11 Garona

Er kehrte in seine (nun ja, Medivhs) Bibliothek zurück, wo Garona bereits seine Notizen durchging. Eine plötzliche Wut stieg in ihm auf, aber die Schmerzen von ihren Hieben und Medivhs mahnende Worte sorgten dafür, dass er sich beherrschte.

»Was tust du da?«, fragte er scharf.

Garonas Finger tanzten über das Papier. »Herumschnüffeln würdest du das wohl nennen. Spionieren?« Sie sah auf. »Eigentlich versuche ich nur zu verstehen, was du hier machst. Die Papiere lagen offen herum. Ich hoffe, es stört dich nicht.«

Und wie es mich stört, dachte Khadgar, sagte jedoch: »Meister Medivh hat mich gebeten, dich in allem zu unterstützen, aber es würde ihm wohl kaum gefallen, wenn ich in diesem Zusammenhang zulasse, dass du dich durch einen unvorsichtigen Zauber selbst in die Luft jagst.«

Garonas Gesicht blieb regungslos, aber Khadgar bemerkte, dass sie die Finger von den Papieren zurückzog. »Ich bin an Magie nicht interessiert.«

»Berühmte letzte Worte«, versetzte Khadgar. »Kann ich dir bei irgendetwas helfen, oder schnüffelst du nur allgemein herum, um zu sehen, was du vielleicht aufschnappen kannst?«

»Ich habe gehört, du hast ein Buch über die Könige von Azeroth«, sagte sie. »Ich würde es gerne lesen.«

»Du kannst lesen?«, fragte Khadgar. Es klang gemeiner, als er es beabsichtigt hatte. »Tut mir Leid, ich wollte …«

»Ja, überraschenderweise kann ich das«, erwiderte Garona schnippisch. »Ich habe über die Jahre hinweg viele Fähigkeiten erworben.«

Khadgar presste die Lippen zusammen. »Zweite Reihe, viertes Regal. Es ist ein rot eingebundenes Buch mit goldenem Rand.«

Garona verschwand zwischen den Stapeln, und Khadgar nutzte die Zeit, um seine Notizen vom Tisch zu nehmen. Er musste sie an einem anderen Ort aufbewahren, so lange die Ork sich frei im Turm bewegte. Zum Glück handelte es sich um keine Korrespondenz des Ordens. Sogar Medivh hätte wohl getobt, wenn er ihr das »Lied von Aegwynn« zugänglich gemacht hätte.

Seine Blicke fanden die Sektion, in der die Schriftrolle aufbewahrt wurde. Von hier aus schien sie unverändert zu sein. Es war nicht vordringlich, aber er sollte sie wohl ebenfalls an einen anderen Ort bringen.

Garona kehrte mit einem gewaltigen Buch in der Hand zurück und hob fragend eine ihrer buschigen Augenbrauen.

»Ja, das ist es«, sagte der Schüler.

»Die menschliche Sprache ist ein wenig … ausschweifend«, kommentierte sie die Dicke des Werkes und deponierte es auf dem freien Platz, wo eben noch die Notizen gelegen hatten.

»Nur weil wir so viel zu sagen haben«, erwiderte Khadgar und versuchte zu lächeln. Er fragte sich, ob Orks wohl auch Bücher besaßen, eigene Bücher. Lasen sie überhaupt? Sie hatten Schamanen, aber bedeutete das zwangsläufig, dass sie auch über echtes Wissen verfügten?

»Ich hoffe, ich war eben im Gang nicht zu heftig mit dir.« Ihr Tonfall war verbindlich, und Khadgar war sicher, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn er einen Zahn ausgespuckt hätte. Aber vielleicht hielt man bei den Orks so etwas schon für eine ausreichende Entschuldigung.

»Kein Problem«, sagte er. »Ich brauchte die Abwechslung.«

Garona setzte sich und schlug das Buch auf. Khadgar bemerkte, dass sie beim Lesen die Lippen bewegte und im hinteren Teil des Buchs begonnen hatte, bei der Herrschaft von König Llane.

Jetzt, da er etwas Ruhe hatte, fiel ihm auf, dass sie nicht wie die anderen Orks aussah, gegen die er gekämpft hatte. Sie war schlank und muskulös, nicht so wie die verwachsenen grobschlächtigen Bestien, die er im Lager gesehen hatte. Ihre Haut war glatt, beinahe wie die eines Menschen, und zeigte ein helleres Grün als die jadefarbene Haut normaler Orks. Ihre Zähne waren etwas kleiner, ihre Augen ein wenig größer und ausdrucksvoller als die harten roten Augen von männlichen Ork-Kriegern. Er fragte sich, wie viele dieser Unterschiede von ihrer menschlichen Seite stammen mochten, und wie viele einfach Zeichen ihrer Weiblichkeit waren. Er dachte darüber nach, ob er bereits gegen weibliche Orks gekämpft hatte – es war ihm zumindest nicht aufgefallen, und zu Zeiten der Kämpfe hatte er kein Bedürfnis verspürt, es herauszufinden.

Ohne die grüne Haut, das entstellte, mit Fangzähnen versehene Gesicht und die feindselige überlegene Haltung, hätte man sie fast schon attraktiv nennen können. Doch sie saß in seiner Bibliothek und ging seine Bücher durch (nun ja, Medivhs Bibliothek und Medivhs Bücher, aber der Magus hatte sie ihm anvertraut).

»Du bist also die Abgesandte«, sagte er schließlich. Er schlug einen entspannten Tonfall an. »Man hat mir gesagt, du würdest eintreffen.«

Die Halb-Ork nickte und konzentrierte sich auf die geschriebenen Worte, die vor ihr ausgebreitet waren.

»Wen genau repräsentierst du eigentlich?«

Garona sah auf, und Khadgar erkannte an ihrem Blick, dass er ihr auf die Nerven ging. Er fühlte sich gut dabei, fragte sich aber gleichzeitig, wo die Frau wohl die Grenze ziehen würde. Er wollte nicht zu hart oder zu schnell vorgehen, sonst würde er sich nur weitere Schläge und eine Standpauke des Magus einhandeln.

Dieses Mal wollte er zumindest etwas über die Schlacht erfahren. Er sagte: »Ich meine, wenn du die Abgesandte bist, muss dir doch jemand Befehle geben, du musst jemandem Bericht erstatten. Wenn repräsentierst du?«

»Ich bin sicher, dein Meister würde es dir sagen, wenn du ihn fragst«, erwiderte Garona glatt, aber ihr Blick blieb hart.

»Ich bin sicher, das würde er«, log Khadgar. »Wenn ich die Unverschämtheit besitzen würde, ihn zu fragen. Also frage ich stattdessen dich. Wen repräsentierst du? Welche Befugnisse hast du? Bist du hier, um zu verhandeln, um etwas zu fordern … oder was?«

Garona schloss das Buch (Khadgar empfand es wie einen Sieg, dass er sie von ihrer Aufgabe abgelenkt hatte) und sagte: »Denken alle Menschen gleich?«

»Es wäre langweilig, wenn wir das täten«, sagte Khadgar.

»Ich meine, sind alle einer Meinung? Stimmen die Menschen immer dem zu, was ihre Herren oder Vorgesetzten wollen?«, fragte Garona. Die Härte in ihrem Blick schwächte ein wenig ab.

»Wohl kaum«, sagte Khadgar. »Das ist einer der Gründe, warum es so viele Bücher gibt. Jeder hat eine Meinung. Und das sind nur die Meinungen derer, die des Schreibens mächtig sind.«

»Dann wirst du verstehen, dass es unter den Orks auch Meinungsverschiedenheiten gibt«, sagte Garona. »Die Horde besteht aus vielen Clans, und alle haben eigene Häuptlinge und Kriegsherren. Alle Orks gehören einem Clan an. Die meisten Orks sind ihrem Clan und ihrem Häuptling ergeben.«

»Was für Clans sind das?«, fragte Khadgar. »Wie werden sie genannt?«

»Stormreaver ist einer von ihnen«, sagte die Halb-Ork. »Blackrock, Twilight’s Hammer, Bleeding Hollow. Das sind die größten.«

»Klingt alles sehr kriegerisch«, sagte Khadgar.

»Die Heimat der Ork-Völker ist wild«, sagte Garona. »Es überleben nur die, die stark und gut organisiert sind. Sie sind nur das, wozu ihre Wurzeln sie gemacht haben.«

Khadgar dachte an das vertrocknete Land mit dem roten Himmel, das er in der Vision gesehen hatte. Das war also die Heimat der Orks. Eine Einöde in einer anderen Dimension. Aber wie kamen sie hierher? Doch das fragte er nicht.

»Zu welchem Clan gehörst du?«

Garona schnaufte. Es klang wie das Niesen einer Bulldogge. »Ich habe keinen Clan.«

»Du sagtest doch, alle deine Leute gehören einem Clan an.«

»Ich sagte, alle Orks«, erwiderte Garona. Als Khadgar sie verwirrt ansah, hob sie ihre Hand. »Schau sie dir an. Was siehst du?«

»Deine Hand«, sagte Khadgar.

»Die eines Menschen oder die eines Orks?«

»Ork«, sagte Khadgar. Für ihn war das offensichtlich. Grüne Haut, scharfe, gelbliche Nägel, Knöchel, die ein wenig zu groß für einen Menschen waren.

»Ein Ork würde das für eine menschliche Hand halten. Sie ist zu schlank, um wirklich nützlich zu sein, hat zu wenig Muskeln, um eine Axt zu halten oder einen Schädel vernünftig einzuschlagen – zu blass, zu schwach und zu hässlich.« Garona ließ ihre Hand sinken und sah den jungen Magier von unten an. »Du siehst die Teile von mir, die orkisch sind. Meine orkischen Vorgesetzten und alle anderen Orks sehen die Teile, die menschlich sind. Ich bin beides und doch nichts, und beide Seiten halten mich für ein minderwertiges Wesen.«

Khadgar öffnete den Mund und wollte widersprechen, entschied sich dann aber dagegen und schwieg. Er hatte schließlich auch die Ork-Frau angegriffen, die er im Gang gesehen hatte – und nicht den Menschen in ihr gesehen, der Medivhs Gast war. Er nickte und sagte: »Es muss schwierig sein, ohne Clanzugehörigkeit zu leben.«

»Ich habe daraus meinen Vorteil gezogen«, sagte Garona. »Ich kann mich freier zwischen den Clans bewegen. Da ich ein Zwitter-Wesen bin, glaubt niemand, dass ich ständig auf Vorteile für meinen eigenen Clan aus bin. Niemand mag mich, deshalb habe ich keine Vorlieben. Einige Häuptlinge finden das beruhigend. Das macht mich zu einem besseren Verhandlungsführer – und ja, auch zu einem besseren Spion. Es ist besser, keinem Herrn zu dienen als mehreren.«

Khadgar dachte daran, wie scharf Medivh seine Verbindungen zu den Kirin Tor kritisiert hatte, sagte jedoch: »Und welchen Clan repräsentierst du momentan?«

Garona lächelte trocken und zeigte ihre Fangzähne. »Würde dir der Name Gizblah, der Mächtige etwas sagen? Oder vielleicht hat mich Morgax, der Graue oder Hikapik, der Blutige geschickt. Würden dir diese etwas sagen?«

»Vielleicht«, sagte Khadgar.

»Nein«, sagte Garona, »weil ich diese Namen gerade erfunden habe. Und der Name der Gruppe, die mich geschickt hat, würde dir jetzt auch noch nichts sagen. Genauso bedeutet die Freundschaft, die den alten Mann mit einem gewissen König Llane verbindet, unseren Häuptlingen nichts – und der Name Lothar ist nur ein Fluch, der von den Lippen menschlicher Bauern kommt, wenn wir ihnen begegnen. Bevor es zu einem Frieden oder echten Verhandlungen kommen kann, müssen wir mehr über euch erfahren.«

»Weshalb du hier bist.«

Garona seufzte tief. »Weshalb ich bete, dass du mich so lange in Ruhe lässt, dass ich herausfinden kann, worüber der alte Mann redet, wenn wir uns unterhalten.«

Khadgar schwieg einen Moment lang. Garona öffnete das Buch erneut und blätterte die Seiten bis zu der Stelle durch, an der sie unterbrochen worden war.

»Natürlich beruht das auf Gegenseitigkeit«, sagte Khadgar, und Garona schloss das Buch mit einem theatralischen Seufzer. »Ich meine, dass wir auch mehr über die Orks erfahren müssen, wenn wir mehr als nur gegen sie kämpfen wollen. Wenn ihr ernsthaft den Frieden wollt.«

Garona starrte Khadgar an, und für einen Moment befürchtete der junge Magier, die Halb-Ork würde über den Tisch springen und ihn erwürgen. Stattdessen stellte sie ihre Ohren auf und sagte: »Moment, was ist das?«

Khadgar fühlte es, bevor er es hörte. Eine plötzliche Veränderung in der Luft, als habe man irgendwo im Turm ein Fenster geöffnet. Eine leichte Brise wirbelte den Staub im Gang auf. Eine warme Welle glitt durch den Turm.

Khadgar sagte: »Da ist etwas …«

Garona erwiderte: »Ich habe es gehört …«

Und dann hörte es auch Khadgar, das Geräusch eiserner Klauen, die über Stein schabten. Er spürte, wie die Luft um ihn herum wärmer wurde und sich die Haare in seinem Nacken aufstellten.

Und die große Bestie trat in die Bibliothek.

Sie bestand aus Feuer und Schatten. Ihre Haut war dunkel, Flammen waren darin zu sehen. Aus ihrem wolfsartigen Gesicht ragten geschwungene Hörner hervor, die wie poliertes Elfenbein glänzten. Sie sah aus wie ein Zweibeiner, ging jedoch auf allen vieren. Die langen Klauen kratzten über den Boden.

»Was ist …?«, zischte Garona.

»Dämon«, sagte Khadgar mit erstickter Stimme. Er erhob sich und wich vom Tisch zurück.

»Dein Diener sagte, es gäbe hier Visionen. Geister. Ist das einer?« Garona stand ebenfalls auf.

Khadgar wollte erklären, dass es sich um keine Vision handelte, weil man darin komplett in eine andere Umgebung versetzt wurde, aber er schüttelte nur den Kopf.

Die Bestie stand auf der Türschwelle und hob die Nase. Flammen schlugen aus ihren Augen. War die Bestie blind, orientierte sie sich nur am Geruch? Witterte sie etwas Fremdes in der Luft, einen Geruch, den sie nicht erwartet hatte?

Khadgar versuchte die Energien in seinem Geist zu sammeln, aber sein Herz hämmerte, und seine Gedanken waren leer. Die Bestie schnüffelte weiter, bis sie den beiden gegenüberstand.

»Geh in den hohen Turm«, sagte Khadgar ruhig. »Wir müssen Medivh warnen.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Garona nickte, während sich ihre Blicke weiter auf die Bestie richteten. Ein Schweißtropfen lief über ihren langen Hals nach unten. Sie drehte sich leicht zur Seite.

Die Bewegung reichte aus. Alles geschah gleichzeitig. Die Bestie spannte sich an und sprang ins Zimmer. Khadgar reagierte, zog die Energien in sich hinein, hob seine Hand und stieß einen Energieblitz in die Brust der Kreatur. Die Energie bohrte sich in den Körper der Bestie und trat an ihrem Rücken wieder aus. Brennendes Fleisch flog in alle Richtungen, aber das hielt sie nicht auf.

Sie landete auf dem Tisch, ihre Klauen gruben sich in das harte Holz, dann sprang sie erneut, dieses Mal auf Khadgar zu. Der junge Magier erstarrte für eine Sekunde, aber diese Sekunde reichte dem Dämon, um die Entfernung zwischen ihnen zu überbrücken.

Etwas griff nach Khadgar und zog ihn fort. Er roch Zimt und hörte einen tiefen Fluch, als er aus dem Weg des angreifenden Dämons gerissen wurde. Die Bestie flog durch die Luft, wo eben noch der Schüler gestanden hatte, und brüllte wütend. Eine klaffende Wunde erschien in ihrer linken Seite. Brennendes Blut schoss daraus hervor.

Garona entließ Khadgar aus ihrem Griff (es war ein schwacher, menschlicher Griff, der ihm trotzdem die Luft aus den Lungen presste). In ihrer Hand sah der Schüler ein Messer, dessen lange Klinge nach dem ersten Stich rot gefärbt war. Khadgar fragte sich, wo sie die Waffe während ihres Streits versteckt gehalten hatte.

Die Bestie landete, fuhr herum und versuchte mit ausgestreckten Pranken einen zweiten, ungeschickten Angriff. Augen und Maul waren voller Flammen. Khadgar duckte sich und kam mit einem schweren roten Buch – Die Erbfolge von Azeroths Königen – wieder nach oben. Er schleuderte es der Bestie ins Gesicht und duckte sich erneut. Das Ungetüm flog an ihm vorbei und landete neben der Tür. Es stieß einen erstickt klingenden Würgelaut aus und schüttelte seinen massigen Kopf, um das Buch loszuwerden, das sich zwischen seinen Hörnern verkantet hatte. Khadgar bemerkte das Blut, das über die rechte Seite der Bestie lief. Garona hatte ein zweites Mal zugestochen.

»Hol Medivh!«, schrie Khadgar. »Ich locke ihn von der Tür weg.«

»Und was ist, wenn der Dämon mich will?«, fragte Garona, und zum ersten Mal bemerkte Khadgar Furcht in ihrer Stimme.

»Er will dich nicht«, sagte er grimmig. »Er tötet Magier.«

»Aber du …«

»Geh!«, rief Khadgar.

Er wich nach links aus, und wie er befürchtet hatte, folgte ihm die Bestie. Garona lief jedoch nicht zur Tür, sondern wich nach rechts aus und kletterte auf das hintere Bücherregal.

»Hol Medivh!«, schrie Khadgar, während er den Gang zwischen zwei Regalen entlang lief.

»Dafür ist nicht genug Zeit«, antwortete Garona, die immer noch nach oben kletterte. »Versuch ihn zwischen den Regalen aufzuhalten.«

Khadgar drehte sich am Ende des Gangs um. Der Dämon war bereits über den Tisch gesprungen und bewegte sich jetzt ebenfalls zwischen den Regalen voller historischer und geographischer Bücher. In den Schatten leuchteten die flammenden Augen der Bestie bösartiger als je zuvor. Beißender Rauch drang aus ihren verletzten Flanken.

Khadgar bemühte sich um Konzentration, kämpfte seine Furcht nieder und schoss einen mystischen Pfeil ab. Ein Blitz oder eine Feuerkugel wären vielleicht effektiver gewesen, aber die Bestie stand mitten zwischen den Büchern.

Der Pfeil traf den Dämon ins Gesicht. Er taumelte einen Schritt zurück, knurrte und kroch wieder vorwärts.

Khadgar wiederholte den Vorgang wie ein Ritual – Konzentration sammeln, Furcht bekämpfen, Hand heben und das Wort aussprechen. Ein zweiter Pfeil prallte von den Elfenbeinhörnern ab und schoss nach oben. Die Bestie zögerte nur für einen Moment. Ihre Schnauze schien sich in einem verstörenden, flammenden Grinsen zu verziehen.

Ein drittes Mal beschwor Khadgar die Macht des magischen Pfeils, doch die Bestie war bereits nah, und als der Pfeil an ihrem Gesicht vorbeischoss, erhellte er nur den überlegenen Ausdruck darin, sonst nichts. Khadgar roch saures, brennendes Fleisch und hörte ein tiefes Klicken in der Kehle der Bestie – Gelächter?

»Mach dich bereit!«, rief Garona von irgendwo rechts oben.

»Was treibst du da …?«, begann Khadgar und wich bereits zurück.

»Lauf!«, schrie sie und stieß sich mit den Füßen ab. Die Halb-Ork war bis an die Spitze der Bücherregale geklettert und drückte sie jetzt auseinander, brachte sie zu Fall wie gewaltige Dominosteine. Es krachte donnergleich, als die Regale zusammenstießen, Bücher zu Boden rutschten und das Holz alles zerquetschte, was sich in seinem Weg befand.

Das letzte Bücherregal prallte gegen die Wand und zersplitterte. Garona rutschte daran herab und blieb mit gezücktem Messer stehen. Sie versuchte etwas durch die Staubwolken zu erkennen.

»Khadgar?«, fragte sie.

»Hier«, sagte der Lehrling, der sich gegen die Wand gepresst hatte. Neben ihm ragten Eisenstangen hervor, die die Galerie über ihm stützten. Selbst für einen Menschen war sein Gesicht bleich.

»Haben wir den Dämon erwischt?«, fragte sie. Sie duckte sich, erwartete immer noch einen Angriff.

Khadgar zeigte auf einen Punkt, der eben noch das Ende der Regale gebildet hatte. Der gesamte Boden war mit Holzteilen und zerfetzten Büchern bedeckt. Aus den Trümmern ragte ein muskulöser Arm hervor, der aus schwachen Flammen und verzogenen Schatten bestand. Die eisernen Klauen hatten sich durch Rost bereits rot gefärbt, und warmes Blut floss über den Boden. Die ausgestreckte Pranke befand sich nur einen Schritt von Khadgar entfernt.

»Erwischt«, sagte Garona und ließ das Messer wieder unter ihrer Bluse verschwinden.

»Du hättest auf mich hören sollen«, sagte Khadgar und hustete sich den Staub aus der Kehle. »Du hättest Medivh holen sollen.«

»Der Dämon hätte dich zerfetzt, bevor ich auch nur zwei Schritte zurückgelegt hätte«, entgegnete die Halb-Ork. »Und wer hätte das dem alten Mann erklärt?«

Khadgar nickte und blickte auf, als ihm ein Gedanke kam. »Meinst du, der Magus hat das hier gehört?«

Garona nickte. »Er sollte bereits auf dem Weg hierher sein. Wir haben genügend Lärm gemacht, um die Toten zu wecken.«

»Und was ist …« Khadgar steuerte bereits die Tür der Bibliothek an. »… wenn es mehr als einen Dämon gibt? Komm! Rasch!«

Ohne nachzudenken zog Garona erneut ihre Waffe und folgte dem Menschen aus dem Raum.


Als sie Medivh erreichten, saß er in seinem Labor an der gleichen Werkbank, an der Khadgar ihn vor nicht mehr als einer Stunde angetroffen hatte. Das goldene Instrument, mit dem er beschäftigt war, lag in verbogenen Stücken vor ihm. Ein Eisenhammer ruhte auf einer Seite der Bank.

Medivh sah auf, als Khadgar ins Zimmer stürzte, dicht gefolgt von Garona. Der Lehrling fragte sich, ob der Magus die Ereignisse verschlafen hatte.

»Meister! Es ist ein Dämon im Turm!«, stieß Khadgar hervor.

»Schon wieder ein Dämon?«, fragte Medivh müde und rieb sich ein Auge. »Beim ersten Mal war es ebenfalls ein Dämon; beim letzten Mal war es ein Ork.«

»Euer Schüler hat Recht«, sagte Garona. »Ich war mit ihm in der Bibliothek, als der Dämon angriff. Er war groß, bestialisch und verschlagen. Er bestand aus Feuer und Dunkelheit, und seine Wunden brannten und rauchten.«

»Es war vermutlich nur eine weitere Vision«, wiegelte Medivh ab und widmete sich wieder seiner Arbeit. Er hob eines der demolierten Teile auf und betrachtete es, als habe er es noch nie zuvor gesehen. »Visionen kommen hier häufig vor. Ich glaube, Moroes hat Euch davor gewarnt, Gesandte.«

»Es war keine Vision, Meister«, rief Khadgar. »Es war ein Dämon wie jener, den Ihr in der Stormwind-Burg bekämpft habt. Etwas hat die Schutzzauber durchdrungen und uns angegriffen.«

Medivhs graue Brauen hoben sich misstrauisch. »Etwas soll schon wieder meine Schutzzauber durchdrungen haben? Lächerlich.« Er schloss die Augen und zeichnete ein Symbol in die Luft. »Nein, alles in Ordnung. Alle Schutzzauber funktionieren. Ihr seid hier. Köchin ist in der Küche und Moroes im Gang vor der Bibliothek.«

Khadgar und Garona tauschten einen Blick. »Dann solltet Ihr sofort mitkommen, Meister.«

»So, sollte ich das?«, fragte Medivh. »Aber ich habe andere Dinge, um die ich mich kümmern muss.«

»Bitte seht es euch an«, sagte Khadgar.

»Wir glauben, dass die Bestie tot ist«, sagte Garona, »aber wir wollen das Leben Eurer Diener nicht wegen einer bloßen Annahme riskieren.«

Medivh warf einen Blick auf das zerschlagene Gerät, schüttelte den Kopf und legte es zurück. Es schien ihn zu irritieren. »Wie Ihr es wünscht. Schüler sollten nicht so viel Ärger machen.«

Als sie die Bibliothek erreichten, stand Moroes bereits mit dem Besen in der Hand da und betrachtete die Schäden. Er wirkte etwas verloren, als die beiden Menschen und die Halb-Ork eintraten.

»Glückwunsch«, sagte Medivh. Er war mehr als schlecht gelaunt. »Du hast mehr zerstört als bei deiner Ankunft im Argen lag. Da hatte ich wenigstens noch Regale. Und wo ist dieser angebliche Dämon?«

Khadgar ging zu der Stelle, wo die Dämonenhand emporgeragt hatte, sah jedoch nur noch die Trümmer der Regale. Sogar das Blut war verschwunden.

»Er war hier«, sagte Garona. Sie wirkte so überrascht wie Khadgar. »Er hat uns angegriffen.« Sie tastete nach der Ecke des Regals und versuchte es aufzurichten, doch die massive Eiche war selbst für sie zu schwer. Nach kurzem Bemühen gab sie auf. »Wir haben ihn beide gesehen.«

»Ihr habt eine Vision gesehen«, machte Medivh deutlich. »Hat Moroes euch nicht gewarnt?«

»Jau«, bestätigte Moroes. »Das habe ich.« Er tippte gegen die Seiten seiner Scheuklappen, um seine Aussage zu bekräftigen.

»Meister, er hat uns angegriffen«, beharrte Khadgar. »Wir haben ihm mit unseren Sprüchen Schaden zugefügt. Die Abgesandte hat ihn zweimal verwundet.«

»Hmm«, brummte der Magier. »Wahrscheinlich habt ihr einfach nur überreagiert, als ihr ihn saht und habt die größten Schäden selbst angerichtet. Stammen die frischen Kratzer auf dem Tisch von dem Dämon?«

»Er hatte eiserne Klauen«, sagte Khadgar.

»Vielleicht stammen sie aber auch von den magischen Pfeilen, die hier herumflogen wie Ballons auf einem Straßenfest.« Medivh schüttelte den Kopf.

»Mein Messer stieß in etwas Hartes, Ledriges«, sagte Garona.

»Mit Sicherheit eines der gebundenen Bücher«, sagte der Magus. »Hätte es einen Dämon gegeben, läge sein Körper noch hier. Außer jemand hat ihn weggeräumt. Moroes, hast du einen Dämon in deinem Müllsack?«

»Ich glaube nicht«, sagte der Verwalter, »aber ich kann nachsehen.«

»Schon gut, aber lass deine Werkzeuge für die beiden hier zurück.« Er wandte sich an den jungen Magier und die Halb-Ork. »Ich erwarte, dass ihr miteinander auskommt. Im Lichte dieser Angelegenheit halte ich es für richtig, wenn ihr die Bibliothek aufräumt. Mein Vertrauen, du hast deinem Namen keine Ehre gemacht. Das musst du wiedergutmachen.«

Garona ließ nicht locker. »Aber ich habe gesehen …«

»Ihr habt ein Phantom gesehen«, unterbrach Medivh sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und autoritärer Stimme. »Ihr habt etwas von einem anderen Ort gesehen. Es hätte Euch nichts getan. Das tun sie nie. Euer Freund hier«, er zeigte auf Khadgar, »neigt dazu, Dämonen zu sehen, wo es keine gibt. Das bereitet mir ein wenig Sorge. Vielleicht könnt Ihr versuchen während des Aufräumens nicht schon wieder welche zu sehen? Bis dahin möchte ich nicht gestört werden!«

Und mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Moroes legte den Besen auf den Boden und folgte ihm.

Khadgar betrachtete die Verwüstung in der Bibliothek. Es würde mehr als nur ein Besen nötig sein, sie zu beheben. Regale waren umgeworfen und zerbrochen worden. Bücher lagen überall verstreut. Einige Einbände waren abgerissen, die Rücken eingedrückt. War es tatsächlich nur eine zeitverzögerte Vision gewesen?

»Wir wurden von keiner Illusion getäuscht«, sagte Garona missgelaunt.

»Ich weiß«, erwiderte Khadgar.

»Wieso versteht er das dann nicht?«, fragte die Halb-Ork.

»Das eben weiß ich nicht«, sagte der Schüler. »Und die Suche nach einer Antwort darauf bereitet mir ziemliches Bauchweh.«

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