In diesem Moment schoß ein schwarzes Fellbündel zwischen seinen Füßen hindurch, raste auf den Saurier zu und schlug im buchstäblich allerletzten Moment einen Haken nach links. Der Raptor reagierte mit einer schier unglaublichen Schnelligkeit. Sein gewaltiges Maul schnappte nach Astaroth und verfehlte ihn nur um Haaresbreite, und die furchtbaren Krallen gruben tiefe Rinnen in den Boden, nur Millimeter hinter dem Kater. Mit einer Leichtigkeit, die Mike einem Wesen wie ihm niemals zugetraut hätte, wirbelte er herum und raste hinter Astaroth her. Er bewegte sich mit großen, fast grotesk aussehenden Sprüngen, aber sehr schnell. »Weg hier!« schrie Chris. Er wirbelte auf dem Absatz herum und zerrte Mike, der dem flüchtenden Kater nachsah, mit sich. Mike sah gerade noch, wie Astaroth im vollen Lauf einen Baum hinaufrannte, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß der Raptor nicht ein ebensoguter Kletterer wie Läufer war, dann schlossen sich die Büsche hinter ihnen.
Aber sie waren nicht allein. Überall rechts und links von ihnen raschelte und knackte es plötzlich im Gebüsch, und plötzlich waren Schatten da, die ihnen folgten. Chris verstand offenbar tatsächlich so viel von Dinosauriern, wie er immer behauptete -der Raptor war nicht allein gekommen. Es mußte ein ganzes Rudel sein, das sich unbemerkt von hinten an sie angeschlichen hatte. Hätten sie auch nur noch ein paar Sekunden länger gezögert, wäre es um sie geschehen gewesen. Mike und Chris brachen durch die dornigen Büsche und rannten wie nie zuvor im Leben, aber ihre Verfolger holten trotzdem auf. Sie warennoch immer nicht sichtbar, aber das Splittern von Ästen und das Trappeln harter, klauenbewehrter Füße auf dem Boden kam rasch näher, und jetzt hörten sie auch die Schreie der Tiere -schrille, heisere Rufe, mit denen sie sich zu verständigen schienen.
Nebeneinander stürmten sie auf den freien Bereich in der Triceratopsspur hinaus. Mike registrierte voller Entsetzen, daß Ben und Juan den Baum mittlerweile schon verlassen hatten und auch Trautman und die anderen auf dem Wege nach unten waren. »Ben! Juan!« Mike schrie, so laut er konnte, und winkte mit beiden Armen. »Haut ab! Zurück auf den Baum! Unser Fanclub ist im Anmarsch!« Die beiden Jungen, die ruhig dastanden und sich unterhielten, sahen bei seinem Schrei auf und blickten ihnen fragend entgegen. Plötzlich erscholl dicht hinter Mike ein splitterndes Geräusch, und der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden verwandelte sich schlagartig in pures Entsetzen. Juan und Ben fuhren auf der Stelle herum und rannten mit Riesensätzen wieder zum Baum zurück.
Mike hörte das Hämmern der Füße näher kommen und versuchte, noch schneller zu laufen. Im buchstäblich letzten Moment erreichten er und Chris den geschuppten Stamm des Riesenbaumes, und die Angst verlieh ihnen schier Flügel: Mike rannte den Baum regelrecht hinauf, und auch Chris entwickelte eine Geschicklichkeit, von der er normalerweise nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Erst als sie bereits drei oder vier Meter über dem Boden waren, wurde Mike ein wenig langsamer und wagte es auch, nach unten zu blicken. Es waren sieben oder acht Raptoren, die ihnen aus dem Wald heraus gefolgt waren, und zwei von ihnen krochen tatsächlich ungeschickt, aber sehr zielsicher am Baumstamm hinauf, wobei sie sich mit ihren riesigen Klauen in der schuppigen Rinde festklammerten und mit ihrer Körperkraft wettmachten, was ihnen an Geschicklichkeit fehlen mochte.
Singh griff mit beiden Händen zu und hievte erst ihn, dann Chris in die Astgabel empor, in die sie sich wieder zurückgezogen hatten, dann beugte er sich abermals nach vorne, hielt sich mit der linken Hand am Baumstamm fest und schwang mit der anderen einen unterarmdicken Ast. Als der erste Raptor in seine Reichweite kam, versetzte er ihm einen Hieb, der einem menschlichen Angreifer glattweg den Schädel zerschmettert hätte.
Der Raptor grunzte, hielt für einen Moment mit dem Klettern inne und sah Singh fast vorwurfsvoll an. Und kletterte weiter.
Singh versetzte ihm einen zweiten, noch heftigeren Schlag. Diesmal schüttelte der Saurier benommen den Kopf. Eine Sekunde später grub er erneut die Krallen in die Baumrinde und setzte seinen Weg fort. Singh fluchte, richtete sich wieder auf und ergriff seine improvisierte Keule mit beiden Händen. Als der Schädel der Schreckensklaue über dem Ast erschien, auf dem sie saßen, schwang er seine Waffe mit beiden Armen und wollte sie dem Ungeheuer ins Gesicht schmettern. Aber der Saurier reagierte wieder mit unglaublicher Schnelligkeit. Seine Kiefer schlossen sich mit einem schnappenden Geräusch, und plötzlich hielt Singh nur noch einen zersplitterten Stumpf in den Händen, während der Rest des Knüppels zwischen den mahlenden Zähnen des Raubsauriers verschwand. Singh verlor, durch die Wucht seines eigenen Hiebes nach vorne gerissen, die Balance, kippte zur Seite und fiel genau auf den Saurier. Und was seine Hiebe nicht zustande gebracht hatten, das schaffte sein Aufprall. Der Raptor stieß ein häßliches Zischen aus, öffnete das Maul und griff mit beiden Vorderläufen nach der Beute, die ihm freundlicherweise direkt in die Arme zu fallen schien. Daß er dazu seinen einzigen Halt loslassen mußte, begriff er wohl eine Winzigkeit zu spät...
Wäre die Situation nicht so todernst gewesen, dann hätte Mike vielleicht laut aufgelacht. Das starre Reptiliengrinsen des Sauriergesichts verwandelte sich in einen Ausdruck von Verblüffung und dann fast komischen Entsetzens -und dann kippte der Raptor mit einem schrillen Quieken nach hinten und stürzte in die Tiefe. Und nicht nur das. Seine haltlos wedelnden Vorderläufe rissen auch noch den zweiten Saurier mit, der sich knapp unter ihm befand.
Doch damit war die Gefahr keineswegs vorüber. Während Trautman und Juan Singh mit vereinten Kräften wieder in die Sicherheit der Astgabel hinaufzogen, beugte sich Mike vor und sah nach unten. Die beiden abgestürzten Raptoren lagen nebeneinander am Boden und rührten sich nicht mehr, aber es gab noch weitere Tiere, die ihren Baum belagerten. Im Moment versuchte keines zu ihnen heraufzuklettern, aber früher oder später, das wußte Mike, würden sie es tun, und einen gleichzeitigen Angriff von mehreren dieser Bestien würden sie kaum abwehren können. Im Grunde hatten sie auch den ersten nur durch Glück abgeschlagen. »Das sieht nicht gut aus«, sagte Trautman düster. »Was sind das für Wesen?«
»Raptoren«, antwortete Chris. »Wahrscheinlich sind sie der Herde gefolgt, die wir gestern abend gesehen haben, aber ich schätze, daß sie auch mit anderer Beute vorliebnehmen. Sie gehören zur Gattung der Dromaeosaurier -das sind kleine, schnelle Fleischfresser. Sehr gefährlich und sehr schlau. Manche Wissenschaftler glauben, daß es die gefährlichsten überhaupt waren. Sie haben selbst die ganz großen Saurier angegriffen und erlegt und... « Chris brach ab, blinzelte ein paarmal und sah verblüfft in die Runde. Es war sehr still geworden, während er sprach, und die Aufmerksamkeit hatte sich von den Sauriern zu ihm verlagert. Alle blickten ihn böse an.
»Was habt ihr denn?« fragte er. »Ihr könnt mir ruhig glauben! Sie haben selbst die Allosaurier gejagt, und man hat Skelette von Diplodocus gefunden, die -« »Chris«, sagte Trautman sanft. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt den Mund hältst. « Chris sah ein bißchen beleidigt drein, aber er war auch klug genug, Trautmans Rat zu beherzigen und sein restliches Wissen für sich zu behalten. »Die werden nicht aufgeben«, sagte Ben düster. »Verdammt, wie kommen wir jetzt hier weg?« Mike blickte eine ganze Weile wortlos zu den Sauriern hinab, die unruhig am Fuß des Baumes entlangschlichen. Einige von ihnen hatten damit begonnen, ihre beiden toten Kameraden aufzufressen, und für ein paar Sekunden klammerte sich Mike an die Hoffnung, daß das reichen könnte, um den Hunger der Raubtiere zu stillen. Aber er ahnte auch selbst, daß das nicht so war. Er hatte den Ausdruck nicht vergessen, den er in den Augen der Schreckensklaue gesehen hatte. Diese Tiere jagten und töteten nicht nur aus Hunger. »Wo ist Astaroth?« fragte Serena plötzlich. »Ich weiß es nicht«, antwortete Mike. »Er ist auf einen Baum geflüchtet. «
Serena starrte ihn aus großen Augen an. »Soll das heißen, du hast ihn im Stich gelassen?« »Nun reg dich nicht auf!« sagte Ben. »Er ist eine Katze, schon vergessen? Er klettert bestimmt besser und schneller als diese Biester. Außerdem haben sie im Moment eine weitaus bessere Beute. Ich glaube nicht, daß sie sich für einen zähen alten Katzenbraten interessieren. «
»Wir müßten sie irgendwie ablenken«, sagte Trautman. »Aber wie?«
»He!« sagte Ben plötzlich. »Seht doch! Da!« Das letzte Wort hatte er geschrien. Und auch Mike riß ungläubig die Augen auf, als er sah, was plötzlich aus dem Wald heraustrat, nicht einmal weit von der Stelle entfernt, an der die Raptoren erschienen waren. Es war ein Triceratops. Es war keiner der zehn Meter langen Giganten, die sie am vergangenen Abend gesehen hatten, sondern ein viel kleineres Tier, gerade so groß wie ein Kalb, aber trotzdem schon mit der wuchtigen Panzerung und den riesigen Hörnern, die seiner Gattung eigen waren. Es bewegte sich langsam und irgendwie tolpatschig, aber trotzdem sehr zielsicher auf den Baum und die ihn belagernden Raptoren zu. Und hinter dem gewaltigen Knochenschild, der seinen Schädel schützte, hockte eine einäugige schwarze Katze. »Astaroth!« rief Serena laut. »Das ist Astaroth!« Mike blinzelte ein paarmal. Der Anblick war so phantastisch, daß er seinen Augen nicht traute. Aber das Bild blieb -aus dem Wald heraus näherte sich ihnen ein junger Triceratops, der von niemand anders als Astaroth geritten wurde.
»Ist er... verrückt geworden?« keuchte Ben. »Was um alles in der Welt soll das? Sie werden ihn auffressen!« Die Erleichterung, die sich für einen Moment in Mike breitgemacht hatte, schlug in jähes Entsetzen um. Der Anblick des Tieres, das in ganz offenbar freundlicher Absicht herankam, hatte ihn fast vergessen lassen, welche Geschöpfe sie belagerten. Natürlich hatte Ben recht ihnen allen kam dieses Triceratopsbaby mit seinen gewaltigen Hörnern und den zentimeterdicken Panzerplatten wie ein Riese vor, aber für die Schreckensklauen war er wahrscheinlich nicht mehr als ein Appetithappen. Sie würden ihn samt seinem einäugigen Reiter einfach vertilgen und dann zur Tagesordnung übergehen beziehungsweise der Hauptmahlzeit, die über ihnen auf dem Baum hockte.
Die Raptoren schienen wohl genau in diesem Moment zu dem gleichen Schluß gekommen zu sein, denn sie wandten sich plötzlich wie auf ein unhörbares Kommando hin um und näherten sich dem Saurier: Sie bildeten einen weit auseinandergezogenen Halbkreis, der sich auf Astaroth und sein Reittier zubewegte, vermutlich, um sich hinter ihm zu schließen und ihrer Beute so jeden Fluchtweg abzuschneiden. »Astaroth!« schrie Mike aus Leibeskräften. »Lauf weg!« Reg dich nicht auf, antwortete Astaroths Stimme in seinen Gedanken. Mit den paar kleinen Kneifern werden wir schon fertig.
»Er muß den Verstand verloren haben!« sagte Serena. »Sie werden ihn töten!«
»Das ist unsere Chance«, sagte Singh. »Schnell jetzt, solange sie abgelenkt sind!«
»Nein!« antwortete Serena. »Ich gehe nicht weg, ohne Astaroth -«
Singh ergriff sie grob an den Schultern. »Er paßt schon auf sich auf«, unterbrach er sie. »Und selbst wenn nicht willst du, daß sein Opfer umsonst ist?« Serenas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich lasse ihn nicht allein«, sagte sie.
Hört auf, euch zu streiten, sagte Astaroth. Und bleibt gefälligst, wo ihr seid.
»Wartet!« sagte Mike. »Er hat irgend etwas vor. « Singh sah ihn fast böse an. »Ja, sich auffressen zu lassen«, sagte er.
Doch das hatte Astaroth ganz und gar nicht vor. Mike blickte gebannt und mit klopfendem Herzen nach unten. Der Kreis der Raubsaurier hatte sich um den jungen Triceratops geschlossen und begann sich nun zusammenzuziehen. Das gehörnte Tier war stehengeblieben und scharrte nervös mit den Vorderläufen. Es mußte die Nähe der Gefahr spüren. Nur noch Augenblicke, und die Raptoren würden gemeinsam über den jungen Saurier und seinen Reiter herfallen.
Plötzlich begann die Erde zu zittern. Ein dumpfes, dröhnendes Stampfen erscholl, und im nächsten Augenblick brach eine ungleich größere Ausgabe von Astaroths Reittier durch das Gebüsch, gefolgt von einer zweiten, dritten und vierten -schließlich war es fast ein Dutzend der gigantischen Saurier, die auf die gewaltsam geschaffene Lichtung herausmarschierten. »Die Alten!« sagte Chris. »Das müssen die Alten sein, die gekommen sind, um nach dem Kleinen zu suchen!« Niemand antwortete, aber Mike wußte, daß Chris recht hatte -was dort auftauchte, das war zweifellos die Mutter des kleinen Sauriers, die zusammen mit einem Teil ihrer Verwandtschaft gekommen war, um nach ihrem Sprößling zu suchen. Und die Tiere erkannten sofort, in welcher Gefahr sich ihr Junges befand. Einer der gepanzerten Riesen stieß einen röhrenden Schrei aus, und die ganze Kolonne verfiel unverzüglich in einen rasenden Galopp. Die mächtigen Schädel mit den tödlichen Hörnern senkten sich, um die Raptoren aufzuspießen.
Die kleinen Raubsaurier bewiesen jedoch, daß Mike sich nicht geirrt hatte, was die Einschätzung ihrerIntelligenz anging. Sie begriffen auf der Stelle, daß sie gegen diese Übermacht unmöglich bestehen konnten, und ergriffen die Flucht. Mit grotesk anmutenden, aber sehr schnellen Sprüngen überquerten sie die Lichtung und verschwanden im Unterholz auf der anderen Seite, noch ehe die heranstürmenden Riesen auch nur die Hälfte der Strecke überwunden und das Jungtier erreicht hatten. Die meisten hielten unverzüglich an und versammelten sich zu einem schützenden Kreis um das Saurierjunge, aber zwei, drei besonders kräftige Tiere setzten ihren Weg noch fort und nahmen schließlich auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung Aufstellung. Ihre mächtigen Köpfe bewegten sich unruhig, die Hörner waren drohend gesenkt, bereit, sich gegen alles zu wenden, was aus dem Wald herauskommen mochte. »Unglaublich!« flüsterte Trautman. »Seht euch das an!
Als ob sie denken könnten! Das ist ein koordiniertes Verhalten! Und wir haben immer gedacht, sie wären nichts als stumpfsinnige Riesen gewesen!« Klar, kommentierte Astaroth. Das ist typisch für euch. Ihr glaubt, daß alles, was größer ist als ihr, auch automatisch dümmer sein muß, wie? Alles, was kleiner ist, übrigens auch.
Die Saurier -allen voran ein besonders großes Exemplar, dessen eines abgebrochene Horn und zahllose Narben und Schrammen auf den Panzerplatten die Vermutung nahelegten, daß es sich um ein besonders altes, kampferprobtes Tier handelte, scharten sich immer enger um das Junge und bildeten so einen lebenden Schutzwall. Aus ihrem drohenden Gebrüll war ein tiefes, beruhigendes Brummen geworden, das seine Wirkung auf das Junge auch nicht verfehlte. Der kleine Saurier hörte auf zu zittern, und schon nach kaum einer Minute begann er wieder fröhlich zwischen den Leibern der alten Tiere herumzutollen. Schließlich kehrte auch der Rest der Gruppe vom anderen Ende der Lichtung zurück, und nur wenige Minuten, nachdem sie gekommen waren, wandte sich die kleine Herde wieder um und trottete davon. Wenige Augenblicke später kletterte Astaroth zu ihnen herauf, setzte sich neben Serena auf den Ast und begann sich nach Katzenmanier zu putzen, als wäre überhaupt nichts geschehen. »Das war wirklich Rettung in letzter Minute«, sagte Juan erleichtert. Er streckte die Hand aus und streichelte Astaroth flüchtig über den Kopf, zog den Arm aber rasch wieder zurück, als der Kater ihm einen ärgerlichen Blick zuwarf. Astaroth mochte es nicht, wie ein Schmusetier behandelt zu werden. »Stimmt«, fügte Ben hinzu. »Ich dachte schon, es wäre um uns geschehen. Du hättest wirklich keine Sekunde später kommen dürfen. « Wunderbar, maulte Astaroth. Da rette ich euch den
Hals, und statt sich zu bedanken, beschwert er sich auch noch!
»Was sagt er?« fragte Ben.
»Daß... äh... du recht hast«, sagte Mike hastig. »Aber es ging nun einmal nicht schneller. « Astaroth warf ihm einen schrägen Blick zu, und selbst Ben schien zu bemerken, daß Mike vielleicht nicht ganz das gesagt hatte, was Astaroth meinte, denn er wirkte ein bißchen verlegen.
»Wie hat er das nur gemacht?« fragte Trautman. »Es war fast, als ob er mit den Tieren gesprochen hätte!« »Ich wußte gar nicht, daß er das kann«, fügte Serena hinzu.
Ich auch nicht, sagte Astaroth knurrig. Und bevor ich gezwungen bin, noch mehr Dinge auszuprobieren, die ich eigentlich gar nicht kann, solltet ihr von hier verschwinden. Die Kneifer sind weg, aber ich würde mich nicht wundern, wenn sie wiederkommen. Die Biester sind nämlich fast so stur wie ihr.
»Du hast recht«, sagte Mike. Er wandte sich an die anderen. »Verschwinden wir von hier, ehe sie zurückkommen. «
Sie hatten beschlossen, wenigstens für eine Weile der Spur der Herde zu folgen: zum einen, weil sie auf dem niedergewalzten Bereich weitaus schneller und müheloser vorwärtskommen würden als im dichtenUnterholz und auch sicher vor unliebsamen Überraschungen waren, zum anderen, weil sich in der Nähe der Herde wohl am ehesten eine Gelegenheit finden würde, mit einem der Dinosauroiden Kontakt aufzunehmen. Mike war von dieser Idee noch immer wenig begeistert -ebenso wie Ben, Juan und vor allem Serena -, aber er hatte auch keinen besseren Vorschlag, und so beließ er es bei einem zweifelnden Gesichtsausdruck, enthielt sich aber ansonsten jeden Kommentars.
Wie üblich bildete Astaroth wieder die Vorhut. Er hatte Mikes entsprechende Bitte mit einem spöttischen Kommentar beantwortet, lief aber trotzdem ein gutes Stück vor ihnen her und kam nur von Zeit zu Zeit zurück, um ihnen mitzuteilen, daß alles in Ordnung sei -die Herde bewegte sich weiter nach Norden, gefolgt und wohl auch gelenkt von ihren unheimlichen Hirten, und Mike und die anderen folgten ihrerseits ihnen. Sie hielten einen gehörigen Abstand ein -weitaus mehr, als eigentlich nötig gewesen wäre, um nicht gesehen zu werden. Aber keiner von ihnen wollte das Risiko eingehen, unversehens einem der eigentlichen Herren dieser Insel gegenüberzustehen. Nicht, solange sie nicht wußten, was sie wirklich von diesen Wesen zu halten hatten. So marschierten sie bis weit in den Nachmittag hinein, ehe Astaroth zurückkam und Mike darüber unterrichtete, daß die Herde angehalten hatte. Trautman schlug daraufhin vor, daß sie ebenfalls eine Rast einlegten, und da sie alle erschöpft waren, protestierte niemand dagegen. Allerdings verließen sie die niedergetrampelte Saurierspur und suchten sich einen Lagerplatz im Wald, um nicht im letzten Moment doch noch entdeckt zu werden. Wahrscheinlich wäre es weitaus sicherer gewesen, wieder auf einen Baum zu steigen, aber dazu fehlte ihnen allen die Energie.
Mike war so müde, daß er auf der Stelle einschlief, und als er die Augen wieder aufschlug, war die Sonne ein gutes Stück weiter über den Himmel gewandert. Ihr zweiter Tag auf der Insel der Dinosaurier neigte sich bereits dem Ende entgegen.
Er war nicht von selbst erwacht. Bens Hand, die ihn wachgerüttelt hatte, lag noch auf seiner Schulter, und die andere hatte er erhoben und den Zeigefinger an die Lippen gelegt.
»Was -?« begann Mike, aber Ben winkte sofort ab. »Still!« flüsterte er. »Da ist etwas!«
Mike blinzelte. »Was ist denn los?« murmelte er verschlafen. »Ziehen sie weiter?«
Ben deutete ihm mit beiden Händen, leise zu sein. »Nein«, flüsterte er. »Aber Astaroth ist nicht da. Und irgendwas schleicht durch das Gebüsch. « Mike richtete sich erschrocken auf. Er lauschte angestrengt, aber alles, was er hörte, waren sein eigener Herzschlag und die
natürlichen Geräusche des Waldes. »Etwas?" flüsterte er.
»Was?«
»Keine Ahnung«, antwortete Ben. »Aber es ist besser, wenn wir nachsehen. Komm mit. « Vorsichtigdrangen sie in das Unterholz ein, das ihren Lagerplatz wie eine grüne Mauer umgab. Überall raschelte und knackte es, und ein paarmal schrak Mike zusammen, als er eine Bewegung oder einen davonhuschenden Schatten gewahrte, aber es waren nur ein paar kleinere Tiere, die vor ihnen flohen, oder der Wind, der mit den Blättern spielte. Er wollte schon aufgeben und zu den anderen zurückgehen, als Ben plötzlich stehenblieb und ihn heftig zu sich winkte. »Was ist los?« fragte Mike. »Was hast du gefunden?« Anstelle einer Antwort deutete Ben wortlos auf den Boden vor sich. Mike eilte an seine Seite -und gab einen überraschten Laut von sich. Ben hatte eine Spur entdeckt. Und obwohl Mike einen solchen Fußabdruck erst einmal im Leben gesehen hatte, erkannte er ihn doch sofort wieder. Zögernd ließ er sich neben Ben in die Hocke sinken und fuhr mit den Fingerspitzen über die Ränder des Fußabdruckes, der in einer weichen Stelle im Waldboden zurückgeblieben war. »Sie waren hier«, sagte Ben düster. »Verdammt, wahrscheinlich sind sie sogar noch ganz in der Nähe. Es würde mich nicht wundern, wenn sie uns selbst jetzt beobachten. « Mike antwortete nicht, aber er gab Ben recht - der Fußabdruck, den er gefunden hatte, sah genau aus wie der, auf den sie gestern gestoßen waren: Der Abdruck eines Fußes, der größer war als der eines Menschen und anders geformt und der eine Art grober Sandale getragen haben mußte. Es war die Spur eines Dinosauroiden; vielleicht sogar desselben, der sie schon gestern beobachtet hatte.
Unwillkürlich hob er den Kopf und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Plötzlich war es ihm, als hätten die Büsche Augen. Er fühlte sich angestarrt, belauert und beobachtet, und das auf eine so intensive Art, daß sie ihm fast körperliches Unwohlsein bereitete. »Du hast recht«, sagte er leise. »Sie waren hier. « Er stand auf. »Wir müssen die anderen warnen. « »Ja. « Ben nickte, setzte dazu an, sich herumzudrehen, und blieb dann wieder stehen. Ein fragender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht undverwandelte sich eine Sekunde später in Überraschung. »He, das ist doch... « Er machte einen Schritt zur Seite, bückte sich und zog etwas aus dem Gebüsch.
Mikes Augen weiteten sich in maßloser Verblüffung, als er sah, was Ben gefunden hatte. Es war einGewehr. »He!« sagte Ben. »Wenn das keine Überraschung ist! Sieh nur, was unsere geschuppten Freunde uns hiergelassen haben!«
Mike war noch immer völlig perplex. »Du... du meinst, die Sauriermenschen haben sie verloren?« fragte er zögernd.
»Was denn sonst?« antwortete Ben. »Glaubst du, sie haben sie hiergelassen, um uns eine Freude zu machen?« Er drehte das Gewehr in den Händen, öffnete den Verschluß und zog eine Grimasse. »Nur noch eine einzige Patrone drin«, stellte er fest. Er hob das Gewehr vor das Gesicht, roch an seinem Lauf und sagte: »Es stinkt nach Pulver. Aus dieser Waffe ist geschossen worden. Vor noch nicht allzu langer Zeit. « »Vielleicht gehört es Annies Leuten«, vermutete Mike.
Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Das würde bedeuten, daß sie noch in der Nähe sind. Komm -gehen wir zurück. Vielleicht erkennt Annie das Gewehr wieder. « Er unterstrich seine Aufforderung mit einer entsprechenden Handbewegung, drehte sich herum -und blieb wie angewurzelt wieder stehen.
Sie waren nicht mehr allein. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Sie waren beobachtet worden. Lautlos und unbemerkt war ein nur vage menschenähnliches Geschöpf hinter ihnen aufgetaucht, und noch während Mike fassungslos in das geschuppte Gesicht starrte, das aus gut zwei Metern Höhe auf ihn herabblickte, trat ein zweiter, etwas größerer Dinosauroide aus dem Unterholz und gesellte sich zu dem ersten. Mike war wie gelähmt. Der Anblick, den die beiden Wesen boten, war einfach zu phantastisch. Gestern nacht, in der Dunkelheit und von der sicheren Höhe des Baumes herab beobachtet, hatten die Geschöpfe nur sonderbar gewirkt, und ein bißchen erschreckend. Jetzt aber sah er, daß sie trotz aller scheinbarer Menschenähnlichkeit nichts ähnelten, was er jemals gesehen hatte. Ihre Gesichter, die ganz von den übergroßen, kalten Reptilienaugen beherrscht wurden, waren gleichzeitig häßlich wie auch von einer merkwürdigen Schönheit, der Blick der faustgroßen Augen zugleich kalt wie von einer verwirrenden Vielzahl fremdartiger Gefühle und Empfindungen erfüllt. Die winzigen Hornplättchen, die ihre Haut bedeckten, schimmerten wie sorgsam poliertes Metall, und die Münder, die keine sichtbaren Lippen hatten und viel zu groß waren, schienen die Schädel zu spalten wie dünne, sichelförmige Narben. Sie bewegten sich nicht wie Menschen oder die meisten Tiere, die Mike kannte, sondern mit harten, schnellen Rucken.
Plötzlich wußte er, daß Astaroth recht hatte: Es war unmöglich, mit diesen Geschöpfen zu reden. Sie waren
Kinder einer fremden, vollkommen anderen Schöpfung, Wesen aus einem Universum, das mit dem der Menschen nicht das geringste zu tun hatte. Er mußte wieder an das denken, was Serena gesagt hatte: Sie hassen uns, weil wir sind, was sie hätten werden können. Mike registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und fuhr auf dem Absatz herum, aber da hatte Ben bereits das Gewehr in die Höhe gerissen und legte auf die Dinosauroiden an.
Er führte die Bewegung nicht zu Ende. Der Echsenmann reagierte blitzschnell. Mike sah nur einen rasenden Schatten und das Aufblitzen von regenbogenfarbigen Hornschuppen, und dann taumelte Ben mit einem überraschten Schrei zurück, und das Gewehr flog im hohen Bogen davon. In der nächsten Sekunde hatten die gewaltigen Pranken des Echsenmannes Ben ergriffen und rissen ihn mühelos vom Boden hoch, und Mike war felsenfest davon überzeugt, im nächsten Augenblick ebenfalls gepackt und womöglich auf der Stelle getötet zu werden.
Doch es kam anders. Das zweite riesige Geschöpf streckte tatsächlich die Arme nach ihm aus, aber plötzlich wurde das Unterholz hinter ihm wie von einer Explosion auseinandergerissen, und ein ungeheuerlicher Schatten wuchs über ihnen empor. Ein Brüllen und Fauchen erklang, das den gesamten Wald zu erschüttern schien.
Der Dinosauroide reagierte wieder mit der gleichen phantastischen Schnelligkeit, die Mike gerade beobachtet hatte, doch diesmal war es zu langsam. Er fuhr herum und senkte gleichzeitig die Hand, vielleicht, um eine Waffe zu ziehen, aber da traf ihn ein fruchtbarer Schlag, der ihn von den Füßen riß und meterweit durch die Luft fliegen ließ.
Auch Mike fühlte sich von irgend etwas wie von einem Hammerschlag getroffen und zu Boden geschleudert.
Er fiel, rollte hilflos über den Boden und krachte mit solcher Wucht gegen einen Baumstamm, daß er für eine Sekunde nur bunte Sterne sah und keine Luft mehr bekam. Wieder drang dieses ungeheuerliche Brüllen und Kreischen in seine Ohren. Der Boden unter ihm zitterte. Er lag auf etwas Hartem, dessen scharfe Kanten schmerzhaft durch sein Hemd stachen. Als sich sein Blick klärte und er sich auf Hände und Knie aufrichtete, da hatte der Allosaurier bereits den zweiten Echsenmann angegriffen. Es war das gleiche Tier, das gestern ihn selbst angegriffen hatte. Mike erkannte es ohne Zweifel wieder. Und sein Anblick lähmte ihn ebenso wie gestern. Reglos sah er zu, wie der riesige Raubsaurier auf den Dinosauroiden eindrang. Seine gewaltigen Krallen hatten das Geschöpf gepackt und rissen es ebenso mühelos in die Höhe, wie dieses gerade Ben. Das fürchterliche Maul öffnete sich, um seine Beute zu verschlingen. »Mike! Das Gewehr!«
Bens Schrei riß Mike endlich aus seiner Erstarrung. Verblüfft senkte er den Blick und stellte fest, daß er genau auf das Gewehr gefallen war, das der Echsenmann Ben aus den Händen geschlagen hatte. »MIKE!« Bens Stimme war nur noch ein hysterisches Kreischen. Der zweite Echsenmann hatte sich aufgerichtet und näherte sich dem jungen Engländer. Er humpelte, aber er bewegte sich trotzdem noch immer mit unglaublicher Schnelligkeit. Mike hob das Gewehr, richtete den Lauf auf den Echsenmann und zögerte noch einmal. Eine halbe Sekunde lang saß er wieder vollkommen reglos, wie erstarrt da. Und dann, mit einem Ruck, riß er die Waffe herum, richtete sie auf den Allosaurier und drückte ab. Der Rückschlag war so gewaltig, daß er ihm die Waffe aus den Händen riß und Mike rücklings zu Boden fallen ließ. Aber noch während er fiel, sah er, wie die Kugel gegen den gepanzerten Schädel des gigantischen Raubsauriers schlug und davon abprallte. Trotzdem tat der Schuß seine Wirkung. Der Saurier brüllte auf, ließ sein Opfer fallen und bäumte sich zu seiner ganzen Größe von mehr als drei Metern auf. Sein Schwanz peitschte wütend und zerfetzte das Unterholz hinter ihm. Die Krallen hieben in irrsinniger Wut in die Luft. Dann, ebenso plötzlich, wie es damit begonnen hatte, hörte das Ungeheuerauf zu toben. Mit einem wütenden Ruck fuhr er herum und starrte Mike an. Über seinem linken Auge war eine tiefe, blutende Wunde zu erkennen; tief genug, die Bestie vor Schmerz wütend zu machen, aber mehr auch nicht. Mike warf sich verzweifelt herum, riß das Gewehr an sich und richtete es auf den Saurier. Er drückte ab, ohne zu zielen, rasend schnell und mehrmals hintereinander. Ein helles, metallenes Klicken erscholl, und in Mikes Kopf hallten Bens Worte von vorhin wider: Nur noch eine Patrone drin.
Der Saurier machte einen einzigen, gewaltigen Schritt und war über Mike. Seine riesigen Kiefer öffneten sich. Geifer und heißer, nach Fäulnis stinkender Atem schlugen Mike ins Gesicht.
Als das Ungeheuer zupacken wollte, wurde es von einem knisternden blauen Blitz getroffen. Die Bestie brüllte, warf sich zurück und schrie erneut und noch lauter, als ein zweiter Blitz eine tiefe, rauchende Spur in seine Flanke riß. Winzige, blaue Funken tanzten über seinen Körper, sprangen knisternd von seinen Klauen und Zähnen ab und hinterließen ein Muster winziger, rauchender Löcher in seinen Panzerplatten. Der dritte Blitz, der das Ungeheuer genau zwischen den Augen traf, ließ sein Brüllen verstummen. Die unstillbare Wut und Blutgier in seinen Augen machte einem Ausdruck abgrundtiefen Schmerzes Platz und dann vollkommener, endgültiger Leere. Der Saurier stürzte wie ein gefällter Baum auf die Seite und rührte sich nicht mehr.
Für einen Moment war es Mike, als bliebe die Zeit stehen. Er begriff noch nicht ganz, daß er noch am Leben war, und noch viel weniger, warum. Verständnislos starrte er den Saurier an und dann die beiden Echsenmänner, die in angespannter Haltung vor dem gefallenen Giganten standen. In ihren Händen lagen kleine, sonderbar aussehende Waffen, vor deren Mündungen noch immer blaues elektrisches Feuer glomm. Es war Bens Stimme, die ihn wieder in die Wirklichkeit zurückriß. »Bravo«, sagte er leise. »Das war unsere einzige Patrone, du verdammter Narr!« Einer der beiden Echsenmänner drehte sich zu ihm herum. Die Waffe in seiner Hand vollführte die Bewegung mit und deutete nun auf Ben, dann, als er sich weiterbewegte, auf Mike, und für die Dauer eines Atemzuges war er davon überzeugt, daß das gleiche, tödliche Feuer, das den Saurier vernichtet hatte, nun auch ihn treffen würde. Aber dann begegnete er dem Blick des Echsenmannes. In seinen Augen war jetzt etwas Neues, etwas, was vorhin noch nicht darin gewesen war. Mike konnte nicht sagen, was es war, und dennoch glaubte er bei aller Fremdartigkeit plötzlich etwas Vertrautes in den gelben Reptilienaugen des Wesens zu erkennen.
Eine Ewigkeit, wie es ihm schien, stand das Geschöpf da und blickte ihn an, und dann, ganz langsam, senkte es seine Waffe, wandte sich ruhig um und verschwand im Unterholz. Und nur einen Moment später folgte ihm auch der zweite Dinosauroide.
Trautman und dem Rest der Gruppe, die kaum zwei Minuten später, angelockt durch den Lärm und die Schreie, vollkommen atemlos bei ihnen anlangten, blieb angesichts des toten Dinosauriers nichts anderes übrig, als die Geschichte zu glauben, die Ben und Mike zu erzählen hatten. Sein Blick irrte immer wieder über den Leib des gestürzten Riesen, als müsse er sich unentwegt selbst davon überzeugen, daß das, was er zu sehen glaubte, auch wahr war.
»Unglaublich«, murmelte Trautman dann. »Das... das rückt alles, was wir bisher erlebt haben, in ein völlig anderes Licht, ist euch das klar? Sie haben uns die ganze Zeit über beobachtet. Sie wußten von Anfang an, daß wir hier sind. Wir haben geglaubt, wir wären allein, aber vermutlich haben wir keinen Schritt getan, von dem sie nichts wissen. «
»Und warum haben sie uns dann nicht längst überfallen und verschleppt, wie sie es mit Annies Leuten getan haben?« fragte Ben. Er wies mit einer Kopfbewegung auf das Mädchen. Annie hatte auf den Anblick des Sauriers ganz anders reagiert, als sie erwartet hatten: Er schien sie nicht im geringsten zu erschrecken. Ganz im Gegenteil sie hatte sich zu Singh und Juan gestellt, die den Kadaver des toten Kolosses untersuchten. »Keine Ahnung«, antwortete Trautman. »Allmählich komme ich zu dem Schluß, daß wir überhaupt nichts wissen. Vielleicht ist alles ganz anders, als wir glauben. «
»Und was soll das nun wieder bedeuten?« murrte Ben.
Er hatte wohl nicht mit einer Antwort gerechnet, und er bekam auch keine, und so wandte er sich auf der Suche nach einem anderen Opfer für seine miserable Laune an Mike und funkelte ihn an. »Du bist mir vielleicht ein Held!« sagte er. »Warum hast du nicht gleich auf mich geschossen? Wenn man Kindern eine Waffe in die Hand gibt - das muß ja schief gehen. «
Richtig, sagte Astaroth. Wie gut, daß er das Gewehr nicht hatte. Mike setzte dazu an, Ben etwasÄhnliches zu sagen, aber Trautman kam ihm zuvor. »Sei still, Ben«, sagte er. »Was hätte er tun sollen?«
»Jedenfalls nicht unsere einzige Patrone verschwenden, um auf Großwildjagd zu gehen!« antwortete Ben erregt. »Sondern -«
»-auf den Dinosauroiden schießen?« fiel ihm Chris ins Wort. Er tippte sich bezeichnend an die Stirn. »Prima Idee. Dann hätte der Saurier zuerst den anderen Echsenmann und dann euch gefressen. « Bens Gesicht färbte sich langsam dunkelrot. »Du -« »Genug!« unterbrach ihn Trautman nun in scharfem Tonfall. »Chris hat recht. Mike hat das einzig Richtige getan. Er hat euch beide gerettet und die beiden fremden Wesen ebenfalls. Wahrscheinlich haben sie euch nur deshalb gehen lassen. «
»Aus lauter Dankbarkeit, wie?« höhnte Ben. »Ich glaube eher, daß sie abgehauen sind, um mit Verstärkung wiederzukommen. «
»Das haben sie wohl kaum nötig«, erwiderte Trautman. Er blickte wieder den reglos daliegenden Saurier an.
»Mein Gott, was für eine furchtbare Waffe. Und du sagst, sie haben nur dreimal auf ihn geschossen?« Mike nickte. »Ja. Und ich glaube, der erste Schuß hat nicht einmal richtig getroffen, sonst wären vielleicht nur zwei Schüsse nötig gewesen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Die Dinger waren winzig
- kaum so groß wie eine Pistole. «
»Und trotzdem haben sie diesen Giganten getötet. « Trautman schüttelte sich.
»Nein«, sagte Singh in diesem Moment. »Haben sie nicht. «
Trautman richtete sich kerzengerade auf. »Wie?« »Er ist nur bewußtlos«, antwortete Singh. »Aber keine Angst. Ich glaube, daß es noch sehr lange dauert, bis er wieder zu sich kommt. « »Das Ding... lebt noch?
« krächzte Ben. Er wurde blaß, und auch die anderen wichen ein kleines Stück von dem reglos daliegenden Saurier zurück. »Nichts wie weg hier!«
Trautman machte eine beruhigende Geste. »Ja, der Meinung bin ich auch -aber aus anderen Gründen. Und wir sollten jetzt nicht die Nerven verlieren und in Panik geraten. « Er wandte sich an Mike. »In welcher Richtung sind sie verschwunden?« Mike deutete hinter sich. »Dorthin... glaube ich. « »Das ist die Richtung, in der die Herde zieht. « Trautman dachte einen Moment nach. »Das könnte passen. Und dazu das Gewehr... « Plötzlich streckte er die Hand aus, nahm Mike die ohnehin nutzlose Waffe ab und ging damit zu Annie. Mike hielt instinktiv den Atem an, als er sich neben dem Mädchen in die Hocke
sinken ließ und ihr das Gewehr entgegenstreckte. »Kennst
du das?« fragte er.
Annie betrachtete das Gewehr eine Sekunde lang stirnrunzelnd. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, und sie nickte heftig. »Es gehört meinem Vater«, sagte sie. »Bestimmt?«
»Hier, sehen Sie«, sagte Annie und deutete auf die Initialen J. M., die in den Griff eingraviert waren. »James Mason. So heißt mein Dad. « Sie sah zu Mike herüber. »Hast du ihn damit erschossen?« Mike fing im letzten Moment Trautmans warnenden Blick auf. Offensichtlich glaubte Annie, daß er den Saurier erlegt hatte. Vielleicht war es besser, sie ließen sie noch für eine Weile in diesem Irrtum. Daß das Mädchen so gar keine Furcht mehr zeigte, war unheimlich genug, aber er wußte, daß das weniger mit Tapferkeit zu tun hatte als vielmehr mit der Fähigkeit kleiner Kinder, einen Schrecken, der zu groß war, um ihn zu ertragen, einfach zu verdrängen. »Es hat uns geholfen, ja«, antwortete er ausweichend. »Dann werdet ihr auch meinen Dad und die anderen befreien«, sagte Annie. »Ihr seid stärker als die Drachen. «
»Wir werden es jedenfalls versuchen«, sagte Trautman. Er lächelte aufmunternd. »Kein Angst. Wir finden sie schon. « Er richtete sich wieder auf und machte eine verstohlene Geste zu Serena. Die Atlanterin trat neben Annie, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie ein kleines Stück zur Seite; gerade weit genug, damit sie nicht mehr hören konnte, was sie redeten. Trotzdem senkte Trautman die Stimme, als er fortfuhr. »Das Gewehr gehört ihrem Vater. Das bedeutet, daß er wahrscheinlich noch
ganz in der Nähe ist, ebenso wie die anderen. «
»Und?« fragte Ben mißtrauisch.
»Also haben wir eine Chance, sie zu finden«, antwortete Trautman. Ben wurde noch blasser, als er sowieso schon war. »Ich schlage vor, daß wir zum Fluß hinuntergehen und dort warten, bis es dunkel geworden ist«, schlug Trautman vor. »Und dann?« fragte Ben nervös.
»Die Herde kann nicht so weit vor uns sein«, sagte Trautman. »Mit ein bißchen Glück und entsprechender Vorsicht können wir uns ihnen vielleicht nähern, ohne daß sie uns bemerken. Astaroth könnte vorausgehen und versuchen, Annies Familie aufzuspüren. Glaubst du, daß du das schaffst?«
Die Frage war an den Kater gerichtet, der Mike auch prompt antwortete: Ob ich glaube, daß ich es schaffe? Will der mich beleidigen? Ohne mich wärt ihr doch alle vollkommen aufgeschmissen gewesen! Ich schleiche mich quer durch ihr Lager und wieder zurück und klaue ihnen die Kronjuwelen, wenn es sein muß, ohne daß sie es auch nur merken! Ob ich es schaffe! Das ist ja wohl eine Unverschämtheit.
Eigentlich sollte ich nein sagen, damit ihr endlich einmal seht, wie weit ihr ohne mich kommt! Trautman sah Mike fragend an. »Was meint er?«
»Ja«, antwortete Mike.
»Dann machen wir es so«, bestimmte Trautman. »Wir haben noch eine gute Stunde, ehe es dunkel wird. Zeit genug, um den Fluß zu erreichen. Das Gelände ist dort zwar schwieriger, aber der Boden besteht aus Fels, so daß wir keine Spuren hinterlassen werden. « »He, nicht so schnell!« protestierte Ben. »Vielleicht sollten wir ja zur Abwechslung einmal darüber abstimmen, was wir tun. Ich halte es nämlich nicht für eine gute Idee, diesen Ungeheuern auch noch nachzuschleichen. Wir sollten lieber machen, daß wir wegkommen!« Trautman seufzte tief. Er schüttelte den Kopf, aber bevor er antworten konnte, stieß der bewußtlose Saurier ein leises Grollen aus. Einer der Hinterläufe zuckte. Ben wurde blaß. Er sagte nichts mehr, aber er hatte plötzlich auch nichts mehr dagegen, diesen Platz zu verlassen, so schnell es nur ging.
Die Sonne war längst untergegangen, aber es wurde trotzdem nicht richtig dunkel. Sie hatten die vergangene Nacht im Wald verbracht, unter dessen dichtem Blätterdach es ohnehin niemals wirklich hell wurde, aber hier am Ufer des breiten Flusses schien es dafür niemals richtig dunkel zu werden. Der Himmel war nicht schwarz, wie Mike und die anderen es gewöhnt waren, sondern von einem tiefen Indigoblau, und die Sterne strahlten viel heller als normal; sie wirkten wie kleine Scheinwerfer, die dafür sorgten, daß man so weit und klar sehen konnte wie in einer wolkenlosen Vollmondnacht.
Nur daß es am Himmel überhaupt keinen Mond gab. Mike saß schon eine ganze Weile hier am Flußufer und zerbrach sich den Kopf darüber, ob nun tatsächlich Neumond oder ob auch dies ein weiteres Rätsel dieser geheimnisvollen Welt war, die sie betreten hatten und die
sich noch viel, viel mehr von der ihnen bekannten unterschied, als er vermutlich auch jetzt noch ahnte. Außerdem beobachtete er einen Schatten, der über ihnen kreiste. Gegen das dunkle Blau des Himmelsgewölbes hob er sich nur undeutlich ab, trotzdem aber klar genug, um ihn wiederzuerkennen. Es war das riesige Geschöpf, das er am ersten Morgen gesehen hatte, noch vom Deck der NAUTILUS aus. Es ähnelte tatsächlich ganz vage einer Fledermaus, aber wäre es näher gekommen, hätte dieser Vergleich nicht lange standgehalten. Von Chris wußte er, daß es ein Flugsaurier mit dem schier unaussprechlichen Namen Quetzalcoatlus war, ein riesiges, fast zehn Meter messendes Tier, das aber trotzdem nur Jagd auf Beute machte, die wesentlich kleiner als ein Mensch war. Das Geräusch leichter Schritte drang in seine Gedanken und ließ ihn aufsehen. Irgendwie hatte er gespürt, daß es Serena war, noch ehe er sie erkannte. Er lächelte, rückte ein Stück zur Seite, und sie setzte sich auf den runden Felsen am Flußufer, auf dem er Platz genommen hatte. Serena sagte nichts. Eine ganze Weile saßen sie in einem sonderbar wohltuenden, vertrauten Schweigen nebeneinander da und blickten auf den Fluß hinaus, dessen Wasser in der Nacht wie geschmolzenes Silber aussah. Manchmal bewegten sich große, dunkle Umrisse darin, aber sie erschreckten Mike jetzt nicht mehr. Eine sonderbare Veränderung war mit ihm vorgegangen, seit sie am Nachmittag auf die beiden Dinosauroiden getroffen waren. Während des ersten Tages hier hatte er praktisch
ununterbrochen Angst gehabt. Jetzt aber spürte er sie kaum noch. Es war, als begänne diese Welt, so fremdartig und bizarr sie auch sein mochte, unmerklich ihren Schrecken zu verlieren. Serena lehnte sich leicht gegen seine Schulter. »Ich frage mich, was wir noch alles entdecken werden«, sagte sie. »Das alles hier ist so... so phantastisch. « »Das sagst ausgerechnet du?« Mike lachte leise. »Ich glaube, deine Heimat wäre uns genauso phantastisch vorgekommen wie diese Insel hier. « »Vielleicht«, antwortete Serena. »Trotzdem ist es anders. Atlantis und eure Welt, das ist irgendwie dasselbe. Aber das hier ist... « Sie suchte nach den richtigen Worten und fand sie nicht. »Meine Eltern haben es mir als Märchen erzählt, weißt du? Und plötzlich bin ich mitten drin. Es ist ein komisches Gefühl, wenn Legenden wahr werden. «
So wie die von Atlantis, dachte Mike. Laut sagte er: »Und? Hast du immer noch Angst davor?« »Diehabe ich nie gehabt«, behauptete Serena -ohne die mindeste Spur von Überzeugung. »Doch, die hattest du«, sagte Mike. »Ich habe den anderen nichts davon verraten. Aber du hattest panische Angst vor dem, was uns hier erwartet. Verrätst du mir jetzt, warum? Ich meine, den Rest der Geschichte, den du bisher für dich behalten hast?« Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte Serena weiter geleugnet, aber sie schwieg nur einige Zeit. Dann beugte sie sich vor, hob eine Handvoll kleiner Steinchen auf und begann sie in den Fluß zu werfen, jeden ein kleines Stückchen weiter als den vorhergehenden. »Es heißt, daß auf dieser Insel die Wahrheit regiert«, sagte sie. »Jeder begegnet sich selbst. «
Mike sah sie fragend an. »Die Wahrheit? Was soll das heißen?«
Serena zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich erzähle nur, was die Legende sagt. Nur wenige von denen, die sie betreten haben, haben sie jemals wieder verlassen. «
»Aber die Könige von Atlantis schon. « »Sie mußten es«, sagte Serena.
Mike sah auf und rückte zugleich ein kleines Stück von Serena fort, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. »Wie meinst du das?«
»Es war... Bedingung«, antwortete Serena. »Wer den Thron von Atlantis besteigen wollte, mußte vorher hierherkommen. Und nur, wer den Weg zurück fand, war würdig, über Atlantis zu herrschen. « Es dauerte lange, bis Mike begriff, was Serenas Worte bedeuteten. »Bist du deshalb hierhergekommen?« fragte er.
Serena schwieg. Sie sah ihn nicht an, sondern fuhr fort, Steine ins Wasser zu werfen.
»Genau so ist es, nicht wahr?« fuhr Mike nach einer Weile fort. Er hätte zornig werden müssen, aber irgendwie gelang es ihm nicht. »Du hast sofort gewußt, um welche Insel es sich handelt. Gleich als du die Küste gesehen hast. Deshalb mußtest du hierher. « Serena tat ihm plötzlich unendlich leid. Zögernd hob er die Hand und berührte ihre Wange.
»Atlantis existiert nicht mehr, Serena«, sagte er sanft.
»Es ist untergegangen, schon vor sehr, sehr langer Zeit. «
Serena schob seine Hand beiseite. »Für dich vielleicht«, sagte sie. »Und für deine Freunde. Für mich nicht. Für mich ist es... erst gestern gewesen. Ich wollte das nicht, Mike. «
»Was?« fragte Mike. »Überleben?« »Nicht so«, antwortete Serena ernst. »Sie haben mir nicht gesagt, was mich erwartet. Ich wußte nicht, daß ich... so lange schlafen würde. Und ich wußte nicht, daß alles, was ich gekannt habe, nicht mehr da sein würde, wenn ich aufwache. «
»Nicht alles«, sagte Mike. »Astaroth ist noch da. Und die NAUTILUS. « »Astaroth!« Serena drehte mit einem Ruck den Kopf weg, aber sie tat es nicht schnell genug, um Mike nicht sehen zu lassen, daß sie gegen die Tränen ankämpfen mußte. »Er ist nur ein Tier. Ein kluges Tier und vielleicht der beste Freund, den ich je hatte. Ich liebe ihn, aber... ich war eine Prinzessin, Mike. Ich hätte eine ganze Welt geerbt, und es gab so viele Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Und alles, was mir geblieben ist, sind ein einäugiger Kater und ein Schiff. « »Und das haben wir dir weggenommen«, sagte Mike traurig.
»Darum geht es nicht«, sagte Serena leise. »Ihr könnt es haben. Ich kann ohnehin nichts damit anfangen. Es sei denn, es könnte mich nach Hause bringen. « »Und wenn es das kann?« fragte Mike. Serena sah ihn fragend an, und Mike fuhr plötzlich aufgeregt fort: »Es hat uns hierhergebracht, Serena, an einen Ort jenseits der Wirklichkeit. Wer weiß, was es noch alles vermag. Vielleicht kann es sogar den Rückweg in deine Heimat finden. «
»Nein«, antwortete Serena traurig. »Glaub mir, das kann es nicht. Die NAUTILUS ist ein phantastisches Schiff. Das beste, das wir je gebaut haben. Ich habe keinen Witz gemacht -es hätte wirklich eines Tages mir gehört, so wie es meinem Vater gehört hat, als er noch Herrscher über Atlantis war. Unsere Technik war der euren weiter überlegen, als du dir auch nur vorstellen kannst. Aber die Zeit besiegen, Mike, das konnte sie nicht. Hätte sie es gekonnt, wäre ich jetzt nicht hier. Und ihr auch nicht«, fügte sie nach einer unmerklichen Pause hinzu.
Aber so rasch war Mike nicht umzustimmen. Der Gedanke, einmal formuliert, begann sich selbständig zu machen und ließ ihn nicht mehr los. »Vielleicht existiert Atlantis ja doch noch irgendwo«, sagte er. »Dieses Land hier liegt jenseits der Zeit. Das hier ist die Welt, wie sie hätte werden können, wären die Saurier nicht ausgestorben. Vielleicht gibt es noch mehr solcher Orte. Vielleicht gibt es auch noch einen Ort, an dem Atlantis nicht untergegangen ist. Und vielleicht können wir ihn finden. «
»Ja, und vielleicht fliegen die Menschen eines Tages zum Mond oder bauen Maschinen, die das Denken für sie übernehmen«, sagte Serena spöttisch. »Laß es gut sein, Mike. Ich weiß, daß du mich trösten willst, und ich bin dir dankbar dafür. Aber Atlantis ist untergegangen. Keine
Macht der Welt kann es wieder auferstehen lassen. «
Mike widersprach nicht mehr, obwohl Serena ihn keinesweg überzeugt hatte. Irgendwann einmal, dachte er, würden sie es einfach versuchen. Sie hatten die Geheimnisse der NAUTILUS noch lange nicht vollständig ergründet. Nicht einmal Trautman hatte das, obwohl er fast sein ganzes Leben auf dem Schiff verbracht hatte. Vielleicht würde sie dieses Schiff tatsächlich eines Tages dorthin zurückbringen, wo es hergekommen war. Aber jetzt war nicht der Moment, darüber zu reden. Und ganz tief in sich war Mike nicht davon überzeugt, daß er das wirklich wollte. Denn Atlantis wiederzufinden hieße gleichzeitig, Serena zu verlieren. »Hat dein Vater dir auch erzählt, wie man wieder von hier wegkommt?« fragte er, um das Thema zu wechseln. Serena schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt keinen bestimmten Weg zurück«, sagte sie. »Die Insel bestimmt, wen sie gehen läßt und wen nicht. « Was soll das nun wieder bedeuten? dachte Mike. Aber bevor er dazu kam, die Frage laut auszusprechen, hörte er abermals Schritte, und Trautman kam zu ihnen. Ein väterliches Lächeln zeigte sich auf Trautmans Zügen, als er Serena und ihn Arm in Arm so dasitzen sah. »Entschuldigt«, sagte er. »Ich wollte euch nicht stören. « »Das haben Sie nicht«, sagte Mike. Er rückte hastig ein kleines Stück von Serena weg und wäre dabei fast von seinem steinernen Sitz gerutscht. Erst im letzten Moment und ziemlich ungeschickt fand er sein Gleichgewicht wieder. Trautman war diplomatisch genug, so zu tun, als hätte er nichts davon bemerkt.
»Astaroth ist zurück«, sagte er. »Es wird Zeit. « Serena und Mike sprangen gleichzeitig auf die Füße. »Zeit? Wofür?«
»Was hat er entdeckt?« fügte Serena hinzu. »Das Lager der Dinosauroiden«, antwortete Trautman. »Es ist nicht sehr weit entfernt. Drei, vier Meilen allerhöchstens. Wir könnten es in einer Stunde erreichen. Seht ihr den großen Baum dort?« Er wies auf einen verschwommenen Schatten, der sich bucklig über die schwarze Silhouette des Waldes erhob. »Es liegt gleich dahinter. Die Gefangenen sind dort. « »Annies Vater und die anderen?« fragte Mike. »Das konnte er nicht herausfinden«, erwiderte Trautman. »Aber es sind Menschen -also liegt die Vermutung nahe. Ich glaube nicht, daß es hier von Schiffbrüchigen nur so wimmelt. Leider«, fügte er nach einer fast unmerklichen Pause, aber in deutlich besorgterem Tonfall hinzu, »hat er noch etwas herausgefunden. « »Und was?«
»Sie sind in der Nähe der Herde, wie wir vermutet haben«, antwortete Trautman. »Aber es sind sehr viele. Dutzende, wenn nicht gar Hunderte, das konnte er nicht genau sagen. Und es sieht so aus, als ob sie die Gefangenen fortbringen wollen - noch in dieser Nacht. «
»Dann haben wir nicht mehr viel Zeit«, sagte Serena entschlossen.
Die Herde lag unter ihnen wie ein schwarzer, lebender Teppich. In der Nacht waren die einzelnen Tiere nicht mehr zu unterscheiden, so daß Mike nur ein gewaltiges Wogen und Gleiten wahrnahm, das die Ebene vom Flußufer auf der einen bis zum Horizont auf der anderen Seite bedeckte und aus dem ein beständiges Rumoren und Dröhnen zu ihnen herauftönte. Manchmal, wenn der Wind sich drehte, wurden diese Geräusche lauter, und er trug den Geruch der Herde zu ihnen empor, der sehr durchdringend und sehr fremdartig, aber nicht unangenehm war. Die meisten Tiere schienen zu schlafen, aber hier und da bewegte sich doch ein kolossaler Schatten, schimmerte eine Hornplatte im Sternenlicht.
Mike saß jetzt seit einer halben Stunde auf dem Ast und blickte auf die Triceratopsherde hinab, und er hätte es noch stundenlang weiter tun können; der Anblick war bizarr, aber zugleich auch faszinierend. Es war eine Sache, von Chris zu hören, daß diese Geschöpfe, von denen jedes einzelne doppelt so groß wie ein ausgewachsener Elefantenbulle war und an die zehn Tonnen wiegen mußte, in Herden von Tausenden über das Land zogen, aber eine ganz andere, es mit eigenen Augen zu sehen.
Zur Rechten, direkt vor und unter ihnen wogte die ungeheuerliche Masse der Herde, während zur Linken der Fluß wie ein silbernes Band durch die Nacht schnitt. Ein halbes Dutzend Lagerfeuer brannte am Ufer, und manchmal rissen die zuckenden Lichtreflexe der Flammen einen buckligen Schatten aus der Schwärze; eines der sonderbar geformten Zelte, in denen die Hirten schliefen, die nicht an den Feuern saßen und sich mit ihren schnatternden Stimmen unterhielten oder auf Wache um das Lager patroullierten. In einem dieser Zelte, so hatte Astaroth berichtet, befanden sich Annies Vater und seine drei Begleiter. Sie waren nicht einmal bewacht. Aber das war auch nicht nötig. Das Zelt befand sich im Herzen des Lagers, und selbst, wenn sie es irgendwie hätten verlassen können, ohne von den Dinosauroiden bemerkt zu werden, wären sie nicht sehr weit gekommen. Die Triceratopsherde bildete eine sicherere Barriere, als es jede Mauer oder jeder Zaun gekonnt hätte. Und es gab absolut keinen Weg dorthin. Das ist wieder einmal typisch für euch, sagte eine spöttische Stimme in Mikes Gedanken. Was euch nicht auf Anhieb einfällt, das geht eben nicht, wie? Phantasie ist hier gefragt, Improvisationstalent und vielleicht ein bißchen Einsatz.
»Astaroth?« Mike fuhr aus seinen Grübeleien hoch und sah sich aufmerksam um. »Bist du das?« Wer denn sonst? maulte der Kater. Weißt du sonst noch jemanden, der ständig für euch die Drecksarbeit macht und sich dafür auch noch verhöhnen läßt? Nebenbei -könntest du mir vielleicht ein wenig zur Pfote gehen? Mike sah sich noch aufmerksamer um, konnte den Kater aber immer noch nirgends entdecken. Erst als er ein klägliches Miauen unter sich hörte und den Blick senkte, sah er ihn. Astaroth klammerte sich einen halben Meter unter ihm an den Baumstamm und hatte offensichtlich alle Mühe, sich festzuhalten. Der Stamm war an dieser Stelle fast spiegelglatt, und Mike hatte vorhin selbst bemerkt, daß sein Holz beinahe so hart wie Metall war. Offensichtlich hatte Astaroth seine bergsteigerischen Fähigkeiten ein wenig überschätzt, als er hier hatte hinaufsteigen wollen, statt auf der Rückseite des Stammes, wo Mike und die anderen heraufgekommen waren.
Mike griff rasch nach unten, hob den Kater zu sich herauf und grinste spöttisch. »Probleme?« fragte er. Astaroth würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Hocherhobenen Hauptes ging er an ihm vorüber und steuerte auf die anderen zu, und Mike folgte ihm. Trautman runzelte fragend die Stirn, als er Mikes immer noch anhaltendes Grinsen bemerkte, ging aber nicht weiter darauf ein.
»Astaroth!« sagte er erfreut. »Du bist zurück. Hast du einen Weg gefunden?«
Ja, antwortete Astaroth. Es müßte gehen. Aber es ist nicht leicht -wenigstens nicht für euch. Mike übersetzte seine jeweiligen Antworten -wobei er sich auf das Wesentliche beschränkte, was ihm den einen oder anderen ärgerlichen Blick des Katers und ein flüchtiges Lächeln Trautmans eintrug. »Was heißt nicht leicht? Die Wachen?« Nein, antwortete Astaroth. Sie passen auf, aber sie sind wie ihr - sie haben keine Phantasie. »Und was soll das heißen?« erkundigte sich Trautman mißtrauisch.
Es gibt einen Weg, sagte Astaroth. Sie passen auf wie die Schießhunde, aber an einer Stelle gibt es keine Wachen. Direkt am Fluß. Trautman ächzte. »Wie bitte?«
Sie bewachen das Ufer nicht, bestätigte Astaroth. Ich habe mich genau umgesehen. Das Wasser ist dort nicht besonders tief -wenigstens nicht für euch. Die Strömung könnte ein Problem sein, aber mit ein bißchen Glück könnt ihr es schaffen. Es gibt eine Stelle, an der das Wasser fast bis an das Zelt heranreicht, in dem Annies Leute untergebracht sind. Wenn ihr durch den Fluß geht, kommt ihr ungesehen hin.
»Das ist doch nicht dein Ernst!« protestierte Ben. »Das Wasser ist eisig, und ein einziger Fehltritt, und es ist aus. «
Dann mußt du eben zur Abwechslung einmal aufpassen, wohin du deine ungeschickten Füße setzt, antwortete Astaroth patzig. Das übersetzte Mike wörtlich. Ben wollte auffahren, aber Trautman brachte ihn mit einer energischen Geste zum Schweigen. »Astaroth hat recht, fürchte ich. Wir haben wahrscheinlich keine andere Wahl. Aber es wäre zu gefährlich, wenn wir alle gingen -und außerdem völlig sinnlos. « Er überlegte einen Moment. »Singh und ich werden gehen«, sagte er dann. »Ihr anderen wartet hier. Sobald wir mit den Gefangenen zurück sind, muß alles ganz schnell gehen. Sobald sie merken, daß ihre Gefangenen entflohen sind, werden sie wie die Teufel hinter uns her sein. «
»Ich komme auch mit«, sagte Mike. »Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Trautman. »Du bleibst schön hier bei -« »Aber ich muß mitkommen«, unterbrach ihn Mike. Er deutete auf den Kater. »Ich bin der einzige, der mit Astaroth sprechen kann. Und ihn braucht ihr. « Trautman bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick, aber er mußte sich geschlagen geben. Mike hatte recht -ohne den Kater hatten sie nicht die geringste Chance, das richtige Zelt zu finden. Und ohne Mike konnten sie sich nicht mit Astaroth verständigen. »Also gut«, sagte er seufzend. »Und um endlosen Diskussionen vorzubeugen - die anderen bleiben hier, ganz gleich, welche Gründe euch auch einfallen mögen, mitkommen zu müssen. « Er stand auf. »Ben, du bleibst hier oben und behältst das Lager und die Umgebung im Auge. Die anderen warten unten auf uns. Wir werden nicht viel Zeit haben, wenn wir zurückkommen. «
Ben hatte keineswegs übertrieben -das Wasser war zwar nicht eisig, aber nach der Hitze des Tages und der lauen Nachtluft kam es Mike zumindest so vor, und die Strömung war selbst hier am Ufer so stark, daß er mit aller Macht um sein Gleichgewicht kämpfen mußte und nur äußerst behutsam einen Fuß vor den anderen setzte. Der Flußgrund war mit knöcheltiefem Schlamm bedeckt, aber dazwischen gab es immer wieder runde, glattgeschliffene Steine, auf denen man leicht ausgleiten konnte - und ein einziger Fehltritt oder gar ein Sturz bedeuteten hier wirklich das Ende. Mikes Herz schlug so schwer, daß er es bis in die Fingerspitzen fühlen konnte. Er zitterte vor Kälte am ganzen Leib, und der Weg schien kein Ende zu nehmen. Manchmal berührte ihn etwas unter Wasser, kleine, glitschige Körper, die rasch wieder davonhuschten und vermutlich viel mehr Angst vor ihm hatten als umgekehrt er vor ihnen und ganz bestimmt vollkommen harmlos waren, aber seine Phantasie machte natürlich die gräßlichsten Monster daraus. Sie hatten das Lager der Dinosauriermenschen erreicht. Zur Rechten, unmittelbar über dem Ufer, erhob sich eine Barriere aus undurchdringlich ineinandergewachsenen Büschen und Wurzeln, aber darüber konnte Mike die buckligen Schatten der halbrunden Zelte erkennen, die die Echsenmänner aufgestellt hatten, und den roten Widerschein ihrer Feuer. Durch das seidige Geräusch des fließenden Wassers drangen die Stimmen der Geschuppten: ein unheimliches, zischelndes Wispern und Keuchen, in dem er keine Regelmäßigkeit, keine Melodie erkennen konnte. Die Stimmen dieser Wesen waren so wie sie selbst: rätselhaft, erschreckend und unvorstellbar fremd.
Es ist jetzt nicht mehr weit, sagte Astaroth. Dort vorne, die Lücke im Gebüsch - siehst du sie? Mike hielt als erstes nach dem Kater Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken. Astaroth war ihnen nicht ins Wasser gefolgt, sondern schlich geduckt und als unsichtbarer Schatten durch die Büsche am Ufer. Nach einer Weile gewahrte er aber die Bresche in der bisher schier undurchdringlichen, lebenden Mauer, die das Lager vom Fluß trennte, und nickte. Da ist ein kleiner Seitenarm, fuhr Astaroth fort. Nicht sehr tief, aber breit. An seinem Ende liegen zwei Zelte. Sie sind im rechten.
Mike blieb für einen Moment stehen, wartete, bis Singh und Trautman zu ihm aufgeholt hatten, und teilte ihnen im Flüsterton mit, was er von Astaroth erfahren hatte. Die
beiden nickten, und Singh übernahm kommentarlos die
Führung.
Nun befanden sie sich mitten im Lager der Dinosauroiden. Einige der unheimlichen Geschöpfe, die in der Nacht, die ihre Gestalten zu flachen Schatten mit ruckhaften Bewegungen reduzierte, noch fremdartiger und bizarrer wirkten, waren so nahe, daß Mike meinte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um sie zu berühren. Er verstand nicht, warum sie nicht längst gesehen worden waren: selbst in der Nacht mußten sich ihre Gestalten deutlich unter dem glasklaren Wasser abzeichnen, und außerdem schlug sein Herz so laut, daß man es eigentlich meilenweit hätte hören müssen. Mike wäre nicht überrascht gewesen, wären die Echsenmänner im nächsten Moment alle gemeinsam aufgesprungen und über sie hergefallen, er war fast davon überzeugt, daß es unweigerlich geschehen mußte. Statt dessen erreichten sie unbehelligt das Ende des Flußarmes, und Trautman deutete mit einer Geste auf das rechte der beiden halbrunden Zelte, die sich kaum zwei Meter vom Wasser entfernt erhoben. Gleichzeitig warf er Mike einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Nicken beantwortete. Er betete, daß Astaroth sich nicht geirrt hatte. Wenn sie in das falsche Zelt eindrangen und sich unversehens einem Dinosauroiden gegenübersahen, würden sie keine zweite Chance bekommen.
Wie Indianer, die sich an einen Feind anschlichen, robbten sie aus dem Wasser und näherten sich der Rückseite des Zeltes. Mike lauschte einen Moment mit angehaltenem Atem, ehe er es wagte, die Hände nach der Zeltplane auszustrecken, um sie etwas anzuheben. Nichts. Er hörte nicht den mindesten Laut, und drinnen war es dunkler als hier draußen. Vermutlich schliefen die Gefangenen ebenso wie die meisten ihrer Bewacher. Mike schob den letzten Rest seiner Furcht beiseite, hob die Zeltplane -sie war so schwer, daß er einen Moment lang befürchtete, es nicht zu schaffen -weiter an und glitt beinahe lautlos darunter hindurch. Absolute Dunkelheit empfing ihn. Mike robbte noch ein Stück weiter, bis er gegen ein Hindernis stieß, dann hielt er inne und lauschte. Er konnte hören, wie Trautman und Singh hinter ihm hereingekrochen kamen und sich die Zeltplane mit einem schweren Flapp wieder senkte und dann die gleichmäßigen Atemzuge von drei oder vier Menschen. Aber waren es tatsächlich nur drei oder vier? Und waren es wirklich nur menschliche Atemzüge, die er hörte?
Bevor seine überreizte Phantasie endgültig die Oberhand gewinnen konnte, berührte ihn eine Hand an der Schulter, und Trautmans Stimme flüsterte unmittelbar neben seinem Ohr: »Der Eingang. Geh hin und halt die Augen offen!«
Das war zwar ein durchaus umsichtiger Gedanke, aber leider auch viel leichter gesagt als getan. Mike hatte mittlerweile vollends die Orientierung verloren. Er gehorchte Trautman und kroch auf gut Glück los -mit dem Ergebnis, daß er irgendwo anstieß und Lärm verursachte.
Und die Reaktion blieb nicht aus. Die bisher gleichmäßigen Atemzüge eines der Schläfer veränderten sich plötzlich. Ein Räuspern und Schnauben erklang, und dann konnte Mike hören, wie sich jemand umständlich aufsetzte. »Was ist denn los?« murmelte eine verschlafene und leicht verärgert klingende Stimme. »Matthew, bist du
- ?« »Keinen Laut!« sagte Trautman erschrocken. »Um Gottes willen, seien Sie still!«
Die Stimme verstummte tatsächlich, und für ungefähr eine Sekunde wurde es absolut still. Dann raschelte etwas, und plötzlich durchschnitt ein weißer, sehr heller Lichtstrahl die Dunkelheit und richtete sich direkt auf Trautmans Gesicht. Trautman zog eine Grimasse und hob hastig die Hand vor die Augen. »Machen Sie das Licht aus!« sagte er erschrocken. »Wollen Sie, daß sie uns erwischen?« Das Licht erlosch keineswegs, aber der Lichtstrahl ließ zumindest Trautmans Gesicht los, huschte einmal durch den Raum und richtete sich dann gegen die Decke. Mike sah jetzt, warum es ihm so schwergefallen war, die Zeltplane anzuheben. Sie bestand nämlich keineswegs aus Stoff, sondern aus einem sonderbar grob anmutenden Leder -das zweifellos nichts anderes als Dinosaurierhaut war und somit viel dicker und schwerer als das Leder, das Mike kannte. Nachdem der Bärtige die Lampe gehoben hatte, wurde es schlagartig viel heller im Zelt. Mike blickte automatisch nach oben und erkannte, daß unter dem Zeltdach ein gebogener Spiegel aus kupferfarbenem Metall befestigt war, der das Licht der kleinen Lampe zurückwarf und zugleich im ganzen Raum verteilte: eine Anordnung, die mit einem Minimum an Aufwand für ein Maximum an Ergebnis sorgte.
Im Licht dieser erstaunlichen Lampe erkannte er vier niedrige, mit Stroh gedeckte Liegen, auf denen sich nun nacheinander drei Männer und eine sehr junge Frau aufrichteten. Sie wirkten ziemlich verschlafen, und bis auf den bärtigen Mann, der die Lampe hielt, schienen sie im allerersten Moment gar nicht zu begreifen, was sie sahen. Selbst dieser starrte Trautman nur mit offenem Mund an. »Mister Mason?« fragte Trautman hastig. Zwei der Männer nickten, und Trautman wandte sich der Einfachheit halber an den, der die Lampe hielt. »Bitte stellen Sie jetzt keine überflüssigen Fragen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir sind hier, um Sie herauszuholen. «
Der Bärtige nickte und stellte natürlich doch sofort eine Frage: »Wer... wer sind Sie?« »Freunde Ihrer Tochter«, antwortete Trautman. »Annie?« Mason richtete sich mit einem Ruck vollständig auf: »Was ist mit ihr? Ist sie gesund?« Trautman deutet ihm hastig, leiser zu sein. »Ihrer Tochter geht es gut«, antwortete er. »Wir bringen Sie zu ihr -wenn Sie ein bißchen vorsichtiger sind, heißt das. Nicht so laut. Und bitte, machen Sie das Licht aus!« Er wandte sich wieder an Mike. »Zum Ausgang, schnell. « Mike tat endlich, was Trautman ihm sagte, und kroch auf Händen und Knien zur anderen Seite des Zeltes. Der Ausgang war mit einer schweren Zeltplane verschlossen, und es bereitete ihm einige Mühe, sie so weit aufzuschieben, daß er hindurchspähen konnte. Aber er achtete streng darauf, daß kein verräterischer Lichtstrahl nach draußen fiel. Sekundenlang blickte er gebannt in die dunkelblaue Nacht hinaus, die das Zelt umgab, dann machte er eine beruhigende Geste in Trautmans Richtung.
»Wo ist sie?« fuhr Mason, der natürlich gar nicht daran dachte, die Lampe zu löschen, aufgeregt fort. »Was ist mit meiner Tochter? Wo haben Sie sie gefunden?« »Sie ist ganz in der Nähe«, antwortete Trautman. »Wir bringen Sie zu ihr. Wenn wir hier herauskommen, heißt das. Was ist mit Ihnen? Sind Sie unverletzt? Können Sie laufen?«
»Uns ist nichts passiert«, antwortete Mason. »Sie haben uns nichts getan, bisher wenigstens. Aber wo kommen Sie her. Wer - «
Mike hörte nicht weiter zu, denn in diesem Moment erklang wieder Astaroths lautlose Stimme in seinen Gedanken. Ihr solltet euch lieber ein bißchen beeilen, sagte der Kater. Es könnte sein, daß ihr gleich Besuch bekommt.
Mike fuhr bei diesen Worten so heftig zusammen, daß Trautman mitten im Wort verstummte und ihn aufmerksam ansah. »Was ist?« fragte er. »Hast du etwas entdeckt?«
Mike blickte noch eine Sekunde konzentriert nach draußen, aber vor dem Zelt rührte sich immer noch nichts. Hastig ließ er die Zeltplane wieder zurückfallen, ging zur anderen Seite und spähte unter dem Rand der Plane hindurch. Das Wasser, durch das sie gekommen waren, lag scheinbar zum Greifen nahe vor ihm. Der Fluß glitzerte silbern im Sternenlicht, und zu beiden Seiten erhoben sich die schwarzen Umrisse der Dornenbüsche, die ihn flankierten, wie eine bizarre Burgmauer. Und dahinter...
Es mußten vier oder fünf der Echsenmänner sein, die durch das Wasser auf sie zugewatet kamen. Sie bewegten sich nicht sehr schnell, aber sehr zielstrebig. Und sie waren nicht allein. Mike mußte zweimal hinsehen, um die Geschöpfe zu erkennen, die sie begleiteten. Die Dinosauroiden hielten lange, geflochtene Leinen in den Händen, an denen sie etwas wie eine verkleinerte Ausgabe der Raptoren führten, die Mike und die anderen am vergangenen Abend angegriffen hatten. Die Tiere waren allerhöchstens so groß wie ein Rebhuhn und sahen mit den viel zu groß geratenen Händen und Füßen beinahe tolpatschig aus -aber was sie taten, das war eindeutig: Sie hatten die Köpfe gesenkt und schnüffelten emsig, und auch wenn es Mike fast unglaublich vorkam -sie schienen ihre Spuren selbst im Wasser deutlich verfolgen zu können.
»Hunde!« keuchte er erschrocken. »Sie haben Hunde!« »Hier gibt es keine Hunde«, antwortete Mason automatisch.
»Aber etwas, was den gleichen Zweck erfüllt«, antwortete Mike. Er fuhr herum und sprang mit einem Ruck auf die Füße. »Sie haben unsere Spur gefunden! Dort kommen wir jedenfalls nicht mehr raus. « Trautman wandte sich mit erstaunlicher Ruhe an Mason. »Gibt es einen anderen Weg aus dem Lager?Überlegen Sie! Sie sind seit zwei Tagen hier!« »Wir sind keinen Schritt aus dem Zelt gekommen«, antwortete Mason. »Aber es gibt keinen anderen Weg, glauben Sie mir. «
Doch, den gibt es, sagte Astaroth. Schnell! Ich glaube, sie wissen jetzt, wo ihr seid. Beeilt euch! »Astaroth hat einen Weg gefunden!« sagte Mike. »Schnell jetzt! Raus hier!« »Und wohin?« fragte Trautman. Mike hatte schon dazu angesetzt, loszustürmen, blieb jetzt aber abrupt wieder stehen. Trautman hatte recht. Astaroth war irgendwo draußen, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wo. Wenn sie blindwütig losstürmten, würden sie nur den Dinosauroiden und ihren Hunden in die Arme laufen.
»Wer ist dieser Astaroth?« wollte Mason wissen. Wie auf ein Stichwort hin raschelte es in diesem Augenblick an der Zeltplane vor dem Ausgang, und Astaroth steckte sein einäugiges Katzengesicht zu ihnen herein. Wie lange soll ich eigentlich noch auf euch warten? erkundigte er sich. Oder wollt ihr vielleicht hierbleiben und eine Runde Karten mit den Fischgesichtern spielen?
»Das ist Astaroth«, sagte Trautman mit einer Geste auf den Kater.
Mason ächzte. »Eine Katze?« keuchte er. »Sie wollen, daß wir uns der Führung einer Katze anvertrauen? Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Er ist ein Kater, keine Katze«, sagte Mike hastig.
»Außerdem sieht er nur aus wie ein normaler Kater, keine Sorge. Er weiß genau, was er tut. « »Aber du anscheinend nicht, Junge«, sagte einer der beiden anderen Männer kopfschüttelnd. »Ich werde ganz bestimmt nicht -«
»Sie können ja hierbleiben«, unterbrach ihn Trautman grob. »Wir verschwinden jetzt jedenfalls. Astaroth
- los. «
Selbst Mike war über Trautmans barschem Ton ein wenig erstaunt, denn das war normalerweise gar nicht seine Art. Aber normalerweise befanden sie sich auch nicht inmitten einer Armee von zwei Meter großen Dinosauriern und von Echsenwesen, die nahe daran waren, sie zu entdecken und gefangenzunehmen. Ohne weiter auf die Proteste des Mannes zu achten, verließen sie das Zelt und kauerten sich in der schützenden Dunkelheit vor dem Eingang zusammen. Mike sah sich mit klopfendem Herzen um. Nur wenige Meter neben ihnen glomm die rote Glut eines vor noch nicht langer Zeit erloschenen Feuers in der Nacht, und er glaubte vage, ein paar langgestreckte Umrisse davor wahrzunehmen. Aber wenn es Dinosauroiden waren, so schliefen sie tief und fest. Wie es schien, hatten sie zumindest im Augenblick das Glück gepachtet. Leider schien es nur so.
Hinter ihm verließen Trautman, Singh und die anderen das Zelt. Als letzter folgte Annies Vater, auch er vollkommen lautlos und auf Händen und Füßen kriechend
-genauer gesagt, auf einer Hand und den Knien. In der anderen hielt er nämlich noch immer die Lampe. Und sie war noch immer eingeschaltet. Mike hatte das Gefühl, von einer eisigen Hand im Nacken berührt zu werden. Der Lichtkegel der Lampe, in der Dunkelheit gleißend und grell wie einer der großen Scheinwerfer der NAUTILUS, strich über Trautman und Singh, blendete für einen Moment Mike und riß kurz Astaroths schlichtweg entsetztes Katzengesicht aus der Dunkelheit, ehe Mason endlich begriff, was er tat, und die Lampe hastig ausschaltete. Natürlich war es zu spät. Einige der Schatten, die Mike bemerkt hatte, begannen sich träge zu regen, und nur eine halbe Sekunde später hörte er nun wirklich das, worauf er mit klopfendem Herzen die ganze Zeit gewartet hatte: einen schrillen, zischelnden Schrei, dessen Bedeutung ihm trotz all seiner Fremdartigkeit sofort klar war. »Los!« brüllte Trautman. »Lauft!«
Mike sprang mit einem Ruck auf die Füße und stürmte hinter Astaroth her, der vor ihnen im Zickzack durch das Lager schoß und ihnen den Weg wies. Die anderen folgten ihm dichtauf. Mike verschwendete keine Zeit damit, zu ihnen zurückzusehen, aber er hörte sehr wohl, daß es nicht nur ihre Schritte waren, die die bisherige Stille des Lagers durchbrachen. Von der Sicherheit ihres Baumes aus beobachtet, hatte das Lager schon groß ausgesehen. Jetzt schien es kein Ende zu nehmen. Astaroth schoß nach rechts, links, sprang einmal sogar mit einem gewaltigen Satz über ein erst halb erloschenes Feuer, und die Zelte flogen nur so an ihnen vorüber, aber so schnell sie auch rannten, schienen sie trotzdem kaum von der Stelle zu kommen. Immer mehr und mehr Schatten erfüllten die Nacht, und bald hallte das Flußufer von den zischelnden Schreien der Echsenwesen wider. Der Lärm ihrer Flucht mußte das gesamte Lager geweckt haben. Der einzige Grund, aus dem sie wahrscheinlich nicht schon in den ersten Sekunden eingeholt und überwältigt wurden, war wohl, daß sie auch für komplette Verwirrung sorgten. Aber früher oder später, das wußte Mike, würde ihre Flucht zu Ende sein.
Und als wäre das alles noch nicht genug, bemerkte Mike in diesem Moment etwas, was seine Sorge noch vertiefte. Astaroth bewegte sich nicht auf den Rand des Lagers zu, sondern im Gegenteil immer weiter vom Wald weg. Wohin um alles in der Welt brachte sie der Kater? Mike war plötzlich gar nicht mehr so sicher, daß Astaroth wirklich wußte, was er tat. Als er es schließlich begriff, war es zu spät. Mit einem Male waren keine Zelte mehr rings um sie herum. Das Lager der Dinosauroiden lag hinter ihnen - aber sie befanden sich nicht im Wald. Nicht einmal wirklich im Freien... Mike verspürte erneut einen eiskalten, lähmenden
Schrecken, als ihm endgültig klar wurde, welchen Weg aus dem Lager heraus Astaroth gefunden hatte. Der Kater hatte sie direkt in die Triceratops-Herde geführt!
Nicht alle Tiere schliefen. Die meisten waren wach und bewegten sich unruhig. Gewaltige, stachelgepanzerte Köpfe drehten sich in ihre Richtung, mißtrauische Blicke folgten ihnen, und Mike vernahm ein immer lauter werdendes Brummen und Rumoren, als erwache die ganze Herde gleich einem einzigen, gewaltigen Tier aus dem Schlaf. Und irgend etwas sagte ihm, daß sie nicht besonders erfreut auf die nächtliche Störung reagieren würden.
»Um Gottes willen!« keuchte Mason. Natürlich hatte auch er bemerkt, wo sie sich befanden, und Mike konnte trotz der Dunkelheit sehen, daß er leichenblaß geworden war. »Was - ?«
»Weiter!« unterbrach ihn Trautman. »Wir müssen weiter! Schnell!«
Aber Mason rührte sich nicht; ebensowenig wie seine drei Begleiter. »Das ist doch Wahnsinn!« keuchte er. »Sie werden uns tottrampeln!«
»Das werden sie nicht!« antwortete Trautman. »Aber wenn wir noch lange hier herumstehen, dann kriegen sie uns. « Er wies zurück auf das Lager, das sich mittlerweile in heller Aufregung befand. Dutzende, wenn nicht Hunderte der Echsenmänner bewegten sich in ihre Richtung, und die Nacht hallte wider von ihren zischelnden Stimmen. Aber Mike fiel auch auf, daß sich die Dinoiden längst nicht so schnell bewegten, wie sie es gekonnt hätten. Entweder, dachte er, konnten sie in der Nacht nicht besonders gut sehen... oder sie hatten Angst, ihnen in die Herde hinein zu folgen. Er verscheuchte den Gedanken. »Uns geschieht nichts«, sagte er. »Astaroth weiß, was er tut. Keine Angst. «
Er wartete ein Sekunde lang darauf, daß Astaroths Stimme in seinen Gedanken diese Behauptung bestätigte, aber der Kater schwieg. Auch das trug nicht unbedingt dazu bei, Mikes Sorge zu mildern. Trotzdem wandte er sich mit einem Ruck um und ging voran, und tatsächlich folgten ihm die anderen, wenn auch zögernd.
Tiefer und tiefer drangen sie in die gewaltige Herde ein. Sie trafen jetzt kaum mehr auf schlafende Tiere. Die allermeisten der geschuppten Giganten, denen sie begegneten, waren wach und verfolgten sie mit mißtrauischen Blicken, und zwei oder dreimal wurde auch zornig ein gepanzerter Schädel in ihre Richtung geschüttelt. Mike konnte die Verärgerung der Tiere regelrecht spüren. Sie reagierten aggressiv auf die Störung.
Sie dulden normalerweise keine Fremden in ihrer Mitte, sagte Astaroth unvermittelt. Er hatte wieder einmal Mikes Gedanken gelesen, aber diesmal war Mike fast froh darüber.
»Aber die Dinosauroiden -«
Betreten die Herde niemals, sagte Astaroth. Sie lenken und beschützen sie, aber sie gehen niemals hinein. Keine Angst, fügte er hastig hinzu, als er spürte, wie Mike erschrak. Ich glaube, ich kann sie beruhigen. »Du kannst mit ihnen sprechen?« entfuhr es Mike überrascht.
Nein, antwortete der Kater. Aber irgendwie... spüre ich, was sie fühlen. Und umgekehrt. Es ist kompliziert. Sie fühlen eure Angst.
Mike verstand nicht wirklich, was der Kater damit meinte, aber er hatte das Gefühl, daß der letzte Satz ungemein wichtig war. Doch er kam nicht dazu, Astaroth eine entsprechende Frage zu stellen, denn in diesem Moment trat Annies Vater neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Sag mal -kannst du etwa wirklich mit diesem Kater sprechen?« fragte er ungläubig. Er hatte wohl gehört, was Mike gesagt hatte.
»Ich sagte doch, er sieht nur aus wie ein Kater«, antwortete Mike. »Sprechen ist vielleicht nicht das richtige Wort - aber wir können uns miteinander verständigen, das ist richtig, ja. « »Na, dann will ich hoffen, daß dein Freund weiß, was er tut. «
»Keine Sorge«, versicherte Mike hastig. »Er bringt uns hier heraus. Bestimmt. «
Sie hatten sich mittlerweile so weit vom Fluß entfernt, daß sie nicht einmal mehr den Feuerschein des Lagers sehen konnten -allerdings auch sonst nichts. Rings um sie herum waren Tausende, vielleicht Zehntausende von gewaltigen, schwarzen Schatten. Mehr als einmal mußten sie sich unter den riesigen Schädeln hindurchducken, und zwei-oder dreimal war Mike sogar gezwungen, auf Händen und Knien unter dem Leib eines Triceratops hindurchzukriechen, weil es sonst einfach kein Durchkommen mehr gegeben hätte. Er starb innerlich tausend Tode -aber das Unglaubliche geschah: Obwohl eine flüchtige Bewegung der Giganten ausgereicht hätte, sie zu zerquetschen, und obwohl er von Astaroth wußte, daß die Tiere ziemlich verärgert über ihr Eindringen waren, taten sie ihnen nichts zuleide. Und trotzdem wäre es beinahe zur Katastrophe gekommen.
Sie hatten einen winzigen, freien Platz innerhalb der Herde erreicht und blieben einen Moment stehen, um sich zu orientieren, und es war Mason, der um ein Haar ihrer aller Ende herbeigeführt hätte. Er war unmittelbar neben Mike stehengeblieben, sah sich eine Sekunde suchend um und schaltete schließlich seine Lampe ein. Der grelle Lichtstrahl huschte über den Boden, riß schimmernde Reflexe aus den Schuppenpanzern eines Tieres und blieb schließlich an seinem Gesicht hängen. Der Triceratops knurrte wütend, warf den Kopf in den Nacken und stieß dann ein markerschütterndes Brüllen aus. Er blinzelte. Tränen liefen aus seinen Augen. Mason senkte erstaunt die Lampe, hob sie in der nächsten Sekunde wieder und richtete sie auf ein zweites Tier, und das Ergebnis war noch dramatischer. Der gehörnte Gigant prallte zurück, als hätte er einen Schlag bekommen, und riß dabei eines der anderen Tiere fast von den Füßen. Auch seine Augen füllten sich schlagartig mit Tränen.
»Das Licht!« rief Trautman. »Mason, schalten Sie das Licht aus! Es macht sie rasend!« Mason reagierte sofort. Hastig senkte er die Lampe und schaltete sie in der nächsten Sekunde vollends aus. Trotzdem beruhigten sich die Tiere nur langsam. Sie versuchten vor ihnen zurückzuweichen, aber es waren so viele, daß sie sich dabei gegenseitig behinderten. Das unruhige Grollen und Rumoren nahm zu, und Mike konnte regelrecht spüren, wie die Aggressivität der Tiere zunahm. Er hätte es nun nicht mehr gewagt, sich so dicht an ihnen vorbeizudrängen, wie sie es bisher getan hatten.
Aber das war auch nicht nötig. Vielleicht aus Furcht vor Masons Lampe, vielleicht, um die ungebetenen Gäste möglichst schnell loszuwerden, begannen die stacheligen Riesen weiter und weiter vor ihnen zur Seite zu weichen, bis sie schließlich eine enge, aber deutlich sichtbare Gasse bildeten: eine Bewegung, die in ihrer Bedeutung zu eindeutig war, um noch Zufall sein zu können.
»Unglaublich!« flüsterte Mason. »Als... als ob sie denken könnten!«
»Vielleicht können sie das«, antwortete Trautman ernst. »Auf jeden Fall sollten wir der Einladung folgen und machen, daß wir hier wegkommen. Und lassen Sie um Himmels willen Ihre Lampe aus, Mann! Das Licht scheint ihnen Schmerzen zu bereiten. « Zögernd setzten sie sich in Bewegung. Es war ein unheimliches, fast furchteinflößendes Gefühl, zwischen diesen tonnenschweren Giganten entlangzugehen. Die Reihen der Triceratops teilten sich vor ihnen, um ihnen Platz zu machen, aber Mike spürte auch, daß sich die lebende Mauer hinter ihnen sofort wieder schloß, und zwar auf eine endgültige Weise. Wohin immer sie dieser Weg auch führen mochte, es gab kein Zurück. Nach einer Ewigkeit, wie es Mike vorkam, nahm die Anzahl der Tiere allmählich wieder ab, und endlich erreichten sie den Rand der Herde.
Und damit war das Ende ihrer Flucht gekommen. Nicht nur Mike begriff schlagartig, warum die Dinosauroiden sie nicht quer durch die Herde verfolgt hatten. Es war gar nicht nötig gewesen. Sie warteten nämlich hier auf sie.
Mike konnte ein enttäuschtes Stöhnen nicht unterdrücken, als er die gut zwanzig, wenn nicht dreißig Dinosauroiden gewahrte, die in einer langen Reihe am Rande der Herde Aufstellung genommen hatten. Einige von ihnen führten die kleinen »Hunde«-Saurier mit sich, die schon unten am Fluß ihre Spur aufgenommen hatten, und Mike sah auch, daß nicht wenige der Echsenwesen mit den kleinen, sonderbar geformten Pistolen bewaffnet waren, die die blauen Blitze verschossen. Sie standen völlig reglos da und starrten sie an, und Mike war auch sicher, daß sie schon eine ganze Weile so dastanden und auf sie warteten. Wahrscheinlich, dachte er, haben sie die ganze Zeit auf uns gewartet und sich halb tot gelacht.
Was das Warten angeht, hast du recht, sagte Astaroth. Aber glaub mir, sie finden euch überhaupt nicht komisch. »Das ist das Ende!« sagte Mason. »Verdammt, wenn ich nur eine Waffe hätte!«
»Wozu?« fragte Trautman. »Um alles noch schlimmer zu machen?«
»Ich werde jedenfalls nicht kampflos aufgeben!« sagte Mason. »Noch einmal kriegen sie mich nicht. « Mike spürte, was er vorhatte, eine halbe Sekunde, ehe Annies Vater die Hand hob, aber seine Reaktion kam zu spät.
Mason schaltete die Lampe ein und richtete den grellweißen Lichtstrahl direkt auf das Gesicht eines Triceratops, der halb zwischen ihnen und den wartenden Dinosauroiden stand.
Das Ergebnis übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Diesmal hatte Mason die Lampe nicht beiläufig auf das Tier gerichtet, sondern regelrecht auf seine empfindlichen Augen gezielt, und das plötzliche Licht mußte es halb wahnsinnig machen. Es brüllte, bäumte sich wie ein durchgehendes Pferd auf und fuhr dann herum, um vor dem grausamen Licht zu fliehen, das ihm solche Schmerzen bereitete. Und es floh in die einzige Richtung, die ihm blieb - direkt auf die Dinosauroiden zu!
Mason schrie triumphierend auf, richtete seine Lampe auf einen zweiten Triceratops und blendete auch ihn. Das Tier reagierte wie sein Vorgänger, und noch bevor es ganz herumgefahren und losgestürmt war, schwenkte Mason seine Lampe weiter und richtete sie auf ein drittes, viertes und fünftes Tier, und er hätte vermutlich noch weitergemacht, hätte Mike nicht endlich seinen Schrecken überwunden und ihm kurzerhand die Lampe aus der Hand geschlagen.
Aber das Ergebnis war auch so fürchterlich genug. Nicht nur die Dreihörner, die Mason geblendet hatte, sondern auch noch mindestens zehn, zwölf weitere Tiere waren in Panik geraten und stürmten, einer lebenden, unaufhaltsamen Lawine aus Knochen, Fleisch und Panzerplatten gleich, auf die Dinosauroiden zu. Und sie mochten plump aussehen, aber sie erreichten eine erschreckende Geschwindigkeit. Die Echsenmänner spritzten in panischer Hast auseinander. »Bist du wahnsinnig geworden?« herrschte ihn Mason an. »Was fällt dir ein?« Er wollte sich nach der Lampe bücken, aber Mike war schneller. Hastig hob er sie auf und warf sie Singh zu, der sie geschickt auffing und unter seinem Gürtel verschwinden ließ. Mason machte einen Schritt in seine Richtung, blieb aber sofort wieder stehen, als er Singhs Blick begegnete.
»Was soll das?« fragte er. »Wir können -« »Ein paar von ihnen umbringen?« fiel ihm Trautman ins Wort. Sein Gesicht hatte sich vor Zorn verdüstert. »Langsam kommen mir Zweifel, ob wir Sie wirklich hätten befreien sollen«, sagte er. »Was ist in Sie gefahren, Mann? Wollten Sie eine Panik in der Herde auslösen?«
»Warum nicht?« fragte Mason trotzig. »Auf diese Weise hätten sie jedenfalls Besseres zu tun, als uns zu jagen. « In Trautmans Augen blitzte es zornig auf. »Also gut«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Wir reden später darüber. Der Schaden ist einmal angerichtet; sehen wir, daß wir das Beste daraus machen. « Und es wurde auch wirklich Zeit, daß sie wegkamen. Die Dinosauroiden waren zwar verschwunden, aber die Tiere in ihrer Nähe wurden immer unruhiger. Der Boden zitterte unter dem wütenden Stampfen und Trampeln der Kolosse, und das Knurren der Tiere klang nun eindeutig drohend. So schnell sie konnten, verließen sie die Herde endgültig und wandten sich nach Süden. Natürlich hatten die anderen nicht am Fuße des großen Baumes auf sie gewartet, sondern kamen ihnen entgegen, lange ehe sie den Waldrand überhaupt erreichten; allen voran Serena, auf deren Gesicht sich bei Mikes Anblick ein Ausdruck von solcher Erleichterung breitmachte, daß er für einen Moment fast die Gefahr vergaß, in der sie noch immer schwebten. Sie rannte auf ihn zu und breitete im Laufen die Arme aus, wie um ihm um den Hals zu fallen, aber im allerletzten Moment besann sie sich dann doch eines anderen und blieb abrupt stehen. Für eine Sekunde sah sie beinahe verlegen drein, aber da außer Mike niemand etwas davon bemerkt zu haben schien, fing sie sich sofort wieder. »Wie ist es gelaufen?« fragte Ben. »Wo wart ihre so lange, und -«
»Annie!« Mason schrie so laut auf, daß man es weithin hören mußte, und war mit ein paar gewaltigen Sätzen bei seiner Tochter und schloß sie in die Arme. »Annie, du lebst! Und du bist gesund!« Er drückte sie so heftig an sich, daß das Mädchen für einen Moment keine Luft mehr bekam, wirbelte sie ein paarmal im Kreis herum und setzte sie schließlich lachend zu Boden. »Gott im Himmel sei Dank, du lebst!«
»Wo wart ihr so lange?« fragte Ben noch einmal, und jetzt direkt an Mike gewandt. »Was hatte dieser Lärm zu bedeuten? Wir haben schon gedacht, sie hätten euch erwischt. «
»Das hätten sie auch fast«, antwortete Trautman an Mikes Stelle. Er warf Mason einen bösen Blick zu. Die Schiffbrüchigen waren allesamt damit beschäftigt, abwechselnd Annie zu umarmen und sich immer wieder aufs neue davon zu überzeugen, daß das Mädchen tatsächlich unverletzt und wohlauf war. Die noch immer bedrohliche Lage, in der sie sich nach wie vor befanden, schienen sie vollkommen vergessen zu haben. „Was ist passiert?« fragte nun auch Serena. »Später. « Trautman schüttelte den Kopf und ging mit ein paar raschen Schritten zu Annies Familie hinüber. Er räusperte sich ein paarmal, mußte Mason aber schließlich am Arm ergreifen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Ich verstehe, daß Sie sich freuen, Ihre Tochter wiederzusehen«, sagte er »Aber wir haben jetzt wirklich keine Zeit dafür. Wirmüssen hier verschwinden. « Mason löste sich mit sichtlicher Überwindung von Annie und richtet sich auf. »Sie haben recht«, sagte er. »Und wohin?«
»Keine Ahnung«, gestand Trautman. »Aber hier können wir nicht bleiben. Sie werden ganz bestimmt bald hier auftauchen. «
»Das beste wird sein, wenn wir uns in den Wald zurückziehen«, sagte Mason. »Es ist nicht ungefährlich, aber dort können wir uns zumindest verstecken. Wir sind ihnen auf diese Weise immerhin ein paar Tage lang entkommen. « Er zögerte einen Moment, dann fuhr er in verlegenem Tonfall fort: »Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt. Gestatten Sie, daß ich das nachhole. Ohne Sie wären wir diesen Ungeheuern niemals
entkommen. Weiß der Himmel, was sie uns noch angetan
hätten. «
»Was haben sie Ihnen denn angetan?« fragte Serena. Mason sah die Atlanterin verwirrt, aber auch ein bißchen feindselig an, während Mike Serena in Gedanken beipflichtete.
»Was ist das für eine Frage?« sagte Mason schließlich. »Sie haben uns verschleppt, oder nicht? Frag deine Freunde hier -schließlich haben sie uns befreit. Sie sind über uns hergefallen -«
»- nachdem Sie als erste auf sie geschossen haben«, fiel ihm Serena ins Wort. Sie deutete auf Annie. »Ich habe mit Ihrer Tochter gesprochen. Sie haben als erste auf sie geschossen. «
Für einen Moment erschien ein Ausdruck von Betroffenheit auf Masons Gesicht, der aber dann sofort in Zorn umschlug. »Wir haben uns nur verteidigt!« behauptete er. »Was hätten wir tun sollen? Sie sind plötzlich aufgetaucht, und wir mußten uns wehren! Was verstehst du schon davon?"
»Vielleicht mehr, als Sie jemals begreifen werden«, sagte Trautman.
Mason wandte sich mit einem Ruck zu ihm herum, aber in diesem Moment erklang Astaroths Stimme wieder in Mikes Kopf: Streitet euch ruhig weiter, sagte er. Ich schätze, ihr habt noch zwei Minuten, bis sie hier sind. »Sie kommen«, sagte Mike -und das reichte, um den aufkeimenden Streit auf der Stelle zu beenden. Ohne ein
weiteres Wort drangen sie in den Dschungel ein.
Während der ersten halben Stunde kamen sie überraschend gut voran. Sie folgten der Spur, die die Herde in den Wald geschlagen hatte, so daß sie trotz der fast vollkommenen Dunkelheit, die unter dem Blätterdach des Dschungels herrschte, ein rasches Tempo einschlagen konnten. Astaroth bildete jetzt nicht mehr die Vorhut, sondern lief ein Stück hinter ihnen her, um sie rechtzeitig vor irgendwelchen Verfolgern warnen zu können. Der Himmel über dem Dschungel begann sich allmählich grau zu färben, als sie das Ende der Spur erreichten -genauer gesagt, einen Punkt, an dem sie in nahezu rechtem Winkel nach Westen abknickte, so daß sie stehenblieben und einen Moment darüber diskutierten, was sie tun sollten. Wenn sie der Spur weiter folgten, konnten sie zweifellos ihr Tempo halten, vielleicht sogar noch ein wenig steigern, jetzt, wo es bald hell wurde. Aber sie würden sich dann auch wieder von der Küste entfernen und somit von ihrer einzigen Chance, diese Insel jemals wieder zu verlassen. Schließlich entschieden sie sich, das Risiko einzugehen und weiter nach Süden zu marschieren, auch wenn sie in dem dichten Unterholz viel langsamer vorankamen und zudem die Gefahr bestand, auf räuberische Bewohner dieses Dschungels zu stoßen. Zumindest waren sie nicht mehr ganz wehrlos. Die Dinosauroiden hatten Mason und die anderen zwar entwaffnet, aber Mason hatte noch eine Anzahl loser Patronen in der Jackentasche gehabt, die sie entweder übersehen oder nicht als das erkannt hatten, was sie darstellten. Trautman hatte das Gewehr damit geladen und es - zu Masons sichtlicher Enttäuschung -an Singh weitergegeben, der von ihnen allen vermutlich am besten mit einer Waffe umzugehen verstand. Mason hatte nichts dazu gesagt, aber Mike ahnte, daß die große Auseinandersetzung zwischen ihm und Trautman noch bevorstand. Jetzt war es die gemeinsame Gefahr, die sie zusammenschmiedete, aber sobald sie in Sicherheit waren, würden sie Probleme mit Mason bekommen, da war er sicher. Mike hatte die Frage, wie um alles in der Welt sie die Eiswand hinunter und an Bord der in fünfhundert Meter Entfernung wartenden NAUTILUS gelangen sollten, zwar bisher angstvoll vermieden, aber er wußte auch, daß das ihre einzige Chance war. Selbst wenn sie den Dinosauroiden irgendwie entkommen sollten
- was logisch betrachtet so gut wie unmöglich war -, wären sie in dieser unheimlichen, urzeitlichen Welt gefangen. Aber dann ging die Sonne auf, und was sie im ersten hellen Licht des Tages sahen, das machtealle Überlegungen Mikes hinfällig.
Sie hatten den Waldrand erreicht. Vor ihnen erstreckte sich eine weite, grasgewachsene Ebene, die auf einer Strecke von zwei- oder dreihundert Metern sanft anstieg und schließlich in einen Wald aus kahlen, versteinerten Bäumen überging, der sich wie ein übergroßer Stacheldrahtverhau in beiden Richtungen erstreckte, so weit der Blick nur reichte.
»Aber das ist doch... völlig unmöglich!« murmelte Mike.
»Das kann doch gar nicht sein!« »Was kann nicht sein?« Mason, der ebenso wie Mike und alle anderen überrascht stehengeblieben war, deutete auf den toten Wald. »Wir sind durch diesen Wald hierhergekommen. «
»Wir auch«, bestätigte Mike. »Aber wir können ihn noch gar nicht erreicht haben. Wir waren höchstens zwei Stunden unterwegs, und -« »Noch nicht einmal eine«, sagte Trautman. Auch er blickte den Wald am anderen Ende der Ebene ebenso fassungslos und verblüfft an wie Mike. »Und vorgestern sind wir stundenlang marschiert. Irgend etwas stimmt hier nicht. «
»Mit dieser ganzen Insel stimmt etwas nicht, wenn Sie mich fragen«, sagte Mason. »Aber das wird nicht besser, wenn wir hier herumstehen. Hinter diesem Wald liegt die Küste. Worauf warten wir?« »Sie werden erfrieren«, sagte Trautman. »Haben Sie vergessen, wie kalt es dort drüben ist?« »Immer noch besser, als aufgefressen zu werden«, antwortete Mason, »oder von diesen Ungeheuern umgebracht. Gehen wir!«
Niemand antwortete, und schließlich setzte sich Ben als erster -wenn auch sehr zögernd -in Bewegung. Die anderen folgten seinem Beispiel, aber Mike las in ihren Gesichtern, daß sie sich ebensowenig wohl dabei fühlten wie er selbst oder gar Serena. Auch er spürte immer deutlicher, daß hier irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte. Sie hätten nicht hier sein dürfen. Sie waren Meilen um Meilen in diesen Dschungel eingedrungen und hätten den ganzen Tag brauchen müssen, um den Rückweg zu finden, vielleicht sogar mehr. Und das war es nicht allein. Es war... Er erkannte das Gefühl wieder, einen winzigen Moment, bevor der Nebel aufkam. Es war das gleiche, mit Worten kaum zu beschreibende Gefühl, das er an der Küste gehabt hatte, als sie das erste Mal in den Nebel eindrangen, ein Gefühl, als überschritten sie eine unsichtbare Grenze, hinter der alles anders war. Abrupt blieb er stehen, und fast im gleichen Moment hielten auch alle anderen an.
Zwischen den toten Bäumen über ihnen begann grauer Nebel zu wallen. Ein kühler, feuchter Hauch wehte zu ihnen herüber, und das Gefühl der Unwirklichkeit wurde so intensiv, daß Mike schauderte. »Der Nebel!« flüsterte Juan. »Das... das ist der gleiche Nebel, durch den wir gekommen sind. Das muß der Rückweg sein. Wir haben es geschafft! Wir -« Er brach mit einem Schrei ab, und auch Mike fuhr zusammen und hob erschrocken die Hände. Zwischen den Bäumen traten Gestalten hervor, große, mit glitzernden Schuppen bedeckte Gestalten mit übergroßen Augen und langen, schlanken Gliedern. Mike entdeckte sieben, acht, zehn der zweit Meter großen Echsenmänner, ehe er es aufgab, sie zu zählen, und mit einem raschen Schritt zu den anderen zurückwich, die sich instinktiv zu einer engen Gruppe zusammengefunden hatten. Ohne daß er selbst sich der Bewegung bewußt gewesen wäre, stellte er sich schützend vor Serena. Singh hatte das Gewehr von der Schulter genommen und entsichert, aber er richtete die Waffe nicht auf die Dinosauroiden.
»Worauf warten Sie, Mann?« herrschte ihn Mason an. Er hatte seine Tochter hinter sich geschoben, aber Annie fuhr plötzlich herum und rannte zu Serena, um sich hinter ihr zu verbergen. »Schießen Sie endlich!« »Um Gottes willen, Singh -nicht!« keuchte Trautman. »Eine falsche Bewegung, und wir sind tot!« Sein Blick huschte über die Reihe der reglos dastehenden Echsenmänner, und Mike konnte regelrecht sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn überschlugen. Es waren mehr als ein Dutzend der hochgewachsenen, schuppigen Gestalten, denen sie gegenüberstanden. Selbst wenn sie genug Munition und mehr als nur ein Gewehr gehabt hätten, hätten sie wahrscheinlich keine Chance gehabt, einen Kampf mit ihnen zu bestehen. Aber Singh hatte auch gar nicht auf Masons Worte reagiert. Ganz im Gegenteil: Er senkte die Waffe noch weiter und richtete den Gewehrlauf nun ganz auf den Boden. Mike betete, daß die Dinosauroiden die Bedeutung dieser Geste verstanden.
»Verdammt, worauf warten Sie?« fragte Mason wütend. »Wir müssen etwas tun!«
»Ja«, sagte Ben ruhig. »Vielleicht drehen Sie sich einmal um, Sie Schlaukopf. Die Kavallerie ist da. « Mason starrte ihn eine halbe Sekunde lang verständnislos an, drehte sich dann wieder zum Wald herum und keuchte vor Schrecken. Seine Augen wurden groß. Jedes bißchen Farbe wich schlagartig aus seinem Gesicht.
Auch der Waldrand war nicht mehr leer. Das Gebüsch hatte sich geteilt, und was daraus hervorgetreten war, das war das ungeheuerlichste Geschöpf, das Mike jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es glich in etwa dem Allosaurier, aber es war viel größer -Mike schätzte sein Gewicht auf mindestens zehn Tonnen und seine Länge vom Kopf bis zur Schwanzspitze auf gute fünfzehn Meter, wenn nicht noch mehr. Der Kopf, der wie der des Allosauriers überproportional groß und mit einem fürchterlichen Gebiß ausgestattet war, hatte die Abmessung eines kleinen Bootes, und was Mike in den faustgroßen, dunklen Augen las, die aus mehr als sechs Metern Höhe auf ihn herabblickten, das war ein Ausdruck von solcher Wildheit und Wut, daß er innerlich zusammenfuhr. Und obwohl es keinen Menschen auf der Welt gab, der ein Geschöpf wie dieses jemals lebend zu Gesicht bekommen hatte, gab es wohl auch kaum jemanden, der es nicht sofort erkannt hätte...
»Das... das ist ein Tyrannosaurus rex!« flüsterte Chris. Allein bei dem Gedanken sträubten sich Mike sämtliche Haare, aber Chris' Stimme klang viel mehr bewundernd als erschrocken.
»Nein«, sagte Ben ruhig. »Das sind ein Dutzend Tyrannosaurier. «
Neben dem ersten Riesensaurier erschien ein zweiter, dritter, vierter... es mußten in Wahrheit weit mehr als ein Dutzend der gigantischen Tiere sein, die mit einer unheimlichen Lautlosigkeit hinter ihnen aus dem Dschungel hervortraten - und im Nacken jedes einzelnen dieser Kolosse saß ein Dinosauroide. Und plötzlich begriff Mike, wie naiv ihre Hoffnung gewesen war, diesen Geschöpfen tatsächlich entkommen zu können. Wahrscheinlich waren sie die ganze Zeit über hinter ihnen gewesen. So, wie sie sie von der ersten Minute seit ihrer Ankunft in diesem Land jenseits der Zeit beobachtet hatten. Und ganz plötzlich, ohne daß er einen Grund für dieses Wissen hätte nennen können, aber auch ohne daß es nur den mindesten Zweifel daran gegeben hätte, wußte er noch etwas: Nichts war Zufall gewesen. Weder sein Zusammentreffen mit dem Allosaurier noch ihr Abenteuer mit den Raptoren, ja, nicht einmal ihre Flucht aus dem Lager. Sie waren geprüft worden. Und sie hatten diese Prüfung nicht bestanden. »Das ist das Ende«, murmelte Mason. »Sie werden uns umbringen!«
»Nein!« Serena schrie plötzlich gellend auf und wirbelte auf der Stelle herum. »Sie wollen nur mich! Lauft! Bringt euch in Sicherheit! Ich halte sie auf!« Und damit rannte sie los und stürmte den Dinosauroiden entgegen.
»Serena! Nein!« schrie Mike. Ohne nachzudenken, lief er hinter Serena her, aber obwohl er rannte, so schnell er nur konnte, holte er sie erst ein, als sie die Tyrannosaurier fast erreicht hatte. Mit einem Ruck riß er sie an der Schulter zurück, aber er hatte seine eigene Kraft unterschätzt: Die Bewegung brachte sie beide aus dem Gleichgewicht. Sie stürzten. Mike sah einen riesigen, geschuppten Umriß aus den Augenwinkeln und warf sich instinktiv schützend über Serena. Aneinander geklammert prallten sie gegen einen Fuß, der ein gutes Stück länger war als Mike, und blieben benommen liegen. Zögernd und mit jagendem Herzen hob Mike den Kopf. Das erste, was er sah, war eine Kralle, die unmittelbar vor seinem Gesicht aufragte und länger war als seine Hand, dann wanderte sein Blick an dem dazugehörigen Bein nach oben und blieb schließlich an einem ausdruckslosen Echsengesicht hängen. Irgend etwas daran kam ihm bekannt vor, aber er sagte sich selbst, daß das unmöglich war. Für menschliche Augen sah ein Dinosauroide aus wie der andere.
Die Zeit schien stehenzubleiben. Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Singh und auch Trautman versuchten, ihnen zu folgen, aber plötzlich löste sich einer der gigantischen Raubsaurier von seinem Platz am Waldrand und war mit nur zwei gewaltigen Schritten zwischen ihnen und Mike und Serena. Mike bemerkte es gar nicht richtig. Sein Blick war wie hypnotisiert auf das geschuppte Echsengesicht des Dinosauroiden über ihnen gerichtet. Er war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, ja, er konnte nicht einmal wirklich Furcht empfinden. Etwas im Blick dieser großen, nur scheinbar starren Reptilienaugen lähmte ihn. Schließlich, nach Sekunden, die sich zu hundert Ewigkeiten gedehnt hatten, glitt der Echsenmann von seinem Platz im Nacken des riesigen Sauriers herunter, sprang dicht neben Mike und Serena zu Boden und streckte die Hand aus. Mike beobachtete vollkommen fassungslos, wie Serena ohne die mindeste Furcht danach griff und sich von dem fremdartigen Geschöpf auf die Füße helfen ließ.
Dann war er an der Reihe. Ein unheimliches, nie gekanntes Gefühl durchströmte ihn, als er die kalte Schuppenhaut des Wesens berührte. Von dem riesenhaften Geschöpf ging eine Ruhe und ein Gefühl derGeborgenheit aus, das in krassem Widerspruch zu seinem Äußeren stand. Er hatte keine Angst. Er wußte plötzlich, daß es nicht den allermindesten Grund gab, Angst vor diesen Wesen zu empfinden. Ganz ruhig stand er auf und trat einen Schritt zurück und an Serenas Seite. Keiner von ihnen sprach. Dies war nicht der Moment für Worte.
Jetzt verging wirklich eine geraume Weile, in der sie nur dastanden und den Dinosauroiden ansahen, der ihren Blick ruhig erwiderte. Und während er das tat, veränderte sich abermals etwas in Mike. Schon einmal hatte er gespürt, wie falsch der Eindruck war, den sie alle von dieser Welt gehabt hatten, aber nun spürte er es nicht nur, nun wußte er es. Der scheinbare Ausdruck von Fremdartigkeit, von Feindschaft, den er bisher in den Augen der Echsenmänner zu sehen geglaubt hatte, war das Gegenteil
-er stand einem Wesen gegenüber, das unglaublich alt war, auf eine Art und Weise, die sich dem menschlichen Begreifen entzog. Er blickte in die Augen eines Geschöpfes, das in vollkommenem Einklang mit sich und der Natur lebte, einer denkenden Kreatur, deren Volk sechzigmal so lange wie die Menschen Zeit gehabt hatte, seinen Platz im großen Plan der Natur zu finden. Daß es auf dieser Insel kein Zeichen von Technik oder irgendeiner der Menschen vergleichbaren Kultur gab, war kein Zeichen von Rückständigkeit, sondern einer tiefen Bescheidenheit, die Teil der Natur der Dinosauroiden sein mußte - vielleicht hatten diese Wesen irgendwann einmal, vor undenklichen Zeiten, den gleichen Weg beschriften wie die Menschen, aber wenn, dann hatten sie schon vor fast ebensolanger Zeit begriffen, daß er falsch war. Sie brauchten diese Wesen nicht zu fürchten. Die Dinosauroiden wußten nicht einmal, was das Wort Feindschaft bedeutete. Ein zweiter Echsenmann gesellte sich zu ihnen. Auch er kam Mike auf sonderbare Weise bekannt vor und dann sah er, daß er ganz leicht humpelte, und wußte, woher er diese beiden kannte. Es waren die Dinosauroiden, die Ben und er vor dem Allosaurier gerettet hatten jedenfalls hatte er geglaubt, dies zu tun. Der neu hinzugekommene Echsenmann hielt das Gewehr in den Händen, das Singh bisher getragen hatte. Einen Moment lang blieb er reglos stehen, sah erst Mike, dann Serena durchdringend an -und dann zerbrach er die Waffe ohne die mindeste sichtbare Anstrengung in zwei Hälften, die er fallen ließ.
Mike lächelte. Vielleicht würden sie niemals mit diesen Wesen sprechen können, aber es gab Gesten, die wohl überall im Universum und bei allen denkenden Kreaturen verstanden wurden, und das, was der Dinosauroide getan hatte, gehörte dazu.
»Ich... ich glaube, ich habe euch verstanden«, sagte Mike. Und der Dinosauroide schien wohl auch ihn zu verstehen, denn obwohl sein Gesicht nicht in der Lage dazu war, schienen seine Augen doch für einen Moment so etwas wie ein Lächeln auszudrücken. Dann drehte er sich herum und ging zu seinem bizarren Reittier zurück, und auch der zweite Echsenmann stieg wieder auf den Rücken seines Riesensauriers hinauf. Und ebenso lautlos, wie sie erschienen waren, wandten sich die geschuppten Kolosse um und verschwanden wieder im Wald.
Mike stand noch lange da und sah ihnen nach, und selbst, als Serena ihn schließlich an der Schulter berührte, fiel es ihm schwer, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er war plötzlich nicht mehr sicher, daß es so etwas wie eine absolute Wirklichkeit überhaupt gab.
»Warum... warum hast du das getan?« fragte Serena. Sie wirkte sehr verstört.
»Was?« fragte Mike.
»Du bist mir nachgekommen, obwohl... obwohl du glauben mußtest, daß es dein Tod ist«, antwortete Serena. »Warum hast du das getan?« Mike hätte antworten können, daß er einfach Angst um sie gehabt hatte, und das wäre die Wahrheit gewesen, und er hätte auch antworten können, daß er eigentlich gar nicht nachgedacht hatte, sondern einfach blindlings losgestürmt war, und auch das wäre die Wahrheit gewesen, aber statt dessen sagte er: »Weil du dich geirrt hast, Serena. Ebenso wie deine Vorfahren. « »Geirrt? Wieso?«
»Ihr habt geglaubt, daß sie uns Menschen hassen, weil wir alles sind, was sie jemals hätten werden können?«
Mike schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist genau anders herum, Serena. Ich glaube, ich kenne jetzt das Geheimnis dieser Insel. Sie sind alles, was wir vielleicht irgendwann einmal werden können. Sie hassen uns nicht, Serena. Sie wissen nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. « »Das verstehe ich nicht«, murmelte Serena. Mike lachte. »Irgendwann wirst du es verstehen«, sagte er.
Und damit legte er Serena den Arm um die Schultern, drehte sich herum, und sie gingen langsam zu den anderen zurück. Hinter ihnen begann der Nebel dichter zu werden, der sie zurück zur NAUTILUS und in ihre Welt bringen würde, von der er nun wußte, daß sie nicht die einzig wirkliche, sondern vielleicht nur eine von zahllosen anderen war. Und vielleicht nicht einmal die beste.