Erstes Buch - Als der Meister starb

Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Während der letzten beiden Stunden war Nebel aufgekommen, und im gleichen Maße, indem sich die grauen Schwaden zuerst zu wogenden Wolkengebilden und dann zu schweren, träge wie Rauch auf der Wasseroberfläche liegenden Bänken verdichtet hatten, hatte sich das Meer geglättet. Die Wellen waren flacher geworden, und das rhythmische dumpfe Klatschen, das die Fahrt der LADY OF THE MIST, der »Herrin des Nebels«, während der letzten vierunddreißig Tage wie ein monotoner Chor begleitet hatte, war leiser geworden und schließlich ganz verstummt.

Jetzt lag das Schiff ohne Fahrt auf der Stelle. Die großen, an vielen Stellen geflickten Segel hingen schlaff von den Rahen, und an Masten und Tauwerk sammelte sich Feuchtigkeit und lief in kleinen glitzernden Bahnen zu Boden. Es war still, eine unheimliche, an den Nerven zerrende Stille, die mit dem Nebel über das Meer herangekrochen war und den schnittigen Viermastsegler einhüllte. Und es war nicht einfach nur die Stille, sondern noch etwas anderes. Ein Gefühl - ich weiß, daß es sich verrückt anhört, aber genau das war es, was ich (und wohl auch viele von den anderen) damals empfanden -, als hätte der Nebel etwas Fremdes und Feindseliges mit sich herangetragen, das nun auf unsichtbaren Spinnenbeinen an Bord der LADY OF THE MIST kroch und sich in unsere Gedanken und Gefühle schlich.

Der Nebel hatte das Schiff erreicht und eingehüllt, und alles, was weiter als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, begann in der dunstigen Feuchtigkeit zu verschwimmen und an Substanz zu verlieren, als wäre es nicht real, sondern nur ein Bild aus einem Traum. Das Knarren und Ächzen des Holzes klang gedämpft, und die Stimmen der Mannschaft wehten wie durch einen dichten, unsichtbaren Schleier zu uns herauf. Das an einer Seite abgerundete Rechteck des Achterdecks erschien mir wie eine winzige, isolierte Insel in einem gewaltigen Ozean aus Grau und erstarrtem Schweigen.

Und es war kalt. Wir waren am 19. Juni des Jahres 1883 in New York losgesegelt, und wenn ich nicht irgendwo auf dem Atlantik die Übersicht verloren hatte, dann mußten wir jetzt den 24. Juli schreiben. Hochsommer, dachte ich. Trotzdem prickelten meine Hände vor Kälte, und mein Atem erschien als dünne Dampfwolke vor meinem Gesicht, wenn ich sprach.

»Warum gehen Sie nicht in die Kabine, Mister Craven?« Die Stimme des Kapitäns drang wie von weit her in meine Gedanken; ich hatte Mühe, sie überhaupt als menschliche Stimme zu erkennen und darauf zu reagieren.

»Es ist verdammt kalt hier«, fuhr Bannermann fort, als ich mich endlich zu ihm umwandte und ihn ansah. In seinem dicken schwarzen Mantel und der Pudelmütze, die er anstelle seiner Kapitänsmütze trug, wirkte er wie ein freundlicher Pinguin. Und irgendwie war er das wohl auch: ein kurzbeiniger, gemütlicher, stets lächelnder Mann, der viel zu sanft und nachsichtig war, um ein Schiff zu kommandieren. Ich hatte nie mit ihm gesprochen, aber ich hatte den sicheren Eindruck, daß er mehr durch Zufall auf diesen Posten verschlagen worden und nicht sehr glücklich damit war.

»Ich möchte lieber hierbleiben«, antwortete ich nach einer Weile. »Dieser Nebel bereitet mir Sorgen. Sind Sie sicher, daß wir nicht die Orientierung verlieren oder gegen ein Riff laufen?«

Bannermann lachte. Er hatte seinen Schal um das Gesicht geschlungen, und seine Stimme klang nur gedämpft durch die dicke Wolle. Trotzdem spürte ich, daß es ein gutmütiges Lachen war. Für Bannermann und seine Leute waren Montague und ich nichts als zwei Landratten, die Mühe hatten, bei einem Schiff Bug und Heck auseinanderzuhalten. Ich hatte den größten Teil der Reise in seiner Nähe verbracht, und wahrscheinlich war ich ihm gehörig auf die Nerven gefallen. Aber er gab sich wenigstens Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen.

»Wir sind fast dreißig Seemeilen von der nächsten Küste entfernt«, antwortete er. »Dieser Nebel gefällt mir auch nicht, aber er ist nicht gefährlich. Nur lästig.« Er seufzte, trat an mir vorbei an die Reling und blickte aus zusammengekniffenen Augen in die wogenden grauen Schwaden hinaus. »Äußerst lästig«, fügte er hinzu. »Aber mehr auch nicht.«

Ich schwieg. Es hätte tausend Fragen gegeben, die ich hätte stellen können, aber ich spürte, daß er nicht antworten würde, und so trat ich nur schweigend neben ihn und blickte wie er aufs Meer hinaus, nach Norden, wo unser Ziel lag. Es war etwas Beunruhigendes an diesem Nebel - wenn man lange genug hineinsah, begann man Gestalten zu erkennen: Gesichter und bizarre, seltsam verzerrte Körper, substanzlose Hände, die nach dem Schiff zu greifen schienen. Wäre dieser Nebel nicht gekommen, hätte die LADY OF THE MIST London fahrplanmäßig irgendwann während des nächsten Tages erreicht. Jetzt konnte es gut sein, daß wir eine weitere Nacht auf See verbringen mußten; vielleicht auch mehr, wenn der Nebel nicht wich.

Aber ich hütete mich, irgend etwas von diesen Gedanken auszusprechen. Bannermann hätte mich wahrscheinlich für verrückt erklärt.

»Wirklich, Mister Craven«, fuhr Bannermann fort, ohne mich dabei anzusehen. »Sie sollten unter Deck gehen. Sie können hier sowieso nichts tun - außer sich einen kräftigen Schnupfen einzufangen.« Er schwieg einen Moment und fuhr, leiser und mit deutlich veränderter Stimme, fort: »Und es wäre mir lieber, wenn jemand bei Mister Montague ist.« Er sah auf. Zwischen seinen buschigen grauen Brauen grub sich eine tiefe Falte ein. »Wie geht es ihm heute?«

Ich antwortete nicht sofort. Als ich Montague verlassen hatte - vor nahezu vier Stunden, noch vor Tagesanbruch -, hatte er geschlafen. Er schlief sehr viel, und obwohl sich sein Zustand nicht besserte, wirkte er in den wenigen Stunden, die er wach war und mit mir oder Bannermann reden konnte, überraschend klar und von scharfem Verstand. Es war etwas Seltsames an diesem Mann.

»Unverändert«, sagte ich nach einer Weile. »Das Fieber steigt nicht weiter, aber es geht auch nicht zurück. Es wird Zeit, daß wir ihn zu einem guten Arzt bringen.«

Bannermann nickte. »Ich lasse sämtliche Segel setzen, sobald dieser verfluchte Nebel gewichen ist. In vierundzwanzig Stunden sind wir in London, und eine Stunde später ist er in einer Klinik.« Er lächelte mit einem Optimismus, den keiner von uns beiden wirklich noch empfand. »Sie werden sehen«, fügte er hinzu, »daß er in einer Woche wieder auf den Beinen und guter Dinge ist.«

Er lächelte abermals, drehte sich mit einem Ruck um und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund, um irgendein Kommando über das Deck zu brüllen. Hoch oben in der Takelage reagierten ein paar seiner Matrosen darauf und begannen emsig hin und her zu kriechen. Ich wußte nicht, was sie taten, und es interessierte mich auch nicht. Die LADY OF THE MIST war das erste Schiff, auf das ich in meinem Leben einen Fuß gesetzt hatte, und es würde wahrscheinlich auch das letzte sein. Ich habe Schiffe nie gemocht, und das Meer mit seiner Weite und Einsamkeit flößte mir Furcht ein. Sicher - ich war dreitausend Meilen von meiner Heimat entfernt, und die einzige Möglichkeit, jemals dorthin zurückzukehren, war nun einmal ein Schiff. Aber ich war mir noch gar nicht so sicher, ob ich jemals wirklich nach Amerika zurückkehren würde.

Ich verdrängte den Gedanken, sah Bannermann noch eine Zeitlang zu, wie er seine Matrosen über das Deck scheuchte, und wandte mich dann um. Die Kälte begann allmählich mehr als nur unangenehm zu werden, und ich verspürte ein verräterisches Kratzen im Hals. Bannermann hatte wohl recht - ich würde mich nur erkälten, wenn ich länger an Deck blieb. Aber unsere Kajüte war geheizt, und ein kräftiger Grog würde den Rest besorgen.

Die ausgetretenen Stufen knarrten hörbar unter meinem Gewicht, als ich die kurze Holztreppe zum Deck hinabging. Das Geräusch erschien seltsam gedämpft, und wieder fiel mir die sonderbare Stille auf, die sich über dem Schiff ausgebreitet hatte. Ich blieb stehen, nickte einem vorübereilenden Matrosen grüßend zu und trat - ohne eigentlich so recht zu wissen, warum - abermals an die Reling.

Das Meer war verschwunden. Die verkrustete Bordwand der LADY OF THE MIST schien anderthalb Meter unter mir in einer grauen Wolkenmasse zu verschwinden, und ein seltsamer, nicht einmal direkt unangenehmer Geruch wehte von der Wasseroberfläche herauf. Nicht der Salzwasseratem des Meeres, den ich nach fünfunddreißig Tagen schon gar nicht mehr bewußt wahrnahm, sondern etwas anderes, vollkommen Fremdes. Ich legte die Hände auf die Reling, beugte mich vor und versuchte, wenigstens einen Schimmer der Wasseroberfläche zu sehen, aber der Nebel war zu dicht. Es war absurd: das Schiff hieß LADY OF THE MIST - Herrin des Nebels - aber im Moment war es seine Gefangene.

Als ich mich umwandte, glaubte ich eine Bewegung zu erkennen: Ein kurzes, rasches Zucken, als griffe etwas ungeheuer Großes und Massiges aus der grauen Masse, etwas, das grün und glitzernd und mit winzigen schillernden Schuppen bedeckt war. Ich erstarrte. Von einer Sekunde auf die andere begann mein Herz zu hämmern, so rasch, wie mir trotz der Kälte der Schweiß ausbrach. Die Erscheinung verging so schnell, wie sie gekommen war, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte, oder ob mir meine überreizten Nerven nur einen Streich spielten.

Und trotzdem verspürte ich in diesem Moment eine Furcht, wie ich sie noch nie in meinem Leben gefühlt hatte.

Meine Hände zitterten noch immer, als ich die niedrige Tür im Achteraufbau öffnete und zu unserer Kajüte hinabstieg.


Das Zimmer war still. Vor den Fenstern lagen schwere hölzerne Läden und sperrten das Sonnenlicht aus, und das Feuer, das im Kamin loderte, verbreitete zwar eine erstickende trockene Wärme, aber seltsamerweise kaum Licht. Trotzdem war es nicht dunkel. Ein unwirklicher grüner Schein lag in der Luft; Helligkeit, die aus keiner bestimmten Quelle, sondern aus dem Nirgendwo zu kommen schien, und in das Knacken und Prasseln des Feuers mischte sich ein dumpfes, geisterhaftes Wispern, ein Geräusch wie der Laut einer fernen Meeresbrandung, nur anders, auf unbestimmte Weise drohender und33 durchdringender. Feindselig.

Vier Menschen hielten sich in dem kleinen Raum auf. Es waren eine Frau, zwei Männer und eine grauhaarige, in Lumpen gehüllte Gestalt, deren Geschlecht nicht eindeutig zu erkennen war. Das Gesicht unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze war ein Labyrinth grauer Schatten und tief eingegrabener Furchen und Runzeln, und das sackähnliche Gewand verhüllte den Körper vollkommen. Das einzige, was an der Gestalt zu leben schien, waren die Augen. Es waren grausame Augen; schmal, dunkel, beinahe ohne Pupillen, und von einem diabolischen Feuer erfüllt.

»Sie kommen«, sagte die Frau. Sie saß - wie die drei anderen - starr und fast unnatürlich ruhig hinter dem runden Tisch, der mit den vier Stühlen und dem Kamin die gesamte Einrichtung des Zimmers bildete.

»Wie viele?« fragte einer der Männer.

Es dauerte einen Moment, ehe die Frau antwortete. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber einem aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, daß sie nicht blinzelte. Und ihr Blick schien ins Leere zu gehen.

»Zu viele«, sagte sie nach einer Weile. »Hunderte. Ich ... kann keine Einzelheiten erkennen. Aber sie hassen.«

»Sie hassen.« Die grauhaarige Gestalt regte sich, und jetzt, als sie sprach, konnte man hören, daß es eine Greisin war. Eine dürre, fast bis auf den Knochen abgemagerte Hand tauchte unter den Lumpen ihres Gewandes auf, legte sich auf die Tischplatte und kroch wie eine fleckige, fünfbeinige Spinne auf die Frau zu. Das Gesicht der Frau zuckte, als die Hand die ihre berührte, und die widerstand im letzten Moment der Versuchung, den Arm zurückzuziehen.

»Sie hassen«, wiederholte die Alte.

»Uns?«

Die Frau nickte. »Ja. Aber ich weiß, was du sagen willst. Es geht nicht. Wir können ihren Haß nicht umdrehen, um ihn für uns zu nutzen. Er ist zu stark. Jemand ... lenkt sie.«

Wieder senkte sich Schweigen über den Raum, nur das unwirkliche Wispern der Geisterstimmen wurde ein wenig stärker. Das grüne Licht begann zu flackern, und der Schein des Feuers im Kamin breitete sich wie Blut im Zimmer aus und verwandelte die Gesichter der vier Menschen in teuflische Grimassen.

»Dann müssen wir fliehen«, sagte die Alte schließlich.

»Es ist zu spät«, wisperte die Frau. Ihre Lippen bewegten sich kaum noch beim Sprechen, und auf ihrer Stirn perlte Schweiß. »Sie sind ... schon zu nahe. Und sie kommen von überallher. Sie sind fast hier.« Ihre Stimme begann zu beben, und ein ganz schwacher Unterton von Hysterie schwang in ihren Worten mit, als sie weitersprach. »Sie ... haben Waffen dabei. Und Fackeln. Sie ... werden ein Pogrom veranstalten.«

Einer der beiden Männer stand auf; so heftig, daß sein Stuhl nach hinten kippte und auf dem Boden zerbrach. »Warum sitzen wir dann noch hier herum?« schrie er. »Wir müssen die anderen warnen und den Widerstand organisieren! Sie sollen nur kommen, diese ...«

»Du bist ein Narr, Quenton«, unterbrach ihn die Greisin. Ihre Stimme klang kalt, als interessiere sie das, was sie soeben gehört hatte, gar nicht. »Du willst kämpfen?« Sie lachte, wandte den Kopf und deutete mit ihrer dürren Hand auf die Tür. »Dann geh. Geh und kämpfe! Es sind Hunderte, und wir sind kaum vierzig. Oder flieh, wenn du den Rest deines Lebens damit verbringen willst dich wie ein Tier zu verkriechen.«

Quenton starrte die Alte einen Atemzug lang mit verbissener Wut an. »Und was sollen wir tun, deiner Meinung nach?« fragte er gepreßt. »Hier sitzen bleiben und uns abschlachten lassen wie Mastvieh? Da sterbe ich lieber mit der Waffe in der Hand.«

»Wir können gar nichts mehr tun«, erwiderte die Alte ruhig. »Wir hätten etwas tun können, als wir Verdacht schöpften, daß Roderick uns hintergeht. Jetzt ist es zu spät.«

»Roderick!« Quenton gab ein unartikuliertes Geräusch von sich und ballte die Faust. »Du bist besessen von deinem Haß gegen Roderick. Er ist fort, und was jetzt geschieht, hat nichts mit ihm zu tun.«

»Narr«, sagte die Alte. »Es hat alles mit ihm zu tun. Warum, glaubst du, sind diese Männer und Frauen auf dem Weg hierher?« Sie deutete mit einer zornigen Kopfbewegung auf die Tür. »Sie kommen, weil er es will, Quenton. Er ist es, der sie schickt - und sie merken es nicht einmal.«

In Quentons Gesicht arbeitete es. Seine Knöchel knackten hörbar, als er in hilflosem Zorn die Fäuste ballte. »Selbst wenn es so wäre«, sagte er schließlich, »ist das kein Grund für uns, hierzubleiben.« Er starrte die Alte an und schob kampflustig das Kinn vor. »Ihr könnt ja warten, bis sie kommen«, sagte er. »Ich gehe jetzt jedenfalls und hole mein Gewehr. Und ich werde jeden erschießen, der es wagt, auch nur einen Fuß in die Stadt zu setzen.«

Die jüngere Frau wollte etwas sagen, aber die Alte legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und drückte zu. Die Frau schwieg.

Quenton blickte noch einmal kampflustig in die Runde, fuhr auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Haus. Die Tür fiel mit lautem Krachen hinter ihm ins Schloß.

»Dieser Narr«, sagte die Alte leise. »Er hat nichts begriffen. Sie werden ihn töten.«

»Sie werden auch uns töten, wenn wir hierbleiben, Andara«, wandte der andere Mann ein. Er war jünger als Quenton, und in seinem Gesicht fehlte die Härte, die das Quentons von denen der anderen unterschied.

Die grauhäutige Alte nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und ließ ihre Kleider rascheln. Eine Strähne ihres farblosen, brüchigen Haares glitt unter ihrer Kapuze hervor und fiel ihr ins Gesicht. Sie wischte sie mit einer unwilligen Bewegung beiseite. »Das mag sein«, sagte sie. »Aber vielleicht ist unser Tod nicht so sinnlos wie es scheint, wenn wir zuvor beenden, was wir angefangen haben.« Sie hob den Kopf und blickte die jüngere Frau aus ihren brennenden dunklen Augen an. »Fahre fort, Lyssa«, sagte sie.

Lyssa zögerte. »Wir sind nur noch drei«, sagte sie. »Ohne Quenton -«

»Drei sind genug«, unterbrach sie Andara ungeduldig. »Quenton hat niemals wirklich zu uns gehört.«

»Aber er besitzt die Macht.«

»Macht?« Andara lachte meckernd. »Was weißt du von der Macht, du dummes Kind? Viele von uns besitzen sie, nicht nur du und ich und« - sie wies auf den jungen Mann an Lyssas Seite - »Lennard. Auch Roderick besitzt sie, vielleicht mehr als alle zusammen. Aber was nutzt die Macht, wenn man sie nicht einzusetzen vermag?« Sie kicherte. »Was hilft einem Grizzly seine Kraft gegen die Verschlagenheit der Jäger, in deren Falle er tappt?« Sie schüttelte abermals den Kopf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Drei sind genug«, wiederholte sie, und diesmal klangen die Worte wie ein Befehl. »Fahre fort.«

Lyssa nickte. Der Blick ihrer großen, wasserklaren Augen heftete sich auf das geschlossene Fenster, und Andara erkannte deutlich die Furcht darin.

»Verzweifle nicht, Kind«, sagte sie mit einer Sanftheit, die keiner der anderen ihr zugetraut hätte. »Vielleicht werden wir sterben, aber der Tod ist nicht das, wofür ihn die meisten halten.« Sie lächelte geheimnisvoll und sagte noch einmal: »Fahre fort.«

Das Mädchen gehorchte. Ihre Augen blieben weiter geöffnet, aber ihr Blick wurde wieder leer, und ihre Hände, die bisher nervös an einem Zipfel ihres einfachen braunen Kattunkleides gespielt hatten, waren mit einemmal ganz ruhig.

Von draußen drangen gedämpfte Stimmen in den Raum, dann das Trappeln von Schritten, Türenschlagen und Hundegebell. Ein Pferd wieherte schrill, dann knallte eine Peitsche, und eine zornige Stimme begann zu fluchen.

Aber Lyssa schien von alledem nichts zu merken. Starr und wie gelähmt hockte sie auf ihrem Schemel, ohne die geringste Bewegung, ohne mit den Lidern zu zucken, ja, selbst ohne zu atmen.

»Spürst du ihn?« fragte Andara nach einer Weile. »Spürst du seine Nähe? Hört er unseren Ruf?«

Lyssa nickte. Ihr Blick flackerte, wurde für eine halbe Sekunde klar und verschleierte sich sofort wieder. Auf ihrer Stirn lag kalter, klebriger Schweiß.

»Ich fühle ihn«, flüsterte sie. »Er ... hat deinen Ruf gehört, Andara. Und er wird ... ihm folgen.« Sie schluckte. Ihre Stimme wurde brüchig und klang plötzlich wie die einer alten Frau. »Yog -«

»Sprich diesen Namen nicht aus!« Andara hob erschrocken die Hand und berührte die des Mädchens. Die Stimmen, die durch die geschlossenen Läden in den Raum drangen, wurden lauter, und plötzlich zerriß der peitschende Knall eines Schusses die Stille. Ein gellender Schrei antwortete wie ein bizarres Echo darauf.

»Sprich ihn nicht aus«, murmelte Andara noch einmal. »Es ist den Sterblichen verboten, seinen Namen zu benutzen. Es reicht, wenn er weiß, daß wir ihn rufen.«

»Er weiß es«, antwortete Lyssa mühsam. »Und er ... wird tun, was ... du verlangst.«

Andara antwortete nicht mehr. Ihr Gesicht war wieder zu einer Maske der Unberührbarkeit und des Alters erstarrt, und ihre Hände, die nebeneinander auf der Tischplatte lagen, als warteten sie nur darauf, zum Gebet gefaltet zu werden, sahen mehr denn je wie die einer Toten aus.

Nur in ihren Augen glomm ein böses, böses Lächeln auf ...


Die Kabine war dunkel und eng, und die Luft roch schlecht; wie es eben in einem fensterlosen Raum riecht, der viel zu klein für zwei Menschen ist und in dem zudem noch seit annähernd fünf Wochen ein Kranker liegt. Eine winzige, rußende Petroleumlampe schaukelte an einem Draht unter der Decke, und Bannermann hatte - fürsorglich, wie er nun einmal war - einen kleinen Tonkrug mit wohlriechenden Kräutern, den er weiß Gott wo aufgetrieben haben mochte, auf das schmale Wandregal neben der Tür stellen lassen. Aber auch er vermochte den muffigen Geruch, der sich in den Wänden eingenistet hatte, nicht vollends zu vertreiben. Wie fast immer, wenn ich hier herunter kam, hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.

Und wie immer, wenn ich diesen Gedanken dachte, überfiel mich fast sofort ein schlechtes Gewissen. Montague konnte nichts dafür, daß er krank war. Und er war sehr gut zu mir gewesen, obwohl ich es nun wirklich nicht verdient hatte.

Leise trat ich an das schmale, an der Wand verschraubte Bett, beugte mich über den Schlafenden und betrachtete sein Gesicht. Es hatte sich nicht verändert, weder zum Guten noch zum Schlechten. Seine Wangen waren noch immer grau und eingefallen, und unter den großen, in den letzten Tagen vom Fieber trübe gewordenen Augen lagen tiefe schwarze Ringe. Und es faszinierte mich noch immer so wie beim ersten Mal, als ich es gesehen hatte.

Ich erinnerte mich gut an jenen Tag, an jede Minute und jedes Wort, ja, jeden Blick, den er mir bei unserem ersten Zusammentreffen zugeworfen hatte, obwohl seither mehr als sechs Monate vergangen und so viel geschehen war. Ich war damals ein anderer, und das meine ich ganz genau so, wie ich es sage. Bannermann und seine Matrosen hätten den Mann, der ich damals gewesen war, nicht einmal erkannt, wenn er plötzlich neben mir gestanden hätte. Ich war vierundzwanzig, arm und abenteuerlustig (was nichts anderes bedeutete, als daß ich die Hälfte der acht Jahre, die ich in New York gelebt habe, in den dortigen Gefängnissen verbrachte), und lebte von Gelegenheitsarbeiten. Jedermann, der das New Yorker Hafenviertel kennt, weiß, was das bedeutet - nämlich, daß ich auch ab und zu einen ahnungslosen Fremden, der sich nach Dunkelwerden in diese Gegend verirrte, um Geldbörse und Schmuck erleichterte. Nicht, daß es mir Spaß gemacht hätte: ich bin nicht kriminell, und Gewalt ist mir zuwider. Aber es gibt einen Teufelskreis in den großen Städten an der Ostküste, aus dem man nicht mehr herausfindet. Als ich nach New York kam, war ich sechzehn und hatte außer den sechsundneunzig Einwohnern von Walnut Falls, dem Kaff, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, noch keine Menschenseele gesehen. Die Tante, bei der ich groß geworden bin (es war nicht wirklich meine Tante, sondern einfach eine grundgütige Frau mit einem großen Herzen, die sich meiner annahm, nachdem meine Eltern mich bereits als Säugling ausgesetzt hatten), war gestorben, und ihre gesamte Hinterlassenschaft bestand aus sieben Dollar, einem winzigen silbernen Kreuz an einer Kette - und einer Fahrkarte nach New York. In dem Brief, den sie ihrem Testament beifügte, erklärte sie mir, daß sie hoffte, ich würde in der großen Stadt mein Glück machen und ein anständiger Bursche werden.

Gute Tante Maude! Sie mochte die liebenswerteste Frau sein, die jemals gelebt hat, aber von den Menschen verstand sie nichts. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht glauben, daß die Welt schlecht ist.

Aber sie ist es, und ich brauchte nur ein paar Tage, um es herauszufinden. Die sieben Dollar waren bald aufgebraucht. Für einen Burschen vom Lande wie mich gab es in der Stadt kaum eine Arbeit, und schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als zu stehlen und mich einer der Jugendbanden anzuschließen, deren Revier die Hafenbezirke der Stadt waren. Ich schlief an den Kais, arbeitete, wenn ich etwas fand, und stahl, wenn ich nichts fand. Jetzt, im nachhinein, ist es mir ein Rätsel, wie es mir gelungen ist - aber irgendwie konnte ich mich während der gesamten acht Jahre meiner zweifelhaften Karriere von allen wirklich schweren Verbrechen fernhalten; wenn meine Kameraden einen größeren Einbruch begingen oder gar ein Mord geschah (auch das kam vor), war ich nie dabei.

Und trotzdem wäre ich wahrscheinlich über kurz oder lang in einem Zuchthaus oder am Galgen gelandet - wenn ich nicht Randolph Montague getroffen hätte.

Randolph Montague, der Hexer. Ich habe erst später erfahren, daß man ihn so nennt. Als ich ihn das erste Mal traf, stand er mit dem Rücken zu mir, in einer lässigen Pose, die seiner eleganten Kleidung und seiner distinguierten Erscheinung widersprach, gegen den Pfahl einer Gaslaterne gelehnt und eine seiner dünnen schwarzen Zigarren im Mundwinkel. Und ich lag zwei Schritte hinter ihm im Schmutz einer Mülltonne im Dreck und überlegte, wie ich ihn am sichersten bewußtlos schlagen konnte, um ihm die Geldbörse abzunehmen. Ich wunderte mich ein wenig, was ein Mann wie er kurz nach Mitternacht in einer so verrufenen Gegend verloren haben mochte, noch dazu allein und offensichtlich unbewaffnet. Er wäre nicht der erste Fremde, der aus falsch verstandener Abenteuerlust alle guten Ratschläge in den Wind schlug und nach Dunkelwerden hier herunter zum Hafen kam, um später auf irgendeiner Cocktailparty erzählen zu können, wie mutig er doch war. Nun, er würde sich wundern, wenn er am nächsten Morgen mit brummendem Schädel und leerer Brieftasche aufwachte.

Vorsichtig richtete ich mich hinter meiner Deckung auf, spähte sichernd die Straße hinab und packte den Sandsack, den ich ihm über den Schädel zu ziehen gedachte, etwas fester. Der Fremde regte sich nicht, sondern paffte weiter an seiner Zigarre und schien darauf zu warten, daß ihm der Himmel auf den Kopf fiel (was er gleich tun würde). Aber ich blieb weiter reglos hocken und wartete. Ich hatte Zeit; die Streife war erst in gut zwei Stunden fällig, und kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat und diese Gegend kannte, hätte sich nach Dunkelwerden hierher getraut. Ich beobachtete ihn fast eine Viertelstunde, ohne daß er sich bewegt hätte. Schließlich schnippte er seine Zigarre fort, nahm eine neue aus einem schmalen, silbernen Etui, das er in der Westentasche trug - ich registrierte es genau und fügte der Liste der Dinge, die ich am nächsten Morgen meinem Hehler bringen würde, einen weiteren Posten hinzu -, und riß ein Streichholz an.

Und genau in diesem Moment sprang ich vor.

Ich weiß bis heute nicht, wie er es gemacht hat. Eigentlich weiß ich nicht einmal sicher, was er gemacht hat; der Abstand zwischen ihm und mir betrug nicht einmal ganz zwei Schritte, und ich bin sicher, daß ich nicht den geringsten Laut verursacht hatte. Wenn man acht Jahre in den Slums von New York überlebt hat, dann hat man gelernt, sich wie eine Katze zu bewegen - aber das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß ich auf dem Rücken lag, nach Luft schnappte und auf die Klinge des Degens starrte, die Montague mir gegen die Kehle hielt. Und dabei lächelte er immer noch und paffte an seiner Zigarre, als wäre nichts geschehen.

Er hätte mich ins Zuchthaus bringen können, damals. Die Gerichte in den Staaten sind verdammt kleinlich - ein sandgefüllter Strumpf wie der, den ich bei mir hatte, gilt mit etwas Pech und einem Richter, der Zahnschmerzen und eine grantige Frau zu Hause hat, bereits als tödliche Waffe, und mein Überfall hätte mir im besten Fall fünf Jahre (und im schlechtesten fünfundzwanzig) eingebracht, hätte Montague mich der Polizei ausgeliefert. Er hätte mich auch auf der Stelle töten können; niemand hätte auch nur eine mißtrauische Frage gestellt.

Aber er tat nichts dergleichen, sondern steckte im Gegenteil seinen Degen ein, half mir auf die Füße - und bot mir mit dem freundlichsten Lächeln der Welt eine Zigarre an.

»Sie haben ziemlich lange gebraucht, um sich zu Ihrem Entschluß durchzuringen, junger Mann«, sagte er. Es waren die ersten Worte, die er zu mir sprach, und ich werde sie niemals vergessen. Er hatte gewußt, daß ich hinter ihm auf der Lauer lag, die ganze Zeit über, und er hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, mich daran zu hindern. Ich ignorierte die Zigarre, die er mir anbot; weniger, weil ich sie nicht mochte, als vielmehr, weil ich viel zu perplex war, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können, aber Montague grinste mich weiter an und fragte mich auf seine schon fast übertrieben höfliche Art, ob ich ihm zu seinem Wagen folgen würde.

Er brachte mich in ein Lokal - einen dieser piekfeinen teuren Schuppen, in denen ein halbes Dutzend Kellner in gestärkten Hemden herumschwirren und ein Glas Wein soviel kostet, wie unsereins in einer Woche verdient - und wir redeten. Zuerst sprach er, aber nach und nach brachte er mich dazu, von mir zu erzählen: von meiner Jugend, dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, Tante Maude, meinem Leben hier in New York - alles. Ich dachte damals, es wäre der ungewohnte Champagner, der meine Zunge löste, aber heute bin ich mir sicher, daß es nur an ihm lag. Ich weiß nicht wie, aber Montague brachte mich dazu, ihm mehr über mich zu erzählen als jemals einem anderen Menschen zuvor. Wir unterhielten uns die ganze Nacht, und als uns der Oberkellner schließlich hinauskomplimentierte, ging draußen bereits die Sonne auf.

Zum Abschied schenkte mir Montague dann sein silbernes Zigarrenetui und fünfzig Dollar.

Ich habe die Geschichte keinem erzählt - es hätte mir sowieso niemand geglaubt -, und nach ein paar Wochen begann ich den merkwürdigen Fremden zu vergessen.

Aber viereinhalb Monate später war er wieder da, und diesmal suchte er mich.

Er war verändert. Der Streifen weißen Haares über seinem rechten Auge war breiter geworden, und in seinem Blick lag ein gehetzter, fast angstvoller Ausdruck, den ich nur zu gut kannte. Er wirkte um Jahre älter als in jener Nacht, in der ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

Was er von mir wollte, war so einfach wie unglaublich: Mich. Er erzählte, daß er Amerika verlassen und nach England gehen würde, und er bat mich, ihn zu begleiten, offiziell als sein Sekretär, in Wirklichkeit als eine Art Mädchen für alles: Butler, Koch, Kutscher - und Leibwächter. Der letzte Teil seiner Eröffnung überraschte mich kaum noch. Ich habe den Ausdruck, der damals in seinen Augen stand, oft genug gesehen, um zu wissen, was in Randolph Montague vorging.

Er hatte Angst. Panische Angst.

Ich habe ihn nie gefragt, vor wem er davonlief, weder damals noch während der Überfahrt. Aber ich sagte zu. New York hat mir nie gefallen, und ich stehe auf dem Standpunkt, daß mir Amerika mehr genommen als gegeben hat - die fünfundzwanzig besten Jahre meines Lebens nämlich, die ich in Armut und Not verbracht hatte - und der Gedanke, auf diese Weise vielleicht eine zweite Chance zu bekommen und auf dem Kontinent noch einmal neu anfangen zu können, erschien mir verlockend.

Noch am gleichen Abend gingen wir an Bord des Schiffes, und als die Sonne am nächsten Morgen aufging, waren wir bereits fünfzig Meilen weit draußen auf See ...

Ein leises, mühevolles Stöhnen drang in meine Gedanken. Ich fuhr hoch, stand mit einer fast schuldbewußten Bewegung auf und beugte mich erneut über das Bett. Montagues Lider zitterten, aber er schien das Bewußtsein nicht zurückzuerlangen. Seine Haut glänzte fiebrig, und die Hände unter der dünnen Decke bewegten sich unablässig, als wollten sie etwas packen.

Ein seltsames Gefühl von Hilflosigkeit überkam mich. Montague war in mein Leben gekommen wie der Märchenprinz in das Aschenputtels; er hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes aus der Gosse aufgelesen, mir anständige Kleider gegeben und versucht, das aus mir zu machen, was Tante Maude als einen »anständigen Burschen« bezeichnet hätte. Alles, was er dafür verlangte, war meine Hilfe. Und ich konnte nichts für ihn tun. Gar nichts. Selbst das Chinin - das einzige Medikament, über das die Bordapotheke der LADY OF THE MIST verfügte - hatte sein Fieber nicht senken können.

Ich schluckte ein paarmal, um den üblen Geschmack, der sich auf meiner Zunge eingenistet hatte, loszuwerden, nahm den Wasserkrug vom Regal und befeuchtete ein Tuch, um seine Stirn zu kühlen. Es war nicht mehr als eine Geste, aber die Vorstellung, einfach untätig an seinem Bett zu sitzen und zuzusehen, wie er litt, war mir unerträglich.

Er erwachte, als ich das Tuch auf seine Stirn legte. Seine Haut war heiß; ich erschrak, als ich sie berührte.

»Robert?« Er öffnete die Augen, aber sein Blick war verschleiert, und ich hatte das sichere Gefühl, daß er mich nicht erkannte. Ich nickte, ergriff seine Hand und drückte sie leicht.

»Ja, Mister Montague«, antwortete ich. »Ich bin es. Es ist alles in Ordnung.«

»In ... Ordnung«, wiederholte er halblaut. Seine Stimme klang brüchig wie die eines Greises, und sein Atem roch schlecht. Er schwieg einen Moment, schloß die Augen und hob dann mit einem Ruck wieder die Lider. Diesmal war sein Blick klar.

»Wo sind wir?« fragte er. Er versuchte sich aufzusetzen, aber ich drückte ihn mit sanfter Gewalt auf das Kissen zurück. »Sind wir in ... England?«

»Fast«, antwortete ich. »Es ist nicht mehr weit.«

Er starrte mich an, schloß abermals die Augen und lauschte. »Das Schiff macht keine Fahrt«, sagte er nach einer Weile. »Ich dachte, wir ... wir wären in London.«

»Es ist nicht mehr weit«, wiederholte ich. »Wir liegen im Moment fest, aber sobald der Nebel sich gelichtet hat, segeln wir weiter. Morgen abend erreichen wir London. Dann bringe ich Sie zu einem guten Arzt.«

»Nebel?« Montague öffnete abermals die Augen, blickte mich einen Moment lang irritiert an und setzte sich halb auf. Diesmal ließ ich es zu. »Sagtest du Nebel?«

Ich nickte.

»Was ist das für ein Nebel?« fragte er. Seine Stimme klang alarmiert, und in seinen Augen glomm ein Ausdruck auf, der mir ganz und gar nicht gefiel. Für einen winzigen Moment blitzte vor meinem inneren Auge noch einmal das schuppige, grüne Ding auf, das ich zu sehen geglaubt hatte, draußen an Deck, und für die Dauer eines Atemzuges verspürte ich noch einmal einen Hauch jener abgrundtiefen Furcht, die die Halluzination in mir ausgelöst hatte.

Aber ich verscheuchte den Gedanken hastig und versuchte, meiner Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu geben, als ich antwortete: »Nichts Besonderes, Mister Montague. Nebel eben. Bannermann sagt, daß das hier in der Gegend ganz normal ist.« Das war glattweg gelogen, aber ich wollte ihn nicht beunruhigen. Es reichte vollkommen, wenn ich anfing, Gespenster zu sehen.

»Nebel«, murmelte Montague. Er hob den Kopf und sah zur Decke, und ich hatte das bedrückende Gefühl, daß sein Blick geradewegs durch das massive Holz hindurchging. »Was ist das für ein Nebel?« fragte er noch einmal. »Wann ist er aufgekommen? Ist etwas Besonderes an ihm?«

»Heute morgen«, antwortete ich verwirrt. Ich begriff nicht, worauf er mit seinen Fragen hinauswollte und begann mich insgeheim zu fragen, ob das Fieber bereits seinen Verstand zu umnebeln begann. »Und mir ist nichts Besonderes an ihm aufgefallen. Außer, daß er sehr dicht zu sein scheint.«

Ein leiser Schauer überfiel mich. Es war etwas Besonderes an diesem Nebel, und ich war plötzlich gar nicht mehr so sicher, daß ich mir das Ding dort draußen wirklich nur eingebildet hatte. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. »Es wird alles gut, Mister Montague. Morgen um diese Zeit sind wir in London, und wenn Sie erst einmal wieder festen Boden unter den Füßen haben, werden Sie schnell gesund.«

Ich versuchte zu lächeln. »Mich macht diese endlose Reise auch ganz krank. Ich ...«

Seine Hand zuckte unter der Decke hervor und krallte sich in meinen Arm, so fest, daß ich um ein Haar vor Schmerz aufgeschrien hätte. »Der Nebel, Robert!« keuchte er. »Ich muß alles über ihn wissen! Wann ist er aufgekommen, und aus welcher Richtung? Bewegt er sich? Bewegt sich etwas in ihm?«

Diesmal gelang es mir nicht mehr ganz, mein Erschrecken zu verbergen. »Ich ...«

»Du hast etwas gesehen«, keuchte Montague. »Bitte, Robert, es ist wichtig, für uns alle, nicht nur für mich. Du hast etwas gesehen, nicht wahr?«

Ich versuchte meinen Arm loszumachen, aber Montague entwickelte erstaunliche Kräfte. Sein Griff verstärkte sich eher noch.

»Ich ... bin nicht sicher«, antwortete ich. »Wahrscheinlich war es nur Einbildung. Diese verdammte Seefahrerei macht uns ja alle krank. Wer nach fünfunddreißig Tagen auf diesem Seelenverkäufer nicht anfängt, Gespenster zu sehen, der ist sowieso verrückt.«

Montague ignorierte meine Worte. »Was hast du gesehen?« fragte er. »Erzähle es mir. Genau!«

Ich zögerte noch immer, aber plötzlich war es wie damals, in jener ersten Nacht - es war etwas in seinem Blick, das mich einfach zwang, zu reden.

»Ich ... weiß es selbst nicht genau«, sagte ich stockend. Meine eigene Stimme kam mir wie die eines Fremden vor. »Es war ... nur ein Schatten. Etwas ... Großes und ... Grünes. Vielleicht ein Fisch.«

Montagues Augen schienen zu brennen. Ich spürte, wie sich seine Fingernägel noch fester in den Stoff meiner Jacke krallten und warmes Blut über meinen Arm lief. Seltsamerweise fühlte ich keinen Schmerz. »Etwas Großes«, wiederholte er. »Überlege genau, Robert - es kann sein, daß unser Leben davon abhängt. Sah es aus wie ein Fangarm? Wie der Arm eines Oktopus?«

»Es ... könnte sein«, antwortete ich. Montagues Worte erschreckten mich mehr, als ich zugeben wollte. »Aber es war ... größer.« Ich schüttelte den Kopf, atmete hörbar ein und machte meinen Arm mit sanfter Gewalt los. Montagues Augen schienen zu brennen, als er mich anstarrte.

»Es war nichts«, sagte ich noch einmal. »Bestimmt, Mister Montague. Ich ... dieser verfluchte Nebel macht mich nervös, das ist alles.«

Er lachte, aber es war ein Laut, der mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Nein, Robert«, antwortete er. »Das ist nicht alles. Ich ... hatte gehofft, England zu erreichen, ehe sie mich finden, aber ...«

»Finden?« Ich verstand nichts mehr, aber irgendwie fühlte ich, daß seine Worte mehr waren als die Fieberphantasien eines Kranken. Es geht mir oft so - ich weiß nicht, ob es eine besondere Begabung oder nur Zufall ist, aber ich spüre fast immer, ob mein Gegenüber die Wahrheit sagt oder nicht. Vielleicht war das auch der Grund, aus dem ich Montague vom ersten Augenblick an vertraut hatte.

»Ich verstehe nicht«, sagte ich hilflos. »Wer soll Sie finden, und was hat das mit dem Nebel zu tun?«

Er sah mich an, schwieg einen Moment und setzte sich dann ganz auf. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihn wieder auf das Bett zurückdrücken sollte, dann tat ich das Gegenteil und half ihm.

»Ich muß ... mit Bannermann sprechen«, sagte er. »Gib mir meine Kleider, Junge.«

»Ich kann ihn holen«, widersprach ich. »Es ist kalt an Deck, und -«

Montague unterbrach mich mit einem schwachen, aber trotzdem entschiedenen Kopfschütteln. »Ich muß hinauf«, sagte er. »Ich muß ... diesen Nebel sehen. Ich brauche Gewißheit.«

Gewißheit? Ich begriff überhaupt nichts mehr, aber ich versuchte auch nicht mehr, ihn von seinem Entschluß abzubringen, sondern half ihm, das schweißdurchtränkte Nachthemd auszuziehen und seine normalen Kleider anzulegen. Ich erschrak erneut, als ich ihn ohne Hemd sah - Montague war niemals ein kräftiger Mann gewesen, sondern von zarter, beinahe knabenhafter Statur und dem hellen Teint des Großstadtmenschen, der sein Haus nur verläßt, wenn es unumgänglich ist. Aber jetzt glich er einem wandelnden Skelett. Sein Körper war ausgezehrt. Die Rippen stachen wie dünne, blanke Knochen durch seine Haut, und seine Oberarme waren so dünn, daß ich sie mit einer Hand hätte umfassen können. Er hatte kaum die Kraft, Hemd und Hose anzulegen. Bei Gamaschen und Schuhen mußte ich ihm helfen, weil ihm schwindelig wurde, als er sich zu bücken versuchte. Er bot ein Bild des Jammers.

Trotzdem versuchte ich nicht noch einmal, ihn zu überreden, in der Kabine zu bleiben. Eines hatte ich in den fünfunddreißig Tagen, die ich jetzt mit ihm zusammen war, gelernt, nämlich, daß es unmöglich war, Randolph Montague irgend etwas auszureden, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.

Die Kälte schlug mir wie eine unsichtbare eisige Kralle ins Gesicht, als ich vor ihm ins Freie trat. Ich fröstelte, zog das dünne Cape, das ich über die Schulter geworfen hatte, enger zusammen und sah mich auf Deck um. Der Nebel war noch dichter an das Schiff herangekrochen und lastete wie eine undurchdringliche graue Mauer jenseits der Reling. Für einen Moment fiel es mir schwer, wirklich zu glauben, daß ich mich an Bord eines Schiffes befand. Um uns war kein Ozean mehr, sondern nur noch eine graue, triste Unendlichkeit, in der allenfalls noch Platz für Furcht war.

»O Gott«, keuchte Montague. Er trat gebückt hinter mir durch die Tür, blieb stehen und streckte die Hand aus, um sich auf meine Schulter zu stützen. Ich spürte, wie seine Hände zitterten. »Sie sind es«, flüsterte er. »Es ist ... schlimmer, als ich gefürchtet habe.«

Ich sah ihn fragend an, aber er schien mich gar nicht mehr zu bemerken. Sein Blick bohrte sich in die graue Wand, die das Schiff einschloß, und wieder sah ich in seinen Augen diesen Ausdruck von Furcht, den ich schon mehrmals an ihm beobachtet hatte.

»Wo ist ... der Captain?«

Ich hob den Kopf, sah zum Achterdeck hinauf und deutete auf Bannermanns untersetzte Gestalt, die sich wie ein tiefenloser, schwarzer Schatten gegen den grauen Hintergrund des Nebels abzeichnete.

»Bring mich zu ihm«, murmelte Montague.

Ich ergriff seine Hand, legte die andere stützend unter seinen Ellenbogen und führte ihn behutsam wie ein kleines Kind, das seine ersten zaghaften Gehversuche machte, die steile Treppe zum Achterdeck hinauf. In den Nebelwolken neben dem Schiff begann eine vage, nicht wirklich sichtbare Bewegung, und für einen ganz kurzen Moment glaubte ich, ein schweres, unendlich mühsames Atmen zu hören.

»Montague!«

Bannermann hatte uns entdeckt und kam mit weit ausgreifenden Schritten über das feuchtglitzernde Deck auf uns zugeeilt. Auf seinem Gesicht lag ein erschrockener Ausdruck, der aber fast unmittelbar in Zorn umschlug, als er vor uns stehenblieb und mir in die Augen sah. »Craven!« blaffte er. »Sind Sie vollends von Sinnen? Wie können Sie diesen Mann hier heraufbringen. Er ...«

»Es war mein eigener Wunsch«, unterbrach ihn Montague. Seine Stimme war so leise, daß sie nicht zu hören gewesen wäre, wäre es an Deck nicht so unnatürlich still gewesen. Trotzdem verstummte Bannermann sofort.

»Robert hat mir von diesem Nebel erzählt«, fuhr er fort. »Und ich mußte ihn sehen.« Er atmete hörbar ein, blickte an Bannermann und mir vorbei in den Nebel hinaus und ballte die Fäuste. Seine Lippen preßten sich zu einem dünnen Strich zusammen.

»Wie lange geht das schon so?« fragte er.

Bannermann war sichtlich irritiert. »Was?«

»Der Nebel«, erwiderte Montague ungeduldig. »Robert sagte, wir liegen seit Morgengrauen fest.«

»Nicht ganz«, sagte Bannermann. »Der Nebel ist zwei Stunden vor Sonnenaufgang aufgezogen, aber der Wind hat sich erst später gelegt.« Er überlegte einen Moment. »Drei Stunden«, sagte er dann. »Vielleicht dreieinhalb.«

»Dreieinhalb Stunden!« Montague erbleichte noch weiter. »Wir können nicht hierbleiben, Captain«, sagte er. »Das Schiff muß sofort Fahrt aufnehmen. Wir ... sind alle in Gefahr, wenn wir auch nur noch eine weitere Stunde hier liegen.«

Der Blick, mit dem Bannermann ihn maß, sprach seine eigene Sprache. Ich starrte den Captain durchdringend an und versuchte, den Kopf zu schütteln, ohne daß Montague es sah. Bannermann nickte ebenso unmerklich. Er hatte verstanden.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Captain«, sagte Montague leise. Er sah auf. »Und du auch, Robert - aber ich bin weder verrückt, noch phantasiere ich. Ich weiß sehr genau, was ich sage. Das ganze Schiff ist in Gefahr, jedermann hier an Bord. Dieser Nebel ist kein normaler Nebel. Wir müssen hier weg!«

Bannermann antwortete nicht sofort. Auf seinem Gesicht spiegelten sich widerstrebende Gefühle. Montagues Verhalten mußte ihm ebensolche Rätsel aufgeben wie mir; aber wie ich kannte er Montague als einen Mann, der normalerweise nicht mit dem Grauen Scherze trieb. Und vielleicht spürte auch er das Fremde, Bedrohliche, das in diesem Nebel zu lauern schien.

»Selbst wenn ich wollte«, antwortete er vorsichtig, »könnten wir keine Fahrt aufnehmen, Mister Montague.« Er schüttelte den Kopf, um seine Worte zu bekräftigen, und wies mit einer flüchtigen Geste nach oben. Montagues Blick folgte seiner Bewegung. Die Segel hingen schlaff und schwer von Feuchtigkeit, mit der der Nebel sie getränkt hatte, von den Rahen.

»Und es wäre auch viel zu gefährlich«, fügte Bannermann hinzu. »Diese Suppe ist so dicht, daß ich von hier aus nicht einmal den Bugsteven sehen kann. Ich kann das Schiff nicht blind segeln.«

»Sie begreifen nicht«, sagte Montague erregt. »Ich meine es ernst, Bannermann! Das ist kein normaler Nebel, und wenn ...«

»Mister Montague«, unterbrach ihn Bannermann betont. »Es wäre vielleicht wirklich besser, wenn Sie in Ihre Kabine gingen und in aller Ruhe abwarten, bis sich das Wetter geklärt hat.«

»Sie glauben, daß ich verrückt bin.«

Bannermann seufzte. »Das steht hier gar nicht zur Debatte, Mister Montague«, antwortete er, wobei er mir einen fast flehenden Blick zuwarf. Ich zuckte lautlos die Achseln und sah weg. »Ob ich Ihnen glaube oder nicht - wir können uns gar nicht bewegen. Die LADY ist ein Segelschiff, Montague, und ein Segelschiff bewegt sich nun einmal nicht, wenn kein Wind weht. Wir liegen fest.«

»Wir könnten rudern.«

Bannermann verdrehte die Augen. »Das hier ist ein Segelschiff«, sagte er noch einmal. »Keine Galeere. Wie stellen Sie sich das vor?«

»Es muß gehen«, beharrte Montague. »Wir haben vier Rettungsboote an Bord, und genügend Männer. Wenn sie die Boote aussetzen und die Männer rudern lassen, dann können sie das Schiff schleppen. Das geht zwar langsam, aber wir kommen von der Stelle!«

Bannermann starrte ihn an. »Das ist nicht Ihr Ernst.«

Montague nickte. »Oh doch, Captain, ich meine es ernst. Sogar todernst. Ich verlange gar nicht, daß Sie mir glauben. Wahrscheinlich täte ich es auch nicht, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Alles, was ich will, ist, daß Sie die Boote klarmachen und die Männer das Schiff aus diesem Nebel herausschleppen. Ein paar Meilen würden schon genügen. Sie verlieren unsere Spur, wenn wir uns bewegen.«

»Sie sind verrückt«, entfuhr es Bannermann.

»Vielleicht«, antwortete Montague ungerührt. »Aber das ist nicht Ihr Problem, Captain. Ich bezahle für die Extraarbeit. Jeder Mann, der ein Boot besteigt und rudert, bekommt eine Prämie von fünfzig englischen Pfund sobald wir London erreicht haben.«

»Fünf ...« Bannermann schluckte sichtlich. »Wir brauchen zehn Mann pro Boot«, sagte er. »Das sind zweitausend Pfund, Montague.«

»Ich kann auch rechnen«, knurrte Montague wütend. »Und mein Geld nützt mir nichts mehr, wenn ich tot bin.« Er griff in die Westentasche, winkte mich heran und drückte mir einen winzigen silbernen Schlüssel in die Hand. »Geh in die Kabine, Robert«, sagte er. »Das ist der Schlüssel zu meiner Kiste. Öffne sie und bring mir die braune Aktenmappe.« Zu Bannermann gewandt, fügte er hinzu: »Ich habe einen Kreditbrief der Bank of England bei mir, Captain. Wenn Sie darauf bestehen, kaufe ich Ihr Schiff.«

Es war ungefähr das Falscheste, was er in diesem Augenblick tun konnte. Bannermann mochte ein gutmütiger Mensch sein, aber das, was Montague ihm jetzt anbot, hatte ungefähr die Qualität einer Ohrfeige. »Ich glaube, Sie können sich den Weg sparen, Mister Craven«, sagte er gepreßt. »Ich brauche Ihr Geld nicht. Und kein einziger Mann meiner Besatzung wird auf Ihren Wahnsinnsvorschlag eingehen und das Schiff durch diesen Nebel schleppen. Der Nebel wird abziehen, und über kurz oder lang werden wir auch wieder Wind bekommen, Mister Montague. Wir warten.«

Montague wollte widersprechen, aber er kam nicht mehr dazu.

Hinter unseren Rücken erscholl ein heller, platschender Laut; ein Geräusch, als breche etwas mit Urgewalt aus der Wasseroberfläche hervor und fiele gleich darauf zurück; dann ein Schrei, so spitz und gellend, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte. Das Schiff erbebte wie unter einem Hieb. Montague, Bannermann und ich fuhren in einer einzigen Bewegung herum.

Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich erstarren. Es war kein Schrecken, keine Furcht, sondern etwas anderes, etwas, das viel, viel schlimmer war: eine eisige tödliche Leere, die sich wie eine lähmende Woge über meine Gedanken ergoß.

Der Nebel war noch dichter geworden und hüllte jetzt die gesamte vordere Hälfte des Schiffes ein. Aber er war nicht dicht genug, um den Blick auf die Reling zu verdecken. Besser gesagt, auf ein klaffendes Loch am Bootsrand, an dem sich die stabile, hölzerne Reling befunden hatte.

Die Bootsplanken waren wie mit einer Säge durchtrennt, und man konnte unschwer die Abdrücke riesiger, monströser Zähne im Holz erkennen. Und der Matrose, der noch vor Sekunden an jener Stelle gestanden hatte, war spurlos verschwunden ...


»Sie kommen.«

Quenton zuckte beim Klang der beiden Worte zusammen wie unter einem Hieb. Sein Blick irrte nervös durch die Scheune. Das geschlossene Tor und die vernagelten Fenster sperrten das Tageslicht aus und ließen die Gestalten der anderen zu unsicheren Schatten werden. Es war still; viel ruhiger, als es in einem Raum, in dem sich annähernd dreißig Personen aufhielten, hätte sein dürfen. Aber es war die Stille der Angst, die von den Menschen Besitz ergriffen hatte.

Leise - als fürchte er, durch ein zu lautes Geräusch den Mob draußen zu einem Angriff zu provozieren - erhob er sich, lehnte das entsicherte Gewehr gegen die Wand und trat vom Fenster zurück. Sofort huschte einer der anderen Männer herbei, nahm seinen Platz an dem vernagelten Fenster ein und schob den Lauf seines Gewehres durch einen der schmalen Schießscharten, die sie freigelassen hatten. Sie alle waren bewaffnet: mit Gewehren, Revolvern und Schrotflinten, einige auch nur mit Mistgabeln, Äxten oder großen Messern; selbst die Frauen, die sich in den hinteren Teil der Scheune zurückgezogen hatten und einen Schutzwall um das halbe Dutzend Kinder, das in Jerusalems Lot lebte, bildeten. Die unscheinbare Scheune hatte sich im Laufe der letzten zwanzig Minuten in eine Festung verwandelt. Wer immer sie stürmen wollte, würde einen hohen Blutzoll zahlen müssen.

Und trotzdem würden sie sterben. Quenton wußte es. Es war nicht einmal die Macht, die ihm dies verriet, sondern simples Kopfrechnen. Sie waren achtundzwanzig, die sechs Kinder und elf Frauen mitgezählt, und sie waren einfache Bauern und Jäger und hatten Angst, und dort draußen tobte ein aufgepeitschter Mob durch die Straßen, der nach Hunderten zählte und Blut sehen wollte. »Quenton?«

Quenton sah auf und erkannte das blasse Gesicht Marians, der Tochter seines Stiefbruders. Das Schrotgewehr in ihren schmalen Händen wirkte beinahe rührend. »Ja?«

»Wieso ... bist du hier?« fragte sie leise. Ihre Lippen zitterten, und obwohl sie fast flüsterte, spürte Quenton, daß jedermann in der Scheune ihre Worte aufmerksam verfolgte. Und daß sie auf seine Antwort warteten. Marian hatte nur die Frage ausgesprochen, die er in allen Gesichtern las, wenn er sich umsah. Sie waren ihm widerspruchslos hierher gefolgt, nachdem er Lyssas Haus verlassen und die Dorfbewohner zusammengerufen hatte. Aber sie alle wollten wissen, warum. »Warum bist du hier?« fragte Marian noch einmal. »Warum sind wir hier, Quenton?«

Durch das geschlossene Tor drangen Schreie. Ein Gewehr krachte, dann noch eines und noch eines, und irgend jemand begann schrill und hysterisch zu lachen. Irgendwo weiter entfernt war das Grölen der Menge zu hören. Aber es kam näher. Sehr schnell.

»Deshalb«, antwortete Quenton mit einer Kopfbewegung zum Tor. Nicht alle waren ihm gefolgt. Ein paar hatten versucht, sich in ihren Häusern und Kellern zu verbarrikadieren oder ihr Heil in der Flucht zu suchen. »Deshalb, Kind. Weil wir uns hier verteidigen können. Jeder, der durch dieses Tor kommt, wird sterben.«

»Das ist keine Antwort«, sagte Marian. In ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen, und als sie weitersprach, schien sie nur noch mit Mühe die Fassung zu bewahren. Sie schrie beinahe. »Du weißt genau, was ich meine, Quenton. Ihr ... ihr habt uns Sicherheit versprochen und Reichtum. Ihr habt gesagt, wir könnten hier in Ruhe leben und glücklich sein, und jetzt kommen sie, um uns zu töten!«

»Hör auf«, sagte Quenton leise. Aber Marian hörte nicht auf; im Gegenteil. Plötzlich ließ sie ihr Gewehr fallen, sprang mit einem halberstickten Schrei auf ihn zu und begann mit den Fäusten auf seine Brust einzuschlagen. »Ihr habt uns Sicherheit versprochen!« kreischte sie. »Ihr habt gesagt, ihr würdet uns beschützen, wenn sie einmal kämen! Wozu haben wir euch all die Jahre gedient? Wo ist die Macht, die ihr angeblich habt? Wo ...?«

Quenton packte sie grob bei den Schultern, stieß sie auf Armeslänge von sich fort und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Das Mädchen taumelte zurück, fiel auf ein Knie und preßte die Hand gegen ihre Wange. Quentons Finger malten sich deutlich auf ihrer Haut ab.

»Es ist nicht meine Schuld«, schrie er wütend. Er spürte, wie die anderen ihn anstarrten, und ihre Blicke kamen ihm vor wie Messer, die tief in seine Brust schnitten. Niemand sprach es aus, aber der Vorwurf war überdeutlich.

»Ich kann nichts dafür«, sagte er noch einmal. »Ich war bei Andara, bevor ich zu euch kam, aber sie wollte nicht kämpfen. Wir vier hätten sie aufhalten können, aber allein bin ich machtlos.«

»Und die Macht?« flüsterte Marian. »Der Pakt, den wir geschlossen haben? Wozu haben wir euch unsere Seelen verpfändet, wenn wir jetzt doch sterben müssen?«

»Ich kann sie nicht aufhalten«, sagte Quenton hilflos. »Ihr wißt so gut wie ich, daß es Roderick war, der uns diese Fremden auf den Hals gehetzt hat. Er ist es, der euch tötet, nicht die dort draußen. Sie merken es nicht einmal!«

»Aber er ist nur einer, und ihr seid vier.«

»Das sind wir nicht«, murmelte Quenton. »Lyssa, Andara und Lennard ziehen es vor zu sterben statt sich zu wehren. Werft es mir nicht vor, wenn sie feige sind.«

»Aber du!« beharrte Marian. »Du hast die Macht, Quenton. Du bist ein Hexer wie sie! Du hast es oft genug bewiesen. Rette uns!«

»Ich kann es nicht«, sagte Quenton verzweifelt. »Ich kann nicht gegen Hunderte kämpfen!«

»Rette uns!« beharrte Marian. »Du hast es versprochen. Du ...«

Ein einzelner Schuß krachte. Aus der Wand neben Quentons Schulter ragten plötzlich verkohlte Holzsplitter, und zwischen Marians Brüsten erschien ein kleines, rundes Loch. Das Mädchen stieß einen fast überraschten, seufzenden Laut aus, starrte Quenton noch eine halbe Sekunde lang aus schreckgeweiteten Augen an und kippte langsam nach vorne.

Jemand schrie, und der Mann, der Quentons Platz am Fenster eingenommen hatte, erwiderte das Feuer. Plötzlich krachten überall Schüsse. Männer, Frauen und Kinder schrien durcheinander, als die Angreifer aus Dutzenden von Gewehren gleichzeitig das Feuer eröffneten. Quenton warf sich mit einem Fluch zur Seite, rollte herum, als der Mann am Fenster plötzlich zusammensackte und der Boden rings um ihn herum unter den Einschlägen von Geschossen zu explodieren schien, und war mit einer katzenhaften Bewegung wieder auf den Füßen. Wieder peitschten Schüsse, eine ganze Salve diesmal. Einer der Fensterläden platzte wie unter einem gewaltigen Hammerschlag auseinander. Irgend etwas biß heiß und schmerzhaft in Quentons Schulter, aber er spürte den Schmerz kaum.

Im Zickzack rannte er durch den Raum, warf sich mit weit vorgestreckten Armen nach der Leiter, die zum Heuboden hinaufführte, und bekam die unterste Stufe zu fassen. Das Brüllen und Johlen der Meute draußen wurde immer lauter; gleichzeitig nahm das Schießen ab. Offensichtlich glaubten sie, mit den ersten paar Salven den Widerstand der Verteidiger gebrochen zu haben, und kamen nun näher heran. Ein wuchtiger Schlag traf die Tür. Einer der Männer riß sein Schrotgewehr an die Wange und schoß dicht hintereinander beide Läufe ab. Die Tür verschwand hinter einer Wolke explodierender Holzsplitter und Staub. Ein gellender Schrei drang von draußen herein, dann antwortete eine ganze Salve krachender Gewehrschüsse.

Quenton sah nicht mehr hin. So schnell er konnte, kletterte er die Leiter empor, zog sich mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung auf den Heuboden hinauf und blieb eine Sekunde lang keuchend und mit geschlossenen Augen liegen, ehe er sich hochstemmte und auf Händen und Knien zu der offenstehenden Luke über dem Scheunentor kroch. Auch hier war einer der Männer postiert gewesen. Er war tot. Seine Hände umklammerten noch das Gewehr, mit dem er versucht hatte, sein Leben und das seiner Familie zu verteidigen.

Quenton kämpfte den ohnmächtigen Zorn, den der Anblick in ihm auslöste, nieder, schob den reglosen Körper zur Seite und näherte sich vorsichtig der Luke.

Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Es war nicht einmal zehn Minuten her, daß er in die Scheune gekommen war, aber er erkannte die Stadt nicht wieder.

Jerusalems Lot brannte. Die Hälfte der noch nicht einmal zwei Dutzend Gebäude, aus denen das Dorf bestand, stand lichterloh in Flammen, und die Straße glich einem Tollhaus. Überall lagen Menschen, viel mehr, als Jerusalems Lot überhaupt Einwohner hatte. Die Angreifer mußten sich in ihrer Raserei gegenseitig niedertrampeln. Aber der Anblick erfüllte Quenton weder mit Zufriedenheit noch mit Triumph. Die aufgebrachte Menge dort unten bedeutete ihm nicht mehr als eine Herde wilder Tiere, die einem anderen, stärkeren Willen gehorchten. Quenton wußte selbst nur zu gut, wie leicht es war, Menschen zu beeinflussen. Je erregter sie waren, desto einfacher war es für jemanden, der sich mit Hexerei und Magie auch nur ein bißchen auskannte.

Und Roderick war ein Meister der Schwarzen Magie. Quenton war sich nicht einmal sicher, ob die vereinten Kräfte von Andara, Lyssa, Lennard und ihm selbst ausgereicht hätten, Roderick in einem offenen Kampf zu schlagen. Aber der Verräter hatte sich diesem Kampf nie gestellt, sondern war geflohen. Jetzt schickte er seine Kreaturen, dachte Quenton haßerfüllt um zu vollenden, wozu er selbst zu feige gewesen war.

Irgendwo unter ihm krachte ein Schuß. Die Kugel fuhr mit einem dumpfen Klatschen eine Handbreit neben Quentons Knie in den Holzboden und wirbelte Heu und trockenen Staub hoch.

Quenton zog sich hastig in den schwarzen Schlagschatten der Wand zurück, hob die Hand und machte eine rasche, kaum sichtbare Bewegung.

Unter ihm, im Herzen des aufgebrachten Mobs, der auf die Scheune zudrängte, ließ ein grauhaariger Mann sein Gewehr fallen, griff sich mit beiden Händen an die Kehle und versuchte vergeblich zu atmen. Er taumelte, brach in die Knie und wurde von den Nachdrängenden zu Boden gerissen.

Quenton atmete hörbar ein. Das Gebäude zitterte unter dem unablässigen Krachen von Schüssen, den Hieben von Gewehrkolben und Äxten, mit denen sich die Angreifer Zutritt zu schaffen versuchten, aber er schob alles von sich, drängte jeden bewußten Gedanken beiseite, versuchte, den Lärm und die Schreie unter sich zu ignorieren und sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er wußte sehr wohl, daß er das Unmögliche versuchte. Selbst zu viert hätten sie die aufgebrachte Meute kaum zurückhalten können - für ihn allein war es so, als wolle er mit bloßen Händen einen berstenden Staudamm zusammenhalten. Aber er würde nicht kampflos sterben.

Einer der Männer, die fünf Meter unter Quenton gegen das Tor hämmerten, erstarrte plötzlich, hob in einer langsamen, widerwilligen Bewegung das Messer, das er in der rechten Hand trug, - und nahm sich selbst das Leben. Er war tot, bevor sein Körper den zerwühlten Boden berührte.

Aber hinter ihm drängten hundert andere heran.


Bannermanns Hände zitterten. Er hatte kein Wort gesprochen, seit wir das Achterdeck verlassen hatten, und selbst jetzt schien er noch Mühe zu haben, seine Fassung nicht vollends zu verlieren. Sein Gesicht war weiß; nicht einfach blaß, sondern weiß.

»Was ist ... passiert?« krächzte er mühsam. Die Frage galt einem der Matrosen, die aus allen Richtungen herbeigeeilt waren und das Loch im Schiffsrumpf in weitem Kreis umstanden.

Der Mann schüttelte nervös den Kopf. »Ich ... weiß es nicht«, murmelte er. Sein Blick flackerte unstet, und in seinen Augen war deutlich Angst zu lesen.

»Verdammt, Mannings. Sie haben doch in der Nähe gestanden, als es passierte!« blaffte Bannermann. »Sie müssen etwas gesehen haben.«

»Ich ... es ... es ging zu schnell«, stotterte Mannings. »Es war plötzlich da und hat nach ihm geschnappt, und dann ...«

»Was war plötzlich da?« fragte Bannermann scharf.

Mannings senkte unsicher den Blick. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ein ... ein Ding. Ich konnte es nicht richtig erkennen. Es war wie ... wie eine Schlange, aber viel größer und dicker, und ... es war grün und ... und ...«

Bannermann keuchte. »Sie -«

»Lassen Sie ihn, Captain«, fiel ihm Montague rasch ins Wort. »Der Mann hat recht.«

Bannermann wollte auffahren, aber ein einziger Blick in Montagues Gesicht ließ ihn verstummen. Zwei, drei Sekunden lang hielt er Montagues Blick stand, dann wandte er sich mit einem Ruck um und senkte den Kopf. »Wahnsinn«, flüsterte er. »Das ist der helle Wahnsinn.«

»Es ist schlimmer, als ich dachte«, murmelte Montague. Die Worte galten mir, aber ich merkte es erst, als er mich am Arm berührte und mir mit einer Kopfbewegung andeutete, ihm zu folgen.

Ich erwachte wie aus einem Traum. Das furchtbare Geschehen - und vor allem Mannings Worte - hatten mich gelähmt. Wie eine Schlange hatte er gesagt. Aber viel größer und dicker ... und es war grün. Was er beschrieb, war genau das, was ich vorhin draußen im Nebel zu sehen geglaubt hatte.

»Robert!« Montagues Stimme klang warnend, und diesmal riß ich mich zusammen und scheuchte die Gedanken zurück, so gut ich konnte. »Nicht jetzt«, flüsterte er hastig, als ahne er meine nächste Frage voraus. »Ich erkläre dir alles, aber jetzt ist keine Zeit dazu. Komm mit.«

Weder Bannermann noch einer seiner Matrosen nahm auch nur Notiz von uns, als wir zum Achterbau zurückgingen und Montague die Tür öffnete. Er ging so schnell, daß ich fast Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen. Seinen Schritten war nicht mehr die geringste Spur von Schwäche oder Unsicherheit anzumerken, aber ich registrierte es nur noch, ohne mich darüber zu wundern. Ich fühlte mich noch immer wie betäubt. Wir erreichten unsere Kabine. Montague drängte sich vor mir durch die Tür, schleuderte seinen Mantel achtlos auf das Bett und streckte fordernd die Hand aus. »Den Schlüssel, Robert.«

Ich gab ihm den kleinen, silbernen Schlüssel zurück, den er mir erst vor wenigen Minuten ausgehändigt hatte, trat neben ihn und half ihm, die schwere Seekiste unter dem Bett hervorzuziehen und auf den Tisch zu stellen. Es war nicht das erste Mal. Zu Anfang der Reise, bevor er krank wurde, hatte er die Kiste beinahe täglich geöffnet. Aber es war das erste Mal, daß er mich dabei zusehen ließ. Bisher hatte er mich stets aus dem Raum geschickt und sich eingeschlossen, bevor er den Deckel hochklappte. Und auch diesmal öffnete er ihn nicht gleich, sondern drehte den Schlüssel im Schloß, hob den Deckel eine Winzigkeit an und ließ ihn wieder zurücksinken.

»Ich muß dich um ein Versprechen bitten, Robert«, sagte er ernst. Ich nickte, schwieg aber weiter, und Montague fuhr nach einer winzigen Pause fort: »Was du jetzt siehst, muß auf ewig dein Geheimnis bleiben. Ganz gleich, was auch geschieht, du darfst niemals über den Inhalt dieser Kiste reden, Robert. Schwöre es mir.«

»Ich schwöre es«, antwortete ich rasch.

Aber Montague schüttelte den Kopf. »So nicht, Robert«, sagte er ernst. »Schwöre es bei deiner Seele.«

Unter anderen Umständen hätten die Worte und die Art, in der er sie aussprach, schlichtweg lächerlich gewirkt. Aber jetzt, nach allem, was geschehen war, hatte ich das Gefühl, von einer unsichtbaren eisigen Hand am Grund meiner Seele berührt zu werden. Plötzlich fror ich.

»Ich schwöre es«, murmelte ich. »Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.«

Montague lächelte, aber wie beinahe immer blieben seine Augen ernst. »Dann hilf mir.«

Er öffnete den Kistendeckel, trat zurück und winkte mir mit der Hand, neben ihn zu treten.

Ich wußte nicht, was ich erwartet hatte - aber im ersten Moment war ich enttäuscht. Die Kiste war eine ganz normale Kiste, vollgestopft mit Kleidungsstücken und allerlei Dingen, die man auf einer Reise benötigt. Obenauf lag die braune Aktenmappe, die er vorhin an Deck erwähnt hatte. Aber Montague schenkte weder ihr noch dem restlichen Inhalt irgendeine Beachtung, sondern fuhr mit spitzen Fingern über die Innenseite des Deckels. Ein leises, metallisches Knacken ertönte. Montague nickte zufrieden, vergrub die Hände in der Kiste und hob mit einem Ruck den gesamten Einsatz heraus. Darunter kam ein Geheimfach zum Vorschein, bis auf den letzten Fingerbreit gefüllt mit Büchern, farblosen Glasfläschchen und -gefäßen mit den verschiedenartigsten Substanzen und unterschiedlich großen, ledernen Etuis unbekannten Inhalts. Über allem lag ein dünner, grauer Schleier wie Staub oder transparente Spinnweben. Montague drückte mir den Koffereinsatz in die Hand, wartete ungeduldig, bis ich ihn auf meinem Bett abgeladen hatte, und winkte mich erneut zu sich heran.

»Das war es, was ich dir zeigen wollte, Robert«, sagte er. »Ich hätte das Geheimnis für mich behalten, aber es geht jetzt nicht mehr anders. Du mußt mir ein zweites Versprechen geben, Robert. Wenn ... ich sterben sollte, dann mußt du den Inhalt dieses Faches vernichten. Der Schaden, der entstehen könnte, wenn er in falsche Hände geriete, wäre unermeßlich.«

»Sterben? Aber ...«

»Ich weiß, wovon ich rede, Robert«, unterbrach mich Montague. »Du hast den Nebel gesehen, und du hast gesehen, was mit dem Matrosen passiert ist.«

»Aber ich verstehe es nicht«, murmelte ich hilflos.

»Das kannst du auch nicht, Junge«, antwortete Montague sanft. »Aber ich brauche trotzdem deine Hilfe. Das, was dort oben an Deck geschehen ist, war nur eine Warnung. Ich fürchte, der eigentliche Angriff steht uns noch bevor. Und ich weiß nicht, ob ich allein stark genug bin, ihn abzuwehren.«

»Angriff? Aber wer sollte ...?«

»Ich habe Feinde, Robert«, sagte er leise. »Mächtige Feinde. Ich fürchte, sie sind noch mächtiger, als ich bisher geglaubt habe.«

»Die, vor denen Sie aus New York geflohen sind?«

»Du weißt davon?«

Ich nickte. »Es ist nicht sehr schwer, zu erkennen, wenn ein Mann Angst hat«, sagte ich. »Ich habe es gleich gespürt.«

In seinen Augen erschien ein Ausdruck, der mich noch weiter verwirrte. Es schien, als freue er sich über das, was er soeben gehört hatte, wurde aber übergangslos wieder ernst. »Vielleicht finde ich später Zeit, es dir zu erklären, Robert«, fuhr er fort. »Jetzt muß das Wenige, das du ohnehin weißt, genügen. Ich werde verfolgt, und ich fürchte, ich habe auch dein und das Leben der Männer an Bord dieses Schiffes in Gefahr gebracht. Das Wesen, das du gesehen hast und das den Matrosen getötet hat, wird nicht eher ruhen, bis es seinen Auftrag erfüllt hat.« Er seufzte, wandte sich um und griff in die Kiste. Als seine Hand durch die graue Staubdecke stieß, schien eine rasche Wellenbewegung durch den Schleier zu laufen, als wäre er flüssig. Aber seine Haut war trocken, als er die Hand wieder zurückzog.

Auf seiner Handfläche lag ein winziges Medaillon. Seine Form erinnerte vage an einen fünfeckigen Stern, war aber gleichzeitig ganz, ganz anders. Ich hatte nie etwas Derartiges gesehen. Es war, als entzöge sich das Medaillon auf magische Weise jedem Versuch, es genau zu betrachten. Das einzig klar Erkennbare an ihm war ein daumennagelgroßer, blutroter Stein, der wie ein starres Auge in seinem Zentrum eingebettet war.

»Nimm es«, sagte Montague. »Nimm es und trage es bei dir, bis alles vorbei ist. Es wird dich beschützen.«

Gehorsam streckte ich die Hand aus und nahm das kleine Schmuckstück entgegen. Es war erstaunlich schwer, und als ich es genauer betrachtete und ins Licht hielt, sah ich, daß es aus purem Gold geformt war. Es fühlte sich warm an, warm und auf unbestimmte Weise weich, lebendig.

»Was ist das?« fragte ich.

Montague beugte sich wieder über seine Kiste und kramte in ihrem Inhalt herum, ohne daß ich genau erkennen konnte, was er tat. »Ein Talisman«, antwortete er. »Aber auch eine Waffe. Vielleicht die einzige, die uns vor dem Wesen, gegen das wir kämpfen werden, schützt.« Er richtete sich auf und klappte den Kistendeckel zu. Als er sich umdrehte, entdeckte ich eine dünne, goldene Kette um seinen Hals. An ihrem Ende hing ein fünfeckiger goldener Stern; ein genaues Ebenbild des kleinen Talismans, den ich in der Hand hielt, nur etwa dreimal so groß.

Aber das war beileibe nicht die einzige Veränderung, die mit ihm vonstatten gegangen war. Zum ersten Mal seit Wochen war Randolph Montague wieder der Mann, den ich vor sechs Monaten in New York kennengelernt hatte. Die tiefen Linien, die die Krankheit in sein Antlitz gegraben hatten, waren verschwunden, seine Haut hatte sich geglättet und wie von Zauberhand wieder einen gesunden, beinahe frischen Farbton angenommen, und auch seine Haltung wirkte deutlich straffer und kraftvoller als noch vor Augenblicken. Und er strahlte Kraft aus. Eine Kraft, die seine Gestalt wie eine unsichtbare Aura umgab.

»Großer Gott!« entfuhr es mir. »Was ... wie haben Sie das gemacht? Das ... das grenzt an Zauberei!«

Montagues Lächeln wurde ein ganz kleines bißchen spöttischer, als er auf mich zutrat und mich am Arm berührte. »Es grenzt nicht nur an Zauberei, Robert«, sagte er leise. »Es ist Zauberei - wenigstens würdest du es so nennen, wenn du es verstehen könntest.« Und plötzlich wurde er ernst. Sehr ernst. Der Blick seiner Augen war mit einemmal wie Eis. »Ich hätte es dir gern auf andere Weise erklärt, Junge«, sagte er. »Aber ich fürchte, du wirst alles sehr viel schneller lernen müssen, als gut ist. Mein Name ist nicht Randolph Montague, Robert.

Ich bin Roderick Andara. Der Hexer.«


Der Ort glich einem brodelnden Hexenkessel. Die Schreie der Sterbenden, das Grölen der blutdürstigen Menge, Schüsse und Schritte, das Prasseln und Krachen der brennenden Häuser, das Schreien panikerfüllter Tiere und Menschen, alles vermengte sich zu einer Symphonie des Wahnsinns, einem grauenhaften Konzert des Todes, das den blutigen Orkan begleitete, der über Jerusalems Lot hinwegfegte. Nur hier, in der winzigen Hütte im Herzen des Dorfes, die wie durch Zauberei bisher als einziges Gebäude von den Tobenden verschont worden war, herrschte noch Schweigen. Der Lärm drang durch die dünnen Wände und Fenster, aber er wirkte unwirklich und konnte das Schweigen nicht brechen; nicht wirklich.

»Ich ... kann nicht mehr«, murmelte Lyssa. Die junge Frau hatte sich in den letzten Minuten auf schreckliche Weise verändert. Ihr Gesicht war eingefallen und grau, die Augen blind, erstarrte, weiße Kugeln, die von einer furchtbaren Gewalt geblendet worden waren, und ihr Haar war schlohweiß geworden. Ihr Körper verfiel zusehends. Das magische Feuer, das in ihrem Geist wütete, verbrannte in Minuten die Kraft, die ihn normalerweise noch Jahrzehnte am Leben gehalten hätten.

»Ich ertrage es nicht mehr«, keuchte sie. »Das Töten und das Morden ... all die Gewalt und ... den Schmerz ...«

»Halte durch, Kind«, wisperte die greise Alte neben ihr. Ihre Stimme klang beschwörend. »Laß sie töten! Es ist ihre Wut, die du fühlst. Es ist der Schmerz und der Zorn derer, die dort draußen sterben, und ihr Schmerz ist es, der ihn ernährt! Er braucht diese Kraft, wenn er unsere Rache vollziehen soll.«

Lyssa wimmerte. Ihre Hände krallten sich in das Holz der Tischplatte. Die Fingernägel brachen ab. Sie spürte es nicht einmal mehr. Ihr Geist war längst zerbrochen, und selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie die geistige Verbindung, zu der die Alte sie gezwungen hatte, nicht mehr lösen können. Sie war nur noch ein Werkzeug, das Tor, durch das die psychische Gewalt, die sich rings um sie herum austobte, hinüberfloß, das Jerusalems Lot mit einem Ort fast auf der anderen Seite der Welt verband.

Rings um sie herum erreichte das Chaos seinen Höhepunkt. Lyssa spürte, wie das Leben aus ihr wich.

Aber sie spürte auch, wie im gleichen Maße, in dem die unsichtbare Flamme in ihr schwächer brannte, Tausende von Meilen entfernt ein unbeschreibliches, unglaubliches Etwas stärker wurde ...


»Der Hexer!« Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach, aber es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich diese Gabe verfluchte. Ich hätte in diesem Moment alles darum gegeben, die Augen verschließen und seine letzten Worte einfach vergessen zu können. Randolph Montague, der Mann, der sich wie ein Vater um mich gekümmert hatte und den ich beinahe wie einen solchen liebte - der Hexer!

»Es tut mir leid, Robert«, sagte er leise. »Ich hätte es dir gerne auf andere Weise gesagt, später, nachdem du mich besser kennengelernt hättest. Aber nicht alles, was man über mich erzählt, ist wahr, das mußt du mir glauben.«

»Aber Sie ... Sie ...« Ich stockte, senkte verwirrt den Blick und suchte vergeblich nach Worten. Meine Gedanken drehten sich wirr im Kreis. Ich hatte von ihm gehört, so, wie man eben von einem Mann wie ihm hörte, und wenn auch nur ein Zehntel von dem stimmte, was man sich über den Meister der Schwarzen Magie erzählte, dann stand ich einem Teufel in Menschengestalt gegenüber. Andara war ein Verbrecher, ein Mann, dem man ein Dutzend Morde und eine Unzahl anderer Untaten vorgeworfen, aber niemals irgend etwas hatte beweisen können. Es hieß, daß er mit dem Teufel selbst im Bunde sei, und ich kenne eine ganze Menge Leute, die dies allen Ernstes behauptet haben.

»Sie ...«

»Ich habe dich nicht gerne belogen, Robert«, sagte er sanft. »Aber es mußte sein. Ich habe mächtige Feinde, Robert, und ich mußte meinen Namen ändern, um ihnen zu entkommen. Aber es hat nicht viel genutzt.«

»Dann sind Sie wirklich ... wirklich ein Hexer?« fragte ich mühsam.

Andara blickte mich einen Herzschlag lang ernst an, warf plötzlich den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen.

»Ich beherrsche eine Anzahl von Tricks, das stimmt«, sagte er amüsiert. »Und ich habe mein Leben damit verbracht, Dinge zu studieren, die den meisten anderen verborgen bleiben.«

»Aber all die Dinge, die man Ihnen vorwirft, die ...«

»Sprich es ruhig aus«, sagte er, als ich nicht weitersprach. »Die Verbrechen. Ich habe nichts davon getan, Junge, aber die Menschen haben Angst vor meinen Fähigkeiten. Sie haben Angst vor dem, was ich tue, und Angst und Haß sind nahe Verwandte. Sie betrachten alles als feindselig und böse, was sie nicht verstehen.« Er nickte betrübt. »Es hat lange gedauert, bis ich es begriffen habe, Robert, sehr lange. Aber es war überall das gleiche, wohin ich auch kam. Wenn sie meine Hilfe brauchten, haben sie mich geholt, aber nach einiger Zeit begannen sie mich zu fürchten, schließlich zu hassen. Wenn in einer Stadt, in der ich war, ein Kind starb, wenn eine Frau eine Mißgeburt hatte oder die Ernte vom Hagel vernichtet wurde, dann wiesen sie mit dem Finger auf mich und sagten: Das war der Hexer. Zu Anfang habe ich mich dagegen gewehrt, aber nach einer Weile habe ich es aufgegeben.« Er lachte, aber es klang bitter. »Ich hatte gehofft, in Europa meinen Frieden zu finden, aber es sieht so aus, als ob mir mein Fluch folgt, wohin ich auch gehe. Vielleicht kann man seinem Schicksal nicht davonlaufen.«

Jemand klopfte gegen die Tür. Montague - Andara! - zuckte erschrocken zusammen, verbarg mit einer raschen Bewegung die Kette mit dem goldenen Stern unter seinem Hemd, trat an mir vorbei und schob den Riegel zurück. Auf dem nur unzureichend erhellten Korridor stand ein Matrose. Mannings, wie ich nach wenigen Sekunden erkannte.

»Der ... der Captain schickt mich«, begann er unsicher. »Er möchte Sie sehen, Mister Montague.« Sein Blick wich dem Andaras aus. Er trat nervös auf der Stelle und schien nicht so recht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte.

»Er fragt, ob ... ob Sie zu ihm aufs Achterdeck hinaufkommen können.«

»Warum kommt er nicht hierher?« fragte ich, aber Andara winkte hastig ab.

»Laß nur, Robert«, sagte er. »Ich muß sowieso hinauf an Deck. Sei so gut und gib mir Mantel und Stock.«

Ich gehorchte, hängte ihm das dünne schwarze Cape über die Schultern und nahm den schlanken Spazierstock - unter dessen silbernem Knauf sich die Klinge des Degens verbarg, den ich selbst schon an der Kehle gefühlt hatte - aus dem Koffereinsatz. Ohne ein weiteres Wort folgten wir Mannings an Deck.

Bannermann erwartete uns bereits ungeduldig. Er hatte seinen schweren Wollmantel gegen eine schwarze Öljacke getauscht, die ihm zwar kaum Schutz vor der Kälte bot, in der er sich aber besser bewegen konnte. Ich sah, daß er eine Pistole im Gürtel stecken hatte. Und auch die Matrosen, die in kleinen Gruppen auf dem Deck herumstanden, leise miteinander redeten oder einfach verbissen in den Nebel hinausstarrten, waren bewaffnet - ein paar mit Gewehren, die meisten mit Messern oder Beilen, einige auch mit Enterhaken oder langen Belagnägeln. Trotz des Ernstes der Situation mußte ich ein Lächeln unterdrücken. Die Männer erinnerten mich an Kinder, die sich vorgenommen hatten, Pirat zu spielen.

Aber das Gefühl der Heiterkeit verflog sofort, als ich an Bannermann vorbei sah und den Nebel erblickte. Obwohl ich es nicht mehr für möglich gehalten hatte, war er noch dichter geworden, und die Stille, die ihn begleitete, hatte jetzt etwas Erstickendes.

»Montague«, begann Bannermann übergangslos. »Ich muß mit Ihnen reden.« Zwischen seinen Brauen entstand eine Falte, als wir uns ihm näherten, und er sah, wie gesund und kräftig der Mann, um dessen Leben er und ich noch vor wenigen Stunden gezittert hatten, plötzlich war. Aber er verlor kein einziges Wort darüber. »Sie wissen mehr, als Sie bisher zugegeben haben«, behauptete er plötzlich. »Sie wissen, was den Mann getötet hat, nicht?«

Andara sah ihn ernst an, drehte sich halb um und blickte aus zusammengekniffenen Augen über das Deck zu der herausgebissenen Stelle, die im Nebel nur noch ein großer, finsterer Schatten war.

»Ja«, antwortete er nach sekundenlangem Zögern. »Jedenfalls fürchte ich es. Aber ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären«, fügte er hinzu, bevor Bannermann Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. »Ich wäre so oder so zu Ihnen gekommen, Captain. Wir müssen hier verschwinden. Das Schiff muß sofort Fahrt aufnehmen. Was gerade passiert ist, war nur der Anfang, Bannermann. Dieses Ding wird weiter töten, wenn wir hierbleiben.«

»Aber ich kann es nicht!« begehrte Bannermann auf. Sein Zorn hatte etwas Hilfloses, und für einen Moment tat er mir leid. Ich wußte, wie schwer es war, sich gegen Andara durchsetzen zu wollen. »Ich weiß nicht, was dieser verdammte Nebel zu bedeuten hat, und wenn ich ehrlich sein soll, dann beginne ich allmählich wieder an den Klabautermann zu glauben, aber das Schiff kann sich nicht bewegen, Montague!«

»Dann müssen wir rudern.«

Bannermann stieß einen komisch klingenden Laut aus. »Rudern? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß auch nur einer meiner Männer einen Fuß in eines der Boote setzen wird, solange dieses Monster dort draußen ist? Sie haben doch gesehen, was mit Gordon passiert ist!«

»Ich werde sie schützen«, sagte Andara. »Ich weiß, daß es gefährlich ist, aber wir haben keine andere Wahl. Keiner Ihrer Männer wird London lebend erreichen, wenn wir das Schiff nicht von der Stelle bewegen können.«

»Wissen Sie, wieviel die LADY wiegt?« fragte Bannermann. Seine Stimme zitterte. »Es ist so gut wie unmöglich, ein Schiff dieser Größe mit nur vier Booten zu schleppen. Und die Männer werden sich weigern. Sie haben Angst, Montague!«

Andara schwieg einen Moment, aber der innere Zweikampf, der sich hinter seiner Stirn abspielte, war deutlich in seinem Gesicht zu lesen.

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, murmelte er schließlich. »Aber vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit. Lassen Sie die Boote bereitmachen, Captain. Und schicken Sie Ihre Männer in die Rahen.« Er lächelte dünn. »Es kann sein, daß wir bald Wind bekommen.«

Bannermann starrte ihn verdutzt an, aber Andara gab ihm keine Gelegenheit, irgend etwas zu sagen. Er fuhr herum, eilte mit weit ausgreifenden, federnden Schritten die Treppe zum Achterdeck hinauf und blieb zwei Schritte vor der hinteren Reling stehen. Bannermann blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Was ist mit ihm?« flüsterte er. »Ist er verrückt geworden?«

»Das wohl am allerwenigsten«, antwortete ich. »Sie sollten tun, was er sagt, Captain. Ich glaube, wenn uns noch jemand hier herausholen kann, dann er.«

Bannermanns Blick nach zu urteilen, begann er nun auch an meinem Verstand ernsthaft zu zweifeln. Trotzdem drehte er sich nach sekundenlangem Zögern um und begann, die Matrosen mit erhobener Stimme hin und her zu scheuchen. Von einer Sekunde auf die andere breitete sich eine hektische, nervöse Aktivität auf dem Deck aus. Männer kletterten geschickt wie Affen die Masten hinauf und begannen, ihre Plätze in den Rahen einzunehmen, andere liefen zu den Booten, zerrten die Schutzplanen herab und begannen, die Ketten der Davids straff zu ziehen. Wieder andere standen scheinbar untätig herum, starrten in den Nebel und fingerten nervös an ihren Waffen. Es waren die Männer mit den Gewehren, die nicht arbeiteten, und ich begriff, daß Bannermann alle Vorbereitungen getroffen hatte, das Ungeheuer würdig zu empfangen, sollte es noch einmal angreifen. Aber irgend etwas sagte mir, daß Gewehrkugeln und Äxte nicht viel nützen würden.

Mein Blick glitt zum Achterdeck und suchte Andara. Der Hexenmeister war wenige Schritte vor der Reling stehengeblieben und zur Reglosigkeit erstarrt. Seine Hände waren erhoben und wiesen in einer erstarrten, beinahe beschwörend wirkenden Geste in den Nebel hinaus.

»Was tut er?« flüsterte Bannermann.

Ich winkte hastig ab und sah weiter konzentriert zum Achterdeck hinauf. Andara rührte sich nicht, aber ich spürte einfach, daß irgend etwas dort oben vorging. Etwas, das nicht mit normalen menschlichen Sinnen wahrzunehmen war.

Und dann begann sich der Nebel zu bewegen.

Zuerst langsam und fast unmerklich, dann immer schneller trieben die grauen Schwaden auseinander. Die lichtschluckende Mauer, die die LADY OF THE MIST gefangen hielt, riß auf, und zum ersten Mal seit Stunden berührte das Licht der Sonne wieder das Deck. Die Kälte verschwand wie ein böser Spuk, und plötzlich spürte ich den kühlen Hauch des Windes auf der Haut.

Bannermann keuchte überrascht. Aber er reagierte so schnell, wie man es von einem guten Kapitän erwarten konnte. »Segel setzen!« brüllte er. »Steuermann - Kurs zwei Strich Backbord!«

Ein tiefes, mahlendes Geräusch lief durch den Rumpf des Viermastseglers. Ich spürte, wie die LADY unter meinen Füßen wie aus einem tiefen, betäubenden Schlaf erwachte, als der Wind zunahm und sich die Segel an den Rahen strafften. Der Hauptmast ächzte hörbar unter dem Druck, der plötzlich auf ihm lastete und den er an den Schiffsrumpf weitergeben mußte. Der Nebel trieb weiter auseinander, zerfaserte zu dünnen Streifen und löste sich mit phantastischer Geschwindigkeit auf. Eine Welle schlug klatschend gegen den Rumpf und zerstob zu weißer Gischt, dann eine zweite, dritte ...

»Bannermann!« Andaras Stimme drang wie von weither in meine Gedanken. »Die Boote! Schnell! Der Wind wird nicht lange anhalten!«

Ein seltsames Gefühl von Schwäche überkam mich. Das Schiff begann vor meinen Augen zu verschwimmen, und meine Beine schienen mit einemmal nicht mehr in der Lage, das Gewicht meines Körpers zu tragen. Ich wankte, griff haltsuchend nach dem Mast, verfehlte ihn und wäre gestürzt, wenn Bannermann nicht gedankenschnell zugegriffen und mich aufgefangen hätte.

»Craven!« keuchte er. »Was ist mit Ihnen?«

Ich schüttelte schwach den Kopf, befreite mich aus seinen Armen und lehnte mich gegen den Mast. Mein Herz jagte, als wäre ich meilenweit gelaufen, und obwohl ich noch immer vor Kälte zitterte, brach mir am ganzen Leib der Schweiß aus.

»Es ist ... nichts«, sagte ich mühsam. »Ein Schwächeanfall, mehr nicht. Es geht schon wieder.« In Wirklichkeit fühlte ich mich sterbenselend. Hätte ich mich nicht an den Mast lehnen können, wäre ich abermals gestürzt.

»Robert! Geh in das Boot! Schnell!« Es fiel mir schwer, Andaras Worten zu folgen. Das Schiff bewegte sich noch immer vor meinen Augen, als betrachtete ich es durch fließendes Wasser, und das Klatschen der Wellen hallte seltsam verzerrt in meinen Ohren wider. Trotzdem stemmte ich mich gehorsam hoch, drehte mich herum und wankte auf eines der Rettungsboote zu.

Die Matrosen saßen bereits an ihren Plätzen, sechs Mann in jedem Boot, viel zu wenige, um die LADY nennenswert von der Stelle bewegen zu können, aber alles, was Bannermann entbehren konnte. Die Davids bewegten sich quietschend; eines der Boote löste sich aus seiner Halterung, schwebte, von vier armdicken, rostigen Ketten gehalten, eine Handbreit über die Reling und senkte sich langsam auf die Wasseroberfläche herab.

Es erreichte sie nie.

Das Meer barst in einer plötzlichen Explosion aus Wasser und weißer, schaumiger Gischt auseinander. Etwas Großes, ungeheuer Großes und Massiges wuchs wie ein schwarzgrüner Berg neben dem Schiff empor, bäumte sich mit einem gewaltigen Urschrei auf und versank wieder im Meer. Das Schiff bebte. Eine drei Meter hohe Flutwelle traf seine Flanke wie einen Hammerschlag, spülte brüllend über die Reling und riß die Matrosen von den Füßen. Auch ich strauchelte, schlug schmerzhaft irgendwo mit dem Hinterkopf auf und griff blindlings um mich. Für einen Moment drohte ich das Bewußtsein zu verlieren. Eine unsichtbare Riesenfaust packte mich, preßte mich mit gnadenloser Kraft gegen das Deck und trieb mir die Luft aus den Lungen. Ich versuchte zu schreien, bekam den Mund voll Wasser und schluckte instinktiv. Die LADY OF THE MIST stöhnte wie unter Schmerzen. Irgendwo splitterte Holz, und durch den blutigen Schleier vor meinen Augen sah ich, wie das Boot, das bereits außerhalb des Schiffes an seinen Ketten hing, mit gnadenloser Kraft angehoben und gegen die Reling geschmettert wurde. Das armdicke Holz zersplitterte wie ein Span. Die Männer im Inneren des Bootes wurden wie Spielzeugfiguren durcheinandergeschleudert; einer schrie auf, ruderte hilflos mit den Armen und kippte in einer grotesk langsamen Bewegung über Bord. Mit einem lautlosen Schrei versank er in den kochenden Fluten, um nie wieder aufzutauchen.

Ich hustete, spuckte Salzwasser und bittere Galle aus und versuchte, mich auf Händen und Knien hochzustemmen. Das Schiff legte sich in einer schwerfälligen Bewegung auf die Seite, kragte einen Moment bedrohlich über und richtete sich zitternd und stöhnend wieder auf. Die Erschütterung schmetterte mich abermals zu Boden. Hoch oben im Wald der Masten zerbrach etwas. Holz, Segeltuch und Tauwerk regneten wenige Meter hinter mir auf das Deck herab, als ich mich zum zweiten Mal hochstemmte.

Aber das Chaos war noch nicht vorüber.

Im Gegenteil. Es begann erst.

Zum zweiten Mal brach das Meer auf, unmittelbar unter und neben dem Boot, das über der zersplitterten Reling schaukelte. Ein halbes Dutzend unterarmstarker, peitschender Tentakel zuckte aus dem schaumigen Wasser, richteten sich wie ein zitternder Wald schleimig-grüner Schlangen auf und tasteten mit blinden, suchenden Bewegungen umher.

Die Männer im Boot begannen zu schreien. Die grünen Schuppenarme näherten sich der winzigen Pinasse, fuhren mit kratzenden, schabenden Geräuschen über das Holz und tasteten nach seinen Insassen. Einer von ihnen stemmte sich hoch, schlug mit einer verzweifelten Bewegung den Tentakel, der sich um seine Beine schlingen wollte, beiseite, und versuchte, mit einem Sprung das Schiff zu erreichen, aber der furchtbare Angreifer war schneller. Ein zweiter Fangarm zuckte vor, packte den Mann mitten im Sprung und riß ihn mit einer brutalen Bewegung zurück. Wie eine angreifende Schlange wickelte er sich um seinen Leib und zog ihn dann unter Wasser. Das Meer kochte dort, wo er versunken war, und die Blasen, die sprudelnd an die Oberfläche brachen, waren plötzlich rosa.

Die Tentakel hatten sich wie eine gewaltige, vielfingrige Hand um das Boot geschlossen, ein kriechender, lebender Käfig, der die Pinasse und die Männer, die in ihr gefangen waren, gepackt hielt und langsam, aber mit ungeheurer Kraft, zudrückte. Ich sah, daß sich die grünen Schuppen an zahllosen Stellen geteilt hatten. Darunter kamen dünnlippige, mit rasiermesserscharfen Zähnen versehene Haifischmäuler zum Vorschein.

Ein Schuß krachte. Das Geräusch ließ mich herumfahren. Die ganze schreckliche Szene hatte sich in weniger als einer Sekunde abgespielt, aber ich hatte das Gefühl, dem Toben des Monsters seit Stunden zuzusehen. Meine Arme und Beine schienen sich ohne mein Zutun zu bewegen. Ich stand auf, torkelte rückwärts davon und prallte gegen den Mast, unfähig, den Blick von dem furchtbaren Bild zu wenden. Das Boot begann unter dem Druck der Fangarme zu zerbrechen.

Wieder peitschte ein Schuß. Ich sah, wie die Kugel einen der Fangarme traf und ein faustgroßes Loch in die grünen Schuppen riß. Aber die Wunde schloß sich fast ebenso schnell, wie sie entstanden war.

Eine Hand ergriff mich an der Schulter, riß mich herum und versetzte mir einen Stoß, der mich meterweit zurücktaumeln und zum dritten Mal zu Boden gehen ließ. Dort, wo ich gerade gestanden hatte, klatschte ein weiterer Fangarm gegen den Mast, glitt zu Boden und zog sich, zitternd hierhin und dorthin tastend wie eine blinde, suchende Schlange, wieder zurück. Wieder krachten Schüsse. Der Tentakel erzitterte unter einem halben Dutzend Einschlägen, und plötzlich markierte eine Spur dickflüssigen schwarzen Blutes den Weg, den er zurückkroch. Aber wie beim ersten Mal schlossen sich die Wunden so schnell, wie sie entstanden waren. Die Bewegungen des Ungeheuers wurden nicht einmal langsamer.

Ein Matrose sprang mit einem gellenden Schrei an mir vorüber, blieb mit gespreizten Beinen über dem Tentakel stehen und schwang eine gewaltige zweischneidige Axt.

Andaras Warnschrei kam zu spät. Das Beil sauste herab und trennte ein meterlanges Stück des Fangarmes ab. Schwarzes Blut traf den Mann.

Dort, wo es seine Haut berührte, begann sich Rauch zu kräuseln. Der Matrose schrie auf, ließ seine Waffe fallen und torkelte zurück, beide Hände gegen das Gesicht gepreßt. Er war tot, noch bevor der verstümmelte Tentakel von Bord gekrochen und im Meer verschwunden war.

»Robert! Zu mir!«

Andaras Schrei riß mich endgültig aus meiner Erstarrung. Ich sah auf, blickte einen Herzschlag lang in das Gesicht des Hexenmeisters und nickte automatisch, als er mir mit Gesten zu verstehen gab, ihm zu folgen. Andara hatte seinen Mantel abgestreift und den Stockdegen gezogen. Die Kette mit dem kreuzförmigen Amulett hing jetzt sichtbar auf seiner Brust. Die dünne Klinge des Floretts glühte wie unter einem unheimlichen, inneren Feuer.

Dicht hinter ihm hetzte ich auf die Reling zu. Das Deck des Schiffes hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Dutzende der grünen, peitschenden Tentakel waren dicht vor der Bordwand aus dem Meer emporgestiegen und bildeten einen wippenden, tödlichen Wald aus Schuppen und schnappenden Teufelsmäulern vor dem Schiff. Die Männer schossen ununterbrochen; andere hatten sich mit Enterhaken und langen, mit eisernen Spitzen versehenen Stangen bewaffnet und hackten und schlugen auf die Tentakel ein, die an Deck zu kriechen versuchten. Das Schicksal ihres unglücklichen Kameraden hatte sie gewarnt - sie vermieden es, den tödlichen Schlangenarmen zu nahe zu kommen und beschränkten sich darauf, die zuckenden Arme wieder ins Meer zurückzustoßen, und für einen Moment sah es fast so aus, als hätten sie Erfolg.

Aber nur für einen Moment. Die Kräfte der Männer erlahmten rasch, während das Ungeheuer im Meer weder Müdigkeit noch Schmerz zu kennen schien. Mehr und mehr der gewaltigen Fangarme tauchten gischtend aus dem Wasser auf, krochen wie gierige grüne Schlangen an der Bordwand empor, ringelten sich um die Reling oder schnappten nach den Matrosen.

Der tödliche Würgegriff um das Ruderboot hatte sich weiter geschlossen; die Pinasse war fast vollkommen unter der wogenden grünen Masse verschwunden. Die Schreie der Männer waren verstummt. Noch während ich hinsah, riß eine der armdicken Ketten, an denen das Boot hing, mit einem peitschenden Knall entzwei. Die Tentakelfaust zitterte und zerrte das Boot ein Stück mehr auf die Wasseroberfläche herab.

»Bleib immer in meiner Nähe, Robert«, keuchte Andara. »Und hab keine Angst - er kann dir nichts tun, solange ich bei dir bin.« Mit einem geschmeidigen Sprung setzte er über einen zuckenden Tentakel hinweg, strauchelte auf dem glitschigen Deck und fand mit weit ausgebreiteten Armen sein Gleichgewicht wieder. Der Degen in seiner Rechten vollführte eine blitzartige, halbkreisförmige Bewegung, schnitt in die schuppige Panzerhaut des Monsterarmes und hinterließ eine tiefe, klaffende Wunde.

Und diesmal schloß sich der Schnitt nicht! Im Gegenteil - als wäre die Klinge von Andaras Waffe mit einem unsichtbaren Gift bestrichen gewesen, erweiterten sich die Ränder der Wunde. Schwarzes Blut fraß sich wie Säure in die Planken des Decks, aber der Strom versiegte in wenigen Augenblicken. Die glitzernden Schuppen begannen sich zu kräuseln, rollten sich zusammen wie trockenes Laub. Der Fangarm zuckte, hob sich noch einmal in die Höhe und schlug in einer letzten, schon kraftlosen Bewegung gegen den Mast. Der Tentakel des Ungeheuers verdorrte in wenigen Sekunden, wie ein Zweig, der monatelang in der heißen Sonne gelegen hatte. Instinktiv taumelte ich zurück und preßte die Hand vor den Mund.

Andara gab mir keine Zeit, dem schrecklichen Verfall weiter zuzusehen. Er packte mich an der Schulter, riß mich herum und zog mich mit sich, weiter auf die Reling und den Wald peitschender Tentakeln zu.

Die Matrosen wurden unbarmherzig zurückgedrängt. Sie wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung, und trotz ihrer schier unglaublichen Regenerationsfähigkeit war ein Großteil der Krakenarme von Wunden übersät. Das Deck brodelte unter dem ätzenden Blut der Bestie, und unter den Männern war keiner, der nicht bereits eine Unzahl mehr oder weniger schwerer Verätzungen davongetragen hatte. Und aus dem Meer tauchten mehr und mehr der gewaltigen, grünen Fangarme auf.

Andara schwang seinen Degen. Die Klinge traf einen Fangarm, der sich gerade um die Beine eines Mannes gewickelt hatte, schnitt ihn glatt in zwei Teile und durchtrennte noch in der gleichen Bewegung einen zweiten Tentakel, der wie ein angreifender Raubvogel von oben auf uns herabstoßen wollte. Die Wirkung war die gleiche wie beim ersten Mal - die schuppige Haut des Ungeheuers begann sich zu kräuseln und zu verdorren; der Arm starb.

Und trotzdem waren es nicht mehr als Nadelstiche, die Andara der Masse der Ungeheuer zufügen konnte. Selbst mit einem Dutzend solcher Waffen, wie er sie besaß, wäre es nicht möglich gewesen, die ungeheure Menge grüner Schlangenarme zurückzudrängen, die aus dem Meer emporstieg. Wenn es Kraken waren, die das Schiff angriffen, dann mußte es eine ganze Armee sein.

Während rings um uns herum die Männer zurückwichen, näherten wir uns Schritt für Schritt der Reling. Andara zerrte mich unbarmherzig mit sich, während er wie rasend auf den Wald von Armen einschlug, der uns den Weg versperrte. Das Schiff erzitterte unter unseren Füßen, und ich spürte, wie sich der Boden langsam, aber unbarmherzig zu senken begann. Der Zug Hunderter und Aberhunderter von Tentakeln begann sich bemerkbar zu machen. Die LADY OF THE MIST hatte bereits eine spürbare Schlagseite - und aus dem Meer tauchten immer mehr der schleimigen, grünen Dinger auf, um am Rumpf des Schiffes Halt zu suchen und es langsam in die Tiefe zu zerren.

Endlich erreichten wir die Reling, oder das, was davon übrig geblieben war. Das Meer war verschwunden. Alles, was ich sah, war eine brodelnde Masse aus Grün und kochendem, weißen Schaum. Wir schienen von einem Wald geifernder Arme und schnappender Haifischmäuler umgeben zu sein.

Aber nicht einer von ihnen berührte uns.

Es war nicht allein Andaras Degen, der sie zurückdrängte. Die Waffe wütete furchtbar unter den Angreifern, und trotzdem hätten sie uns allein mit ihrer ungeheuren Zahl erdrücken können. Aber irgend etwas hielt sie zurück. Immer wieder zuckte ein Tentakelende auf Andara oder mich herab, öffnete sich ein schnappendes Dämonenmaul, peitschte ein Arm mit der Gewalt eines angreifenden Elefanten auf uns zu - und immer wieder schien er im letzten Moment gegen eine unsichtbare Mauer zu prallen und sich mit einer fast schmerzhaften Bewegung zurückzuziehen. Es war, als wären Andara und ich von einer unsichtbaren, aber undurchdringlichen Barriere umgeben, die die Unheimlichen nicht überwinden konnten.

Andara ließ meinen Arm los, schlug nach einem Tentakel, der sich um sein Bein zu ringeln versuchte, drehte sich plötzlich herum und drückte mir die Waffe in die Hand.

»Paß auf!« keuchte er. »Wenn mir etwas geschieht, dann versuche dir deinen Weg freizukämpfen. Vielleicht läßt er vom Schiff ab, wenn er mich hat!«

Ich kam nicht dazu, ihn zu fragen, worauf ich aufpassen sollte oder wen er mit er meinte. Andara wirbelte abermals herum, riß in einer beschwörenden Geste die Arme über den Kopf und stieß die geballten Fäuste gegen das Meer.

»Halte ein!« rief er. Seine Stimme war wie Donner, der plötzlich über das Meer rollte, laut, unglaublich laut und befehlend, von einer solchen Kraft, daß ich mich wie unter einem Hieb krümmte und die Hände gegen die Ohren schlug.

»Halte ein!« rief er noch einmal. »Ich, Roderick Andara, ein Träger der Macht, befehle es dir! Hör auf zu töten und geh zurück dorthin, woher du gekommen bist!«

Das Toben der Tentakel hörte auf. Noch immer waren wir von einem wahren Wald der gigantischen grünen Arme umgeben, und immer noch tauchten weitere aus dem Meer auf, klammerten sich an die Reling oder saugten und bissen sich am blanken Holz des Decks fest, aber ihre Bewegungen wurden deutlich langsamer.

»Geh!« schrie Andara. »Geh zurück! Verlasse diesen Ort! Ich trage das Stigma der Macht, und du mußt mir gehorchen! Geh! ICH BEFEHLE ES DIR!«

Und das Unglaubliche geschah!

Eine zitternde, schwerfällige Bewegung lief durch die Masse der Tentakel. Erst einer, dann immer mehr und mehr der schuppigen Arme kroch über das Deck zurück ins Meer, und wieder schien der Ozean zu kochen. Die unheimlichen Angreifer zogen sich zurück, langsam und widerwillig zwar, aber sie wichen, gezwungen von einem Willen, der stärker war als ihr eigener. Das Meer rings um die LADY verwandelte sich in einen kochenden Pfuhl voller dunkler Schlangenleiber und blasigem Schaum. Dicht neben uns regneten die zermalmten Überreste der Pinasse herab, als auch dort die Tentakel ihre Griffe lockerten und zurück in die Hölle glitten, aus der sie hervorgekrochen waren. Die LADY zitterte spürbar, als sich der Würgegriff von ihr löste.

»Geh!« befahl Andara noch einmal. »Geh und kehre nie wieder an diesen Ort zurück!«

Mir wurde schwindelig. Wenige Meter neben dem Schiff versank der letzte Schlangenarm sprudelnd im Meer, und für einen ganz kurzen Moment glaubte ich, tief unter dem Schiff etwas Gigantisches, Dunkles zu erkennen, aber mir fehlte die Kraft, den Gedanken weiter zu verfolgen. Zum zweiten Mal überfiel mich Schwäche, aber jetzt war es zehnfach so schlimm wie beim ersten Mal. Ich stöhnte. Der Degen entglitt meinen Händen und polterte zu Boden. Das Schiff begann sich um mich herum zu drehen, und als Andara sich mit einer erschrockenen Bewegung zu mir umwandte und mich auffing, begann sein Gesicht vor meinem Blick zu zerfließen wie ein Bild aus weichem Wachs. Ich wollte etwas sagen, aber selbst dazu fehlte mir die Kraft. Übelkeit stieg in meiner Kehle hoch, und in meiner linken Brustseite erwachte ein brennender, grausam heftiger Schmerz.

Ich verlor das Bewußtsein.


Es war aussichtslos.

Der Mob hatte die Scheune gestürmt, und die Handvoll Männer und Frauen, die nicht bereits dem ersten, wütenden Ansturm der Menge erlegen waren, kämpften einen hoffnungslosen Kampf.

Quenton ließ sich in einer verzweifelten Bewegung zur Seite fallen. Dort, wo soeben noch sein Kopf gewesen war, bohrten sich die rostigen Zinken einer Mistgabel ins Holz der Wand. Quenton rollte herum, langte nach den Beinen des Angreifers und schrie auf, als ihm der zweite Mann gegen die Schläfe trat.

Er hatte die beiden nicht einmal bemerkt. Der Kampflärm und das Grölen der Menge hatten ihre Schritte verschluckt, und er hatte nur durch Zufall aufgesehen und im letzten Moment den Schatten der Mistgabel erblickt, die der eine nach ihm stieß.

Aber es schien, als hätte er den Tod nur Sekunden hinausgezögert. Der Mann, den er von den Füßen gefegt hatte, stemmte sich bereits wieder hoch und griff mit wutverzerrtem Gesicht nach seiner Forke, während der zweite sich mit einem triumphierenden Schrei auf ihn warf. Seine Knie kamen auf Quentons Brustkorb zu liegen und trieben ihm die Luft aus den Lungen.

Schmerz durchzuckte ihn. Für einen winzigen, schrecklichen Moment drohten seine Gedanken in einem blutroten Nebel zu versinken. Er bäumte sich auf, tastete schwächlich nach dem Gesicht des Mannes, der wie eine häßliche, übergroße Kröte auf seiner Brust hockte und ihm mit den Knien gegen den Boden preßte, und schrie abermals auf, als der Mann seine Hände beiseite fegte.

»Schlag ihn nicht tot, Fred!« keuchte sein Kumpan. Er hatte sich wieder aufgerichtet und die Mistgabel mit beiden Händen gepackt. Aus seinem Mundwinkel lief ein dünner Blutfaden. Er mußte sich verletzt haben, als er stürzte.

»Warum nicht? Er ...«

»Weil ich etwas Besseres weiß«, kicherte der Mann. Seine Hände schlossen sich fester um den Stiel der Mistgabel. »Etwas viel Besseres, halt ihn nur gut fest. Ich werde das Schwein lehren, nach mir zu treten.«

Der mit Fred Angesprochene grunzte zustimmend und packte Quentons Kopf mit beiden Händen. Der andere kam näher, blieb breitbeinig über Quentons Kopf stehen und hob die Forke. »Halt ihn gut fest«, kicherte er.

Die Zinken der Mistgabel näherten sich Quentons Gesicht.

»Tu es nicht«, sagte Quenton ruhig.

Der Mann blinzelte. Die Forke in seiner Hand zitterte, und in seinem Blick machte sich ein fragender, beinahe überraschter Ausdruck breit. Aber die Gabel senkte sich nicht weiter.

»Tu es nicht«, sagte Quenton noch einmal. »Ich erlaube es nicht.«

»Worauf wartest du?« raunzte Fred ungeduldig. »Ich kann den Kerl nicht ewig festhalten.«

Quentons Blick bohrte sich in den des anderen. Die Augen des Mannes waren starr, und Quenton glaubte, einen schwachen Abglanz der abgrundtiefen Furcht darin zu lesen, die er in diesem Moment empfinden mußte. Sein Mund öffnete sich, aber nicht der geringste Laut kam über seine Lippen.

»Und nun geh«, befahl Quenton. »Und nimm deinen Freund mit.«

Fred glotzte ihn an wie einen bunten Hund. Er leistete kaum Gegenwehr, als ihn sein Kamerad von Quenton wegriß, ihn mit beiden Armen fest umschlang und zum Rand des Heubodens schleppte. Erst im letzten Moment dämmerte es ihm, doch die Erkenntnis kam zu spät.

Sein Kumpan ließ sich ins Leere fallen und riß Fred mit sich. Mit einem gellenden Schrei verschwand er aus Quentons Blickfeld.

Quenton arbeitete sich stöhnend hoch. Zwei seiner Rippen waren gebrochen und schmerzten fürchterlich, aber er kämpfte den Schmerz nieder, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und kroch ein Stück zur Seite. Die beiden waren die einzigen Angreifer gewesen, die den Weg zum Heuboden hinauf gefunden hatten, aber die Scheune unter ihm war erfüllt von einer tobenden Menge, die nicht eher ruhen würde, bis sie auch die letzte Spur vom Leben in Jerusalems Lot ausgelöscht hatte.

Quenton ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. Der Mob hatte wenig mehr als zwei Minuten gebraucht, das Tor einzuschlagen und die wenigen Verteidiger, die sich ihm todesmutig in den Weg gestellt hatten, niederzumachen. Quenton blieben nur noch Minuten.

Unter ihm durchbrach ein neuer, gellender Schrei den Lärm. Quenton beugte sich vor und sah, wie vier Männer ein Mädchen aus dem Haus zerrten und ihr die Kleider vom Leib zu reißen begannen. Ein Gefühl heißen, hilflosen Zornes stieg in Quenton hoch. Er kannte das Mädchen; in einem Dorf von nicht einmal fünfzig Einwohnern kannte man jeden.

Sein Blick suchte das winzige, strohgedeckte Gebäude am gegenüberliegenden Dorfrand. Das Haus stand noch. Die Laden waren vorgelegt, und trotz der schweren Rauchwolken, die wie eine erstickende Decke über dem Dorf lagen, konnte er erkennen, daß es unbeschädigt war.

Natürlich, dachte er haßerfüllt. Die drei anderen würden dafür sorgen, daß der Mob sie erst ganz am Schluß entdeckte. Es würde sie nicht retten. Die Menge war viel zu aufgepeitscht, als daß sie noch geistig zu beeinflussen wäre, nicht einmal von drei Meistern der Macht zugleich. Aber sie hatten die anderen geopfert, um noch einige Minuten des Lebens für sich herauszuschinden.

Ein Geräusch hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Das Ende der Leiter, die zu seinem Versteck auf dem Heuboden hinaufführte, hatte zu zittern begonnen. Jemand stieg zu ihm herauf.

Quenton richtete sich auf. Sein Blick saugte sich am Ende der Leiter fest. Plötzlich spürte er die gebrochenen Rippen nicht mehr; selbst seine Furcht war verschwunden.

Schon tauchte der Kopf des Mannes über dem Rand des Zwischenbodens auf. Da war Quenton bei der Leiter und versetzte ihr einen Tritt.

Die Leiter begann zu zittern. Langsam, als würde sie von unsichtbaren Händen geschoben, löste sie sich von ihrem Halt, kippte nach hinten. Die Augen des Mannes an ihrem Ende weiteten sich entsetzt. Er schrie auf, griff verzweifelt nach Halt - vergebens.

Die Leiter bewegte sich weiter, stand für eine endlose Sekunde gegen alle Naturgesetze senkrecht und frei - und kippte dann nach hinten!

Quenton lächelte kalt, trat an den Rand des Bodens und blickte nach unten. Die Leiter war mitten in die Menge gestürzt und hatte ein halbes Dutzend Männer zu Boden geworfen.

Eine Hand wies nach oben. »Da ist noch einer!« brüllte eine Stimme. »Da oben ist noch eins von den Schweinen!« Andere Stimmen nahmen den Ruf auf, und von einer Sekunde auf die andere war die Scheune von einem grölenden Chor erfüllt. Ein Chor, der nach seinem Blut schrie.

Quenton starrte kalt auf die tobende Menge herab. Jemand hob sein Gewehr und schoß auf ihn. Die Kugel streifte seinen linken Arm und riß eine blutige Furche in seine Haut. Er spürte es nicht einmal. Langsam hob er die Arme, streckte sie waagerecht vor sich aus und spreizte die Finger; eine Geste, als würde er eine unsichtbare Last von sich schieben.

»Ihr wollt Blut?« fragte er. »Ihr sollt erfahren, was Angst bedeuten kann!«

Er hatte nicht sehr laut gesprochen. Und trotzdem hatte jeder seine Worte gehört. Eine zitternde, schwerfällige Wellenbewegung lief durch die Menge, als die Männer und Frauen instinktiv vor der hoch aufgerichteten Gestalt über sich zurückwichen. Wieder krachte ein Schuß, dann ein zweiter, dritter, vierter. Quenton fühlte, wie die Kugeln seinen Körper trafen, aber er spürte nur die Berührung, keinen Schmerz.

»Ihr sollt Angst spüren!« schrie er. »Ihr habt die Gewalt hierher gebracht - jetzt fühlt sie selbst!«

Das Kreischen der Menge änderte sich. Sie schrien noch immer, aber plötzlich waren es Laute der Furcht. Wieder krachte eine Gewehrsalve, und wieder wurde Quenton getroffen. Aber Quenton starb nicht, obwohl er bereits aus mehreren Wunden blutete.

Dafür geschah etwas anderes. Für einen Moment lag ein helles, knisterndes Geräusch in der Luft, ein Laut wie das Zischen eines niederfahrenden Blitzes, aber heller, durchdringender und irgendwie boshaft. Dann schien sich ein dunkler Mantel über die Menschen unter ihm zu legen. Männer und Frauen schrien in Panik auf, stürzten zu Boden und krochen in irrsinniger Angst dem Scheunentor zu. Der schwarze Mantel der Furcht legte sich um ihre Köpfe, ließ sie den Haß und die Wut vergessen, füllte sie aus mit kreatürlicher, alles überschattender Angst.

»Ja, flieht nur!« keuchte Quenton. Wieder schlug die unsichtbare Macht, die er entfesselt hatte, zu, und wieder ging ein einziger lauter Schrei der Angst durch die Menge.

In der Scheune brach Panik aus. Die Menschen versuchten verzweifelt, den Ausgang zu erreichen. Und noch einmal, ein drittes und letztes Mal, schlug Quenton mit aller geistiger Macht zu.

Er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Was er getan hatte, war nichts als ein letztes Aufbäumen gewesen, ein letztes, titanisches Aufflackern der Flamme, die in seinem Inneren brannte, gespeist von Wut und Verzweiflung. Das große Vergessen würde ihr folgen.

Er wankte, torkelte einen Schritt vom Bodenrand zurück und brach in die Knie. Langsam erwachte der Schmerz in seinem Körper, und er begann zu fühlen, wie das Leben aus seinem Leib herausströmte. Die Menge unter ihm tobte und schrie wieder, aber er betrachtete sie nicht mehr.

Irgend etwas flog zu ihm hinauf und landete polternd wenige Schritte neben ihm im Heu. Quenton hob müde den Blick. Es war eine Fackel. Eine zweite folgte, dann eine dritte. Die Flammen fanden in dem trockenen Heu sofort Nahrung, schossen zu einer meterhohen Wand hoch und hüllten ihn in einen Mantel aus Hitze und Rauch.

Sein Blick begann zu verschwimmen.

»Roderick«, flüsterte er. »Das ist deine Schuld. Ich verfluche dich.« Seine Stimme ging im Prasseln der Flammen unter. »Ich verfluche dich«, flüsterte Quenton noch einmal. »Du wirst dafür bezahlen. Du ... wirst nie wieder Ruhe haben, solange du ... lebst. Und darüber hinaus.«

Quenton krümmte sich, fiel aufs Gesicht und starb.


Als ich erwachte, spürte ich ein sanftes, monotones Schaukeln. Ich war nicht allein im Raum; jemand sprach, ohne daß ich die Worte verstanden hätte, und hinter diesem Geräusch waren andere Laute: ein leises Knarren und Ächzen, das schwere, nasse Schlagen von Segeltuch und das Singen von Tauen, die bis an ihre Grenzen belastet waren.

Das Schiff hatte Fahrt aufgenommen.

Diese Erkenntnis weckte mich endgültig.

Ich schlug die Augen auf, blinzelte und versuchte, die Hand zu heben, um das quälende Licht abzuschirmen, das meine Augen marterte.

»Er ist wach«, sagte eine Stimme. Ich erkannte sie als die Bannermanns, und als ich abermals die Augen öffnete, schwebte sein pausbäckiges Gesicht wenige Zentimeter über dem meinen. Ein gezackter, blutiger Kratzer verunzierte seine linke Wange, und auf seiner Stirn prangten zwei münzengroße, rote Flecken.

»Was ist ... passiert?« fragte ich mühsam. Ich fühlte mich schwach, unendlich schwach und müde. Eine unsichtbare Zentnerlast schien meinen Körper niederzudrücken.

»Sie sind zusammengebrochen, Junge«, antwortete Bannermann. Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst. »Montague und ich haben Sie hier heruntergeschafft. Sie erinnern sich an nichts?«

Ich versuchte es, aber in meinem Kopf wirbelten die Gedanken haltlos durcheinander. Ich glaubte mich an einen Alptraum zu erinnern, irgendein krauses Zeug, in dem Schlangenarme und schnappende Mäuler eine Rolle spielten, sterbende Männer und Blut, das wie Säure brannte ...

Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Es war kein Traum gewesen! Alles, woran ich mich erinnerte, war geschehen!

Bannermann versuchte mich zurückzudrängen, aber der Schrecken gab mir zusätzlich Kraft. »Um Gottes willen, was ist passiert?« keuchte ich. »Das Ungeheuer ...«

»Es ist alles in Ordnung, Robert.« Das war Andaras Stimme. Ich hatte bisher nicht einmal bemerkt, daß er ebenfalls in der Kabine war. Sanft berührte er Bannermann an der Schulter, trat an ihm vorbei und sah mir prüfend ins Gesicht. »Bist du wieder in Ordnung?« fragte er.

Ich nickte instinktiv, obwohl ich mich alles andere als gesund fühlte. In meinen Gliedern war noch immer eine Schwere, die ich nicht erklären konnte. Ich fühlte mich wie jemand, der nach wochenlanger Krankheit das erste Mal wieder aufzustehen versucht. »Es geht«, murmelte ich. »Wie lange ... war ich bewußtlos?«

»Nicht lange«, antwortete Bannermann. »Zehn Minuten, allerhöchstens.« Er seufzte, schüttelte den Kopf und sah abwechselnd Andara und die geschlossene Tür unserer Kabine an. »Ich müßte wieder an Deck«, murmelte er. »Aber ich habe auch ein paar Fragen an Sie, Montague.«

Andara nickte. Seine Finger spielten nervös an dem goldenen Anhänger auf seiner Brust. »Dazu haben Sie ein Recht, Captain«, murmelte er. »Aber ich fürchte, wir werden keine Zeit für lange Erklärungen haben.«

Bannermann erbleichte. »Sie ... Sie meinen, dieses Ungeheuer kommt wieder?« keuchte er.

»Ich weiß es nicht«, gestand Andara nach sekundenlangem Zögern. »Er ist stärker, als ich dachte. Ich habe es verjagt, aber ...« Er schüttelte den Kopf, ballte in einer Geste hilflosen Zornes die Faust und schluckte ein paarmal. Seine Stimme zitterte, als er weitersprach: »Mein Gott, Bannermann, ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht. Ich habe Sie und Ihr Schiff in allerhöchste Gefahr gebracht.«

Bannermann schwieg, aber der Ausdruck in seinem Blick verhärtete sich.

»Das Wesen, das uns angegriffen hat«, fuhr Andara fort, »ist meinetwegen hier, Captain. Und ich fürchte, es wird nicht eher ruhen, bis es seinen Auftrag erfüllt hat.«

»Auftrag?«

Andara lächelte traurig. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Captain«, sagte er. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Und meine Reise nach England ist auch keine Vergnügungsreise, wie ich Ihnen weismachen wollte.«

Bannermann knurrte. »Das habe ich mir schon gedacht. Aber wer sind Sie wirklich?«

»Ein Mann mit mächtigen Feinden«, antwortete Andara ausweichend.

»Das Wesen, das das Schiff angegriffen hat?«

Andara verneinte. »Es ist nicht mehr als ein Werkzeug«, antwortete er. »Eine Art gedungener Killer, dessen sich meine Feinde bedienen, um mich unschädlich zu machen.«

Bannermann lachte, aber es war ein Laut, der eher wie ein hysterisches, im letzten Moment unterdrücktes Kreischen klang. »Sie müssen irgendwem mächtig auf die Füße getreten sein, Montague«, sagte er. »Aber so leicht kommen Sie mir nicht davon. Zehn von meinen Männern sind tot, und der Rest ist verletzt und wird wahrscheinlich nie wieder einen Fuß auf ein Schiff setzen, wenn wir London erreicht haben. Wenn wir es jemals erreichen.«

»Wie steht der Wind?« fragte Andara.

Bannermann machte eine unwillige Geste. »Gut genug - aber was hat das mit meiner Frage zu tun?«

»Alles, Captain. Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Wesen in Schach halten kann. Ich spüre seine Nähe. Es verfolgt uns. Wie lange brauchen wir bis London?«

»Vierundzwanzig Stunden«, antwortete Bannermann. »Mindestens. Wenn die Mannschaft durchhält. Ein paar von den Männern stehen kurz vor dem Zusammenbruch.«

»Das ist zu lange«, murmelte Andara verzweifelt, »Sie müssen den Kurs ändern. Ich kann ihn höchstens noch eine Stunde zurückhalten.«

Bannermann schnaubte. »Sie sind von Sinnen! Wenn ich hier in der Nähe Land ansteuere, schlitzen wir uns den Bauch auf. Haben Sie eine Ahnung, wie die schottische Küste aussieht?«

»Sie müssen es tun!« begehrte Andara auf. »Was wir gerade erlebt haben, war nicht mehr als ein Vorgeschmack dessen, was geschieht, wenn meine Kräfte erlahmen.«

»Kräfte?« schnappte Bannermann. »Von was für Kräften sprechen Sie, Montague? Was sind Sie? So eine Art Zauberer? Oder der Teufel persönlich?«

»Vielleicht von beiden ein bißchen«, antwortete Andara leise. Bannermann blieb ernst, und Andara fügte nach einer langen Pause hinzu: »Mein Name ist nicht Montague, Bannermann. Ich bin Roderick Andara.«

Wenn Bannermann dieser Name etwas sagte, so ließ er sich nichts anmerken.

»Sie müssen den Kurs ändern, Captain«, fuhr Andara fort. »Ich flehe Sie an. Wenn Ihnen das Leben Ihrer Männer etwas bedeutet, dann tun Sie es! Laufen Sie die nächste Küste an. An Land kann er uns nichts tun.«

Bannermann lachte hart. »Ich werde das Schiff auf Grund setzen, wenn ich tue, was Sie verlangen, Andara«, schnappte er.

»Dann tun Sie es!« erwiderte Andara erregt. »Ich bezahle Ihr Schiff, wenn es das ist, worum Sie sich sorgen. Ich komme für jeden Schaden auf.«

»Auch für das Leben der Männer, die ertrinken werden, wenn wir eine halbe Meile vor der Küste an den Riffen stranden?« fragte Bannermann kalt.

Andara schwieg einen Moment. »Bannermann«, sagte er dann. »Ich schwöre Ihnen, daß niemand, der hier auf dem Schiff ist, mit dem Leben davonkommt, wenn Sie den Kurs nicht ändern. Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber das Wesen, das uns folgt, ist nicht aus Fleisch und Blut. Es ist kein Meeresungeheuer, gegen das Sie kämpfen könnten. Wenn meine Kräfte nachlassen, wird es dieses Schiff zermalmen wie eine Nußschale.«

Bannermann starrte ihn an. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich tue; was Sie verlangen, Andara. Aber sobald wir an Land sind, liefere ich Sie den Behörden aus.«

Andara antwortete nichts darauf. Bannermann starrte ihn noch eine Sekunde an, fuhr dann mit einem Ruck herum und stapfte aus der Kabine. Die Tür flog krachend hinter ihm ins Schloß. »Gebe Gott, daß wir noch Zeit genug haben«, flüsterte Andara. »Er ist... so stark.«

»Wer?« fragte ich verwirrt. Ich hatte kaum die Hälfte von dem, was Andara gesagt hatte, wirklich verstanden. Aber das, was ich zu ahnen begann, erschreckte mich zutiefst.

»Der, der uns folgt«, antwortete er. Er seufzte, ließ sich neben mir auf die Bettkante sinken und starrte zu Boden. Seine Hände spielten unbewußt mit der dünnen Goldkette um seinen Hals.

»Ich bin schuld an allem, was jetzt geschehen ist«, murmelte er. »Vielleicht ist es nur die gerechte Strafe Gottes, die mich trifft. Ich habe mich mit Mächten eingelassen, die für Menschen verboten sind. Aber warum müssen Unschuldige sterben?«

Ich blickte ihn verwirrt an. »Ich ... verstehe nicht.«

»Das kannst du auch nicht, Junge«, murmelte er. Er schwieg einen Moment, und wieder schien sein Blick durch mich hindurch zu gehen, als sähe er etwas ganz anderes. »Vielleicht wirst du es später einmal begreifen. Wenn ... wenn du das hier überlebst. Ich hätte dich niemals mitnehmen dürfen. Ich hätte dich lassen sollen, wo du warst.«

»Ich ...«

Andara hob hastig die Hand. Ich verstummte. »Ich kann dem Fluch dessen, was ich getan habe, nicht entrinnen«, fuhr er fort. »Vielleicht muß ich sterben, denn ich bin verantwortlich für den Tod vieler. Aber es geht um dich.«

»Was meinen Sie damit?«

Andara lächelte. »Ihr habt geglaubt, ich wäre krank, nicht wahr?« fragte er. Ich nickte. »Ich war es nicht, Robert. Es war keine Krankheit, die die Kräfte meines Körpers aufzehrte. Ich ... habe versucht, großes Unheil zu verhindern, aber ich habe versagt. Was jetzt geschieht, ist eine direkte Folge dieses Versagens.« Er stand auf, öffnete seine Kiste und nahm ein dünnes, in steinhartes, braunes Schweinleder gebundenes Buch hervor. Ich wollte danach greifen, aber er schüttelte rasch und befehlend den Kopf, setzte sich wieder neben mich und legte das Buch behutsam auf seine Knie. »Berühre es nicht«, sagte er. »Berühre nie etwas von dem Inhalt dieser Kiste, oder der Fluch, der auf mir lastet, wird auch dich treffen.«

Er öffnete das Buch. Ich beugte mich neugierig vor, aber zu meiner Enttäuschung mußte ich erkennen, daß ich die Schrift, in der es verfaßt war, nicht lesen konnte. Selbst die Form der Buchstaben war mir fremd.

»In diesem Buch ist alles aufgeschrieben«, sagte er. »Ich wollte es dir später geben, wenn du reif gewesen wärest, es zu verstehen, aber ich werde keine Zeit mehr dazu haben.«

Ein leiser Schauer überfiel mich bei seinen Worten. Aber ich spürte, daß er recht hatte. Er würde sterben. Ich wußte es mit absoluter Sicherheit, im gleichen Augenblick, in dem er die Worte aussprach.

»Was ist das für ein Buch?« fragte ich leise.

Andara kam nicht dazu, zu antworten.

Denn in diesem Moment erscholl auf dem Deck über uns ein gellender Schrei!

»Sie sind da«, keuchte Lyssa. Ihre Stimme klang kaum mehr menschlich. Sie war verfallen, alt und verbraucht, so wie ihr Körper. Im Laufe der letzten fünfzig Minuten war sie um die gleiche Anzahl von Jahren gealtert; verbrannt von dem satanischen Feuer, das in ihrem Geist loderte. Sie hatte Dinge angerührt, die den Menschen auf ewig verboten waren, und sie bezahlte den Preis dafür. »Sie sind da«, murmelte sie noch einmal. Ihr Blick wanderte zur Tür. Ihre Augen waren längst blind, und doch konnte sie - mit einem anderen, bizarren Sinn - die tobende Meute erkennen, die sich dem kleinen Gebäude auf breiter Front näherte. Der magische Schutzwall, der sie und die beiden anderen bisher den Blicken der Lyncher entzogen hatte, existierte nicht mehr.

»Hab keine Furcht, mein Kind«, murmelte die Alte. »Sie werden dir nichts tun. Jetzt nicht mehr.« Sie kicherte; ein böser, meckernder Laut, der Lyssa und ihrem Bruder Lennard einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Obgleich sie beide Träger der Macht waren wie die Alte, spürten sie jetzt die abgrundtiefe Kluft, die zwischen ihnen war. Verglichen mit dem Strom von Kraft, über die die Alte gebot, war die ihre nicht mehr als ein Wassertropfen im Ozean.

»Aber sie stirbt!« Lennard schrie es fast. Sein Blick irrte zwischen dem Gesicht seiner Schwester und dem der Alten hin und her. »Sie ...«

»Ja, sie stirbt«, unterbrach ihn die Greisin. »So wie du, wie Quenton und ich. Aber es ist nicht das Ende.« Sie blickte flüchtig zur Tür. Das Johlen der Menge war lauter geworden, und genau in diesem Moment erzitterte die Tür bereits hinter einem ersten wuchtigen Schlag. Das morsche Holz ächzte hörbar. Brandgeruch wehte von draußen herein.

»Es ist vollbracht!« sagte die Alte triumphierend. »Ich, Andara, die Gebieterin der Macht, rufe dich, Herr alles Bösen! Ich rufe dich! Komm und nimm uns! Nimm unsere Körper! Nimm unsere Seelen und nimm unsere Gedanken! Löse den Pakt ein!«

Der unwirkliche, grüne Schein, der die ganze Zeit über in der Luft gehangen hatte, wurde stärker. Ein zweiter Schlag ließ die Tür erbeben; eine der rostigen Schrauben brach aus dem Schloß und klirrte auf den Boden.

Sekunden später stürzte die Tür in einem Regen von Holzsplittern, Kalk und Rauch auseinander. Das haßverzerrte Gesicht eines Mannes erschien in der Öffnung, Augen, die nach weiteren Opfern suchten.

Aber der winzige Raum war leer.

Nur in der Luft lag noch ein schwacher, grüner Schein. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als zeichne er die Konturen dreier Menschen nach, die an dem kleinen, runden Tisch saßen.

Dann erlosch auch er, und die Hütte war so leer, als wären die drei Personen nicht mehr als ein Spuk gewesen ...


Der Wind traf mich wie ein Hieb ins Gesicht, als ich hinter Andara auf das Deck stürmte. Das Schiff zitterte unter meinen Füßen, und über uns blähten sich die Segel, als würden sie jeden Augenblick zerreißen. Der Bug des Schiffes war in einer Wolke schaumig spritzender Gischt verschwunden. Die LADY OF THE MIST pflügte schnell wie ein Dampfschiff durch die Wellen, und der Rumpf und die Masten ächzten unter der Belastung, als wollten sie zerbrechen.

Andara blieb stehen, ergriff mich mit der Linken am Arm und deutete mit der anderen Hand nach oben. Ich warf den Kopf in den Nacken und folgte seiner Geste.

Über uns tobte ein Kampf auf Leben und Tod.

Es waren zwei von Bannermanns Matrosen, Mannings und ein kleinwüchsiger, dunkelhaariger Mann, den ich ein paarmal während der Reise unten in den Laderäumen des Schiffes gesehen hatte, die in den obersten Rahen des Hauptmastes einen sinnlosen Kampf ausfochten. Der Matrose stand mit haßverzerrtem Gesicht und weit gespreizten Beinen auf der Rahe, so sicher, als hätte er festen Grund unter den Füßen und nicht einen kaum zehn Zentimeter breiten, abgerundeten Balken, an welchem zudem noch das Gewicht des Segels und der Wind zerrten. In seiner rechten Hand blitzte eine kurzstielige, gefährliche Axt, mit der er immer wieder auf seinen Gegner eindrang. Mannings hatte ein Messer, beschränkte sich aber darauf, seinen Gegner auf Distanz zu halten und seinen wütenden Hieben auszuweichen. Es sah aus wie ein bizarrer Drahtseilakt.

»Barton!« Ich sah auf und gewahrte Bannermann über uns auf dem Achterdeck. Er hielt ein Gewehr in den Armen. »Barton!« brüllte er noch einmal. »Hör auf! Hör sofort damit auf!«

Der Matrose wandte kurz den Blick, knurrte eine Antwort und holte zu einem weiteren Axthieb aus. Mannings duckte sich im letzten Moment; das Beil fuhr mit einem schmetternden Schlag in das harte Holz des Hauptmastes, aber Mannings verlor durch die abrupte Bewegung das Gleichgewicht. Eine halbe Sekunde lang ruderte er verzweifelt mit den Armen, dann kippte er nach hinten.

Ein vielstimmiger Schrei wehte über das Deck der LADY OF THE MIST. Mannings fiel, griff mit einer unmöglich erscheinenden Bewegung hinter sich und bekam die Rahe zu fassen. Seine Beine schlugen gegen das Segel. Er schrie. Seine linke Hand rutschte ab, und ich sah, wie sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte, als sein ganzes Körpergewicht nurmehr auf seinem linken Arm lastete. Barton stieß einen triumphierenden Schrei aus, suchte mit der Linken Halt am Mast und beugte sich vor. Die Axt in seiner Hand blitzte auf.

»Barton!« schrie Bannermann verzweifelt. »Hör auf, oder ich muß auf dich schießen!«

Barton erstarrte. Sein Blick suchte den des Kapitäns, und trotz der großen Entfernung konnte ich das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen sehen. Bannermann hob das Gewehr.

»Tun Sie es nicht, Captain!« schrie Andara. »Er weiß nicht, was er tut!«

Bannermann reagierte nicht. Sein Gesicht war leichenblaß, als er die Waffe entsicherte und Barton anvisierte. »Ich meine es ernst, Barton!« rief er. »Laß die Axt fallen, oder ich drücke ab!«

Bartons Antwort bestand in einem neuerlichen, unartikulierten Schrei. Blitzschnell riß er die Axt hoch, beugte sich noch weiter vor - und schlug zu.

Mannings' Schrei wurde vom peitschenden Knall des Schusses verschluckt. Der Matrose fiel, aber auch Barton stürzte, von der Wucht des Schusses herumgerissen wie von einem Faustschlag.

Ich wandte hastig den Blick, als Mannings und sein Mörder auf dem Deck aufschlugen. Für einen Moment wurde mir übel.

Andara ließ meine Hand los, machte einen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Gesicht zuckte. Aber es war nicht das Entsetzen über das, was geschehen war, sondern etwas anderes, Schlimmeres, Bannermann rannte neben ihm die Treppe herab, schleuderte sein Gewehr mit einer zornigen Geste von sich und eilte an uns vorüber. Der Blick, mit dem er Andara bedachte, sprühte vor Haß.

Von überall her begannen die Matrosen zusammenzulaufen, und am Fuße des Hauptmastes bildete sich rasch eine immer größer werdende Menschenmenge, Auch ich wollte hinter Bannermann hereilen, aber Andara hielt mich mit einer raschen Geste zurück, schüttelte den Kopf und deutete nach Norden, aufs Meer hinaus.

Im ersten Moment sah ich nichts außer dem endlosen blauen Wogen des Ozeans, aber dann erkannte ich, was der Magier mir zeigen wollte.

Unter der Wasseroberfläche, vielleicht eine halbe Meile von der LADY OF THE MIST entfernt, schimmerte ein gigantisches, dunkles Etwas. Seine genaue Form war nicht zu erkennen, aber es war langgestreckt und massig wie ein Wal. Nur größer. Viel, viel größer.

Ich wollte etwas sagen, aber Andara gebot mir mit einer hastigen Geste, zu schweigen. Ich verstand. Die Stimmung an Bord war nach diesem neuerlichen Vorfall ohnehin kurz vor dem Siedepunkt. Wenn die Matrosen den Schatten, der dem Schiff folgte, bemerkten, konnte es zu einer Katastrophe kommen.

Bannermann kam zurück. Sein Gesicht war bleich vor Schrecken, und um seinen Mund lag ein bitterer Zug, den ich bisher nicht an ihm bemerkt hatte. Seine Hände waren blutig. Aber es war nicht sein Blut.

»Tot«, sagte er dumpf. »Beide.« Er blieb stehen, fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch das Gesicht und beschmierte sich dabei mit Blut, ohne es zu bemerken. »Ich ... ich begreife nicht, was in Barton gefahren ist«, murmelte er. »Er ... muß verrückt geworden sein.« Er sah Andara an, und wieder glomm in seinen Augen dieses mahnende, flackernde Feuer auf. Der Mann mußte kurz davor sein, den Verstand zu verlieren.

Andara schwieg, aber vermutlich hätte Bannermann seine Worte gar nicht verstanden, wenn er geantwortet hätte. »Das ist Ihr Werk«, murmelte er. »Sie ... Sie ...« Er schluckte, ballte die Fäuste und hob zitternd die Arme. Ich spannte mich. Aber Bannermann führte die Bewegung nicht zu Ende. »Seit Sie an Bord dieses Schiffes gekommen sind, verfolgt uns das Unglück«, keuchte er. »Sie sind schuld, wenn ...«

»Bannermann!« sagte ich scharf. »Reißen Sie sich zusammen!«

Andara warf mir einen raschen, dankbaren Blick zu, schüttelte aber den Kopf. »Laß ihn, Junge«, sagte er sanft. »Er hat recht. Ich wollte, ich könnte es rückgängig machen.«

»Vielleicht können wir es ja«, sagte eine Stimme. Ich sah auf und bemerkte erst jetzt, daß wir nicht mehr allein waren. Ein Teil der Matrosen war Bannermann gefolgt und hatte uns umringt. Es waren müde, abgekämpfte Gesichter, die uns anstarrten. Aber in einigen von ihnen flackerte der Haß. Ich konnte die Spannung, die plötzlich in der Luft lag, beinahe riechen.

»Halten Sie den Mund, Lorimar«, sagte Bannermann müde. Plötzlich war der Zorn aus seinem Blick gewichen. Er sah jetzt nur noch erschöpft aus.

Der Angesprochene erwiderte seinen Blick trotzig, trat einen halben Schritt vor und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich denke nicht daran, Captain«, sagte er. »Sie haben es ja selbst gesagt. Seit dieser Kerl« - damit deutete er auf Andara - »unser Schiff betreten hat, ist der Teufel an Bord. Glauben Sie ...?«

»Nichts habe ich gesagt«, unterbrach ihn Bannermann wütend. »Ich habe die Beherrschung verloren und Unsinn geredet, das ist alles.«

»O nein, Captain«, erwiderte Lorimar aggressiv. »Sie haben die Wahrheit gesagt.« Er schnaubte. »Denken Sie wirklich, daß wir Ihnen abkaufen, es wäre Zufall, daß dieses Biest uns ausgerechnet jetzt angegriffen hat? Oder daß Barton ausgerechnet jetzt durchgedreht ist?« Die Menge um uns herum wuchs, und mehr als nur einer gab ein zustimmendes Knurren von sich. Instinktiv zählte ich die Anzahl der Köpfe durch und überschlug unsere Chancen, falls es zu Gewalttätigkeiten kommen sollte. Sie waren nicht besonders gut.

»Was wird das?« fragte Bannermann lauernd. »Eine Meuterei, Lorimar? Mit Ihnen als Anführer?« Er versuchte, spöttisch zu klingen, aber es gelang ihm nicht ganz.

»Keine Meuterei, Captain«, erwiderte Lorimar. »Wir haben nichts gegen Sie. Aber wir wollen, daß dieser Kerl von Bord geht. Schmeißen Sie ihn ins Meer. Er verbreitet Unglück wie die Ratten die Pest.«

»Sie sind verrückt!« keuchte Bannermann. »Mister Montague!«

»Andara, wollten Sie sagen«, unterbrach ihn Lorimar kalt. Bannermann erbleichte, und Lorimar fuhr, selbstsicher geworden, fort: »Denken Sie, wir wissen nicht, wer er ist?« Er lachte. »Mannings hat ihn erkannt, als er in New York an Bord ging, aber wir haben gedacht, daß uns das alles nichts angeht. Wir hätten ihn gleich über Bord werfen sollen, noch bevor wir losgefahren sind!«

»Kein Wort mehr!« schrie Bannermann. »Geht an eure Arbeit! Ich lasse jeden, der in zehn Sekunden noch hier steht, wegen Meuterei vor Gericht stellen. Ihr ...«

Andara legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie ihn, Captain«, sagte er leise. Bannermann wollte seine Hand abstreifen, aber Andara schob ihn einfach zur Seite, trat auf Lorimar zu und blickte ihm starr in die Augen.

»Sie haben recht, Lorimar«, sagte er ruhig. »Ich bin Andara. Der Hexer.« Er lächelte dünn. »So nennt man mich doch, nicht? Aber ich habe mit dem, was gerade geschehen ist, nichts zu tun. Der Mann hat schlicht und einfach den Verstand verloren. Was geschehen ist, war zuviel für ihn.«

»Es wäre nicht passiert, wenn Sie nicht an Bord wären«, zischte Lorimar. Aber er hatte den Großteil seiner Selbstsicherheit verloren, und der wütende Klang in seiner Stimme war jetzt nur noch Trotz.

Andara nickte. »Das stimmt«, gestand er. »Und ich bin bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ich ... Wenn es etwas ändern würde, würde ich mich freiwillig dem Ungeheuer ausliefern, das uns folgt. Aber es wäre sinnlos.«

»Warum?« keuchte Lorimar. »Es ist Ihretwegen hier. Sie sind es, den es haben will, nicht wahr? Vielleicht läßt es uns in Ruhe, wenn es Sie hat!«

»Das wird es nicht«, erwiderte Andara kopfschüttelnd. »Dieses Wesen denkt nicht wie ein Mensch. Es sind andere Regeln, die sein Denken und Handeln bestimmen. Es wird nicht eher ruhen, bis es dieses Schiff und den letzten Mann seiner Besatzung vernichtet hat.« Irgend etwas änderte sich im Klang seiner Stimme. Ich wußte selbst nicht, was es war; vielleicht die Art, in der er die Worte betonte, vielleicht auch nur die Lautstärke - aber mit einemmal hatten seine Worte einen befehlenden, suggestiven Klang, der jeden Gedanken an Widerstand lächerlich erscheinen ließ. »Ihr habt recht, wenn ihr mich verantwortlich macht«, fuhr er fort. »Und doch bin ich der einzige, der euch jetzt noch retten kann. Solange ich lebe, ist dieses Schiff sicher. Wenn ihr mich tötet, wird er euch vernichten. Und jetzt geht an eure Arbeit.« Er hob den Arm und deutete mit einer befehlenden Geste zum Bug des Schiffes. »Ändert den Kurs«, sagte er. »Wir fahren nach Süden. Zur Küste.«

In Lorimars Gesicht arbeitete es. Seine Lippen zitterten, und auf seiner Stirn erschien feiner, kalter Schweiß. Langsam, als bewege er sich nicht aus freien Stücken, sondern folge einem anderen, stärkeren Willen, wandte er sich um und ging steifbeinig über das Deck davon. Die anderen folgten ihm.

Bannermann keuchte. Er und ich schienen die einzigen zu sein, die den suggestiven Klang von Andaras Worten zwar gehört hatten, ihm aber nicht vollkommen erlegen waren. »Wie ... haben Sie das gemacht?« stammelte Bannermann. »Ich kenne Lorimar. Er ist ein verdammter Hitzkopf, aber wenn er einmal Oberwasser hat, dann bringen ihn keine zehn Pferde mehr zur Vernunft.«

Andara lächelte. »Ein kleiner Trick, mehr nicht«, sagte er. »Die Männer wollten mich nicht wirklich töten, Captain. Sie hatten nur Angst.«

Bannermann schluckte. »Aber Sie ...« Er brach ab, schüttelte verwirrt den Kopf und sah hilflos in die Runde. »Das ... das war Ihr Ernst, nicht?« fragte er. »Sie würden sich opfern, wenn es uns retten würde.«

Andara antwortete nicht.

»Aber es würde uns nicht retten«, fügte Bannerrnann hinzu.

»Nein«, sagte Andara leise. »Das Wesen, das uns folgt, läßt nie wieder von einem Opfer ab, dessen Spur es einmal aufgenommen hat.«

Ich erwartete halbwegs, daß Bannermann fragen würde, was es für ein Wesen war, das uns verfolgte, aber er tat es nicht. Und jetzt fiel mir auf, daß nicht ein Mann der Besatzung diese Frage gestellt hatte. Selbst mir fiel es seltsam schwer, mich an das Monster zu erinnern. Es war fast, als blockiere irgend etwas meine Erinnerung in diesem Punkt.

»Ändern Sie den Kurs, Captain«, sagte Andara ernst. »Und feuern Sie Ihre Männer an, wenn Sie sie retten wollen. Ich weiß nicht, wie lange ich uns noch schützen kann.«

Bannermann nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und verkrampft. »Ich ... muß mich um die Toten kümmern«, sagte er gepreßt. »Sie brauchen ein anständiges Begräbnis.«

»Dazu ist keine Zeit«, sagte Andara kopfschüttelnd. »Bahren Sie sie auf, bis wir die Küste erreicht haben. Wenn das Schiff sinkt, dann ist es ein würdiges Grab für sie.« Er schien vollkommen sicher zu sein, daß die LADY niemals mehr einen Hafen anlaufen würde. Aber wenn Bannermann über diese neuerliche Hiobsbotschaft erschrocken war, so beherrschte er sich meisterhaft. Er nickte nur, wandte sich mit einem Ruck um und ging nach vorne. Ich sah ihm nach. Ein paar seiner Männer hatten bereits damit begonnen, die Leichname von Mannings und Barton in weißes Segeltuch zu schlagen. Mein Blick glitt an ihnen vorbei zum Bug. Neben der zerbrochenen Reling lagen fünf weitere, längliche Bündel aus grobem Segeltuch. Die Männer, die dem ersten Angriff des Unheimlichen zum Opfer gefallen waren. Ich schauderte. Wie viele Menschen mußten noch sterben, ehe dieser Alptraum endlich vorüber war?

»Ich werde sie retten, Robert«, sagte Andara leise. »Ich verspreche es.«

Es bereitete mir Mühe, meinen Blick von den Toten zu lösen. »Lesen Sie meine Gedanken?« fragte ich, ohne ihn anzusehen. Die Kälte, die in meiner Stimme mitschwang, erschreckte mich selbst.

Andara schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es ist nicht schwer, deine Gefühle zu erraten, Junge. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du mich haßt.«

Jetzt sah ich ihn doch an. »Hassen? Ich hasse Sie nicht. Ich ...« Ich sprach nicht weiter. Es fiel mir seltsam schwer, mir über meine eigenen Gefühle klar zu werden.

»Vielleicht verstehst du jetzt, was ich vorhin gemeint habe«, fuhr er leise fort. »So wie hier ist es immer gewesen. Immer und überall.« Er lächelte traurig.

»Ist es so?« fragte ich. Es fiel mir schwer, weiter zu sprechen. »Hatte ... hatte Lorimar recht? Bringen Sie wirklich den Tod?«

Andaras Reaktion auf meine Worte überraschte mich. In seinen Augen glomm ein Schmerz auf, den ich mir nicht zu erklären vermochte. »Komm mit«, sagte er plötzlich.

Ich drehte mich um, um in unsere Kabine zurückzugehen, aber Andara deutete mit einer Kopfbewegung zum Achterdeck hinauf. »Laß uns dort oben reden«, sagte er. »Es ist besser, wenn ich an Deck bleibe.«

Ohne ein weiteres Wort folgte ich ihm auf das höher gelegene Achterdeck hinauf. Wir waren allein. Bannermann war irgendwo vorne auf dem Schiff, und mir fiel erst jetzt auf, wie still es hier hinten war. Die Männer mieden unsere Nähe. Andara hatte ihren Willen gebrochen und sie - auf welche Weise auch immer - gezwungen, seinen Befehlen zu gehorchen. Aber die instinktive Furcht, die sie vor ihm empfinden mußten, hatte er nicht auslöschen können. Vielleicht hatte er es auch nicht gewollt.

Andara ging mit schnellen Schritten bis zum hinteren Ende des Decks, lehnte sich gegen die Reling und kramte eine Zigarre aus der Rocktasche. Ich folgte ihm in geringem Abstand. Der Wind schien kälter zu werden, als ich neben ihn trat, und ich ertappte mich dabei, wie ich nach Norden sah und den gewaltigen, dunklen Umriß unter der Wasseroberfläche suchte. Er war nicht mehr zu sehen, aber ich wußte, daß er noch da war. Irgendwo, ganz in unserer Nähe.

Andara entzündete seine Zigarre, nahm einen tiefen Zug und blies eine Rauchwolke von sich. »Du hast mich gefragt, ob diese Männer recht haben«, begann er. »Ob ich wirklich den Tod bringe. Ich fürchte, sie haben recht, Robert. Aber vielleicht hat jetzt bald alles ein Ende.« Er tat einen weiteren Zug an seiner Zigarre und sah mich an. »Ich hatte alles anders geplant«, murmelte er. »Und es schien alles so sicher. Ich hatte große Pläne mit dir, und jetzt muß alles so schnell gehen. Erinnerst du dich an das Buch, das ich dir zeigte? Und an meine Krankheit?«

Seine Worte jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Er sprach so ruhig, als wäre überhaupt nichts geschehen. Die beiden Toten auf dem Deck unter uns schien er bereits vergessen zu haben. »Ja«, antwortete ich gepreßt. »Aber was hat das mit dem Ungeheuer zu tun?«

»Alles«, antwortete er. »Vielleicht ist es gut, daß du niemals Gelegenheit haben wirst, es zu lesen. Aber ich will dir wenigstens erzählen, was darin steht. Das Buch ist die Chronik meiner Heimat, der Stadt, in der ich geboren wurde und in der alles begonnen hat. Die Chronik von Jerusalems Lot.«

»Jerusalems Lot?« fragte ich. »Was ist das?«

»Hast du schon einmal von Salem gehört?« erwiderte Andara, ohne direkt auf meine Frage zu antworten. Ich nickte.

»Die Stadt der Hexen«, fuhr er fort. »Ein Dorf, dessen Einwohner sich dem Teufel verschrieben hatten - so behauptete man, damals. Es ist über hundert Jahre her, und die meisten haben es wohl schon vergessen. Salems Einwohner haben niemals wirklich dem Teufel gedient, aber sie beherrschten die Schwarze Magie; so wie ich.«

»Sie wurden ... getötet, nicht?« fragte ich stockend. Ich erinnerte mich. Ich hatte von Salem gehört, so wie man eben von einer solchen Sache hört. Natürlich hatte ich nicht wirklich daran geglaubt; ja, ich hatte mich sogar darüber lustig gemacht.

Aber jetzt rührten mich Andaras Worte auf seltsam unangenehme Weise an. Fast, als würden durch sie Erinnerungen geweckt. Erinnerungen, die ich nicht haben konnte ...

»Sie wurden getötet«, bestätigte er. »Die meisten jedenfalls. Die Menschen in den umliegenden Ortschaften hatten Angst vor ihnen, Robert. Sie waren nicht wirklich böse. Sie dienten weder dem Teufel noch anderen finsteren Mächten, sondern hatten sich nur ein Wissen bewahrt, das der größte Teil der übrigen Menschheit längst verloren hatte. Ein uraltes Wissen, das Wissen um Dinge, die lange vor unserer Zeit waren. Aber die anderen glaubten, sie wären mit Satan im Bunde, und eines Tages rotteten sie sich zusammen und töteten sie in einer einzigen, blutigen Nacht.«

Er schwieg einen Moment, und das Gefühl gestaltloser Furcht in mir wurde stärker. Ich versuchte es zu verdrängen, aber es ging nicht. Für einen Moment glaubte ich, Schreie zu hören. Flackernde rote Lichtblitze huschten über das Meer, und in das Salzwasseraroma des Ozeans mischte sich ein Übelkeit erregender Gestank. Dann verschwand die Vision.

»Aber nicht alle starben«, fuhr Andara fort. »Ein paar von ihnen entkamen, und sie siedelten sich an einem neuen Ort an, tausend Meilen entfernt und unbemerkt von den anderen. Das Erbe von Salem lebte weiter.«

»Jerusalems Lot?«

Andara nickte. »Ja. Sie wählten diesen Namen, weil sie die Menschen kannten und wußten, wie leicht sie zu täuschen waren. Nach außen hin waren sie gläubige Menschen, Männer und Frauen, die täglich in den Gottesdienst gingen und ihre Kinder in christlichem Glauben erzogen. Aber sie haben niemals vergessen, was ihnen angetan wurde.«

»Und Sie sind ... einer von ihnen?«

Andara lächelte verzeihend. »Nein, Robert. Niemand von denen, die aus Salem entkamen, lebt noch. Niemand bis auf ... einen«, fügte er hinzu. »Es war mein Großvater. Er war einer der wenigen, die dem Morden entkamen. Er und eine Handvoll Männer und Frauen. Er zeugte meinen Vater und gab das verbotene Wissen an ihn weiter, und mein Vater lehrte es mich.« Er senkte den Blick, und als er weitersprach, klang seine Stimme bitter. »Die Menschen sind grausam, Robert, viel grausamer, als du ahnst. Ein Jahrhundert lang störte niemand den Frieden von Jerusalems Lot, aber dann wiederholte sich das Schicksal. Wir waren vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug. Nach und nach begannen die Menschen in den benachbarten Orten zu ahnen, daß die Einwohner des kleinen Dorfes anders waren als sie, und alles begann von vorne.«

»Sie haben sie ... umgebracht?« fragte ich stockend.

»Nicht sofort«, erwiderte Andara. »Aber sie begannen sich vor ihnen zu fürchten. Später haßten sie sie. Ich war einer der wenigen, der die Gefahr erkannte, ich und die vier anderen Großmeister der Macht. Ich habe sie gewarnt, aber sie wollten nicht auf mich hören. Und schließlich verließ ich sie, weil ich wußte, was geschehen würde.« Er seufzte. »Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich habe sie verraten, Robert. Ich habe sie im Stich gelassen und bin geflohen wie ein Feigling.« Wieder stockte er. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und sein Atem ging schnell und schwer. »Sie kamen, kurz nachdem ich fort war. Es war wie in Salem, nur schlimmer, viel schlimmer. Die Einwohner der Nachbarorte rotteten sich zusammen und fielen mit Feuer und Tod über Jerusalems Lot her. Sie haben sie getötet. Unschuldige Männer, Frauen und Kinder.«

»Aber was ... hätten Sie tun können?« fragte ich hilflos. »Sie wären auch getötet worden und ...«

»Vielleicht«, unterbrach mich Andara. »Aber vielleicht hätte ich sie retten können. Wir waren fünf, Robert, fünf Hexer. Unsere vereinten Kräfte hätten vielleicht gereicht, den Mob zurückzuhalten. Vielleicht hätten ein paar Zeit gefunden, zu fliehen. Aber sie starben, weil ich nicht da war. Aber ihr Fluch lebte weiter, Robert. Sie waren Hexer wie ich, und der Fluch eines Hexers erlischt nicht mit seinem Tod. Es ist mehr als zwanzig Jahre her. Seitdem bin ich auf der Flucht.«

»Vor Toten?« keuchte ich fassungslos.

»Vor ihrem Fluch«, antwortete Andara. »In ihren Augen war ich ein Verräter. Vielleicht haben sie sogar recht, und vielleicht wäre es meine Pflicht gewesen, zu bleiben und gemeinsam mit ihnen zu sterben. Aber ich habe mir eingebildet, ich könnte davonlaufen!« Er lachte schrill. »Als ich unten in der Kabine lag und ihr alle glaubtet, ich wäre krank, habe ich in Wirklichkeit versucht, meine Spur zu verwischen. Ich Narr!«

»Aber zwanzig Jahre ...«

»Was bedeutet Zeit vor dem Fluch eines Hexenmeisters?« unterbrach er mich erregt. »Ich habe mir eingebildet, stark genug zu sein, aber ich war es nicht.« Er fuhr herum und starrte nach Norden. »Mein Gott, was war ich für ein Narr!« wiederholte er. »Vielleicht habe ich ihn gerade durch meine Anstrengungen erst auf unsere Spur gebracht. Ich fühlte mich sicher, Robert. Dreitausend Meilen und zwanzig Jahre von Jerusalems Lot entfernt fühlte ich mich sicher genug, den Fluch brechen zu können. Aber er hat mich endlich doch eingeholt.«

»Er?«

Andara wies nach Norden. »Das Wesen, das sie riefen, um mich zu bestrafen. Das Werkzeug ihrer Rache. Yog-Sothoth, der Schrecklichste der GROSSEN ALTEN. Diese Narren! Wie müssen Sie mich gehaßt haben, diese Wesen aus den Abgründen der Zeit heraufzubeschwören, nur um mich zu vernichten.«

Yog-Sothoth ... Der Name hallte ein paarmal hinter meiner Stirn wieder, und erneut und viel stärker als beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, mich an Dinge zu erinnern, die ich niemals erlebt hatte. Alte und schreckliche Dinge, ein Wissen, das zu furchtbar war, um von Menschen angerührt zu werden. Plötzlich fror ich.

»Können Sie es ... vernichten?« fragte ich stockend.

Andara lachte bitter. »Vernichten? Yog-Sothoth vernichten? Das kann ich nicht. Niemand kann das, Junge. Ein Kind kann einen Waldbrand zwar legen, aber nicht mit bloßen Händen löschen. Die Macht von vier Hexern hat ausgereicht, ein Tor zu öffnen, das die Macht von viertausend nicht mehr schließen kann.« Er wies mit einer fast zornigen Geste aufs Meer hinaus. »Er wird mich töten, egal, wie weit ich vor ihm davonlaufe, Robert. Meine Macht reicht vielleicht, ihn zurückzuhalten, eine Stunde, vielleicht zwei. Vielleicht lange genug, daß du und die Männer das Schiff verlassen könnt. Danach wird er mich holen. Und ich werde nicht mehr davonlaufen.«

»Aber das ist doch Wahnsinn!« entfuhr es mir. »Dieses ... dieses Ding kann nicht an Land. Wir können ein Boot nehmen und ....«

»Ich habe schon zu vielen den Tod gebracht, Robert«, unterbrach mich Andara sanft. »Es sind genügend Unschuldige gestorben, nur weil ich einmal in meinem Leben feige war. Ich bin davongelaufen, und die acht Männer, die heute gestorben sind, sind meinetwegen gestorben. Es darf nicht noch mehr Tote geben. Du mußt leben.«

»Ich? Aber was habe ich ...?«

»Yog-Sothoth wird nicht wieder gehen«, unterbrach er mich. »Er wird weiterleben, nachdem er mich getötet hat. Und wenn das geschehen ist, ist er frei. Er und vielleicht andere, die mit ihm kamen. Jemand muß da sein, der den Kampf fortfährt. Es gibt jemanden in London, der die Kraft und das Wissen hätte, den Kampf zu gewinnen, aber er braucht Hilfe. Deine Hilfe.«

»Aber wieso ich?« fragte ich hilflos. »Wieso ausgerechnet ich? Ich bin kein Hexer wie Sie. Ich verstehe nichts von Schwarzer Magie und Zauberei!«

»Aber du bist ein Erbe der Macht, wie ich«, sagte Andara ernst. »Du weißt es noch nicht, aber die Begabung ist in dir. Ich habe es gespürt, als ich dich zum ersten Mal sah. Der Mann, zu dem ich dich schicken werde, wird dir helfen, deine Kräfte zu erforschen und zu lernen, sie richtig anzuwenden.«

»Ich?« keuchte ich. »Ich soll ein Hexer sein? Sie ... Sie sind verrückt.«

Und ich wußte im gleichen Moment, in dem ich die Worte aussprach, daß er recht hatte. Es war kein Zufall, daß er mich mit auf diese Reise genommen hatte. Er hatte mich gesucht, jemanden wie mich. Meine Fähigkeit, immer zu wissen, ob mich jemand belog oder nicht, die Gabe, immer im rechten Moment am richtigen Ort zu sein, mein Instinkt, immer genau das richtige zu tun, um den mich meine Kameraden immer so bewundert hatten - es war nicht einfach nur Glück ...

Andara lächelte, hob die Hand und berührte die gezackte, wie ein erstarrter Blitz geformte Strähne weißen Haares, die dicht über seinem rechten Auge begann und sich bis an den Scheitel hinaufzog. »Du besitzt die gleichen Fähigkeiten wie ich, Robert«, sagte er sanft. »Und bald wirst du das Stigma der Macht tragen.«

Ich starrte ihn an, öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut hervor.

»Es tut mir leid«, flüsterte Andara. »Ich hätte es dir gern auf andere Weise beigebracht. Ich weiß, was du jetzt fühlst.«

Aber ich hörte seine letzten Worte kaum mehr. Mit einem krächzenden Schrei auf den Lippen fuhr ich herum und lief davon, so schnell ich konnte.


Während der letzten halben Stunde war der graue Streifen vor dem Horizont erst zu einer Linie, schließlich zu einer zerschrundenen, zweihundert Fuß senkrecht in die Höhe strebenden Felswand geworden. Ihre Basis verschwand in einer Wolke weißer, wie fein zermahlener Staub schäumender Gischt, aber die Wellen brachen sich schon ein gutes Stück vor der Küste, bildeten verräterische Wirbel und Strudel, zwischen denen nur hier und da ein schwarzer, feuchtglitzernder Umriß hervorstach. Die LADY OF THE MIST raste auf die Küste zu, auf sie und die Barriere mörderischer Riffe, die dicht unter der Wasseroberfläche auf die Schiffe lauerte, die unvorsichtig genug waren, sich ihnen zu nähern. Die Küste tanzte dicht vor uns auf und ab; im gleichen Rhythmus, in dem sich der Bug des Schiffes in Wellentäler senkte oder auf ihre Rücken hob. Das Heulen, mit dem sich der Wind an den kantigen Graten der Wand brach, war selbst über die Entfernung von mehr als einer Meile deutlich zu hören, aber das Geräusch klang in meinen Ohren wie boshaftes Hohngelächter.

»Wahnsinn«, murmelte Bannermann neben mir. Seine Stimme war fast unnatürlich gefaßt, aber sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. »Das ist Wahnsinn«, murmelte er erneut, als ich nicht reagierte. »Wenn mir vor zwei Stunden jemand erzählt hätte, daß ich mein Schiff freiwillig auf die Riffe steuern würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt.« Er starrte mich an, und ich spürte, daß er auf eine Antwort wartete.

Aber ich schwieg. Meine Gedanken weigerten sich noch immer, sich in geordneten Bahnen zu bewegen. Hinter meiner Stirn tobte ein Orkan einander widerstrebender Empfindungen und Gefühle. Ich wußte im Grunde genau, daß Andara recht hatte, mit jedem Wort. Jetzt, da ich die Wahrheit erfahren hatte, fielen mir all die tausend Kleinigkeiten ein, die ich erlebt hatte; Dinge, die jetzt, mit meinem neu erworbenen Wissen, ein völlig anderes Gewicht bekommen hatten. Ich hatte das Talent, von dem Andara gesprochen hatte. Und irgendwie - ohne mir selbst darüber im klaren gewesen zu sein - hatte ich es die ganze Zeit über gewußt, schon lange, bevor ich Andara kennengelernt hatte.

Aber ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nichts mit all diesen Dingen zu tun haben, mit Hexern, Dämonen und Zauberern, Magie und Ungeheuern aus einer anderen Zeit. Ich schloß die Augen, ballte in einer Geste hilflosen Zornes die Fäuste und preßte die Stirn gegen das feuchte Holz des Mastes.

Bannermann schien meine Reaktion falsch zu deuten. »Die Küste ist ungefährlicher, als es scheint«, sagte er in einem schwachen Versuch, mich zu beruhigen. »Die Riffe liegen tief genug unter der Wasseroberfläche, und es ist Flut. Wenn wir Glück haben, hebt uns eine Welle darüber hinweg. Und wenn nicht«, fügte er hinzu, »schwimmen wir eben. Sie können doch schwimmen?«

»Das ist es nicht«, murmelte ich. Bannermann runzelte die Stirn und sah mich fragend an, und für einen Moment war ich ernsthaft versucht, ihm alles zu erzählen.

Aber natürlich tat ich es nicht, und nach einer Weile begriff Bannermann, daß ich nicht weiterreden würde, und wandte sich mit einem lautlosen Achselzucken um.

Ich sah ihm nach, hob den Blick und suchte Andara. Er stand noch immer dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, wandte mir aber den Rücken zu und starrte auf das Meer hinaus. Ich versuchte, mir den lautlosen Kampf vorzustellen, der in seinem Inneren toben mußte, aber ich konnte es nicht. Er hatte gesagt, daß er Yog-Sothoth zurückhalten würde, bis das Schiff und seine Besatzung in Sicherheit waren, und ich wußte, daß er es konnte. Aber ich wollte gar nicht wissen, wie er es tat.

Das Schiff hob sich in einer schwerfälligen Bewegung auf den Rücken einer Woge, zitterte einen zeitlosen Moment reglos auf ihrem Kamm und stürzte zehn, zwanzig Fuß tief in das Wellental hinab. Die Erschütterung ließ mich gegen den Mast taumeln. Ich klammerte mich fest, wartete, bis der Boden unter meinen Füßen zu bocken aufgehört hatte und wandte mich wieder zum Bug um.

Die Küste war näher gekommen. Das Schiff schoß mit phantastischer Geschwindigkeit auf die Flutlinie und die vorgelagerte Riffbarriere zu, und es konnte nur noch Minuten dauern, ehe es sie erreicht hatte. Ich schickte ein lautloses Stoßgebet zum Himmel, daß Bannermann recht hatte und seine Worte nicht nur eine fromme Lüge gewesen waren, mit der er mich beruhigen wollte. Ich verstand nichts von der Seefahrt, aber seine Erklärung erschien mir einleuchtend: Das Meer war unruhig, und der Wind, der im Laufe der letzten halben Stunde immer heftiger geworden war, peitschte das Wasser zu zwanzig Fuß hohen Wogen. Wenn die LADY OF THE MIST die unterseeische Rifflinie im richtigen Moment erreichte, und wenn sich eine der gewaltigen schaumigen Wellen unter ihren Rumpf schob und sie anhob ...

Wenn, wenn, wenn ... Es waren ein paar »wenns« zuviel. Wahrscheinlich würde das Schiff wie eine Nußschale zerbrechen, wenn es die Flut gegen die gezackte Mauer schmetterte, die eine Handbreit unter der Wasseroberfläche lauerte.

Ein plötzliches, intensives Gefühl von Gefahr schreckte mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf, fuhr mir verwirrt über die Augen und blickte alarmiert über das Schiff. Der Wind ließ die Segel knattern, und der Schiffsrumpf ächzte und stöhnte unter der Belastung wie ein lebendes Wesen. Die Takelage war leer; die Besatzung hatte sich auf dem Deck der LADY OF THE MIST verteilt, um sich auf ein eventuelles Auflaufen vorzubereiten. Mein Blick tastete über das Meer, dorthin, wo der unsichtbare Verfolger lauern mochte. Aber der Ozean war leer, und irgend etwas sagte mir, daß es eine Gefahr ganz anderer Art war, die ich spürte.

Hinter dir, Robert!

Die Stimme war so klar, als stünde der Sprecher unmittelbar neben mir. Andaras Stimme ...

Aber ich war allein auf dem Vorderdeck; der Hexer befand sich am anderen Ende des Schiffes, mehr als hundertfünfzig Fuß von mir entfernt! Und seine Stimme war direkt in meinen Gedanken!

Es ist hinter dir, Robert. Es ... um Gottes willen! Lauf weg! Bringe dich in Sicherheit!

Alles schien gleichzeitig zu geschehen. Ich handelte, ohne zu denken und - aber das wurde mir in diesem Moment nicht bewußt - nicht einmal aus freien Stücken, sondern gezwungen von einem fremden, ungeheuer starken Willen, federte zur Seite und schlug ungeschickt auf den glitschigen Decksplanken auf. Ein Schrei gellte über das Schiff, und irgend etwas Dunkles, Feuchtes und ungeheuer Starkes krallte sich in meinen Rücken, riß mich in die Höhe und versuchte, mich gegen den Mast zu schleudern.

Diesmal reagierte ich instinktiv. Statt mich gegen die Kraft zu stemmen, wie es der Angreifer erwartet haben mußte, machte ich im Gegenteil einen blitzschnellen Schritt nach vorne, griff mit beiden Händen über meine Schultern zurück und bekam eine haarige Hand zu fassen. Ich vollführte eine halbe Drehung, knickte in die Hüfte ein und legte alle Kraft in die Bewegung nach vorne. Meine Füße verloren auf dem glitschigen Deck den Halt; ich fiel. Aber der Kerl, der mich gepackt hatte, wurde in hohem Bogen über meinen gekrümmten Rücken hinweggeschleudert, segelte drei, vier Meter durch die Luft und schlitterte mit haltlos rudernden Armen gegen die Reling.

Sie zerbrach unter seinem Anprall. Der Mann rutschte mit fast unvermindertem Tempo über das Deck hinaus, drehte sich im letzten Moment und bekam ein Stück der zerborstenen Reling zu fassen. Mit einem Ruck, der ihm fast die Arme aus den Gelenken reißen mußte, fing er seinen Sturz ab.

Und plötzlich hatte ich das Gefühl, von einem eiskalten Hauch gestreift zu werden.

Ein Gesicht erschien über dem Deck, bleich, ein Teil eines zertrümmerten Schädels, die Augen weit geöffnet und erstarrt. Es war das Gesicht eines Toten. Mannings' Gesicht.

Das Gesicht eines Mannes, der vor meinen Augen zu Tode gestürzt war ...

Robert! LAUF!

Andaras Warnung kam zu spät. Ich prallte zurück, fuhr mit einer verzweifelten Bewegung herum - und erstarrte.

Mannings war nicht der einzige Tote, der noch einmal zu grauenhaftem Leben auferstanden war! Vor mir, nicht einmal zwei Schritte entfernt, stand Barton, sein Mörder. Sein Körper war zusammengestaucht von dem Sturz und auf groteske Weise verdreht, als wäre jeder einzelne Knochen in seinem Leib gebrochen und auf falsche Weise wieder zusammengewachsen, und genau zwischen seinen Augen war ein kleines rundes Loch, wo ihn Bannermanns Kugel getroffen hatte. Seine gebrochenen Totenaugen starrten mich an, und seine Hände hoben sich in einer zitternden, mühsamen Bewegung und tasteten in meine Richtung.

Ein Schuß krachte. Dicht neben Barton spritzten Holzsplitter aus dem Deck, und ich hörte Andaras Stimme schreien: »Hört auf zu schießen! Ihr könntet Robert treffen!«

Die Worte rissen mich endgültig aus meiner Erstarrung. Hastig wich ich zwei, drei Schritte zurück, preßte mich gegen den Mast und blickte mich gehetzt um. Barton und Mannings schienen die einzigen Toten zu sein, die noch einmal aus dem Schattenreich zurückgekehrt waren, aber beinahe im gleichen Augenblick, in dem ich den Gedanken dachte, sah ich die Bewegung unter den weißen Leichentüchern ...

Und im gleichen Augenblick erbebte die LADY OF THE MIST unter einem gewaltigen Schlag!

Die Erschütterung riß jeden an Deck von den Füßen. Ich fiel, rollte mich instinktiv zusammen und kugelte unter Bartons zugreifenden Händen hindurch. Die Matrosen begannen zu schreien, und ein ungeheures, knirschendes Mahlen lief durch den Rumpf. Ich spürte, wie tief unter uns die Planken zerbrachen und Wasser gurgelnd in den Bauch des Schiffes strömte. Ein weiterer Schlag traf das Schiff, nicht ganz so heftig wie der erste, aber noch immer stark genug, mich erneut von den Füßen zu reißen.

Als ich mich zum zweiten Male hochstemmte, blickte ich direkt in Mannings' schreckliches Gesicht.

Der Tote war, beseelt von der Kraft, die nicht mehr die eines Menschen war, wieder an Deck gekrochen und auf mich zugetaumelt. Ich schrie auf, warf den Kopf zurück und versuchte rücklings vor der furchtbaren Erscheinung davonzukriechen, aber Mannings war schneller. Seine Hand schoß vor, packte mich bei den Rockaufschlägen und zerrte mich mit übermenschlicher Gewalt zurück. Ich schrie erneut, trat in blinder Angst um mich und hämmerte ihm die Fäuste ins Gesicht.

Es war ein Gefühl, als würde ich in einen warmen Schwamm schlagen. Mannings schien den Hieb nicht einmal zu spüren, aber meine Gegenwehr steigerte seine Wut noch. Seine linke, unverletzte Hand legte sich auf mein Gesicht, drückte meinen Kopf in den Nacken und versuchte mir das Genick zu brechen. Ich spürte, wie der Druck auf meine Nackenwirbel ins Unerträgliche stieg. Noch wenige Sekunden, und mein Rückgrat würde brechen!

Ein dritter, noch heftigerer Schlag traf die LADY OF THE MIST. Das Schiff legte sich auf die Seite. Irgendwo über uns in den Masten zerbrach etwas; zertrümmertes Holz und Segeltuch regneten auf das Deck herab, und das Schiff stöhnte wie unter Schmerzen auf. Mannings wurde von einem armlangen Balken gestreift, bäumte sich auf und brach wie vom Blitz getroffen zusammen.

Aber es war nur eine winzige Atempause, die mir gegönnt war. Das Schiff stampfte und zitterte ununterbrochen, rings um uns herum kochte das Wasser, und der Wind steigerte sich von einem Atemzug auf den anderen zu einem tobenden Orkan, der die Segel zerfetzte und die Masten sich biegen ließ. Aber das Toben der Elemente behinderte die Lebenden weit mehr als die Toten! Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie die Leichensäcke, in die die Leichname der Matrosen eingenäht worden waren, endgültig zerrissen. Totenhände arbeiteten sich ins Freie, und als ich aufsprang und verzweifelt nach einem Fluchtweg suchte, grinste mich einer der Männer an, der in der Pinasse gewesen war, als Yog-Sothoth das erste Mal zuschlug.

Ich war eingekreist. Vor mir standen die Toten auf, und der Weg zum Achterdeck hinab wurde von Mannings und Barton versperrt. Noch griffen sie nicht an, aber ihre Absicht war eindeutig - sie wollten mich weiter zum Bug hinabtreiben, direkt in die Arme der anderen Untoten, die langsam wieder zu diabolischem Leben erwachten.

Und genau in diesem Augenblick, als wäre dies alles nichts als ein Vorspiel zu kommendem Schrecken gewesen, barst der Ozean rings um die LADY OF THE MIST in einer titanischen Fontäne aus Schaum und siedendem Wasser auseinander, und etwas Ungeheures, formlos Grauenhaftes hob sein schreckliches Haupt aus dem Meer. Die Schreckensschreie der Männer gingen in einem ungeheuerlichen Brüllen unter, einem Laut, wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben gehört hatte; ein Schrei, der das Firmament zum Beben und das Meer zum Erzittern brachte. Rings um das Schiff wuchs ein Wald peitschender grüner Arme aus dem Meer, oberschenkeldicke Tentakel, besetzt mit glitzernden grünen Schuppen und tödlichen Mäulern. Andara schrie etwas, das ich nicht verstand, breitete die Arme in einer abwehrenden Geste aus und warf sich dem Ungeheuer entgegen; ein winziger, verlorener Mensch gegen einen Titanen aus der Vorzeit.

Und doch waren seine Kräfte denen Yog-Sothoths gewachsen ...

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich den Eindruck, ein unerträglich helles, blendendes Licht zu sehen, das aus den Fingerspitzen des Magiers brach und in den aufgedunsenen Leib des Monsters schlug. Die peitschenden Schlangenarme zuckten zurück, als hätten sie sich verbrannt, und wieder schrie das Wesen; diesmal aber vor Schmerz. Die gewaltige Masse seines monströsen Körpers flutete zurück, und die zitternden Krakenarme, die auf das Schiff und die hilflosen Männer auf seinem Deck herabstoßen wollten, vollendeten ihre Bewegung nicht. Andara rief etwas, ein Wort in einer Sprache, die ich nicht verstand und nie zuvor gehört hatte. Die gewaltigen Tentakelarme zuckten, peitschten wieder auf das Deck herab und prallten erneut im letzten Moment zurück. Es war ein Ringen unsichtbarer, unbeschreiblicher Kräfte, dem ich zusah, ein Kampf zwischen Gewalten, die sich dem menschlichen Begreifen entzogen, vielleicht den Urkräften der Schöpfung, Gut und Böse, selbst.

Um ein Haar hätte mir meine Unachtsamkeit das Leben gekostet.

Ich war abgelenkt. Für Sekunden hatte ich die Gefahr, in der ich nach wie vor schwebte, vergessen.

Eine eisige Hand berührte mich an der Schulter. Ich fuhr herum, sah eine mißgestaltete Kralle auf mein Gesicht zuschießen und duckte mich instinktiv. Ein heißer Schmerz zog eine flammende Linie über meine Wange. Ich schlug die Hand, die mich gepackt hielt, beiseite, trat nach den Knien des Untoten und versuchte ihn auszuhebeln, wie ich es zuvor mit Mannings gemacht hatte. Aber meine Füße fanden auf dem bockenden Deck keinen Halt; ich verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und riß schützend die Arme vor den Kopf, als ein zweiter Schatten über mir emporwuchs. Ein Schlag traf mich, schleuderte mich hintenüber und nahm mir fast das Bewußtsein.

Sie waren überall. Nicht nur Mannings und Barton, sondern auch die anderen Toten drangen von allen Seiten auf mich ein, schlugen nach meinem Gesicht und zerrten mit erstarrten, eiskalten Fingern an meinen Kleidern.

Robert! Das Amulett!

Ich versuchte, Andara hinter den verzerrten Schattengestalten der Untoten zu erkennen, aber das Heck der LADY OF THE MIST hatte sich vollends in eine Hölle aus kochender Bewegung und wirbelnden, grünen Schatten verwandelt. Yog-Sothoth griff mit wütendem Gebrüll immer und immer wieder an, und ich sah voller Entsetzen, daß seine Krakenarme der einsamen Gestalt auf dem Achterdeck bei jedem Mal eine Winzigkeit näher kamen, als wiche der unsichtbare Schutzwall, der das Schiff und den Magier umgab, Stück für Stück vor dem Toben des Ungeheuers zurück.

Mit einer wütenden Bewegung verschaffte ich mir Luft, packte einen der Untoten beim Kragen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die anderen. Für eine halbe Sekunde war ich frei.

Aber es gab keinen Ausweg. Die Toten versperrten das Deck vor mir wie eine lebende Mauer, und hinter mir war nichts als drei Schritte freier Raum und die Reling des Schiffes, vor der das Meer und die tödliche Riffbarriere lauerten. Selbst wenn ich den Sprung ins Wasser gewagt hätte, und selbst wenn ich Yog-Sothoth entkommen würde, hätte mich die Strömung gegen die Riffe geschleudert und zerschmettert.

Als wären meine Gedanken ein Stichwort gewesen, rückte die Mauer der Untoten näher. Wieder griffen ihre Hände nach mir, zerrten an meinen Kleidern und tasteten nach meinen Augen. Ich schlug einen von ihnen nieder, verdrehte einem anderen den Arm und trat von unten mit dem Knie gegen sein Ellenbogengelenk. Aber mein Gegner war kein lebender Mensch. Er fühlte keinen Schmerz, und sein anderer Arm griff im gleichen Moment nach mir und zerrte an meiner Jacke.

Robert! Das Amulett! WIRF ES WEG!

Ich verstand Andaras gedankliche Stimme kaum mehr. Schläge und Tritte prasselten unaufhörlich auf mich nieder, und meine Gegenwehr wurde jetzt rasch schwächer. Ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen erfüllte meinen Schädel, und der Schmerz wurde nach und nach zu einem Gefühl der Betäubung, das meine Glieder lähmte.

Das Amulett! Wirfes weg, Robert, oder sie töten dich!

Ich brach in die Knie, krümmte mich und versuchte, das kleine, fünfeckige Amulett, das mir Andara gegeben hatte, aus der Rocktasche zu zerren. Irgend etwas traf meinen Kopf. Ich fiel vollends vornüber, wälzte mich instinktiv auf den Bauch und versuchte kraftlos, die Schläge der Untoten abzuwehren. Allmählich begannen mir die Sinne zu schwinden. Blut füllte meinen Mund, und die Gestalten der Angreifer verschwammen mehr und mehr hinter einem roten, wogenden Vorhang, der sich vor meinen Blick schob. Meine Hand grub in der Tasche. Ich fühlte etwas Hartes, Warmes, zerrte es hervor und schloß die Faust darum.

Wirf es weg!

Irgendwie kam ich wieder auf die Füße. Ich war unfähig, zu denken oder meine Bewegungen bewußt zu steuern, aber in meinen Gedanken war plötzlich eine andere, stärkere Kraft, die mich zwang, aufzustehen und unter den Schlägen der Untoten auf die Reling zuzuwanken.

Es war wie ein Spießrutenlauf. Ich fiel, kämpfte mich noch einmal hoch und taumelte kraftlos gegen die Reling. Eine erstarrte Totenhand klammerte sich an meinen Arm und versuchte, mir das Amulett zu entreißen. Ich schüttelte sie ab, mobilisierte noch einmal alle Kräfte - und schleuderte das Sternamulett mit aller Macht von mir. Es flog in hohem Bogen auf das Meer hinaus, traf blitzend auf die Wasseroberfläche und versank in einem Strudel aus Licht und Schaum.

Die Untoten erstarrten im gleichen Augenblick, in dem das Amulett versank. Die Hände, die sich in mein Haar und meine Kleider gekrallt hatten, glitten ab. Das Feuer in ihren Augen erlosch, und die Körper stürzten zu Boden wie Marionetten, deren Fäden alle auf einmal durchtrennt worden waren.

Und im gleichen Moment stürzte sich Yog-Sothoth mit aller Macht auf das Schiff. Ich fiel, fing den Sturz im letzten Augenblick mit den Händen ab und starrte durch einen Nebel von Blut und Übelkeit zum Achterdeck hinab.

Andara wankte. Der unsichtbare Schild, der ihn bisher vor den Angriffen des Monsters geschützt hatte, war erloschen. Er taumelte, fiel gegen die Reling und versuchte noch einmal auf die Beine zu kommen.

Er vollendete die Bewegung nie. Ein grüner Krakenarm senkte sich auf ihn herab, umschlang seine Brust und riß ihn in die Höhe. Yog-Sothoth brüllte triumphierend. Seine Arme hämmerten auf das Schiff ein, zerbrachen Holz und Metall, zerrten mit Urgewalt an den Masten und rissen die gewaltigen Segel in Fetzen. Die LADY OF THE MIST bewegte sich noch immer, aber jetzt war es die Wut des Dämons, die sie auf die Riffe zujagen ließ. Ihr Rumpf zersplitterte. Ein gewaltiger Riß durchzog mit einemmal das Deck. Die Masten brachen wie Zündhölzer. Meerwasser spülte über die geborstene Reling und riß Männer und Trümmerstücke ins Meer.

Ich wußte nicht, wie lange es dauerte. Sekunden, Minuten, Stunden - mein Zeitgefühl erlosch, und alles, was ich noch spürte, war Furcht. Die LADY OF THE MIST sank in einem Strudel aus Chaos und gestaltgewordener, schuppiger Furcht. Yog-Sothoths Tentakel zermalmten das Schiff wie eine Nußschale, zerbrachen Masten, rissen gewaltige Stücke aus dem Rumpf und vernichteten das, was dem Meer und den Riffen entkommen war.

Schließlich ergriff mich eine Welle, riß mich von den Füßen und spülte mich von Bord des sinkenden Schiffes. Ich wurde unter Wasser gedrückt, prallte mit dem Hinterkopf gegen einen Fels und verlor das Bewußtsein.


Kälte. Das war das erste, was ich fühlte, als ich das Bewußtsein wiedererlangte und mich durch einen Sumpf aus Schwäche und Visionen wieder ins Wachsein zurückkämpfte. Ich lag auf einer weichen, nassen Unterlage. Sonnenlicht fiel wärmend auf mein Gesicht, aber die Strahlen vermochten die Kälte, die sich tief in meinen Körper gekrallt hatte, nicht zu verjagen. Ich zitterte. Meine Beine lagen bis über die Knie im Wasser, und mein ganzer Körper fühlte sich zerschunden und zerschlagen an. Ich öffnete die Augen.

Über mir spannte sich ein wolkenloser, blauer Himmel. Der Sturm hatte sich gelegt, und selbst das Wispern des Windes war verklungen. Alles, was ich hörte, war das leise Geräusch der Brandung.

Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch, sah mich um und schüttelte verwirrt den Kopf. Im ersten Moment hatte ich Mühe, mich darauf zu besinnen, wo ich war und wie ich hierhergekommen war. Das Meer hatte mich auf einen flachen, mit weißem Muschelkalk übersäten Sandstrand gespült, eine winzige, kaum zwanzig Schritt messende Einbuchtung in der lotrecht aus dem Wasser steigenden Steilküste, vor der die LADY zerschellt war. Trümmerstücke und Fetzen von Segeltuch bedeckten den Strand, aber von dem stolzen Viermastsegler war keine Spur mehr zu sehen.

Der Gedanke an die LADY OF THE MIST ließ meine Erinnerungen mit beinahe schmerzhafter Wucht erwachen. Plötzlich erinnerte ich mich an alles - an den Sturm, Yog-Sothoth, sterbende Männer, und an Leichen, die wieder von ihrem Totenbett auferstanden waren ...

Das Knirschen von Sand und Kies unter harten Stiefelsohlen drang in meine Gedanken. Ich sah hoch, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht und erkannte Bannermann. Er trug noch immer die schwarze Öljacke, aber sein linker Arm hing jetzt in einer selbstgebastelten Schlinge, und sein Gesicht war gerötet und angeschwollen.

»Craven!« entfuhr es ihm. »Sie leben!« Er eilte auf mich zu, streckte mir den gesunden Arm entgegen und half mir, auf die Füße zu kommen.

»So ganz sicher bin ich mir da gar nicht«, erwiderte ich verwirrt. Die rasche Bewegung ließ erneut ein starkes Schwindelgefühl in mir aufsteigen. »Wo sind wir?«

Bannermann deutete mit einer Kopfbewegung auf das Meer hinaus. »Eine Meile von der Stelle entfernt, an der die LADY gesunken ist«, sagte er. »Mein Gott, ich dachte, wir wären die einzigen Überlebenden.«

»Wir?« Ein schwacher Schimmer von Hoffnung glomm in meinen Gedanken auf. »Es gibt noch mehr Überlebende?«

Bannermann nickte. »Vier«, sagte er. »Fünf, mit Ihnen. Das ist alles, was von meiner Besatzung übriggeblieben ist. Die Strömung hat uns hierher getrieben. Es ist ein reiner Zufall, daß wir noch am Leben sind.«

»Zufall?« Ich schüttelte den Kopf. »Ein Zufall war es bestimmt nicht, Bannermann«, murmelte ich. »Ich ...« Ich stockte, schwieg einen Moment und machte eine wegwerfende Geste. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, fuhr ich mit veränderter Stimme fort. »Kommen wir von hier fort, ohne noch einmal schwimmen zu müssen?«

Bannermann nickte. »Ja. Wir haben eine Höhle gefunden. Sie hat einen zweiten Ausgang. Von dort kommen wir auf die Küste hinauf.« Er seufzte. »Mein Gott, Craven, was ist das?« keuchte er plötzlich. »Ein Alptraum?«

»Ich fürchte nein«, erwiderte ich leise. »Aber ich weiß es so wenig wie Sie, Captain. Wenn Andara noch lebte ...«

»Er lebt.«

»Er ...« Fassungslos starrte ich Bannermann an. »Er lebt?« wiederholte ich ungläubig.

»Ja. Aber er wird sterben. Er hat mich hierher geschickt, um nach Ihnen zu sehen.« Er versuchte zu lachen, aber es mißlang. »Verdammt, ich habe keine Ahnung, woher er gewußt hat, daß Sie hier sind. Das Schiff ist vor einer halben Stunde gesunken. Und ...«

Aber ich hörte schon gar nicht mehr zu. So rasch es meine gemarterten Muskeln zuließen, stürmte ich an Bannermann vorbei und rannte über den flachen Strand auf die Felswand zu. Der Eingang der Höhle, von der er gesprochen hatte, war nicht schwer zu entdecken - er war groß wie ein Scheunentor, und in der samtenen Dunkelheit dahinter glomm das rote Auge einer Fackel. Ich lief hindurch, blieb dicht hinter dem Eingang stehen und versuchte, in der ungewohnten Dunkelheit etwas zu erkennen.

Andara lag ein Stück jenseits des Einganges. Bannermanns Leute hatten aus Lumpen und Fetzen des Segels ein provisorisches Lager errichtet und ihn zugedeckt. Aber das weiße Segeltuch war dunkel von Blut, und der Umriß seines Körpers schien mir seltsam falsch und deformiert.

Andara öffnete die Augen, als ich neben ihn trat. Sein Blick flackerte einen Moment, und zuerst fürchtete ich fast, daß er mich gar nicht erkannte. Aber dann lächelte er; ein schmerzliches, verzerrtes Lächeln, das eher wie eine Grimasse aussah.

»Robert«, murmelte er. »Du hast es ... geschafft.«

Behutsam setzte ich mich neben ihn und streckte die Hand aus, wie um ihn zu berühren, schreckte aber im letzten Moment zurück. »Nicht ich«, sagte ich kopfschüttelnd. »Es war kein Zufall, daß die Strömung alle überlebenden hierher getragen hat, nicht?«

»Nur ein ... kleiner Kunstgriff«, murmelte Andara. »Aber ich fürchte, es war mein letzter.« Er hustete gequält, bäumte sich auf und sank mit einem seufzenden Laut wieder zurück. »Hör mir ... zu, Robert«, flüsterte er. Seine Augen waren geschlossen. Er fieberte. Aber ich spürte, daß sein Geist klar war. »Ich ... habe versagt. Ich habe dich ... benutzt. Kannst du mir ... verzeihen?«

Ich lächelte. »Das Amulett? Es ist schon gut. Es war das einzige, was Sie tun konnten.«

»Du wußtest es?«

Ich hatte es nicht wirklich gewußt, aber jetzt, im nachhinein, erschien mir alles klar. Andaras plötzliche Gesundung war kein Zufall, ebensowenig wie die unerklärliche Schwäche, die mich überfallen hatte, nachdem er den ersten Angriff des GROSSEN ALTEN abgewehrt hatte. Es war das Amulett gewesen, das er mir gegeben hatte. Irgendwie - ohne daß ich auch nur wissen wollte, wie - hatte das Schmuckstück es ihm ermöglicht, meine Kräfte zu benutzen, die Energien meines jungen, gesunden Körpers anzuzapfen wie eine Kraftquelle. Yog-Sothoth mußte das erkannt haben. Deshalb hatte er die Toten geweckt und auf mich gehetzt, nicht auf Andara selbst. Er mußte gewußt haben, daß Andaras Kräfte erloschen, wenn ich das Amulett nicht mehr trug.

»Du ... verzeihst mir?« fragte er noch einmal.

»Es gibt nichts zu verzeihen«, murmelte ich. »Wir können uns später darüber unterhalten, in London. Jetzt...«

»Es wird kein später für mich geben«, unterbrach er mich. »Ich werde sterben. Yog-Sothoth hat... sein Versprechen eingelöst und mich getötet. Ich habe mich nur noch gewehrt, Weil ... da etwas Wichtiges ist, das ich dir sagen muß.«

Ich wollte eine Frage stellen, aber Andara machte eine schnelle, abwehrende Geste, und ich schwieg.

»Hör mir genau zu, Robert«, flüsterte er. Seine Stimme verlor mehr und mehr an Kraft und war kaum mehr zu verstehen. An seinem Hals zuckte eine Ader im hektischen Rhythmus seines Pulsschlages. »Da ist noch etwas, das du nicht weißt. Du mußt den Kampf aufnehmen. Geh ... geh nach London. Geh zu ... Howard. Meinem ... Freund ... Howard. Du findest ihn im Hotel Westminster. Geh zu ihm und ... und sage ihm, Roderick Andara schickt dich. Sage ihm, wer du bist, und er wird dir ... helfen.«

»Wer ich bin? Aber ich ...«

»Du bist... mein Erbe, Junge«, murmelte Andara. »Du ... bist nicht der, der du ... zu sein glaubst.« Er lächelte flüchtig. »Du hast deine Eltern niemals gekannt, nicht wahr?«

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Worauf wollte er hinaus?

»Auch ... auch ich hatte ein Kind, Robert«, flüsterte er. »Einen Jungen wie dich. Meine ... Frau starb bei... bei seiner Geburt, und ... ich wußte, daß meine Feinde auch ihn ... töten würden, wenn sie erführen, wer er ist.«

Langsam, ganz langsam stieg eine furchtbare Ahnung in mir hoch. Aber ich schwieg weiter und hörte gebannt zu.

»Ich ... brachte ihn zu einer Frau, von der ich wußte, daß sie ein gutes ... Herz hatte«, sagte er mühsam. »Ich gab ihr Geld und ... löschte die Erinnerung an mich aus ihrem Geist.«

»Sie ...«, murmelte ich. »Sie wollen sagen, daß Sie ... daß du ...«

»Später, als ich glaubte, dem Fluch entrinnen zu können, habe ich angefangen, ihn zu suchen, Robert«, flüsterte Andara. Seine Hand kroch unter der Decke hervor und suchte die meine. Sie fühlte sich warm und schwammig an, feucht und nicht so, wie sich eine menschliche Hand anfühlen sollte. Ich vermied es, sie anzusehen.

»Ich hätte es nicht tun dürfen«, keuchte er. »Ich hätte dich niemals ... finden dürfen, Robert. Aber jetzt... mußt du den Kampf... fortführen. Geh nach ... London. Geh zu Howard und ... sage ihm, daß dein Vater dich schickt.«

Das waren seine letzten Worte. Sein Gesicht glättete sich, und der Ausdruck des Schmerzes auf seinen Zügen wich einem seltsamen Frieden.

Es dauerte lange, bis ich merkte, daß ich die Hand eines Toten hielt.

Irgendwann berührte mich Bannermann an der Schulter, und ich sah von Andaras Gesicht auf. Aber ich erkannte den Kapitän kaum. Eine seltsame Teilnahmslosigkeit hatte von mir Besitz ergriffen, ein Gefühl der Lähmung, dem der wirkliche Schmerz erst noch folgen würde. Ich hatte meinen Vater gefunden, nach mehr als fünfundzwanzig Jahren, und ich hatte ihn im gleichen Moment wieder verloren.

Roderick Andara, der Meister, war tot.

Aber noch während ich diesen Gedanken dachte, spürte ich, wie sich tief in meiner Seele etwas regte; die ersten, tastenden Bewegungen einer Macht, die bisher geschlummert hatte und erst langsam zu erwachen begann.

Mein Vater war tot, aber der Hexer lebte weiter.

Denn der Hexer bin ich.

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