchen — in den unerwarteten Korrelationen.«

»Und die wären?«

»Als ich den Aufsatz schrieb, habe ich auf Beispiele verzichtet. Aber jemand hat mich so ernst genommen, dass er selbst die Schlüsse daraus gezogen hat. Das FBI recherchierte und nahm alle unter die Lupe, die nach dem Chumphon-Ereignis interviewt worden waren, also die kleinste und umfassendste statistische Erhebung, die sich anbot. Dann erstellten sie eine Datenbank mit den Namen und Lebensläufen von allen Leuten, die sich jemals öffentlich über die Chronolithen geäußert hatten, in der Frühphase vor allem; und von allen, die sich vor Ort — also in Chumphon — wissenschaftlich betätigt hatten, eingeschlossen die Burschen, die die Traktoren gefahren und die Klos installiert hatten; und von allen, die sie nach dem Ereignis verhört hatten. Dann suchten sie nach Verbindungen.«

»Und wurden vermutlich fündig.«

»Es gab schon merkwürdige Verbindungen. Aber die mit Abstand merkwürdigste waren wir beide.«

»Doch nicht wegen Cornell?«

»Zum Teil schon; aber sieh es mal so, Scotty. Da ist eine Frau, die über Tau-Anomalien und Exotische Materie redet, und das nicht erst seit Chumphon. Und die sich seither zur vielbeachteten Expertin für Chronolithen gemausert hat. Und da ist ihr ehemaliger Student, ein alter Freund, der sich rein zufällig am Strand von Chumphon aufhält und den man eine Meile vor dem ersten bekannten Chronolithen verhaftet, und das nur ein paar Stunden nach dem besagten Ereignis.«

»Sue«, sagte ich, »du weißt genauso gut wie ich, dass das nichts zu bedeuten hat.«

»Nicht im kausalen Sinne, das stimmt, aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass es mit dem Finger auf uns zeigt. Der Versuch, die Entstehung eines Chronolithen zurückzuverfolgen, ist vergleichbar mit dem Versuch, einen Pullover aufzutrennen, bevor er überhaupt gestrickt wurde. Es geht nicht. Man erwischt bestenfalls bestimmte Fäden, die die richtige Länge haben oder ähnlich gefärbt sind, und stellt gewisse Vermutungen an, wie sie miteinander verschlungen sein könnten.«

»Und deshalb hat sich das FBI mit meinem Vater befasst?«

»Es gibt nichts, womit es sich nicht befasst. Wir wissen ja nicht, was wirklich von Bedeutung ist.«

»Die Logik der Paranoia.«

»Na ja, genau damit haben wir es zu tun, mit der Logik der Paranoia. Deshalb stehen wir beide unter Bewachung. Nicht, weil man uns einer kriminellen Handlung verdächtigt, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Aber man macht sich Sorgen, was aus uns werden könnte.«

»Wir sind die Bösewichter, meinst du das?«

Sie spähte aus dem Flugzeugfenster und durch die Lücken in der Kumuluswolke auf das Meer tief unten, das sich wie ein polierter blauer Spiegel ausnahm.

»Überleg mal, Scotty. Wer immer dieser Kuin ist, erfunden hat er diese Technologie sicher nicht. Eroberer und Könige studieren selten Physik. Sie benutzen, was sie vorfinden. Jeder könnte Kuin sein, egal wo, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird er diese Technologie einfach stehlen, und wer sagt, dass er sie nicht von uns stiehlt? Vielleicht sind wir aber auch die guten Geister. Vielleicht lösen wir ja das Rätsel. Auch das ist möglich — eine ganz andere Art der Verbindung. Wir sind nicht bloß Gefangene, sonst säßen wir doch hinter Gittern. Man überwacht uns, aber man schützt uns auch.«

Ich blickte in Richtung Cockpit, um zu prüfen, ob uns jemand zuhörte, doch Morris saß ganz vorne und schwatzte mit einer Flugbegleiterin, und Ray war in ein Buch vertieft. »Bis zu einem gewissen Punkt bin ich einverstanden«, sagte ich. »Ich werde vernünftig bezahlt, während viele gar nichts bekommen, und ich bekomme Dinge zu Gesicht, von denen ich nie gedacht hätte, sie je zu Gesicht zu bekommen.« Dass der Job meiner Obsession entgegenkam, ließ ich unerwähnt. »Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich kann nicht versprechen…«

Um jeden Preis dabei zu bleiben, wollte ich sagen. Ein Ministrant wie Ray Mosely zu werden. Nicht, wenn die Welt zum Teufel ging und ich eine Tochter zu beschützen hatte.

Sue sprang mir mit einem nachdenklichen Lächeln bei: »Mach dir keine Sorgen, Scotty. Niemand verspricht mehr etwas. Keiner weiß mehr etwas. Gewissheit ist ein Luxus, den wir uns abschminken können.«

Ich war schon früh mit solcher Ungewissheit konfrontiert gewesen. Eine Regel des Zusammenlebens mit einem schizophrenen Elternteil heißt: Verrücktsein ist normal. Man kann es aushalten. Zumindest — wie ich Sue erklärt hatte — bis zu einem gewissen Punkt.

Danach überspült der Wahnsinn alles. Er kriecht in dich hinein und richtet sich dort ein, bis du niemandem mehr traust, nicht einmal dir selbst.


Der erste Kontrollpunkt des Highway One war zugleich der kritischste. Hier wies die IDF Leute ab, die verrückterweise von der Evakuierung angezogen wurden.

Vor Jahrzehnten hatte man das »Jerusalemsyndrom« als psychische Erkrankung eingestuft. Besucher wurden manchmal von der kulturellen und mythologischen Bedeutung der Stadt überwältigt. Sie identifizierten sich allzu sehr damit, zogen Sandalen an und hüllten sich in Bettlaken, predigten auf dem Ölberg oder versuchten auf dem Tempelberg Tiere zu opfern. Mit diesem Phänomen schlug sich die psychiatrische Klinik Kfar Shaul nicht erst seit der Jahrhundertwende herum.

Die globale Ungewissheit, die von den Chronolithen ausging, hatte eine neue Pilgerwelle ausgelöst, und die Evakuierung hatte das Fieber noch angeheizt. Jerusalem wurde evakuiert, um seine Einwohner in Sicherheit zu bringen, aber so etwas hatte noch nie einen Fanatiker gekümmert. Wir schlängelten uns durch eine Fahrzeugkolonne — manche Autos, deren Insassen nicht kehrtgemacht hatten, standen verlassen am Kontrollpunkt. Es herrschte ein ständiger Transit von Polizeifahrzeugen, Ambulanzen und Abschleppwagen.

Wir nahmen das Hindernis bei Einbruch der Dunkelheit und erreichten, als der letzte Schimmer des Tages verblasste, ein größeres Hotel auf dem Mt. Scopus.

Ein Netz von Beobachtungsposten lag über die Stadt verteilt: nicht nur die unseren, auch Militärposten, ein UN-Posten, Abordnungen von israelischen Universitäten und das internationale Pressezentrum auf der Haas Promenade. Der Mt. Scopus (Har HaTsojim auf Hebräisch, was so viel wie »überblicken« heißt) war allerdings ein ausgesuchter Ort. Hier hatten um 70 n. Chr. die Römer ihr Lager aufgeschlagen, bevor sie aufbrachen, um die jüdische Revolte niederzuschlagen. Aus ähnlichen Gründen waren auch die Kreuzritter hier gewesen. Die Altstadt bot einen spektakulären und zugleich bestürzenden Anblick. Die Evakuierung, besonders der palästinensischen Bezirke, war nicht reibungslos verlaufen. Die Flammen züngelten immer noch.

Ich folgte Sue durch das verwaiste Foyer zu einer Flucht benachbarter Zimmer auf der obersten Etage. Hier lag das Zentrum der Operation. Man hatte die Vorhänge heruntergenommen und eine Crew von Technikern hatte fotografische und andere Überwachungssysteme aufgestellt sowie — weit beunruhigender — eine Batterie starker Heizungen. Die meisten Leute hier gehörten zu Sues Forschungsprojekt, nur ein paar davon waren ihr allerdings persönlich begegnet. Etliche beeilten sich, ihr die Hand zu schütteln. Sue freute sich darüber, war aber offensichtlich erschöpft.

Morris zeigte uns unsere privaten Zimmer und schlug vor, sich nach dem Frischmachen im Foyer-Restaurant einzufinden.

Sue wunderte sich laut, wie es denn dem Restaurant gelungen sei, während der Evakuierung offenzuhalten. »Das Hotel liegt außerhalb der primären Sperrzone«, sagte Morris. »Es gibt eine Minimalbesetzung, die sich um uns kümmert, lauter Freiwillige, und einen beheizten Bunker hinter der Küche.«

Auf meinem Zimmer nahm ich mir ein paar Minuten Zeit, mir die Stadt anzusehen, die wie eine steinerne Bettspreite über die judäischen Berge geworfen war. Die Straßen in der Nähe waren leer bis auf die Security-Patrouillen und vereinzelte Ambulanzen aus dem Hadassah Mt. Sinai ein paar Straßen von hier. Verkehrsampeln nickten im Wind wie gelähmte Engel.

Der IDF-Mann im Wagen hatte etwas Interessantes gesagt, als wir den Kontrollpunkt passierten. Damals, sagte er, hätten sich die Fanatiker, die nach Jerusalem kamen, gewöhnlich für den wiederauferstandenen Jesus oder für Johannes den Täufer oder den ersten und einzig wahren Messias gehalten.

Seit kurzem würden viele behaupten, Kuin zu sein.

Eine Stadt, die viel zu viel Geschichte erlebt hatte, wollte immer noch mehr davon.


Im riesigen Atrium des Hotels wurde ich bereits von Sue, Morris und Ray erwartet. Morris umfasste mit einer Geste die fünf Etagen hängender Pflanzen und sagte: »Prüf es nach, Scotty, das sind die hängenden Gärten von Semiramis.«

»Babylon ist ziemlich weit östlich von hier«, sagte Sue. »Aber sicher.«

Im Foyer-Restaurant steuerten wir auf einen Tisch zu, der möglichst weit von den einzigen anderen Gästen entfernt war, lauter IDF-Leuten, Männer und Frauen, zusammengepfercht in einer roten Vinyl-Nische.

Unsere Kellnerin (die einzige) war eine ältere Frau mit amerikanischem Akzent. Sie behauptete, die Evakuierung mache ihr nichts aus, auch wenn sie dadurch gezwungen sei, im Hotel zu übernachten. »Ich fahre sowieso nicht gerne in diesen leeren Straßen herum, so sehr ich mich früher über den Verkehr beklagt habe.« Heute Abend gebe es Hähnchen mit Mandeln. Sonst nichts, außer jemand sei auf irgendwas allergisch. In dem Fall ließe der Küchenchef bestimmt mit sich reden.

Hähnchen für alle, und Morris bestellte eine Flasche Weißwein.

Ich erkundigte mich nach dem Programm für den nächsten Tag. Morris sagte: »Abgesehen von der wissenschaftlichen Arbeit steht uns am Nachmittag der israelische Verteidigungsminister ins Haus. Samt Presse.« Er setzte hinzu: »Ein belangloser Besuch. Wir wären nicht hier, wenn wir mehr Informationen besäßen als die israelische Regierung. Eine Inszenierung für die Medien. Aber Ray und Sue müssen sich schon ein paar allgemeinverständliche Erklärungen ausdenken.«

Ray fragte: »Kriegt er Minkowski-Eis oder Feedback?«

Morris und ich verzogen keine Miene. Sue sagte: »Man schließt andere nicht aus, Ray. Das sind schlechte Manieren. Morris, Scotty, ihr habt doch sicher schon mal einen Blick in die Berichte für den Kongress geworfen.«

»Die Version für Analphabeten«, sagte Morris.

»Wir verwenden viel Zeit darauf, Mathematik in Worte zu kleiden.«

»Die Suche nach Metaphern«, sagte Ray.

»Wir dürfen die Menschen nicht im Unklaren lassen. Wir können natürlich nur erklären, was wir auch verstehen, und das ist nicht eben viel.«

Ray ließ nicht locker. »Minkowski-Eis oder positives Feedback?«

»Feedback, denke ich.«

Morris sagte: »Ich fühle mich immer noch ausgeschlossen.«

Sue zeigte steile Fältchen zwischen den Brauen. »Morris, Scotty, Feedback ist euch doch ein Begriff?«

Was ich mit Sues Code machte, hatte zur Hälfte mit Rekursion und Selbstverstärkung zu tun. Doch sie redete von etwas viel Allgemeinerem. Ich sagte: »Feedback ist, wenn man in der Aula aufsteht, um sich von der High-School zu verabschieden, und die Lautsprecher quieken wie ein Ferkel in Todesangst.«

Sie grinste. »Gutes Beispiel. Beschreibe, was da passiert, Scotty.«

»Zwischen Mikro und Lautsprecher gibt es einen Verstärker. Im schlimmsten Fall führen die drei eine Unterhaltung. Was ins Mikro hineingeht, kommt aus dem Lautsprecher heraus, und zwar lauter. Jedes Geräusch im System durchläuft eine Schleife.«

»Genau. Das kleinste Geräusch, das vom Mikro aufgenommen wird, kommt verstärkt aus dem Lautsprecher. Das wiederum hört das Mikro und gibt es an den Verstärker weiter und so weiter und so fort, bis das System anfängt zu schrillen… oder wie ein verängstigtes Ferkel zu quieken.«

»Und das hat mit den Chronolithen zu tun«, sagte Morris. »Wieso?«

»Weil die Zeit selbst so etwas wie ein Verstärker ist. Schon mal gehört, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in China verantwortlich für ein Unwetter über Ohio sein kann? Der sogenannte Schmetterlingseffekt. Ein gewaltiges Ereignis war oft ein kleines, das von der Zeit verstärkt wurde.«

»Wie in den Filmen, in denen jemand in die Vergangenheit reist und am Ende seine eigene Gegenwart ändert.«

»Das eine wie das andere«, sagte Sue, »ist ein Beispiel für Verstärkung. Aber wenn Kuin uns ein Monument zur Erinnerung an einen Sieg in zwanzig Jahren schickt, ist das, als hielte man das Mikro in Richtung Lautsprecher, eine Feedbackschleife, und zwar eine absichtliche. Selbstverstärkung ist nach unserer Auffassung die Ursache für die rasante Verbreitung der Chronolithen. Indem er seine Siege zur Schau stellt, erzeugt Kuin die Erwartung, dass er siegreich sein wird. Und das macht den Sieg sehr viel wahrscheinlicher, ja geradezu zwangsläufig. Und erst recht den nächsten. Und so weiter und so fort.«

Das alles war mir nicht neu. So viel hatte ich mir aus Sues Arbeit zusammengereimt und aus den Spekulationen in der Presse. »Das wirft ein paar Fragen auf«, sagte ich.

»Okay.«

»Erstens, was bedeutet das für Kuin? Wie habe ich mir das vorzustellen, dieses erste Mal, als er uns das Chumphon-Monument geschickt hat. Hat er da nicht seine eigene Vergangenheit geändert? Gibt es jetzt zwei Kuins?«

»Mit anderen Worten, du fragst, ob wir das auf der theoretischen Ebene besser verstehen. Jein. Die Viele-Welten-Hypothese möchten wir am liebsten vermeiden…«

»Wieso? Wenn das doch die leichteste Antwort ist?«

»Weil wir Grund zu der Annahme haben, dass sie falsch ist. Und wenn nicht, würde das unseren Spielraum beträchtlich verringern. Wie auch immer, die Alternative…«

»Die Alternative«, sprang Ray ein, »wäre, dass Kuin jedes Mal eine Art Selbstmord begeht.«

Die Kellnerin schob einen leinengedeckten stummen Diener mit unserem Essen an den Tisch und schob ihn leer wieder zur Küche zurück. Die IDF-Leute am anderen Ende des Raumes waren bereits mit dem Dessert beschäftigt. Ich fragte mich, ob sie wohl noch nie in einem Vier-Sterne-Hotel gespeist hatten, denn so aßen sie — mit großer Hingabe und der einen oder anderen Bemerkung, was sie das wohl gekostet hätte, hätten sie es selber zahlen müssen.

»Verändern, was gewesen ist«, sagte Sue zwischen zwei Bissen. »Löschen und Ersetzen, aber das ist doch nicht dasselbe wie Selbstmord? Nehmen wir einen hypothetischen Kuin, irgendeinen Warlord aus dem Hinterland, dem diese Technologie in die Hände fällt. Er drückt den Knopf und plötzlich ist er nicht mehr nur Kuin, er ist der Kuin, der, auf den sie alle gewartet haben, eine Art Messias für jedermann, während er selbst nicht die geringste Veränderung wahrnimmt. Zumindest ein Teil seiner Vita ist verschwunden, doch der Verlust ist schmerzlos. Man verherrlicht ihn, er hat eine Armee, er hat Glaubwürdigkeit, er hat eine grandiose Zukunft. Entweder so oder ein ehrgeizigeres Individuum hat den Platz des ursprünglichen Kuin eingenommen, jemand, der mit dem Wunsch aufgewachsen ist, Kuin zu sein. Schlimmstenfalls handelt es sich um eine Art Tod, aber es ist auch ein potenzielles Ticket zum Ruhm. Kann man um etwas trauern, das man niemals besaß?«

Da war ich mir nicht so sicher. »Es bleibt eine riskante Sache. Wenn man es einmal gemacht hat, warum den Knopf ein zweites Mal drücken?«

»Wer weiß? Ideologie, Größenwahn, blinder Ehrgeiz oder ein selbstzerstörerischer Impuls. Oder er hatte keine Wahl angesichts der militärischen Entwicklung. Vielleicht gibt es jedes Mal einen anderen Grund. Wie man es auch betrachtet, er ist mitten in der Feedbackschleife. Er ist das Signal, aus dem das Geräusch entsteht.«

»Also wird aus einem kleinen Geräusch ein lautes«, sagte Morris. »Aus einem Furz wird ein Donnerschlag.«

Sue nickte eifrig. »Aber der Verstärkungsfaktor ist nicht nur die Zeit. Hinzu kommt die menschliche Erwartung und die menschliche Interaktion. Den Steinen ist Kuin egal, den Bäumen auch, uns aber nicht. Wir handeln auf Grund von Antizipation, und von Mal zu Mal fällt es leichter, den alles erobernden Kuin zu antizipieren: Kuin der Gottkönig. Wir sind versucht, nachzugeben, gemeinsame Sache mit ihm zu machen, den Eroberer zu idealisieren, und wozu? Um dazu zu gehören, um nicht zermalmt zu werden.«

»Soll das heißen, wir erschaffen Kuin.«

»Nicht ausgerechnet wir, aber die Leute, ja, die Menschen im Allgemeinen.«

Morris sagte: »Ähnlich wie bei meiner Frau, bevor wir uns getrennt haben. Sie hasste die Vorstellung, ich könnte sie enttäuschen, so sehr, dass sie ständig daran dachte. Egal, was ich tat, wie sehr ich sie beruhigte, was ich verdiente, dass ich jede Woche zur Kirche ging. Ich musste mich ständig bewähren. Eines Tages wirst du mich verlassen sagte sie immer wieder. Man kann so etwas herbeireden.«

Morris kam zu Bewusstsein, was er gesagt hatte, er schob das Glas Wein zurück und wurde rot.

»Erwartung«, sagte Sue, »ja, Rückkopplung. Genau. Plötzlich verkörpert Kuin alles, was wir fürchten oder uns insgeheim wünschen…«

»Slouching toward Jerusalem to be born«, warf ich ein.[21]

Eine Vorstellung, die einen Hauch von Kälte zu verbreiten schien. Selbst die ruppigen IDF-ler waren jetzt leiser.

»Tja«, sagte ich, »das ist ja nicht gerade beruhigend, aber es klingt logisch. Und was ist Minkowski-Eis?«

»Eine ganz andere Metapher. Aber genug für heute. Gedulde dich bis morgen, Scotty. Ray verklickert es dem Verteidigungsminister.«

Sie lächelte hilflos, als Ray sich aufplusterte.

Nach einem Kaffee gingen wir auseinander. Ich fuhr allein nach oben.

Ich wollte Janice und Kaitlin anrufen, doch der Rufaufbau wurde mit dem Hinweis unterbrochen, die Bandbreite sei ausgelastet und ich müsse mindestens ein Stunde warten. Also fischte ich mir ein Bier aus der Minibar, legte die Füße auf die Fensterbank und sah einem Autorennen zu, das sich auf den dunklen Straßen der Sperrzone abspielte. Die Flutlichter auf dem Felsendom ließen das Bauwerk so verletzlich und solide aussehen wie die Geschichte selbst, doch in weniger als achtundvierzig Stunden würde sich wenige Meilen entfernt ein höheres und spektakuläreres Monument erheben.


Um sieben Uhr früh wachte ich auf, ich war nervös, aber nicht hungrig. Ich duschte und zog mich an und fragte mich, ob es mir wohl gelingen würde, einen Spaziergang rings um das Hotel zu machen. Ich wollte es wissen.

Am Aufzug wurde ich von zwei geschniegelten FBI-Beamten mit ausdruckslosen Mienen gestoppt. »Wo soll's denn hingehen, Chef?«

»Frühstück«, sagte ich.

»Da müssen wir erst Ihr Abzeichen sehen.«

»Abzeichen?«

»Niemand betritt oder verlässt diese Etage ohne ein Abzeichen.«

Ich brauche kein verdammtes Abzeichen — aber offenbar doch. »Wer händigt die Dinger aus?«

»Da müssen Sie die Leute fragen, mit denen Sie hier sind, Chef.«

Was nicht lange brauchte, denn von hinten stieß Morris Torrance mit einem aufgeräumten »Guten Morgen« zu mir und heftete mir ein Namensschildchen aus Kunststoff an die Hemdbrust. »Ich komme mit«, sagte er.

Die beiden Männer wichen auseinander wie die Aufzugtüren, die sie bewachten. Sie nickten Morris zu und der weniger aggressive wünschte mir einen schönen Tag.

»Ihnen auch, Chef«, sagte ich.

»Reine Vorsichtsmaßnahme«, meinte Morris, als wir nach unten fuhren.

»Wie meinen Vater zu schikanieren? Meine Krankenberichte zu lesen?«

Er zuckte die Achseln. »Hat Sue Ihnen denn nichts gesagt?«

»Ein bisschen. Sie sind nicht bloß ihr Leibwächter, richtig?«

»Aber auch.«

»Sie sind der Aufseher.«

»Sie ist nicht im Gefängnis. Sie kann gehen, wohin sie will.«

»Solange Sie Bescheid wissen und solange sie unter Beobachtung ist.«

»Das ist ein beiderseitiges Abkommen«, sagte Morris. »Wohin wollen Sie, Scotty? Frühstücken?«

»Ein bisschen Luft tanken.«

»Das ist gar keine gute Idee. Sie sind kein Tourist, Scotty.«

»Aber neugierig.«

»Na ja — ich könnte uns einen IDF-Wagen mit den richtigen Aufklebern besorgen. Wir könnten sogar in die Sperrzone, wenn Sie wollen.«

Ich gab keine Antwort.

»Andererseits«, meinte er, »kleben Sie hier ziemlich fest, so wie die Dinge liegen.«

»Gefällt Ihnen, was Sie tun?«

»Das will ich Ihnen gerne erklären«, meinte Morris.


Er lieh sich ein blaues Auto ohne Nummernschild, aber mit den erforderlichen Aufklebern an der Windschutzscheibe und einem ausgefuchsten GPS, welches noch das Armaturenbrett auf der Beifahrerseite beanspruchte. Er fuhr die Lehi-Straße hinunter, während ich immer wieder aus dem Fenster starrte.

Es regnete auch heute wieder, die Dattelpalmen an den Boulevards ließen die Köpfe hängen. Tagsüber waren die Straßen alles andere als leer: An den größeren Kreuzungen war Zivilschutz postiert, überall Polizei- und IDF-Streifen und völlig evakuiert war lediglich die Sperrzone rings um das mutmaßliche Aufsetzgebiet.

Morris fuhr in die Neustadt und bog auf die König-David-Straße ab.

Die Evakuierung eines größeren Stadtgebietes ist mehr als nur die Personenbewegung, obgleich sie das natürlich ist, und zwar in einer kaum noch zu kontrollierenden Größenordnung. Manches ist allerdings technischer Natur. Die Schäden, die ein Chronolith verursacht, sind hauptsächlich auf den anfänglichen Kälteschock zurückzuführen, den sogenannten thermischen Impuls. Nahe genug am Monolithen platzt jeder Behälter mit flüssigem Wasser. Hausbesitzern in Jerusalem hatte man geraten, die Wasserleitungen leer laufen zu lassen, und die städtischen Behörden bemühten sich, die Wasserwerke zu schützen, indem sie den Luftdruck in den Kernbereichen absenkten, obwohl das die Brandbekämpfung erschwerte — und Brände waren unausweichlich, wenn flüchtige Flüssigkeiten und Gase Behältern entkamen, die durch die Kälte rissig oder porös wurden. Die Hauptgasleitungen waren schon abgesperrt. Theoretisch hätte jeder Spülkasten und jeder Gasbehälter geleert und jede Propangasflasche weggeschafft sein müssen. Doch ohne lückenlose Kontrolle konnte man solche Maßnahmen nicht garantieren. Und nahe am Ort des Geschehens würde der thermische Impuls jede Flasche Milch in einen lebensgefährlichen Sprengkörper verwandeln.

Ich schwieg, als wir an den geschlossenen Geschäften vorbeifuhren, deren Schaufenster kreuz und quer mit Klebeband gesichert waren; an den finsteren Wolkenkratzern, am König-David-Hotel, das so leblos war wie ein Leichnam.

»Eine leere Stadt ist etwas Unnatürliches«, sagte Morris. »Gottverlassen, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er bremste ab, winkte den Soldaten am Kontrollpunkt, die sich die Aufkleber besahen. »Glauben Sie bloß nicht, dass es mir Spaß macht, Ihnen und Sue nachzuspionieren, Scotty.«

»Sollte ich jetzt beruhigt sein?«

»Ich mache lediglich Konversation. Aber Sie müssen doch zugeben, dass es sinnvoll ist. Die Logik ist nicht von der Hand zu weisen.«

»Finden Sie?«

»Sie haben doch Nachhilfe bekommen.«

»Das mit der Koinzidenz? Was Sue eine ›Tau-Turbulenz‹ nennt? Ich weiß nicht, wie viel ich davon glauben soll.«

»Das«, sagte Morris. »Aber auch wie es für Kongress und Regierung aussieht. Zwei unbestreitbare Fakten über die Chronolithen, Scotty. Erstens weiß niemand, wie man sie macht. Zweitens wird die Methode irgendwo ausbaldowert, eben jetzt, während wir uns unterhalten. Also geben wir Sue und ihresgleichen die Mittel, um herauszufinden, wie man so ein Ding baut, und damit tun wir vielleicht genau das Falsche: Das Wissen wird freigesetzt, gerät womöglich in die falschen Hände und vielleicht wäre nichts von alledem passiert, hätten wir die Büchse der Pandora nicht geöffnet.«

»Das ist ein Zirkelschluss.«

»Wird es dadurch falsch? Wollen Sie in der gegenwärtigen Lage eine Möglichkeit ausschließen, weil sie keinem hübschen, hieb- und stichfesten Syllogismus folgt?«

Ich zuckte die Achseln.

Er sagte: »Ich will mich nicht für die Art und Weise entschuldigen, wie wir Ihre Vergangenheit durchleuchtet haben. Das gehört zu den Dingen, die man bei einem nationalen Notstand einfach tut, das ist wie Menschen einberufen oder Lebensmittel requirieren.«

»Ich wusste gar nicht, dass ich einberufen wurde.«

»Versuchen Sie es so zu sehen.«

»Weil ich mit Sue Chopra in Cornell war? Weil ich zufällig am Strand von Chumphon war?«

»Eher, weil wir alle durch ein Seil verbunden sind, das wir kaum wahrnehmen.«

»Das… klingt sehr poetisch.«

Morris schwieg eine Zeit lang. Die Sonne brach durch Wolkenlücken, Lichtpfeiler wanderten über die judäischen Berge.

»Scotty, ich bin ein vernünftiger Mensch. Jedenfalls halte ich mich dafür. Sonntags gehe ich immer noch zur Kirche. Wer fürs FBI arbeitet, ist deshalb noch kein Monster. Wissen Sie, was das moderne FBI ist? Das moderne FBI hat nichts mehr mit Polizei und Räubern und Trenchcoats und dem ganzen Mist zu tun. Ich habe zwanzig Jahre Schreibtischarbeit in Quantico hinter mir. Ich habe mein Soll auf dem Schießplatz und auf der Matte absolviert, aber im Einsatz habe ich noch nie einen Schuss abgegeben. Wir sind gar nicht so verschieden, Sie und ich.«

»Was wissen Sie schon von mir.«

»Okay, Sie haben Recht. Ich mutmaße; aber gehn wir mal davon aus, dass wir beide ganz normale Menschen sind. Ich für meinen Teil glaube an nichts Übernatürliches, es sei denn, es steht in der Bibel, und daran glaube ich auch nur jeden siebten Tag. Man hält mich für nüchtern und vernünftig; ja geradezu für langweilig. Finden Sie, dass ich langweilig bin?«

Letzteres fand meine Zustimmung.

»Aber ich habe Träume, Scotty«, sagte er. »Dieses Chumphon-Ding habe ich zum ersten Mal im Fernsehen in Washington D.C. gesehen. Das Komische ist, ich kannte es. Weil ich es schon mal gesehen hatte. Und zwar im Traum. Nichts Konkretes, keine Hellseherei, nichts Greifbares. Aber in dem Moment, als ich es sah, da wusste ich, dass ich mich für den Rest meines Lebens damit herumschlagen würde.«

Er starrte stur geradeaus. »Es wäre gut, wenn sich die Wolken bis morgen Abend verzogen hätten«, sagte er. »Gut für die Beobachter.«

»Morris«, sagte ich, »stimmt das, was Sie da reden?«

»Ich würde Sie nicht verarschen.«

»Warum nicht?«

»Warum nicht? Na ja, vielleicht weil ich Sie auch schon kannte, Scotty. Aus meinen Träumen, meine ich. Gleich, als ich Sie sah. Sie und Sue.«

Neun

Wenn ich zurückblättere, scheint es mir, als habe ich zu viel über mich gesagt und nicht genug über Sue Chopra. Doch ich kann meine persönliche Geschichte nur so erzählen, wie ich sie erlebt habe. Sue war, wie ich fand, so sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie blind war für die Kräfte, die sie abhängig und zu einem Mündel des Staates gemacht hatten. Dass sie sich an die Leine legen ließ, ärgerte mich, wahrscheinlich, weil ich an der meinen zerrte und dieselben Leckerchen bekam. Ich hatte Zugang zu den besten und neuesten Prozessorplattformen, den geilsten Codebrütern, wurde aber zugleich auf Schritt und Tritt überwacht und bezahlt, um einer noch unausgegorenen Wissenschaft namens Tau-Turbulenz DNS und Urinproben zu spenden.

Ich hatte mir vorgenommen, so lange durchzuhalten, bis ich den Löwenanteil von Kaitlins Operation finanziert hatte. Dann hatte ich den Rücken frei. Sollten die Chronolithen ihren Marsch fortsetzen, wollte ich zu Hause und in der Nähe von Kaitlin sein, während die Krise sich zuspitzte.

Was Kait betraf… in meiner Situation konnte ich ihr auf alle Fälle eine seelische Stütze sein, eine Zuflucht, falls es mit Whit nicht klappte, ein Vater auf der Reservebank. Ich hatte ein Gefühl, vielleicht genauso stark und so eigentümlich wie die Träume von Morris, dass sie mich früher oder später brauchen würde.


Wir waren in Jerusalem, weil sich der Chronolith mit leisen Schauern lokaler Radioaktivität angekündigt hatte, vergleichbar mit dem drohenden Grollen eines Vulkans. Ob es auch die Vorhut einer Tau-Turbulenz gab, was immer das sein mochte? Ein Anflug von Seltsamkeit, eine fraktale Kaskade von Zufälligkeit? Wenn ja, konnte man es wahrnehmen? Fiel es einem auf?

Als ich Donnerstag früh aufwachte, blieben uns weniger als fünfzehn Stunden bis zum geschätzten Zeitpunkt des Ereignisses. Inzwischen war die gesamte Etage abgeriegelt, niemand durfte hinein oder hinaus, mit Ausnahme der Techniker, die zwischen den Monitoren im Haus und dem Antennenwald auf dem Dach pendelten. Offenbar hatte es Drohungen von irgendwelchen radikalen Kadern gegeben. Die Hotelküche lieferte nach einem strengen Zeitplan.

Die Stadt lag still und ruhig unter einem stumpfen türkisfarbenen Himmel.

Am Nachmittag traf der israelische Verteidigungsminister ein. Zwei akkreditierte Kameraleute, drei junge Militärberater und ein paar Kabinettsminister folgten ihm zur obersten Etage. Die Presseleute trugen Steadicams auf der Schulter. Der Verteidigungsminister, ein glatzköpfiger Mann in Khakiuniform, lauschte Sues Beschreibung der Aufklärungsapparaturen und folgte pflichtgetreu Ray Moselys stolpernden Ausführungen über »Minkowski-Eis« — eine unglückliche Metapher, wie ich fand.

Minkowski, ein Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts, hatte behauptet, man könne das Universum als vierdimensionalen Kubus auffassen. Jedes Ereignis ließe sich als Punkt im vierdimensionalen Raum beschreiben. Die Gesamtheit dieser Punkte sei das Universum, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Nun solle man, sagte Ray, sich diesen Minkowski-Kubus als einen Block aus flüssigem Wasser vorstellen, das (so falsch einem das auch vorkomme) im Begriff sei, von unten nach oben zu gefrieren. Das Voranschreiten des Gefrierens veranschauliche unsere menschliche Erfahrung vom Vergehen der Zeit. Das Gefrorene sei die Vergangenheit, unbeeinflussbar, unveränderlich. Das Flüssige sei die Zukunft, unbestimmt, ungewiss. Wir, so Ray, würden im kistallisierenden Grenzbereich leben. Um in die Vergangenheit zu reisen, müsse man das gesamte Universum ungeschehen machen (oder, wie ich hinzufüge, zum Schmelzen bringen). Offensichtlich absurd: Welche Macht der Welt könnte die Planeten zurückdrehen, tote Sonnen wiedererwecken und Kinder in ihre Mütter zurückschicken? Das habe Kuin auch nicht getan, wiewohl das, was er tue, phantastisch genug sei. Ein Chronolith, sagte Ray, sei wie eine heiße Nadel, die ins Minkowski-Eis gestoßen würde. Die Auswirkungen seien katastrophal, aber örtlich begrenzt. In Chumphon, in Thailand, in Asien, womöglich noch auf dem ganzen Planeten seien die Auswirkungen befremdend und paradox; doch der Mond sei nicht betroffen; die Kometen folgten nach wie vor ihren Bahnen; die Sterne blinzelten so unbekümmert wie immer. Rings um die abkühlende Nadel kehre das Minkowski-Eis wieder in den kristallinen Zustand zurück und die Zeit fließe wie zuvor, geringfügig irritiert vielleicht, mehr aber auch nicht.

Der Verteidigungsminister akzeptierte die Ausführungen mit der unverhohlenen Skepsis eines moslimischen Geistlichen, der den Vatikan besucht. Er stellte ein paar Fragen. Er bewunderte die frische druckwellensichere Verglasung der Hotelfenster und äußerte sich anerkennend über die Hingabe der Männer und Frauen an den Apparaturen. Er war zuversichtlich, dass wir in den kommenden Stunden dazulernen würden, falls, was Gott verhüten möge, die vorhergesagte Tragödie tatsächlich eintrete. Dann wurde er treppauf eskortiert, um einen Blick auf den exotischen Antennenwald zu werfen, die Kameraleute in seinem Schlepptau tranken hastig den letzten Kaffee aus ihren Pappbechern.

Das alles würde man freilich noch für den Endverbraucher aufbereiten, eine Demonstration der obrigkeitlichen Ruhe angesichts der drohenden Krise.

Unsichtbar und unvermeidlich schmolz die Nadel ins Minkowski-Eis. Unsere extremen Breitband-Datenströme ließen die Hotelleitungen heißlaufen; trotzdem bekam ich an jenem Tag einen Anruf: von Janice, sie teilte mir mit, mein Vater sei im Schlaf gestorben.

An jenem Tag hatte es fast überall in Maryland geschneit — sechs Zoll Pulverschnee. Mein Vater trug eine winzige Funkboje, die ein Alarmsignal abgesetzt hatte, als sein Herz versagte, doch als die Ambulanz eintraf, war es für eine Wiederbelebung zu spät gewesen.

Janice bot an, die notwendigen Dinge zu erledigen, während ich in Übersee war (andere Familienmitglieder gab es nicht mehr). Ich war einverstanden und dankte ihr.

»Es tut mir Leid, Scott«, sagte sie. »Ich weiß, dein Vater war schwierig. Trotzdem — es tut mir Leid.«

Ich gab mir Mühe, auf eine angemessene und sinnvolle Weise zu trauern.

Nichtsdestoweniger ertappte ich mich bei der rhetorischen Frage, wie viel seelische Erschütterung es ihm erspart hatte, sich zu diesem kritischen Zeitpunkt davonzustehlen, und zu welchem materiellen Tribut man ihn nicht mehr heranziehen würde.


Als die Dunkelheit hereinbrach, klopfte Morris an meine Tür und brachte mich zurück zur Technik. Die Monitore warfen blaues Licht in den Raum. Morris und ich wurden als Beobachter auf die Stuhlreihe an der Rückwand verwiesen, wo wir niemandem im Weg waren. Der Raum war heiß und trocken, ein Bataillon tragbarer Heizöfen glühte bereits grimmig vor sich hin. Die Techniker an den Konsolen schienen zu warm angezogen und schwitzten.

Draußen erlosch der wolkenlose Himmel zu Tinte. Die Stadt lag unnatürlich still unter uns. »Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte Morris. Es war das erste Mal, dass man die Ankunft eines Chronolithen mit einiger Genauigkeit vorhergesagt hatte, obgleich die Berechnungen immer noch approximativ waren, der Countdown diente mehr der Konzentration. Sue kam vorbei und sagte: »Haltet die Augen offen.«

»Und wenn gar nichts passiert?«, sagte Morris.

»Dann verliert die Likkud-Partei die Wahl. Und wir unsere Glaubwürdigkeit.«

Die Minuten verstrichen. Diejenigen von uns, die keine Schutzkleidung trugen, bekamen Steppjacken ausgehändigt. Morris lehnte sich wieder aus dem Dunkel, er schwitzte und war sichtlich nervös. »Der beste Aufsetzpunkt liegt im Geschäftsviertel. Interessante Wahl. Verschont die Altstadt und den Tempelberg.«

»Kuin als Cäsar«, sagte ich. »Verehrt ruhig eure Götter, aber beugt euch dem Eroberer.«

»Nicht das erste Mal für Jerusalem.«

Aber vielleicht das letzte Mal. Die Chronolithen hatten die apokalyptischen Ängste geweckt, die im 20. Jahrhundert der Atombombe gegolten hatten: Eine neue Technologie hatte den Einsatz bei Konflikten erhöht, die Parade von Imperien, die kamen und gingen, schien in die letzte Runde zu gehen. Was jetzt und hier eine allzu simple Einschätzung war. Schließlich war das Tal von Megiddo nur ein paar Meilen entfernt.[22]

Wir wurden ermahnt, die Reißverschlüsse an unseren Jacken trotz der Hitze nicht zu öffnen. Sue wollte den Raum so heiß wie irgend möglich, als Puffer gegen den Kälteschock.

Durch eingehende Analyse der bisherigen Manifestationen wussten wir in etwa, was uns erwartete. Ein Chronolith verdrängt beim Auftauchen weder Luft noch Grundgestein; er transformiert diese Materie und verleibt sie sich ein. Die Druckwelle ist das Ergebnis der, wie Sue sie nannte, »Kältestrahlung«. Innerhalb von wenigen Metern rings um das Kuin-Monument kondensiert die Luft, friert aus und fällt zu Boden; in weniger als einer Sekunde geschieht mit der schlagartig nachrückenden Luft Ähnliches. Innerhalb eines geringfügig größeren Bereichs gefrieren die gasförmigen Bestandteile der Atmosphäre — Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid. In einem viel größeren Umkreis wird Wasserdampf ausgefällt.

Die Anwesenheit von Grundwasser führt zu einem ähnlichen Phänomen im Boden, sprengt Gestein und erzeugt ein lokales Beben.

Die ganze tiefgekühlte und umgetriebene Luft erzeugt Konvektionszellen und folglich einen heftigen Wind über Ground-Zero sowie unberechenbaren und durchdringenden Nebel in einem Umkreis von Meilen.

Weshalb niemand etwas gegen die trockene Hitze und die Versiegelung der Räume einzuwenden hatte.

Die weißgekleideten Techniker, die meisten waren ausgeliehene höhere Fachsemester, besetzten die Reihe der Terminals, die zu den Fenstern blickten. Ihre Telemetrie kam von den Dachantennen oder von entfernten Sensoren, die näher an der kritischen Zone platziert waren. Sie riefen periodisch Zahlen in den Raum, die mir absolut nichts sagten. Aber die Spannung stieg zusehends. Sue bewegte sich wie eine gereizte Erzieherin unter diesen eifrigen jungen Leuten.

Sie blieb vor uns stehen, kess anzusehen in ihren neuen Bluejeans und der weißen Bluse. »Die Radioaktivität steigt rapide«, sagte sie. »Jungs, ich gebe uns noch zwei Minuten.«

Morris sagte: »Brauchen wir Schutzbrillen oder so was?«

»Das ist keine H-Bombe, Morris. Du wirst schon nicht blind werden.«

Und dann wandte sie sich ab.

Einer der überwachenden Techniker, eine junge blonde Frau, die nicht viel älter aussah als Kaitlin, hatte sich von ihrem Platz erhoben und kam mit einem flehenden Lächeln auf Sue zu. Der IDF-Security-Kontingent ließ die Frau nicht aus den Augen. Auch Morris nicht.

Sie schien benommen, vielleicht ein bisschen unbeherrscht. Sie zauderte. Dann, mit einer beinah rührend kindlichen Geste, griff sie nach Sues Hand und hielt sie umschlossen.

Sue sagte: »Cassie? Was ist?«

»Ich wollte mich — bei Ihnen bedanken.« Cassie klang zaghaft, aber glühend.

Sue runzelte die Stirn. »Keine Ursache, aber — wofür?«

Doch Cassie zog den Kopf ein und wich zurück, als sei ihr der Gedanke so rasch abhanden gekommen, wie er sich eingestellt hatte. Sie nahm die Hand vor den Mund. »Oh! Tut mir Leid. Mir war… ich glaube, mir war einfach so, als müsste ich das sagen. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe…« Sie errötete.

»Sie bleiben besser an Ihrem Platz«, sagte Sue sanft.

Wir waren jetzt tief in der Tau-Turbulenz. Der Raum war heiß und roch nach ionisierter Luft. Jenseits des Fensters flackerte der Stadtkern unter einer plötzlichen Morgenröte.


Es war eine Sache von Sekunden, doch Zeit ist elastisch; für uns dehnten sie sich zu Minuten. Ich gebe zu, ich hatte Angst.

Das Licht, das die Ankunft begleitete, bildete einen rasch von Blaugrün zu Rot und Violett wechselnden Vorhang, der über der Stadt schwebte und unheimliche Schatten in unseren Raum warf.

»Eintausendneunhundertundsieben Minuten«, sagte Sue mit einem Blick auf ihre Uhr. »Jetzt.«

»Es ist schon kalt«, sagte Morris neben mir. »Merken Sie's?«

Ich hatte das Gefühl, die Raumtemperatur sei um etliche Grad gesunken. Ich nickte.

Einer von den IDF-Männern erhob sich nervös, fingerte an seiner Waffe herum. So rasch, wie es gekommen war, verging das Licht; und dann…

Dann war der Chronolith einfach da.

Jenseits des Felsendoms überragte er die Hügel, aberwitzig groß, weiß vor Eis, unter einem zerbrechlich wirkenden Mond.

»Landung!«, verkündete jemand an den Konsolen. »Lokale Radioaktivität fällt. Außentemperatur sage und schreibe…«

»Aufhören!«, blaffte Sue.

Die Druckwelle wölbte die Fensterscheibe und grollte wie Donner. Fast augenblicklich verschwand der Chronolith in einem weißen Wirbelsturm, Feuchtigkeit, die der Kälteschock aus der Atmosphäre gefällt hatte.

Ein paar Meilen weiter sprengten die Temperaturunterschiede Beton, zerfetzten Holz und zerstörten das Gewebe jeder Kreatur, die das Pech hatte, in der Sperrzone zu sein. (Solche gab es: Katzen, Hunde, Pilger und Skeptiker.)

Der zentrale Sturm schickte eine weiße ringförmige Welle aus: Frost, der wie eine Feuersbrunst die judäischen Berge erklomm. Und eine Unzahl von städtischen Lichtern trübte ein, als Umspanner des Stromnetzes einem Feuerwerk von Kurzschlüssen erlagen. Wolken verschluckten das Hotel; ein heftiger, böiger Wind rüttelte an den Fenstern. Plötzlich war der Raum dunkel, Konsolenlichter blinzelten wie die Sterne in einem nächtlichen Teich.

»Eine Scheißkälte«, murmelte Morris.

Ich schlang die Arme um mich und sah, wie Sue Chopra das Gleiche tat, als sie sich vom Fenster abwandte.

Der IDF-Mann, der Augenblicke zuvor aufgestanden war, hob seine automatische Maschinenpistole. Er schrie etwas, das im Lärm des Sturms unterging. Dann eröffnete er das Feuer.


Der Schießwütige hieß Aaron Weiszack.

Was ich über ihn weiß, weiß ich aus den Zeitungen des darauf folgenden Tages; würde es nicht ein Meer von Leid ersparen, könnten wir schon heute die Schlagzeilen von morgen lesen?

Vielleicht nicht.

Aaron Weiszack war in Cleveland, Ohio, geboren und 2011 mit seiner Familie nach Israel ausgewandert. Seine Jugend verbrachte er in einem Vorort von Tel Aviv und hatte bereits mit einer ganzen Reihe von radikalen politischen Organisationen geliebäugelt, bevor er 2020 eingezogen wurde; Weiszack war 2025, während der Unruhen auf dem Tempelberg, kurz in U-Haft gewesen, aber nicht angeklagt worden. Seine IDF-Akte war allerdings makellos, und er hatte es verstanden, seine anhaltenden Kontakte zu einer trivialen »kuinistischen« Zelle namens Umarme die Zukunft vor seinen Vorgesetzten zu verbergen.

Er war aus dem Gleichgewicht, wenn nicht geistig verwirrt. Seine Motive bleiben im Dunkeln. Er hatte nicht mehr als zwei Salven abgeben können, bevor ihn die IDF-Soldatin Leah Agnon mit einem kurzen Feuerstoß aus ihrer Waffe niederstreckte.

Weiszack erlag beinah augenblicklich seinen Verletzungen. Doch er war nicht das einzige Opfer.

Ich habe oft gedacht, dass die Tat von Aaron Weiszack mindestens so menschenverachtend war wie die Ankunft des Kuin von Jerusalem — auf ihre Weise eine unübertroffen präzise Vorwegnahme dessen, was uns bevorstand.


Weiszacks letzter Feuerstoß durchschlug eine der angeblich druckwellensicheren (aber offenbar nicht kugelsicheren) Fensterscheiben, die in einem Schauer aus glitzernden Graupeln in sich zusammenfiel. Kalter Wind und dichter Nebel schlugen in den Raum. Ich stand auf, taub von der Schießerei, blinzelte verstört. Morris warf sich über Sue Chopra, die am Boden lag, und deckte sie mit seinem Körper. Keiner wusste, ob der Angriff vorbei war oder gerade erst begonnen hatte. Von Sue war nichts mehr zu sehen, so breit machte sich Morris, ich wusste nicht, ob sie ernsthaft verletzt war, aber überall war Blut — die ganze Tapete verspritzt mit Weiszacks Blut, die Konsolen gesprenkelt vom Blut der jungen Techniker. Ich holte Luft und nahm wieder erste Geräusche wahr, das Kreischen von Menschen, das Kreischen des Windes. Feine Eiskörner flogen wie Schrapnells durch den Raum, angetrieben von unsäglich steilen Temperaturgradienten, die über die Stadt fegten.

Das IDF-Kontingent umringte Weiszack, die Mündungen auf den regungslosen Körper gerichtet. Das FBI-Kontingent verteilte sich, um das Terrain zu sichern, und einige von Sues Studenten irrten zwischen getroffenen Kameraden umher und versuchten sich in erster Hilfe. Stimmen, mir war, als sei auch die von Morris darunter, schrien um Hilfe. Wir hatten einen Sanitäter im Raum, der, wenn nicht verletzt, dann sicher überfordert war.

Ich duckte mich und krabbelte auf allen vieren zu Morris hinüber, er hatte Sue freigegeben und barg ihren Kopf in seinen Armen. Sie war verletzt. Auf dem Teppich war Blut, überall rote Tröpfchen, die in der brutalen Kälte dampften. Morris sah kurz auf und formte die Worte überdeutlich mit dem Mund: »Nichts Ernstes«, sagte er in den brüllenden Wind. »Kommen Sie, wir ziehen sie in den Flur.«

»Neinl« Sue zog sich an ihm hoch, und ich sah die blutige Stelle, wo die Jeans von einer Kugel oder einem Schrapnell zerrissen war, eine heftig blutende Furche im fleischigen Teil des rechten Oberschenkels. Wenn das ihre einzige Verletzung war, dann hatte Morris Recht und sie hatte Glück im Unglück gehabt.

»Wir kümmern uns, keine Widerrede«, sagte Morris entschieden.

»Menschen sind verletzt!« Ihr Blick flog zu den Terminals, wo ihre Studenten und Techniker vom Entsetzen übermannt waren oder in den Stühlen hingen. »O Gott — Cassiel«

Cassie, der reizenden Studentin, war ein Teil des Schädels weggeschossen worden.

Sue schloss die Augen, und wir zerrten sie aus der Kälte. Morris sprach eindringlich in sein Sprechfunkgerät, während ich die Handfläche auf die blutende Wunde drückte.

Zu dem Zeitpunkt waren die Ambulanzen des Hadassah Mt. Sinai bereits unterwegs und balancierten auf dem Eisschorf, der sich noch immer auf der Lehi-Straße hielt.


Im Foyer des Hotels richteten die Sanitäter ein Notlazarett ein, dichteten zerbrochene Scheiben mit Heizdecken ab und betrieben Heizöfen mit Hilfe des hoteleigenen Stromgenerators. Einer der Sanitäter legte Sue einen Druckverband an und dirigierte eintreffende Hilfe zu den Schwerverletzten, von denen die Schlimmsten noch auf der obersten Etage lagen. IDF und Zivilpolizei bildeten einen Kordon um das Gebäude, während im ganzen Umkreis die Sirenen heulten.

»Sie ist tot«, sagte Sue tonlos.

Cassie natürlich.

»Sie ist tot… Scotty, du hast sie gesehen. Sie war zwanzig. MIT-Diplomandin. Ein süßes, hübsches Ding. Sie hat sich bei mir bedankt und dann wurde sie umgebracht. Was hat das zu bedeuten? Hat das was zu bedeuten

Draußen fiel Eis von Gesimsen und Dachtraufen des Hotels und zerschellte auf dem Gehsteig. Mondschein durchdrang die glasig weißen Trümmer und umspielte die sich abzeichnenden Konturen des Kuin von Jerusalem.


Der Kuin von Jerusalem: eine vierkantige Säule, die emporragt, um einen Thron zu bilden, auf dem die Figur Kuins sitzt.

Kuin starrt gelassen am baufälligen Felsendom vorbei und mustert die Judäische Wüste. Er trägt Bauernhose und Hemd. Auf seinem Kopf sitzt ein Reif aus Halbmonden und Lorbeerblättern, eine bescheidene Krone vielleicht. Das Gesicht wirkt formell und edel, die Züge unspezifisch.

Der gewaltige Fuß des Monuments steht tief in den Ruinen des Zion-Platzes. Der Scheitel erreicht eine Höhe von eintausendvierhundert Fuß.

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