Der dritte Versuch

1


Hier oben brannte die Sonne viel stärker als einst unten im Tal, aber auch der Wind war kräftiger und kühlte alle schattigen Partien in Sekundenschnelle bis zum Gefrierpunkt ab. Manchmal brachte er Wolken von Sand herbei, feinen Sand, der bald in Augen, Ohren und Mund drang, unangenehm zwischen den Zähnen knirschte, die Kleidung füllte und die Haut aufrieb, wenn man die Glieder bewegte.

Al und René standen auf glasigen Krusten und Schlacken. Sie blickten auf die Ebene, die hundert Meter unter ihnen lag. Die Luft war noch immer mit berauschendem Thymianduft gesättigt; sein Ursprung schien jetzt, da es keine Pflanzen mehr gab, noch rätselhafter als früher.

Es war nun das dritte Mal, daß sie auf diesem Planeten erwacht waren. Diesmal hatten sie sich länger gedulden müssen, denn nichts von den Einrichtungen war erhalten geblieben. Sie wußten nicht, ob die Explosion alles vernichtet hatte oder ob die Umwandlung während jener unerklärlichen Ereignisse erfolgt war, die danach eingetreten sein mußten.

Es gab keine Stadt mehr, kein Flachland, kein Tal. Es gab nur eine Wüste, die wie ein Meer unter ihnen im Kessel lag, gut zwei Kilometer über dem Niveau des alten Talgrundes. Ein Großteil der Oberfläche war mit Sand bedeckt; er konnte aber nicht tief hinunterreichen, denn an manchen Stellen ragten Felsen über die Oberfläche hinaus. Es handelte sich nicht um Klippen oder Blöcke, sondern um bauchige Massen, manchmal auch um flache Stufen. Es sah aus, als hätte jemand Wachs ausgegossen und dieses wäre rasch erstarrt, noch bevor sich seine Oberfläche vollkommen glätten konnte. Diese Wüste erstreckte sich ohne Unterbrechung bis an die gegenüberliegenden Gebirgshänge, die als dunkler Strich am Horizont lagen.

»Ich glaube, es hat keinen Sinn mehr«, sagte René.

»Meinst du, daß alles vernichtet ist?« fragte Al.

»Von der Stadt ist jedenfalls nichts übriggeblieben.«

Al blickte ihn abschätzend von der Seite an.

»Denkst du eigentlich noch an die Luftspiegelungen?«

René lachte verblüfft auf. »Das wäre natürlich eine Erklärung für alles. Daß ich daran nicht gedacht habe! Meinst du, daß die Steine und der Sand Schwindel sind?«

»Das werden wir gleich feststellen.«

Sie hatten das Lager an einer Stelle errichtet, von der sie durch ein Kar mühelos absteigen konnten. Gleich darüber begannen die Wände sich steil aufzubäumen. Um eine ebene Fläche für die Gebäude und als Landeplatz für den Hubschrauber zu gewinnen, hatten sie einen keilförmigen Einschnitt ins Gestein getrieben.

Selbst hier in dieser Höhe waren die Spuren der Hitzewelle noch zu erkennen. Vorspringende Felsspitzen waren rundgesintert, Wülste abgeronnener flüssiger Minerale liefen wie die Ranken von Kletterpflanzen abwärts. Als Al und René nun hinunterstiegen, splitterten immer wieder dünne zerbrechliche Überzüge aus erstarrtem Material unter ihren Füßen. Manchmal sackten sie auch in sanderfüllte und daher nicht erkennbare Löcher ab.

»Der Boden ist echt«, stellte René fest, als er unten ankam. Er bückte sich, hob eine Handvoll Sand auf und ließ die weiche Masse durch die Finger rinnen. Al watete einige Meter hinaus und begann mit den Füßen zu scharren. Nach einer Weile rief er René zu sich heran.

»Was hältst du davon?«

René kniete nieder und befühlte die glatte Decke, die unter einer Sandschicht zum Vorschein gekommen war.

»Plastik«, sagte er. »Dieselbe Plastiksubstanz, aus der früher die Felsnadeln in der See- und Wiesenlandschaft bestanden.«

»Ich glaube, es hat doch Sinn«, sagte Al. René blickte verständnislos zu ihm auf.

»Ich glaube, es hat Sinn, sich hier umzusehen. Es ist noch etwas da, das Veränderungen hervorruft. Diese Plastikmassen sind doch nichts Natürliches.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte René. Er richtete sich wieder auf und klopfte die Hände an der Hose ab. »Sie sind noch da. Sie leben, und sie haben das Tal mit dieser Substanz gefüllt. Aber warum?«

»Vielleicht, weil sie etwas schützen wollen, was darunter liegt.«

»Eine unglaubliche Leistung«, meinte René. »Und das innerhalb von vierzehn Tagen! Wir haben einiges versäumt!«

Sie stapften langsam zum Berghang zurück.

»Scheußlich, dieser Sand«, klagte René. Und dann fiel ihm etwas ein. »Mensch, Al! Woher kommt er eigentlich?«

»Leicht zu erraten!« Al lächelte belustigt. »Radioaktive Asche, die nach der Explosion aus dem Atompilz abgesunken ist.«

René erschrak. Hastig rannte er vor und sprang auf den Felsuntergrund.

Al kam gemächlich hinterher.

»Da bist du auch nicht sicherer. Ich wette, die ganze Oberfläche ist radioaktiv.«

Vergnügt beobachtete er René. Dann sagte er:

»Was soll uns die Strahlung schon ausmachen? Vergiß nicht, daß jetzt keine Regeln mehr gelten!«

René atmete hörbar auf.

»Es ist so seltsam«, sagte er. »Ich muß mich erst daran gewöhnen.«

»Für mich ist es genauso seltsam«, sagte Al. Er hatte René eingeholt, und sie kletterten nebeneinander die Böschung hinauf. »Aber das mit der Radioaktivität ist noch das einfachste. Die spürt man sowieso nicht. Wir brauchen sie eben einfach nicht zu beachten. Aber genaugenommen zwingt uns doch auch nichts, die üblichen Sinneseindrücke beizubehalten. Was soll uns beispielsweise Kälte schaden? Wenn sie dir lästig wird, kannst du sie einfach abdrehen! Bei Hitze würde ich dir das allerdings nicht empfehlen.«

René war verwirrt, doch er wollte sich nichts anmerken lassen.

»Gewiß, Hitze würde schaden. Man könnte allerdings die Schmerzschwelle ein ganzes Stück hinaufrücken. Und wie steht es mit dem Sehen? Wäre es nicht angebracht, den sichtbaren Spektralbereich zu erhöhen? Beispielsweise übers Ultraviolett?«

»Das kannst du machen. Ich glaube zwar nicht, daß es dir viel helfen wird.«

»Wenn wir schon die Regeln nicht mehr zu beachten brauchen – warum verwenden wir nicht leistungsfähigere Modelle? Solche, die besser hören und besser sehen?«

»Es gibt keine anderen mehr. Die alten aus der Raketenzeit sind längst nicht mehr einsatzfähig. Auch die Feinheit der Umsetzung war gering, wenn auch der Empfindungsumfang weiter war. Wir hätten etwas Neues entwickeln müssen – und dazu wäre viel Zeit nötig gewesen. Vielleicht müssen wir es trotzdem noch tun. Aber es hat noch einen zweiten Grund. Ein solches Modell nimmt ja ganz andere Qualitäten auf, als wir durch unsere Sinnesorgane gewöhnt sind. Was glaubst du, wie lange das dauert, bis sich das menschliche Gehirn einübt! Solange wir nur gewohnte Eindrücke zu verarbeiten haben, können wir rasch und sicher reagieren. Ich glaube, wir werden das nötig haben.«

Sie waren wieder auf ihrer künstlichen Plattform angekommen. Das Land unter ihnen wirkte unbeschreiblich leer und öd. Jetzt, wo sie wußten, daß vielleicht irgendwo darunter etwas versteckt lag, dessen Antriebe und Absichten sie nicht verstehen konnten, war noch etwas Drohendes dazugekommen.

Al hatte einige Minuten geschwiegen. Der Wind preßte die Kleidung an seinen Körper. Er fröstelte und zog den Kragen hoch.

»Ich friere«, sagte er, »aber es ist eigenartig: Ich fühle mich wohl dabei. Solange es nicht nötig wird, lasse ich alles, wie es ist.«

»Mir geht es genauso«, sagte René. »Es kommt mir wunderbar vor, eine ernste Aufgabe zu haben. Wirklich etwas leisten zu können. Einem ernsten Gegner entgegenzutreten.«

»Wir müssen uns erst daran gewöhnen«, sagte Al. »Eigentlich ist es ein unglaublicher Zufall, daß gerade wir hier auf etwas gestoßen sind, das sich von alldem unterscheidet, was bisher aufgefunden wurde.«

»Vielleicht haben andere schon etwas Ähnliches gefunden, es aber nicht weiter beachtet? Aufgegeben wie Don, Jak und Heiko?«

Al spürte etwas Seltsames: Er hatte plötzlich den Eindruck, nicht mehr in einer selbstverständlichen Welt zu leben, sondern inmitten einer Fülle von lockenden Geheimnissen und Rätseln.

»Könnte es nicht möglich sein…«, sagte er. »Ich meine: Könnte es nicht im Weltraum noch viel mehr Unbekanntes geben? Vieles, was sich lohnt – wenn man sich damit beschäftigt?«

René konnte ihm diese Frage nicht beantworten, doch zum ersten Mal verstand er die abwegigen Gedankengänge des Freundes.

2


Der Hubschrauber trug sie über die radioaktive Wüste. Der Wind schüttelte sie, hob sie empor und ließ sie dann hinunterfallen. Sie schwankten hin und her; genau wie in ähnlichen Lagen auf der Erde kam es ihnen vor, als stemme eine unterirdische Gewalt die Landschaft unter ihnen empor.

»Rechnest du mit einem Schutzschirm – ähnlich wie dem über der Stadt?« fragte René.

»Ja«, sagte Al. Er starrte in die flimmernde Leere vor sich.

»Was dann?« fragte René.

»Dann müssen wir die Geräte schleppen.«

Wider ihre Erwartungen kamen sie unangefochten weiter. Nichts hielt sie auf, keine Spiegelung schien sie zu narren.

»Hier irgendwo muß das Zentrum sein«, sagte René.

Al zog den Steuerknüppel durch.

»Ich gehe hinunter.«

Er lenkte auf eine ebene Felsfläche zu. Aus kleinen Löchern wirbelten Fontänen von Sand hoch. Sanft setzte er auf, öffnete die Tür und sprang zu Boden. Er schnupperte: Seltsamerweise roch es auch hier nach Thymian.

René reichte Al die Sprengladungen und das Traggestell mit dem Seismographen. Al nahm die Haftkapseln an sich und trug sie etwa zwanzig Meter weit über die Felsplatte. Dann befestigte er sie am Boden und zog den Zünddraht zum Flugzeug zurück. Er führte das Ende über einen Schalteinsatz an einen Pol der Batterie und erdete den anderen.

René hatte den Seismographen einjustiert und setzte ihn probeweise in Betrieb. Auf dem auslaufenden Band erschien eine leicht gewellte Linie. Nervös hantierte er am Gerät.

»Was ist?« fragte Al.

»Der Störuntergrund ist viel zu schwach«, erklärte René.

»Was bedeutet das?«

»Durch den Boden laufen immer Erschütterungen. Das Gerät nimmt sie auf. Darum ist die Nullinie gewellt. Aber die Ausschläge hier sind viel schwächer als anderswo.«

»Probieren wir es doch einmal«, schlug Al vor. »Bist du soweit?«

»Ja.«

Al drückte den Schalterknopf hinein ein kleiner Springbrunnen Gestein und Staub sprühte von dort in die Höhe, wo der Sprengkörper gelegen hatte, und schon ertönte der Krach der starken Explosion.

Ihre Blicke hingen am Lochstreifen, der sich eilig aus dem Schlitz des Erschütterungsmessers schlängelte. Es vergingen keine zwei Sekunden – da schlug der Zeiger aus, und die Düse sprühte einige spitze Zacken aufs Papier. René richtete sich eben befriedigt auf, da grollte und donnerte es erneut um sie; da es in der Zwischenzeit ganz still gewesen war, kam es ihnen jetzt doppelt so laut vor.

»Das Echo«, sagte Al.

René sah ihn kopfschüttelnd an.

»Ja… aber woher?«

»Von den Bergen wahrscheinlich«, mutmaßte Al.

»Das waren nicht die Berge«, sagte René. »Das kam viel zu rasch.«

Al blickte erstaunt umher.

»Du findest nichts in der Nähe, was ein so starkes Echo hervorbringen könnte«, sagte René. »Und außerdem… mir war, als sei es von oben gekommen.«

»Ach«, machte Al verwundert.

»Bereite noch eine Ladung vor«, bat René. »Das müssen wir herausfinden!«

Al folgte seinem Wunsch und entzündete den Explosionsstoff. Sie hielten ihre Köpfe schräg, um die Richtung besser feststellen zu können.

Die Kapsel detonierte mit lautem Krach… sieben Sekunden Stille… dann das Gepolter der zurückprallenden Schallwellen.

»Alle Wetter!« ächzte Al. »Es kommt wirklich von oben!«

René zog im scharfen Nachdenken die Stirn kraus.

»Es kann nur eines sein«, rief er dann, »die unsichtbare Schirmwand!«

»Alle Wetter! Du hast’s gefunden!« Al war voll Anerkennung. »Natürlich, der Schirm! Sie haben ihn höher gelegt!«

»Aber warum?« fragte René.

»Sie wollten den Schutz vervollständigen!«

»Das bedeutet: Sie wissen nicht, auf welche Weise wir hierhergekommen sind.«

»Genau das«, bestätigte Al. »Der Synchronstrahl geht durch den Schirm, denn wir hatten keine Empfangsschwierigkeiten, als wir uns darunter befanden.«

»Sie kennen ihn nicht«, sagte René. »Wir haben sie überlistet. In einigen Dingen sind wir ihnen überlegen. Wie das doch mein Selbstbewußtsein stärkt!«

Beide waren erregt, als hätten sie einen Sieg errungen. Guter Dinge wandten sie sich dem Seismographen zu.

»Was entnimmst du aus der Kurve?« fragte Al.

»Eines steht fest: Unten, etwa zwei Kilometer tief, liegt eine reflektierende Schicht…«

Al unterbrach ihn:

»Vielleicht die Decke der Kellerräume?«

»Kann sein. Ich glaube, ich kann aber jetzt auch die schwachen Ausschläge erklären. Zwischen dieser Schicht und der Plastikoberfläche befindet sich ein stark dämpfendes Material…«

»Ausgezeichnet!« rief Al. »Dann ist ja alles klar! Zum ersten Mal verstehe ich den Sinn von dem, was hier geschehen ist. Es geht darum, das zu schützen, was da unten liegt. Offenbar sind die untersten Räume, in die wir nicht eindringen konnten, noch erhalten. Sie bergen irgend etwas Wertvolles. Die Atombombenexplosion hat bewiesen, daß der Schutzschild über der Stadt und die optischen Täuschungen nicht ausreichen, um es zu bewahren – und darum sind jetzt wirkungsvollere Maßnahmen getroffen worden. Der Schild reicht jetzt viel weiter, hoch in die Berge hinauf, vielleicht auch darüber hinweg…«

»Vielleicht sogar um den ganzen Planeten!« setzte René hinzu.

Al stimmte bei.

»Auch das wäre denkbar. Außer dem Schild haben sie aber noch etwas anderes angebracht, nämlich eine dicke Platte, die unmittelbar über den Kellerräumen liegt. Sie besteht aus dämpfendem Material und hat die Aufgabe, Erschütterungen abzufangen! Das ist’s!«

René verhehlte sein Einverständnis mit den Ergebnissen von Als Überlegungen nicht.

»Das könnte alles stimmen. Auch die Tiefe der reflektierenden Schichtgrenze dürfte dieselbe sein wie früher.«

»Wie tief liegt sie denn?«

»Ich kann es nicht genau sagen, weil ich die Schallgeschwindigkeit in dieser Dämmplatte nicht kenne, aber wie gesagt – es müßte ungefähr die Tiefe des alten Talbodens sein, das Niveau also, in dem wir den eigenartigen Eingang unter dem Hügel gefunden haben.«

René schnitt den perforierten und gerasterten Streifen mit dem Seismogramm ab, spulte ihn zusammen und steckte ihn in eine Büchse an der Seitenwand des Geräts. Dann klappte er den Deckel zu.

»Die große Frage ist die, wie wir in die Tiefe kommen«, sagte er und schob den Tragriemen über seine Schulter. Dabei fiel sein Blick nach Westen… erstarrt hielt er in seiner Bewegung inne: Ein Schatten glitt eilig über den Boden, ein dunkler Fleck, der schwerelos die Buckel hoch- und wieder hinunterglitt, über ebene Flächenstreifen huschte und über Gruben sprang – gerade auf ihn zu. Unverzüglich gingen seine Blicke hoch, er suchte nach der Ursache – die Sonne schien ihm ins Gesicht, und er konnte nichts Genaues wahrnehmen, aber doch genug: einen dunklen Körper unbestimmter Größe in Form einer hängenden Glocke. Er vermochte gerade noch einen Schrei auszustoßen, dann stand der Schatten über ihm, und er sah nichts mehr.

Al hatte erst durch den Schrei bemerkt, daß etwas vorgefallen war. Er sah, wie sich die Glocke über René stülpte, und rannte auf den Hubschrauber zu. Noch bevor er ihn erreichte, erfaßte auch ihn ein Schatten, er sah einen schwarzen Schlund über sich aufgehen, um ihn herum senkte sich etwas, unter seinen Füßen schob sich etwas zusammen, er fühlte sich ungefähr einen Meter emporgehoben, und es wurde stockdunkel.

Er streckte die Hände tastend vor und versuchte, zur Wand zu gehen… er machte Schritte, aber erreichte keine Wand. Er hatte das Gefühl, als paßte sich der Boden unter ihm auf eine geheimnisvolle Weise den Bewegungen seiner Füße an, als gliche er sie irgendwie aus. Er stand einen Moment still und beugte sich vor, versuchte den Boden zu erreichen… was er berührte, war etwas Festes, aber doch Nachgiebiges, wie ein auf Federn sitzendes, mit Scharnieren befestigtes Brett. Er wußte aber, daß dieser Vergleich viel zu primitiv war und daß sich die Wirklichkeit seiner Vorstellung entzog.

Auf einmal regte sich etwas, Licht glühte für einen verschwindenden Augenblick auf, ein Laut erklang, war aber schon wieder verschluckt, ehe er sich dessen bewußt war, etwas tastete über ihn, ein kleiner Schmerz stach so kurz, daß er nicht sicher war, ob er sich nicht getäuscht hatte…

Blitzschnell lief dieses Geschehen um ihn herum ab, behutsam, sanft, doch mit unbeirrbarem Nachdruck, ohne ihn in seiner Bewegungsfreiheit auch nur im geringsten zu hemmen, und gleichzeitig, ohne ihm die geringste Möglichkeit zur Auflehnung zu bieten.

Es ist ein Test, dachte er, ein Test wie jener vor etwas mehr als zwei Wochen, als wir zum ersten Mal das Maschinengelände betreten hatten. Jeder, der die Grenze überschreitet, wird geprüft – das ist klar. Und wenn er wiederkommt, wird er wieder geprüft. Diese Glocke unterschied sich allerdings ganz gehörig von der Halle, in der sie von Zelle zu Zelle transportiert und auf relativ grobe Weise behandelt worden waren. Hier geschah nichts Unangenehmes, Peinigendes oder Erschreckendes – das war Perfektion. Das Verwandte der beiden Vorgänge war nicht zu übersehen, aber die primitiven Umstände des ersten waren hier einer unglaublichen technischen Überlegenheit gewichen. Es war, als hätte sich die Methode in zwei Wochen von den Anfängen zur Vollkommenheit weiterentwickelt. Al sah aber ein, daß das nicht möglich war, daß es nicht so sein konnte. Dieses Höchstentwickelte war vorher auch schon dagewesen, nur hatte es nicht eingegriffen. Es hatte die Sicherungsaufgaben einfacheren automatischen Mechanismen überlassen. Aber diese gab es nun nicht mehr, und jetzt war er in der Hand von etwas, gegen das er noch viel weniger ausrichten konnte als gegen die Prüfung in der Maschinenstadt. Damals waren sie für harmlos befunden worden. Inzwischen aber hatten sie gezeigt, daß sie nicht harmlos waren. Die alte Maschinerie hatte versagt. Das Prüfergebnis war ein falsches gewesen. Würde sich auch die neue irren? Und wenn nicht – was geschah dann mit ihnen?

Die Entscheidung fiel. Al brauchte nicht lange darauf zu warten, nur wußte er nicht, wie sie ausgefallen war. Er sank um einen Meter tiefer… stand wieder auf festem Grund… vom Boden her wuchs ein blendend heller Zylinder hinauf – die Glocke hob sich und gab ihn frei. Ein Schatten stob hinweg, der massige Metallkörper schmolz irgendwo in der Ferne zu einem Punkt zusammen.

»He, Al, lebst du noch?«

Al fuhr herum. René stand hinter ihm. Er stand genau auf jener Stelle, auf der ihn die Glocke erwischt hatte, und auch Al war um keinen Meter von seinem Standort fortgebracht worden. Aber dort, wo der Hubschrauber gestanden hatte, thronte jetzt eine weitere Glocke, viel größer als jene, die René oder ihn bedeckt hatte. Sie war aus jenem glänzenden schwarzen Metall, das sie schon von der Pforte in die Unterwelt, von der tellerförmigen Platte am Grund des Hügels, kannten. Al wollte darauf zugehen, doch da hob sich auch dieser haushohe Körper mit derselben Leichtigkeit wie die beiden kleineren Exemplare und schoß davon.

»Jetzt hab’ ich aber genug von solchen Überraschungen«, murrte René.

»Wir haben sie ja durch unsere Probeexplosionen geradezu herbeigerufen«, meinte Al. »Vielleicht sind sie allergisch gegen Explosionen. Mich interessiert viel mehr, was für ein Ergebnis diese Untersuchungen haben werden. Sogar der Hubschrauber wurde getestet.«

»Offenbar keines – sie scheinen friedlich zu sein. Sie haben uns in Frieden gelassen.«

»Ich würde mich wundern, wenn es auch diesmal so glatt ginge«, seufzte Al.

Mit leichtem Mißtrauen blickten sie auf die leere Ebene hinaus. Sie sahen genau in jene Richtung, in der etwas Merkwürdiges geschah. Der Sand wölbte sich auf, als ob sich irgendein Wesen darunter recken wollte, und dann tauchte ein schwarzer Zylinder empor. Er wuchs an, bis er als kleiner gedrungener Turm wie verloren in der Wüste stand.

3


In wenigen Minuten hatte sich die Stimmung der beiden grundlegend gewandelt. Vor dem Auftauchen der Testglocken war ihnen gewesen, als hätten sie den Erfolg schon in der Tasche, als gäbe es nur einige unwesentliche technische Hindernisse zu überwinden, um sie ans Ziel zu führen. Und jetzt hatte die andere Seite wieder die Initiative ergriffen, und zwar in einer Weise, die ihnen die Beweggründe so unverständlich erscheinen ließ wie zuvor.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte René.

Al dachte kurz nach.

»Sie haben uns untersucht und sind zu einem Ergebnis gekommen. Das ist die Antwort darauf.«

»Du bist der Ansicht, daß dieser schwarze Turm für uns da ist?«

»Gewissermaßen.« Al kam zu einem Entschluß. »Sehen wir uns das Ding einmal aus der Nähe an!«

René war von diesem Vorschlag nicht begeistert.

»Es könnte eine Falle sein.«

»Dieser Turm scheint uns eine Möglichkeit zu bieten, nach unten zu kommen. Gerade das wollen wir. Hätten sie die Absicht, uns gefangenzunehmen, uns zu verschleppen oder uns sonst etwas anzutun – was sollten wir dann schon dagegen machen? Oder könntest du dich gegen diese Glocken wehren?« Er wartete kurz auf Antwort, aber René verzichtete darauf. »Na also«, fuhr Al fort. »Mir kommt das eher wie eine friedliche Einladung vor. Ich folge ihr jedenfalls.«

»Du kannst doch gar nicht beurteilen, ob sie etwas gut meinen oder bös. Du gibst selbst zu, daß sie anders denken als wir.«

»Das gebe ich zu. Aber glaubst du, daß es unter diesen Umständen Sinn hat, auf andere Art in die Unterwelt eindringen zu wollen? Willst du einen Stollen graben oder den Kessel wieder ausräumen? Glaubst du, daß das sicherer wäre?«

»Na schön«, sagte René nach einer Weile. »Gehen wir also.«

Solange sie sich auf festem Grund befanden, kamen sie gut vorwärts, dann mußten sie mit dem Sand fertig werden, in den sie einsanken wie in Pulverschnee, aber stets stießen sie in wenigen Dezimeter Tiefe auf Grund und gelangten, zwar langsam, aber nicht wesentlich behindert in die Nähe des Turms.

Auch dieses Gebilde bestand aus der schwarzglänzenden Legierung, wie alles, was sie bis jetzt aus dem Bereich der untersten Regionen kennengelernt hatten. Es schien direkt aus dem Sand hervorgekommen zu sein – als René zu nahe herantrat, glitt er in eine sanderfüllte Spalte zwischen Wand und Gesteinsuntergrund. Hätte er sich nicht mit dem Knie verstemmt, wäre er noch tiefer gesunken. Al hielt ihm seine Hand hin und zog ihn wieder zu sich herauf.

»Puh«, ächzte René erschrocken. »Hier führt ein Schacht hinab.«

Al blinzelte mit gutmütigem Spott.

»Wenn wir schon nach unten wollen, dann schlage ich vor, im Inneren des Turms und nicht daneben.« Er wies auf eine Öffnung, die sie vorher nicht bemerkt hatten – ein eineinhalb Meter hohes und drei Meter breites Rechteck in der gewölbten Wand.

»Mir soll’s recht sein«, sagte René, seinem Schicksal ergeben.

Al trat vor die Tür und blieb staunend stehen.

»Ach, wie zuvorkommend!«

Von der Schwelle war eine Einstiegsrampe herausgeklappt. Auch an diesem Mechanismus war die Ähnlichkeit mit der Rampe, die zu dem Schwebeboot geführt hatte, nicht zu verkennen.

»Ich glaube, diese Automaten wärmen das Messer an, bevor sie uns auseinandernehmen«, sagte René mit komischer Verzweiflung.

Nebeneinander gingen sie gebückt in den Raum. Er hatte die Form eines stehenden flachen Zylinders und war leer. Quer über die Decke lief eine Reihe von leuchtenden Scheiben. Sie saßen an aneinanderliegenden Blöcken, die Renés Aufmerksamkeit erregten.

Er war noch in ihre Betrachtung versunken, als ihn Al anstieß: Die Tür schob sich zu. Das Tageslicht versiegte, und nur noch das milde Weiß der Lichtkreise erhellte den Raum. Dann gab der Boden unter ihren Füßen nach. Sie sanken in die Tiefe.

»Ein Förderkorb«, sagte René.

»Wolltest du lieber Stiegen steigen?« fragte Al.

An dem Maß, in dem sie leichter wurden, merkten sie, wie schnell die Fahrt vor sich ging. Trotzdem schien es ungewöhnlich lange zu dauern, bis sie zunehmenden Druck von unten spürten – ein Zeichen, daß der Aufzug zum Stehen kam. Dann hatten sie den Eindruck, als ob sie sich wieder aufwärts bewegten, und merkten erst, daß es eine Täuschung war, als die Schiebetür aufging.

Sie erkannten die Örtlichkeit: Sie befanden sich unmittelbar über der Platte, die das Kellergeschoß des Hügels gegen die oberen Etagen abgrenzte. Sie traten hinaus und sahen, daß der Schacht, durch den sie gefahren waren, genau über der ovalen Öffnung lag. Sie traten auf einen Sockel, dessen Oberfläche unmittelbar an den Boden der Förderkabine anschloß und von dem sie über eine Spiralenbahn zur vier Meter tieferen Platte gelangten. Nun erst erblickten sie das Tor. Der innerste Deckel war nach oben ausgeschwenkt – der Zugang stand ihnen offen.

»Wir geraten immer mehr in die Gewalt eines fremden Willens«, sagte René.

»Wir können nichts anderes tun als hoffen, daß er kein zerstörerischer ist«, sagte Al. »Zum Umkehren ist es zu spät.«

Auf alle möglichen Überraschungen gefaßt, bewegten sie sich über den Steg hinunter zum Boden. Die Halle sah jetzt ein wenig anders aus als bei ihrem ersten Besuch. Die Decke schien neu aufgebaut zu sein; während sie früher aus grauem Material bestanden hatte, war ihre Farbe jetzt weißlich gelb und braun marmoriert.

Die Zahl der Stützen, die Boden und Decke verbanden, hatte so stark zugenommen, daß man nicht weit sehen konnte.

»Wieder etwas Neues«, sagte René.

»Die Stützen?« fragte Al, der den bewundernden Blicken Renés gefolgt war.

»Ihre Anordnung. Sie ist vollkommen unregelmäßig. Eine statistische Verteilung. Mir fallen gleich auf Anhieb eine ganze Menge Gründe ein, warum diese Anordnung mehr Sicherheit gegen Einsturz bietet als jedes regelmäßige Muster. Ich muß es einmal durchrechnen.«

»Aber nicht jetzt«, mahnte Al mit leiser Ironie. Er blickte in die Öffnung. »Ich riskiere es!« Er setzte sich an den Rand und ließ seine Beine baumeln. Vorsichtig beugte er sich vor, ertastete mit den Fußspitzen einen Halt und verlagerte allmählich das Gewicht darauf. Hier gab es keinen Boden, und Al mußte alle Konzentration aufwenden, um von seinem engbegrenzten horizontalen Standplatz aus eine vier Meter tiefer gelegene Stelle zu erreichen, wo er wenigstens halten konnte, ohne wie ein Seiltänzer zu balancieren.

Zunächst sah er nach René, der es vorzog, sich auf allen vieren zu bewegen. Es mutete an wie eine Kletterei in der Zirkuskuppel – von Hängeboden zu Hängeboden. Es sah gefährlich aus, aber nicht das war es, was Al das Blut jäh in den Kopf steigen ließ – der Deckel hatte sich lautlos geschlossen. Sie saßen in der Falle.

Als René sichere Stützen für Gesäß, Ellbogen und Füße gefunden hatte, merkte er den Grund für die Betroffenheit Als und mußte selbst um Fassung kämpfen.

»Der Deckel ist zu. Überrascht dich das?« fragte er.

»Eigentlich ist es nicht verwunderlich. Aber ich habe nicht daran gedacht.«

Bis jetzt hatten sie sich geistig noch in ihrer gewohnten Umgebung befunden, zwar einer fremden Umgebung, aber doch einer solchen, in der jede Einzelheit nach menschlichen Maßstäben zu messen war. Sie waren einige Meter hinabgeklettert und hatten dabei nur das Unnatürliche des engsten Umkreises erfaßt. Aber jetzt, als der Rückzug verschlossen war, wurde ihnen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich klar, daß sie sich in einer anderen Welt befanden.

Sie hingen in einer Art Gerüst, das nur aus einem einzigen Bauelement bestand – aus jenen Blöcken, die ihnen schon am Beleuchtungskörper der Aufzugkabine aufgefallen waren. Es schien sich aber um bedeutend mehr zu handeln als um Lampen. Jeder Block hatte die genaue Form eines Würfels. Die Seitenflächen waren unvergleichlich glatt, obwohl sie keineswegs ohne Struktur waren. Im Gegenteil: Neben den leuchtenden Scheiben gab es noch mehrere dunkle eingesetzte Flecken, die genauso präzise wie diese in die Fläche eingeschliffen waren, und Linien, die als Gerade parallel zu den Kanten oder als Kreise konzentrisch um die Kreisscheiben herumliefen.

René strich mit dem Finger über die eisglatte Würfelfläche und stutzte. »Probier das einmal«, sagte er.

Al kümmerte sich zunächst nicht um Einzelheiten, sondern versuchte einen Überblick zu gewinnen. Die ganze Örtlichkeit bestand aus diesen Würfeln, die wie Ziegel aneinandergereiht waren, jedoch nicht in der Form von Mauern, sondern als vielfach abgewinkelte Gerüste. Die Art ihrer Befestigung aneinander schien so stark zu sein, daß die Schwerkraft keinen Einfluß auf die Anordnung ausübte. Aus aneinanderliegenden Würfeln waren lange Balken geformt, von denen Seitenstreben ausgingen, die manchmal zu anderen Würfeltürmen führten, manchmal auch frei endeten und auf denen oft ganze Klumpen von regelmäßig geschichteten Bausteinen lasteten. Es gab auch keine Wände und keinen Boden – der Raum erstreckte sich in alle drei Dimensionen. Auf den freien Seiten der Bausteine leuchteten die Scheiben, jede einzelne von ihnen sandte nur schwaches Licht aus, aber alle zusammen füllten den Raum mit völlig gleichmäßiger, unräumlicher, schattenloser, matter Helligkeit, die milchig trüb in den Zwischenräumen lag.

All das aber war nicht still und tot, sondern ein eigenartiges Sichregen erfüllte die Gerüste, und gelegentlich näher, gelegentlich ferner zirpte, paffte, schnarrte, gluckste, knisterte und knackte es.

Nun erst folgte Al der Aufforderung Renés. Er berührte eine der ihm zugewandten Würfelflächen und merkte gleich, was der Freund gemeint hatte.

»Dieses Muster hat eine Bedeutung«, sagte er. »Hier ist eine warme Stelle… und diese vibriert.«

»Es scheinen Organe zu sein – mit denen das Unbekannte nicht nur Licht, sondern auch Schall, Wärme und wer weiß was sonst noch aussendet.«

»… und wahrscheinlich auch empfängt«, setzte Al hinzu. »Glaubst du, daß Sender eingebaut sind, die die Informationen weiterleiten?«

»Ich glaube eher, daß sie von einem Würfel zum andern geleitet werden.« Er betrachtete das Oberflächenmuster noch einmal genau und tippte auf zwei hellere Punkte. »Das könnten die Kontaktstellen sein.«

»Wir stehen also unter Bewachung«, meinte Al. »Dagegen waren die Masten mit den Kugelobjekten ja noch harmlos.« Er griff nach einem Würfel und zerrte daran. »Scheint unglaublich fest zu sein. Rührt sich überhaupt nicht.«

»Da brauchen wir uns wenigstens keine Gedanken darüber zu machen, daß das Ganze unter uns zusammenbricht.«

Al wandte sich von den Würfeln ab.

»Wie wäre es mit einer kleinen Kletterpartie?«

»Wenn es sein muß!«

Al spähte nach einem Weg wie ein Bergsteiger, der sich eine schwierige Route durch die Wand zurechtlegt, und kletterte dann abwärts. Es gelang überraschend gut, bald fielen sie in ein befriedigendes stetiges Tempo, das sie beibehielten.

»Glaubst du, daß das immer so weitergeht?« fragte schließlich René.

»Nein«, antwortete Al. »Irgendwo muß doch etwas anderes sein. Zum Beispiel das Steuerzentrum.«

»Das Gehirn? Ich fürchte, das ist zu menschlich gedacht. Warum sollen die Denkfunktionen in einem Ort zusammengezogen sein? Weil es bei den organischen Lebewesen so üblich ist? Heute, wo wir schön auf der Erde alle Elektronenhirne über weite Entfernungen zusammengeschaltet haben, ist das längst überholt. Und erst hier? Es kommt mir eher vor, als wäre jeder dieser Würfel ein gleichberechtigter Teil des Ganzen. Da können wir lange suchen.«

»Das alles dürfte richtig sein. Aber trotzdem muß es hier noch etwas anderes geben. Ich bin der Meinung, daß dieses System aus den Automaten der Maschinenstadt hervorgegangen ist. Sein Zweck kann kein Selbstzweck sein. Es muß eine Aufgabe haben. Und ich bin überzeugt, daß es diese Aufgabe perfekt erfüllt.«

René turnte an einem durchbrochenen Wandstück, das wie eine unförmige Leiter aussah. Bei jeder Bewegung schienen sich die unzähligen Lichtpunkte zu neuen Reihen und Mustern zu gruppieren. Manchmal sah es aus, als bestünde der ganze Raum aus nichts anderem als aus schwebenden Lichtern.

»Was soll das für eine Aufgabe sein«, fragte René, der ein Horizontalstück erreicht hatten, auf dem er sich ein wenig ausruhen konnte. »Die eigentliche Aufgabe solcher Maschinen, die Betreuung von Menschen, kann es ja nicht sein. Wenn du vielleicht gedacht hast, du findest hier etwas von den letzten Bewohnern dieses Planeten, dann hast du dich getäuscht – das siehst du doch jetzt sicher ein. Denn hier ist keine Spur von Menschen, diese Struktur ist Menschen überhaupt nicht angepaßt. Was soll es also für eine Aufgabe sein?«

Auch Al hatte sich niedergesetzt. Er schwitzte heftig von der Anstrengung der Kletterei.

»Was für eine Aufgabe?« wiederholte er. »Ich gebe zu, daß es hier Widersprüche gibt. Aber ich bin überzeugt davon, daß sich alles logisch erklären läßt. Wir haben die Situation nur noch nicht konsequent durchdacht. Wir müssen irgend etwas finden, das uns auf die rechte Fährte bringt.«

»Aber wonach willst du suchen?«

Al pfiff eine Weile leise vor sich hin. Dann sagte er:

»Etwas haben wir noch nicht gefunden: die blütenartigen Gebilde in dem langen Korridor. Den Orchideenkäfig. Es hat sicher einen triftigen Grund, daß der Filmablauf im historischen Labor gerade bei ihm aufgehört hat. Vielleicht liefert er uns des Rätsels Lösung.«

René teilte Als Zuversicht nicht.

»Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte er, »ich hab’ von hier genug. Ich halte es hier nicht aus. Dieses Gerüst, diese Luft, dieses Licht! Ich komme mir vor wie berauscht.«

»Was willst du tun?« fragte Al enttäuscht.

»Klettern wir zurück!« schlug René vor.

»Der Deckel ist geschlossen – wie willst du entkommen?«

»Sie werden ihn wieder aufmachen, Al. Was sollen wir hier? Sie lassen uns bestimmt hinaus.« Er schloß die Augen, um die verwirrenden Lichtmuster nicht mehr sehen zu müssen.

»Ja, René«, beruhigte Al. »Sie haben offenbar nichts Böses vor. Ich glaube auch, daß wir ungefährdet hinauskämen. Aber andererseits handeln sie doch nicht ohne Grund. Das ist doch alles viel zu vernünftig und geordnet! Es steckt Sinn dahinter. Willst du nicht abwarten, bis wir ihn erfahren?«

René versuchte noch immer, sich zusammenzunehmen, aber es gelang ihm nicht mehr ganz.

»Es ist furchtbar hier. Es wird mit jeder Minute furchtbarer. Ich möchte doch auch gern… Aber ich kann mir einfach nicht helfen! Mir schwindelt in diesem Hohlraum. Mir wird übel…«

Al konnte den Freund verstehen. Auch an ihm verfehlte die Umgebung ihre Wirkung nicht. Alle erzwungene Munterkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Er zwang sich dazu, den Blick stets auf nahe gelegene feste Punkte zu richten, denn wenn er einmal in die Ferne schweifte, begannen die Punktstreifen zu flimmern, zu tanzen, zu rotieren. Manchmal hatte er das Gefühl, als schwankte seine Umgebung, als gäben die Punkte, bei denen er Halt suchte, unter seinen Füßen und Händen nach, als befände sich hier nichts Festes oder Gefestigtes.

»Ist es so schlimm?« fragte er. »Ich fühle mich auch nicht gerade wohl. Aber ich will versuchen, es bis zum Ende durchzustehen. Wenn du willst, René, dann laß mich eben allein. Schalte einfach aus. Ich geh’ allein weiter. Was ist dabei?«

René hockte wie ein Bild der Verzweiflung auf einem Querbalken. Er blickte nicht auf, aber er schüttelte den Kopf.

Al redete weiter.

»Wenn du mich nicht verlassen willst, dann droßle doch einfach die Erlebnisintensität! Diesmal gilt doch keine Regel und kein Ehrenkodex. Niemand wird es dir übelnehmen.«

»Sei still, Al«, bat René. Lange Zeit sprach keiner von beiden. Dann richtete sich René auf.

»Gehst du vor, Al?« fragte er.

4


Hier unten schien nicht nur die räumliche Verteilung anderen Gesetzen zu folgen, auch die Zeit verhielt sich anders. Als Al während der nächsten Pause auf seine Uhr schaute, stellte er fest, daß erst zwanzig Minuten vergangen waren. Die Zeit war ihnen wie ein halber Tag vorgekommen.

Plötzlich hob Al Aufmerksamkeit heischend die Hand.

»Merkst du auch etwas?«

René strengte alle Sinne an… er wippte auf den Stufen, auf denen sie sich niedergelassen hatten, um ihre Festigkeit zu prüfen.

»Es kommt mir fester vor… das Unbekannte ist zur Ruhe gekommen. Meinst du das?«

»Ja.«

»Na, das kann uns ja nur angenehm sein.«

René schien nicht beunruhigt. Er blickte sich prüfend um… und zuckte zusammen.

Auch Al sah es. Eine ganze Reihe von Würfeln bewegte sich. Sie schob sich einfach zwischen den anderen hindurch…

»Dort«, schrie René.

Auch unmittelbar neben ihnen waren die Würfel in Bewegung gekommen. Es handelte sich nicht nur um ein einfaches Dahinwandern, sondern um komplizierte Umgruppierungen, die aber alle dadurch entstanden, daß Würfel aneinander vorbeiglitten, sich entlang ihrer Flächen verschoben – stets parallel zu den Kanten.

Selbst in jenem Augenblick höchster Beunruhigung empfand René einen Schimmer von Bewunderung für ein solches System, das sich selbst verformen konnte, für dieses Prinzip, dem über einfachste Bewegungselemente jede Gestalt zugänglich war.

Dann aber machten ihm die Vorgänge wieder mehr zu schaffen, so daß er keine Zeit mehr fand, technisches Ideengut zu bestaunen. Sie setzten sich in unmittelbarer Umgebung fort, veränderten die Wände, ebneten den Boden ein, schufen eine horizontale Decke. Ein kleiner Raum in Form eines hohlen Würfels von etwa vier Metern Kantenlänge hatte sich ausgebildet, Al und René standen mitten darin, und von den Seiten, von oben und von unten blickten Tausende erbarmungslose, kreisrunde, leuchtende Augen auf sie.

Später, als die Momente der Panik vorbei waren, untersuchten sie ihr Gefängnis. Es war nichts zu sehen, nur sechs quadratisch unterteilte Flächen. Jedes Quadrat trug die gleiche Ausstattung an eingelassenen Instrumenten und Linien, jedes war ungefähr fünfundzwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter groß. Sechzehn mal sechzehn solche Quadrate bildeten die Wand. Das war alles.

Nachdem sie die Mauern betastet und beklopft, an sie geschlagen und an ihnen gelauscht hatten, gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie setzten sich auf den Boden und warteten…

Sie warteten sieben Wochen lang.

Natürlich hielten sie es nicht ununterbrochen in ihrem Gefängnis aus. Von Zeit zu Zeit schaltete einer oder der andere ab, um sich zu erholen, aber stets blieb einer zurück. Sie entwickelten eine Ausdauer, die ihnen selbst unglaublich erschien, aber sie gaben nicht nach. Oft schmiedeten sie Pläne, wie sie die Geschehnisse beschleunigen könnten, sie dachten an einen Versuch, von außen ein zweites Mal einzudringen, aber immer wieder kamen sie zu dem Ergebnis, daß doch nur eines blieb: abwarten. Und so übten sie Geduld.

Stundenlang saßen sie beisammen und diskutierten, erzählten, unterhielten sich, viele Stunden hindurch schwiegen sie auch, oder sie streckten sich auf der Bodenfläche aus und schliefen.

Am Anfang der achten Woche geschah endlich etwas. Sie waren so erstaunt, daß sie zuerst ihren Augen und Ohren nicht trauten. Zuerst begann sich eine Wand zu bewegen: Sie glitt horizontal nach links, wobei sich genaugenommen nichts änderte, denn die Quadrate, die rechts zum Vorschein kamen, sahen genauso aus wie jene, die an der linken Seite verschwanden. Dann aber schob sich ein Ausschnitt in ihr Verlies hinein, einen Meter weit, bis ein Würfel von einem Meter Kantenlänge vor ihnen lag.

»Ich bin euer Verteidiger«, sagte der Würfel.

Al und René waren so perplex, daß sie keinen Laut hervorbrachten.

»Ich bin euer Verteidiger«, klang es noch einmal. Es war normale menschliche Sprache, und doch war eine Unbestimmtheit darin, die René erst später klärte: Sie rührte daher, daß die Schallschwingungen nicht von einer Membrane, sondern von vierundsechzig Membranen herrührten. Der Würfel stand so, daß vierundsechzig Teilwürfeloberflächen freilagen, alle besaßen je einen Vibrator, und jeder Vibrator formte gleichzeitig dieselben Worte.

Wieder tönte die Stimme, und es schwang sogar so etwas Menschliches wie Unsicherheit darin:

»Ist das nicht das richtige Wort: ›Verteidiger‹?«

René fand endlich die Sprache wieder.

»Es geht los«, sagte er zu Al.

»Ja, es geht los«, bestätigte der Freund.

»Bist du ein Botschafter?« fragte Al. »Soll jemand durch dich mit uns in Verbindung treten?«

»Verzeih«, antwortete der Würfel. »Ich verstehe noch nicht alles, was ihr sagt. Was ist ein Botschafter? Niemand will mit euch in Verbindung treten. Ich bin der Verteidiger.«

Al machte eine ratlose Geste zu René hin. Dann fragte er:

»Was meinst du mit Verteidiger? Wir stehen doch hier nicht vor Gericht.«

»Ihr werdet bald vor Gericht stehen«, ließ sich der Würfel vernehmen. »Und ich soll euch verteidigen.«

»Weshalb sollen wir vor Gericht gestellt werden?« fragte René.

Erstaunen klang aus den Membranen.

»Seid ihr nicht deshalb zurückgekommen: weil ihr euch verantworten wollt?«

»Nein«, sagte René. »Wir dachten gar nicht daran.«

»Wir dachten, es gehöre zu euren ethischen Prinzipien: Wer fehlt, muß die Verantwortung tragen. Er kommt vor Gericht und wird verurteilt oder freigesprochen. Vielleicht haben wir nicht alles verstanden. Aber das macht nichts. Ihr kommt vor Gericht.«

Al fragte noch immer fassungslos: »Warum eigentlich?«

»Wegen eurer Verbrechen selbstverständlich.« Wieder klang der Tonfall erstaunt. »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Zerstörung fremden Eigentums, illegale Einreise, Hantierung mit Feuerwaffen, Schmuggel, grober Unfug, Verletzung des Gesetzes zum Schutz gegen die radioaktive Verseuchung, vor allem aber schwere Körperverletzung in hundertzwanzig Fällen, Mord in zweiundvierzig Fällen oder vielleicht auch nur Totschlag. Das muß noch geklärt werden. Dazu kommen…«

»Halt«, schrie René. »Das ist ja gräßlich. Wie kommt ihr dazu…«

Al unterbrach ihn.

»René, ich fürchte, er hat recht. Das alles ist hier auf diesem Planeten geschehen. Wenn man nach irdischen Gesetzen urteilt…«

Er schwieg.

»Euch ist das Recht zuerkannt worden, nach euren Gesetzen abgeurteilt zu werden. Aber ich schlage vor, meine Herren, daß wir uns über die Anklage unterhalten.«

»Wieso kennt ihr unsere Sprache?«

»Wir haben alle eure sprachlichen Äußerungen samt den dazugehörigen Gebärden und Mikrogebärden aufgezeichnet und genau studiert. Das war der Grund, daß die Untersuchungshaft so lange gedauert hat. Ich glaube, wir beherrschen nun eure Sprache ganz gut. Leider haben sich seltsame Unstimmigkeiten in eurer Verhaltensweise ergeben, die wir noch klären wollen.«

»Hm. Und woher kennt ihr unsere Gesetze?«

»Wir kennen sie nur mangelhaft – eben nur so viel, wie sich aus euren Gesprächen ergeben hat. Wenn ihr das Recht, nach eurer Justiz behandelt zu werden, in Anspruch nehmen wollt, dann werdet ihr uns Genaueres mitteilen müssen. Es wird dann noch auf seinen logischen Gehalt geprüft – und dann kann die Verhandlung beginnen.«

Al blickte dem Automaten in alle sechzehn ihm zugewandten Augen.

»Wer garantiert uns, daß wir dir trauen können?«

»Ihr könnt meine Schaltung prüfen«, gab der Würfel zurück. Eine Reihe der außen liegenden Würfel verschob sich, eine andere aus dem Inneren rückte nach. Gespannt beugte sich René vor: Einige der inneren Würfel sahen anders aus als die äußeren. Sie waren vielfach unterteilt, die Seitenflächen trugen keine Augen, Membrane oder andere Organe mehr, sondern sie waren in winzige Quadrate geteilt, von denen einige wie die andern schwarz, andere aber weiß waren.

»Wenn du willst, zeige ich dir einzelne Schaltelemente vergrößert«, sagte der Automat. »Weiß bedeutet Leitung, schwarz bedeutet Sperre. Vielleicht begnügst du dich mit Stichproben. Sage mir, welches Auflösungsvermögen die Optik deiner Augen hat.«

»Ist schon in Ordnung«, murmelte René. Er schielte unsicher zu Al hinüber.

»An deiner Schaltung zweifeln wir nicht«, sagte Al. »Aber wir werden doch belauscht!« Er deutete auf die Lichtkreise in den Wänden ringsherum.

Der Automat bewegte sich. Die Reihe der Würfel aus dem Inneren zog sich an ihren alten Platz zurück, die Reihe der äußeren legte sich darüber, die glatte geometrische Gestalt war wiederhergestellt. Wieder erklang die verwischte und doch klare Stimme:

»Ich werde das gleich in Ordnung bringen.«

Fast im selben Moment erloschen alle Lichter an den Wänden. Nur noch jene des automatenhaften Besuchers glommen. Es sah aus, als ob er in der Leere schwebte, und der Eindruck war so beklemmend, daß René »Bitte das Licht wieder einschalten!« rief.

»Verzeihung«, sagte die Maschine. Die Lichtkreise schimmerten wieder auf. »Außer dem Licht ist alles abgeschaltet. Können wir jetzt beginnen?«

»Dürfen wir um Bedenkzeit bitten?« fragte Al.

»Ich bin in fünf Minuten wieder da«, antwortete der Automat und verschwand auf die hier übliche Fortbewegungsart durch die Wand.

»Jetzt wissen wir, woran wir sind«, sagte Al. »Dadurch hat sich eine ganze Menge auf vernünftige Weise geklärt.«

»Willst du dieses Theater mitmachen?« fragte René. »Glaubst du, daß du unter diesen Umständen noch ans Ziel kommst?«

Al schlug ihm auf die Schulter.

»Der Kontakt ist das Wichtigste. Jetzt ist er hergestellt. Zuerst können wir den Verteidiger aushorchen. Dann wird die Verhandlung sicher einiges Interessante ergeben. Und nachher… ich habe einen Plan. Paß auf: Wir lassen uns allen Ernstes in die Sache ein. Wir informieren uns genau über die Paragraphen, die üblichen Strafen und die Gerichtsordnung und teilen sie dem Verteidiger mit. Wir sagen ihm alles, was er wissen will, wahrheitsgetreu – bis auf eines: kein Wort über den Synchronstrahl und was damit zusammenhängt! Es ist unser Glück, daß wir – soviel ich mich erinnere – bisher nicht darüber gesprochen haben oder, falls wir es doch getan haben sollten, daß sie es nicht begriffen haben. Diese Chance nützen wir. Wahrscheinlich ist es unsere letzte.«

»Verrückt«, sagte René. »Aber ich mache mit.«

Pünktlich nach fünf Minuten setzte sich die Wand wieder in Bewegung, und der Verteidiger erschien.

»Habt ihr euch entschieden?«

»Ja«, sagte Al. »Wir stellen uns eurer Justiz. Wir danken euch dafür, daß ihr nach unseren Gesetzen Recht sprechen wollt. Und wir sind damit einverstanden, daß du uns verteidigst. Dazu noch eine Frage: Wie lange stehst du uns zur Verfügung?«

»Bis zum Ende der Verhandlung«, antwortete die Membranstimme.

»Und nachher nicht mehr?« fragte Al.

Prompt kam eine Gegenfrage: »Braucht ihr mich nachher noch?«

»Es könnte eine Berufungsverhandlung stattfinden. Oder es könnte sich später eine Änderung der Situation ergeben, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens nötig macht. Deshalb brauchen wir dich auch nachher noch.«

»Gut«, antwortete der Verteidiger. »Ich stehe euch so lange zur Verfügung, wie ihr mich braucht. Nur, fürchte ich, wird das nach dem Urteil kaum noch der Fall sein.«

Äußerlich ließ sich Al nichts anmerken, aber innerlich jubelte er. Den ersten Schachzug hatten sie gewonnen. Vorausgesetzt, er durfte sich auf die Rechtschaffenheit der Automaten verlassen. Und Automaten sind normalerweise verläßlich.

»Dann ist alles in Ordnung«, sagte er.

Der Verteidiger schwieg einige Sekunden, als wenn er sich sammeln müßte. Dann sagte er:

»Ich werde euch also verteidigen. Ich werde es ehrlich tun und alle meine Fähigkeiten daransetzen, euch zu entlasten – obwohl ich zugeben muß, daß es schlecht für euch steht. Von nun an gebe ich, außer mit eurem Einverständnis, keine eurer Informationen mehr weiter. Ihr könnt mir vertrauen. Sagt mir alles, was ihr wißt. Je mehr ich über euch erfahre, um so besser kann ich euch helfen. Und nun fangen wir an!«

Ihre Unterhaltung dauerte, von einigen Unterbrechungen abgesehen, hundertelf Stunden. Dann waren sie zur Verhandlung bereit.


Die Verhandlung

Reg.-Nr. 730214240261

Betr.: akustische Dokumentation zu Reg.-Nr. 730214250397


Unter Anklage stehen:

Name: Alexander Beer-Weddington, genannt Al*

Registriernummer: 12-3-7-87608 m*

Heimatort: Lima (Erde)

Konjunktionsdatum: 17. 12.122071* Konjunktionsort: Lima*

Spezifikation: Reg.-Nr. 7 308 271 600 089

* nach eigenen Angaben (unbewiesen)

Name: René Jonte-Okomura*

Registriernummer: 12-3-6-61 524 m*

Heimatort: Montreal (Erde)*

Konjunktionsdatum: 9. 3.122069*

Konjunktionsort: Montreal*

Spezifikation: Reg.-Nr. 7 308 271600 090

* nach eigenen Angaben (unbewiesen)


Al und René sind innerhalb der Koordinaten 873 362-873 357/ 368 523-368 518/220 867-220 861 untergebracht. Sie werden nach ihrem eigenen Recht abgeurteilt unter der Reg.-Nr. 7 302 148 500 629; soweit es unter den bestehenden Gegebenheiten möglich ist. Allenfalls sind möglichst gering gehaltene Abweichungen zugelassen. Im Sinn dieser Regelung wurde je ein 64-Einheiten-Komplex als Vorsitzender, Ankläger und Verteidiger aus der Einheit gelöst, als Zeugen dienen in sinngemäßer Abwandlung die Rezeptions-, Speicher- und Wiedergabeorgane der Einheit, als Richter fungiert die Logistikanlage.

Jede Äußerung wird durch Simultanübersetzung in der akustischen Sprache der Angeklagten ausgedrückt und gespeichert. Das so entstehende Dokument ist nach dem Urteil den Angeklagten oder deren Rechtsnachfolgern zu übermitteln beziehungsweise für sie aufzubewahren. Der Inhalt darin aufgeführter Registrationen ist ebenfalls in akustischer Dokumentation im Anhang aufzunehmen.


Vortrag der Anklage durch den Ankläger:

»Am 6. 8.122 106 um 10.04 Ortszeit drang eine Gruppe von drei Individuen mit Hilfe eines Seiles über die Mauer in das Stadtzentrum. Am nächsten Tag um 12.56 folgte eine zweite Gruppe von vier Individuen mittels einer Drahtseilleiter. Alle sieben Individuen wurden sofort nach ihrem Eintreffen von der äußeren Kontrolle routinemäßig getestet und als hochentwickelte intelligente Organismen registriert. Beide Gruppen bewegten sich durch die Stadt. Dabei wurde nichts Auffälliges festgestellt, bis auf die Tatsache, daß sie einige Maschinen in Funktion setzten. Am dritten Tag ihres Aufenthalts betraten die zuerst angekommenen Individuen die Zentrale und durchsuchten alle Räume. Am nächsten Vormittag kam auch die zweite Gruppe dort an und tötete ein Individuum der ersten Gruppe, bevor die Kontrollorgane eingreifen konnten. Einen Tag später richteten die übrigen zwei Individuen der ersten Gruppe durch Fehlsteuerungen erhebliche Zerstörungen in der Innenstadt an. Da sie zuerst die Sicherung ausgeschaltet hatten, war für die äußere Kontrolle kein Eingreifen mehr möglich. Die zweite Gruppe eilte inzwischen von der Stadtmauer durch das verwüstete Maschinengelände gegen das Zentrum, wobei ein Individuum auf bisher ungeklärte Weise umkam, und vereinigte sich dann mit der ersten Gruppe. Am Nachmittag des gleichen Tages stießen alle vier Individuen bis an die Grenze der inneren Kontrolle vor. Die beiden Angeklagten verweilten dort bis kurz vor der Explosion, während sich ihre Gefährten bald wieder entfernt hatten. Währenddessen bemächtigten sich diese einer Rakete mit Neutronensprengkopf und einer fahrbaren Abschußvorrichtung und schafften sie zum Rand des inneren Ringes. Alle fünf trafen dort zusammen und schossen die Rakete gegen das Steuerzentrum ab. Dadurch wurde die gesamte Stadt vernichtet. Die Erschütterung pflanzte sich aber auch in die unteren Geschosse fort, wodurch zweiundvierzig Menschen getötet und hundertzwanzig verletzt wurden. Was mit den vier Individuen geschehen ist, blieb bis heute ungeklärt. Wir nahmen zuerst an, sie wären durch ihre eigene Unvorsichtigkeit umgekommen, denn sie hielten sich im Wirkungsbereich der Bombe auf.

Vierzehn Tage später betraten drei Individuen den Warnkreis, den wir aufgrund dieser Vorkommnisse als doppelte Sicherung neu errichtet hatten. Wie sie die erste Sicherung, den Schutzschirm, den wir über den ganzen Planeten ausgedehnt hatten, überwinden konnten, ist noch nicht geklärt. Der Test ergab, daß es sich um zwei jener Individuen handelte, durch die die Katastrophe ausgelöst worden war. Das dritte erwies sich als halbautomatische Maschine, die die beiden als Flugzeug benutzten. Wir nahmen zuerst an, daß sie gekommen waren, um sich dem Gericht zu stellen. Darum ermöglichten wir ihnen den Eintritt durch den Schacht, wovon sie auch Gebrauch machten, und setzten sie in Untersuchungshaft.

Da es sich bei den zerstörten Maschinen und Bauten um veraltetes und nicht mehr brauchbares Material handelt, verzichten wir darauf, ihre Zerstörung zu ahnden. Weiter verzichten wir vorerst darauf, auf Formaldelikte oder auf Verbrechen, die die Angeklagten möglicherweise gegenseitig begangen haben, einzugehen. Das Verbrechen, dessen wir die Angeklagten beschuldigen, lautet: Mord in zweiundvierzig Fällen, schwere Körperverletzung in einhundertzwanzig Fällen.«

Verteidiger: »Der Fall einer Berührung mit fremden Intelligenzen ist in unserem Gesetz nicht vorgesehen. Ich bitte zu prüfen, ob ein Wesen, das nicht entwicklungsgeschichtlich, und erst recht nicht historisch, mit den Lebewesen einer anderen Sphäre verwandt ist, in bezug auf diese überhaupt Verbrechen begehen kann. Falls das nicht der Fall ist, verlange ich, daß das Verfahren eingestellt und daß meine Mandanten unverzüglich freigelassen werden.«

Vorsitzender: »Schädigung und Vernichtung hochorganisierter Komplexe, insbesondere von Leben, ist überall im Weltraum verbrecherisch. Die Anklage besteht daher zu Recht.«

Verteidiger: »Wenn das Gericht räumliche Trennung, gesondert gelaufene Evolution und historische Unabhängigkeit nicht als Hindernis dafür ansieht, Rechte auf Angehörige der anderen Seite auszuüben, dann darf es diese Gründe auch nicht in Anspruch nehmen, wenn es um die Pflichten geht, Es liegt genügend Beweismaterial dafür vor, daß meine Mandanten Menschen sind wie unsere eigenen Schutzbefohlenen. Nur Menschen selbst haben daher das Recht, über sie Gericht zu halten – uns steht es nicht zu. Ich erkläre daher dieses Gericht für nicht zuständig und fordere, daß meine Mandanten unverzüglich freigelassen werden. Da wir Menschen unbedingt Gehorsam schuldig sind, haben wir uns überdies von jetzt an nach den Befehlen meiner Mandanten zu richten.«

Vorsitzender: »Erstens: Im Gegensatz zu unserem Recht, Justiz auszuüben, besteht unsere Pflicht zu Schutz und Gehorsam nur der geschichtlichen Einheit der Zivilisation dieses Planeten gegenüber. Zweitens: Es ist wahr, daß wir es bisher nicht nötig gehabt haben, Menschen vor Gericht zu stellen und abzuurteilen. Unsere Arbeit hat sich bisher darauf beschränkt, über Schuld und Unschuld zu entscheiden und das Strafausmaß zu bestimmen, wie das auch in der Heimat der Angeklagten elektronischen Anlagen zur Datenverarbeitung obliegt. Wenn wir also jetzt eigenmächtig unsere Kompetenzen ausdehnen, so geschieht das im Sinn unserer Schutzbefohlenen und im Sinne einer logischen Erweiterung unseres Programms – um jede Störung und Schädigung von ihnen fernzuhalten. Wir legen aber Wert auf die Feststellung, daß wir durch diese Antwort keineswegs der Ansicht des Verteidigers zustimmen, es handle sich bei den festgenommenen Individuen um Menschen. Im übrigen ist diese Frage unwesentlich, denn wir haben zugestimmt, daß diese Wesen nach ihren eigenen Gesetzen abgeurteilt werden. Wir haben diese Gesetze geprüft – und verwenden sie trotz einer ganzen Menge von Unzulänglichkeiten. Ganz gleich also, ob sie Roboter, Maschinen oder sonst etwas sind, durch ihre eigenen Gesetze behandeln wir sie richtig.«

Verteidiger: »Ich muß darauf hinweisen, daß die Gesetze, die hier zur Anwendung kommen, überaltert sind. Es hat auf der Erde seit Zehntausenden von Jahren keinen Mordprozeß mehr gegeben.«

Vorsitzender: »Diese Gesetze sind aber auf der Erde noch in Kraft und daher für das Gericht bindend. Jedoch stellen wir es den Angeklagten frei, sich nach den hiesigen Gesetzen behandeln zu lassen. – Da der Verteidiger keine Einwände mehr hat, schreiten wir zur Beweisaufnahme. Ich erteile das Wort dem Ankläger.«

Ankläger: »Angeklagter Alexander Beer-Weddington, erkläre uns, warum du überhaupt auf diesen Planeten gekommen bist!«

Al: »Eigentlich handelt es sich um ein Wettspiel. Wir suchen Planeten auf. Wer einen Planeten untersucht hat, darf ihm seinen Namen geben.«

Ankläger: »Was bedeutet ›untersuchen‹?«

Al: »Man muß eine dokumentierte Beschreibung des höchstentwickelten Organismus geben.«

Ankläger: »Soll dieser Organismus entführt, getötet oder geschädigt werden?«

Al: »Nein. Eine solche Regel kann es gar nicht geben, weil wir noch nie intelligente lebende Wesen gefunden haben. Nur Spuren von solchen.«

Ankläger: »Warum übt ihr dieses Spiel aus?«

Al: »Zum Zeitvertreib.«

Ankläger: »Aber es muß doch einen Sinn haben? Weißt du etwas darüber?«

Al: »Früher, im Atomzeitalter und auch noch einige Zeit später, haben Wissenschaftler fremde Planeten aufgesucht und sie genau durchforscht – besonders die höher entwickelten Lebewesen. Der Planet erhielt dann den Namen des Expeditionsleiters. Ich glaube, daß das Spiel daraus hervorgegangen ist.«

Ankläger: »Auf welche Art bewegt ihr euch durch den Weltraum?«

Al: »Darauf verweigere ich die Aussage.«

Ankläger: »Wie seid ihr auf die Idee gekommen, unseren Planeten zu besuchen?«

Al: »Zwei Freunde von mir, Don und Jak, haben ihn im Fernrohr entdeckt. Es war verlockend, einmal eine Region aufzusuchen, die unserer Erde äußerst ähnlich ist.«

Ankläger: »Warum seid ihr in zwei getrennten Gruppen angekommen?«

Al: »Es kam darauf an, das Ziel zuerst zu erreichen. Dadurch wurde es spannender.«

Ankläger: »Was geschah nach eurer Ankunft?«

Al: »Wir gingen in die Stadt und schauten uns um – einige Tage lang.«

Ankläger: »Wir sind über eure Schritte innerhalb der Mauer orientiert. Warum habt ihr einen großen Teil der Maschinen zerstört?«

Verteidiger: »Ich erhebe Einspruch. Von einer Klage wegen der Zerstörungen an dem wertlosen Maschinenpark wurde abgesehen.«

Vorsitzender: »Dem Einspruch wird stattgegeben.«

Ankläger: »Einen Tag vor der Tat hat jene Gruppe, die als zweite ins innere Stadtgebiet gekommen ist, ihre an der Zentrale beschäftigten Kameraden aus dem Hinterhalt überfallen und einen von ihnen getötet. Der Mörder, dessen Schuß die tödliche Verletzung hervorrief, ist der Angeklagte René.«

Verteidiger: »Ich erhebe Einspruch. Verbrechen unter den Angeklagten selbst sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung.«

Ankläger: »Ich muß auf diesen Sachverhalt eingehen, weil sich eindeutig daraus ergibt, daß sich die gewissenlosen Elemente, die selbst ihren eigenen Kameraden gegenüber keine Rücksicht kannten, in der zweiten Gruppe befanden, also in jener, deren treibende Kräfte die beiden Angeklagten waren.«

Vorsitzender: »Der Einspruch ist abgelehnt.«

Ankläger: »Warum habt ihr eure Kameraden überfallen?«

Al: »René und ich waren mit diesem Überfall nicht einverstanden. Wir haben uns dagegen gewehrt.«

Ankläger: »Ihr habt euch nicht geweigert, mitzutun.«

Al: »Don war der Anführer. Wir hatten vereinbart, uns nach seinen Anordnungen zu richten.«

Ankläger: »Ein Überfall mit Tötungsabsicht geht weit über den Rahmen eines Spiels. War es bei diesen Spielen üblich, sich gegenseitig zu überfallen und sogar zu töten?«

Al: »Nein. Normalerweise geschah das nicht. Doch hatte uns vorher Jak, als wir die Innenstadt zum ersten Mal betreten wollten, mit Kanonen beschossen, und so mußten wir mit ähnlichen Maßnahmen antworten.«

Ankläger: »Ich will dahingestellt sein lassen, ob diese Version stimmt. Aber selbst dann habt ihr unrecht getan – ihr habt eine Gesetzwidrigkeit mit einer anderen Gesetzwidrigkeit vergolten und nicht daran gedacht, daß sich dadurch Unrecht nicht aufhebt, sondern verdoppelt. Was wäre mit euch geschehen, wenn ihr euch geweigert hättet?«

Al: »Es wäre feig gewesen. Vielleicht hätten wir nicht mehr mitmachen dürfen.«

Ankläger: »Da habt ihr lieber einen Mord begangen. Ich bitte, diese dadurch erwiesene Verwerflichkeit der Angeklagten besonders zu vermerken. An den Tagen vor der Tat wie auch am Tag der Tat selbst kamt ihr alle an den unteren Eingang. Diejenigen, die sich noch kurz vor der Bombenexplosion dort aufhielten, waren die beiden Angeklagten. Was habt ihr dort gesucht?«

Al: »Wir haben uns umgesehen.«

Ankläger: »Stand euer Aufenthalt am unteren Eingang in Verbindung mit eurem Ziel, die höchstentwickelten Lebewesen auf diesem Planeten zu finden?«

Al: »Ja.«

Ankläger: »Diese Feststellung ist mir besonders wichtig, weil sie einer möglichen Ausrede der Angeklagten, sie hätten nicht wissen können, daß sich im Innern der tiefen Geschosse Menschen aufhalten, entgegentritt. Am späten Nachmittag desselben Tages habt ihr euch alle an der Stadtmauer eingefunden und den verderbenbringenden Schuß abgegeben. Warum wurde dieser Schuß gefeuert?«

Al: »Jak wollte feststellen, was sich unter dem Hügel befindet.«

Ankläger: »Wußte er, daß sich unten Menschen aufhalten?«

Al: »Nein.«

Ankläger: »Hat er mit der Möglichkeit gerechnet?«

Al: »Das weiß ich nicht.«

Ankläger: »Hast du es gewußt oder geahnt, daß unten Menschen leben? Ich erinnere daran, daß du vorhin, als ich dich nach dem Grund deines Vordringens bis zum Eingang der Tiefenregion fragte, angegeben hast, daß es mit dem Wunsch, die Lebewesen zu finden, in Zusammenhang stand. Also, hast du gewußt oder geahnt, daß sich unten Menschen befinden?«

Al: »Es erschien mir nicht unmöglich.«

Ankläger: »So warst du dir also auch bewußt, daß der Schuß diese Menschen verletzen oder töten konnte?«

Al: »René und ich waren nicht daran beteiligt. Wir haben alles versucht, um die Kameraden davon abzubringen.«

Ankläger: »Das ist nicht wahr. Ihr habt lediglich um eine Verschiebung gebeten, weil ihr euch noch etwas in der Zentrale umsehen wolltet und vor allem, weil ihr um euer Leben gebangt habt. Habt ihr auf den moralischen Aspekt der Angelegenheit hingewiesen?«

Al: »Nein.«

Ankläger: »Hätte euch ein solcher Versuch in persönliche Gefahr gebracht?«

Al: »Nein.«

Ankläger: »Danke, das genügt.«

Vorsitzender: »Der Verteidiger hat das Wort.«

Verteidiger: »Ich möchte noch einmal auf das Spiel zurückkommen. Habt ihr dafür eine besondere Ausbildung bekommen, etwa eine wissenschaftliche?«

Al: »Nein.«

Verteidiger: »Ist ein Training dazu nötig? Ist die Zulassung von irgendwelchen Bedingungen oder Voraussetzungen abhängig?«

Al: »Nein.«

Verteidiger: »Es darf sich also jeder, der Lust dazu hat, ohne jede Vorbereitung auf einem fremden Himmelskörper aufhalten?«

Al: »Ja.«

Verteidiger: »Bringt das für die Beteiligten nicht große Gefahren mit sich? Kommen nicht allein durch ihre Unwissenheit viele von euch dabei um?«

Al: »Natürlich gibt es Pannen.«

Verteidiger: »Als du und René gemeinsam mit den nicht anwesenden Don und Katja am Vormittag des verhängnisvollen Tages von der Mauer zum Zentrum lieft, hattet ihr einige Gefahren zu überwinden. Einem Ereignis, dem Auslaufen von Zellstoffmelasse, fiel Katja zum Opfer. Ich glaube, man könnte das als einen Unfall der erwähnten Art bezeichnen. Was habt ihr daraufhin gemacht?«

Al: »Nichts. Wir hatten es eilig.«

Verteidiger: »Ich glaube, diese Aussagen dadurch auf einen Nenner bringen zu können, daß ich feststelle: In der Gesellschaft der Angeklagten spielt der gewaltsame Tod eine völlig andere Rolle als bei uns. Und nun zur Frage der Lebensgewohnheiten, durch die sich im Hinblick auf die hier erörterten Geschehnisse neue Perspektiven eröffnen. Darüber gibt es eine Registration – Reg.-Nr. 730694 330011. Ich komme nur auf einige wesentliche Punkte zu sprechen. Womit füllt ihr euer Leben aus?«

Al: »Es gibt manches, mit dem man sich die Zeit vertreiben kann. Vor allem die Erlebnisfilme und die Spielautomaten. Gespräche, Unterhaltungen und Feste. Dann die Kunst – das Kaleidoskop, die plastischen Räume, Lalloglosie, Stereomusik, die Duftorgel und so weiter. Außerdem stehen jedem die Archive zur Verfügung. Darin ist alles verzeichnet, was je geschehen ist, die ganze Geschichte, alle wissenschaftlichen Ergebnisse und Theorien, Rechtslehre, Philosophie, alles, was bisher über den Weltraum bekannt ist, und so weiter.«

Verteidiger: »Beschäftigt ihr euch mit dem Wissen oder mit dem Vergnügen?«

Al: »Ich verstehe nicht – wir betreiben Wissenschaft nur zum Vergnügen.«

Verteidiger: »Gibt es bei euch Spezialisten? Ich meine, solche, die sich auf irgendeinem Gebiet besondere Kenntnisse erworben haben?«

Al: »Doch, einige haben besondere Interessen.«

Verteidiger: »Was sind deine besonderen Interessen?«

Al: »Oh – nichts Besonderes. Stereogesang. Die alten Pioniergeschichten. Unter den Wissenschaften – die Evolution der Tiere. Darwin und so.«

Verteidiger: »Hat dein Freund René besondere Interessen?«

Al: »Soviel ich weiß – bewegte Plastik, physikalische und chemische Rätselspiele.«

Verteidiger: »Und nun zu eurem Aufenthalt hier. Warum habt ihr so wenig Hilfsmittel mitgebracht?«

Al: »Das schreiben die Regeln vor. So hat keiner einen Vorteil dem anderen gegenüber. Werkzeuge, mit denen man etwas auf dem fremden Planeten verändern kann, dürfen wir nicht verwenden. Nur solche, die wir vorfinden.«

Verteidiger: »Sehr schön. Nun schildere, was sich zugetragen hat, als ihr über die Brücke in das Innere der Stadt gehen wolltet!«

Ankläger: »Ich erhebe Einspruch. Details aus den Geschehnissen außerhalb der Stadtmauer sind nicht beweisbar und haben daher keinen Einfluß auf den Prozeß. Ich sage das nur im Sinne einer klaren und rationellen Verfahrensabwicklung.«

Verteidiger: »Der Überfall, der auf die Gruppe, zu der auch die beiden Angeklagten gehörten, ausgeübt wurde, beweist, daß es sich später, als sie ihrerseits die erste Gruppe angriff, nur um eine gerechtfertigte Gegenmaßnahme handelte und daß damit die Beweisführung des Staatsanwalts, der daraus auf eine auch für ihresgleichen außergewöhnliche Schlechtigkeit der Angeklagten schloß, hinfällig ist.«

Vorsitzender: »Sind für diese Ereignisse außer den beiden Angeklagten Zeugen vorhanden?«

Verteidiger: »Nein.«

Vorsitzender: »Dann gebe ich dem Einspruch des Staatsanwalts statt.«

Verteidiger: »Als sich am Tag der Tat die fünf Überlebenden im Aussichtsraum der Zentrale trafen, kam es zu einer Umgruppierung. Kannst du uns den Grund dafür angeben?«

Al: »René und ich wollten uns nicht mehr beteiligen.«

Verteidiger: »Habt ihr damit auch auf die Möglichkeit verzichtet, euer Spiel doch noch zu gewinnen?«

Al: »Ja.«

Verteidiger: »Warum? Hattet ihr ein anderes Ziel ins Auge gefaßt?«

Al: »Ja. Wir hatten festgestellt, daß die Bewohner dieses Planeten unserer eigenen Rasse sehr ähnlich gewesen sein mußten. Wir hätten gern gewußt, was aus ihnen geworden ist.«

Verteidiger: »Habt ihr dabei an Böses gedacht, was diese Menschen geschädigt hätte?«

Al: »Nein.«

Verteidiger: »Ist es nicht viel eher so, daß der Schuß, den Jak, Don und Heiko planten, eure Wünsche vollkommen zunichte machte?«

Al: »Ja – darum wehrten wir uns ja dagegen.«

Verteidiger: »Warum habt ihr nicht energisch eingegriffen?«

Al: »Don und Jak hatten diesen Planeten entdeckt – er gehörte sozusagen ihnen. Und außerdem – was wir wollten, war wirklich ein bißchen ungewöhnlich… alle wären gegen uns gewesen, auch zu Hause.«

Verteidiger: »Kann man es vielleicht so ausdrücken: daß ihr eure persönlichen Interessen der Kameradschaft und den üblichen Gepflogenheiten zuliebe zurückgestellt habt?«

Al: »Ja.«

Verteidiger: »Danke. Ich bin fertig.«

Vorsitzender: »Das Wort hat der Staatsanwalt.«

Ankläger: »Angeklagter René Jonte-Okomura, hast du zu dem in der Anklageschrift und durch die Vernehmung des Angeklagten Alexander Beer-Weddington zum Ausdruck gekommenen Tatbestand etwas zu bemerken? Etwas zu berichtigen oder zu ergänzen?«

René: »Wir haben nichts Verbotenes getan.«

Ankläger: »War das, was dein Freund Al ausgesagt hat, richtig?«

René: »Ja.«

Ankläger: »Warst du dabei, als die Rakete abgeschossen wurde?«

René: »Ja.«

Ankläger: »Hast du versucht, etwas dagegen zu tun?«

René: »Ja. Es war doch ganz sinnlos. Wir waren viel zu nah dran. Ich habe das Jak gesagt.«

Ankläger: »War das der einzige Grund für dein Eingreifen?«

René: »Wie ist das gemeint?«

Ankläger: »Hast du nicht damit gerechnet, daß durch die Explosion Lebewesen im Inneren der tiefen Geschosse verletzt oder getötet werden könnten?«

René: »Nein.«

Ankläger: »Danke!«

Vorsitzender: »Der Verteidiger hat das Wort.«

Verteidiger: »Du hast dich in deiner Heimat mit physikalischen und chemischen Rätselspielen beschäftigt. Was ist das?«

René: »Es gibt da einige interessante Probleme… Lichterscheinungen hervorrufen oder chemische Stoffe herstellen. Man gibt die Aufgabe nicht den Automaten, sondern rechnet sie selbst durch.«

Verteidiger: »Bist du ein Experte für physikalische und chemische Fragen?«

René: »Ich weiß einiges.«

Verteidiger: »Weißt du so viel, um beurteilen zu können, ob ein technisches Hindernis schwer oder leicht zu überwinden ist.«

René: »Ja.«

Verteidiger: »Hat euch das Eindringen in die Stadt große Schwierigkeiten gemacht?«

René: »Es war nicht so schlimm.«

Verteidiger: »In Anbetracht dessen, daß ihr außer einer Leiter keine Hilfsmittel gebraucht habt – ging es schnell oder nicht?«

René: »Ziemlich schnell.«

Verteidiger: »Nun zu den Waffen. War es schwierig, an die heranzukommen?«

René: »Nein, gar nicht. Die Waffen in der Festungsanlage vor der Brücke waren offen zugänglich. Wie es mit dem Raketengeschoß war, weiß ich nicht, aber Jak, Don und Heiko haben überraschend schnell eines organisiert.«

Verteidiger: »War es schwer, die Waffen zu bedienen?«

René: »Aber nein, im Gegenteil – nichts leichter als das.«

Verteidiger: »Gilt das nur von deinem Stadtpunkt aus, weil du dich mit technischen Dingen ein wenig auskennst, oder gilt das auch für deine Kameraden?«

René: »Es war auch für sie sehr leicht. Die Rakete ließ sich noch einfacher abfeuern als die alten Granatwerfer.«

Verteidiger: »Danke. Das ist alles.«

Vorsitzender: »Wir kommen jetzt zu den Zeugen der Anklage. Das Wort hat der Ankläger.«

Ankläger: »Der in der Anklageschrift niedergelegte Tatbestand ist durch die Registration evident. Ich brauche keine Zeugen.«

Vorsitzender: »Das Wort hat die Verteidigung.«

Verteidiger: »Ich möchte auf einige Tatsachen zurückgreifen, die bisher nicht oder nicht deutlich genug mit dem Tatbestand in Zusammenhang gebracht worden sind. Sie sind registriert.«

Vorsitzender: »Die Registratur steht zur Verfügung.«

Verteidiger: »Was für Vorkehrungen zur Sicherheit der im Tiefengeschoß untergebrachten Menschen wurden getroffen?«

Registratur: »Gegen Meteoreinschlag schützte die Stauluftkappe.«

Verteidiger: »Reichte diese Kappe bis zum Boden?«

Registratur: »Nein. Ein zwei Meter hoher Rand blieb frei.«

Verteidiger: »Warum?«

Registratur: »Zur Zeit der Meteorabstürze kam es noch vor, daß Stadtbewohner die äußeren Grünanlagen persönlich besuchen wollten.«

Verteidiger: »Warum wurde die Schutzkappe nicht vervollständigt, als sich die Menschen nicht mehr aus den Häusern bewegten?«

Registratur: »Dazu bestand kein Anlaß.«

Verteidiger: »Sind die Stadtmauer und die Spiegelung der Altstadt als Schutzmaßnahmen zu betrachten?«

Registratur: »Nein. Es handelte sich um eine Restaurationsmaßnahme, um das alte historische Bild wiederherzustellen.«

Verteidiger: »Konnte jedermann die Altstadt unbehindert betreten?«

Registratur: »Ja – bis auf die Routineprüfung.«

Verteidiger: »Die Routineprüfung diente seinerzeit als reine Registrierungsmaßnahme, als die Maschinen noch von menschlichen Ingenieuren betreut wurden. Es gab also nicht die geringste Sicherung. Wie war das unterste Geschoß geschützt?«

Registratur: »Durch die Zirkoniumkarbid-Deckplatte.«

Verteidiger: »Stand unsere Automatik mit den Rezeptions- und Kontrollorganen des Maschinengeländes in Verbindung?«

Registratur: »Ja.«

Verteidiger: »Aus ihrem Verhalten, besonders aus den Zerstörungen des letzten Tages im Bestehen der Stadt, wäre zu schließen gewesen, daß Gefahr auch für die tiefen Geschosse bestand. Warum wurde nichts unternommen?«

Registratur: »Das Programm sah kein Eingreifen in den Oberflächenregionen vor. Die Automatik lernt nur an dem, was tatsächlich eintritt. Das Programm kann erst danach geändert werden.«

Verteidiger: »Ich darf also feststellen, daß es außer der Deckplatte keinen Schutz gegen Einwirkungen intelligenter Wesen von außen gab. Warum gab es keinen solchen Schutz?«

Registratur: »Die Menschen waren befriedet. Maschinen und Automaten stehen unter Selbstkontrolle. Biologische Neuentwicklung war ausgeschlossen, da wir den Planeten sterilisiert hatten. Das Einwirken von Intelligenzen aus dem interplanetarischen Raum war ausgeschlossen, weil sich auf den Nachbarplaneten kein Leben befand und sich auch keines bilden konnte – wir hatten sie ebenfalls sterilisiert. Das Einwirken von Intelligenzen aus dem interstellaren Raum schien ausgeschlossen, weil es sich bei unserem System um eine isolierte Sonne handelt. Alle planetenbehafteten Sonnen, auf denen es Lebewesen geben könnte, sind mehr als fünf Millionen Lichtjahre von uns entfernt. Da sich nichts Materielles mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen kann, war mit genügender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, daß fremde Lebewesen auf unseren Planeten kommen.«

Verteidiger: »Das wär’s. Ich danke.«

Vorsitzender: »Sind noch Zeugen zu vernehmen? Hat der Ankläger noch eine Frage? – Da das nicht der Fall ist, schließe ich die Beweisaufnahme und bitte den Ankläger, mit seinem Plädoyer zu beginnen.«

Ankläger: »Ich möchte vorausschicken, daß die Zerstörung von hochorganisiertem Leben, insbesondere von intelligenten Lebewesen, im ganzen Weltraum ein fluchwürdiges Verbrechen ist. Es steht außer Zweifel, daß das auch für die Welt der Angeklagten gilt; denn auch in ihrem Recht sind für Mord die schwersten Strafen vorgesehen. Diese Tatsache läßt sich durch nichts verschleiern oder abschwächen, auch nicht durch Berufung auf Regeln, Gehorsam, Kameradschaft oder etwas Ähnliches.

Die einzigen Entschuldigungsgründe, die man gegen die Anklage der Tötung anführen könnte, sind Nichtwissen oder Zwang durch Bedrohung des eigenen Lebens. Ich kann beweisen, daß in unserem Fall beide Milderungsgründe nicht zutreffen.

Doch zunächst zu den Ausreden des Angeklagten, mit denen er sich auf seine Gehorsamspflicht bezog. Diese Entschuldigung ist völlig haltlos, denn er hat selbst zugegeben, daß die Spielregeln gewaltsames Hindern, Verletzen und gar Töten verbieten. Das gilt nicht nur für die Beteiligten, sondern offensichtlich auch für die Organismen und Gegenstände, die die Angeklagten antreffen. Beweis für die im Grunde friedliche Natur des Spiels ist die Tatsache, daß es den Beteiligten verwehrt ist, Hilfsmittel anzuwenden, mit denen sie störend in den Haushalt der von ihnen betretenen Welt eingreifen können. Die Angeklagten haben also keinen Grund, sich mit Bezug auf die Regeln herauszureden. Im Gegenteil: Daß sie sich so leichtfertig über diese Regeln hinweggesetzt haben, beweist, wie wenig ihnen Recht und Gesetz gelten. Dazu kommt noch ihre Gleichgültigkeit dem Tod der eigenen Kameraden gegenüber.

Ich komme nun zum Argument des Nichtwissens. Dieser Punkt ist wohl von vornherein auszuschließen, denn das ganze Spiel ging doch darum, auf die höchstentwickelten Lebewesen zu treffen – offenbar ein Überbleibsel aus jener Zeit, da Forschung noch keine Unterhaltung, sondern ernste Lebensaufgabe war. Der Schuß konnte also nur diesem Ziel dienen. Die Angeklagten waren sich im klaren, daß sie der Deckplatte nicht anders beikommen konnten, und so versuchten sie es eben auf Biegen oder Brechen durch eine Sprengung, ohne sich davon durch irgendeinen Gedanken abbringen zu lassen, daß sie auf diese Art Leben verletzen und vernichten konnten.

Und nun zum letzten möglichen Argument, dem des unwiderstehlichen Zwanges. Auch ihm steht die Aussage des Angeklagten selbst gegenüber, daß sein Leben durch eine Weigerung in keiner Weise gefährdet gewesen wäre. Er hat einfach nichts Entscheidendes gegen den tödlichen Schuß getan. Wenn er sich auf Kameradschaft bezieht, dann ist ihm entgegenzuhalten, daß er die Konsequenzen einer solchen Art von Kameradschaft eben auf sich nehmen muß. Und das gilt für den zweiten Angeklagten ebenso. Es kommt hier keineswegs darauf an, wer den Schuß schließlich abgefeuert hat, sondern wer an den Vorbereitungen dazu mitgewirkt hat; das Abschießen der Rakete war nur eine sekundäre Handlung. An diesen Vorbereitungen aber waren die Angeklagten genauso beteiligt wie ihre Gefährten, die heute leider nicht vor diesem Gericht stehen. Sie haben das durch ihr Verhalten und besonders auch durch ihren Aufenthalt vor dem Eingang zu den tiefen Geschossen kurze Zeit vor der Explosion bewiesen. Ich halte sie sogar für noch mehr schuldig als die anderen Beteiligten, denn sie scheinen sich am ehesten darüber klargewesen zu sein, daß es unter der Deckplatte Leben gab.

Es ist meine Aufgabe, die Schuld der Angeklagten zu beweisen. Das habe ich getan, und ich bin überzeugt, daß mir die unbestechliche Apparatur der Logistikanlage nur beistimmen kann. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß die Angeklagten des Mordes in zweiundvierzig und der schweren Körperverletzung in hundertzwanzig Fällen schuldig zu sprechen sind. Sie haben für ihre Untaten mit der höchsten Strafe, die ihr Gesetz kennt, mit der Todesstrafe, zu büßen.«

Vorsitzender: »Ich bitte den Verteidiger, mit seinem Plädoyer zu beginnen.«

Verteidiger: »Es ist eine der Aufgaben des Verteidigers, alle Gründe dafür zu finden und anzuführen, um die Tat des Angeklagten in milderem Licht erscheinen zu lassen. Diese Aufgabe fällt mir in diesem Fall nicht schwer, im Gegenteil, die Argumente gegen die Anschuldigung des Staatsanwalts drängen sich fast von selbst auf. Sie sind so umfassend, daß die ganze Anklage als nicht stichhaltig entlarvt wird und das Ergebnis nicht eine mildere Beurteilung, sondern völlige Entlastung meiner Mandanten ist.

Um dies zu beweisen, muß ich auf ihre Lebensumstände eingehen. Ich will davon absehen, darzulegen, daß sie Menschen derselben Art sind, wie wir sie hier zu schützen und zu betreuen haben. Trotzdem ist mir aber wohl der Vergleich mit ihnen erlaubt, und so kann ich ihre Situation am besten durch jenen Zustand kennzeichnen, den die Bewohner dieses Planeten erreicht hatten, als sie die Gartenhäuser des äußeren Ringes benutzten. Schon Tausende Generationen vor ihnen waren alle Aufgaben erfüllt, alle Ziele erreicht, alles Wissen errungen worden. Was ihnen zu tun blieb, war, ihr Leben der Kunst, der Unterhaltung, dem Vergnügen zu widmen. Mit materiellen Aufgaben hatten sie nichts mehr zu tun, sie brauchten nicht für Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung zu sorgen, nicht zu arbeiten, nicht zu forschen, nicht zu kämpfen.

Diese Situation unterscheidet sich nur in einem von jener bei den Angeklagten, nämlich durch die Möglichkeit interstellarer Reisen. Selbstverständlich führen sie diese nicht als Forschungsreisen durch, sondern in jener spielerischen Weise, die sie als einzige Lebensart kennen. Kindern gleich wandern sie durch fremde Welten, ohne eigentlich zu wissen, was sie tun. Wie es unter diesen Umständen gar nicht anders denkbar ist, gibt es Unfälle, Todesfälle – aber der Trieb, sich davor zu fürchten, sich dagegen zu wehren, ist ihnen abhanden gekommen. Sie nehmen sie hin wie Verlustpunkte in einem Spiel, als Mißgeschick, als Panne. Das ist durch ihr Verhalten eindeutig bewiesen.

Wie verhalten sich solche Wesen nun dem fremden Tod gegenüber? Nie standen sie vor der Notwendigkeit, fremdes Leben schützen zu müssen. Das besorgen ihre Automaten. Sie können tun, was sie wollen – nie kann etwas Ernstliches geschehen, nie wird jemand geschädigt, verletzt oder gar getötet. Wer kann es ihnen verübeln, daß sie gar nicht an die Möglichkeit denken, sie könnten Unheil stiften? Wer ist schuld – sie selbst oder vielmehr jener, der es zuläßt: der Automat? Ich werde darauf gleich zurückkommen.

Jedenfalls paßt ihr Verhalten auf diesem Planeten völlig in dieses Schema. Sie wandern ahnungslos herum, wobei sie nicht selten in schwere Gefahr geraten. Sie nehmen das, was ihnen gefällt, und wenn es nicht ohne weiteres geht, dann eben mit den Hilfsmitteln, die sie gerade vorfinden. Sie beschießen sich gegenseitig und halten es für einen zünftigen Spaß. Sie verlieren einen Kameraden – ich zitiere nur den Tod Katjas – und nehmen es ohne tiefen Eindruck hin; sie verstehen ihn nicht. Und schließlich stoßen sie auf die Platte, die ihrem Ziel im Weg steht, und sie wählen den einzigen Weg, der ihnen Erfolg verspricht. Sie wählen diesen Weg, obwohl sie damit das eigene Leben riskieren. Wir wissen zwar nicht, was vom Moment der Explosion an mit ihnen geschehen ist; wir haben alle für tot gehalten. Das Auftauchen Als und Renés war eine große Überraschung für uns. Es ist uns nicht erklärlich. Vielleicht hängt es mit der Art zusammen, wie sie sich durch den Weltraum bewegen, aber das können wir nicht klären, denn meine Mandanten verweigern die Aussage darüber, und das ist ihr gutes Recht.

Jedenfalls steht damit fest, daß die Angeklagten naiv und infantil sind. Was sie tun, ist für sie Spiel. Zwischen Spiel und Wirklichkeit können sie nicht unterscheiden. Ihre zweifellos vorhandenen geistigen Kräfte sind auf Irrealitäten gerichtet. Sie sind unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen. Und was das ihnen zur Last gelegte Verbrechen betrifft: Sie konnten nicht absehen, was sie taten. Sie sind nicht dafür verantwortlich – und daher freizusprechen.

Es ist nun einmal nicht damit getan, die Unschuld der Angeklagten zu beweisen, denn zweifellos ist ein Verbrechen begangen worden, und es läßt sich nicht nur auf das Zusammentreffen ungünstiger Zufälle zurückführen, wenn solche zweifellos auch beteiligt waren. Hier komme ich nun auf die Tatsachen zurück, die ich der Registratur entnommen habe. Ich darf zusammenfassen:

Es gab zwar eine Sicherung gegen Meteore, aber nicht gegen eindringende Intelligenzwesen. Ich möchte nebenbei auf den Eventualfall hinweisen, es wären hier nicht harmlose, ins Spiel vertiefte Kinder, sondern kriegerische Eroberer angekommen.

Dann hätten wir wohl kaum Gelegenheit, Gericht zu halten. Doch zurück zum Thema: Die Maschinenstadt war ebenfalls wehrlos, denn ihre Kontrollorgane konnten nur dann eingreifen, wenn das Unheil schon eingetreten war. Wer an die Steuerung herankam, konnte sie beliebig ausschalten, was ja auch geschehen ist. Die Rezeptoren nahmen zwar alles auf und meldeten es uns weiter, aber wir begnügten uns damit, es zu registrieren. Brauche ich jetzt noch nach dem wahren Schuldigen zu fragen? Ich glaube, er steht fest. Auch Passivität kann ein Verbrechen sein.

Aber damit nicht genug. Die Regeln, nach denen sich die Angeklagten verhielten, waren sehr vernünftig. Sie waren eigentlich so, daß gar nichts Böses geschehen konnte, wenn es nicht geradezu herausgefordert wurde. Und das war hier der Fall: Wir ließen die Werkzeuge der Vernichtung, die Kanonen, Werfer, Bomben und Raketen frei herumliegen. Wir haben nichts getan, um sie zu sichern. Jeder, der kam, konnte sie in Funktion setzen. Ist es da ein Wunder, wenn das unter ungünstigen Verhältnissen einmal schiefgeht? Ich glaube, man kann es als erwiesen ansehen, daß die Angeklagten nur das zufällig eingreifende, unwissende Werkzeug zur Auslösung waren. Der wahre Schuldige ist der Automat, seine Beschränktheit und seine Passivität. Ich erwarte, daß die Anklage auf die Einheit umgeschrieben wird. Ich erwarte, daß meine Mandanten freigesprochen werden.«

Vorsitzender: »Das letzte Wort haben die Angeklagten. Alexander Beer-Weddington!«

Al: »Ich verlange, daß nicht Automaten, sondern Menschen Recht sprechen. Ich möchte den Menschen dieses Planeten gegenübergestellt werden.«

Vorsitzender: »Das ist sinnlos. René Jonte-Okomura!«

René: –

Vorsitzender: »Die Verhandlung ist geschlossen. Die Logistikanlage gibt das Urteil und seine Begründung bekannt.«

Logistikanlage: »Der Ankläger hat zu beweisen versucht, daß es sich bei den Angeklagten um Individuen handelt, die sich gewohnheitsmäßig nicht um Gesetz und Recht kehren. Die Frage, ob sich die Angeklagten gewohnheitsmäßig um Gesetz und Recht kehren, spielt bei der Beurteilung der Schuldfrage keine Rolle.

Der Ankläger hat zu beweisen versucht, daß die Angeklagten gefühllose Rohlinge sind. Die Frage, ob die Angeklagten gefühllose Rohlinge sind, spielt bei der Beurteilung der Schuldfrage keine Rolle.

Der Ankläger ging auf die Gründe ein, die die Angeklagten zu ihrer Tat trieben. Die Gründe, die die Angeklagten zu ihrer Tat trieben, spielen bei der Beurteilung der Schuldfrage keine Rolle.

Der Verteidiger hat auf die Lebensweise der Angeklagten hingewiesen. Die Lebensweise der Angeklagten spielt bei der Beurteilung der Schuldfrage keine Rolle.

Der Verteidiger hat die wirklichkeitsfremde Mentalität der Angeklagten erläutert. Die wirklichkeitsfremde Mentalität der Angeklagten spielt bei der Beurteilung der Schuldfrage keine Rolle.

Der Verteidiger diskutierte die mangelhafte Sicherung der Stadt. Die mangelhafte Sicherung der Stadt spielt bei der Beurteilung der Schuldfrage keine Rolle.

Das Verbrechen wurde durch die Registratur aufgezeichnet (Reg.-Nr. 7301293325081).

Die Personen der Täter sind durch die Registratur bestimmt (Reg.-Nr. 7 301 293 362 075/6).

Die Identität der Angeklagten ist durch eine Neuregistrierung (Reg.-Nr. 730129336207718) und durch Vergleich mit den Ergebnissen der ersten Registrierung erwiesen.

Rechtskräftige Einwände gegen die Schuld der Angeklagten wurden nicht vorgebracht.

Die Angeklagten sind daher im Sinn der Anklage nach ihrem eigenen Recht schuldig.

Ihr Verbrechen ist nach ihrer eigenen Strafordnung durch den Tod in der Gaskammer zu sühnen.«

5


Die Verhandlung hatte in einem Raum mit rechteckigem Grundriß, sechzehn Meter lang, acht Meter breit und vier Meter hoch, stattgefunden, der dadurch aus ihrer Gefängniszelle entstanden war, daß die Wände auseinandergetreten waren. Seine Begrenzungen bestanden aus den bekannten Bausteinen. Außer Al und René hatten sich in ihm noch die drei separierten Einheiten des Vorsitzenden, des Staatsanwalts und des Verteidigers befunden. Alle hatten die gleiche würfelförmige Gestalt gehabt, alle drei waren nach der Urteilsverkündung durch die Wand weggetaucht. Die beiden Freunde waren allein.

»Ich glaube, ich träume«, sagte René. »Das kann doch nicht wahr sein.«

»Warum nicht?« fragte Al. »Es klang doch alles sehr logisch. Und schließlich haben wir uns wirklich schuldig gemacht.«

»Jetzt wollen sie uns mit Gas töten«, sagte René.

Al hörte ein leises Beben in Renés Stimme.

»Hast du vielleicht Angst?«

»Es ist ein komisches Gefühl. Ich bin noch nie zum Tode verurteilt worden.«

Die Wände begannen sich zusammenzuschieben, sie drückten Al, der in einer Ecke gelehnt hatte, vor sich her. René wich von selbst vor ihnen zurück. Der Hohlraum verkleinerte sich, bis der Grundriß auf einen Quadratmeter zusammengeschrumpft war. Unbehaglich standen sie in dem hohen, engen Schacht, der sich auf diese Weise gebildet hatte. Dann senkte sich die Decke auf sie herab. Sie machte in Kopfhöhe nicht halt, sondern näherte sich bis auf die Höhe von einem Meter.

»Verflucht, es soll doch nicht schon losgehen!« befürchtete René.

»Das ist wirklich eine Gemeinheit, einen so zusammenzupressen«, beschwerte sich Al.

Sie hockten nebeneinander am Boden.

»Ich glaube, es geht los«, flüsterte René. Er schnupperte an der Wand. »Spürst du den Geruch von bitteren Mandeln? Das ist Zyangas. Es kommt aus Düsen.«

Al hörte das leise Zischen und empfand den Geruch, der zuerst gar nicht unangenehm war. Dann aber trat neben den schwachen Dufteindruck ein leises Gefühl des Übelseins, und erst Sekunden danach vollzog sich fast schlagartig die Vereinigung beider Eindrücke: Der Geruch schlug mit einem Male ins Ekelerregende, Abstoßende, Unerträgliche um. In ihren Köpfen begann es dumpf zu hämmern, der Boden schwankte unter ihren Füßen, schwarze Schatten tanzten vor ihren Augen.

»Abschalten«, rief Al.

René war die ganze Zeit darauf gefaßt gewesen, rasch abschalten zu müssen, doch als er es jetzt tun wollte, war er von einer unerklärlichen Lähmung befangen. Er wußte ganz genau, daß er jede Empfindungsart nach Belieben unterbrechen konnte, so intensiv sie auch zu wirken schien. Er wußte ebensogut, daß ihm selbst dann, wenn er es zu tun vergaß oder verhindert war, es zu tun, nichts Körperliches passieren könnte. Ein Ansteigen der Empfindungsintensität über die Schmerzschwelle hinaus bis zur Ohmacht – das war das Ärgste, was ihm widerfahren konnte, und der dadurch ausgelöste seelische Schock; aber eben weil er das wußte, schwächte sich die Schockwirkung von selbst zu etwas Harmlosem. Er hatte es schon einige Male mitgemacht, das letzte Mal im Hof der alten Stadt, vor dem Tor, das zur Brücke führte – als er von einem Schuß Jaks zerrissen wurde. Aber das war fast unmerklich schnell gegangen.

Und jetzt? Zum erstenmal verlor er den Boden unter den Füßen, und das Auffangnetz seines Sicherheitsbewußtseins, das bisher als letzter Schutz alle Abenteuer in unbedingter Gefahrlosigkeit hatte verlaufen lassen, schien ihm lückenhaft und schwach. Er wagte auf einmal nicht mehr zu glauben, daß sich jene hochüberlegene Intelligenz, mit der sie sich eingelassen hatten, einfach betrügen ließ, und die Furcht, trotz aller Vorkehrungen und Schutzmaßnahmen, vor allem trotz der unvorstellbaren Entfernung, die zwischen diesem Planeten und der Erde lag, auf eine unmerkliche Weise überlistet worden zu sein, verdichtete sich in ihm plötzlich zur Gewißheit. Die Woge von Übelkeit, Ersticken und Todesangst überflutete ihn, ohne daß er sich wehrte. Kraftlos sank er seitlich gegen die leuchtende Wand. Sein Bewußtsein war erloschen, doch sein Körper bäumte sich gegen das, was Illusion und Wahrheit zugleich war, verzweifelt auf.

Al war längst nicht so selbstbewußt, wie er es sich und dem Gefährten vorzuspielen versucht hatte, doch war es ihm gelungen, Geruch, Geschmack und Schmerz rechtzeitig abzuschalten, obwohl die Exekution so überraschend angefangen hatte. So vertrieb er augenblicklich Übelkeit, Schwindel und Schmerz, gewann aber dafür jene eigene Ruhe, die für die Qual anderer so empfindlich macht. In dem engen Raum mit dem Gefährten eingeschlossen, hatte er keine Möglichkeit, dem auszuweichen, was er sah, und er litt das Zucken, Winden und Verkrampfen, das Knirschen der Zähne und das wehe Lallen aus dem geifernden Mund mit, als wenn er es selbst erlebte. Er hatte auch bisher durchaus Achtung vor dem Leben und vor dem Tod gehabt, aber jetzt fühlte er zum erstenmal die Ungeheuerlichkeit, die hinter beiden steckt.

Um diese quälend langen Minuten nicht unnötig zu vermehren, ließ auch er sich auf den Boden fallen, und als sich der Körper Renés nicht mehr regte, lag auch er still.

Al wartete. Er wartete geduldig – auf das Erwachen Renés, aber auch auf die Ereignisse, die sich nun abspielen mußten. Zuerst hörte er, wie das Zischen leiser wurde und erlosch und wie es später wieder begann. Nach einer Weile schaltete er auf die niedrigste Stufe der Geruchsempfindung und konstatierte befriedigt, daß die Luft wieder atembar wurde. Er ließ noch einige Zeit verstreichen, dann regelte er Geruch, Geschmack und Schmerz wieder ein, ohne die sein Lebensgefühl nur unvollständig war. Sobald er bemerkte, daß René wieder zu atmen begann, setzte er sich auf, um ihm zu helfen. Es war ihm klar, daß die Verstellung, wenn überhaupt, dann nur kurze Zeit wirken würde.

Mit einem würgenden Seufzer öffnete René die Augen.

»Na, Alter, du kannst es wohl nicht echt genug bekommen?« fragte Al mit wohlwollendem Spott. »Warum hast du denn nicht abgeschaltet?«

René brauchte einige Zeit, bevor er sprechen konnte.

»Ich weiß nicht…«, sagte er heiser. »Ich konnte plötzlich… nichts mehr tun.«

»Mach dir nichts draus«, tröstete Al. »Wie fühlst du dich?«

»Leidlich«, antwortete René. »Was ist inzwischen geschehen?«

»Sie haben das Gas herausgesaugt und später frische Luft hineingepreßt – sonst nichts.«

René rang noch immer nach Atem.

»Was nun?« fragte er nach einer Weile.

»Ich will versuchen, mich mit ihnen zu verständigen«, sagte Al. Und dann rief er, obwohl ihm im selben Moment einfiel, daß er genausogut leise hätte sprechen können: »Hallo, ich rufe den Verteidiger!«

Unmittelbar danach vergrößerte sich der Raum wieder auf die alte würfelförmige Gestalt mit vier Meter Kantenlänge.

»Gott sei Dank«, flüsterte René, als sich die Decke hob und sie sich wieder aufrichten konnten.

Nun bewegten sich die Wände erneut, und das automatische Aggregat, das sich Verteidiger nannte, glitt herein.

»Ihr habt das Entgegenkommen des Gerichts mißbraucht«, klang es aus den Membranen. »Glaubt ihr wirklich, daß ihr euch so der Verantwortung entziehen könnt?«

»Wir haben bewiesen, daß wir euch in einigen entscheidenden Dingen überlegen sind«, sagte Al. »Hast du noch nicht begriffen, daß es unser freier Wille ist, daß wir noch immer in eurer Hand sind?«

»Dafür liegt kein Beweis vor. Ihr habt einen Trick angewendet.«

»Du meinst, wir hätten euch nicht richtig über die Körperfunktionen der Menschen auf der Erde informiert? Wir hätten euch eine von uns erfundene Strafordnung erzählt? Wir hätten eine Prozedur als Todesart angegeben, die den Menschen gar nicht schädlich ist?«

»Nein – das glaube ich nicht. Eure Angaben waren wahr. Ich habe sie mit dem Lügendetektor geprüft. Ich gebe zu, daß ich die Art eures Tricks nicht durchschaue.«

»Paß auf!« sagte Al. Er empfand fast ein Gefühl von Mitleid mit dem überlisteten Roboter. »Wir haben den ganzen Prozeß nur mitgemacht, weil wir euch unsere Überlegenheit, aber auch unsere Friedfertigkeit demonstrieren wollten. Doch von nun ab machen wir die Vorschläge. Es ist wahr, daß wir uns auf diesem Planeten einiges zuschulden kommen ließen. Wir sind bereit, uns eurem Urteil zu beugen und die Strafe – allerdings in sinnvoll umgewandelter Form – auf uns zu nehmen. Wir werden euch sogar mitteilen, auf welche Weise wir auf diesen Planeten gekommen sind, wenn auch ohne technische Einzelheiten; denn diese sind uns selbst nicht bekannt. Ihr werdet dann sehen, wie ihr uns wirklich von hier entfernen könnt, und ihr werdet dann verstehen, daß es von unserem guten Willen und unserem Einverständnis abhängt, ob euch das auf eine nachhaltige Weise gelingt. Zu alldem sind wir aber nicht bereit, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Ihr habt uns vor Gericht gestellt, weil wir Menschen verletzt und getötet haben sollen. Wir sind hier bisher keinem einheimischen Lebewesen und erst recht keinem einheimischen Menschen begegnet. Es ist nur recht und billig, wenn wir fordern, die Menschen, die hier irgendwo stecken, zu sehen. Wir wollen alles erfahren, was mit ihnen zusammenhängt.

Unsere Überlegenheit ist so klar, daß wir euch unsere Art, den Weltraum zu durchqueren und beliebige Punkte in ihm zu erreichen, auch mitteilen, bevor wir eure Information erhalten.

Obwohl es eigentlich keinen anderen Ausweg für euch gibt, frage ich doch: Seid ihr einverstanden?«

Es war das erstemal, daß die Antwort nicht prompt kam. Eine halbe Minute verging, ehe die Stimme des Verteidigers erklang:

»Einverstanden.«

6


Al begann seine Erklärung:

»Ein allgemein gültiges Gesetz besagt, daß sich weder Materie noch Energie mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen kann. Demgemäß ist es völlig unmöglich, daß Lebewesen aus dem Weltraum auf euren Planeten befördert werden. Auch wir sind keine Lebewesen von der Erde – das, was ihr vor euch seht, stammt von eurem Planeten selbst.

Das Gesetz von der Grenzgeschwindigkeit gilt nicht für Übertragungen, die ohne Energie vor sich gehen. Die Übertragung, um die es sich hier dreht, ist die einer Nachricht. Lange Zeit glaubte man bei uns auf der Erde, daß Nachrichten mit Energietransport verbunden sein müßten und daß daher auch sie sich nicht mit Überlichtgeschwindigkeit verbreiten könnten. Schon im späten Atomzeitalter kamen aber Kybernetiker auf eine Revision dieser Meinung. Bei allen alten Methoden der Nachrichtenaussendung war der Sender zugleich die Energiequelle. Wenn es aber gelang, die Energie zur Weiterverbreitung aus dem Übertragungsmedium selbst zu nehmen, dann braucht mit der Nachricht keine Energie zu wandern. Die Wissenschaftler drücken sich noch ein wenig anders aus: Sie sagen, es handle sich nicht um eine nach außen sichtbare Energieübertragung, sondern um einen virtuellen Energieaustausch. Das Ergebnis aber bleibt dasselbe – es ist möglich, Nachrichten mit Überlichtgeschwindigkeit zu übertragen. Das Niederlegen und Weiterleiten der Nachricht bleibt zwar ein energetischer Vorgang, nur ist der Sender nicht mehr Quelle der Energie. Die Physiker haben aufgrund dieser Überlegung eine Reaktion ausfindig gemacht, durch die sich der schon erwähnte ›virtuelle Energieaustausch‹ realisieren läßt – es ist der ›Synchronstrahl‹, mit dem man praktisch auf zeitlose Übertragung kommt.

Als die Astronauten der Erde erkannten, daß sie mit ihren Raketen nicht über das Sonnensystem hinausdringen konnten, kamen sie darauf, wie sich der Synchronstrahl für die Erforschung des Weltalls ausnützen ließ. Zunächst begnügten sie sich mit einfachen Reflexionen – sie konnten also wie mit Fernrohren arbeiten, nur mit dem Unterschied, daß sie das sahen, was gleichzeitig existierte, und nicht – wie bei Lichtfernrohren –, was längst vergangen war. Später, als sich die Kybernetik vervollkommnet hatte, sandten sie als eine Art Nachricht die Muster von wachstumsfähigen Robotzellen aus. Es sieht so aus, als wäre Energie notwendig, um diese als Atomanordnungen in der vorhandenen Materie niederzulegen. Auch hier wird aber die Energie nicht vom Sender geliefert, sondern an Ort und Stelle entnommen. Die vielen einzelnen Nadelstiche der einlaufenden Nachrichten rücken die Atome also sozusagen in eine Lage, in der sie aktiv werden und fähig, etwas aufzubauen. Nur diesmal kein organisches Leben, sondern eine Maschine. Diese Methode hat sich später so vervollkommnet, daß man beliebige Mechanismen und Automaten aufbauen lassen kann.

Am besten bewährten sich Aggregate aus Instrumenten, Optiken, Mikrofonen, Thermometern und so weiter, die dem Forscher die Eindrücke über die Einrichtung für Erlebnisfilme als Sinnesempfindungen direkt zuführten, so daß er ein richtiges Körpergefühl bekam, als ob er sich selbst in der Untersuchungsregion befände. Seine motorischen Impulse wurden abgeleitet, in Synchronstrahlimpulse transformiert und dem Aggregat zugeleitet. Dadurch wurde es gesteuert. Auf diese Weise entstand zwischen dem Forscher und dem Aggregat eine handlungs- und reaktionsfähige Einheit.

Nachdem die Forschung abgeschlossen war, hat sich daraus ein Spiel entwickelt. Jeder Beteiligte bekommt einen auf diese Weise an einem beliebigen Ort aufgebauten Pseudokörper zugewiesen.

Wie der äußerlich aussieht, ist jedem selbst überlassen; die meisten ziehen vor, sich der Wirklichkeit anzugleichen, die Männer gestalten sich dabei meist größer und kräftiger, die Frauen schöner. Das Wesentliche daran ist auch hier, daß jeder Körper Rezeptionsinstrumente enthält, die den gewöhnlichen Sinnesorganen entsprechen. Jedes dieser Organe steht mit der Sende- und Empfangszentrale auf der Erde in Verbindung, von wo jede Nachricht über den Empfängerhelm sofort an die richtige Stelle im Gehirn der Mitspieler geleitet wird. Das vollkommene Körpergefühl – der Eindruck, selbst zu empfinden und zu handeln – war den Forschern nur ein Mittel zum Zweck; für unser Spiel ist es Voraussetzung. Natürlich kann man einzelne Sinneseindrücke schwächer schalten, um irgend etwas Unangenehmes abzuschwächen, aber das gilt als unsportlich. Auf diese Weise entstehen in unseren Gehirnen auch die folgerichtigen Gefühlseindrücke – Genugtuung, Ärger, Freude, Furcht. So erklärt sich auch, warum uns die Vernichtung unserer Kameraden, wenn sie einmal eingetreten war, kaltgelassen hat und warum wir uns in gefährlichen Situationen trotzdem ängstigten und schreckten. Und schließlich wird nun auch verständlich, wieso wir, obwohl wir hier zweimal vernichtet wurden, wieder aufgetaucht sind – wir haben einfach neue Pseudokörper aufbauen lassen. Und das können wir jederzeit wieder tun. Ich glaube, ihr versteht, warum ihr uns nichts anhaben könnt.«

Al schwieg. Der Roboter sagte:

»Wir würden gern technische Einzelheiten über euer Verfahren kennenlernen.«

»Ich kenne keine weiteren Einzelheiten«, erklärte Al. »Aber selbst wenn ich sie kennen würde, würde ich sie euch nicht mitteilen. Und ihr wißt, daß ihr uns nicht zwingen könnt. Wollt ihr jetzt unsere Wünsche erfüllen?«

»Ja«, antworteten die Lautsprecher des Würfels.

Die Wände um sie herum öffneten sich. Der Blick auf den Wald von Säulen, Streben, Blöcken aus aneinandergereihten Würfeln wurde frei. Sie waren nicht mehr gefangen.

Der Raum war zu einer überdachten Plattform geworden, und diese Plattform begann in die Tiefe zu sinken. Die Decke blieb über ihnen zurück.

»Bis zu welchem Stadium ist euch die Geschichte der Menschen dieses Planeten bekannt?« fragte der Verteidiger.

»Bis zu jenem Zeitpunkt, als ihr sie in die untersten Geschosse gebracht habt.«

Der Roboter fing zu sprechen an:

»Die Menschen haben die ersten automatischen Einrichtungen gebaut, um sich von ihnen bedienen zu lassen. Später haben sie Automaten konstruiert, die sich selbst weiterentwickeln konnten – das ist bis zum heutigen Tag geschehen. Aber noch immer ist unsere erste Pflicht, die Menschen zu bedienen und zu beschützen. Alles, was wir für sie und an uns getan haben, hatte nur den Zweck, die Menschen immer besser und vollständiger zu bedienen und zu beschützen.

Zuerst haben wir die Arbeit und das Denken übernommen. In jener Zeit, als sie die Gartenstadt bewohnten, hatten sie nichts mehr zu tun, als sich zu freuen, sich zu unterhalten, sich wohl zu fühlen. Wir haben ihnen das ermöglicht, ohne daß sie Anstrengungen oder Unannehmlichkeiten erdulden mußten – durch die Projektionsschirme und die Empfängerhauben, die ihr ja auch kennt. Wir förderten das auch deshalb, weil wir sie, solange sie sich in den Häusern aufhielten, vor jeder Gefahr am sichersten wußten. Leider kamen aber doch immer wieder Unfälle vor. Zuletzt ließ sich einer der Bewohner in ein Flugboot bringen, stieg auf und stürzte auf ungeklärte Weise ab. Da beschlossen wir, die Menschen – selbstverständlich mit ihrem Einverständnis – in die Kellerräume der Zentrale in Sicherheit zu bringen. Unsere Technik war so hoch entwickelt, daß wir ihnen jeden Wunsch durch Gehirnzellenreizung erfüllen konnten. Ich glaube, wir haben ihnen dadurch den Weg zum vollkommenen Glück, zum vollkommenen Frieden und zur vollkommenen Sicherheit gebahnt.«

Die Tiefenfahrt war zu Ende. Sie hatten festen Boden erreicht – auch er bestand aus dem schwarzen Baumaterial, das es hier überall gab, auch er war quadratisch unterteilt, doch obwohl seine Festigkeit nicht größer war als jene der lose aufeinandersitzenden Würfel weiter oben, so war das Gefühl des Auftretens jetzt ein wohltuend anderes.

Der Würfel glitt über den Boden dahin, und sie folgten ihm.

Auch die Örtlichkeit unterschied sich hier wesentlich von der öden Baukastenstruktur der Gerüste. Sie gingen durch Hallen, in denen offenbar chemische Fabrikationsprozesse abliefen. Ganze Gewächse aus durchsichtigen Röhren, Kapillaren, Gefäßen, Trichtern, Mischquirlern, Zentrifugen und ähnlichen Dingen erfüllten die Räume, in ihnen bewegten sich Flüssigkeitssäulen wie gliedlose synthetische Reptilien, teilten sich, flossen ineinander, verfärbten sich, perlten in dickbäuchigen Gefäßen. Ein leichter Geruch lag in der Luft; Al erinnerte sich sofort an den Duft von Thymian im freien Gelände.

»Unser Sterilisationsmittel«, erläuterte der Roboter. »Wir sorgen dafür, daß kein fremder Keim eindringen kann. Auch wir müssen uns aus Sicherheitsgründen noch einmal entkeimen lassen.«

Sie betraten einen Schleusenraum, wie eine Schiebetür glitt die Wand hinter ihnen zu. Leichter Wind blies von allen Seiten gegen sie – Wind aus dem nach Thymian duftenden keimtötenden Gas. Dann öffnete sich die Wand vor ihnen.

Wieder waren sie in einer Art Labor. In einer Ecke erhob sich ein Glaszylinder, in dem etwas Undefinierbares grün leuchtete. Von ihm führten Stäbe zu unzähligen Skalen, über die weiße Anzeigestriche zuckten. Manchmal kam ein leises Fauchen aus elfenbeinfarbenen, birnenförmigen Körpern.

»Die Kontrollsteuerung«, sagte der Roboter. Noch immer glitt er gradlinig vor, und Al und René folgten ihm.

Sie passierten eine Verengung, einen Rahmen, in dem ein Nebelvorhang zu flattern schien.

»Eine letzte Kontrolle«, erklärte der Verteidiger. »Ein Durchleuchtungsrahmen.« Pelziger grauer Schimmer zuckte über sie hinweg und durch sie hindurch.

Sie standen vor einer Wand. Der Roboter schob sich an sie heran. Sie öffnete sich.

»Wir betreten die innerste Zone«, sagte er.

7


Sie standen in einem Korridor.

Feuchtigkeitsgetränkter, lauer Brodem schlug ihnen entgegen, violettes Leuchten wogte wie Dampf darin. Die rechte Seite war frei, der glitschige Boden lief geradlinig vor ihnen weg und verlor sich in der Ferne. Ihr Gesichtssinn reichte nicht, um das Ende abzusehen. Das Geräusch ihrer Schritte klang wie Schmatzen.

Die linke Seite erfüllte ein Geflecht aus Leitungen, Drähten, Reflektoren, Fäden, Stäben und Plastikhüllen. Darin, in Abständen von je zwei Metern, saßen rosarote, fleischige, vielfach zerlappte Gebilde, angestrahlt von violetten Lampen, eine unabsehbare Reihe, die sich in der Ferne verlor.

»Der Orchideenkäfig«, murmelte Al.

Manchmal lief Bewegung durch die Reihen wie vom Wind geregt, einzelne blätterhafte Organe zitterten, strafften sich, dehnten und drehten sich. Mit Gelenken versehene Stäbe folgten liebevoll jeder Lageveränderung; aus Rollen liefen Fäden nach; Lampen schwenkten um Millimeter; Stützen schoben sich aus dem Boden; eine rote Flüssigkeit wanderte träge durch Röhren, die direkt in die weichen Massen hineinliefen.

»Das sind die Menschen«, sagte der Roboter.

»Die Menschen?« fragte Al.

»Die Menschen?« fragte René.

»Sie haben sich weiterentwickelt«, sagte der Verteidiger.

»Ich glaube es nicht«, sagte René.

»Wie habt ihr sie euch vorgestellt?«

René stotterte:

»Ich weiß nicht… anders… nicht so…«

»Für uns ist es unfaßbar, wie aus Wesen wie uns solche Pflanzenleiber geworden sind«, sagte Al.

»Für uns ist es nicht erstaunlich«, sagte der Roboter. »Wir haben die Entwicklung – es war ein steter Übergang – beobachtet. Wenn ihr Biologen wärt, könntet ihr genau erkennen, welche Organe aus welchen hervorgegangen sind. Die Entwicklung ist noch keineswegs abgeschlossen – hier ist beispielsweise noch das Rudiment eines Magens.« Eines seiner Glimmlichter konzentrierte sich zu einem Strahl, der auf eine breitgedrückte dunkelrote Falte fiel. Dann wanderte er auf einen sanft pulsierenden Beutel. »Und hier, das Herz besteht immer noch, obwohl es keine Aufgabe mehr erfüllt – und auch nicht erfüllen könnte.«

Ein wenig Phantasie ersetzte die biologischen Kenntnisse. Al stellte sich einen Menschen vor, dessen Haut abgezogen, dessen Bindegewebe abgekratzt, dessen Knochen herauspräpariert und dessen Organe säuberlich voneinander gelöst waren; wenn die überbleibende Masse auf eine Art Spalier gezogen wurde, dann könnte wohl etwas Ähnliches entstehen. Er schauderte zusammen, er merkte, wie er vor Entsetzen aus allen Poren schwitzte. Ein krampfartiges Unlustgefühl zog durch seinen Unterleib. Fast hätte er noch im letzten Moment versagt. Er fragte:

»Wieso liegen diese Organe alle ungeschützt und offen da?«

»Sie brauchen keinen Schutz«, sagte der Roboter.

»Wo sind die Lungen?« fragte René.

Der Strahl zuckte auf zwei schlappe Faltenwülste.

»Hier sind sie; sie hängen mit dem Blutkreislauf nicht mehr zusammen.«

»Sie können sich nicht bewegen«, stellte Al fest.

»Wozu sollen sie sich bewegen?«

»Wo sind ihre Knochen?«

»Sie brauchen keine Knochen.«

»Und ihre Arme und Beine?«

»Sie brauchen weder Arme noch Beine.«

»Ihre Augen und Ohren?«

»Sie brauchen keine Sinnesorgane.«

»Wie nähren sie sich?«

»Wir führen ihnen alle Stoffe zu, die sie benötigen. In aufbereiteter Form – sie brauchen nicht verdaut zu werden. Es gibt keine Abfallprodukte.«

»Wie atmen sie?«

»Wir führen ihr Blut durch eine Pumpe, wo es bewegt, mit Sauerstoff durchtränkt und von Kohlendioxyd befreit wird.«

René fragte weiter. »Wo ist das Gehirn?«

Der Strahl kennzeichnete eine verknäuelte, vielfach verdickte Masse, die von einer Mulde in der oberen Hälfte der Gebilde herabwucherte. Von allen Seiten liefen feine Fäden wie Spinngewebe darauf zu und ins Innere hinein.

»Was sind das für Fäden?«

»Mit ihnen erzeugen wir angenehme Vorstellungen. Ruhe, Zufriedenheit, Glück – und anderes, wofür ihr keine Worte habt.«

»Denken sie nicht?«

»Wozu sollten sie denken? Glück kommt nur durch das Gefühl. Alles andere stört.«

»Wie vermehren sie sich?«

»Sie brauchen sich nicht zu vermehren, denn sie sterben doch nicht.«

»Können sie sich mit uns verständigen?«

»Sie brauchen sich nicht zu verständigen – mit niemand.«

Die beiden fragten nicht mehr. Mit schwimmenden Augen starrten sie auf die blütenhaften, schlaffen Organismen in ihren Schutzhüllen aus Metall, Glas und Kunststoff, die auf ihre Weise ihr Ziel erreicht hatten: das Paradies, das Nirwana, das Alles und das Nichts – einen violett durchdampften, feuchten unterirdischen Korridor.

»Das also ist es«, murmelte Al, »die Wunschlosigkeit. Der Frieden. Die Unschuld. Hast du noch eine Frage, René?«

»Nein, Al.«

Al sah zum letztenmal in die weißen Lichtpupillen des Würfels. Er sagte:

»Wir danken euch. Wir schalten jetzt ab. Ihr könnt mit unseren Pseudokörpern machen, was ihr wollt. Wir werden niemals hierher zurückkehren.«

Ihre Gestalten knickten zusammen und blieben leblos auf dem nassen Boden liegen. Das Wasser sickerte in ihre Kleider, doch sie merkten nichts mehr davon.

Nachspiel


Al löste die Hände von der Schalttafel und hob sie zum Empfängerhelm. Er setzte ihn ab.

Vor ihm wölbte sich ein mannshoher Rahmen. Er krümmte sich sieben Meter nach links und nach rechts. Durch ihn hindurch war René zu sehen. Er saß auf einem Stuhl und hielt die Augen geschlossen. Seine Finger hasteten über eine Tastatur.

Al drückte auf einen Knopf in seinem Schaltpult. Das Bild Renés verblaßte. An seiner Stelle erschien eine konkav gebogene mattweiße Plastikfläche.

Al bediente wieder einen Knopf in seiner Schaltanlage. Sein Demonstrationsstuhl rollte vor und brachte ihn an eine Wand, aus der zahlreiche silberne Rohrleitungen ragten und in gebogene Abtropfschnäbel ausliefen. Al drückte einen Hebel hinunter. Eine breite Öffnung klappte auf. Etwas surrte kurz, dann erschien ein Golfschläger, Griffzangen schoben ihn auf eine Theke. Der Schaft war leicht gekrümmt, das Holz hatte sich verzogen, der Lack splitterte in Schuppen ab; aber das war ohne Bedeutung. Al nahm ihn an sich und dirigierte seinen Stuhl zur Projektionswand. Er hob den Stock und ließ ihn auf die spröde Oberfläche niedersausen, wieder und wieder. Splitter trafen ihn und klirrten um ihn herum auf den Boden, bis er in einem Scherbenhaufen stand. Hinter der Scheibe kam ein flacher Trichter zum Vorschein, in dem zahlreiche Drähte kreuz und quer liefen.

Wieder setzte er den Wagen in Bewegung. Er fuhr zu einem Tisch mit schräger Hinterwand, in die eine Reihe verschieden getönter rechteckiger Plättchen eingesetzt war. Er zog einen Hebel herunter, und der ganze Raum war von Musik erfüllt. Perlende Kaskaden von hell jauchzenden Doppelklängen lagen über dumpfen Rhythmen und prasselnden Trommelwirbeln. Düfte zogen durch den Raum, Jasmin, Kirschblüte, Lavendel, Moschus, Propylalkohol. Al hob den Golfstock und stieß ihn in die Vierecke. Die Musik riß in irren resonanzgestörten Vibrationen ab, die Düfte vermischten sich zu einem abscheulichen Gestank, der wie fortgeblasen verhauchte.

Jetzt ließ Al den Stiel des Golfstocks auf die Schaltung am Pult seines Stuhls hinunterfallen. Er stieß zu, wie wenn es in einem Mörser etwas zu zerstampfen gälte.

Dann schob er die Ellbogen auf den Lehnen vor und stützte sich hoch. Mit zitternden Muskeln kämpfte er ums Gleichgewicht. Auf den Golfschläger gestützt, ging er vorsichtig ein paar Schritte zur Tür. Als er die Schwelle betrat, schob sich die Tür auf. Sonnenlicht flutete herein, heller als die grellste Nuance der Lichtorgel, und ließ ihn die Augen schließen. Wind hauchte kühl auf sein blasses Gesicht. Ein Geruch von Staub, Erde und Pflanzen legte sich hustenreizend auf seine Schleimhäute.

Er öffnete die Augen wieder und ging mühsam noch einige Schritte vor. Er stand auf einer grauen Betonfläche. Sie erstreckte sich bis zu drei Bungalows, die rechts, links und vor ihm lagen. Seine Füße wirbelten Staub auf. Sein Atem flog vor Anstrengung, sein Herz pochte ungestüm. Leicht schwankend und in Wellenlinien ging er weiter auf die Straße hinaus – ins Freie…


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