DRITTES BUCH Die Tommyknockers

Meet the new boss. Same äs the old boss.

the who, »Won't Get Fooled Again«

Over on the mountain: thunder, magic foam, let the people know my wisdom, fill the land with smoke.

Run through the jungle...

Don ’t look back to see.

CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL, »Run Through the Jungle«

Ich schlief und hatte einen Traum.

Diesmal war keine Verkleidung zu sehen.

Ich war die böse männlich-weibliche

Zwergengestalt, das Prinzip der Freude in der Zerstörung;

und Saul war mein Widerpart, männlich-weiblich, mein

Bruder und meine Schwester, und wir tanzten an einem

offenen Ort, unter riesigen weißen Bauwerken, voll von

bösen, bedrohlichen schwarzen Maschinen, die Zerstörung in sich bargen.

Aber in dem Traum waren er und ich, oder

sie und ich, freundlich, wir waren nicht feindlich, wir waren

in gehässiger Bösartigkeit vereint. Dieser Traum hatte ein

schreckliches sehnsüchtiges Verlangen, die Sehnsucht nach

dem Tod. Wir näherten uns einander und küßten uns voller

Liebe. Es war schrecklich, und das wußte ich selbst im

Traum. Denn in diesem Traum erkannte ich die anderen

Träume, die wir alle haben, wenn sich der Inbegriff von

Liebe und Zärtlichkeit in einem Kuß oder einer Liebkosung

konzentriert, aber jetzt war es die Liebkosung zweier halb

menschlicher Geschöpfe, die die Zerstörung feierten.

DORIS LESSING, Das goldene Notizbuch


Erstes Kapitel

Sissy

1

»Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug«, sagte die Stewardess am Ausgang zu der etwa vierzigjährigen Frau, die zusammen mit einem Rinnsal anderer Passagiere, die bis nach Bangor, der Endstation, durchgehalten hatten, den Delta-Flug 230 verließ.

Bobbi Andersons Schwester Anne, die vierzig war, aber wie fünfzig aussah und auch so dachte (Bobby pflegte zu sagen, daß Anne schon wie eine Frau von fünfzig gedacht hatte, seit sie dreizehn gewesen war), blieb stehen und maß die Stewardess mit einem Blick, der eine Uhr zum Stehenbleiben gebracht hätte.

»Ich will Ihnen was sagen, Herzchen«, sagte sie. »Ich schwitze. Meine Achselhöhlen stinken, weil das Flugzeug von La Garbage mit Verspätung startete und von Logan mit noch größerer Verspätung. Die Luft hatte Löcher, und ich hasse das Fliegen. Das ungeschickte Ding, das sie nach hinten in die Viehvolkklasse schickten, hat mir den Screwdriver von irgendwem über das Kleid geschüttet, und jetzt trocknet überall auf meinem Arm Orangensaft zu einer rissigen Glasur. Mein Schlüpfer klebt mir in der Arschfurche, und dieses Nest sieht aus wie ein Pickel auf dem Hintern von New England. Noch Fragen?«

»Nein«, brachte die Stewardess hervor. Ihre Augen waren glasig geworden, und ihr war zumute, als hätte sie soeben drei schnelle Runden mit Bumm-Bumm Mancini hinter sich, und zwar an einem Tag, an dem Mancini einen Haß auf die ganze Welt hatte. Diese Wirkung hatte Anne Anderson häufig auf andere Menschen.

»Schön für Sie, Herzchen.« Anne marschierte an der Stewardess vorbei die Gangway hinab, und dabei schwenkte sie eine große, schreiend purpurne Tasche. Die Angestellte hatte keine Zeit mehr, ihr einen angenehmen Aufenthalt in der Gegend von Bangor zu wünschen. Aber sie kam zu der Überzeugung, daß es ohnehin vergebene Liebesmüh gewesen wäre. Die Dame sah aus, als hätte sie noch nie irgendwo einen angenehmen Aufenthalt gehabt. Sie ging zielstrebig, aber sie sah aus wie eine Frau, die trotz irgendwelcher Schmerzen weiterging - wie die kleine Meerjungfrau, die gegangen war, obwohl sie bei jedem Schritt das Gefühl hatte, als schnitten Messer in ihre Füße.

Und die Stewardess dachte: Wenn diese Dame irgendwo einen Geliebten hat, dann hoffe ich nur, daß er über die Paarungsgewohnheiten der Minierspinne Bescheid weiß

2

Die Angestellte von Avis sagte Anne, daß keine Wagen mehr verfügbar wären; wenn Anne keine Reservierung vorgenommen hätte, sei leider nichts zu machen. Es war Sommer in Maine, alle Welt verlangte einen Mietwagen.

Das war ein Fehler seitens der Angestellten. Ein schwerer.

Anne lächelte grimmig, spuckte sich im Geiste in die Hände und ging ans Werk. Situationen wie diese waren wie das tägliche Brot für Schwester Anne, die ihren Vater gepflegt hatte, bis er am 1. August, vor acht Tagen, eines elenden Todes gestorben war. Sie hatte sich geweigert, ihn in ein Pflegeheim bringen zu lassen; statt dessen hatte sie selbst ihn gewaschen, seine wundgelegenen Stellen behandelt, seine Wäsche gewechselt und ihm mitten in der Nacht seine Tabletten gegeben. Natürlich hatte sie selbst seinen letzten Schlaganfall herbeigeführt, indem sie ihn ständig bedrängte, das Haus in der Leighton Street zu verkaufen (er wollte es nicht; sie war entschlossen, ihn dazu zu bringen; der letzte, tödliche Schlaganfall, der auf drei kleinere im Abstand von zwei Jahren folgte, kam drei Tage nachdem das Haus zum Verkauf angeboten worden war), aber das hätte sie sich ebensowenig eingestanden wie ihre Ansicht, daß der Glaube an Gott für sie nichts weiter als Scheiße war, obwohl sie seit ihrer frühesten Kindheit St. Bart's in Utica besucht hatte und zu den Frauen gehörte, die in dieser feinen Kirche den Ton angaben. Als sie achtzehn war, hatte sie ihrer Mutter ihren eigenen Willen aufgezwungen, und jetzt hatte sie ihren Vater vernichtet und zugesehen, wie Erde auf seinen Sarg geschaufelt worden war. Keine schmächtige Avis-Angestellte konnte es mit Schwester Anne aufnehmen. Sie brauchte etwa zehn Minuten, um die Angestellte am Boden zu zerstören, aber sie lehnte das Angebot eines Mittelklassewagens ab, den Avis für gelegentliche - sehr gelegentliche - Berühmtheiten reservierte, die durch Bangor kamen, und bearbeitete sie weiter, weil sie die zunehmende Angst der jungen Angestellten vor ihr so deutlich spürte, wie ein hungriges Raubtier Blut riecht. Zwanzig Minuten nach dem Angebot des Mittelklassewagens verließ Anne Bangor International gelassen hinter dem Steuer eines Cutlass Supreme, der für einen Geschäftsmann reserviert gewesen war, der mit der Maschine um achtzehn Uhr fünfzehn eintreffen sollte. Bis dahin war der Dienst der Angestellten längst vorbei, und zudem war sie durch Annes ständige Ausfälligkeiten so entnervt gewesen, daß es ihr auch einerlei gewesen wäre, wenn das Auto für den Präsidenten der Vereinigten Staaten reserviert gewesen wäre. Sie ging zitternd ins Hinterzimmer, sperrte die Tür ab, schob einen Stuhl unter die Klinke und rauchte einen Joint, den einer der Mechaniker ihr gegeben hatte. Dann brach sie in Tränen aus.

Diese Wirkung hatte Anne Anderson häufig auf andere Menschen.

3

Als sie die Angestellte durch den Wolf gedreht hatte, ging es auf fünfzehn Uhr zu. Anne hätte direkt nach Haven fahren können - der Karte, welche sie bei Avis mitgenommen hatte, entnahm sie, daß es keine fünfzig Meilen entfernt war-, aber sie wollte zu ihrer Begegnung mit Roberta völlig frisch sein.

An der Kreuzung von Hammond und Union Street stand ein Verkehrspolizist - eine Ampel war ausgefallen, und das fand sie typisch für diese kleine Eiterbeule von einer Stadt-, und sie blieb mitten auf der Kreuzung stehen, um ihn nach dem Weg zum besten Hotel oder Motel in der Stadt zu fragen. Der Polizist wollte sie maßregeln, weil sie einfach auf der Kreuzung anhielt und den Verkehr behinderte, um nach dem Weg zu fragen, aber dann sah er das Leuchten in ihren Augen - das warme Leuchten eines Feuers im Gehirn, das sorgsam bezähmt wird, aber jeden Augenblick auflodern kann - und kam zu der Überzeugung, daß es einfacher sein würde, ihr den Weg zu zeigen und sie loszuwerden. Die Dame sah aus wie ein Hund, den der Polizist als Kind gekannt hatte, ein Hund, dem es Spaß gemacht hatte, Kindern auf dem Weg zur Schule die Hosen zu zerfetzen. An einem Tag, an dem sowohl die Temperatur wie auch sein Magengeschwür zu heiß waren, konnte er so etwas nicht gebrauchen. Er schickte sie zum Cityscape Hotel an der Route 7 und war froh, als er das Heck ihres Wagens entschwinden sah.

4

Das Qtyscape Hotel war ausgebucht.

Das war kein Problem für Schwester Anne.

Sie erkämpfte sich ein Doppelzimmer, dann brachte sie den eingeschüchterten Geschäftsführer dazu, ihr ein anderes zu geben, weil die Klimaanlage im ersten klapperte und weil die Farben im Fernseher so schlecht waren, behauptete sie, daß alle Schauspieler aussahen, als hätten sie gerade Scheiße gegessen und würden gleich sterben.

Sie packte aus, gelangte mit einem Vibrator von der Größe der mutierten Karotten in Bobbis Garten zu einem grimmigen und freudlosen Orgasmus (die Orgasmen, die sie hatte, waren allesamt von der grimmigen und freudlosen Art; sie war nie mit einem Mann im Bett gewesen und hatte auch nicht die Absicht, es je zu tun), duschte, machte ein Nickerchen und ging dann essen. Sie überflog die Speisekarte mit finsterem Stirnrunzeln, dann entblößte sie die Zähne zu einem speichellosen Grinsen, als der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen.

»Bringen Sie mir eine Portion Gemüse. Rohes Blattgemüse.«

»Madame möchten einen Sal...«

»Madame möchte eine Portion rohes Blattgemüse. Es ist mir scheißegal, wie Sie das nennen. Aber waschen Sie es vorher, damit keine Käferpisse mehr daran ist. Und bringen Sie mir sofort einen Sombrero.«

»Ja, Madame«, sagte der Kellner und leckte sich die Lippen. Leute sahen herüber. Einige lächelten... aber sie hörten auf, wenn sie in Anne Andersons Augen sahen. Der Kellner entfernte sich, aber sie rief ihn zurück, ihre Stimme war laut, deutlich und unüberhörbar.

»Ein Sombrero«, sagte sie, »enthält Kahlua und Sahne. Sahne. Wenn Sie mir einen Sombrero mit Milch bringen, mein Bester, dann werden Sie sich mit dieser Brühe die Haare waschen.«

Der Adamsapfel des Kellners hüpfte auf und ab wie ein Affe an einem Ast. Er versuchte, dieses aristokratische, mitleidige Lächeln aufzusetzen, welches die beste Waffe eines Kellners gegen vulgäre Kunden ist. Zu seiner Ehre sei gesagt, daß er den Anfang dieses Lächelns ziemlich gut hinbekam - dann krümmten sich Annes Mundwinkel zu einem Grinsen nach oben, die es auf der Stelle gefrieren ließen. In diesem Grinsen lag nichts Gutmütiges. In ihm lag so etwas wie Mordlust.

»Ich meine es ernst, mein Bester«, sagte Anne leise, und der Kellner glaubte ihr.

5

Um neunzehn Uhr dreißig war sie wieder in ihrem Zimmer. Sie zog sich aus, streifte ein Nachthemd über und setzte sich an das Fenster im vierten Stock, um hinauszusehen. Trotz seines Namens lag das Cityscape Hotel in den Außenbezirken von Bangor. Die Aussicht, die sich Anne bot, bestand, abgesehen von den Lichtern des kleinen Parkplatzes, aus fast völliger Dunkelheit. Das war genau die Aussicht, die sie liebte. Sie hatte Amphetaminkapseln in der Handtasche. Anne nahm eine heraus, öffnete sie, schüttete das weiße Pulver auf ihren Schminkspiegel, zog mit einem ihrer kurzgeschnittenen Nägel eine Linie und schnupfte die Hälfte davon. Sofort begann das Herz in ihrem schmalen Brustkorb schneller zu schlagen. Farbe erblühte in ihrem blassen Gesicht. Den Rest hob sie sich für den Morgen auf. Kurz nach dem ersten Schlaganfall ihres Vaters hatte sie damit angefangen, Aufputschmittel auf diese Weise zu benutzen. Jetzt konnte sie ohne eine Prise dieses Stoffes nicht mehr schlafen, obwohl es sich genau um das Gegenteil eines Beruhigungsmittels handelte. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war - einsehr kleines Mädchen-, hatte ihre Mutter einmal in ihrer Verzweiflung ausgerufen: »Du hast eine völlig unnatürliche Konstitution!«

Anne vermutete, daß das damals gestimmt hatte und daß es auch jetzt noch stimmte ... nicht, daß ihre Mutter heute noch gewagt haben würde, es zu sagen, natürlich nicht.

Anne sah zum Telefon und dann wieder weg. Wenn sie es nur ansah, mußte sie an Bobbi denken und wie sie sich geweigert hatte, zu Vaters Beerdigung zu kommen - nicht mit Worten, sondern auf eine feige Weise, die typisch für sie war, indem sie einfach nicht auf Annes zunehmend drängendere Bemühungen reagierte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. In den vierundzwanzig Stunden nach dem Schlaganfall des alten Mistkerls, als offensichtlich wurde, daß er seinen Abgang machen würde, hatte sie zweimal angerufen. Beide Male war niemand ans Telefon gegangen.

Nachdem ihr Vater gestorben war, hatte sie noch einmal angerufen -diesmal am zweiten August um ein Uhr vier am Morgen. Irgendein Trunkenbold hatte abgenommen.

»Ich hätte gerne Roberta Andersen gesprochen, bitte«, sagte Anne. Sie stand steif am Münzfernsprecher in der Halle des Utica Soldiers' Hospital. Ihre Mutter saß nicht weit entfernt auf einem Plastikstuhl, umringt von endlosen Brüdern und endlosen Schwestern mit ihren endlosen irischen Kartoffelgesichtern, und weinte und weinte und weinte. »Sofort.«

»Bobbi?« sagte die Stimme des Betrunkenen am anderen Ende. »Möchten Sie den alten Boss oder den neuen und verbesserten Boss?«

»Lassen Sie den Quatsch, Gardener. Ihr Vater hat...«

»Kann jetzt nicht mit Bobbi reden«, sagte der Betrunkene - es war eindeutig Gardener, jetzt erkannte sie die Stimme - daraufhin. Anne machte die Augen zu. Es gab nur ein schlechtes Benehmen am Telefon, das ihr noch mehr mißfiel, als unterbrochen zu werden. »Sie ist mit der Polizei von Dallas im Schuppen. Sie werden alle noch neuer und noch mehr verbessert.«

»Sagen Sie ihr, ihre Schwester Anne...«

Klick!

Trockene Wut verwandelte ihre Kehle in brennendes Flanell. Sie hielt den Hörer von sich und sah ihn an, wie jemand eine Schlange ansehen mochte, die ihn gebissen hat. Ihre Fingernägel waren weiß und wurden langsam purpurn.

Das Benehmen am Telefon, das ihr am meisten mißfiel, war, wenn einfach aufgelegt wurde.

6

Sie hatte auf der Stelle neu gewählt, aber diesmal gab das Telefon nach einer langen Pause ein sirenenähnliches Geräusch von sich. Sie legte auf und ging zu ihrer weinenden Mutter und deren unablässig schwatzenden Verwandten.

»Bist du durchgekommen, Sissy?« fragte ihre Mutter.

»Ja.«

»Was hat sie gesagt?« Ihre Augen flehten Anne um gute Nachrichten an. »Hat sie gesagt, daß sie zu seiner Beerdigung kommen wird?«

»Ich konnte sie nicht dazu bringen, sich eindeutig festzulegen«, sagte Anne, und plötzlich brach ihre Wut auf Roberta - Roberta, die die Dreistigkeit besessen hatte, ihr entkommen zu wollen - aus ihrem Herzen, aber nicht schrill. Anne würde niemals still oder schrill sein. Das haiähnliche Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. Die murmelnden Verwandten wurden still und sahen Anne unbehaglich an. Zwei der alten Damen umklammerten ihre Rosenkränze. »Sie hat gesagt, sie wäre froh, daß der alte Mistkerl tot ist. Dann hat sie gelacht. Dann hat sie aufgelegt.«

Es folgte ein Augenblick fassungslosen Schweigens. Dann preßte Paula Anderson die Hände auf die Ohren und fing an zu kreischen.

7

Anne zweifelte nicht daran-jedenfalls anfangs nicht-, daß Bobbi an der Beerdigung teilnehmen würde. Anne wollte, daß sie dabei war: also würde sie dabei sein. Anne bekam immer alles, was sie wollte; das machte die Welt angenehmer für sie, und so sollte es sein. Wenn Roberta kam, würde sie mit der Lüge konfrontiert werden, die Anne ausgespro -chen hatte - wahrscheinlich nicht von ihrer Mutter, die würde zu gerührt und glücklich sein, sie zu sehen, um es zu erwähnen (vielleicht sogar, um sich daran zu erinnern), aber sicher von einem der schwatzhaften Onkel. Bobbi würde es bestreiten, daher würde der schwatzhafte Onkel es wahrscheinlich auf sich beruhen lassen - es sei denn, der schwatzhafte Onkel war betrunken, was bei Mamas Brüdern immer eine Wahrscheinlichkeit war-, aber sie würden sich an Annes Behauptung erinnern, nicht an Bobbis Leugnen.

Das war gut. Sogar prächtig. Aber nicht genug. Es wurde Zeit -höchste Zeit-, daß Roberta nach Hause kam. Nicht nur zu der Beerdigung; für immer.

Sie würde schon dafür sorgen. Laßt Sissy nur machen.

8

In dieser Nacht im Cityscape Hotel fiel Anne das Einschlafen nicht leicht. Teilweise lag es daran, daß sie in einem fremden Bett schlafen mußte; teilweise lag es am dumpfen Murmeln der Fernsehgeräte in den umliegenden Zimmern und dem Gefühl, von anderen Menschen umgeben und auch nur eine Biene zu sein, die sich bemühte, in einer von vielen Kammern dieses Stocks einzuschlafen, wo die Waben rechteckig statt sechseckig waren; teilweise lag es an dem Wissen, daß morgen ein überaus geschäftiger Tag sein würde; am meisten jedoch lag es an der unablässig pochenden Wut darüber, daß man ihr auswich. Das nämlich haßte sie mehr als alles andere - es reduzierte Dinge wie einen einfach aufgelegten Telefonhörer zu unbedeutenden Ärgernissen. Bobbi wich ihr aus. Bisher war sie ihr völlig und vollkommen ausgewichen und hatte damit eine Reise notwendig gemacht, und das in einer Zeit, die der Wetterbericht die schlimmste Hitzewelle in New England seit 1974 nannte.

Eine Stunde nach der Lüge über Bobbi, die sie ihrer Mutter und den schwatzhaften Onkel und Tanten erzählt hatte, hatte sie erneut versucht anzurufen, diesmal vom Bestattungsunternehmer aus (ihre Mutter war schon längst nach Hause getattert, wo sie, vermutete Anne, mit ihrer Schwester Betty, dieser alten Fotze, dasitzen würde, beide diesen beschissenen Rotwein süffelnd und über den Verstorbenen flennend, während sie sich vollaufen ließen). Sie hörte wieder nichts als dieses sirenenartige Geräusch. Sie rief das Amt an und meldete eine Störung in der Leitung.

»Ich möchte, daß Sie den Fehler suchen, finden und zusehen, daß er beseitigt wird«, sagte Anne. »Es hat einen Todesfall in der Familie gegeben, und ich muß meine Schwester schnellstmöglich erreichen.«

»Ja, Ma'am, wenn Sie mir die Nummer geben, von der Sie anrufen ...«

»Ich rufe vom Bestattungsunternehmen an«, sagte Anne. »Ich werde einen Sarg für meinen Vater aussuchen und dann zu Bett gehen. Ich rufe morgen früh wieder an. Sehen Sie zu, daß mein Anruf dann auch durchkommt, Herzchen.«

Sie legte auf und wandte sich an den Bestattungsunternehmer.

»Kiefer«, sagte sie. »Den billigsten, den Sie haben.«

»Aber Mrs. Anderson, ich bin sicher, Sie möchten noch einmal darüber nachdenken...«

»Ich möchte über gar nichts mehr nachdenken«, bellte Anne. Sie konnte das warnende Pochen spüren, das den Beginn eines ihrer häufigen Migräneanfälle ankündigte. »Verkaufen Sie mir einfach den billigsten Kiefernsarg, den Sie haben, damit ich aus dieser Scheißhalle hier verschwinden kann. Es stinkt nach Tod.«

»Aber...« Der Bestattungsunternehmer war bestürzt. »Aber möchten Sie nicht wenigstens ansehen...«

»Ich werde es sehen, wenn er es anhat«, sagte Anne und zog das Scheckbuch aus der Handtasche. »Wieviel?«

9

Am nächsten Morgen funktionierte Bobbis Telefon wieder, aber es nahm niemand ab. Es nahm den ganzen Tag über niemand ab. Anne wurde immer wütender. Gegen sechzehn Uhr an diesem Nachmittag, als nebenan die Trauerfeierlichkeiten bereits hohe Wogen schlugen, hatte sie die Auskunft von Maine angerufen und gesagt, daß sie mit dem Polizeirevier von Haven verbunden werden wollte.

»Nun... es gibt eigentlich kein Polizeirevier dort, aber hier ist ein Constable aufgeführt. Wird das...«

»Ja. Geben Sie mir die Nummer.«

Das tat die Auskunft von Maine. Anne rief an. Das Telefon klingelte ... klingelte... klingelte. Der Ton war genau derselbe wie der in dem Haus, in dem sich ihre rückgratlose Schwester seit dreizehn Jahren versteckte. Man hätte beinahe glauben können, daß man immer denselben Apparat anwählte.

Sie spielte sogar einen Augenblick mit dem Gedanken, bevor sie ihn verwarf. Aber daß sie einem so paranoiden Gedanken auch nur einen winzigen Augenblick Unterschlupf gewährt hatte, paßte so ganz und gar nicht zu ihr, und das machte sie noch wütender. Das Klingeln hörte sich gleich an, weil dieselbe beschissene kleine hinterwäldlerische Telefongesellschaft sämtliche Apparate in der Stadt verkaufte und unterhielt, das war alles.

»Hast du sie erreicht?« fragte Paula schüchtern, als sie zur Tür kam.

»Nein. Sie nimmt nicht ab, der Stadtconstable nimmt nicht ab, ich glaube, das ganze Scheißnest ist auf die Bermudas gefahren. Mein Gott!« Sie blies sich eine Locke von der schweißnassen Stirn.

»Wenn du vielleicht einen ihrer Freunde anrufen würdest...«

»Was für Freunde? Den Irren, mit dem sie ins Bett geht?«

»Sissy! Du weißt nicht...«

»Ich weiß, wer abgenommen hat, als ich durchgekommen bin«, antwortete sie grimmig. »Nachdem ich in dieser Familie groß geworden bin, erkenne ich die Stimme eines Mannes leichter, wenn er betrunken ist.«

Ihre Mutter sagte nichts, sie verfiel in zitterndes, tränenfeuchtes Schweigen, eine Hand verharrte über dem Kragen ihres schwarzen Kleides, und genau so hatte Anne sie am liebsten.

»Nein, sie wissen beide, daß ich versuche durchzukommen, und es wird ihnen noch leid tun, daß sie nicht abgenommen haben.«

»Sissy, es wäre mir lieb, wenn du nicht diese Sprache...«

»Halt die Klappe!« schrie Anne sie an, und ihre Mutter gehorchte natürlich.

Anne hob wieder den Hörer ab. Diesmal wählte sie die Nummer der Auskunft und verlangte dann die Nummer des Bürgermeisters von Haven. Sie hatten auch keinen Bürgermeister, sondern nur etwas, das sich Stadtverordneter nannte, was immer das auch sein mochte.

Gedämpftes, leises Klicken, wie Rattenkrallen auf Glas, während das Fräulein vom Amt die Nummer über Computer suchte. Ihre Mutter hatte sich verzogen. Aus dem Nebenzimmer drang das überlaute, theatralische Schluchzen irischer Trauer. Wie eine V 2-Rakete, dachte Anne, wurde auch die irische Totenwache von Flüssigtreibstoff angetrieben, und die Flüssigkeit war in beiden Fällen dieselbe. Anne machte die Augen zu. Ihr Kopf dröhnte. Sie knirschte mit den Zähnen - das erzeugte einen bitteren, metallischen Geschmack. Sie stellte sich vor, wie herrlich es sein würde, an Bobbis Gesicht einen kleinen chirurgischen Eingriff mit den Fingernägeln vorzunehmen.

»Sind Sie noch da, Herzchen?« fragte sie, ohne die Augen zu öffnen, »oder sind Sie ganz plötzlich aufs Klo gegangen?«

»Ja, ich habe eine N ...«

»Geben Sie sie mir.«

Das Fräulein vom Amt war verschwunden. Eine Maschine rezitierte eine Nummer in seltsam abgehackten Kadenzen. Anne wählte sie. Sie rechnete nicht mit einer Antwort, aber das Telefon wurde sofort abgenommen. »Stadtverwaltung. Newt Berringer.«

»Schön, daß wenigstens jemand daheim ist. Mein Name ist Anne Anderson aus Utica, New York. Ich habe versucht, Ihren Constable anzurufen, aber er ist offensichtlich angeln gegangen.«

Berringers Stimme war gelassen. »Er ist eine sie, Miss Anderson. Sie verstarb unerwartet letzten Monat. Der Posten wurde noch nicht neu besetzt. Wird wahrscheinlich auch erst bei der nächsten Stadtratssitzung geschehen.«

Das hielt Anne nur einen Augenblick auf. Statt dessen konzentrierte sie sich auf etwas, das sie mehr interessierte.

»Miss Anderson? Woher wissen Sie, daß ich eine Miss bin, Berringer?«

Keine Pause. Berringer sagte: »Sind Sie nicht Bobbis Schwester? Wenn Sie es sind, und wenn Sie verheiratet wären, dann würden Sie nicht Anderson heißen, richtig?«

»Also kennen Sie Bobbi?«

»Jeder in Haven kennt Bobbi, Miss Anderson. Sie ist unsere hiesige Berühmtheit. Wir sind ziemlich stolz auf sie.«

Das ging durch Annes Gehirn wie eine Glasscherbe. Unsere hiesige Berühmtheit. Gütiger Herr im Himmel.

»Gut gemacht, Sherlock. Ich habe versucht, sie über das zu erreichen, was dort unten, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, als Telefon gilt, weil ich ihr mitteilen wollte, daß ihr Vater gestern gestorben ist und morgen beerdigt werden wird.«

Sie hatte eine konventionelle Beileidsbekundung von diesem gesichtslosen Beamten erwartet - immerhin kannte er Bobbi-, aber es kam keine.

»Wir hatten ein paar Probleme mit den Telefonen in der Gegend, in der sie wohnt«, sagte Berringer nur.

Das nahm Anne wieder einen Augenblick den Wind aus den Segeln (einen sehr kurzen Augenblick; Anne ließ sich niemals lange den Wind aus den Segeln nehmen). Die Unterhaltung verlief nicht so, wie sie es erwartet hatte. Die Antworten des Mannes waren etwas seltsam, zu reserviert, selbst für einen Yankee. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen, konnte es aber nicht. Seine Stimme hatte etwas sehr Seltsames.

»Könnten Sie ihr sagen, daß sie mich anrufen soll? Im Nebenzimmer weint sich ihre Mutter die Augen aus dem Kopf, sie ist einem Zusammenbruch nahe, und wenn Roberta nicht rechtzeitig zur Beerdigung kommt, dann wird sie wahrscheinlich einen Zusammenbruch haben.«

»Nun, ich kann sie nicht zwingen, Sie anzurufen, Miss Anderson, nicht?« erwiederte Berringer mit aufreizender, behäbiger Langsamkeit. » Sie ist eine erwachsene Frau. Aber ich werde Ihre Bitte ganz bestimmt weiterleiten.«

»Vielleicht sollte ich Ihnen besser die Nummer geben«, sagte Anne zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich meine, wir haben hier immer noch denselben alten Anschluß, aber sie ruft so selten an, vielleicht hat sie die Nummer vergessen. Sie lautet...«

»Nicht nötig«, unterbrach Berringer sie. »Wenn sie sich nicht erinnern kann oder sie nicht aufgeschrieben hat, dann haben wir ja immer noch die Auskunft, nicht? Schätze, Sie haben diese Nummer auch von dort.«

Anne haßte das Telefon, weil es nur einen Bruchteil der vollen, zerschmetternden Kraft ihrer Persönlichkeit weitergeben konnte. Sie glaubte, es noch niemals so sehr gehaßt zu haben wie in diesem Augenblick.

»Hören Sie!« kreischte sie. »Ich fürchte, Sie verstehen nicht...«

»Denke schon«, sagte Berringer. Dies war die zweite Unterbrechung, und die Unterhaltung war noch keine drei Minuten alt. »Ich werde vorm Essen hingehen und es ihr ausrichten. Danke für Ihren Anruf, Miss Anderson.«

»Hören Sie...«

Bevor sie zu Ende sprechen konnte, tat er das, was sie am meisten haßte.

Anne legt auf und dachte, sie könnte lächelnd danebenstehen und

zusehen, wie der Trampel, mit dem sie gerade gesprochen hatte, bei lebendigem Leibe von wilden Hunden zerfetzt wurde.

Sie hatte wie verrückt mit den Zähnen geknirscht.

10

Bobbi rief an diesem Nachmittag nicht zurück. Auch nicht am frühen Abend, als die V z der Beerdigung in die Fuselsphäre abhob. Nicht am späten Abend, als sie in die Umlaufbahn einschwenkte. Und auch nicht in den zwei Stunden nach Mitternacht, während derer die Trauernden zu ihren Autos hinaustorkelten, mit denen sie auf dem Heimweg andere Fahrer gefährden würden.

Anne lag den größten Teil der Nacht wach und stocksteif im Bett, mit Amphetamin vollgestopft wie ein Reisekoffer, knirschte mit den Zähnen oder grub die Nägel in die Handflächen und sann auf Rache.

Du wirst zurückkommen, Bobbi, oh ja, das wirst du. Und wenn es soweit ist...

Als sie am nächsten Tag immer noch nicht angerufen hatte, verschob Anne die Beerdigung ungeachtet des schwachen Wehklagens ihrer Mutter, daß das nicht schicklich sei. Schließlich wirbelte Anne zu ihr herum und fauchte: »Ich bestimme, was schicklich ist und was nicht. Es ist schicklich, daß diese kleine Hure hier sein sollte, und sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht und zurückgerufen. Und jetzt laß mich in Ruhe!«

Ihre Mutter sank in sich zusammen.

An diesem Abend versuchte sie es erst unter Bobbis Nummer, dann unter der des Stadtverordneten. Bei der ersten ertönte wieder das Sirenengeräusch. Bei der zweiten meldete sich ein Anrufbeantworter. Sie wartete geduldig bis zu dem Pfeifton, dann sagte sie: »Hier ist wieder Bobbis Schwester, Mr. Berringer, die von ganzem Herzen hofft, daß Sie an Syphilis leiden, die erst erkannt wird, wenn Ihnen die Nase abfällt und Ihre Eier schwarz werden.«

Sie rief wieder die Auskunft an und verlangte drei Nummern in Haven - die Nummer von Newt Berringer, einen Smith (»Irgendeinen Smith, Herzchen, die sind alle miteinander verwandt«) und einen Brown (die Nummer, die sie daraufhin bekam, war aufgrund der alphabetischen Ordnung die von Bryant). Bei jeder Nummer bekam sie dasselbe Sirenengeheul.

»Scheiße!« schrie Anne und warf das Telefon an die Wand.

Oben krümmte ihre Mutter sich im Bett zusammen und hoffte, daß Bobbi nicht heimkommen würde... Zumindest nicht, bevor sich Annes Stimmung gebessert hatte.

11

Sie verschob die Beerdigung nochmals um einen Tag.

Die Verwandten fingen an zu murren, aber ihnen war Anne mehr als ebenbürtig, herzlichen Dank. Der Bestattungsunternehmer sah sie nur einmal an und entschied dann, daß der arme Kerl in seinem Kiefernsarg verfaulen konnte, bevor er sich einmischen würde. Anne, die den ganzen Tag am Telefon verbrachte, hätte ihm zu diesem weisen Entschluß gratuliert. Ihre Wut überstieg rasch alle bislang bekannten Höhen. Inzwischen schienen alle Telefone in Haven außer Betrieb zu sein.

Sie konnte die Beerdigung nicht noch einen Tag verschieben, das wußte sie. Diese Schlacht hatte Bobbi gewonnen; nun gut, so sei es. Aber nicht den Krieg. Oh, nein. Wenn sie das glaubte, dann standen dem Miststück noch ein paar Überraschungen ins Haus - und alle würden ziemlich schmerzhaft sein.

Anne kaufte die Tickets wütend, aber zuversichtlich - eine vom Staat New York nach Bangor... und zwei Rückfahrkarten.

12

Sie wäre schon am nächsten Tag nach Bangor geflogen — für diesen Tag war das Ticket ausgestellt-, aber ihre idiotische Mutter fiel die Treppe hinunter und brach sich die Hüfte. Scan O'Casey hatte einmal gesagt, wenn man unter Iren lebte, dann marschierte man in einem Narrenzug, und wie recht er damit hatte! Die Schreie ihrer Mutter riefen Anne aus dem Garten zurück, wo sie auf einer Liege gelegen, etwas Sonne getankt und ihre Strategie durchdacht hatte, wie sie Bobbi in Utica halten konnte, wenn sie sie erst einmal hier hatte. Ihre Mutter lag am Fuß der Treppe in einem schlimmen Winkel verkrümmt, und Annes erster Gedanke war, daß sie die dumme alte Kuh am liebsten dort liegen gelassen hätte, bis die narkotisierende Wirkung des Rotweins nachließ. Die frischgebackene Witwe roch wie ein Weinfaß.

In diesem Augenblick der Wut und Bestürzung wurde Anne klar, daß sie all ihre Pläne ändern mußte, und sie dachte, daß ihre Mutter es vielleicht absichtlich getan haben könnte - daß sie sich Mut angetrunken hatte und dann die Treppe nicht hinuntergefallen, sondern regelrecht gesprungen war. Warum? Natürlich, um sie von Bobbi fernzuhalten.

Aber das wirst du nicht, dachte sie und ging zum Telefon. DÖS wirst du nicht; wenn ich will, daß etwas geschieht, dann wird das auch geschehen; ich werde nach Haven gehen, und ich werde dort eine breite Schneise schlagen. Ich werde Bobbi zurückbringen, und sie werden noch lange an mich denken. Ganz besonders dieser Bauerntölpel, der einfach aufgelegt hat.

Sie nahm den Hörer ab und wählte mit raschen, zornigen Bewegungen ihres Zeigefingers die Nummer der Ambulanz, die seit dem ersten Schlaganfall ihres Vaters am Telefon klebte.

13

Der neunte August kam, bevor sie endlich weg konnte. In der Zwischenzeit war kein Anruf von Bobbi gekommen, und Anne hatte nicht mehr versucht, sie zu erreichen, oder den Tölpel von Stadtverordneten oder Bobbis betrunkenen Ficker in Troy. Er war offenbar zu ihr gezogen, damit er sie ständig pimpern konnte. Okay. Sollten sie sich getrost beide in Sicherheit wiegen. Das konnte ihr nur recht sein.

Jetzt war sie hier, im Cityscape in Bangor, und schlief schlecht... und knirschte mit den Zähnen.

Sie hatte immer mit den Zähnen geknirscht. Manchmal so laut, daß ihre Mutter in der Nacht aufwachte... ein paarmal sogar ihr Vater, der sonst wie ein Toter schlief. Als Anne drei war, erwähnte ihre Mutter es dem Hausarzt gegenüber. Dieser Bursche, ein verehrungswürdiger Allgemeinmediziner, bei dem sich Doc Warwick sofort wie zu Hause gefühlt hätte, schien überrascht zu sein. Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Das müssen Sie sich einbilden, Mrs. Anderson.«

»Dann muß die Einbildung ansteckend sein«, sagte Paula. »Mein Mann hat es auch gehört.«

Sie sahen zu Anne, die einen baufälligen Turm aus Bauklötzen baute, einen auf dem anderen. Sie arbeitete mit grimmiger, humorloser Konzentration. Als sie einen sechsten Klotz darauf setzte, fiel der Turm um... und als sie anfing, ihn erneut aufzubauen, hörten sie beide das harte Knochengeräusch, als Anne mit ihren Milchzähnen knirschte.

»Und das macht sie auch im Schlaf?« fragte der Arzt.

Paula Anderson nickte.

»Nun, es wird wahrscheinlich vorübergehen«, sagte der Arzt. »Es ist harmlos.« Aber es ging natürlich nicht vorüber, und es war auch nicht harmlos; es war Bruxismus, ein Leiden, welches, ebenso wie Herzanfälle, Schlaganfälle und Magengeschwüre, besessene, geltungsbedürftige Menschen häufig befällt. Annes erster ausfallender Milchzahn war deutlich abgenutzt. Ihre Eltern sprachen darüber... dann vergaßen sie es. In der Zwischenzeit manifestierte sich Annes Persönlichkeit auf verblüffendere, beunruhigendere Weise. Mit sechseinhalb beherrschte sie die Familie Anderson bereits auf eine seltsame Art, die man nie deutlich erfassen konnte. Und sie hatten sich alle an das leise, widerwärtige Flüstern von Annes knirschenden Zähnen in der Nacht gewöhnt.

Als Anne neun war, stellte der Zahnarzt der Familie fest, daß das Problem nicht verschwand, sondern schlimmer wurde, aber es wurde erst behandelt, als sie fünfzehn war und es ihr regelrechte Schmerzen bereitete. Bis dahin hatte sie ihre Zähne bis auf die Nerven abgeschliffen. Der Zahnarzt fertigte nach einem Kieferabdruck eine Zahnspange aus Gummi, dann eine aus Acryl. Sie trug diese Spangen, die »Nachtwächter« genannt wurden, jede Nacht im Bett. Mit achtzehn wurden ihre sämtlichen oberen und fast alle unteren Zähne mit Metallkronen versehen. Das konnten die Andersons sich nicht leisten, aber Anne bestand darauf. Sie hatten sich nicht um das Problem gekümmert, und sie dachte nicht daran, es so weit kommen zu lassen, daß ihr erbärmlicher Wicht von einem Vater sich, wenn sie einundzwanzig war, einfach aus der Affäre zog, indem er erklärte: »Du bist jetzt erwachsen, Anne; es ist dein Problem. Wenn du Kronen möchtest, dann wirst du sie bezahlen.«

Sie hatte Goldkronen gewollt, aber das lag wirklich völlig außerhalb ihrer Möglichkeiten.

Mehrere Jahre danach hatte Annes seltenes Lächeln ein glitzerndes, metallisches Aussehen, das außerordentlich verblüffend war. Häufig zuckten Menschen vor diesem Lächeln zurück. Diese Reaktionen erfüllten sie mit ingrimmiger Freude, und als sie in einem der späteren Jafnes-Bond-Filme den Bösewicht Jaws sah, da lachte sie, bis sie meinte, ihre Brust müsse bersten, und nach diesem ungewohnten Heiterkeitsausbruch hatte sie sich benommen und elend gefühlt. Als dieser riesige Mann zum ersten Mal seine Metallzähne zu seinem haiähnlichen Grinsen entblößt hatte, da hatte Anne genau begriffen, weshalb die Leute vor ihr zurückgezuckt waren, und sie wünschte sich beinahe, daß sie nicht doch noch Porzellan auf die Metallkronen hätte aufschmelzen lassen. Aber, dachte sie dann, vielleicht war es besser, sich nicht so deutlich zu zeigen - es konnte ebenso unklug sein, seine Persönlichkeit zu offenbaren, wie es unklug sein konnte, sein Herz zu offenbaren. Vielleicht mußte man nicht aussehen, als könnte man sich seinen Weg durch eine Tür aus Eichenbrettern beißen, wenn man etwas haben wollte, solange man selbst wußte, daß man es konnte.

Abgesehen vom Bruxismus hatte Anne als Kind und als Erwachsene jede Menge Karies gehabt, und das trotz des fluoridhaltigen Wassers in Utica und der strengen Mundhygiene, die sie sich selbst auferlegt hatte (sie putzte sich die Zähne häufig, bis das Zahnfleisch blutete). Auch dafür war größtenteils ihre Persönlichkeit und nicht ihre Physiologie verantwortlich. Versessenheit und der Wunsch, andere zu beherrschen, wirkten sich auf die weichsten Teile des Körpers - Magen und innere Organe - und auf die härtesten, die Zähne, gleichermaßen aus. Anne hatte einen chronisch trockenen Mund. Ihre Zunge war beinahe weiß. Ihre Zähne waren trockene kleine Inseln. Ohne einen ständigen Speichelstrom, der Essensreste wegspülte, bildete sich Karies schnell. In dieser Nacht, als sie unruhig schlafend in Bangor lag, hatte Anne fast dreihundertfünizig Gramm Silberamalgamfüllungen im Mund - ab und zu kam es vor, daß die Metalldetektoren auf Flughäfen auf sie ansprachen.

In den letzten zwei Jahren hatte sie trotz ihrer hektischen Bemühungen, sie zu erhalten, einige Zähne verloren: zwei oben rechts, drei unten links. In beiden Fällen hatte sie sich für die teuersten Brücken entschieden - sie hatte nach New York City fahren müssen, um sie sich einsetzen zu lassen. Der Zahntechniker hatte die verfaulten Stummel gezogen, das Zahnfleisch bis auf den Kieferknochen aufgeschnitten und winzige Titanschrauben eingesetzt. Das Zahnfleisch wurde zusammengenäht und heilte bestens - manche Menschen vertragen keine Metallimplantate im Knochen, aber Anne Anderson hatte keine Probleme mit ihnen. Die beiden winzigen Titanschrauben ragten aus dem Fleisch heraus. Nachdem das Zahnfleisch um sie herum verheilt war, wurden die Brücken an diesen Metallankern befestigt.

Sie hatte nicht soviel Metall im Kopf wie Gard (auf Gards Schädelplatte sprachen die Metalldetektoren auf Flughäfen immer an), aber doch eine ganze Menge.

Sie schlief und hatte keine Ahnung, daß sie einem äußerst exklusiven Club angehörte: sie war einer der wenigen Menschen, die Haven, wie es jetzt war, betreten konnten und dabei eine geringe Überlebenschance hatten.

14

Um acht Uhr am folgenden Morgen brach sie mit ihrem Mietwagen nach Haven auf. Sie bog einmal falsch ab, erreichte aber die Grenze zwischen Troy und Haven dennoch um halb zehn.

Sie war aufgewacht und hatte sich so nervös und zappelig gefühlt wie ein Vollblut, das in die Startbox tänzelt. Aber irgendwo während der letzten fünfzehn Meilen, bevor sie die Grenze der Gemarkung Haven erreichte - das Land um sie herum war so gut wie verlassen und lag verträumt und reif in der atemlosen Sommerhitze -, war das Gefühl der Erwartung und der gespannten nervösen Bereitschaft verschwunden. Sie bekam Kopfschmerzen. Anfangs war es nur ein unbedeutendes Pochen, aber es wurde rasch zum vertrauten Dröhnen eines ihrer Migräneanfälle.

Sie fuhr über die Grenze nach Haven.

Als sie Haven Village erreichte, hielt sie sich nur noch durch bloße Willenskraft aufrecht. Die Kopfschmerzen kamen und gingen in übelkeiterregenden Wogen. Einmal hatte sie geglaubt, gräßlich verzerrte Musik aus ihrem Mund kommen zu hören, aber das mußte Einbildung gewesen sein, wahrscheinlich von den Kopfschmerzen hervorgerufen. Sie bekam am Rande mit, daß Menschen sich auf den Straßen des kleinen

Ortes aufhielten, aber nicht, wie sie sich alle umdrehten und sie ansahen

- sie, und dann sich gegenseitig.

Irgendwo im Wald konnte sie Maschinen dröhnen hören - das Ge -räusch war fern und traumhaft.

Der Cutlass Supreme fing an, auf der verlassenen Straße in Schlangenlinien zu fahren. Bilder verdoppelten und verdreifachten sich, strebten widerspenstig wieder in den richtigen Brennpunkt und verdoppelten und verdreifachten sich dann erneut.

Blut floß ihr aus den Mundwinkeln, aber sie bemerkte es nicht.

Sie klammerte sich fest an einen Gedanken: Es liegt an dieser Straße, Route 9, und ihr Name steht auf dem Brie fkasten. Es liegt an dieser Straße, Route 9, und ihr Name steht auf dem Briefkasten. Es liegt an dieser Straße...

Die Straße war glücklicherweise leer. Haven schlief in der Morgensonne. Neunzig Prozent des Durchgangsverkehrs waren inzwischen umgeleitet worden, und das war gut für Anne, deren Cutlass unkontrolliert schlingerte; die linken Reifen wirbelten Staub vom linken Straßenrand auf, Augenblicke später wirbelten die rechten Reifen Staub vom rechten Straßenrand auf. Sie fuhr ein Verkehrsschild um, ohne es überhaupt zu bemerken.

Der junge Ashley Ruvall sah sie kommen und fuhr mit seinem Fahrrad sicherheitshalber ein gutes Stück von der Straße weg; er blieb auf Justin Hurds Nordwiese stehen, bis sie vorüber war.

(eine Frau da ist eine Frau und ich kann sie nicht hören nur ihre Schmerzen)

Hundert Stimmen antworteten ihm, beruhigten ihn.

(wir wissen es Ashley schon gut... pssst... pssst)

Ashley grinste und entblößte dabei sein rosa Zahnfleisch, das so glatt wie das eines Säuglings war.

15

Ihr Magen revoltierte.

Irgendwie gelang es ihr, an den Straßenrand zu fahren und den Motor abzustellen, bevor ihr das Frühstück hochkam und sich einen Augenblick, nachdem sie die Fahrertür aufgerissen hatte, einen Weg ins Freie bahnte. Einen Moment hing sie nur so da, hatte die Arme auf das offene Fenster der halboffenen Tür gestemmt und beugte sich ungeschickt hinaus; ihr Bewußtsein war nichts weiter als ein Funke, den sie einzig kraft ihrer Entschlossenheit am Erlöschen hinderte. Schließlich war sie imstande, sich aufzurichten und die Tür zuzuziehen.

Nebulös und verwirrt kam ihr der Gedanke, daß es das Frühstück gewesen sein mußte - an Kopfschmerzen war sie gewöhnt, aber sie mußte sich so gut wie nie übergeben. Das Frühstück in diesem Rattenloch, das angeblich Bangors bestes Hotel sein sollte. Die Dreckskerle hatten sie vergiftet.

Ich könnte sterben ... mein Gott, ja, ich fühle mich tatsächlich, als ob ich sterben könnte. Aber wenn ich nicht sterbe, dann werde ich mit ihnen von hier bis zu den Stufen des Obersten Gerichtshofs prozessieren. Wenn ich überlebe, dann werden sie sich wünschen, ihre Mütter hätten ihre Väter nie kennengelernt.

Vielleicht war es die aufrichtende Eigenschaft dieses Gedankens, der Anne genügend Kraft gab, das Auto wieder in Bewegung zu setzen. Sie kroch mit fünfzig Stundenkilometern dahin und hielt nach einem Briefkasten Ausschau, auf dem ANDERSON stand. Dann kam ihr eine schreckliche Idee. Angenommen, Bobbi hätte ihren Namen auf dem Briefkasten übermalt? Wenn man genauer darüber nachdachte, war das gar nicht so abwegig. Sie hatte Grund zu der Annahme, daß Sissy vielleicht aufkreuzen würde, und die feige kleine Schlampe hatte immer Angst vor ihr gehabt. Sie war nicht in dem Zustand, daß sie unterwegs an jeder Farm anhalten und sich nach Bobbi erkundigen konnte (nicht, daß Bobbis Bauerntölpelnachbarn ihr eine große Hilfe sein würden, wenn man den Esel, mit dem sie telefoniert hatte, als Maßstab nehmen konnte), und...

Aber da war er: R. ANDERSON. Und dahinter ein Haus, das sie nur auf Fotos gesehen hatte. Onkel Franks Haus. Die alte Garrick-Farm. Ein blauer Lastwagen parkte in der Einfahrt. Das Haus stimmte, ja, aber das Licht stimmte nicht. Das wurde ihr zum ersten Mal richtig klar, als sie sich der Einfahrt näherte. Anstatt den Triumph zu verspüren, den sie für diesen Augenblick erwartet hatte- den Triumph eines Raubtiers, dem es endlich gelungen ist, seine Beute zu schlagen-, empfand sie Verwirrung, Unsicherheit und, wenngleich sie das Gefühl nicht erkannte, weil es ihr so unbekannt war, die ersten leisen Anzeichen von Angst.

Das Licht.

Das Licht stimmte nicht.

Dieser Erkenntnis folgten andere in rascher Folge. Ihr steifer Hals. Die Schweißringe, die ihr Kleid unter den Achseln dunkel färbten. Und...

Ihre Hände flogen zwischen ihre Beine. Dort spürte sie klamme Feuchtigkeit, die bereits trocknete, und sie nahm einen leichten Ammo -niakgeruch im Wagen wahr. Er war schon die ganze Zeit da, aber ihre bewußte Wahrnehmung war eben erst darüber gestolpert.

Ich habe mich vollgepißt. Ich habe mich vollgepißt, und ich sitze schon so lange in diesem beschissenen Auto, daß es beinahe getrocknet ist...

(und das Licht, Anne)

Das Licht stimmte nicht. Es war das Licht des Sonnenuntergangs.

Aber nein - es ist halb zehn am ...

Aber es war das Licht des Sonnenuntergangs. Sie konnte es nicht bestreiten. Nachdem sie sich übergeben hatte, hatte sie sich besser gefühlt, ja... und plötzlich war ihr klar, warum. Das Wissen war die ganze Zeit da gewesen und hatte nur darauf gewartet, zur Kenntnis genommen zu werden, wie die Schweißflecken unter ihren Armen und der schwache Geruch nach trocknendem Urin. Sie hatte sich besser gefühlt, weil die Zeitspanne zwischen dem Schließen der Tür und dem tatsächlichen Anlassen des Motors nicht Sekunden oder Minuten gewesen war, sondern Stunden - sie hatte den ganzen mörderisch heißen Sommertag im Backofen des Autos verbracht. Sie war in einen todesähnlichen Schlaf versunken, und wenn die Klimaanlage des Cutlass bei geschlossenen Fenstern nicht eingeschaltet gewesen wäre, als sie anhielt, dann wäre sie gekocht worden wie ein Truthahn zu Thanksgiving. Aber ihre Stirnhöhlen waren fast ebenso schlecht wie ihre Zähne, die Umluft von Autoklimaanlagen reizte sie. Während sie die alte Farm mit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen ansah, wurde ihr plötzlich klar, daß dieses körperliche Leiden ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Sie war mit vier offenen Fenstern gefahren. Andernfalls...

Dies führte zu einem anderen Gedanken. Sie hatte den ganzen Tag in einem todesähnlichen Schlaf in einem Auto am Straßenrand verbracht, und niemand hatte angehalten, um nach ihr zu sehen. Daß auf einer Hauptstraße wie der Route 9 seit halb zehn heute morgen kein Mensch» vorbeigekommen war, das konnte sie einfach nicht glauben. Nicht einmal hier draußen im Hinterwald. Und wenn sie im Hinterwald jemanden sahen, der Schwierigkeiten hatte, dann traten sie nicht einfach aufs Gaspedal und fuhren weiter, wie New Yorker, die über einen Penner hinwegstiegen.

Was ist das überhaupt für eine Stadt?

Wieder dieses ungewohnte Kitzeln, gleich heißer Säure in ihrem Magen.

Diesmal erkannte sie das Gefühl als Angst, packte es, drehte ihm den Hals herum... und tötete es. Sein Bruder würde vielleicht später nachfolgen, wenn ja, dann würde sie ihn ebenfalls umbringen und mit ihm die ganze Sippschaft, die noch kommen mochte.

Sie fuhr auf den Hof.

16

Anne war Jim Gardener bislang nur zweimal begegnet, aber sie vergaß niemals ein Gesicht. Dennoch hätte sie den großen Dichter kaum erkannt, aber sie glaubte, sie hätte ihn selbst an einem vergleichsweise stillen Tag vierzig Meter gegen den Wind riechen können. Er saß in einem ärmellosen T-Shirt und Blue Jeans auf der Veranda und hatte eine offene Flasche Scotch in der Hand. Er hatte einen Drei- oder Viertagebart, größtenteils grau. Seine Augen waren blutunterlaufen. Gardener war, was Anne nicht wußte - und was ihr auch einerlei gewesen wäre-, seit zwei Tagen mehr oder weniger in diesem Zustand. Seit er die Hundehaare auf Bobbis Kleid gefunden hatte.

Er verfolgte mit der benebelten Überraschungslosigkeit eines Betrunkenen, wie das Auto in den Hof einbog und dabei den Briefkasten nur um Zentimeter verfehlte. Er sah die Frau aussteigen, stolpern und sich einen Augenblick an der Tür festhalten.

Mann, oh Mann, dachte Gardener. Ein Vogel, ein Flugzeug, nein, es ist das Supermiststück! Schneller als ein eingeschriebener Haßbrief, imstande, ängstliche Familienangehörige an der kurzen Leine springen zu lassen.

Anne schlug die Autotür zu. Sie stand einen Augenblick da und warf einen langen Schatten, und Gardener empfand ein unheimliches Gefühl der Vertrautheit. Sie sah aus wie Ron Cummings, wenn Ron die Hucke voll hatte und überlegte, ob er durch ein Zimmer gehen konnte.

Anne ging über den Hof, wobei sie mit einer stützenden Hand an Bobbis Lieferwagen entlangtastete. Als sie den Lieferwagen hinter sich gelassen hatte, griff sie sofort nach dem Verandageländer. Sie sah auf, und im schrägen Sieben-Uhr-Licht, fand Gardener, sah die Frau gealtert und alterslos zugleich aus. Er dachte außerdem, daß sie böse aussah -mißgünstig und gelb-schwarz, mit einer schweren Ladung Boshaftigkeit, die sie gleichzeitig verbrauchte und auffraß.

Er hob den Scotch, trank, hustete nach dem scharfen Brennen. Dann salutierte er ihr mit dem Flaschenhals. »Hallo, Sissy. Willkommen in Haven. Und nachdem ich das gesagt habe, gebe ich dir den guten Rat, wieder zu verschwinden, so schnell du kannst.«

17

Sie kam die beiden ersten Stufen gut hoch, dann stolperte sie und fiel auf ein Knie. Gardener streckte eine Hand aus. Sie übersah sie.

»Wo ist Bobbi?«

»Du siehst gar nicht gut aus«, sagte Gard. »Heutzutage hat Haven diese Wirkung auf die Leute.«

»Mir geht es gut«, sagte sie und erklomm endlich die Veranda. Sie stand keuchend über ihm. »Wo ist sie?«

Gardener neigte den Kopf zum Haus. Aus einem der Fenster drang das unablässige Zischen von Wasser. »Sie duscht. Wir haben den ganzen Tag im Wald gearbeitet, und es war ess... extrem heiß. Bobbi glaubt, daß Duschen den Schmutz entfernt.« Gardener hob erneut die Flasche. »Ich glaube nur an Desinfektion. Einfacher und angenehmer.«

»Sie riechen wie ein totes Schwein«, sagte Anne und wollte an ihm vorbei ins Haus.

»Meine eigene Nase ist ohne Zweifel nicht so fein wie die deine, meine Herzensgütigste, aber du hast auch einen delikaten, aber deutlich wahrnehmbaren Eigengeruch«, sagte Gard. »Wie nennen die Franzosen dieses spezielle Parfüm? Eau de Pisse?«

Sie drehte sich zu ihm herum, und ihr Gesicht war vor Überraschung verzerrt. Die Leute - jedenfalls die Leute in Utica - sprachen nicht so mit ihr. Niemals. Aber die kannten sie natürlich. Der große Dichter hatte sie zweifelsohne aufgrund seiner falschen Antenne eingestuft. Und natürlich war er betrunken.

»Nun«, sagte Gardener belustigt, aber auch ein wenig unbehaglich unter ihrem schwelenden Blick, »du selbst hast die Frage des Aromas angeschnitten.«

»Das habe ich«, sagte sie langsam.

»Vielleicht sollten wir noch einmal von vorne anfangen«, sagte er mit betrunkener Höflichkeit.

» Womit von vorne anfangen ? Sie sind der Trunkenbold, der seine Frau angeschossen hat. Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Ich kam wegen Bobbi.«

Guter Schuß, das mit der Frau. Sie sah, wie sein Gesicht gefror und seine Hand den Flaschenhals fester umklammerte. Er stand da, als hätte er zumindest vorübergehend vergessen, wo er war. Sie schenkte ihm ein reizendes Lächeln. Diese klugscheißerische Bemerkung über Eau de Pisse hatte sie getroffen, aber Übelkeit oder nicht, sie war der Meinung, daß sie nach Punkten immer noch führte.

Drinnen wurde die Dusche zugedreht. Gardener hatte das deutliche Gefühl - vielleicht war es auch nur eine Ahnung-, daß Bobbi zuhörte.

»Du hast schon immer am liebsten ohne Narkose operiert. Wahrscheinlich habe ich bisher lediglich unbedeutende chirurgische Eingriffe abbekommen, hm?«

»Vielleicht.«

»Warum jetzt? Nach all den Jahren, warum mußtest du _jetzt kommen?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Bobbi geht mich etwas an.«

Sie sahen einander an. Sie durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Sie wartete darauf, daß er die Augen niederschlug. Er tat es nicht. Plötzlich wurde ihr klar, daß er versuchen könnte, sie aufzuhalten, wenn sie an ihm vorbei ins Haus wollte. Es würde ihm nichts nützen, aber es wäre vielleicht besser, wenn sie seine Fragen beantwortete. Was spielte es schon für eine Rolle ?

»Ich bin gekommen, um sie nach Hause zu holen.«

Wieder Schweigen.

Keine Grillen.

»Ich möchte dir einen Rat geben, Schwester Anne.«

»Verschonen Sie mich. Keine Süßigkeiten von Fremden, kein Rat von Betrunkenen.«

»Mach genau das, was ich dir gesagt habe, als du aus dein Auto gestiegen bist. Geh. Jetzt gleich. Geh einfach. Im Augenblick ist der Aufenthalt hier gesundheitsschädlich.«

In seinen Augen war etwas, etwas verzweifelt Aufrichtiges, das ihr die Angst und die Verwirrung von vorhin wieder ins Gedächtnis rief. Sie war den ganzen Tag in ihrem Auto am Straßenrand liegen gelassen worden. Was waren das für Leute, die so etwas fertigbrachten?

Aber dann erhob sich jede Faser der alten Anne und zerschmetterte diesen kleinen Zweifel. Wenn sie etwas wollte, dann würde sie das auch bekommen, so war es gewesen, und so würde es immer sein, hallelujah, Amen.

»Okay, Herzblatt«, sagte sie. »Sie haben gesprochen, jetzt werde ich sprechen. Ich werde jetzt in diese Hütte gehen, und in etwa zwei Minuten wird ein verdammt großes Stück Kacke zu dampfen anfangen. Ich würde vorschlagen, Sie verschwinden von hier, wenn Sie nicht Ihr Teil abbekommen wollen. Setzen Sie sich irgendwo auf einen Stein und betrachten Sie den Sonnenuntergang, und dabei können Sie sich einen runterholen oder sich Reime ausdenken oder was große Dichter sonst tun, wenn sie einen Sonnenuntergang betrachten. Aber Sie werden sich aus dem raushalten, was in diesem Haus vor sich geht, was auch geschehen mag. Das ist eine Sache zwischen Bobbi und mir. Wenn Sie mir in den Weg kommen, dann werde ich Ihnen den Arsch aufreißen.«

»In Haven ist es wahrscheinlicher, daß du nicht aufreißt, sondern aufgerissen wirst.«

»Nun, das werde ich selbst herausfinden müssen«, sagte Anne und ging auf die Tür zu.

Gardener versuchte es noch einmal.

»Anne... Sissy... Bobbi ist nicht mehr dieselbe. Sie...«

»Geh spazieren, Kleiner«, sagte Anne und ging hinein.

18

Die Fenster waren offen, aber aus irgendwelchen Gründen waren die Jalousien heruntergelassen. Ab und zu regte sich ein leiser Lufthauch und saugte die Jalousien ein wenig in die Fensteröffnungen hinein. Wenn das geschah, sahen sie wie die Segel eines Schiffs bei Flaute aus,

die ihr Bestes gaben und dennoch scheiterten. Anne schnüffelte und rümpfte die Nase. Es roch wie in einem Affenhaus. Von dem großen Dichter hätte sie nichts anderes erwartet, aber ihre Schwester war besser

erzogen worden. Dieses Haus war ein Schweinestall.

»Hallo, Sissy.«

Sie drehte sich um. Einen Augenblick war Bobbi nur ein Schatten, und Anne spürte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug, denn der Schatten war seltsam, er war überhaupt nicht richtig...

Dann sah sie den weißen Fleck des Bademantels ihrer Schwester, hörte Wasser tröpfeln und dachte daran, daß Bobbi gerade unter der Dusche hervorgekommen war. Sie war fast splitternackt. Gut. Aber ihre Freude war nicht so groß, wie sie hätte sein sollen. Ihr Unbehagen blieb, das Gefühl, daß an dem Schatten unter der Tür etwas nicht richtig war.

Im Augenblick ist der Aufenthalt hier gesundheitsschädlich.

»Daddy ist tot«, sagte sie und strengte ihre Augen an, um besser sehen zu können. Trotz ihrer Anstrengung blieb Bobbi nur ein vager Schemen unter der Tür, die Wohnzimmer und - vermutete sie - Bad miteinander verband.

»Ich weiß. Newt Berringer hat angerufen und es mir gesagt.«

Etwas an ihrer Stimme. Etwas in der vagen Andeutung ihres Schattens, das auf eine weitergehende Veränderung hindeutete. Dann wurde es ihr klar. Die Erkenntnis brachte einen garstigen Schock und noch größere Angst mit sich. Bobbi hörte sich nicht ängstlich an. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Bobbi sich nicht an, als ob sie Angst vor ihr hätte.

»Wir haben ihn ohne dich begraben. Deine Mutter ist ein klein wenig gestorben, weil du nicht nach Hause gekommen bist, Bobbi.«

Sie wartete darauf, daß Bobbi sich verteidigen würde. Nur Schweigen.

Um Himmels willen, komm hierher, wo ich dich sehen kann, du kleiner Feigling!

Anne... Bobbi ist nicht mehr dieselbe.

»Sie ist vor vier Tagen die Treppe heruntergefallen und hat sich die Hüfte gebrochen.«

»Tatsächlich?« fragte Bobbi gleichgültig.

»Du kommst mit mir nach Hause, Bobbi.« Sie hatte Nachdruck in ihre Worte legen wollen, registrierte aber fassungslos, wie schrill und schwach ihre Stimme klang.

»Wegen deiner Zähne bist du hereingekommen«, sagte Bobbi. »Natürlich! Daran hätte ich denken sollen!«

»Bobbi, komm hierher, wo ich dich sehen kann!«

»Möchtest du das wirklich?« Ihre Stimme hatte einen seltsam spöttischen Ton angenommen. »Da bin ich nicht so sicher.«

»Hör auf, diese Scheiße mit mir abzuziehen, Bobbi!« Ihre Stimme schwoll an.

»Hört, hört!« sagte Bobbi. »Ich hätte nie gedacht, ausgerechnet von dir jemals so etwas zu hören, Anne. Nachdem du jahrelang deine Scheiße mit mir abgezogen hast... mit uns allen. Aber gut. Wenn du darauf bestehst, meinetwegen. Meinetwegen.«

Sie wollte sie nicht sehen. Plötzlich wollte Anne nur noch weglaufen, möglichst weit weg von diesem schattigen Ort und dieser Stadt, wo sie einen den ganzen Tag bewußtlos am Straßenrand liegen ließen. Aber es war zu spät. Sie sah die verschwommene Handbewegung ihrer jüngeren Schwester, sah den Bademantel in dem Augenblick fallen, in dem das Licht ausging.

Das Wasser hatte die Schminke abgespült. Bobbis Kopf und Hals waren durchsichtig und wie Gelee. Ihre Brüste waren tonnenförmig angeschwollen und schienen zu einem einzigen warzenlosen Fleischwulst zusammenzuwachsen. Anne konnte undeutlich Gedärm in Bobbis Bauch sehen, das gar nicht wie menschliches Gedärm aussah - Flüssigkeit zirkulierte darin, aber sie war grün.

Hinter Bobbis Stirn konnte sie den pulsierenden Gedankensack sehen.

Bobbi grinste zahnlos.

»Willkommen in Haven, Anne«, sagte sie.

Anne spürte, wie sie einen Schritt zurück und in einen gummiweichen Traum tat. Sie wollte schreien, hatte aber keine Luft.

Zwischen Bobbis Beinen schlängelte sich ein groteskes Bündel Tentakel wie Seegras aus der Scheide - der Stelle jedenfalls, wo die Scheide gewesen war. Anne hatte keine Ahnung, ob sie noch da war oder nicht, und es war ihr auch egal. Das eingesunkene Tal, das zwischen ihren Beinen lag, genügte vollauf. Das... und die Art, auf die die Tentakel auf sie zeigten... nach ihr zu greifen schienen.

Bobbi ging nackt auf sie zu. Anne versuchte zurückzuweichen und stolperte über eine Fußbank.

»Nein«, flüsterte sie und versuchte wegzukriechen. »Nein... Bobbi... nein...«

»Schön, daß du hier bist«, sagte Bobbi immer noch lächelnd. »Ich hatte nicht mit dir gerechnet - überhaupt nicht -, aber ich denke, wir werden eine Aufgabe für dich finden. Es sind noch Stellen frei, wie man so sagt.«

»Bobbi...« Sie brachte noch dieses eine entsetzte Flüstern hervor, dann spürte sie, wie die Tentakel sanft über ihren Körper glitten. Anne zuckte zurück und versuchte zu entkommen... und die Tentakel legten sich um ihre Handgelenke. Bobbis Hüften stießen in einer Bewegung nach vorne, die der obszönen Parodie einer Kopulation glich.

Zweites Kapitel

Gardener geht spazieren

1

Gardener befolgte Annes Rat und ging spazieren. Er ging bis zu dem Schiff im Wald. Ihm wurde klar, daß er zum ersten Mal ganz auf sich allein gestellt hier draußen war, und es würde bald dunkel sein. Er hatte eine unbestimmte Angst, wie ein Kind, das an einem Spukhaus vorübergeht. Sind Geister dort drinnen? Die Geister verstorbener Tommyknok-kers? Oder sind die echten Tommyknockers selbst noch da, vielleicht im Kälteschlaf, Wesen wie gefriergetrockneter Kaffee, die nur daraufwarten, aufgetaut zu werden? Und was für Geschöpfe sind das überhaupt?

Er setzte sich neben dem Unterstand auf den Boden und sah das Schiff an. Nach einer Weile ging der Mond auf und hüllte seine Oberfläche in ein noch geisterhafteres Silber. Es war seltsam und doch gleichzeitig wunderschön.

Was geht hier vor?

Ich möchte es nicht wissen.

Es ist nicht ganz klar, was es ist...

Ich möchte es nicht wissen.

Hey, stop, what's that sound, everybody look what's going down ...

Er kippte die Flasche und trank einen kräftigen Schluck. Er stellte sie weg, rollte sich auf den Bauch und legte den pochenden Kopf auf die Arme. So schlief er ein, im Wald, neben der anmutigen Rundung des Schiffes.

Dort schlief er die ganze Nacht.

Am Morgen lagen zwei Zähne aufder Erde.

Das habe ich davon, in seiner Nähe zu schlafen, dachte er verdrossen, aber er hatte immerhin eine Gegenleistung erhalten - er hatte überhaupt keine Kopfschmerzen, obwohl er die Flasche Scotch nahezu geleert hatte. Ihm war schon früher aufgefallen, daß das Schiff - oder die Veränderungen in der Atmosphäre, die es bewirkt hatte - neben seinen anderen Eigenschaften auch die eines wirksamen Schutzes vor einem Kater zu haben schien.

Er wollte seine Zähne nicht einfach so hier liegen lassen. Er folgte einem verschwommenen Drang und bedeckte sie mit Erde. Während er das tat, dachte er wieder: Hamlet spielen ist ein Luxus, den du dir nicht mehr leisten kannst, Gard. Wenn du dich nicht sehr bald - schon an einem der nächsten Tage, glaube ich -_ für die eine oder andere Vorgehensweise entscheidest, dann wirst du nichts mehr tun können, als zusammen mit den anderen zu marschieren.

ET sah zum Schiff, dachte an die tiefe Kluft, die neben seiner glatten, ununterbrochenen Oberfläche verlief, und dachte wieder: Wir werden bald bei der Luke sein, wenn es eine Luke gibt... Was dann?

Anstatt nach einer Antwort zu suchen, machte er sich auf den Heimweg.

2

Der Cutlass war verschwunden.

»Wo warst du gestern nacht?« fragte Bobbi Gardener.

»Ich habe im Wald geschlafen.«

»Hast du dich wirklich betrunken?« fragte Bobbi mit überraschender Sanftheit. Ihr Gesicht war wieder mit Make-up nachgedunkelt. Und in den letzten Tagen hatte Bobbi Blusen getragen, die seltsam lose und weit waren; heute morgen glaubte er erkennen zu können, warum Ihre Brust nahm an Umfang zu. Ihre Brüste fingen an, wie eine Einheit zu wirken, anstatt wie zwei Wölbungen. Gardener mußte an Gewichtheber denken.

»Nicht sehr. Ein oder zwei Schluck, dann war ich weggetreten. Kein Kater heute morgen. Und keine Insektenstiche.« Er hob die Arme, die oben sonnengebräunt waren, an den Unterseiten jedoch weiß und seltsam verwundbar. »Normalerweise würde man im Sommer aufwachen und wäre so von Insekten zerstochen, daß man die Augen nicht mehr aufbekäme. Aber jetzt sind sie weg. Zusammen mit den Vögeln. Und den anderen Tieren. Anscheinend stößt es alles ab, außer Narren wie uns.«

»Hast du deine Meinung geändert, Gard?«

»Das fragst du mich ständig, ist dir das schon aufgefallen?«

Bobbi antwortete nicht.

»Hast du gestern die Nachrichten im Radio gehört?« Er wußte, daß sie sie nicht gehört hatte. Das Schiff war alles, was Bobbi sah, hörte und woran sie dachte. Ihr Kopfschütteln überraschte ihn nicht. »Mobilmachung in Libyen. Neue Kämpfe im Libanon. Amerikanische Truppenbewegungen. Die Russen werden immer lauter und lauter wegen SDI. Wir sitzen immer noch auf dem Pulverfaß. Daran hat sich seit 1945 kein bißchen geändert. Dann findest du einen Deus ex machina in deinem Garten und möchtest ständig wissen, ob ich meine Meinung über seinen Einsatz geändert habe.«

»Hast du?«

»Nein«, sagte Gardener und war selbst nicht sicher, ob er log oder nicht - aber er war sehr , froh, daß Bobbi ihn nicht lesen konnte.

Oder kann sie es? Ich glaube, daß sie es kann. Nicht viel, aber mehr, als sie vor einem Monat lesen konnte... und jeden Tag ein wenig mehr. Weil dein »Werden« jetzt auch angefangen hat. Deine Meinung geändert? Ha, das ist ein Witz! Du bist_ ja nicht einmal in der Lage, einen Entschluß zu ^ fassen.

Bobbi ließ davon ab, jedenfalls schien es so. Sie wandte sich dem Stapel von Handwerkzeugen zu, die auf der Veranda aufgeschichtet waren. Gardener sah, daß sie direkt unterhalb des rechten Ohrs vergessen hatte, Make-up aufzutragen - genau an der Stelle, die auch viele Männer auslassen, wenn sie sich rasieren. Er stellte angewidert, aber ohne echte Überraschung fest, daß er in Bobbi hineinsehen konnte - ihre Haut hatte sich verändert und war zu einer Art halbdurchsichtigem Gelee geworden. In den vergangenen Tagen war Bobbi kleiner und dicker geworden, und die Veränderungen schritten immer schneller voran.

Großer Gott, dachte er entsetzt und auf bittere Weise belustigt. Das also geschieht, wenn man sich in einen Tommyknocker verwandelt, ja? Man _ fängt an auszusehen wie _ jemand, der in einen unkontrollierten Kernfusionsprozeß hineingeraten ist.

Bobbi, die sich über die Werkzeuge gebeugt hatte und sie sich auf die Arme lud, drehte sich rasch um und sah Gardener argwöhnisch an.

»Was?«

Ich sagte, machen wir uns auf den Weg, du Faultier, sendete Gardener deutlich, und der argwöhnische Ausdruck wurde zu einem widerwilligen Lächeln.

»Okay. Dann hilf mir hier mit.«

Nein, die Opfer von starker Gammabestrahlung wurden natürlich nicht durchsichtig, so wie Claude Rains in Der Unsichtbare. Sie fingen

nicht an, kleiner zu werden, während ihre Körper dicker wurden. Aber ja, sie verloren die Zähne, das Haar fiel ihnen aus - mit anderen Worten,

in beiden Fällen gab es eine Art körperliches »Werden«.

Er dachte noch einmal:Meet the new boss. Same äs the oldboss.

Bobbi sah ihn wieder mit verkniffenen Augen an.

Mein Raum zum Manövrieren wird knapp. Ziemlich schnell.

»Was hast du gesagt, Gard?«

»Ich habe gesagt: >Gehen wir, Boss.<«

Nach einer langen Pause nickte Bobbi. »Ja«, sagte sie. »Wir sollten kein Tageslicht vergeuden.«

3

Sie fuhren mit dem Tomcat zur Grabungsstelle hiAaus. Er flog nicht so, wie das Fahrrad des kleinen Jungen in £. I geflogen war; Bobbis Traktor würde niemals kinogerecht meterhoch über den Dächern vor der Mondscheibe dahinschweben. Aber er schwebte leise und sachte vierzig Zentimeter über dem Boden, und seine großen Reifen drehten sich langsam, wie sterbende Propeller. Die Fahrt ging dadurch erheblich glatter vonstatten. Gardener fuhr. Bobbi stand hinter ihm auf der Anhängerkupplung.

»Ist deine Schwester wieder fort?« fagte Gard. Er brauchte nicht zu schreien. Der Motor des Tomcat war ein leises, fernes Schnurren.

»Ja«, sagte Bobbi. »Sie ist wieder fort.«

Du kannst immer noch nicht glaubhaft lügen, Bobbi. Und ich glaube -wirklich und w ahrhaftig-, daß ich sie schreien gehört habe. Kurz bevor ich in den Wald spaziert bin, habe ich sie schreien gehört, glaube ich. Und wie viel gehört dazu, eine eiskalte, hartgesottene und stählerne Nutte wie Sissy dazu zu bringen, laut aufzuheulen? Wie schlimm muß es gewesen sein?

Die Antwort darauf war einfach: Sehr schlimm.

»Sie war nie der Typ, der mit Anstand aufgeben konnte«, sagte Bobbi, »oder der anderen ihren Anstand ließ, wenn sie es verhindern konnte. Du weißt, sie ist gekommen, um mich nach Hause zu bringen... paß auf den Stubben da auf, Gard, er ist hoch.«

Gardener schob den Schalthebel ganz nach oben. Der Tomcat hob sich weitere zehn Zentimeter und schwebte über den hohen Baumstumpf. Als sie darüber hinweg waren, zog er den Hebel wieder zurück, und der Tomcat sank auf seine ursprüngliche Flughöhe von vierzig Zentimetern zurück.

»Ja, sie ist mit Zaumzeug und Kandare hier aufgekreuzt«, sagte Bobbi, und ihre Stimme klang etwas erstaunt. »Früher wäre es ihr vielleicht sogar gelungen, mich zu holen. Aber so, wie die Dinge jetzt liegen, hatte sie absolut keine Chance.«

Gardener war kalt. Diese Bemerkung konnte man auf vielfältige Weise interpretieren, nicht?

»Es überrascht mich dennoch, daß du nur einen einzigen Abend gebraucht hast, um sie zu überzeugen«, sagte Gardener. »Ich habe immer gedacht, Patricia McCardle wäre schlimm, aber verglichen mit deiner Schwester war die gute Patty ein Unschuldslämmchen.«

»Ich habe nur ein wenig von der Schminke weggewischt. Als sie sah, was darunter war, kreischte sie und rannte so schnell davon, als hätte sie Düsen in den Absätzen. War eigentlich ziemlich komisch.«

Das war plausibel. Es war so plausibel, daß die Versuchung, es zu glauben, fast unüberwindbar war. Wenn man die schlichte Tatsache

außer acht ließ, daß die fragliche Dame ohne fremde Hilfe überhaupt nicht hätte fliehen können, schon gar nicht schnell. Die Dame hatte kaum ohne fremde Hilfe gehen können.

Nein, dachte Gardener. Sie ist nicht fortgelaufen. Die Frage ist nur, ob du sie umgebracht hast oder ob sie zusammen mit Peter in diesem verdammten Schuppen ist.

»Wie lange werden die körperlichen Veränderungen noch andauern, Bobbi?« fragte Gardener.

»Nicht mehr lange«, sagte Bobbi, und Gardener fand erneut, daß Bobbi nicht lügen konnte. »Da sind wir. Park beim Unterstand.«

4

Am folgenden Abend hörten sie früh auf - die Hitzewelle dauerte noch an, und keiner der beiden fühlte sich imstande, durchzuhalten, bis das letzte Licht erloschen war. Sie kehrten ins Haus zurück, schoben ihr Essen auf den Tellern hin und her und aßen sogar etwas davon. Nachdem das Geschirr gespült war, sagte Gardener, er würde einen Spaziergang machen.

»Oh?« Bobbi sah ihn mit diesem argwöhnischen Ausdruck an, der so etwas wie ihr Markenzeichen geworden war. »Ich dachte, du hättest heute ausreichend Bewegung an der frischen Luft gehabt.«

»Jetzt ist die Sonne untergegangen«, sagte Gard leichthin. »Es ist kühler. Keine Insekten. Und...« Er sah Bobbi nachdrücklich an. »Wenn ich auf die Veranda gehe, nehme ich eine Flasche mit. Wenn ich eine Flasche mitnehme, betrinke ich mich. Wenn ich einen langen Spaziergang mache und müde zurückkomme, dann kann ich vielleicht einmal nüchtern zu Bett gehen.«

Das alles stimmte durchaus - aber es verbarg sich noch eine andere Wahrheit darinnen, wie ein chinesisches Kästchen in einem anderen. Gardener sah Bobbi an und wartete, ob sie nach diesem inneren Kästchen suchen würde.

Sie tat es nicht.

»Also gut«, sagte sie, »aber du weißt, daß es mir egal ist, wieviel du trinkst, Gard. Ich bin deine Freundin, nicht deine Frau.«

/a, es ist dir egal, wieviel ich trinke - du hast es mir sehr leicht gemacht, soviel zu trinken, wie ich wollte. Weil es mich neutralisiert.

Er ging an der Route 9 entlang, an Justin Hurds Haus vorbei, und als er die Nista Road erreichte, wandte er sich nach links und schritt mit schwingenden Armen rasch aus. Die Arbeit des vergangenen Monats hatte ihn kräftiger gemacht, als er es für möglich gehalten hatte - vor nicht allzu langer Zeit hätte ihn sogar ein Zwei-Meilen-Spaziergang wie dieser erschöpft und seine Knie weich werden lassen.

Dennoch war es unheimlich. Kein schreiender Ziegenmelker begrüßte die einbrechende Dämmerung; kein Hund bellte ihm nach. Die meisten Häuser waren dunkel. Hinter den wenigen erleuchteten Fenstern, an denen er vorbeikam, flackerte kein Fernseher.

Wer will schon eine Wiederholung von Barney Miller sehen, wenn er statt dessen »werden« kann? dachte Gardener. .

Als er das Schild mit der Aufschrift ENDE DER STRASSE 200 METER erreichte, war es fast völlig dunkel, aber der Mond ging auf, und die Nacht war sehr klar. Am Ende der Straße kam er an die an zwei Pfosten gespannte schwere Kette. Ein rostiges, löchriges WEITERGEHEN VER-BOTEN-Schild hing daran. Gard kletterte über die Kette, ging weiter und stand wenig später in der verlassenen Kiesgrube. Das Mondlicht auf den unkrautüberwucherten Hängen war weiß wie Knochen. Gardeners Kopfhaut kribbelte in der Stille.

Was hatte ihn hierher geführt? Sein eigenes »Werden«, vermutete er

- etwas, das er in Bobbis Verstand aufgeschnappt hatte, ohne es zu merken. So mußte es gewesen sein, denn was ihn hierher geführt hatte, war stärker gewesen als nur eine Ahnung.

Links sah er eine große dreieckige Narbe im Weiß des sonst unberührten Kieses. Hier war etwas bewegt worden. Gardener ging mit knirschenden Schritten hinüber. Er grub in dem frischeren Kies, fand nichts, ging weiter, grub ein weiteres Loch, fand nichts, ging weiter, grub ein drittes, fand nichts...

Oh, he, Augenblick mal.

Seine Finger glitten über etwas, das für einen Stein viel zu glatt war. Er beugte sich mit klopfendem Herzen darüber, konnte aber nichts sehen. Er wünschte sich, er hätte eine Taschenlampe mitgebracht, aber das hätte Bobbi wahrscheinlich noch argwöhnischer gemacht. Er grub weiter und ließ das Geröll rasselnd den Hang hinabrollen.

Er sah, daß er einen Autoscheinwerfer freigelegt hatte.

Gardener sah ihn an, von einer unheimlichen, dürren Belustigung erfüllt. So ist es also, wenn man etwas in der Erde _ findet, dachte er. Ein seltsames Artefakt. Aber ich mußte nicht darüber stolpern, nicht? Ich wußte, wo ich suchen mußte.

Er grub schneller, arbeitete sich am Hang hinauf und warf Kies zwischen den Beinen hindurch wie ein Köter, der nach einem Knochen gräbt, und er achtete nicht auf seinen pochenden Kopf und seine Hände, die er erst aufscheuerte, dann wund rieb und die dann zu bluten begannen.

Es gelang ihm, direkt über dem rechten Scheinwerfer des Cutlass ein ebenes Stück der Motorhaube freizulegen, auf dem er stehen konnte, danach ging die Arbeit leichter. Bobbi und ihre Spießgesellen hatten schlampig gearbeitet. Gardener fegte mit den Armen loses Geröll beiseite und warf es von dem Auto herunter. Kieselsteine knirschten und kreischten auf dem Metall. Sein Mund war trocken. Er arbeitete sich zur Windschutzscheibe vor, und er wußte wirklich nicht, was besser war -wenn er etwas sah, oder wenn er nichts sah.

Seine Finger schabten wieder über etwas Glattes. Er hielt nicht inne, um nachzudenken - vielleicht hätte ihn der stumme, unheimliche Ort abgehalten, weiterzugraben; vielleicht hätte er sich umgedreht und wäre weggelaufen-, sondern legte einen Teil der Windschutzscheibe frei und sah hinein, wobei er beide Handkanten auf das Glas drückte, um das Mondlicht abzuhalten.

Nichts.

Anne Andersons Cutlass war leer.

Sie könnten sie in den Kofferraum gelegt haben. Tatsache ist, du weißt immer noch nichts Bestimmtes.

Aber er glaubte dennoch, etwas zu wissen. Die Logik sagte ihm, daß Anne Andersons Leichnam nicht im Kofferraum sein würde. Warum sollten sie sich die Mühe machen ? Jeder, der ein brandneues Auto hier draußen in einer Kiesgrube vergraben fand, würde das so verdächtig finden, daß er in den Kofferraum sehen oder die Polizei holen würde, damit sie es tat.

Und niemand in Haven würde sich einen Scheißdreck darum scheren, so oder so. Sie haben momentan dringendere Sorgen als Autos in Kiesgruben. Und wenn es _ jemand aus der Stadt_ finden würde, so würde er als allerletztes die Polizei rufen. Das bedeutete Auswärtige, und wir wollen diesen Sommer keine Auswärtigen in Haven, nicht? Unmöglicher Gedanke!

Sie war also nicht im Kofferraum. Einfache Logik. QED.

Vielleicht verfügten die Leute, die das getan haben, nicht über deine logischen Fähigkeiten, Gard.

Auch das war natürlich Unsinn. Er konnte eine Angelegenheit unter drei Blickwinkeln sehen, die Wunderkinder in Haven aus dreiundzwanzig. Denen entging nichts.

Gardener rutschte auf den Knien auf der Haube zurück und sprang herunter. Jetzt bemerkte er seine aufgeschürften, schmerzenden Hände. Er würde ein paar Aspirin nehmen müssen, wenn er nach Hause kam, und am Morgen mußte er versuchen, die Verletzungen vor Bobbi zu verheimlichen - Arbeitshandschuhe waren das Gebot des Tages. Des ganzen Tages.

Anne war nicht in dem Auto. Wo war Anne? Natürlich im Schuppen; im Schuppen, ganz klar. Gardener begriff plötzlich, warum er hierher gekommen war - nicht nur, um einen Gedanken zu bestätigen, den er aus Bobbis Verstand aufgeschnappt hatte (wenn das überhaupt der Fall war; vielleicht hatte auch sein Unterbewußtsein dies als logischen Ort eingestuft, ein Auto loszuwerden), sondern weil er sicher sein mußte, daß es der Schuppen war. Sein mußte. Denn er mußte einen Entschluß fassen, und er wußte jetzt, daß nicht einmal der Anblick, wie Bobbi sich in etwas Nichtmenschliches verwandelte, ihn zu diesem Entschluß zwingen konnte - so sehr wollte er immer noch das Schiff ausgraben, wollte es ausgraben und einsetzen... so sehr, so sehr.

Bevor er den Entschluß fassen konnte, mußte er sehen, was sich in Bobbis Schuppen befand.

Beim Nachhausegehen blieb er auf halbem Weg im kalten, schlüpfrigen Mondlicht stehen, weil ihm ein Gedanke kam - warum hatten sie sich die Mühe gemacht, das Auto zu verstecken? Weil die Mietfirma seinen Verlust melden und wieder Polizisten nach Haven kommen würden? Nein. Die Leute von Hertz oder Avis merkten vielleicht tagelang gar nicht, daß es fehlte, und es würde noch länger dauern, bis die Polizei Annes familiäre Beziehungen zu Bobbi herausfand. Mindestens eine Woche, wahrscheinlicher zwei. Und Gardener glaubte, daß Haven sich bis dahin nicht mehr um die Einmischung von Auswärtigen sorgen mußte, so oder so.

Also vor wem hatten sie das Auto versteckt?

Vor dir, Gard. Sie haben es vor dir versteckt. Sie wollen immer noch nicht, daß du herausfindest, wozu sie_ fähig sind, wenn es darum geht, sich selbst zu schützen. Sie haben es versteckt, und Bobbi hat dir gesagt, daß Anne weggefahren ist.

Er ging zurück, und das gefährliche Geheimnis drehte sich in seinem Kopfwie ein Juwel.

Drittes Kapitel

Die Luke

1

Es geschah zwei Tage später, während Haven niedergestreckt und ausgelaugt unter der Augusthitze dalag. Die Hundstage waren gekommen, aber natürlich gab es keine Hunde mehr in Haven - es sei denn, es befand sich vielleicht einer in Bobbi Andersons Schuppen.

Gard und Bobbi standen am Grund einer Kluft, die inzwischen fünfundfünfzig Meter tief war - die Hülle des Schiffes bildete eine Seite dieser Kluft, auf der anderen Seite war hinter dem silbernen Gewebe ein Schnitt durch die Erdschichten zu sehen: Krume, Lehm, Schiefer, Granit und poröses, wasserhaltiges Gestein. Ein Geologe hätte seine Freude daran gehabt. Sie hatten Jeans und Sweatshirts an. An der Oberfläche war es drückend heiß, aber hier unten war es kühl - Gardener kam sich vor wie ein Käfer, der auf einer Wasserfläche herumkriecht. Auf dem Kopf hatte er einen Bauarbeiterhelm, an dem mit Klebeband eine Taschenlampe befestigt war. Bobbi hatte ihn ermahnt, die Lampe so wenig wie möglich zu benutzen - Batterien waren Mangelware. Er hatte sich Watte in beide Ohren gesteckt. Er benutzte einen Preßluftbohrer, um Felsgestein loszurütteln. Bobbi befand sich am anderen Ende der Kluft und tat dasselbe.

Gardener hatte sie an diesem Morgen gefragt, weshalb sie bohren mußten. »Mir haben die explodierenden Radios besser gefallen, Bobbi, altes Mädchen«, sagte er. »Wenig Muskelschmalz, wenig Hirnschmalz, und trotzdem knallt's, wenn du verstehst, was ich meine.«

Bobbi lächelte nicht. Bobbi schien ihren Sinn für Humor zusammen mit ihrem Haar zu verlieren.

»Wir sind jetzt zu nahe daran«, sagte Bobbi. »Wenn wir Sprengstoff verwenden, könnten wir etwas beschädigen, das wir nicht beschädigen wollen.«

»Die Luke?«

»DieLuke.«

Gardeners Schultern taten weh, und die Platte in seinem Kopf tat auch weh - das war wahrscheinlich ein geistiges Problem, Stahl konnte nicht weh tun, aber er fühlte sich immer so, wenn er hier unten war-, und er hoffte, Bobbi würde bald das Signal geben, daß es Zeit für die Mittagspause war.

Er fraß sich mit dem Bohrer wieder kreischend und krachend in Richtung des Schiffes, wobei er sich kaum Gedanken machte, ob er die silbergraue Hülle damit beschädigte. Er hatte festgestellt, daß man darauf achten mußte, sie nicht zu heftig mit dem Bohrer zu berühren; wenn man nicht aufpaßte, riß einen der Bohrer von den Füßen, wenn sein Moment gebremst wurde. Das Schiff selbst war gegenüber dem rauhen Biß des Bohrers ebenso unverwundbar, wie es gegenüber dem Sprengstoff gewesen war, den er und seine Helfer benutzt hatten. Wenigstens bestand keine Gefahr, daß die Ware beschädigt wurde.

Der Bohrer berührte die Oberfläche des Schiffes - und plötzlich wurde aus dem stetigen Maschinengewehrrattern ein hohes Heulen. Er glaubte, Rauch von der kreisenden Bohrerspitze aufsteigen zu sehen. Er hörte ein Knacken. Etwas flog an seinem Kopf vorbei. Das alles geschah in weniger als einer Sekunde. Er schaltete den Bohrer ab und sah, daß die Bohrspitze fast völlig verschwunden war. Nur ein zackiger Stumpf war übriggeblieben.

Gardener drehte sich um und sah das Stück, das an seinem Kopf vorbeigesaust war, im Fels der Kluft stecken. Verspätet ereilte ihn der Schock und machte seine Knie so weich, daß sie unter ihm nachgeben wollten.

Hat mich um Haaresbreite verfehlt. Nicht mehr, nicht weniger. Verfluchte Scheiße.

Er versuchte die Spitze aus dem Fels zu ziehen und dachte zuerst, sie würde nicht freikommen. Dann fing er an, sie hin und her zu bewegen. Als zöge man einen Zahn aus dem Zahnfleisch, dachte er, und gab ein hysterisches Kichern von sich.

Es gelang ihm, die Bohrerspitze herauszuziehen. Sie hatte die Größe eines Geschosses Kaliber .45, vielleicht ein wenig größer.

Plötzlich war er kurz davor, umzukippen. Er legte einen Arm auf die überzogene Wand der Kluft und preßte das Gesicht dagegen. Er machte die Augen zu und wartete darauf, daß die Welt entweder verschwand oder zurückkam. Er bekam nur am Rande mit, daß Bobbis Bohrer ebenfalls verstummt war.

Die Welt fing an zurückzukommen... und Bobbi schüttelte ihn.

»Gard? Gard, was ist los?«

Ihre Stimme klang aufrichtig besorgt. Als er das hörte, war Gardener auf absurde Weise zum Weinen zumute. Aber natürlich war er sehr müde.

»Ich habe beinahe einen Kopfschuß mit einem Bohrer Kaliber .45 bekommen«, sagte er. »Wenn ich es mir recht überlege, war es eigentlich mehr ein 357er Magnum.«

»Wovon redest du?«

Gardener reichte ihr das Bruchstück, das er aus dem Fels befreit hatte. Bobbi sah es an und pfiff durch die Zähne. »Mein Gott.«

»Ich glaube, das Ding und ich haben uns nur knapp verpaßt. Das ist das zweite Mal, daß ich in diesem Drecksloch beinahe getötet wurde. Das erste Mal war, als dein Freund Enders fast vergaß, die Schlinge herunterzuschicken, nachdem ich eines dieser explodierenden Radios eingeschaltet hatte.«

»Er ist nicht mein Freund«, sagte Bobbi abwesend. »Ich halte ihn für ein Arschloch... Gard, worauf bist du gestoßen? Wie ist das passiert?«

»Was meinst du damit? Auf einen Steinbrocken! Worauf sollte ich hier unten sonst stoßen?«

»Warst du in der Nähe des Schiffes?« Plötzlich sah Bobbi ganz aufgeregt aus. Nein, mehr als das. Beinahe fiebrig.

»Ja, aber ich habe das Schiff schon vorher mit dem Bohrer berührt. Er prallt einfach ab...«

Aber Bobbi hörte ihm nicht mehr zu. Sie war am Schiff, auf den Knien, und grub mit bloßen Händen Gesteinssplitter beiseite.

Es hat ausgesehen, als rauchte es, dachte Gardener. Es...

Wir sind da, Gard! Endlich da!

Er war neben ihr, bevor er merkte, daß sie ihre Schlußfolgerung nicht laut ausgesprochen hatte; Gardener hatte sie in seinem Kopf gehört.

2

Etwas, tatsächlich, dachte Gardener.

Bobbi hatte das Gestein weggeschafft, das Gardeners Bohrer gelöst hatte, bevor er explodiert war, und eine feine Linie in der Hülle des Schiffs freigelegt - eine einzige Linie auf der ganzen unermeßlichen Fläche. Als er sie sah, begriff Gardener Bobbis Aufregung. Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren.

»Besser nicht«, sagte sie heftig. »Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist.«

»Laß mich in Ruhe«, sagte Gardener. Er stieß Bobbis Hand weg und berührte die Linie. Er hörte Musik in seinem Kopf, aber sie war gedämpft und blendete rasch aus. Er glaubte zu spüren, wie seine Zähne heftig im Zahnfleisch vibrierten, und dachte, daß er heute nacht weitere verlieren würde. Das war unwichtig. Er wollte es berühren; er würde es berühren. Das war der Weg hinein; jetzt waren sie den Tommyknockers und ihren Geheimnissen so nahe wie nie zuvor, es war das erste deutliche Anzeichen dafür, daß dieses Monstrum nicht durch und durch massiv war (dieser Gedanke war ihm schon durch den Kopf gegangen; was für ein kosmischer Witz das gewesen wäre). Es zu berühren war, als würde er fest gewordenes Sternenlicht anfassen.

»Es ist die Luke«, sagte Bobbi. »Ich wußte, daß sie da ist!«

Gardener grinste sie an. »Wir haben es geschafft, Bobbi.«

»Ja, wir haben es geschafft. Gott sei Dank, daß du zurückgekommen bist, Gard!«

Bobbi umarmte ihn - und als Gardener die geleeartigen Bewegungen ihrer Brüste und des Oberkörpers spürte, empfand er übelkeiterregenden Ekel in sich aufsteigen. Sternenlicht? Vielleicht berührten die Sterne ihn in diesem Augenblick.

Es war ein Gedanke, den er hastig verbarg, und er glaubte, daß er ihn tatsächlich verborgen, daß Bobbi nichts davon mitbekommen hatte.

Eins zu null_für mich, dachte er. »Was meinst du, wie groß sie ist?«

»Ich bin nicht sicher. Aber ich glaube, daß wir sie heute noch freilegen können. Das wäre auch das beste. Die Zeit wird knapp, Gard.«

»Wie meinst du das?«

»Die Luft über Haven hat sich verändert. Dafür ist das hier verantwortlich. « Bobbi klopfte mit den Knöcheln gegen die Schiffshülle. Es gab einen dumpfen, glockenähnlichen Ton.

»Ichweiß.«

»Sie macht Leute krank, die hereinkommen. Du hast gesehen, wie es Anne ging.«

»Ja.«

»Und sie wurde zu einem gewissen Grad von ihren Zahnplomben geschützt. Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber es stimmt. Dennoch hat sie sich schleunigst wieder aus dem Staub gemacht.«

Ach? Hat sie das?

»Wenn das alles wäre - daß die Luft Leute vergiftet, die in die Stadt kommen-, das wäre schlimm genug. Aber wir können nicht mehr hinaus, Gard.«.

»Ihr könnt nicht... ?«

»Nein. Ich glaube, du könntest es. Du würdest dich ein paar Tage lang elend fühlen, aber du könntest weggehen. Mich würde es umbringen, und zwar ziemlich schnell. Und dann ist da noch etwas: Wir hatten jetzt eine ganze Weile heißes, stilles Wetter. Wenn das Wetter umschlägt -wenn der Wind heftig genug weht -, dann wird er unsere Biosphäre über den Atlantik hinausblasen. Wir wären wie tropische Fische, nachdem jemand den Stecker aus dem Aquarium gezogen und die Sauerstoffzufuhr abgeschaltet hat. Wir würden sterben.«

Gard schüttelte den Kopf. »Das Wetter hat sich an dem Tag geändert, an dem du zur Beerdigung dieser Frau gegangen bist, Bobbi. Daran erinnere ich mich. Es war klar und windig. Darum war es so seltsam, daß du dir ausgerechnet damals nach dem heißen und schwülen Wetter einen Hitzschlag geholt hast.«

»Die Lage ist jetzt anders. Das >Werdern hat sich beschleunigt.«

Würden sie alle sterben? fragte sich Gardener. ALLE? Oder nur du und deine speziellen _ freunde, Bobbi? Diejenigen, die _jetzt Make-up tragen müssen?

»Ich höre Zweifel in deinen Gedanken«, sagte Bobbi. Sie hörte sich halb verzweifelt und halb belustigt an.

»Ich habe Zweifel, ob dies überhaupt alles wahr sein kann«, sagte Gardener. »Scheiß drauf. Komm schon. Graben wir, Baby.«

3

Sie lösten sich mit der Spitzhacke ab. Einer benutzte sie etwa fünfzehn Minuten, dann schafften sie gemeinsam das Geröll weg. Gegen fünfzehn Uhr nachmittags sah Gardener eine kreisförmige Linie von ungefähr zwei Metern Durchmesser. Wie der Deckel eines Einstiegschachts. Und nun sah er endlich auch ein Symbol. Er sah es staunend an, und schließlich mußte er es berühren. Diesmal erklang die Musik in seinem Kopf lauter, wie ein resignierter Protest oder eine resignierte Warnung- eine Warnung, sich von diesem Ding zurückzuziehen, bevor sein Schutz endgültig zusammenbrach. Aber er mußte es berühren, es bestätigen.

Während er mit den Fingern über dieses beinahe chinesisch anmutende Symbol strich, dachte er: Ein Wesen, das unter einer anderen Sonne lebte, hat sich dieses Zeichen ausgedacht. Was bedeutet es? ZUTRITT VERBOTEN? WIR KAMEN IN FRIEDEN? Oder ist es vielleicht ein Pestsymbol, eine außerirdische Version von LASST ALLE HOFFNUNGFAHREN, DIEIHRHIER EINTRETET?

Es war ins Metall des Schiffes eingeprägt wie ein Relief. Es nur zu berühren, erfüllte ihn mit einem abergläubischen Grausen, wie er es noch niemals vorher verspürt hatte; vor sechs Wochen hätte er noch gelacht, wenn ihm jemand gesagt hätte, daß er einmal so empfinden würde - wie ein Höhlenmensch, der eine Sonnenfinsternis beobachtet, oder ein mittelalterlicher Bauer, der den Kometen herannahen sieht, der einmal als Halleyscher Komet bekannt werden sollte.

Ein Wesen, das unter einer anderen Sonne lebte, hat sich dieses Zeichen ausgedacht. Ich, James Eric Gardener, geboren in Portland, Maine, Vereinigte Staaten von Amerika, Westliche Hemisphäre der Welt, berühre ein Symbol, das von Gott weiß für einem Wesen jenseits einer schwarzen Entfernung von Lichtjahren erfunden und gemacht worden ist. Mein Gott, mein Gott, ich berühre einen völlig anderen Verstand!

Natürlich hatte er schon einige Zeit den Verstand anderer berührt, aber das war nicht dasselbe - ganz und gar nicht dasselbe.

Gehen wir wirklich hinein? Er merkte, daß seine Nase wieder blutete, aber nicht einmal das konnte ihn bewegen, die Hand von diesem Symbol wegzunehmen; er strich mit den Fingerkuppen unablässig über die glatte, unergründliche Oberfläche.

Präziser, wirst du versuchen, hineinzugehen? Wirst du das tun,

obwohl du weißt, daß es dich möglicherweise - wahrscheinlich - umbringen wird? Jedesmal, wenn du dieses Ding berührst, bekommst du einen Schlag; was wird passieren, wenn du närrisch genug bist, es zu betreten? Wahrscheinlich wird es eine harmonische Schwingung in deiner verdammten Schädelplatte auslösen, die deinen Kopf auseinanderreißen wird wie ein Dynamitstab eine _ faule Rübe.

Für einen Mann, der vor noch gar nicht langer Zeit im Begriff war, Selbstmord zu begehen, machst du dir ziemliche Sorgen um dein Wohlergehen, f findest du nicht auch, Freund? dachte er und mußte unwillkürlich grinsen. Er zog die Finger von der Form des Symbols weg und schüttelte sie abwesend, um das Kribbeln loszuwerden, wie ein Mann, der einen gewaltigen Rotzklumpen wegschnippt. Geh trotzdem rein. Scheiß drauf, wenn du sowieso abtreten willst, dann ist es doch immerhin exotischer als alles andere, wenn einem im Inneren einer_ fliegenden Untertasse der Kopf zu Tode vibriert wird.

Gard lachte laut. Auf dem Grund dieser tiefen Kluft in der Erde war es ein seltsames Geräusch.

»Was ist denn so komisch?« fragte Bobbi leise. »Was ist denn so komisch, Gard?«

Gardener sagte lachend: »Alles. Das hier - und noch etwas. Ich glaube, entweder man lacht, oder man wird verrückt. Kapiert?«

Bobbi sah ihn an und kapierte offensichtlich nicht, und Gardener dachte: Natürlich kapiert sie nicht. Bobbi sitzt in der anderen Möglichkeit f fest. Sie kann nicht lachen, weil sie verrückt geworden ist.

Gardener lachte schallend, bis ihm Tränen an den Wangen herunterliefen, und einige dieser Tränen waren blutig, aber das bemerkte er nicht. Bobbi bemerkte es, aber sie machte sich nicht die Mühe, es ihm zu sagen.

4

Sie brauchten weitere zwei Stunden, um die Luke ganz freizulegen. Als sie fertig waren, streckte Bobbi eine schmutzige, Make-upverschmierte Hand in Gardeners Richtung.

»Was?« fragte Gardener und schüttelte sie.

»Das war's«, sagte Bobbi. »Wir sind mit der Ausgrabung fertig. Es ist geschafft, Gard.«

»Ja?«

»Ja. Morgen gehen wir ins Innere, Gard.«

Gard sah sie an, ohne etwas zu sagen. Sein Mund war trocken.

»Ja«, sagte Bobbi und nickte, als hätte Gardener es angezweifelt. »Morgen gehen wir hinein. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte ich dies vor einer Million Jahren angefangen. Manchmal, als wäre es gestern gewesen. Ich bin darüber gestolpert, ich habe es gesehen, ich strich mit dem Finger darüber und blies die Erde weg. Das war der Anfang. Ein Finger, der durch Erdboden strich. Und dies ist das Ende.«

»Zu Anfang war es auch eine andere Bobbi.«

»Ja«, sagte Bobbi nachdenklich. Sie sah auf, und in ihren Augen funkelte ein versunkener Funke Humor. »Aber auch ein anderer Gard.«

»Ja. Ja, ich glaube, du weißt, daß es mich wahrscheinlich umbringen wird, da hineinzugehen, aber ich werde es dennoch versuchen.«

»Es wird dich nicht umbringen.«

»Nein?«

»Nein. Und jetzt laß uns von hier verschwinden. Ich habe noch eine Menge zu erledigen. Ich werde heute nacht im Schuppen sein.«

Gardener sah Bobbi durchdringend an, aber Bobbi schaute nach oben, von wo die motorisierte Schlinge an ihren Kabeln herunterkam.

»Ich habe verschiedene Dinge dort drinnen gebaut«, sagte Bobbi. Ihre Stimme war verträumt. »Ich und ein paar andere. Wir haben Vorbereitungen für morgen getroffen.«

»Sie werden heute nacht zu dir kommen«, sagte Gardener. Es war keine Frage.

»Ja. Aber zuerst muß ich sie hierher bringen, damit sie sich die Luke ansehen. Sie - sie haben auch auf diesen Tag gewartet, Gard.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Gard.

Die Schlinge war unten. Bobbi drehte sich um und sah Gardener mit zusammengekniffenen Augen an. »Was soll das heißen, Gard?«

»Nichts. Überhaupt nichts.«

Ihre Blicke begegneten sich. Gardener konnte jetzt deutlich fühlen, wie sie an seinem Verstand arbeitete und versuchte, sich hineinzugraben, und wieder empfand er sein geheimes Wissen wie ein sich drehendes, gefährliches Juwel.

Er dachte ganz bewußt:

Verschwinde aus meinem Verstand, Bobbi, du hast hier nichts zu suchen.

Bobbi zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden - aber ihr Gesicht sah auch ein wenig beschämt aus, als hätte Gard sie dabei erwischt, wie sie spionierte, wo sie nichts verloren hatte. Also hatte sie doch noch etwas Menschliches in sich. Das war tröstlich.

»Bring sie nur hierher«, sagte Gard. »Aber wenn es ans öffnen geht, Bobbi, dann sind nur wir beide hier. Wir haben das Miststückausgegra-ben, und wir werden das Miststück auch als erste betreten. Okay?«

»Ja«, sagte Bobbi. »Wir gehen als erste hinein. Wir beide. Keine Blaskapelle, keine Parade.«

»Und keine Polizei von Dallas.«

Bobbi lächelte ein wenig. »Die auch nicht.« Sie hielt ihm die Schlinge hin. »Möchtest du als erster hoch?« »Nein, geh du. Es sieht so aus, als läge die eigentliche Arbeit noch vor dir.«

»So ist es.« Bobbi trat auf die Schlinge, drückte einen Knopf und wurde nach oben gezogen. »Nochmals danke, Gard.«

»Gern geschehen«, sagte Gardener und neigte den Kopf, um Bobbis Weg nach oben zu verfolgen.

»Dies alles wird dir besser gefallen...«

(wenn du »geworden« bist, wenn dein eigenes »Werden« beendet ist) Bobbi wurde nach oben gezogen und war bald nicht mehr zu sehen.

Viertes Kapitel

Der Schuppen

Es war der 14. August. Eine rasche Berechnung sagte Gardener, daß er seit einundvierzig Tagen bei Bobbi war - fast exakt ein biblischer Zeitraum der Verwirrung oder eine unbekannte Zeitspanne, wie in »Er wanderte vierzig Tage und vierzig Nächte durch die Wüste.« Es schien länger zu sein. So lang wie sein ganzes Leben.

Er und Bobbi knabberten nur an der tiefgefrorenen Pizza, die Gardener zum Abendessen heißgemacht hatte.

»Ich glaube, ich möchte ein Bier«, sagte Bobbi und ging zum Kühlschrank. »Was ist mit dir? Auch eines, Gard?«

»Danke, ich passe.«

Bobbi zog die Brauen hoch, sagte aber nichts. Sie holte sich das Bier und ging auf die Veranda hinaus, und Gardener hörte ihren alten Schaukelstuhl behaglich knacken, als sie sich darauf niederließ. Nach einer Weile ließ er sich ein Glas kaltes Wasser aus dem Hahn ein, ging hinaus und setzte sich neben Bobbi. Sie saßen lange Zeit so da, sprachen nicht und sahen nur in die dunstige Stille des frühen Abends hinaus.

»Es ist schon ziemlich lange her, seit wir uns kennengelernt haben, Bobbi.«

»Ja. Sehr lange. Und es ist ein seltsames Ende.«

»Ist es das?« fragte Gardener und drehte seinen Stuhl so, daß er Bobbi ansehen konnte. »Das Ende?«

Bobbi zuckte leichthin die Achseln. Ihr Blick wandte sich von dem Gardeners ab. »Du weißt schon. Das Ende einer Phase. Wie klingt das? Besser?«

»Wenn es le mot juste ist, dann ist es nicht besser, nicht einmal das Beste - nur das einzige mot, das von Bedeutung ist. Habe ich dir das nicht beigebracht?«

Bobbi lachte. »Doch. In der ersten verdammten Vorlesung. Mad Dogs... Engländer... und Englischlehrer.«

»Ja«

»Ja.«

Bobbi trank von ihrem Bier und sah wieder zur Old Derry Road hinaus. Sie wartete ungeduldig auf ihre Ankunft, vermutete Gardener.

Wenn sie beide wirklich alles gesagt hatten, was es nach all den Jahren noch zu sagen gab, dann wünschte er sich fast, er wäre niemals dem Impuls gefolgt, hierher zurückzukehren, einerlei aus welchen Gründen oder zu welchem Ende. Ein so klägliches Ende für eine Beziehung, die zu ihrer Zeit Liebe, Sex, Freundschaft, eine Periode nervöser detente, Fürsorge und sogar Angst umfaßt hatte, schien alles zu verhöhnen - das Leid, den Schmerz, die Anstrengungen.

»Ich habe dich immer geliebt, Gard«, sagte Bobbi leise und nachdenklich, sah ihn aber nicht an. »Und einerlei, wie dies hier ausgeht, vergiß niemals, daß ich es immer noch tue.« Jetzt sah sie Gardener an, ihr Gesicht war die seltsame Parodie eines Gesichts unter der dicken Schminke - dies war doch nichts als ein hoffnungslos wunderliches Geschöpf, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Bobbi hatte. »Und ich hoffe, du vergißt nicht, daß ich niemals darum gebeten habe, über dieses verdammte Ding zu stolpern. Freier Wille war hierbei kein Faktor, wie der eine oder andere Klugscheißer sicher gesagt haben wird.«

»Aber du hast dich entschieden, es auszugraben«, sagte Gardener. Seine Stimme war so leise wie die von Bobbi, aber er spürte, wie sich neues Entsetzen in sein Herz schlich. War diese Bemerkung eine fürsorgliche Entschuldigung für den bevorstehenden Mord an ihm?

Hör auf, Gard. Hör auf, vor Schatten zu erschrecken.

Ist das am Ende der Nista Road vergrabene Auto ein Schatten? gab sein Verstand sofort zurück.

Bobbi lachte leise. »Gard, die Vorstellung, daß es überhaupt eine Funktion des freien Willens sein könnte, dieses Ding auszugraben oder nicht... das könntest du vielleicht einem Frischling in einer HighSchool-Diskussion verkaufen. Aber wir sitzen hier auf der Veranda, Gard. Du glaubst doch nicht wirklich, daß sich jemand entscheidet, so etwas zu tun, oder? Glaubst du, die Menschen könnten sich entscheiden, irgendein Wissen zu vergessen, wenn sie einmal einen Zipfel davon gesehen haben?«

»Auf dieser Basis habe ich gegen Kernkraftwerke gekämpft, ja«, sagte Gard langsam.

Bobbi winkte ab. »Eine Gesellschaft könnte sich entscheiden, Vorstellungen nicht in die Tat umzusetzen - ich bezweifle selbst das, aber nehmen wir es um der Diskussion willen einmal an-, aber gewöhnliche Menschen? Nein, Gard, tut mir leid. Wenn gewöhnliche Menschen etwas aus dem Boden ragen sehen, dann werden sie es ausgraben. Sie müssen es ausgraben, denn es könnte ja ein Schatz sein.«

»Und du hattest nicht die leiseste Ahnung, daß es...« Fallout fiel ihm ein. Er glaubte nicht, daß Bobbi dieses Wort gefallen würde. »... Konsequenzen haben könnte?«

Bobbi lächelte offen. »Nicht die leiseste Ahnung.«

»Aber Peter mochte es nicht.«

»Nein. Peter mochte es nicht. Aber es hat ihn nicht umgebracht, Gard.«

Dessen bin ich ziemlich sicher.

»Peter starb eines natürlichen Todes. Er war alt. Dieses Ding im Wald ist ein Schiff aus einer anderen Welt. Nicht die Büchse der Pandora und kein göttlicher Apfelbaum. Ich habe keine Stimme vom Himmel herabsingen gehört: Aber von diesem Schiffe sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.«

Gardener lächelte ein wenig. »Aber es ist das Schiff der Erkenntnis, nicht?«

»Ja, ich glaube schon.«

Bobbi sah wieder zur Straße, sie wollte dieses Thema offensichtlich nicht weiter verfolgen.

»Wann erwartest du sie?« fragte Gardener.

Anstatt zu antworten, nickte Bobbi zur Straße. Kyle Archinbourgs Caddy kam, gefolgt von Adley McKeens altem Ford.

»Ich glaube, ich werde hineingehen und mich hinlegen«, sagte Gardener und stand auf.

»Wenn du mit uns zum Schiff kommen möchtest, bist du herzlich eingeladen.«

»Mit dir vielleicht. Aber mit ihnen?« Er deutete mit dem Daumen auf die näherkommenden Autos. »Sie halten mich für verrückt. Außerdem hassen sie mich, weil sie meine Gedanken nicht lesen können.«

»Wenn ich sage, du gehst mit, dann gehst du mit.«

»Nun, ich glaube, ich passe«, sagte Gardener, richtete sich auf und kratzte sich. »Außerdem kann ich sie nicht leiden. Sie machen mich nervös.«

»Tutmirleid«

»Muß es nicht. Aber... morgen. Nur wir beide, Bobbi. Richtig?«

»Richtig.«

»Bestell ihnen schöne Grüße. Und erinnere sie daran, daß ich mitgeholfen habe, Stahlplatte im Schädel odernicht.«

»Das werde ich. Selbstverständlich werde ich das.« Aber Bobbi wandte den Blick wieder ab, und das gefiel Gardener nicht. Das gefiel ihm überhaupt nicht.

2

Er dachte, sie würden zuerst in den Schuppen gehen, aber das taten sie nicht. Sie standen eine Weile davor und unterhielten sich - Bobbi, Frank, Newt, Dick Allison, Hazel, die anderen-, dann gingen sie als geschlossene Gruppe in den Wald. Das Licht wurde allmählich zu Purpur, die meisten hatten eine Taschenlampe bei sich.

Während er ihnen nachsah, hatte Gardener das Gefühl, daß sein letzter Augenblick mit Bobbi gekommen und gegangen war. Es blieb ihm nichts mehr zu tun, als in den Schuppen zu gehen und nachzusehen, was darin war. Und einen Entschluß zu fassen, einen endgültigen.

Saw an eyeball peeping through a smoky cloud behind the green. door...

Er stand auf und ging durch das Haus in die Küche, wo er gerade noch sah, wie sie durch Bobbis verwilderten Garten gingen. Er zählte sie rasch noch einmal und vergewisserte sich, daß sie alle dabei waren, dann ging er in den Keller. Dort unten bewahrte Bobbi einen Ring mit Ersatzschlüsseln auf.

Er machte die Kellertür auf und hielt ein letztes Mal inne.

Willst du das wirklich tun?

Nein; nein, das wollte er nicht. Aber er würde es tun. Und er stellte fest, daß er mehr als Angst ein allumfassendes Gefühl der Einsamkeit empfand. Es gab buchstäblich niemanden, ai den er sich um Hilfe wenden konnte. Er war vierzig Tage und vierzig Nächte mit Bobbi in der Wüste gewesen, und jetzt war er allein in der Wüste. Gott stehe ihm bei.

Zum Teufel damit, dachte er. Wie der alte Kompaniefeldwebel im Ersten Weltkrieg gesagt haben sollte: Kommt schon, Jungs, wollt ihr ewig leben?

Gardener ging nach unten und holte Bobbis Schlüsselring.

3

Dort war er, er hing an einem Nagel, und jeder Schlüssel war ordentlich beschriftet. Das Problem war nur, daß der Schuppenschlüssel fehlte. Er war hier gewesen; dessen war er ganz sicher. Wann hatte er ihn zuletzt hier gesehen? Gard versuchte sich zu erinnern, konnte es aber nicht. Eine Vorsichtsmaßnahme von Bobbi? Vielleicht.

Er stand in der Neuen und Verbesserten Werkstatt und hatte Schweiß auf der Stirn. Kein Schlüssel. Das war großartig. Was sollte er jetzt machen? Bobbis Axt nehmen und vorgehen wie Jack Nicholson in Shining? Er sah es richtiggehend vor sich. Knirsch, krach, polter: Hiiii-eer ist GARDENER! Aber das würde vielleicht ein wenig schwer zu vertuschen sein, bevor die Pilger von ihrem Ausflug zur heiligen Luke zurückkamen.

Er stand in Bobbis Werkstatt und spürte, wie ihm die Zeit davonlief, fühlte sich alt und unverbessert. Wie lange würden sie überhaupt dort draußen sein? Konnte man unmöglich sagen, nicht? Unmöglich.

Okay, wo verstecken die Leute _ für gewöhnlich Schlüssel? Immer unter der Annahme, daß sie wirklich nur Vorsichtsmaßnahmen traf und ihn nicht vor dir verstecken wollte.

Dann kam ihm ein Gedanke so heftig, daß er sich tatsächlich gegen die Stirn schlug. Bobbi hatte den Schlüssel nicht genommen. Und es hatte auch niemand versucht, ihn zu verstecken. Der Schlüssel war verschwunden, als Bobbi angeblich im Derry Hörne Hospital gewesen war und sich von einem Hitzschlag erholte. Er war sich dessen fast sicher, und was die Erinnerung nicht mehr herbeischaffen konnte, das lieferte dieLogik.

Bobbi war nicht im Derry Home gewesen; sie war im Schuppen gewesen. Hatte einer der anderen den Ersatzschlüssel genommen, um sich um Bobbi zu kümmern, wenn man sich um sie kümmern mußte? Hatten sie alle einen Nachschlüssel? Weshalb die Mühe? Heutzutage hatte niemand mehr in Haven etwas mit Stehlen am Hut, sie waren alle mit dem »Werden« beschäftigt. Der einzige Grund, weshalb der Schuppen verschlossen wurde, war, um ihn fernzuhalten. Sie könnten also nur..

Gardener erinnerte sich, wie sie eines Nachts angekommen waren, nachdem Bobbi dieses »Etwas« zugestoßen war... das »Etwas«, das viel ernster als nur ein Hitzschlag gewesen war.

Er machte die Augen zu und sah den Caddy vor sich. KYLE-i. Sie stiegen aus und...

... und Archinbourg entfernt sich einen Augenblick von den anderen. Du stützt dich auf einen Ellenbogen und beobachtest sie durch das Fenster, und wenn du überhaupt etwas gedacht hast, dann hast du gedacht, daß er eine Stange Wasser abstellt. Aber das hat er nicht getan. Er ist um den Schuppen herumgegangen, um den Schlüssel zu holen. Klar, das hat er getan. Er ist herumgegangen, um den Schlüssel zu holen.

Das war nicht viel, aber es reichte aus, ihn zu motivieren. Er rannte die Kellertreppe hinauf, stürzte zur Tür, dann kam er zurück. Im Badezimmer lag eine uralte Fester Grant-Sonnenbrille auf dem Medizinschränkchen - sie war mit der Endgültigkeit dort gelandet, wie es trivialen Gegenständen nur in den Haushalten alleinstehender Männer oder Frauen gelingt (wie das Make-up, das Newt Berringers Frau gehört hatte). Gardener holte die Sonnenbrille herunter, blies eine dicke Staubschicht von den Gläsern, wischte sie sorgfältig ab, dann faltete er die Bügel zusammen und steckte sie in die Brusttasche.

Er ging hinaus zum Schuppen.

4

Er blieb einen Augenblick vor derBrettertür mit dem Vorhängeschloß stehen und sah den Pfad entlang, der zur Grabungsstelle führte. Die Dämmerung war mittlerweile soweit fortgeschritten, daß der Wald

jenseits des Gartens eine blaugraue, einförmige Masse ohne Einzelheiten geworden war. Er sah keine wogende Linie heimkehrender Taschenlampen.

Aber sie könnten auftauchen. Jederzeit könnten sie auftauchen und dich mit der Hand ganz tief im Marmeladenglas erwischen.

Ich glaube, sie werden eine ganze Weile dort draußen bleiben und palavern.

Aber du weißt es nicht mit Sicherheit.

Nein. Nicht mit Sicherheit.

Gardener sah wieder zu der Brettertür. Zwischen den Brettern konnte er das grüne Leuchten sehen, und er hörte ein leises, unangenehmes Geräusch, wie von einer altmodischen Waschmaschine mit einem Bauch voll Wäsche und dicker Seifenlauge.

Nein - nicht nur eine Waschmaschine; eher wie eine ganze, nicht ganz synchrone Reihe von ihnen.

Das Licht pulsierte im Rhythmus der leisen, schlurpsenden Laute.

Ich möchte da nicht hineingehen.

Es roch. Selbst der Geruch, dachte Gardener, war leicht seifig, feucht und eine Spur ranzig. Alte Seife. Eingetrocknete Seife.

Aber es sind keine Waschmaschinen. Dieses Geräusch klingt lebendig. Dorf drinnen sind keine telepathischen Schreibmaschinen, keine Neuen und Verbesserten Boiler, dort drinnen ist etwas Lebendiges, und ich möchte nicht da hineingehen.

Aber er würde gehen. War er schließlich nicht von den Toten zurückgekehrt, nur um in Bobbis Schuppen zu sehen und die Tommyknockers an ihren kleinen Werkbänken zu erwischen? Er dachte schon.

Gard ging um den Schuppen herum zur Seitenwand. Dort hing der Schlüssel an einem rostigen Nagel unter dem Dachvorsprung. Er griff mit einer zitternden Hand nach oben und holte ihn herunter. Er versuchte zu schlucken. Zuerst konnte er es nicht. Seine Kehle fühlte sich... an, als wäre sie mit trockenem, warmem Flanell überzogen.

Ein Drink. Nur ein Drink. Ich gehe nur rasch ins Haus, um einen zu nehmen, einen ganz kleinen. Dann bin ich bereit.

Prima. Hörte sich großartig an. Aber er würde es nicht tun, und das wußte er. Das Trinken war vorbei. Ebenso das Hinauszögern. Gardener hielt den Schlüssel fest in seiner feuchten Hand und ging wieder zur Tür. Er dachte: Ich will nicht hinein, weiß nicht mal, ob ich's kann. Ich hab' solche Angst...

Hör auf. Dieser Teil soll auch vorüber sein. Deine Tommyknocker-Phase.

Er drehte sich noch einmal um und hoffte beinahe, die Taschenlampen aus dem Wald kommen zu sehen oder ihre Stimmen zu hören.

Aber das würdest du nicht, denn sie sprechen in ihren Köpfen.

Keine Taschenlampen. Keine Bewegungen. Keine Grillen. Kein Vo -gelzwitschern. Die einzigen Laute waren die Geräusche von Waschmaschinen, die Geräusche verstärkter, feuchter Herzschläge: slisscchh-slisscchh-slisscchh...

Gardener betrachtete das pulsierende grüne Licht, das sich seinen Weg zwischen den Brettern hindurch ertastete. Er griff in die Tasche, holte die Sonnenbrille heraus und setzte sie auf.

Es war lange her, seit er gebetet hatte, aber jetzt betete er. Es war kurz, aber dennoch ein Gebet.

»Bitte, lieber Gott«, sagte Jim Gardener in der Sommerdämmerung und steckte den Schlüssel ins Schloß.

5

Er rechnete mit einem Erdröhnen seines Kopfradios, aber es geschah nichts. Bis das ausblieb, hatte er gar nicht gemerkt, daß sein Magen verkrampft war wie der eines Mannes, der mit einem elektrischen Schlag rechnet.

Er leckte sich die Lippen und drehte den Schlüssel herum.

Ein leiser Laut, unter den schlurpsenden Lauten aus dem Schuppen kaum wahrnehmbar: - klick !-

Der Bügel sprang ein wenig aus dem Schloß. Er griff mit einem Arm danach, der sich wie Blei anfühlte. Er zog es heraus, drückte den Bügel wieder hinunter und steckte das Schloß in die Hosentasche, ohne den Schlüssel abzuziehen. Er kam sich vor wie ein Mann in einem Traum. Aber es war kein guter Traum.

Die Luft dort drinnen mußte gut sein - nun, vielleicht nicht gut; vielleicht war die ganze Luft über Haven nicht mehr gut. Aber sie war dieselbe wie die Luft draußen, dachte Gard, denn der Schuppen hatte eine Menge Ritzen. Wenn es so etwas wie eine reine Tommyknocker-Biosphäre gab, dann konnte sie nicht hier drinnen sein. Wenigstens glaubte er das nicht.

Dennoch wollte er so wenig Risiken wie möglich eingehen. Er atmete tief ein, hielt den Atem an und ermahnte sich, seine Schritte zu zählen: Drei. Du gehst nicht mehr als drei Schritte hinein, für alle Fälle. Einmal genau umsehen, und dann heraus. Auf schnellstem Wege.

Hoffst du.

]a, das hoffe ich.

Er sah ein letztes Mal den Pfad entlang, sah nichts, wandte sich wieder zum Schuppen und zog die Tür auf.

Das grüne Leuchten, das trotz der Sonnenbrille grell war, fiel wie verfaultes Sonnenlicht auf ihn.

6

Zuerst konnte er überhaupt nichts sehen. Das Licht war zu grell. Er wußte, bei verschiedenen Anlässen war es noch heller gewesen, aber er war ihm noch nie so nahe gewesen. Nahe? Großer Gott, er war darin. Wenn jemand vor der Tür stand und hereinschaute, hätte er ihn kaum sehen können.

Er kniff die Augen wegen des grellen Leuchtens zu schmalen Schlitzen zusammen und schlurfte einen Schritt vorwärts... dann noch einen... dann den dritten. Er hatte die Hände vor sich ausgestreckt wie ein tastender Blinder. Aber das war er ja auch; Scheiße, er hatte sogar die dunkle Brille, um es zu beweisen.

Das Geräusch war jetzt lauter. Slisscchh-slisscchh-slisscchh ... links von ihm. Er drehte sich in diese Richtung, ging aber nicht weiter. Er hatte Angst davor, weiter zu gehen, Angst vor dem, was er vielleicht berühren würde.

Jetzt gewöhnten sich seine Augen allmählich daran. Er sah dunkle Schemen in dem Grün. Eine Werkbank... aber keine Tommyknockers, die daran arbeiteten; sie war einfach an die Wand geschoben worden, aus dem Weg. Und...

Mein Gott, es ist eine Waschmaschine! Wahrhaftig!

Es war tatsächlich eine, von der altmodischen Art, mit einer Wringrolle darauf, aber sie erzeugte dieses unheimliche Geräusch nicht. Auch sie war an die Wand geschoben worden. Sie befand sich ebenfalls im Stadium des Umbaus; jemand arbeitete in bester Tommyknocker-Ma-nier daran, aber sie war augenblicklich nicht in Betrieb.

Daneben stand ein Electrolux-Staubsauger... einer von den alten, die dicht über dem Boden auf Rädern liefen, wie ein mechanis cher Dackel. Eine auf Räder montierte Motorsäge. Stapelweise Rauchdetektoren vom Radio Shack, die meisten noch in den Kartons. Eine Anzahl von Kerosinfässern, ebenfalls auf Rädern, an denen Schläuche und Dinge befestigt waren, die wie Arme aussahen...

Arme, das sind sie natürlich auch, es sind Roboter, verdammte im Bau befindliche Roboter, und keiner sieht wie die weiße Friedenstaube aus, nicht wahr, Gard? Und...

Slisscchh-slisscchh-slisscchh.

Weiter links. Dort war der Ursprung des Leuchtens.

Gard hörte, wie er ein komisches, schmerzerfülltes Geräusch von sich gab. Der Atem, den er angehalten hatte, strömte aus ihm hinaus wie Luft aus einem aufgeblasenen Ballon. Auf genau dieselbe Weise schwand die Kraft aus seinen Beinen. Er tastete blind um sich, seine Hand fand die Werkbank, und er setzte sich nicht, sondern fiel buchstäblich darauf. Er konnte den Blick nicht von der linken Ecke des Schuppens abwenden, wo Ev Hillman, Anne Anderson und Bobbis guter alter Beagle Peter irgend-

wie an Pfosten in zwei alten emaillierten Duschkabinen aufgehängt worden waren, von denen man die Türen entfernt hatte. Sie hingen da wie Rinderhälften an Fleischhaken. Aber sie lebten, das sah Gard -irgendwie waren sie noch am Leben.

Eine dicke schwarze Schnur, die wie eine Starkstromleitung oder ein sehr starkes Koaxialkabel aussah, kam aus Anne Andersons Stirn. Ein ähnliches Kabel kam aus dem rechten Auge des alten Mannes. Dem Hund war fast die ganze Schädeldecke entfernt worden; Dutzende kleinere Kabel kamen aus Peters freiliegendem, pulsierendem Gehirn.

Peters Augen, ohne grauen Star, sahen Gard an. Er winselte.

Gott... oh mein Gott... oh mein gütiger Gott.

Er versuchte, von der Bank aufzustehen. Er konnte es nicht.

Jetzt sah er, daß die Schädeldecken von Anne und dem alten Mann ebenfalls teilweise entfernt worden waren. Von den Duschkabinen hatten sie die Türen abgerissen, aber sie waren dennoch mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt - er vermutete, daß sie auf dieselbe Weise gehalten wurde wie die winzige Sonne in Bobbis Boiler. Wenn er versuchte, in eine dieser Kabinen zu gelangen, würde er zähen Widerstand spüren, jede Menge Nachgiebigkeit, aber keinen Einlaß.

Hinein? Ich möchte nur hinaus!

Dann kehrte sein Verstand zu seinem soeben getanen Ausruf zurück:

Gott... oh mein Gott... oh mein Gott, sieh sie dir an...

Ich will sie mir nicht ansehen.

Nein. Aber er konnte den Blick nicht abwenden.

Die Flüssigkeit war klar, aber smaragdgrün. Sie war in Bewegung -daher die leisen, seifigen Geräusche. Trotz ihrer Klarheit, dachte Gardener, mußte die Flüssigkeit wirklich sehr zäh sein, wahrscheinlich hatte sie die Konsistenz von Geschirrspülmittel.

Wie können sie da drinnen atmen? Wie können sie noch am Leben sein? Vielleicht sind sie es gar nicht; vielleicht erweckt nur die Bewegung der Flüssigkeit diesen Eindruck. Vielleicht ist es nur eine Illusion, lieber Gott, bitte laß es nur eine Illusion sein.

Peter ...du hast ihn winseln gehört...

Nein. Teil der Illusion. Das ist alles. Er hängt an einem Haken in einer Duschkabine, die mit dem interstellaren Äquivalent von ]oy-Geschirr-spülmittel gefüllt ist, darin könnte er gar nicht winseln, es würden nur Seifenblasen dabei herauskommen, und du _ flippst ganz einfach aus. Genau das ist es, nur ein kleiner Besuch von König Ausflipp.

Aber er flippte nicht aus, das wußte er. Ebenso wie er wußte, daß er Peter nicht mit den Ohren winseln gehört hatte.

Das verletzte, hilflose Winseln war von derselben Stelle gekommen, von der die Radiomusik kam: mitten aus seinem Gehirn.

Anne Andersen schlug die Augen auf.

Hol mich hier raus! kreischte sie. Hol mich hier raus, ich werde sie in

Ruhe lassen, ich kann überhaupt nichts spüren, nur wenn sie mir weh tun mir weh tun mir weeeeeeh tun ..,

Gardener versuchte noch einmal aufzustehen. Er war sich kaum bewußt, daß er ein Geräusch von sich gab. Irgendein Geräusch. Das Geräusch, das er von sich gab, war wahrscheinlich so ähnlich wie das, dachte er, das ein Waldmurmeltier von sich gab, wenn es auf der Straße von einem Lastwagen überfahren wurde.

Die grünliche, träge Flüssigkeit verlieh Sissys Gesicht ein fahles, leichenhaftes Aussehen. Das Blau ihrer Augen war verblichen. Ihre Zunge schwamm wie eine sukkulente Meerespflanze. Ihre runzligen und aufgequollenen Finger schwebten.

Ich kann überhaupt nichts spüren, nur wenn sie mir weeeeeeh tun! wimmerte Anne, und er konnte ihre Stimme nicht abschalten, konnte sich nicht die Finger in die Ohren stecken, damit sie aufhörte, denn diese Stimme kam direkt aus seinem Kopf.

Slisscchh-slisscchh-slisscchh.

Kupferrohre verliefen in die Decken der Duschkabinen, so daß sie aussahen wie eine lächerliche Mischung von Bück Rogers-Tiefschlafkammern und Li'l Abner-Mondschein-Destillen.

Peters Fell war an manchen Stellen völlig kahl. Sein Hinterteil schien in sich zusammenzufallen. Er bewegte die Beine mit langen, langsamen Bewegungen durch die Flüssigkeit, als versuchte er in seinen Träumen wegzulaufen.

Wenn sie mir weeeeeh tun.

Der alte Mann schlug sein eines Auge auf.

Der ]unge.

Sein Gedanke war über jeden Zweifel hinaus deutlich. Gardener stellte fest, daß er drauf antwortete.

WelcherJunge?

Die Antwort erfolgte auf der Stelle, zunächst verblüffend, dann unzweifelhaft.

David. David Brown.

Das Auge sah ihn an, ein unergründlicher Saphir mit Smaragdtönen.

Retten Sie den Jungen.

Der Junge. David. David Brown. Hatte er irgend etwas hiermit zu tun, der Junge, nach dem sie so viele heiße Tage lang gesucht hatten? Selbstverständlich. Vielleicht nicht direkt, aber er war ein Teil davon.

Wo ist er? dachte Gardener zu dem Mann, der in seiner blaßgrünen Flüssigkeit schwamm.

Slisscchh-slisscchh-slisscchh.

Altair-4, antwortete der alte Mann schließlich. David ist auf Altair-4. Retten Sie ihn ... und dann töten Sie uns. Dies ist ...es ist schlimm. Wirklich schlimm. Wir können nicht sterben. Ich habe es versucht. Wir alle. Sogar

(Miststückmiststück)

sie. Dies ist die Hölle. Benutzen Sie den Transformator, um David zu retten. Dann ziehen Sie den Stecker heraus. Kappen Sie die Kabel. Brennen Sie alles nieder.

Gardener versuchte zum dritten Mal aufzustehen und sank kraftlos auf die Bank zurück. Er bemerkte, daß überall auf dem Boden dicke Stromkabel lagen, und das rief ihm die geisterhafte Erinnerung an die Band ins Gedächtnis, die ihn auf der Autobahn mitgenommen hatte, als er von New Hampshire zurückgekehrt war. Er rätselte darüber, dann entdeckte er den Zusammenhang. Der Boden sah aus wie eine Bühne kurz vor dem Beginn eines Rockkonzertes. Das oder ein großes Fernsehstudio. Die Kabel schlängelten sich in eine große Kiste voller Schalttafeln und einem Stapel Videorecordern. Sie waren miteinander verbunden. Er suchte nach einem Wechselstromkonverter, sah keinen und dachte dann: Natürlich nicht, Idiot. Batterien liefern Gleichstrom.

Die Videorecorder waren mit einer Mischung von Heimcomputern verbunden - Atari, Apple II und III, TRS-8o, Commodore. Auf einem

Bildschirm leuchtete ein Wort blinkend auf:

PROGRAMM?

Hinter den umgebauten Computern waren weitere Schalttafeln -Hunderte. Das Ganze gab ein tiefes, schläfriges Summen von sich -ein

Geräusch, das er mit

(benutzen Sie den Transformator)

großer elektrischer Ausrüstung assoziierte.

Licht strahlte aus der Kiste und den wahllos daneben aufgestapelten Computern, eine grüne Flut - aber das Licht war nicht konstant. Es war zyklisch. Das Pulsieren des Lichts und sein Zusammenhang mit den Schlurpslauten aus den Duschkabinen war eindeutig.

Das ist das Zentrum, dachte er mit der schwachen Erregung eines Kranken. Das ist die Nebenstelle des Schiffs. Sie kommen in den Schuppen, um dies zu benutzen. Es ist ein Transformator, und von ihm bekommen sie ihre Energie.

Benutzen Sie den Transformator, um David zu retten.

Ebensogut könnte man von mir verlangen, die Air Force One zu fliegen Bitte mich doch um etwas Leichteres, Väterchen. Wenn ich ihn von dort zurückbringen könnte, wo er ist, indem ich Mark Twain zitiere

- selbst Poe-, würde ich es versuchen. Aber dieses Ding? Sieht wie nach einer Explosion in einem Elektronikkaufhaus aus.

Aber - der Junge.

Wie alt? Vier? Fünf?

Und wo hatten sie ihn in Gottes Namen hingebracht? Der Himmel war buchstäblich die Grenze.

Retten Sie den Jungen... benutzen Sie den Transformator.

Er hatte natürlich nicht die Zeit, sich das ganze Durcheinander ge-naueranzusehen. Die anderen würden zurückkommen. Dennoch starrte er den erleuchteten Bildschirm mit hypnotischer Eindringlichkeit an.

PROGRAMM?

Was wäre, wenn ich jetzt Altair-q eintippte? überlegte er und sah, daß es überhaupt keine Tastatur gab; im selben Augenblick veränderten sich

die Buchstaben auf dem Bildschirm.

ALTAIR-4

stand jetzt dort zu lesen.

Nein! schrie sein Verstand auf, vom Schuldgefühl des Eindringlings

erfüllt. Nein, Christus, nein!

Die Buchstaben veränderten sich.

NEINCHRISTUSNEIN

Gardener dachte schwitzend: Löschen! Löschen!

LÖSCHENLÖSCHEN

Diese Buchstaben blinkten immerzu... blinkten. Gardener starrte sie entsetzt an. Dann:

PROGRAMM?

Er strengte sich an, um seine Gedanken abzuschirmen, und versuchte erneut, auf die Beine zu kommen. Diesmal gelang es ihm. Aus dem Transformator kamen noch andere Kabel. Sie waren dünner. Es waren ... Er zählte. Ja. Acht. Sie endeten in Kopfhörern.

Kopfhörer. Freeman Moss. Der Dompteur, der mechanische Elefanten geführt hatte. Hier waren auch wieder Kopfhörer. Auf eine verrückte Weise erinnerten sie ihn an das Sprachlabor einer High School. Lernen sie hier drinnen eine andere Sprache?

Ja. Nein. Sie lernen zu »werden«. Die Maschine bringt es ihnen bei. Aber wo sind die Batterien? Ich sehe keine. Es sollten zehn oder zwölf große alte Dekos mit diesem Ding verbunden sein. Nur der Betriebsström, den es braucht. Es sollten...

Er sah verblüfft wieder zu den Duschkabinen.

Er betrachtete die Koaxialkabel, die aus der Stirn der Frau und dem Auge des alten Mannes kamen. Er sah, wie Peters Beine sich mit diesen ausholenden, traumähnlichen Schritten bewegten, und fragte sich, wie Bobbi Hundehaare auf ihr Kleid hatte bekommen können - hatte sie bei Peter das Äquivalent eines interstellaren Ölwechsels vorgenommen? War sie vielleicht von einer schlichten menschlichen Regung überkommen worden? Liebe? Reue? Schuld? Hatte sie ihren Hund vielleicht umarmt, bevor sie die Kabine wieder mit Flüssigkeit gefüllt hatte?

Das sind die Batterien. Organische Delcos und Evereadys, könnte man sagen. Sie saugen sie trocken. Saugen sie aus wie Vampire.

Ein neues Gefühl mischte sich in seine Angst, seine Bestürzung und seinen Ekel. Es war Wut, und Gardener hieß sie willkommen.

Sie tun weeeeeh... tun weeeeh... tun weeeh...

Ihre Stimme brach unvermittelt ab. Das dumpfe Summen des Transformators veränderte sich, es wurde noch tiefer. Das Licht aus der Kiste wurde etwas schwächer. Er dachte, daß sie bewußtlos geworden war und damit die Wirkung der Maschine um x... was? Volt? Dyn? Ohm? gesenkt hatte. Wer, zum Teufel, konnte das wissen?

Machen Sie ein Ende, ]unge. Retten Sie meinen Enkel, und machen Sie dann ein Ende.

Einen Augenblick erfüllte die Stimme des alten Mannes seinen Kopf laut und deutlich. Dann verstummte sie. Das Auge des alten Mannes fiel zu. Das grüne Licht der Maschine wurde noch blasser.

Sie sind aufgewacht, als ich hereinkam, dachte er fieberhaft. Die Wut pochte und bohrte immer noch in seinem Verstand. Er spuckte einen Zahn aus, fast ohne es zu bemerken. Selbst Peter ist ein wenig aufgewacht. Und_ jetzt sinken sie wieder in den Zustand, in dem sie gewesen sind... Schlafen sie? Nein, kein Schlaf. Etwas anderes. Organisches Stromsparen.

Träumen Batterien von elektrischen Schafen? dachte er und stieß ein brüchiges Kichern aus.

Er wich zurück, weg von dem Transformator,

(was genau wandelt er eigentlich um? wie? warum?)

weg von den Duschkabinen und den Kabeln. Sein Blick richtete sich auf die Gerätschaften an der hinteren Wand. Auf die Waschmaschine war etwas montiert, das wie die Bumerang-Fernsehantennen aussah, die man manchmal auf großen Limousinen sah. Hinter der Waschmaschine und etwas links davon befand sich eine altmodische Nähmaschine, auf die ein Glastrichter montiert war. Kerosinkanister mit Schläuchen und Stahlarmen... er sah jetzt, daß ans Ende eines solchen Armes ein Fleischermesser geschweißt worden war.

Herrgott, was ist das alles? Welchen Zweck hat es?

Eine Stimme flüsterte: Vielleicht ist es ein Schutz, Gard. Falls die Polizei von Dallas doch_ früher als erwartet kommt. Das ist die Reservearmee der Tommyknockers - alte Waschmaschinen mit Fernsehantennen. Electrolux-Staubsauger, Motorsägen auf Rädern. Alles dran, alles drin, Baby.

Er merkte, wie seine Vernunft ins Wanken geriet. Sein Blick wurde immer wieder zu Peter gezogen. Zu Peter, dessen Schädeldecke entfernt worden war. Peter, der Drähte in dem hatte, was von seinem Kopf noch übrig war. Sein Gehirn sah wie ein blasses Kalbsbries mit einer Reihe von Hitzefühlern aus.

Peter, dessen Beine wie im Traum durch diese Flüssigkeit glitten, als wollte er weglaufen.

Bobbi, dachte er verzweifelt und wütend, wie konntest du Peter das antun? Herrgott! Die Menschen waren schlimm, furchtbar, aber das mit Peter war irgendwie noch schlimmer. Ein Fluch im Anschluß an eine Obszönität. Peter, dessen Beine sich bewegten, bewegten, als liefe er im Traum weg.

Batterien. Lebende Batterien.

Er stieß gegen etwas. Es gab ein dumpfes, metallisches Geräusch. Er drehte sich rum und sah eine weitere Duschkabine ohne Tür, mit Rostblüten an der Seite. Löcher waren in die Rückwand gebohrt worden. Durch diese führten Kabel, die nun schlaff herabhingen, mit großen Stahlsteckern an den Enden.

Für dich, Gard! kreischte sein Gehirn. Hier wird. für dich gezapft, wie es in dieser Bierwerbung heißt! Sie werden deinen Hinterkopf aufmachen, vielleicht schalten sie vorher das motorische Zentrum ab, damit du dich nicht mehr bewegen kannst,und dann bohren sie-bohren nach der Stelle, wo sie die Energie bekommen. Diese Kabine ist_ für dich, _ für dich allein... sie wartet schon! Mann! Dideldumm!

Er griff nach seinen Gedanken, die zu einer hysterischen Spirale wurden, und brachte sie unter Kontrolle. Nicht für ihn; jedenfalls nicht ursprünglich. Diese Kabine war bereits benutzt worden. Sie verströmte einen schwachen, seifigen Geruch. An den Innenwänden klebten Streifen getrockneten Gelees - die letzten Spuren der viskosen grünen Flüssigkeit. Sieht aus wie das Sperma des Zauberers von Oz, dachte er.

Glaubst du, daß Bobbi ihre Schwester in einer riesigen Samenbank schwimmen läßt?

Wieder gab er dieses unheimliche Kichern von sich. Er preßte den Handrücken auf den Mund, preßte fest zu, um es zu unterdrücken.

Er sah nach unten und erblickte ein Paar braune Halbschuhe, die neben der Duschkabine lagen. Er hob einen auf und sah Spritzer getrockneten Blutes darauf.

Von Bobbi. Ihre guten Schuhe. Ihre »Ausgeh«-Schuhe. Sie hat sie an dem Tag angehabt, als sie zur Beerdigung ging.

Der andere Schuh war ebenfalls blutig.

Gard sah hinter die Duschkabine und fand den Rest der Kleidung, die Bobbi an diesem Tag angehabt hatte.

Das Blut, das viele Blut.

Er wollte die Bluse nicht berühren, aber die Form darunter war zu deutlich. Er nahm so wenig er konnte zwischen die Fingerspitzen und hob sie von Bobbis gutem anthrazitgrauem Rock.

Unter der Bluse lag ein Revolver. Es war der größte und älteste Revolver, den Gardener je gesehen hatte, außer auf Bildern. Nach einem Augenblick hob er die Waffe auf und drehte die Trommel. Sie enthielt immer noch vier Patronen. Zwei Kammern waren leer. Gardener hätte jede Wette gehalten, daß eine der Kugeln Bobbi getroffen hatte.

Er ließ die Trommel wieder einrasten und schob den Revolver in seinen Gürtel. Sofort sprach eine Stimme in seinem Verstand: Auf Ihre Frau geschossen ... tolle Sache, was?

Vergiß es. Der Revolver konnte sich als nützlich erweisen.

Wenn sie _ feststellen, daß er_ fehlt, dann werden sie bei dir suchen, Gard. Ich dachte, darauf wärst du selbst schon gekommen.

Nein; er glaubte nicht, daß er sich darüber Sorgen machen mußte. Die veränderten Worte auf dem Bildschirm wären ihnen aufgefallen, aber diese Kleidungsstücke waren nicht mehr berührt worden, seit Bobbi sie ausgezogen hatte, oder seit sie sie ihr ausgezogen hatten, was wahrscheinlicher war.

Wenn sie hier hereinkommen, müssen sie so aufgekratzt sein, daß sie sich nicht mehr um Haushaltsangelegenheiten kümmern können, dachte er. Verdammt gut, daß es hier keine Fliegen gibt.

Er berührte wieder den Revolver. Diesmal blieb die Stimme in seinem Kopf stumm. Vielleicht war sie zu dem Ergebnis gekommen, daß es hier keine Ehefrauen gab, um derentwillen man sich Sorgen machen mußte.

Wenn du Bobbi erschienen mußt, wirst du es können?

Das war eine Frage, die er nicht beantworten konnte.

Slisscchh-slisscchh-slisscchh.

Wie lange waren Bobbi und ihre Kumpane schon fort? Er wußte es nicht; er hatte nicht die leiseste Ahnung. Hier hatte die Zeit keine Bedeutung; der alte Mann hatte recht. Dies war die Hölle. Reagierte Peter immer noch auf das Streicheln seiner seltsamen Herrin, wenn sie hier hereinkam ?

Sein Magen war kurz davor zu revoltieren.

Er mußte hinaus - auf der Stelle. Er fühlte sich wie ein Wesen im Märchen, Blaubarts Frau in dem geheimen Zimmer, Jack, der im Goldhaufen des Riesen wühlt. Sie würden ihn entdecken. Aber er hielt das steife, blutige Kleidungsstück vor sich, als wäre er erstarrt. Nicht wäre; er war erstarrt.

Wo ist Bobbi?

Sie hatte einen Hitzschlag.

Verdammt seltsamer Hitzschlag, der ihre Bluse mit Blut getränkt hatte. Gardener hatte ein morbides, krankhaftes Interesse an Schußwaffen und dem Schaden, den sie im menschlichen Körper anrichten konnten. Wenn mit dieser großen alten Waffe auf sie geschossen worden war, die er jetzt im Gürtel stecken hatte, dann hatte Bobbi eigentlich kein Recht mehr, am Leben zu sein - sie wäre wahrscheinlich selbst dann gestorben, wenn sie in Windeseile in ein Krankenhaus gebracht worden wäre, das sich auf die Notfallbehandlung von Schußwunden spezialisiert hatte.

Sie brachten mich her, da war ich kaputt, doch die Tommyknockers machten mich wieder gut.

Nicht für ihn. Die alte Duschkabine war nicht für ihn. Gardener hatte das Gefühl, daß man ihn auf endgültigere Weise loswerden wollte. Die Duschkabine war für Bobbi gewesen.

Sie hatten sie hier hereingebracht und... was?

Natürlich hatten sie sie mit Batterien verbunden. Nicht mit Anne, die war noch nicht da gewesen. Aber mit Peter... und Hillman.

Er ließ die Bluse fallen... dann zwang er sich, sie wieder aufzuheben und auf den Rock zu legen. Er wußte nicht, wieviel sie von der wirklichen Welt mitbekamen, wenn sie hier drinnen waren (nicht viel, vermutete er), aber er wollte kein zusätzliches Risiko eingehen.

Er betrachtete die Löcher in der Rückwand der Kabine, die baumelnden Kabel mit den Stahlsteckern an den Enden.

Das grüne Licht hatte wieder angefangen, schneller und heller zu pulsieren. Er drehte sich um. Annes Augen waren wieder offen. Ihr kurzes Haar schwamm um ihren Kopf herum. Er konnte immer noch diesen grenzenlosen Haß in ihren Augen sehen, jetzt verbunden mit Entsetzen und zunehmender Fremdheit.

Jetzt sah er Luftblasen. Sie schwebten in einem kurzen, breiten Strom von ihrem Mund empor.

Gedanken/Laute explodierten in seinem Kopf.

Sie schrie.

Gardener floh.

7

Wahres Entsetzen ist von allen Empfindungen diejenige, die den Körper am stärksten mitnimmt. Sie leert die Drüsen, leitet muskelverkramp -fende organische Drogen in den Blutkreislauf, beschleunigt den Herzschlag, laugt den Verstand aus. Jim Gardener taumelte auf Gummibeinen von Bobbi Andersons Schuppen weg, seine Augen quollen aus den Höhlen, sein Mund hing auf alberne Weise offen (die Zunge lag in einer Ecke wie etwas Totes), seine Eingeweide waren heiß und voll, sein Magen verkrampft.

Es fiel ihm schwer, an etwas anderes zu denken als an die grausamen Bilder, die in seinem Verstand an und aus gingen wie das Neonschild einer Bar. Die Körper, die an Haken hingen wie von bösen, gelangweilten Kindern auf Nadeln aufgespießte Insekten; Peters sich unablässig bewegende Beine; die blutige Bluse mit dem Einschußloch darin; die Stecker; die altmodische Waschmaschine mit der Bumerangantenne. Am stärksten aber war das Bild der Luftblasen, die aus Anne Andersons Mund aufgestiegen waren, als sie in seinem Kopf geschrien hatte.

Er ging ins Haus, hastete ins Bad und kniete vor der Toilettenschüssel nieder, mußte aber feststellen, daß er sich nicht übergeben konnte. Er dachte an Hot Dogs voll Maden, schimmlige Pizza, rosa Limonade, in der Spinnen ertrunken waren; schließlich stieß er sich zwei Finger in den Hals. Damit löste er einen einfachen Würgeimpuls aus, aber mehr nicht. Er konnte sich nicht übergeben. So einfach war das.

Wenn ich es nicht kann, werde ich verrückt.

Fein, dann werd verrückt, wenn es sein muß. Aber tu zuerst, was du tun mußt. Nimm dich so lange zusammen. Und übrigens, Gard, hast du noch Fragen, was du tun solltest?

Nein, die hatte er nicht mehr. Peters sich unablässig bewegende Beine hatten ihn überzeugt. Dieser Strom von Luftblasen hatte ihn überzeugt. Er fragte sich, wie er angesichts einer Kraft, die so offensichtlich korrumpierend, so offensichtlich finster war, so lange hatte zögern können.

Weil du verrückt warst, beantwortete er seine eigene Frage. Gard nickte. Das war es. Er brauchte keine weitere Erklärung mehr. Er war verrückt gewesen - und nicht nur seit letzten Monat oder so. Es war höchste Zeit, daß er aufwachte, oh ja, allerhöchste Zeit, aber besser spät als überhaupt nicht.

Das Geräusch. Slisscchh-slisscchh-slisscchh.

Der Geruch. Feucht und fleischig. Ein Geruch, den sein Verstand mit rohem Kalbfleisch assoziierte, das langsam in Milch verrottete.

Sein Magen drehte sich um. Eine brennende, saure Flüssigkeit schoß in seiner Kehle hoch. Gardener stöhnte.

Der Einfall - der Hauch - kam ihm wieder in Erinnerung, und er klammerte sich daran. Es konnte möglich sein, dies alles zu verhindern ... oder es zumindest für lange, lange Zeit hinauszuschhieben. Es könnte möglich sein.

Du mußt die Welt auf ihre Weise zum Teufel gehen lassen, Gard, ob es nun zwei Minuten vor zwölf ist oder nicht.

Er dachte wieder an Ted den Strom-Mann, dachte an irrwitzige militärische Organisationen, die einander immer kompliziertere Waffen verkauften, und der wütende, unartikulierte, besessene Teil seines Verstandes versuchte ein letztes Mal, die Vernunft niederzuknüppeln.

Sei still, sagte Gardener zu ihm.

Er ging ins Gästezimmer und zog das Hemd aus. Er sah aus dem Fenster, und jetzt konnte er Lichtpünktchen aus dem Wald zurückkehren sehen. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Sie kamen zurück. Sie würden in den Schuppen gehen und vielleicht eine kleine Seance abhalten. Ein Gipfeltreffen zwischen Duschkabinen. Bruderschaft im heimeligen grünen Glanz vergewaltigter Gehirne.

Genießt es, dachte Gardener. Er schob die .45er unter das Fußende der Matratze und knöpfte den Gürtel auf. Es könnte das letzte Mal sein, also...

Er sah hinunter auf sein Hemd. Aus der Tasche ragte ein Metallbügel heraus. Es war natürlich das Vorhängeschloß. Das Vorhängeschloß, das an die Schuppentür gehörte.

8

Einen Augenblick, der ihm wahrscheinlich viel länger vorkam, als er tatsächlich war, konnte Gardener sich nicht bewegen. Das Gefühl unwirklichen Märchen-Entsetzens schlich sich wieder in sein müdes Herz. Er war dazu verdammt, willenloser Zuschauer zu sein, während die Lichterkette auf dem Weg sich unerbittlich näherte. Bald würden sie den überwucherten Garten erreicht haben. Sie würden durch ihn hindurchgehen. Sie würden den Hof überqueren. Sie würden den Schuppen erreichen. Sie würden das fehlende Vorhängeschloß bemerken. Und dann würden sie ins Haus kommen und Jim Gardener entweder töten oder seine zerstrahlten Atome nach Altair-4 schicken, wo immer das sein mochte.

Sein erster Gedanke war nackte Panik, die mit aller Stimmgewalt auf ihn einschrie: Verschwinde! Nichts wie weg von hier!

Mit seinem zweiten Gedanken kam benommen die Vernunft wieder an die Oberfläche. Verbirg deine Gedanken! Wenn du sie noch nie verborgen hast, dann verbirg sie _jetzt.

Er hatte das Hemd ausgezogen, die Jeans mit offenem Gürtel und offenem Reißverschluß waren ihm bis auf die Hüften gerutscht, und er starrte das Vorhängeschloß in seiner Hemdentasche an.

Geh sofort hinaus und bring es wieder an. SOFORT!

Nein... keine Zeit... Herrgott, keine Zeit. Sie sind schon beim Garten.

Es könnte noch reichen. Es könnte gerade noch reichen, wenn du aufhörst, Taschenbillard zu spielen und dich in Bewegung setzt!

Er befreite sich mit letzter Willenskraft von der Lähmung, ergriff das Schloß, in dem immer noch der Schlüssel steckte, und lief los, wobei er die Hose hochzog. Er schlüpfte zur Hintertür hinaus, verweilte nur einen Augenblick, während die beiden letzten Taschenlampen in den Garten kamen und verschwanden, dann sprintete er zum Schuppen.

Leise und vage konnte er ihre Stimmen in seinen Gedanken hören -voll Ehrfurcht, Staunen, Freude.

Er verdrängte sie.

Grünes Licht fiel aus der Schuppentür, die angelehnt war.

Himmel, Gar A, wie konntest du nur so blöd sein? fragte sein überhitzter Verstand erbost, aber er wußte es. Es war leicht, so banale Dinge wie Vorhängeschlösser zu vergessen, wenn man Menschen gesehen hatte, die an Pfählen hingen und aus deren Köpfen Koaxialkabel kamen.

Jetzt konnte er sie im Garten hören, er hörte das Rascheln der nutzlo -sen riesigen Maisstauden.

Als er das Schloß in der Hand hielt und nach dem Bügel griff, fiel ihm ein, daß er es zugedrückt hatte, bevor er es in die Tasche steckte. Bei diesem Gedanken zuckte seine Hand, und er ließ das gottverdammte Ding fallen. Es fiel zu Boden. Er hielt danach Ausschau und konnte es zuerst überhaupt nicht sehen.

Doch... da war es, direkt neben dem schmalen Fächer pulsierenden grünen Lichts. Ja, das war das Schloß, aber der Schlüssel war nicht mehr darin. Der Schlüssel war herausgefallen, als das Schloß auf den Boden aufschlug.

Gott mein Gott mein Gott, schluchzte sein Verstand. Sein Körper war jetzt mit Schweiß bedeckt. Das Haar fiel ihm in die Augen. Er mußte riechen wie ein ranziger Affe.

Er konnte die Maispflanzen und Blätter jetzt lauter rascheln hören. Jemand lachte leise - das Geräusch war erschreckend nahe. In Sekunden würden sie aus dem Garten heraus sein - er konnte spüren, wie diese Sekunden vorübergingen wie dickwanstige, selbstbewußte Geschäftsleute mit Aktentaschen. Er sank auf die Knie, hob das Schloß auf und strich mit der Hand auf dem Boden hin und her, um den Schlüssel zu finden.

O du Scheißkerl, wo bist du? O du Scheißkerl, wo bist du? O du Scheißkerl, wo bist du?

Er stellte fest, daß er selbst jetzt, in seiner Panik, seine Gedanken abschirmte. Funktionierte es? Er wußte es nicht. Und wenn er den Schlüssel nicht finden konnte, war es einerlei, nicht?

O du Scheißkerl., wo bist du?

Er sah ein dumpfes Glänzen von Silber außerhalb der Fläche, über die er mit den Händen strich - der Schlüssel war viel weiter gesprungen, als er für möglich gehalten hätte. Es war reiner Zufall, daß er ihn gesehen hatte... wie Bobbis Stolpern über dieses vorstehende Stück Metall in der Erde vor zwei Monaten, dachte er.

Gardener ergriff ihn und sprang auf die Beine. Die Ecke des Hauses würde ihn noch einen Augenblick vor ihren Blicken verbergen, und mehr Zeit hatte er nicht.

Noch ein Patzer - und sei es nur ein kleiner -, und es wäre aus mit ihm, und vielleicht hatte er ohnehin nicht genügend Zeit, um all die banalen kleinen Handgriffe, die zum Verschließen eines Vorhängeschlosses erforderlich waren, richtig auszuführen.

Das Schicksal der Welt könnte davon abhängen, ob es einem Mann gelingt, eine Schuppentür beim ersten Versuch abzuschließen, dachte er benommen. Das moderne Leben ist so aufregend.

Einen Augenblick dachte er, es würde ihm nicht einmal gelingen, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Er klickerte um den Schlitz herum, ging nicht hinein, ein Gefangener seiner zitternden Hand. Als er dachte, daß wirklich alles aus war, glitt er hinein. Er drehte ihn herum. Das Schloß ging auf. Er drückte die Tür zu, führte den Bügel des Schlosses durch die Öse und drückte es klickend zu. Er zog den Schlüssel heraus und preßte ihn in seine schwitzende Hand. Er glitt um die Ecke des Schuppens herum wie Öl.

Genau im gleichen Augenblick tauchte die Reihe der Männer und Frauen, die beim Schiff gewesen waren, auf dem Hof auf.

Gardener hob die Hand, um den Schlüssel an den Nagel zu hängen, wo er ihn gefunden hatte. Einen alptraumhaften Augenblick dachte er, er würde ihn wieder fallen lassen und dann in dem hohen Unkraut, das auf dieser Seite des Schuppens wuchs, danach suchen müssen. Als er über den Nagel glitt, stieß er seufzend den Atem aus.

Ein Teil von ihm wollte sich nicht mehr bewegen, wollte einfach erstarren. Aber dann beschloß er, dieses Risiko nicht einzugehen. Schließlich wußte er nicht, ob Bobbi ihren Schlüssel dabei hatte.

Er glitt weiter an der Seitenwand des Schuppens entlang. Sein linker Knöchel stieß gegen die Deichsel einer alten Egge, die hier im Unkraut vor sich hin rostete, und er mußte die Zähne zusammenbeißen und einen Schmerzenslaut unterdrücken. Er stieg darüber und schlich um die nächste Ecke. Jetzt war er hinter dem Schuppen.

Das schlurpsende Geräusch war hier hinten nervenzerreißend laut.

Ich bin direkt hinter diesen verdammten Duschkabinen, dachte er. Sie schwimmen Zentimeter von mir entfernt... buchstäblich Zentimeter.

Rascheln von Unkraut. Kaum hörbares Kratzen von Metall. Gardener war gleichzeitig nach Lachen und Kreischen zumute. Sie hatten Bobbis Schlüssel nicht gehabt. Jemand war gerade zur Seitenwand des Schuppens gekommen und hatte den Schlüssel vom Nagel geholt, den Gardener vor Sekunden dort aufgehängt hatte - wahrscheinlich Bobbi selbst.

Noch warm von meiner Hand, Bobbi, hast du es bemerkt?

Er stand an der Rückseite des Schuppens mit dem Rücken an dem rauhen Holz, hatte die Arme etwas gespreizt, preßte die Handflächen fest auf die Bretter.

Hast du es bemerkt? Und hörst du mich? Hört mich einer von euch? Wird_ jemand - Allison oder Archinbourg oder Berringer - plötzlich den Kopf um die Ecke strecken und rufen: »Verloren, Gard, wir sehen dich?« Funktioniert die Abschirmung noch?

Er stand da und wartete darauf, daß sie ihn holen würden.

Sie kamen nicht. In einer gewöhnlichen Sommernacht hätte er das metallische Klicken des Schlosses wahrscheinlich nicht hören können -es wäre vom lauten rii-rii-rii der Grillen übertönt worden. Aber jetzt gab es keine Grillen mehr. Er hörte das Auf schließen; hörte das Quietschen der Angeln, als die Tür geöffnet wurde; hörte wieder das Quietschen, als die Tür zugemacht wurde. Jetzt waren sie drinnen.

Fast im selben Augenblick wurde das Pulsieren des Lichts, das durch die Ritzen fiel, schneller, und ein schmerzerfüllter Schrei zerriß sein Gehirn:

Weh! Es tut weeeeeh...

Er ging weg vom Schuppen und ins Haus zurück.

9

Er lag lange wach und wartete, daß sie wieder herauskommen würden,

wartete, ob er entdeckt worden war.

Also gut, ich kann versuchen, dem »Werden« ein Ende zu bereiten, dachte er. Aber das wird nicht funktionieren, wenn ich nicht tatsächlich in das Schiffhinein kann. Kann ich das?

Er wußte es nicht. Bobbi schien keinerlei Bedenken zu haben, aber Bobbi und die anderen waren jetzt anders. Oh, er selbst war auch dabei, zu »werden«; das bewiesen die lockeren Zähne; und auch die Fähigkeit, Gedanken zu hören. Er hatte die Worte auf dem Comp uterbildschirm verändert, indem er sie nur gedacht hatte. Aber es hatte keinen Zweck, sich etwas vorzumachen: er lag in dem Rennen weit zurück. Wenn Bobbi den Eintritt ins Schiff überlebte und ihr alter Kumpel Gard tot umfiel, würde sich jemand die Zeit nehmen und eine Träne vergießen? Er glaubte es nicht.

Vielleicht wollen sie das alle, Bobbi eingeschlossen. Daß du das Schiff betrittst und dein Gehirn einfach mit einer einzigen harmonischen Radioübertragung explodiert. Das würde Bobbi den moralischen Schmerz ersparen, sich selbst um dich kümmern zu müssen. Mord ohne Tränen.

Er bezweifelte jetzt nicht mehr, daß sie die Absicht hatten, ihn loszuwerden. Aber er dachte, daß vielleicht Bobbi - die alte Bobbi - ihn so lange leben lassen würde, bis er das Innere dieses seltsamen Dinges gesehen hatte, mit dessen Ausgrabung sie so lange beschäftigt gewesen waren. Der Gedanke kam ihm jedenfalls richtig vor. Und letzten Endes spielte es keine Rolle. Wenn Bobbi einen Mord plante, dann konnte er nichts dagegen tun, oder? Er mußte in das Schiff hinein. Wenn ihm das nicht gelang, würde er seinen Einfall, so verrückt er auch sein mochte, niemals in die Tat umsetzen können.

Du mußt es versuchen, Gard.

Er hatte die Absicht, es zu versuchen, sobald sie im Inneren waren, und das würde wahrscheinlich morgen früh sein. Jetzt dachte er, daß er sein Glück vielleicht ein wenig stärker beanspruchen mußte. Wenn er sich an das Lumpengerüst hielt, das er wohl als seinen »ursprünglichen Plan« bezeichnen mußte, dann konnte er nichts für den kleinen Jungen tun. Der Junge mußte zuerst drankommen.

Gard, er ist wahrscheinlich schon tot.

Vielleicht. Aber der alte Mann glaubte das nicht; der alte Mann glaubte, daß es noch einen kleinen Jungen gab, den man retten konnte.

Ein Kind ist nicht w ichtig-nichts angesichts all dessen. Und das weißt du - Haven ist wie ein großes Kernkraftwerk, das sich dem roten Bereich nähert. Der Reaktor schmilzt.

Das war logisch, aber es war die Logik eines Croupiers. Letzten Endes Killerlogik Die Logik von Ted dem StromMann. Wenn er sein Spiel auf diese Weise spielen wollte, weshalb sollte er sich dann überhaupt die Mühe machen ?

Wenn der Junge nicht zählt, dann zählt nichts.

Und vielleicht konnte er auf diese Weise sogar Bobbi retten. Er glaubte es nicht; er glaubte, daß Bobbi zu weit fortgeschritten war für eine Rettung. Aber er konnte es versuchen.

Schlechte Chancen, Gard-alter-Gard.

Klar. Die Uhr steht auf eine Minute vor Mitternacht... wir sind schon beim Sekundenzählen angelangt.

Mit diesem Gedanken glitt er in die Leere des Schlafs. Der Leere folgten Alpträume, in denen er in einer klaren grünen Flüssigkeit schwamm, mit dickem Koaxialkabel angeheftet. Er versuchte zu schreien, aber er konnte es nicht, denn die Kabel kamen aus seinem Mund.

Fünftes Kapitel

Der Knüller

1

In der übertrieben dekorierten Gruft der Bounty Tavern begraben, Heineken-Bier zu einem Dollar die Flasche trinkend und von David Bright verspottet, der in vulgäre Tiefen des Humors abgesunken war - er hatte es sogar fertiggebracht, John Leandro mit Supermans Kumpel Jimmy Olson zu vergleichen-, hatte Leandro geschwankt. Es hatte keinen Zweck, sich etwas anderes einzureden. Er hatte tatsächlich geschwankt. Aber Männer mit Visionen sahen sich zu allen Zeiten Gespött ausgesetzt, und nicht wenige wurden wegen ihrer Visionen verbrannt oder gekreuzigt oder durch die Streckbank der Inquisition ein paar Zentimeter größer gemacht. Daß David Bright ihn über einem Bier im Bounty gefragt hatte, ob denn seine geheime Armbanduhr funktionierte, war kaum das Schlimmste, das ihm zustoßen konnte.

Aber, Scheiße, es tat trotzdem weh.

John Leandro kam zu der Überzeugung, daß David Bright und allen anderen, denen Bright die verrückte Vorstellung von Leandro anvertraut hatte, daß sich in Haven etwas GEWALTIGES abspielte, das Lachen noch im Halse stecken bleiben würde. Denn in Haven spielte sich tatsächlich etwas Gewaltiges ab. Das spürte er in jedem Knochen seines Körpers. An manchen Tagen, wenn der Wind aus Südosten wehte, glaubte er beinahe, es riechen zu können.

Sein Urlaub hatte am vergangenen Freitag angefangen. Er hatte gehofft, noch am selben Tag nach Haven aufbrechen zu können. Aber er lebte bei seiner verwitweten Mutter, und die hatte so sehr damit gerechnet, daß er sie nach Nova Scotia fahren würde, wo sie ihre Schwester besuchen wollte, sagte sie, aber wenn Johnny andere Verpflichtungen hatte, nun, dafür hatte sie Verständnis; immerhin war sie alt und wahrscheinlich nicht mehr besonders unterhaltsam; nur jemand, der ihm sein Essen kochte und seine Unterhosen wusch, und das war schon recht, nur zu, Johnny, such du nur nach deinem Knüller, ich werde einfach Megan anrufen, und vielleicht bringt Vetter Alfie sie nächste Woche zu mir, Alfie ist so gut zu seiner Mutter, et cetera, et cetera, usw., usw., ad infinitum, ad infinitum.

Am Freitag fuhr Leandro seine Mutter nach Nova Scotia. Natürlich

blieben sie über Nacht, und als sie wieder nach Bangor zurückkehrten, war der Samstag gelaufen. Sonntag war kein guter Tag, irgend etwas anzufangen, weil-er um neun seine Sonntagsschüler der ersten und zweiten Klasse hatte, um zehn die Messe besuchen mußte und um siebzehn Uhr die Young Men for Christ in der Pfarrei der Methodistenkirche dran waren. Beim YMC-Treffen hielt ihnen ein Gastredner einen Diavortrag über Armageddon. Während er ihnen erklärte, wie reulose Sünder mit Pestbeulen und Aussatz und Magen- und Darmgeschwüren gestraft werden würden, verteilten Georgina Leandro und die anderen Damen von Ladies' Aid Pappbecher mit Za-Rex und Haferflockenplätzchen. Und am Abend fand immer ein Singen für Christus im Keller der Kirche statt.

Am Sonntag fühlte er sich immer erhaben. Und erschöpft.

2

Es wurde also Montag, der fünfzehnte August, bis Leandro endlich seine gelben Kanzleipapierblöcke, den Sony-Cassettenrecorder und die Nikon samt Fototasche mit Filmen und verschiedenen Linsen auf den Beifahrersitz seines alten Dodge packen und sich zum Aufbruch nach Haven rüsten konnte - wie er hoffte, seinem journalistischen Ruhm entgegen. Er wäre nicht einmal entsetzt gewesen, wenn er gewußt hätte, daß er sich dem Kern dessen näherte, was wenig später zur größten Geschichte seit der Kreuzigung Christi werden sollte.

Der Tag war ruhig und blau und mild - sehr warm, aber nicht so brutal heiß und schwül, wie die vorherigen Tage gewesen waren. Es war ein Tag, der jedermann auf Erden sein Leben lang im Gedächtnis bleiben würde. Johnny Leandro hatte eine Story gewollt, aber er hatte nie das alte Sprichwort gehört, das da lautet: »Gott sagt, nimm dir, was du willst

- und bezahle dafür.«

Er wußte nur, daß er über den Rand von etwas gestolpert war, das sich nicht bewegte, wenn er daran rüttelte... was bedeutete, daß es größer war, als man auf den ersten Blick denken mochte. Er wollte auf gar keinen Fall wieder locker lassen; er würde graben. Und alle David Brights der Welt mit ihren klugscheißerischen Bemerkungen über Jimmy Olson-Armbanduhren und Fu Manchu konnten ihn nicht davon abhalten.

Er legte den ersten Gang des Dodge ein und wollte anfahren.

»Vergiß deinen Lunch nicht, Johnny!« rief seine Mutter. Sie kam mit einer braunen Papiertüte in der Hand schnaufend die Einfahrt entlang. Auf dem braunen Papier bildeten sich bereits zahlreiche Fettflecken; seit der Grundschule war Leandros Lieblingssandwich mit Mettwurst, Ringen von Bermudazwiebeln und Wesson-Öl belegt.

»Danke, Mama«, sagte er, beugte sich hinüber, nahm die Tüte und legte sie auf den Boden. »Aber das hättest du nicht machen müssen, weißt du. Ich hätte mir einen Hamburger...«

»Ich habe es dir schon tausendmal gesagt, Johnny«, sagte sie, »du sollst nicht in diese Schnellrestaurants an der Straße gehen. Man weiß nie, ob die Küche schmutzig oder sauber ist. - Mikroben«, sagte sie unheildrohend und lehnte sich vor.

»Ma, ich muß g...«

»Mikroben kann man überhaupt nicht sehen«, fuhr Mrs. Leandro fort. Sie ließ sich nicht von ihrem Thema abbringen, bis sie alles gesagt hatte.

»Ja, Mama«, sagte Leandro resigniert.

»Manche dieser Küchen sind geradezu ein Paradies für Mikroben«, sagte sie. »Die Köche sind vielleicht nicht sauber, weißt du. Vielleicht waschen sie sich nicht die Hände, wenn sie auf dem Klo waren. Sie könnten Schmutz oder sogar Exkremente unter den Fingernägeln haben. Ich möchte über so etwas nicht sprechen, weißt du, aber manchmal muß eine Mutter ihren Sohn warnen. Wenn man in solchen Lokalen ißt, kann man sehr, sehr krank werden.«

»Mama...«

Sie stieß ein leidgeprüftes Lachen aus und tupfte sich einen Augenwinkel mit der Schürze ab. »Oh, ich weiß, deine Mutter ist dumm, nur eine dumme alte Frau mit komischen Ansichten, sie sollte wahrscheinlich endlich einmal lernen, den Mund zu halten.«

Leandro wußte, daß das der Trick war, mit dem sie ihn ständig manipulierte, aber er fühlte sich dennoch immer wieder zappelig, schuldig, acht Jahre alt.

»Nein, Mama«, sagte er. »Das denke ich überhaupt nicht.«

»Ich meine, du bist der große Reporter, ich sitze nur daheim und mache dein Bett und wasche deine Wäsche und lüfte dein Zimmer, wenn du vom vielen Biertrinken das Furzen hast.«

Leandro senkte den Kopf, sagte nichts und wartete darauf, endlich entlassen zu werden.

»Aber tu es für mich. Halte dich von Straßenlokalen fern, Johnny, denn du kannst krank werden. Durch Mikroben.«

»Ich verspreche es, Mama.«

Zufrieden damit, daß sie ihm ein Versprechen abgerungen hatte, war sie nun endlich bereit, ihn gehen zu lassen.

»Wirst du zum Abendessen daheim sein?«

»Ja«, sagte Leandro, der es nicht besser wußte.

»Um sechs?« beharrte sie.

»Ja! Ja!«

»Ja, ich weiß, ich weiß, ich bin nur eine dumme alte...«

»Bis dann, Mama!« sagte er hastig und fuhr los.

Er schaute in den Rückspiegel und sah sie winkend am Ende der Einfahrt stehen. Er winkte zurück, dann ließ er die Hand sinken und wünschte sich, daß sie ins Haus zurückginge, obwohl er es besser wußte. Als er zwei Blocks weiter rechts abbog und seine Mutter endlich verschwunden war, spürte Leandro, wie ihm ganz offenkundig leichter ums Herz wurde. Ob das nun richtig oder falsch war, das spürte er immer, wenn seine Mama schließlich nicht mehr zu sehen war.

3

In Haven zeigte Bobbi Anderson Jim Gardener gerade ein modifiziertes Atemgerät. Ev Hillman hätte es erkannt; es sah dem ziemlich ähnlich, das er für den Polizisten besorgt hatte, Butch Dugan. Aber das hatte dazu gedient, Butch Dugan vor der Luft in Haven zu schützen; das Gerät, das Bobbi jetzt vorführte, enthielt einen Vorrat dieser Luft - sie waren an die Luft in Haven gewöhnt, und die würden sie beide auch atmen, wenn sie das Tommyknocker-Schiff betraten. Es war halb zehn.

Zur gleichen Zeit fuhr John Leandro in Derry nicht weit von der Stelle entfernt an den Straßenrand, wo das ausgeweidete Reh und der Streifenwagen der Polizisten Rhodes und Gabbons gefunden worden waren. Er machte mit dem Daumen das Handschuhfach auf, um nachzusehen, ob die Smith & Wessen Kaliber .38 in Ordnung war, die er vor einer Woche in Bangor gekauft hatte. Er holte sie einen Augenblick heraus, brachte aber den Zeigefinger nicht einmal in die Nähe des Abzugs, obwohl er wußte, daß sie nicht geladen war. Ihm gefiel es, wie sich die Waffe in seine Hand fügte, ihr Gewicht, das Gefühl simpler Macht, das sie ihm vermittelte. Aber sie vermittelte ihm auch ein unbehagliches Gefühl, als hätte er ein Stück von etwas abgebissen, das so groß war, daß seinesgleichen es nicht mehr schlucken konnte.

Ein Stück wovon?

Er war nicht sicher. Eine Art seltsames Fleisch.

Mikroben, ertönte die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf. Wenn man in solchen Lokalen ißt, kann man sehr, sehr krank werden.

Er vergewisserte sich, daß der Karton Munition noch im Handschuhfach war, dann legte er die Waffe zurück. Er vermutete, daß es wahrscheinlich gegen das Gesetz verstieß, eine Handfeuerwaffe im Handschuhfach spazierenzufahren (er dachte wieder an seine Mutter, diesmal aber, ohne es zu bemerken). Er stellte sich vor, daß ihn ein Polizist routinemäßig an den Straßenrand winkte, ihn bat, seinen Führerschein zu zeigen, und die .38er sah, wenn Leandro das Handschuhfach aufmachte. So wurden die Mörder stets in Alfred Hitchcock Presents gefaßt, das seine Mutter und er sich jeden Samstagabend im Kabelfernsehen ansahen. Das wäre dann ein Knüller ganz anderer Art:

REPORTER DER BANGOR »DAILY NEWS<

WEGEN ILLEGALEM WAFFENBESITZ VERHAFTET

Dann nimm doch einfach den Führerschein aus dem Handschuhfach und steck ihn in die Brieftasche, wenn du dir solche Sorgen machst Aber das würde er nicht tun. Der Vorschlag schien durchaus sinnvoll zu sein, aber er schien auch Ärger heraufzubeschwören... außerdem glich diese Stimme der Vernunft zu sehr der seiner Mutter, wenn sie ihn vor Mikroben warnte oder ihm die Schrecken vor Augen führte (wie sie es getan hatte, als er noch ein Junge gewesen war), die einem blühen konnten, wenn man den Sitz einer öffentlichen Toilette nicht ringsum mit Toilettenpapier belegte, bevor man sich darauf niederließ.

Statt dessen fuhr Leandro weiter, und er merkte, daß sein Herz ein wenig schneller schlug als sonst und er ein wenig mehr schwitzte, als die Wärme des Tages erklären konnte.

Etwas Großes - an manchen Tagen .kann ich es_ fast riechen,

Ja. Da draußen war wirklich etwas. Der Tod dieser Ruth McCausland (eine Kesselexplosion im Juli? wirklich?); das Verschwinden der ermittelnden Beamten; der Selbstmord des Polizisten, der angeblich in sie verliebt gewesen war. Und vor alledem noch das Verschwinden des kleinen Jungen. David Bright hatte gesagt, daß der Großvater von David Brown eine ganze Menge Unsinn geredet hatte über Telepathie und Zaubertricks, die tatsächlich funktionierten.

Ich wünschte nur. Sie wären statt zu Bright zu mir gekommen, Mr. Hillman, dachte Leandro zum schätzungsweise fünfzigsten Mal.

Aber jetzt war auch Hillman verschwunden. Er war seit über zwei Wochen nicht mehr in seinem Zimmer gewesen. Er war nicht mehr im Derry Home Hospital gewesen, um nach seinem Enkel zu sehen, obwohl die Schwestern ihn früher immer hatten hinauswerfen müssen. Die offizielle Version der Staatspolizei war, daß Ev Hillman nicht verschwunden war, aber das war ein typischer Icks-Haken, denn ein Erwachsener konnte vor den Augen des Gesetzes nicht verschwinden, bevor nicht ein anderer Erwachsener sein Verschwinden meldete und die entsprechenden Formulare ausfüllte. Vor den Augen des Gesetzes war demnach alles in Ordnung. John Leandro dagegen meinte, daß gar nichts in Ordnung war. Hillmans Vermieterin sagte, daß der alte Mann sie um sechzig Dollars betrogen hatte - das war, soweit Leandro hatte herausfinden können, die einzige unbezahlte Rechnung, die der alte Bursche zeit seines Lebens hinterlassen hatte.

Aber das war längst nicht alles Unheimliche, was neuerdings aus Haven drang. Ebenfalls im Juli war ein Ehepaar an der Nista Road bei einem Feuer umgekommen. Diesen Monat war ein Arzt mit seinem Privatflugzeug abgestürzt und verbrannt. Sicher, das war in Newport geschehen, aber der FAA-Fluglotse vom BIA hatte bestätigt, daß der

unglückliche Doktor Haven überflogen hatte, noch dazu in illegal geringer Flughöhe. Das Telefonieren mit Haven war seltsam unzuverlässig geworden. Manchmal kam man durch, manchmal nicht. Er hatte das Bureau of Taxation in Augusta um eine Liste der Wahlberechtigten in Haven gebeten (und hatte die sechs Dollar Gebühren für die neun Seiten Computerausdruck bezahlt) und anhand dieser Liste Verwandte von an die sechzig Havenern ausfindig gemacht - Verwandte in Bangor, Derry und den umliegenden Gegenden; und das alles in seiner Freizeit.

Er hatte keinen finden können - nicht einen -, der seit dem zehnten Juli einen Verwandten aus Haven gesehen hatte... seit vor mehr als einem Monat. Nicht einen.

Natürlich fanden viele derer, die er interviewte, das überhaupt nicht seltsam. Einige standen mit ihren Verwandten in Haven nicht auf gutem Fuß, denen war es einerlei, ob sie in den nächsten sechs Monaten nichts von ihnen hören oder sehen würden... oder in den nächsten sechs Jahren. Andere waren erst überrascht und dann nachdenklich, als Leandro sie auf den Zeitraum hinwies. Natürlich war der Sommer für die meisten eine geschäftige Zeit - sie verstrich mit einer beiläufigen Leichtigkeit, die der Winter nicht kannte. Und natürlich hatten sie ein- oder zweimal mit Tante Mary oder Bruder Bill telefoniert - manchmal kam man nicht durch, aber meistens schon.

Die Aussagen der Leute, die Leandro interviewte, wiesen noch andere verdächtige Ähnlichkeiten auf, Ähnlichkeiten, bei denen ihm eindeutig der Geruch von etwas Faulem in die Nase stieg.

Ricky Berringer war Hausanstreicher in Bangor. Sein älterer Bruder Newt war Zimmermann und gleichzeitig Stadtrat von Haven. »Ende Juli haben wir Newt zum Essen eingeladen«, sagte Ricky, »aber er sagte, er hätte die Grippe.«

Don Blue war Makler in Derry. Seine Tante Sylvia, die in Haven wohnte, hatte die Angewohnheit gehabt, jeden Sonntag zum Essen zu Don und seiner Frau zu kommen. Die letzten drei Sonntage hatte sie sich entschuldigen lassen - einmal wegen Grippe (Grippe scheint in Haven umzugehen, dachte Leandro, sonst nirgends, wohlgemerkt - nur in Haven), die beiden anderen Male, weil es so heiß war, daß sie einfach nicht fahren wollte. Bei näherem Befragen stellte Blue fest, daß es. fünf Sonntage waren, an denen seine Tante ihnen nicht mehr die Ehre gegeben hatte - vielleicht sogar sechs.

Bill Spruce hielt eine Herde Milchkühe in Cleaves Mills. Sein Bruder Frank hatte eine Herde in Haven. Normalerweise trafen sich die beiden großen Familien jede Woche, mindestens jede zweite, und der Clan Spruce aß tonnenweise gegrilltes Fleisch und trank literweise Bier und Pepsi Cola, und Frank und Bill saßen entweder am Picknicktisch in Franks Garten oder auf der Veranda von Bills Haus und verglichen Unterlagen über das, was sie einfach das Geschäft nannten. Bill gab zu,

daß es einen Monat oder länger her war, seit er Frank zuletzt gesehen hatte - Frank hatte ihm gesagt, daß er Probleme hätte, zuerst mit seinem Futtermittellieferanten, dann mit den Milchinspektoren. Inzwischen hatte Bill selbst einige Probleme gehabt. Während der letzten Hitzewelle war ein halbes Dutzend seiner Holsteiner krepiert. Und, fügte er als Anmerkung hinzu, seine Frau hatte einen Herzanfall gehabt. Er und sein Bruder hatten diesen Sommer einfach nicht viel Zeit, einander zu besuchen - aber der Mann hatte dennoch ehrliche Überraschung gezeigt, als Leandro seinen Taschenkalender herausgeholt und die beiden nachgerechnet hatten, wie lange es wirklich her war. Die beiden Brüder hatten sich seit dem 30. Juni nicht mehr gesehen. Spruce pfiff und schob die Mütze in den Nacken. »Gott, das ist eine lange Zeit«, sagte er. »Ich denke, ich werde mal nach Haven fahren und Frank besuchen, wo meine Evelyn jetzt wieder einigermaßen auf dem Damm ist.«

Leandro sagte nichts, aber anhand einiger anderer Aussagen, die er in den vergangenen Wochen gesammelt hatte, dachte er, daß die Reise vielleicht Bill Spruces Gesundheit nicht sehr zuträglich sein würde.

»Mir war, als müßte ich sterben«, hatte Alvin Rutledge zu Leandro gesagt. Rutledge war ein momentan arbeitsloser Lastwagenfahrer, der in Bangor lebte. Sein Großvater war Dave Rutledge, der sein Leben lang in Haven gewohnt hatte.

»Was meinen Sie genau damit?« fragte Leandro.

Alvin Rutledge sah den jungen Reporter verschlagen an. »Noch ein Bier würde jetzt gut runtergehen«, sagte er. Sie saßen in Nan's Tavern in Bangor. »Reden ist verdammt staubige Arbeit, Mann.«

»Wahrhaftig«, sagte Leandro und bat die Kellnerin, zwei zu zapfen.

Als das Bier kam, tat Rutledge einen tiefen Zug, wischte sich mit dem Handrücken Schaum von der Oberlippe und sagte: »Zu schneller Herzschlag. Kopfschmerzen. Mir war, als müßte ich meine Gedärme auskotzen. Ich habe tatsächlich gekotzt. Kurz bevor ich umkehrte. Habe das Fenster runtergekurbelt und rausgereihert, das hab' ich.«

»Mann«, sagte Leandro, da ein Kommentar erwartet zu werden schien. Das Bild von Rutledge, der »zum Fenster rausreiherte«, stand ihm vor Augen. Er verdrängte es. Jedenfalls versuchte er es.

»Und seh'n Sie hier.«

Er zog die Oberlippe hoch und zeigte die Überreste seiner Zähne.

»Sehnse as och a vorne?« fragte Rutledge. Leandro sah eine ganze Menge Löcher da vorne, fand es aber unhöflich, das zu sagen. Er stimmte einfach zu. Rutledge nickte und ließ die Lippe wieder herunterklappen. Was eine ziemliche Erleichterung war.

»Meine Zähne waren nie besonders gut«, sagte Rutledge gleichgültig. »Wenn ich wieder arbeite und mir'n guten Zahnarzt leisten kann, lasse ich sie mir alle ziehen. Denen werd' ich's zeigen. Worauf ich hinaus will, ich hatte die beiden Vorderzähne noch, als ich vorletzte Woche nach

Haven aufbrach, um Granpa zu besuchen. Verdammt, die waren nicht mal locker.«

»Sind sie ausgefallen, als Sie sich Haven näherten?«

»Sind nicht ausgefallen.« Rutledge trank sein Glas leer. »Ich habe sie ausgekotzt.«

»Oh«, antwortete Leandro matt.

»Wissen Sie, noch ein Bier würde jetzt gut runtergehen. Reden ist...«

»Staubige Arbeit, ich weiß«, sagte Leandro und winkte der Kellnerin. Er hatte sein Limit überschritten, mußte aber feststellen, daß er selber noch eines vertragen konnte.

4

Alvin Rutledge war nicht der einzige, der im Juli versucht hatte, einen Freund oder Verwandten in Haven zu besuchen, und dem dabei so schlecht geworden war, daß er umkehren mußte. Mit Hilfe des Wählerverzeichnisses und des Telefonbuchs stieß Leandro auf die drei Leute, die ähnliche Geschichten wie Rutledge erzählten. Einen vierten Vorfall fand er durch reinen Zufall heraus - oder fast reinen. Seine Mutter wußte, daß er einen Aspekt seiner »großen Story« verfolgte, und erwähnte, daß ihre Freundin Eileen Pulsifer ihrerseits eine Freundin hatte, die in Haven lebte.

Eileen war fünfzehn Jahre älter als Leandros Mutter und damit an die siebzig. Bei Tee und süßen Ingwerplätzchen erzählte sie Leandro eine Geschichte, die denen, die er bereits gehört hatte, sehr ähnlich war.

Mrs. Pulsifers Freundin war Mary Jacklin (deren Enkel Tommy Jack-lin war). Sie besuchten einander seit mehr als vierzig Jahren abwechselnd und nahmen häufig an lokalen Bridgeturnieren teil. Diesen Sommer hatte sie Mary überhaupt nicht gesehen. Nicht einmal. Sie hatte mit ihr telefoniert, und es schien ihr gut zu gehen; ihre Entschuldigungen klangen immer so glaubwürdig... aber es schien etwas an ihnen -heftige Kopfschmerzen, zuviel zu backen, die Familie hatte kurzfristig beschlossen, nach Kennebunk zu fahren und das Trolley-Museum zu besuchen - nicht ganz richtig zu sein.

»Jede für sich war in Ordnung, aber alle zusammen kamen mir merkwürdig vor, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie hielt ihm die Keksdose hin. »Noch Plätzchen?«

»Nein, danke«, sagte Leandro.

»Oh, nur zu! Ich kenne euch Jungs doch! Deine Mutter hat dir gesagt, du sollst höflich sein, aber kein Junge konnte je ein Ingwerplätzchen ablehnen. Also komm her und nimm dir, was du dir so sehnlich wünschst!«

Leandro lächelte pflichtschuldig und nahm noch ein Ingwerplätzchen.

Mrs. Pulsifer lehnte sich zurück, faltete die Hände über ihrem runden Bauch und fuhr fort: »Ich dachte, daß etwas faul sein könnte... um die Wahrheit zu sagen, das denke ich immer noch. Als erstes glaubte ich, daß Mary vielleicht nicht mehr meine Freundin sein wollte... daß ich vielleicht etwas gesagt oder getan hätte, das sie beleidigt hat. Aber nein, sagte ich zu mir selbst, wenn ich so etwas getan hätte, dann hätte sie es mir gesagt. Nach vierzig Jahren Freundschaft hätte sie das wohl getan. Außerdem hatte sie sich eigentlich nicht kühl angehört, weißt du... Aber sie hörte sich anders an.«

Eileen Pulsifer nickte nachdrücklich. »Hmhmm. Und das brachte mich auf den Gedanken, daß sie krank sein könnte, daß ihr Arzt vielleicht, Gott steh uns bei, Krebs bei ihr gefunden hatte, und sie wollte nicht, daß ihre alten Freundinnen es erfuhren. Also habe ich Vera angerufen und gesagt: >Vera, wir fahren nach Haven und besuchen Mary. Wir werden ihr nicht sagen, daß wir kommen, dann kann sie es uns nicht verbieten. Mach dich bereit, Vera<, sagte ich, >ich komme um zehn Uhr vorbei, und wenn du nicht fertig bist, dann fahre ich ohne dich.<«

»Vera ist...«

»Vera Andersen in Derry. Meine beste Freundin auf der ganzen Welt, John, abgesehen von Mary und deiner Mutter. Und deine Mutter war in dieser Woche unten in Monmouth und besuchte ihre Schwester.«

Leandro erinnerte sich gut daran; eine Woche so voll Frieden und Ruhe war etwas Kostbares.

»Sie beide sind also gefahren.«

»Hmhmm.«

»Und Ihnen wurde übel.«

»Übel! Ich dachte, es war das Ende. Mein Herz!« Sie schlug die Hand theatralisch über eine Brust. »Es schlug so schnell! Ich bekam Kopfschmerzen und Nasenbluten, und Vera bekam es mit der Angst zu tun. Sie sagte: >Kehr um, Eileen, sofort, und dann gehst du auf der Stelle ins Krankenhaus. <

Nun, irgendwie wendete ich - ich kann mich kaum erinnern, wie, die Welt drehte sich so sehr-, und inzwischen blutete mein Mund und zwei Zähne fielen mir aus. Direkt aus meinem Kopf! Hast du so etwas schon jemals gehört?«

»Nein«, log er und dachte an Alvin Rutledge. »Wo ist das passiert?«

»Aber das habe ich dir doch gesagt - wir wollten Mary Jacklin besuchen ...«

»Ja, aber waren Sie tatsächlich in Haven, als Ihnen schlecht wurde? Und aus welcher Richtung sind Sie gekommen?«

»Oh, ich verstehe! Nein, das waren wir nicht. Wir waren auf der Old Derry Road. In Troy.«

»Also nahe bei Haven.«

»Oh, etwa eine Meile von der Stadtgrenze entfernt. Mir war schon eine ganze Weile schlecht gewesen - schwindlig, weißt du-, aber das wollte ich Vera nicht sagen. Ich hoffte, daß es wieder besser werden würde.«

Vera Anderson war nicht schlecht geworden, und das beschäftigte Leandro. Es paßte nicht. Vera hatte kein Nasenbluten bekommen und auch keine Zähne verloren.

»Nein, ihr wurde überhaupt nicht schlecht«, sagte Mrs. Pulsifer. »Nur vor Angst vielleicht. Um mich... und auch um sich selbst, könnte ich mir vorstellen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, die Straße war ziemlich verlassen. Sie dachte, ich würde ohnmächtig werden, was auch beinahe geschah. Es hätte fünfzehn, zwanzig Minuten dauern können, bis jemand vorbeikam.«

»Sie hätte nicht fahren können?«

»Gott bewahre, John, Vera hat schon seit Jahren Muskelschwund. Sie trägt gewaltige metallene Beinschienen - grausam aussehende Dinger, wie etwas, das man in einer Folterkammer erwarten würde. Manchmal muß ich fast weinen, wenn ich sie sehe.«

5

Um Viertel vor zehn am Morgen des fünfzehnten August überquerte Leandro die Gemarkungsgrenze von Troy. Sein Magen war verkrampft vor Erwartung und - seien wir ehrlich - ein wenig Angst. Seine Haut fühlte sich kalt an.

Vielleicht wird mir schlecht. Vielleicht wird mir schlecht, und wenn, dann werde ich eine zwanzig Meter lange Gummispur hinter mir lassen, wenn ich wende und von hier verschwinde. Kapiert?

Kapiert, Boss, antwortete er sich selbst. Kapiert. Kapiert.

Du könntest auch ein paar Zähne verlieren, ermahnte er sich, aber der Verlust von ein paar Zähnen schien ein geringer Preis für eine Story, die ihm den Pulitzerpreis einbringen konnte... und die, was ebenso wichtig war, David Bright vor Neid erblassen lassen würde.

Er fuhr durch die Stadt Troy, wo alles in Ordnung zu sein schien -wenn auch ein wenig langsamer als gewöhnlich. Die erste Anomalie im normalen Verlauf der Dinge kam etwa eine Meile weiter südlich und aus einer Richtung, aus der er sie nicht erwartet hatte. Er hatte WZON in Bangor gehört. Jetzt wurde der normalerweise exzellente UKW-Empfang schwankend und undeutlich. Leandro hörte eine... nein, zwei... nein, drei... andere Stationen, die sich in diesen Sender mischten. Er runzelte die Stirn. Das kam manchmal nachts vor, wenn die Atmosphäre abkühlte und Ultrakurzwellen weiter reichen konnten, aber er hatte noch nie gehört, daß es am frühen Morgen geschah, nicht einmal während der Zeiträume optimaler Radiowellenübertragung, die Funker im allgemeinen bevorzugen.

Er drehte die Sendereinstellung des Radios und war verblüfft, wie viele verschiedenartige Sendungen aus den Lautsprechern drangen -Rock and Roll, Country und Western und klassische Musik drängten sich förmlich übereinander. Irgendwo im Hintergrund konnte er Paul Harvey hören, der Amway anpries. Er drehte die Skala noch weiter und bekam eine so klare Übertragung, daß er rechts ranfuhr. Er sah das Radio mit aufgerissenen Augen an.

Es sprach Japanisch.

Er saß da und wartete auf des Rätsels Lösung - »Dies ist Lektion eins von Japanisch für Anfänger, die Ihnen von Ihrem hiesigen Kyanize-Farbenhändler ermöglicht wurde«, oder etwas ähnliches. Der Sprecher kam zum Ende. Dann folgten die Beach Boys mit »Be True to Your School«. Auf Japanisch.

Leandro glitt mit einer zitternden Hand weiter am Kiloherzband entlang. Es war überall dasselbe. Wie nachts wurde der Wirrwarr von Stimmen und Musik größer, als er in die höheren Frequenzen kam. Schließlich wurde der Wirrwarr so stark, daß er es mit der Angst bekam

- das war das Rundfunkäquivalent einer wimmelnden Schlangenbrut. Er schaltete das Radio aus und saß mit aufgerissenen Augen hinter dem Lenkrad, sein Körper vibrierte leicht wie der eines Mannes nach einer kleinen Dosis Amphetamin.

Was ist das?

Dumme Frage, wenn die Antwort kaum sechs Meilen entfernt war... natürlich immer vorausgesetzt, daß er sie finden konnte.

Oh, ich glaube, du wirst sie finden. Sie wird dir vielleicht nicht gefallen, wenn es soweit ist, aber ich glaube schon, daß du sie _ finden wirst.

Leandro sah sich um. Das Gras auf der Wiese zu seiner Rechten war lang und verfilzt. Zu lang und verfilzt für August. Es war im Juli nicht gemäht worden. Irgendwie glaubte er auch nicht, daß es im August gemäht werden würde. Er sah nach links und erblickte eine baufällige von einem Durcheinander rostiger Autoteile umgebene Scheune. Dicht hinter ihrem Tor verrottete ein 57er Studebaker. Die Fenster schienen Leandro anzustarren. Menschen starrten ihn nicht an; jedenfalls konnte er keine sehen.

Eine sehr leise, sehr höfliche Stimme meldete sich in seinem Inneren, die Stimme eines Kindes bei einer Teeparty, die ihm ausgesprochen unheimlich geworden ist.

Ich möchte bitte nach Hause.

Ja. Heim zu Muttern. Rechtzeitig heim, um die nachmittäglichen

Seifenopern mit ihr anzusehen. Sie würde froh sein, ihn mit seinem Knüller wiederzuhaben, und vielleicht noch glücklicher ohne ihn. Sie würden dasitzen und Plätzchen essen und Kaffee trinken. Sie würden sich unterhalten. Besser gesagt, sie würde reden und er würde zuhören. So war es immer, und das war wirklich nicht so schlimm. Manchmal konnte sie eine Plage sein, aber sie war...

Sicher.

Sicher, ja. Das war es. Sicher. Und was auch immer an diesem verschlafenen Sommernachmittag südlich von Troy vor sich gehen mochte, war ganz bestimmt nicht sicher.

Ich möchte bitte nach Hause.

Richtig. Wahrscheinlich hatten sich Woodward und Bernstein manchmal auch so gefühlt, wenn Nixons Leute sie echt in die Mangel genommen hatten. Bernard Fall hatte sich wahrscheinlich so gefühlt, als er in Saigon zum letzten Mal aus dem Flugzeug stieg. Wenn man die Fernsehkorrespondenten in Krisenherden wie Libanon und Teheran sah, dann sahen sie nur so aus, als wären sie kühl, gefaßt und ruhig. Die Zuschauer hatten keine Gelegenheit, ihre Unterhosen zu sehen.

Die Story wartet dort draußen, und ich werde sie kriegen, und wenn ich den Pulitzerpreis dafür bekomme, dann kann ich sagen, daß ich alles David Bright verdanke ... und meiner geheimen Superman-Armbanduhr.

Er legte den Gang des Dodge wieder ein und fuhr weiter in Richtung Haven.

6

Er war noch keine Meile weit gekommen, da wurde ihm übel. Er hielt es für ein körperliches Symptom seiner Angst und achtete nicht weiter darauf. Als es dann schlimmer wurde, fragte er sich (wie jemand, der feststellt, daß die Übelkeit, die wie eine kleine dunkle Wolke in seinem Magen sitzt, nicht weggeht), was er gegessen hatte. Aber in dieser Richtung konnte er die Ursache nicht finden. Als er heute morgen aufgestanden war, hatte er keine Angst gehabt, aber er war voller Erwartung und aufgekratzter Vorfreude gewesen; deshalb hatte er auf das übliche Rührei mit Speck verzichtet und sich mit Tee und trockenem Toast begnügt. Das war alles.

Ich möchte bitte nach Hause! Jetzt war die Stimme schriller.

Leandro biß grimmig die Zähne zusammen und fuhr weiter. Der Knüller befand sich in Haven. Wenn er nicht bis Haven kam, würde es keinen Knüller geben. Man konnte nicht treffen, was man nicht sah. QED.

Weniger als eine Meile vor der Stadtgrenze - der Tag war auf unheimliche Weise völlig tot-, erschreckte ihn eine Reihe piepsender, summender und knatternder Geräusche, die vom Rücksitz kamen, so sehr, daß er aufschrie und wieder an den Straßenrand fuhr.

Er sah nach hinten und konnte zuerst nicht fassen, was er da sah. Es mußte, dachte er zuerst, eine Halluzination sein, die seine schlimmer werdende Übelkeit hervorrief.

Als er und seine Mutter vergangenes Wochenende in Halifax gewesen waren, hatte er seinen Neffen Tony mitgenommen, um ihm ein Eis zu spendieren. Tony (den Leandro insgeheim für einen verzogenen Balg hielt) saß auf dem Rücksitz und spielte mit einem Spielzeug, das gewisse Ähnlichkeit mit dem Hörer eines Princess-Telefons hatte. Dieses Spielzeug hieß Merlin und arbeitete mit einem Computerchip. Es spielte vier oder fünf einfache Spiele, die nicht mehr als ein gutes Gedächtnis oder die Fähigkeit verlangten, eine einfache mathematische Reihe zu erkennen. Leandro erinnerte sich, daß es auch Tic-Tac-Toe spielen konnte.

Jedenfalls mußte Tony es vergessen haben, und jetzt lief es auf dem Rücksitz Amok, seine roten Lichter gingen wahllos an und aus (war das so, oder waren sie einfach zu schnell für ihn?), die einfachen Toneffekte wurden immer wieder abgespielt. Es lief von alleine.

Nein... nein. Ich bin in ein Schlagloch gefahren, oder so etwas. Das ist alles. Der Schalter wurde aktiviert. Ich habe es versehentlich eingeschaltet.

Aber er konnte den kleinen schwarzen Schalter an der Seite sehen. Er stand auf Aus. Doch Merlin piepste und summte und klackte. Es erinnerte ihn an einen Spielautomaten in Vegas, der einen großen Jackpot ausspuckt.

Das Plastikgehäuse des Dinges begann zu rauchen. Das Plastik selbst sank... tropfte... lief wie Talg. Die Lichter blinkten schneller... schneller. Plötzlich wurden sie alle auf einen Schlag leuchtend rot, und das Spielzeug gab einen erstickten Summlaut von sich. Das Gehäuse platzte auf. Plastikscherben flogen herum. Der Sitzbezug darunter begann zu schwelen.

Leandro achtete nicht auf seinen Magen, richtete sich auf die Knie auf und stieß es zu Boden. Auf dem Sitz war eine verkohlte Stelle, wo Merlin gelegen hatte.

Was ist das?

Die Antwort, irrelevant, beinahe ein Schrei:

ICHMÖCHTE JETZT BITTENACHHAUSE!

»Die Fähigkeit, eine einfache mathematische Reihe zu erkennen.« Habe ich das gedacht? Der John Leandro, der an der High School in Mathematik durchgefallen ist? Ist das dein Ernst?

Laß das doch, VERSCHWINDE einfach!

Nein.

Er legte den Gang des Dodge ein und fuhr weiter. Er war noch keine zwanzig Meter weit gekommen, als er plötzlich überschwenglich dachte:

Die Fähigkeit, eine einfache mathematische Reihe zu erkennen, deutet auf die Existenz einer allgemeinen Formel hin, nicht? Wenn man genauer darüber nachdenkt, könnte man sie folgendermaßen ausdrücken:

ax[2] + bxy = cy[2] + dx + ey + f - o.

Jawohl. Das _ funktioniert, solange a, b, c, d und_ f Konstanten sind. Glaube ich. Ja Klar doch. Aber du kannst a, b oder c nicht gleich null sein lassen - das würde bestimmt alles vermasseln! Soll_ f sich doch um sich selbst kümmern! Ha!

Leandro war zum Kotzen, aber er stieß dennoch ein triumphierendes schrilles Lachen aus. Er fühlte sich sofort, als hätte sein Gehirn direkt durch die Schädeldecke abgehoben. Er wußte es nicht (diesen Teil des Mathematikunterrichts hatte er ziemlich verschlafen), aber er hatte soeben wahrhaftig die allgemeine quadratische Gleichung mit zwei Unbekannten neu erfunden, die tatsächlich dazu verwendet werden kann, Komponenten einer einfachen mathematischen Reihe zu isolieren. Das machte seinen Verstand fertig.

Einen Augenblick später quoll ihm eine erstaunliche Menge Blut aus der Nase.

Das war das Ende von John Leandros erstem Versuch, nach Haven zu gelangen. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr unsicher die Straße entlang, torkelte von einer Seite zur anderen, hatte den rechten Arm auf den Beifahrersitz gelegt, Blut quoll ihm aus der Nase und tropfte auf die Schulter seines Hemdes, während er mit tränenden Augen zur Heckscheibe hinaussah.

Er fuhr beinahe eine Meile rückwärts, dann wendete er in einer Einfahrt. Er sah an sich selbst hinab. Sein Hemd war vollgesogen mit Blut. Aber er fühlte sich besser. Ein wenig besser, schränkte er ein. Aber er zögerte dennoch nicht; er fuhr zurück nach Troy und hielt vor dem Supermarkt an.

Er ging hinein und rechnete damit, daß die übliche Versammlung alter Männer mit stummer Yankee-Überraschung sein blutiges Hemd anstarren würde. Aber es war nur der Inhaber da, und der sah überhaupt nicht überrascht aus - nicht wegen des Blutes und nicht wegen Leandros Frage, ob er T-Shirts vorrätig hätte.

»Sieht aus, als hätte Ihre Nase wie ein Wasserfall geblutet«, sagte der Inhaber gelassen und zeigte Leandro eine Auswahl T-Shirts. Eine ungewöhnlich große Auswahl für so einen kleinen Laden, dachte Leandro - er bekam sich langsam wieder in den Griff, wenngleich er immer noch Kopfschmerzen hatte und sein Magen sich immer noch sauer und instabil anfühlte. Der Blutstrom aus seiner Nase hatte ihm große Angst gemacht.

»Könnte man sagen«, sagte Leandro. Er ließ den alten Mann die T-Shirts durchgehen, denn an seinen Händen trocknete immer noch Blut. Sie waren in den Größen S, M, L und XL. WO, ZUM TEUFEL, IST

TROX MAINE? stand auf einigen. Auf anderen war ein Hummer abgebildet, darunter die Legende: DAS BESTE STÜCK SCHWANZ, DAS ICH JE HATTE, BEKAM ICH IN TROY, MAINE. Auf anderen befand sich eine riesige schwarze Stechmücke, die wie ein Ungeheuer aus dem Weltall aussah. THE MAINE STATE BIRD, stand auf diesen.

»Sie haben aber 'ne Menge T-Shirts«, sagte Leandro und deutete auf eines WO, ZUM TEUFEL, Größe M. Er fand das mit dem Hummer lustiger, glaubte aber nicht, daß seine Mutter besonders viel davon halten würde.

»Hmhmmm«, sagte der Inhaber. »Muß eine Menge haben. Verkaufe eine Menge.«

»An Touristen?« Leandros Verstand lief bereits voraus und versuchte zu erraten, was als nächstes kam. Er hatte geglaubt, etwas Großem auf der Spur zu sein; jetzt glaubte er, daß es viel größer war, als selbst er sich hatte vorstellen können.

»Ein paar«, sagte der Inhaber, »aber diesen Sommer waren nicht viele hier. Die meisten verkaufe ich an Leute wie Sie.«

»Wie ich?«

»Hmhmmm. Leute mit Nasenbluten.«

Leandro starrte den Inhaber an.

»Ihre Nasen bluten, sie ruinieren sich die Hemden. So, wie Sie Ihres ruiniert haben. Sie brauchen ein neues, und wenn es Leute aus der Gegend sind - wie Sie, nehme ich an -, dann haben sie kein Gepäck und nichts zum Wechseln dabei. Also halten sie schnellstmöglich an und kaufen sich ein neues. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Wenn ich in einem Hemd herumlaufen müßte, das so blutig ist wie Ihres, würde ich kotzen. Ich sage Ihnen, ich hatte diesen Sommer Frauen hier- hübsche Frauen und prächtig herausgeputzt-, die rochen wie Eingeweide in einem Schweinestall.«

Der Inhaber kicherte und öffnete dabei einen völlig zahnlosen Mund.

Leandro sagte langsam: »Damit ich das richtig verstehe. Es kommen noch andere Leute mit Nasenbluten aus Haven? Nicht nur ich?«

»Nur Sie? Verdammt, nein! Scheißdreckundnocheinsdrauf! An dem Tag, als sie Ruth McCausland begraben haben, habe ich fünfzehn T-Shirts verkauft. An einem Tag! Ich habe mir schon überlegt, ob ich mich mit den Einnahmen zur Ruhe setzen und nach Florida ziehen sollte.«

Der Inhaber gackerte erneut.

»Und sie kamen alle von außerhalb.« Er sagte das, als würde es alles erklären, und in seinem Denken tat es das vielleicht auch. »Ein paar bluteten noch, als sie hereinkamen. Nasen wie Springbrunnen! Manchmal auch die Ohren. Scheißdreckundnocheinsdrauf!«

»Und niemand weiß etwas davon?«

Der alte Mann sah Leandro mit weisen Augen an.

»Sie wissen es, Sonny«, sagte er.

Sechstes Kapitel

Im Innern des Schiffes

1

»Bist du bereit, Gard?«

Gardener saß auf der Veranda und sah über die Route 9. Die Stimme kam von hinter ihm, und es war leicht - zu leicht - für ihn, nicht an Hunderte billiger Gefängnisfilme zu denken, in denen der Wärter kommt, um den Verurteilten auf seinem letzten Gang zu begleiten. Solche Szenen fingen selbstverständlich immer damit an, daß der Wärter knurrte: Bist du bereit, Rocky?

Bereit_ für dies? Das soll wohl ein Witz sein?

Er stand auf, drehte sich um, sah die Ausrüstung in Bobbis Armen und das leise Lächeln in Bobbis Gesicht. Das Lächeln hatte etwas Wissendes, das ihm gar nicht gefiel.

»Was Komisches gesehen?« fragte er.

»Gehört. Dich gehört, Gard. Du hast an alte Gefängnisfilme gedacht«, sagte Bobbi. »Und dann hast du gedacht: >Bereit für dies? Das soll wohl ein Witz sein?< Ich habe alles empfangen, und das kommt sehr selten vor... es sei denn, du sendest ganz bewußt. Darum habe ich gelächelt.«

»Du hast spioniert.«

»Ja. Und es wird immer leichter«, sagte Bobbi, immer noch lächelnd.

Hinter seinem zusammenbrechenden Gedankenschirm dachte Gardener: Ich habe _ jetzt einen Revolver, Bobbi. Er ist unter meinem Bett. Ich habe ihn mir aus der Ersten Reformierten Kirche der Tommyknockers geholt. Das war gefährlich - aber noch gefährlicher wäre es, nicht genau zu wissen, wie weit Bobbis Fähigkeit zu »spionieren« bereits ging.

Bobbis Lächeln wurde ein wenig unsicher. »Was war das?« fragte sie.

»Das möchte ich von dir wissen?« sagte er, und als ihr Lächeln einem verkniffenen, argwöhnischen Ausdruck wich, fügte er leichthin hinzu: »Komm schon, Bobbi, ich wollte dich nur ein bißchen auf den Arm nehmen. Ich habe mir nur überlegt, was du da hast.«

Bobbi brachte die Ausrüstung zu ihm. Zwei Mundstücke von Gummi -schnorcheln waren mit Tanks und selbstgebastelten Generatoren verbunden.

»Die benutzen wir«, sagte sie. »Wenn wir hineingehen.«

Hinein.

Schon das Wort entzündete einen heißen Funken in seinem Magen und löste die widerstreitendsten Gefühle aus - Ehrfurcht, Entsetzen, Vorfreude, Neugier, Nervosität. Ein Teil von ihm fühlte sich wie ein abergläubischer Eingeborener, der dabei ist, eine Tabuzone zu betreten; der Rest fühlte sich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen.

»Also ist die Luft im Inneren doch anders«, sagte Gardener.

»Nicht sehr.« Bobbi hatte ihr Make-up heute morgen achtlos aufgetragen; vielleicht war sie zu der Überzeugung gelangt, daß es nicht mehr nötig war, ihre immer schnellere körperliche Verwandlung vor Gardener zu verbergen. Gard stellte fest, daß er sehen konnte, wie sich Bobbis Zunge beim Sprechen in ihrem Kopf bewegte... aber sie sah eigentlich nicht mehr wie eine Zunge aus. Und Bobbis Pupillen schienen größer, aber irgendwie flimmernd und unstet, als befänden sie sich unter Wasser. Wasser mit einem leichten Grünton. Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte.

»Nicht sehr anders«, sagte sie. »Nur... verdorben.«

»Verdorben?«

»Das Schiff ist seit mehr als fünfundzwanzigtausend Jahrhunderten versiegelt«, sagte Bobbi. »Vollkommen versiegelt. Die ausströmende schlechte Luft würde uns in dem Augenblick umbringen, in dem wir die Luke öffnen. Daher benutzen wir dies.«

»Was ist denn darin?«

»Nur gute alte Haven-Luft. Die Tanks sind klein - vierzig, vielleicht fünfzig Minuten Luft. Du befestigst ihn so an deinem Gürtel, siehst du?«

»Ja.«

Bobbi hielt ihm eine der Ausrüstungen hin. Gard befestigte den Tank an seinem Gürtel. Er mußte dabei das T-Shirt hochziehen, und nun war er sehr froh, daß er beschlossen hatte, die -45er vorläufig noch unter der Matratze zu lassen.

»Nimm die Luft erst kurz bevor ich aufmache«, sagte Bobbi. »Ach ja, eh ich's vergesse. Hier. Nur für den Fall, daß du es vergißt.« Sie reichte Gardener ein Paar Nasenstöpsel. Gard steckte sie in die Tasche seiner Jeans.

»Also!« sagte Bobbi munter. »Fertig?«

»Wir gehen wirklich hinein?«

»Wirklich«, sagte Bobbi beinahe zärtlich.

Gardener lachte zitternd. Seine Hände und Füße waren sehr kalt. »Ich bin verdammt aufgeregt«, sagte er.

Bobbi lächelte. »Ich auch.«

»Außerdem habe ich Angst.«

Bobbi sagte mit derselben zärtlichen Stimme: »Nicht nötig, Gard. Es wird alles gut werden.«

Etwas in ihrem Tonfall machte Gardener mehr Angst als alles andere.

2

Sie nahmen den Tomcat und schwebten leise durch den toten Wald; das einzige Geräusch war das Summen der Batterien. Keiner sagte etwas.

Bobbi parkte den Tomcat beim Unterstand, dann standen sie einen Augenblick da und betrachteten die silberne Scheibe, die aus dem Boden herausragte. Die Morgensonne spiegelte sich in einem reinen, breiter werdenden Keil darauf.

Hinein, dachte Gardener wieder.

»Bist du bereit?« fragte Bobbi nochmals. Komm schon, Rocky - nur ein schneller Stromstoß, du wirst überhaupt nichts spüren.

»Ja, bestens«, sagte Gardener. Seine Stimme war ein wenig heiser.

Bobbi sah ihn unergründlich mit ihren veränderten Augen an - mit ihren schwimmenden, geweiteten Pupillen. Gardener glaubte zu spüren, wie geistige Finger über seine Gedanken wuselten und versuchten, sie aufzubrechen.

»Es könnte dich umbringen, dort hineinzugehen, weißt du«, sagte Bobbi schließlich. »Nicht die Luft - das haben wir im Griff.« Sie lächelte. »Komisch, weißt du. Fünf Minuten an einem dieser Mundstücke würden jemanden von außerhalb bewußtlos machen, eine halbe Stunde würde sie töten. Aber uns hält die Luft am Leben. Kitzelt dich das, Gard?«

»Ja«, sagte Gardener, sah zum Schiff und wunderte sich über die Dinge, über die er sich schon immer gewundert hatte: Woher kommst du? Und wie lange mußtest du durch die Nacht reisen, um hierher zu kommen? »Das kitzelt mich.«

»Ich glaube, dir wird nichts geschehen, aber du weißt ja...« Bobbi zuckte die Achseln. »Dein Kopf. Diese Stahlplatte reagiert irgendwie mit dem...«

»Ich kenne das Risiko.«

»Wenn das so ist.«

Bobbi drehte sich um und ging zur Kluft. Gardener blieb einen Augenblick stehen, wo er war, und sah ihr nach.

Das Risiko der Platte kenne ich. Was das Risiko durch dich anbelangt, bin ich nicht so sicher, Bobbi. Bekomme ich wirklichHaven-Luft, wenn ich diese Maske benutze, oder so etwas wie Giftgas?

Aber das spielte keine Rolle, oder? Der Würfel war gefallen. Und nichts konnte ihn daran hindern, das Innere des Schiffes zu sehen, wenn es ihm möglich war - kein David Brown und nicht die ganze Welt.

Bobbi erreichte die Kluft. Sie blieb stehen und drehte sich um, ihr geschminktes Gesicht war eine fahle Maske im Morgenlicht, das durch die alten Kiefern und Fichten drang, welche die Lichtung umgaben. »Kommst du?«

»Ja«, sagte Gardener und ging zum Schiff.

3

Hinunterzugelangen erwies sich als unerwartet schwierig. Ironischerweise war hinaufzugelangen der einfache Teil. Der Knopf unten war direkt greifbar, oben jedoch saß er in einem konventionellen Schalterkästchen an einem der Pfosten des Unterstands, und der war fünfzehn Meter vom Rand der Kluft entfernt. Zum ersten Mal wurde Gardener klar, wie solche Probleme zustande kommen konnten; keiner von ihnen hatte bisher daran gedacht, daß ihre Arme keine fünfzehn Meter lang waren.

Sie hatten die Schlinge eine lange Zeit benutzt, so lange, daß sie sie als gegeben ansahen. Als sie nun am Rand der Kluft standen, wurde ihnen klar, daß sie noch niemals beide gemeinsam hinuntergefahren waren. Ihnen war auch klar, obwohl keiner es aussprach, daß sie beide nacheinander hätten hinunterfahren können; wäre unten jemand gewesen, der auf den Knopf drückt, wäre alles in Ordnung gewesen. Keiner sprach es aus, weil sie begriffen, daß sie dieses eine Mal, und nur dieses eine Mal, gemeinsam hinunterfahren mußten, beide mit einem Fuß in der Schlinge, die Arme umeinander gelegt wie Liebende auf einer Schaukel.

Es war dumm; einfach dumm, einfach dumm genug, um die einzig richtige Methode zu sein.

Sie sahen einander wortlos an - aber zwei Gedanken flogen zwischen ihnen durch die Luft.

(wie ein paar Grundschüler stehen wir hier)

(Bobbi wo habe ich nur meinen Schraubenschlüssel für Linkshänder gelassen)

Bobbis seltsamer neuer Mund zuckte. Sie drehte sich um und schnaubte. Da spürte Gardener wieder etwas von der alten Wärme in seinem Herzen. Es war das letzte Mal, daß er die alte und unverbesserte Bobbi Andersen sah.

»Kannst du keine transportable Bedienung für die Schlinge machen?«

»Kann ich, aber der Zeitaufwand würde sich nicht lohnen. Ich habe eine andere Idee.«

Ihre Augen sahen Gardener einen Moment nachdenklich und berechnend an. Es war ein Blick, den Gardener nicht interpretieren konnte. Dann ging Bobbi zum Unterstand zurück.

Gardener folgte ihr ein Stück und sah, wie Bobbi einen großen grünen Metallkasten aufmachte, der auf einen Pfosten montiert war. Sie wühlte durch die Werkzeuge und das Material, das sich darin befand, dann kam sie mit einem Transistorradio zurück. Es war kleiner als diejenigen, die seine Helfer in neue und verbesserte Sprengladungen verwandelt hatten, während Bobbi weggewesen war. Dieses spezielle Radio hatte Gard noch nie zuvor gesehen. Es war sehr klein.

Einer von ihnen hat es gestern nacht mitgebracht, dachte er.

Bobbi zog die Stummelantenne heraus, steckte ein Kabel in das Plastikgehäuse und den Stöpsel in ihr Ohr. Gard wurde sofort an Freeman Moss erinnert, der die Pumpausrüstung bewegt hatte wie ein Elefantendompteur, der die Dickhäuter durch die Manege dirigiert.

»Wird nicht lange dauern.« Bobbi justierte die Antenne in Richtung Farm. Gardener schien ein schweres, starkes Summen zu hören - es schien irgendwie in der Luft zu sein. Nur einen Augenblick lang murmelte Musik in seinem Kopf, und er hatte Schmerzen mitten in der Stirn, als hätte er zu schnell zu viel kaltes Wasser getrunken.

»Was jetzt?«

»Wir warten«, sagte Bobbi und wiederholte: »Es wird nicht lange dauern.«

Ihr nachdenklicher Blick glitt wieder über Gardeners Gesicht, und diesmal glaubte Gardener den Blick zu verstehen. Es ist etwas, das ich sehen soll. Und_ jetzt ist die Chance gekommen, es mir zu zeigen.

Er setzte sich nahe der Kluft hin und entdeckte ein sehr altes Päckchen Zigaretten in seiner Brusttasche. Zwei waren noch darin. Eine war abgebrochen, die andere krumm, aber ganz. Er zündete sie an und rauchte nachdenklich, und diese Verzögerung war ihm eigentlich gar nicht unrecht. Sie gab ihm die Möglichkeit, seine Pläne noch einmal zu bedenken. Sicher, wenn er tot umfiel, sobald er durch die runde Luke trat, würde das seinen Plänen einen gewissen Abbruch tun.

»Ah, es geht los!« sagte Bobbi und stand auf.

Gard stand auch auf. Er sah sich um, konnte aber zuerst nichts entdecken.

»Dort drüben, Gard. Auf dem Pfad.« Bobbi sprach mit dem Stolz eines Kindes, das seine erste Seifenkiste vorführt. Jetzt sah Gard es auch, und er fing an zu lachen. Er wollte eigentlich gar nicht lachen, aber er konnte nicht anders. Er glaubte immer, er hätte sich an die schöne neue Welt von Havens Superwissenschaft gewöhnt, und dann stieß ihn eine atemberaubende neue Konstruktion wieder ins Kaninchenloch zurück. So wie jetzt.

Bobbi lächelte, aber still, vage, als hätte Gardeners Lachen so oder so keine Bedeutung.

»Es sieht ein wenig komisch aus, aber es wird funktionieren, glaub mir«

Es war der Electrolux, den er im Schuppen gesehen hatte. Er rollte nicht auf dem Boden dahin, sondern eine Winzigkeit darüber, und seine kleinen Räder drehten sich. Sein Schatten lief gelassen daneben her, wie ein Dackel an der Leine. Auf dem Rücken, wo in einer normalen Welt der Saugschlauch gesessen hätte, entsprangen zwei dünne, V-förmige Drähte. Seine fühler, dachte Gard.

Jetzt landete er, wenn man ein Aufsetzen aus vier Zentimetern Höhe eine Landung nennen konnte, und rollte über die festgetretene Erde der Grabungsstelle zum Unterstand, wobei er eine schmale Spur hinter sich herzog. Er blieb unter dem Kästchen mit dem Schalter stehen, der die Schlinge in Bewegung setzte.

»Paß auf«, sagte Bobbi mit derselben aufgeregten Ich-führe-meine-Seifenkiste-vor-Stimme.

Es klickte. Es summte. Jetzt stieg ein dünnes schwarzes Seil aus der Seite des Staubsaugers hervor, wie ein Seil aus dem Weidenkorb beim indischen Seiltrick. Aber es war kein Seil, wie Gardener jetzt sah; es war einKoaxialkabel

Es erhob sich in die Luft... hoch... hoch... hoch. Es berührte die Seite des Schalterkästchens und glitt nach vorne. Gardener spürte ein Kribbeln des Ekels. Es war, als sähe man einer Fledermaus zu - einem blinden Geschöpf, das eine Art Radar hatte. Einem blinden Geschöpf, das suchen konnte.

Das Ende des Kabels hatte die Knöpfe gefunden - den schwarzen, der die Winde nach oben oder unten in Bewegung setzte, und den roten, der sie anhielt. Das Ende des Kabels berührte den schwarzen - und plötzlich versteifte es sich. Der schwarze Knopf wurde fein säuberlich hineingedrückt. Der Motor hinter dem Unterstand sprang an, die Schlinge senkte sich in die Kluft.

Die Steifheit fiel von dem Kabel ab. Es glitt zum roten Stop-Knopf, versteifte sich wieder und drückte ihn. Nachdem der Motor ausgegangen war, beugte Gardener sich zur Seite und sah, daß die Schlinge etwa dreieinhalb Meter tiefer an der Wand baumelte. Das Kabel versteifte sich und drückte auf den schwarzen Knopf. Der Motor sprang wieder an. Die Schlinge kam wieder hoch. Als sie den oberen Rand erreicht hatte, schaltete sich der Motor automatisch ab.

Bobbi drehte sich zu ihm um. Sie lächelte, aber ihre Augen waren aufmerksam. »Na also«, sagte sie. »Funktioniert einwandfrei.«

»Das ist unglaublich«, sagte Gardener. Sein Blick war ständig zwischen Bobbi und dem Electrolux hin und her gewandert, während das Kabel die Knöpfe bedient hatte. Bobbi hatte nicht mit dem Radio gestikuliert, wie Freeman Moss es mit seinem Walkie-Talkie getan hatte, aber Gardener war ihr konzentriertes Stirnrunzeln nicht entgangen, ebensowenig der kurze Augenaufschlag, bevor das Koaxialkabel vom schwarzen Knopf zum roten geglitten war.

Sieht wie ein mechanischer Dackel aus, etwas aus diesen ewig niedlichen SF-Bildern von Kelly Freas. So sieht es aus, aber es ist kein Roboter, eigentlich nicht. Es hat kein Gehirn. Bobbi ist sein Gehirn... und sie möchte, daß ich das weiß.

Im Schuppen, an der Wand aufgereiht, hatten viele solcher umgebauter Geräte gestanden. Er versuchte, seine Gedanken auf die Waschmaschine mit der Bumerangantenne zu konzentrieren.

Der Schuppen. Das warf eine verdammt interessante Frage auf. Gardener machte den Mund auf, um sie zu stellen, schloß ihn dann aber wieder und versuchte gleichzeitig, den Schirm um seine Gedanken zu verstärken, so gut er konnte. Er fühlte sich wie ein Mann, der beim Betrachten des schönen Sonnenuntergangs um ein Haar über den Rand eines dreihundert Meter tiefen Abgrunds hinausgetreten wäre.

Es ist niemand zu Hause -_ jedenfalls nicht, daß ich wüßte-, und der Schuppen ist von außen mit einem Vorhängeschloß versperrt. Also wie ist Nero der Staubsauger herausgekommen?

Er hätte diese Frage wirklich um Haaresbreite ausgesprochen, als ihm einfiel, daß Bobbi nicht erwähnt hatte, woher der Electrolux gekommen war. Gard konnte plötzlich seinen eigenen sauren Schweiß riechen.

Er sah zu Bobbi und stellte fest, daß Bobbi ihn mit diesem leicht gereizten Lächeln betrachtete, welches bedeutete, daß sie wußte, daß Gardener etwas dachte... aber nicht, was.

»Woher kommt dieses Ding eigentlich?« fragte er.

»Oh... es stand herum.« Bobbi machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. »Wichtig ist, es funktioniert. Soviel zu der unerwarteten Verzögerung. Sollen wir anfangen?«

»In Ordnung. Ich hoffe nur, die Batterien dieses Dinges geben nicht den Geist auf, so lange wir dort unten sind.«

»Ich bin seine Batterie«, sagte sie. »Solange mit mir alles in Ordnung ist, kommst du auch wieder nach oben, Gard. Okay?«

Deine Versicherungspolice. )a, ich glaube, ich habe verstanden.

»Okay«, sagte er.

Sie gingen zur Kluft und fuhren gemeinsam hinunter, während das Kabel aus dem Electrolux die Schlinge bediente.

Gardener warf noch einen Blick auf den alten Electrolux und dachte erneut: Wie, zum Teufel, ist er herausgekommen?

Dann sanken sie ins Dunkel der Kluft und den klammen, mineralischen Geruch nassen Gesteins, während links von ihnen die Hülle des Schiffs nach oben glitt wie die Fassade eines Wolkenkratzers ohne Fenster.

4

Gard und Bobbi standen Schulter an Schulter vor der kreisförmigen Luke, die die Form eines großen Bullauges hatte. Gardener war es fast unmöglich, den Blick von dem eingestanzten Symbol abzuwenden. Er erinnerte sich an etwas aus seiner frühesten Kindheit. In dem Vorort von Portland, in dem er aufgewachsen war, war Diphtherie ausgebrochen. Zwei Kinder waren daran gestorben, und das Gesundheitsamt hatte eine

Quarantäne verhängt. Er erinnerte sich, wie er zur öffentlichen Bibliothek gegangen war, fest an der Hand seiner Mutter, und dabei an Häusern vorbeikam, an deren Eingangstüren Schilder angebracht worden waren, alle mit demselben Wort in dicken schwarzen Buchstaben. Er fragte sie, was das bedeutete, und sie sagte, es bedeute, daß in dem Haus eine Krankheit war. Es war ein gutes Wort, sagte sie, denn es warnte die Leute, nicht hineinzugehen. Wenn sie es täten, sagte sie, konnten sie sich die Krankheit holen und weiter verbreiten.

»Bist du bereit?« fragte Bobbi und riß ihn aus seinen Gedanken.

»Was bedeutet das?« Er deutete auf das Symbol auf der Luke.

»Burma-Shave.« Bobbi lächelte nicht. »Bist du es?«

»Nein... aber ich glaube, noch bereiter werde ich nicht mehr werden. «

Er sah den Tank an seinem Gürtel an und fragte sich wieder, ob er ein Gift einatmen würde, das seine Lungen beim ersten Atemzug explodieren ließ. Er glaubte es nicht. Dies sollte seine Belohnung sein. Ein Besuch im Inneren des heiligen Tempels, bevor er ein für allemal aus der Gleichung ausgelöscht würde.

»Also gut«, sagte Bobbi. »Ich werde sie aufmachen...«

»Wirst du sie durch Gedanken aufmachen?« fragte Gardener und betrachtete den Stöpsel in Bobbis Ohr.

»Ja«, antwortete Bobbi abwesend, als wollte sie sagen: Was sonst? »Sie wird sich wie eine Irisblende öffnen. Schlechte Luft wird explosionsartig herausströmen, und wenn ich schlecht sage, dann meine ich wirklich schlecht. Was ist mit deinen Händen?«

»Was meinst du?«

»Schnitte?«

»Nichts, das nicht mit Schorf bedeckt wäre.« Er streckte die Hände aus wie ein kleiner Junge, der sie vor dem Essen seiner Mutter zeigt.

»Okay.« Bobbi nahm ein Paar Arbeitshandschuhe aus Baumwolle aus der Tasche und zog sie an. Auf Gards fragenden Blick hin sagte sie: »Entzündete Nagelbetten an zwei Fingern. Vielleicht nicht ausreichend

- aber möglich wäre es. Wenn du siehst, daß sich die Luke öffnet, Gard, dann machst du die Augen zu. Atme aus dem Tank. Wenn du einatmest, was aus dem Schiff kommt, wird dich das so schnell umbringen wie ein Dran-o-Cocktail«

»Ich«, sagte Gardener, »bin überzeugt.« Er schob das Schnorchelmundstück in den Mund und setzte die Nasenstöpsel ein. Bobbi machte dasselbe. Gardener konnte seinen Puls in den Schläfen spüren, der sehr schnell war, als klopfte jemand rasch mit dem Finger auf eine gedämpfte Trommel.

Das ist es... das ist es endlich.

»Bereit?« fragte Bobbi ein letztes Mal. Durch das Mundstück kam es gedämpft heraus: Weeit?

Gardener nickte,

»Alles klar?« Allehaa?

Gardener nickte noch einmal.

Um Himmels willen, Bobbi, los!.

Bobbi nickte.

Okay. Also los.

Bevor er sie fragen konnte, wofür, brach das Symbol plötzlich in Segmenten auseinander, und Gardener erkannte mit tiefer, beinahe übelkeiterregender Aufregung, daß die Luke aufging. Er hörte ein dünnes, quietschendes Geräusch, als geriete etwas lange Verrostetes wieder in Bewegung... aber mit größtem Widerstreben.

Er sah, wie Bobbi das Ventil des an ihrem Gürtel eingehakten Tanks öffnete. Er machte dasselbe, dann schloß er die Augen. Einen Augenblick später blies ihm ein Wind ins Gesicht, der ihm das struppige Haar aus der Stirn wehte. Gardener dachte: Tod. Das ist der Tod. Der Tod streicht an mir vorbei und _ füllt diese Grube wie Chlorgas. Jede Mikrobe auf meinem Körper stirbt in diesem Augenblick.

Sein Herz schlug viel zu schnell, und er fing schon an sich zu fragen, ob das ausströmende Gas (wie das aus einem Sarg ausströmende Gas, schwatzte sein unberechenbarer Verstand) ihn nicht doch irgendwie umbrachte, als er merkte, daß er den Atem angehalten hatte.

Er holte durch das Mundstück Atem. Er wartete, ob es ihn umbringen würde. Das war nicht der Fall. Die Luft hatte einen schalen, abgestandenen Geschmack, aber man konnte sie atmen.

Vierzig, vielleicht fünfzig Minuten Luft.

Langsamer, Gard. Atme langsam. Damit sie länger hält. Nicht keuchen.

Er atmete langsamer.

Jedenfalls versuchte er es.

Dann war das hohe, kreischende Geräusch vorbei. Der Luftstrom an seinem Gesicht wurde schwächer, schließlich hörte er ganz auf. Dann verbrachte Gardener eine Ewigkeit im Dunkeln und stand mit geschlossenen Augen vor der offenen Luke. Die einzigen Geräusche waren das gedämpfte Pochen seines Herzens und das Seufzen der Luft im Ventil des Tanks. Sein Mund schmeckte bereits nach Gummi, seine Zähne bissen viel zu fest auf die Gummihalterung im Schnorchelmundstück. Er zwang sich dazu, sich zu beruhigen und zu entspannen.

Schließlich hörte die Ewigkeit auf. Bobbis deutlicher Gedanke erfüllte seinen Kopf:

Okay... dürfte genügen ...du kannst deine blauen Äuglein wieder aufmachen, Gard.

Und das tat Jim Gardener dann, genau wie ein Kind bei einer Überraschungsparty.

5

Er blickte in einen Korridor.

Er war vollkommen rund, abgesehen von einem flachen Gehweg an einer Seite. Alle Positionen sahen falsch aus. Einen wilden Augenblick lang stellte er sich die Tommyknockers als abscheuliche, intelligente Fliegen vor, die mit Haftbeinen an der Wand und auf dieser Gehfläche entlangkrochen. Dann meldete sich die Logik zu Wort. Der Gehweg befand sich an der falschen Stelle, alles befand sich an der falschen Stelle, weil das Schiff geneigt war.

Weiches Licht glühte aus den runden, konturlosen Wänden.

Keine verbrauchten Batterien, dachte Gardener. Ihre scheinen wirklich für die Ewigkeit gemacht worden zu sein. Von einem tiefen und aufrichtigen Gefühl der Verwunderung erfüllt, blickte er in den Korridor hinter der Luke. Es lebt. Nach all den Jahren. Es lebt noch.

Ich gehe hinein, Gard. Kommst du mit?

Ich versuche es, Bobbi.

Sie trat hinein, wobei sie den Kopf einzog, um nicht am oberen Rand der Luke anzustoßen. Gardener zögerte einen Augenblick, dann biß er auf das Gummimundstück der Atemmaske und folgte ihr.

6

Es folgte ein Augenblick übernatürlichen Schmerzes - er spürte mehr, als daß er es hörte, wie Rundfunkübertragungen seinen Kopf erfüllten. Nicht nur eine; einen Augenblick war es, als schrillte jede Rundfunksendung der Welt in seinem Kopf.

Dann waren sie verstummt - einfach verstummt. Er dachte daran, wie Rundfunksendungen leiser wurden, wenn man in einen Tunnel fuhr. Er hatte das Schiff betreten, und alle Rundfunksendungen von außerhalb waren verstummt. Und es waren nicht nur Sendungen von außen, wie er einen Augenblick später feststellte. Bobbi sah ihn an und sendete offensichtlich einen Gedanken -A lies in Ordnung? vermutete Gardener, aber mehr als eine Vermutung war es nicht. Er konnte Bobbi nicht mehr in seinem Kopf hören.

Neugierig sendete er zurück: Mir geht es gut, weiter!

Bobbis fragender Gesichtsausdruck änderte sich nicht- sie war hierbei viel besser als Gardener, aber sie empfing auch nichts. Gard gestikulierte, daß sie weitergehen sollte. Nach einem Augenblick nickte sie und ging weiter.

7

Sie gingen zwanzig Schritte in den Korridor. Bobbi bewegte sich, ohne zu zögern, und sie zögerte auch dann nicht, als sie an eine runde innere Luke kamen, die in den flachen Gehweg links von ihnen eingelassen war. Diese Luke, etwa neunzig Zentimeter im Durchmesser, war offen. Ohne sich nach Gardener umzudrehen, kletterte Bobbi hindurch.

Gardener verharrte und sah den weich erleuchteten Korridor entlang. Die Luke nach draußen war da, ein rundes Bullauge, und dahinter die Dunkelheit der Kluft. Dann folgte er ihr.

In diesem neuen Korridor war eine Leiter befestigt. Er war so schmal, daß man ihn beinahe als Tunnel hätte bezeichnen können. Gard und Bobbi brauchten die Leiter nicht; aufgrund der Lage des Schiffes verlief der Korridor beinahe horizontal. Sie bewegten sich auf Händen und Knien, manchmal schabten ihre Rücken an der Leiter.

Die Leiter erfüllte Gardener mit Unbehagen. Zunächst einmal waren die Sprossen über einen Meter auseinander, das war eines. Ein Mann -selbst einer mit sehr langen Beinen - hätte Schwierigkeiten gehabt, sie zu benutzen. Die andere Eigenheit der Sprossen war noch beunruhigender. In der Mitte jeder einzelnen Sprosse befand sich eine halbrunde Vertiefung, fast eine Kerbe.

Die Tommyknockers hatten also schlimme Senkfüße, dachte er und lauschte dem Rasseln seines eigenen Atmens. Tolle Sache, Gard.

Aber das Bild, das sich ihm aufdrängte, zeigte keine Senk- oder Plattfüße; das Bild, das sich behutsam und dennoch mit schlichter, unbestreitbarer Deutlichkeit in seinen Verstand stahl, war das einer nicht ganz sichtbaren Kreatur, die diese Leiter herunterkam, eine Kreatur mit einer einzigen großen Klaue an jedem Fuß, einer Klaue, die beim Klettern genau in diese Kerben paßte...

Plötzlich schienen ihn die runden, weich erleuchteten Wände zu bedrängen, er kämpfte gegen einen heftigen Anfall von Klaustrophobie. Die Tommyknockers waren hier, und sie waren noch am Leben. Jeden Augenblick würde er spüren, wie sich eine kräftige, nichtmenschliche Hand um seinen Knöchel legte...

Schweiß lief ihm beißend ins Auge.

Nichts. Nichts, Gard. Nimm dich zusammen!

Aber sie waren hier. Vielleicht tot - aber trotzdem irgendwie am Leben. In Bobbi, zum Beispiel. Aber...

Aber du mußt es sehen, Gard. Jetzt GEH!

Er fing wieder an zu kriechen. Er sah, daß seine Hände leichte Schweißabdrücke auf dem Metall hinterließen. Menschliche Handabdrücke in diesem Ding, das von Gott weiß wo gekommen war.

Bobbi kam ans Ende des Durchgangs, drehte sich auf den Bauch und verschwand. Gard folgte ihr, hielt aber am Ende inne und sah sich um. Er sah einen großen, offenen Raum, sechseckig, wie eine Wabe im Bienenstock. Als Folge der Bruchlandung war auch dieser in einem verrückten Winkel geneigt. Weiches, farbloses Licht glühte in den Wänden. Aus einem Sockel im Boden kam ein dickes Kabel; es teilte sich in ein halbes Dutzend dünnere Stränge, jeder endete in einem Ding, das wie ein Kopfhörer mit gewölbter Mitte aussah.

Bobbi kümmerte sich nicht darum. Sie blickte in eine Ecke. Gardener folgte ihrem Blick und spürte, wie sein Magen schwerer wurde. Ihm wurde schwindlig, sein Herzschlag schien auszusetzen.

Sie hatten sich um ihr telepathisches Steuer - oder was immer es war -geschart, als das Schiff aufprallte. Sie hatten vielleicht bis zum letzten Augenblick versucht, den Sturzflug abzufangen, aber es hatte nicht funktioniert. Jejtzt waren sie da, mindestens drei oder vier, in einer Ecke. Es war schwer zu erkennen, wie sie ausgesehen hatten - sie waren zu sehr ineinander verkeilt. Das Schiff war aufgeprallt, und sie waren in die Ecke dieses Raumes geschleudert worden. Dort lagen sie immer noch.

Interstellarer Autounfall, dachte Gardener voll Übelkeit. Ist das wirklich alles?

Bobbi ging nicht zu den braunen Leichen im tiefsten Winkel dieses seltsam kahlen Raums. Sie sah sie nur an und ballte und entspannte abwechselnd die Fäuste. Gardener versuchte sich vorzustellen, was sie dachte und empfand, konnte es aber nicht. Er drehte sich um und ließ sich behutsam über den Rand des Durchgangs sinken. Er gesellte sich zu ihr und schritt vorsichtig auf dem geneigten Boden. Bobbi sah ihn mit ihren seltsamen neuen Augen an - Wie sehe ich durch diese neuen Augen_für sie aus? überlegte Gardener-, dann wieder zu dem Bündel in der Ecke. Sie ballte immer noch die Fäuste und öffnete sie wieder.

Gardener ging auf sie zu. Sie ergriff seinen Arm. Gardener schüttelte ihren Griff ab, ohne nachzudenken. Er mußte sie sich ansehen. Er kam sich vor wie ein Kind, das zu einem offenen Grab gezogen wird, voller Angst, aber dennoch wie unter Zwang. Er mußte sie sehen.

Gardener, der im südlichen Maine aufgewachsen war, durchquerte das, was er - bei aller Kahlheit - für die Kommandozentrale eines interstellaren Raumschiffs hielt. Der Boden unter seinen Füßen sah so glatt wie Glas aus, aber seine Schuhe glitten trotzdem nicht aus. Außer seinem eigenen keuchenden Atmen hörte er keinen Laut, und er roch nur staubige Haven-Luft. Er ging über den geneigten Boden zu den Leichen und sah sie an.

Das sind die Tommy knockers, dachte er. Bobbi und die anderen werden vielleicht nicht exakt wie sie aussehen, wenn ihr »Werden« zu Ende ist; vielleicht wegen der Umwelt, vielleicht auch, weil die ursprüngliche physiologische Bauweise der - wie soll man sagen? Ziel-gruppe?-jedesmal, wenn so etwas passiert, ein etwas anderes Aussehen zur Polge hat. Aber die Ähnlichkeit ist verblüffend, das stimmt. Sie sind 564

vielleicht nicht die Originale... aber sie sind nahe dran. Häßliche Gesellen,

Er empfand Ehrfurcht... Entsetzen... und einen Ekel, der bis auf die Knochen ging.

Letzte Nacht und die Nacht davor, sang eine zitternde Stimme in seinem Hirn. Tommyknockers, Tommyknockers klopften an mein Tor.

Zuerst dachte er, es wären fünf, aber es waren nur vier - einer war in zwei Stücke gerissen worden. Keiner sah aus, als wäre er - sie - es - leicht oder gelassen gestorben. Ihre Gesichter waren häßlich und hatten lange Schnauzen. Ihre Augen waren von einem weißen Film überzogen, der aussah wie grauer Star. Bei allen waren die Lippen wie zu einem Fauchen zurückgezogen.

Ihre Haut war schuppig, aber durchsichtig - er konnte die erstarrten Muskeln sehen, die Kiefer, Schläfen und Hälse umgaben.

Sie hatten keine Zähne.

8

Bobbi kam zu ihm. Gard sah Ehrfurcht auf ihrem Gesicht - aber keinen Ekel.

Dos sind jetzt ihre Götter, und vor seinen Göttern ekelt man sich nicht, dachte Gardener. Das sind jetzt ihre Götter, und warum auch nicht? Sie haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist.

Er deutete ganz bewußt, wie ein Ausbilder, auf einen nach dem anderen. Sie waren nackt, und ihre Verletzungen waren deutlich zu erkennen. Interstellarer Autounfall, ja. Aber er glaubte nicht, daß es auf ein technisches Versagen zurückzuführen war. Diese unheimlichen schuppigen Leiber waren aufgeschlitzt, mit ausgefetzten Schnittwunden überzogen. Eine Hand mit sechs Fingern umklammerte noch immer den Griff von etwas, das wie ein Messer mit kreisförmiger Klinge aussah.

Schau sie dir an, Bobbi, dachte er, obwohl er wußte, daß Bobbi ihn hier drinnen nicht lesen konnte, auch wenn er sich ganz geöffnet hätte. Er deutete hierhin, auf einen grinsenden Mund, der sich im Hals eines anderen Wesens verbissen hatte; dorthin, auf eine klaffende Wunde in einer dicken, nichtmenschlichen Brust; dahin, auf ein Messer, das noch von einer Hand umklammert wurde.

Schau sie dir an, Bobbi. Man muß nicht Sherlock Holmes sein, um zu sehen, daß sie gekämpft haben. Sie hatten eine rechte Prügelei hier im Kontrollraum. Deine Götter hielten nichts von dieser »Laßt-uns-ver-nünftig-miteinander-reden«-Scheiße. Sie haben sich ganz ordentlich die Hölle heiß gemacht. Vielleicht_ fing es als Streit darüber an, ob sie hier landen sollten oder nicht, oder darüber, ob sie bei Alpha Centauri hätten links abbiegen sollen. Wie auch immer, das Ergebnis ist dasselbe.

Erinnerst du dich, wie wir uns eine Rasse hochentwickelter Wesen, die mit uns Kontakt aufnimmt, immer vorgestellt haben? Wir haben gedacht, sie würden klug sein wie Mr. Wizard und weise wie Robert Young in Father Knows Best. Nun, hier ist die Wahrheit, Bobbi. Das Schiff ist abgestürzt, weil sie einen Kampf hatten. Und wo sind die Blaster? Die Phaser? Der Transporter-Raum? Ich sehe ein Messer. Den Rest müssen sie mit Spiegeln gemacht haben... oder ihren bloßen Händen ... oder diesen großen Klauen.

Bobbi wandte den Blick ab und runzelte trotzig die Stirn - eine Schülerin, die die Lektion nicht lernen wollte, eine Schülerin, die sogar entschlossen war, sie nicht zu lernen. Sie wollte weggehen. Gardener hielt sie am Arm fest und zog sie zurück. Deutete auf die Füße.

Wenn Bruce Lee so einen Fuß gehabt hätte, dann hätte er tausend Menschen wöchentlich umgebracht, Bobbi.

Die Beine der Tommyknockers waren grotesk lang - Gardener mußte an die Burschen denken, die bei den Paraden am vierten Juli auf Stelzen und im Onkel Sam-Kostüm mitliefen. Die Muskeln unter der halbdurchsichtigen Haut waren lang, seilähnlich, grau. Die Füße waren schmal und hatten eigentlich keine Zehen. Statt dessen endete jeder Fuß in einer dicken, chitinartigen Klaue, einer Raubvogelkralle nicht unähnlich. Der eines riesigen Geiers.

Gardener dachte an die Kerben in den Leitersprossen. Er erschauerte.

Schau her, Bobbi. Siehst du, wie dunkel diese Klauen sind? Das ist Blut, oder was immer sie in sich hatten. Es ist auf den Klauen, weil die den größten Schaden anrichteten. Hier sah es vor der Bruchlandung ganz sicher nicht aus wie auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise. Kurz vor der Bruchlandung sah es wahrscheinlich wie bei einer Wirtshausprügelei aus. Ist das Fortschritt, Bobbi? Neben diesen Burschen hier wirkt Ted der Strom-Mann wie Gandhi.

Bobbi riß sich stirnrunzelnd los. Laß mich in Ruhe, sagten ihre Augen.

Bobbi, siehst du denn nicht...

Bobbi wandte sich ab. Sie wollte nicht sehen.

Gardener stand bei den ausgetrockneten Körpern und sah ihr nach, wie sie über das Deck ging, wie eine Frau, die einen steilen, glatten Hügel erklimmt. Sie rutschte überhaupt nicht. Sie wandte sich zur gegenüberliegenden Wand, wo sich eine weitere runde Öffnung befand, und zwängte sich hindurch. Einen Augenblick konnte Gardener ihre Beine und die schmutzigen Sohlen ihrer Tennisschuhe sehen, dann war sie verschwunden.

Gard ging die geneigte Fläche hinauf und stand einen Augenblick fast in der Mitte des Raumes, wo er das Kabel betrachtete, das aus dem Boden kam, die Kopfhörer, die davon abzweigten. Die Ähnlichkeit mit der Anordnung in Bobbis Schuppen war offensichtlich. Und sonst...

Er sah sich um. Sechseckiger Raum. Kahl. Keine Stühle. Keine Bilder von den Niagarafällen. Oder den Cygnus-B-Fällen, was das anbelangte. Keine Astrogationskarten, keine Ausstattung wie in einem phantastischen Labor. Die großen Science Fiction-Produzenten und Spezialeffektleute wären über diese Nüchternheit empört gewesen, dachte Gardener. Nur ein paar Kopfhörer, die durcheinander auf dem Boden lagen, und die Leichen, die bestens erhalten, aber inzwischen wahrscheinlich so leicht wie Herbstlaub waren. Kopfhörer und Leichen in einer Ecke, wo die Schwerkraft sie hinbefördert hatte. Daran war nichts besonders Interessantes. Nichts besonders Kluges. Das paßte. Denn auch die Havener machten eine ganze Menge, aber nichts davon war besonders klug, wenn man der Sache einmal auf den Grund ging.

Es war weniger Enttäuschung, was er empfand, als vielmehr ein Gefühl der Korrektheit. Nicht der Richtigkeit - weiß Gott, nichts hier schien richtig zu sein -, sondern der Korrektheit, als hätte ein Teil von ihm immer gewußt, daß es so sein würde, wenn sie endlich drinnen waren. Kein Disneyland-Tohuwabohu; nur eine besonders kahle und nüchterne Leere. Er erinnerte sich an W. H. Audens Gedicht über das Weglaufen: früher oder später endete man immer in einem Zimmer mit einer nackten Glühbirne und spielte morgens um drei Solitaire. In der Welt von morgen, so schien es, landete man in einem leeren Raum, wo Wesen, die intelligent genug waren, die Sterne zu erobern, durchdrehten und sich gegenseitig mit den Klauen an ihren Füßen zerfetzten.

Soviel zu Robert Heiniein, dachte Gard und folgte Bobbi.

9

Er bewegte sich aufwärts und stellte fest, daß er nicht mehr wußte, wo er sich im Verhältnis zur Außenwelt befand. Es war leichter, nicht darüber nachzudenken. Er hangelte sich an der Leiter entlang. Er kam an ein rechteckiges Bullauge und sah in etwas hinein, das ein Maschinenraum gewesen sein konnte - große Metallblocks, an einem Ende eckig, am anderen abgerundet, erstreckten sich dort in einer Zweierreihe. Aus den eckigen Enden dieser Blocks entsprangen Röhren, dick und mattsilberfarben, und verliefen in seltsamen Winkeln weiter. Wie Linien auf einer Kinderkritzelei, dachte Gard. Er spürte flüssige Wärme auf der Haut über seinem Mund. Sie teilte sich und rann an seinem Kinn hinab. Seine Nase blutete wieder - langsam, aber dafür so, als wollte sie eine ganze Weile weitermachen.

Ist das Licht hier drinnen _jetzt heller?

Er blieb stehen und sah sich um.

Ja. Und er konnte auch ein leises Summen hören, oder war das Einbildung?

Er legte den Kopf schief. Nein; keine Einbildung. Maschinen. Etwas war angesprungen.

Es ist nicht einfach angesprungen, das weißt du. Wir haben es eingeschaltet. Wir aktivieren es.

Er biß heftig auf das Mundstück. Er wollte hier heraus. Wollte Bobbi hier herausbringen. Das Schiff lebte; er vermutete, daß es auf eine unheimliche Weise der endgültige Tommy knocker war. Es war ein Heuler. Und außerdem war es das schrecklichste Ding von allen. Vernunftbegabtes Wesen... Was? Wir haben es natürlich aufgeweckt. Gard wollte, daß es weiterschlief. Plötzlich kam er sich zu sehr wie Jack vor, der im Schloß herumschnüffelte, während der Riese schlief. Sie mußten hinaus. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und er blieb stehen.

Was ist, wenn es dich nicht hinausläßt?

Er verdrängte den Gedanken und ging weiter.

10

Der Korridor teilte sich zu einem Y, der linke Arm ging weiter aufwärts, der rechte steil nach unten. Er lauschte und hörte Bobbi im linken kriechen. Er folgte ihr und kam zu einer weiteren Luke. Sie stand davor. Sie sah kurz mit aufgerissenen, entsetzten Augen zu Gardener auf. Dann sah sie wieder in den vor ihr liegenden Raum.

Er schob ein Bein über den Rand der Luke, dann verharrte er. Er würde auf gar keinen Fall dort hineingehen.

Der Raum war rhombusförmig. Er war voll von Hängematten, die an Metallrahmen hingen - es waren Hunderte. Alle waren aufwärts und nach links geneigt; der Raum sah aus wie ein Schnappschuß der Kajüte eines Segelschiffs, das gerade in ein Wellental hinabgleitet. Alle Hängematten waren belegt, ihre Bewohner angeschnallt. Transparente Haut; hundeähnliche Schnauzen; milchige, tote Augen.

Von jedem schuppigen, dreieckigen Kopf ging ein Kabel aus.

Nicht nur angeschnallt, dachte Gardener. ANGEKETTET. Sie waren der Antrieb des Schiffes, nicht, Bobbi? Wenn dies die Zukunft ist, dann wird es Zeit, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Dies sind tote Galeerensklaven.

Bei allen waren die Lippen wie zum Fauchen verzerrt, aber Gardener sah, daß einige dieser fauchenden Grimassen halb verschwunden waren, denn bei einigen schienen die Köpfe explodiert zu sein - als hätte es bei der Bruchlandung des Schiffes einen gewaltigen Rückfluß von Energie gegeben, der ihnen buchstäblich die Gehirne herausgepustet hatte.

Alle tot. Für alle Zeiten in ihren Hängematten festgeschnallt, zur Seite gekippte Köpfe, Schnauzen zu ewigem Fauchen erstarrt. Alle tot in diesem geneigten Raum.

Ganz in der Nähe sprang eine weitere Maschine an - anfangs stotterte sie rostig, dann lief sie ruhiger. Einen Augenblick später erwachten Ventilatoren zum Leben - er vermutete, daß die eben angesprungene Maschine sie betrieb. Luft wehte gegen sein Gesicht - ob es sich um frische Luft handelte oder nicht war etwas, das er nicht persönlich nachzuprüfen gedachte.

Vielleicht hat das Öffnen der Außenluke diese Maschinen aktiviert, aber das glaube ich nicht. Das waren wir. Was wird als nächstes anspringen, Bobbi?

Angenommen, sie sprangen als nächstes an - die Tommyknockers selbst? Angenommen, ihre grau-durchsichtigen sechsfingrigen Hände fingen plötzlich an, sich zu Fäusten zu ballen und wieder zu entspannen, wie die von Bobbi, als sie die Leichen in dem kahlen Kontrollraum betrachtete? Was, wenn diese klauenbewehrten Füße zu zucken anfingen? Oder angenommen, diese Köpfe fingen an, sich zu drehen, und diese milchigen Augen sahen sie an ?

Ich will hier raus. Die Geister hier sind sehr lebendig, und ich will raus.

Er berührte Bobbis Schulter. Sie zuckte zusammen. Gardener sah zu seinem Handgelenk, aber da war keine Uhr - nur ein verblassender weißer Streifen auf dem sonst sonnengebräunten Arm. Es war eine Timex gewesen, ein zähes altes Baby, das viel mit ihm durchgemacht und überlebt hatte. Aber zwei Tage Arbeit an der Ausgrabung hatten sie umgebracht. DAS ist etwas, das ]ohn Cameron Swayze in seinen alten Werbespots nie versucht hat, dachte er.

Bobbi verstand den Wink. Sie deutete auf den Tank an ihrem Gürtel und zog die Brauen hoch. Wie lange schon?

Gardener wußte es nicht, und es war ihm auch gleich. Er wollte hinaus, bevor das ganze verdammte Schiff aufwachte und weiß Gott was tat.

Er deutete wieder in den Korridor. Lange genug. Laß uns abhauen.

In der Wand neben Gardener ertönte ein ölig kicherndes Geräusch. Er wich erschrocken davor zurück. Blutstropfen aus seiner langsam blutenden Nase sprenkelten die Wand. Sein Herz klopfte wie verrückt.

Hör auf, das ist nur eine Art Pumpe...

Das ölige Geräusch wurde glatter... dann ging etwas schief. Man hörte das Kreischen von sich verkeilendem Metall, dann in rascher Folge eine Reihe Explosionen. Gardener spürte, wie die Wand vibrierte, und einen Augenblick schien das Licht zu flackern und trüber zu werden.

Würden wir im Dunkeln herausfinden, wenn das Licht ausginge? Sie scherzen wohl, Senor?

Die Pumpe versuchte wieder anzuspringen. Ein metallisches Kreischen war zu hören, das Gardener veranlaßte, heftig auf das Gummi -mundstück zu beißen. Endlich hörte es auf. Es folgte ein langes, lautes

Rascheln, wie von einem Strohhalm in einem leeren Glas. Dann nichts mehr.

Nicht alles hat die lange Zeit unbeschadet überstanden, dachte Gardener und fand diesen Gedanken tatsächlich erleichternd.

Bobbi deutete. Geh, Gard.

Bevor er gehorchte, sah er Bobbi noch einmal innehalten und die Reihen der Toten in den Hängematten betrachten. Ihr Gesicht hatte wieder diesen entsetzten Ausdruck.

Dann kroch Gard den Weg zurück, den er gekommen war, wobei er trotz der Klaustrophobie, die ihn bedrängte, versuchte, sich mit konstanter Geschwindigkeit zu bewegen.

11

Im Kontrollraum hatte sich eine der Wände in ein riesiges, fünfzehn Meter langes und sechs Meter hohes Panoramafenster verwandelt.

Gardener stand mit offenem Mund da und betrachtete den blauen Himmel von Maine und die Kiefern und Fichten und Ahornbäume um die Ausgrabungsstelle herum. In der unteren rechten Ecke konnte er das Dach ihres Unterstands sehen. Er blickte ein paar Sekunden lang darauf

- lange genug, um große weiße Sommerwolken über den Himmel ziehen zu sehen -, bis ihm klar wurde, daß dies kein Fenster sein konnte. Sie waren irgendwo in der Mitte des Schiffes, und überdies tief in der Erde. Ein Fenster in der Wand hätte nur mehr vom Schiff zeigen dürfen. Und selbst wenn sie in der Nähe der Hülle gewesen wären, was sie nicht waren, hätte man lediglich netzbespannte Felswand und vielleicht einen schmalen Streifen blauen Himmel sehen dürfen.

Es ist ein Fernsehbild. Jedenfalls etwas Ähnliches wie ein_ fernsehbild.

Aber er sah keine Zeilen. Die Illusion war perfekt.

Angesichts dieser neuen und außerordentlichen Faszination vergaß Gardener die Klaustrophobie, die ihn hinaustrieb, und schritt langsam auf die Wand zu. Der Winkel vermittelte ihm ein perverses Gefühl des Fliegens - die Wirkung war etwa so, als setzte man sich hinter einen Flugsimulator und betätigte die Scheininstrumente für einen steilen Steigflug. Der Himmel war so hell, daß er blinzeln mußte. Er suchte weiter nach der Wand, so wie man eine Kinoleinwand hinter dem Bild vermutet, wenn man nahe genug herangeht, aber die Wand schien einfach nicht da zu sein. Die Kiefern waren von einem lebensechten Grün; nur die Tatsache, daß er keinen Wind spürte und keinen Waldgeruch wahrnahm, verdarb die überzeugende Illusion.

Er ging näher heran und suchte immer noch nach der Wand.

Es ist eine Kamera, das muß es sein - am äußeren Rand des Schiffes montiert, vielleicht sogar in dem Teil, über den Bobbi gestolpert ist. Der

Winkel spricht dafür. Aber, mein Gott! Es ist so verdammt real! Wenn die Leute bei Kodak oder Polaroid das sehen könnten, würden sie den Verstand verl...

Sein Arm wurde gepackt - fest gepackt -, und Entsetzen erfüllte ihn. Er drehte sich um und erwartete, einen von ihnen zu sehen, ein grinsendes Ding mit einem Hundeschädel, das ein Kabel mit einem Stecker am Ende in einer Hand hielt. Beugen Sie sich einfach herunter, Mr. Gardener. Tut kein bißchen weh.

Es war Bobbi. Sie zeigte auf die Wand. Dann streckte sie die Arme aus und ließ sie in einer Art Pantomime heftig zucken. Dann zeigte sie wieder auf die Fensterwand. Nach einem Augenblick begriff Gard. Es war auf eine makabre Weise beinahe komisch. Bobbi hatte einen Stromschlag nachgeahmt und ihm mitgeteilt, daß es ihm beim Berühren der Fensterwand ungefähr so ergehen würde wie beim Berühren des Stromabnehmers einer U-Bahn.

Gardener nickte, dann deutete er auf den breiteren Durchgang, durch den sie hereingekommen waren. Bobbi nickte und ging voraus.

Während Gardener sich aufwärts stemmte, glaubte er, hinter sich ein Rascheln wie trockenes Laub zu hören, und drehte sich um, wobei er das Alptraumentsetzen eines Kindes an seinem Verstand zupfen spürte. Er hatte das Gefühl, daß sie es sein mußten, diese Leichname in der Ecke; sie, die sich langsam wie Zombies auf ihre klauenbewehrten Füße erhoben.

Aber sie lagen immer noch mit ihren seltsam verschlungenen Armen und Beinen da. Der breite und klare Ausblick auf den Himmel und die Bäume an der Wand (oder durch die Wand) wurde trüb und verlor Konturen und Wirklichkeitsnähe.

Gardener drehte sich um und kroch hinter Bobbi her, so schnell er konnte.

Siebtes Kapitel

Der Knüller, Fortsetzung

1

Du bist verrückt, weißt du das, sagte John Leandro zu sich selbst, als er auf denselben Parkplatz fuhr, den Ev Hillman vor nicht ganz drei Wochen benutzt hatte. Das wußte Leandro natürlich nicht. Was wahrscheinlich auch nichts änderte.

Du bist verrückt, sagte er nochmals. Du hast geblutet wie ein Schwein, in deinem Mund ^ fehlen zwei Zähne, und trotzdem hast du vor, noch einmal dorthin zu fahren. Du bist verrückt!

Ganz recht, dachte er und stieg aus dem alten Auto aus. Ich bin vierundzwanzig, unverheiratet, werde dick in der Mitte, und wenn ich verrückt bin, dann nur, weil ich dies gefunden habe, ich, ich bin darüber gestolpert. Es ist groß, und es gehört mir. Meine Story. Nein, benutze das andere Wort. Es ist altmodisch, aber wen schert das einen Scheiß-dreck-es ist das richtige Wort. Mein Knüller. Ich werde nicht zulassen, daß er mich umbringt, aber ich werde ihn reiten, bis er mich abwirft.

Leandro stand auf dem Parkplatz, es war halb eins an einem Tag, der immer schneller zum längsten seines Lebens wurde (es sollte auch der letzte sein, obwohl er sich ständig das Gegenteil einredete), und dachte: Gut _ für dich. Reite ihn, bis er dich abwirft. Wahrscheinlich haben Robert Capa und Ernie Pyle von Zeit zu Zeit dasselbe gedacht.

Vernünftig. Sarkastisch, aber vernünftig. Doch der tiefere Teil seines Verstandes schien dieser Vernunft nicht zugänglich zu sein. Meine Story, wiederholte er verstockt. Mein KNÜLLER.

John Leandro, der jetzt ein T-Shirt mit der Aufschrift WO, ZUM TEUFEL, IST TROY, MAINE? anhatte (über das David Bright gelacht hätte, bis er einen Blutsturz bekam), überquerte den kleinen Parkplatz von Maine Med Supplies (»Spezialisten _ für Atemgeräte und Atmungstherapie seit 1946«) und ging hinein.

2

»Dreißig Dollars sind eine stolze Kaution für eine Atemmaske, finden Sie nicht?« fragte Leandro den Verkäufer und überprüfte seine Bargeldbestände. Er schätzte, daß er die dreißig hatte, aber dann würde er ohne einen roten Heller dastehen. »Hätte nicht gedacht, daß sie ein so gefragter Schwarzmarktartikel sind.«

»Wir haben bisher nie eine Kaution verlangt«, sagte der Verkäufer, »und wir machen es auch jetzt nicht, wenn wir den Kunden persönlich kennen, wissen Sie. Aber erst vor drei Wochen habe ich eine komplette Ausrüstung verloren. Ein alter Mann kam und sagte, er brauche Sauerstoff. Zum Tauchen, nahm ich an, wissen Sie - er war alt, aber er sah kräftig genug dafür aus -, deshalb verwies ich ihn an Downeast ScubaDive in Bangor. Aber er sagte nein, ihm käme es auf Beweglichkeit an Land an. Also habe ich sie ihm vermietet. Und bekam sie nie zurück. Brandneue Bell Flachtanks. Ausrüstung im Wert von zweihundert Dollar.«

Leandro sah den Verkäufer an, beinahe krank vor Aufregung. Er fühlte sich wie ein Mann, der Wegmarken folgte, die immer tiefer in eine angsteinflößende, aber faszinierende und vollkommen unerforschte Höhle führten.

»Sie haben ihm die Maske vermietet? Persönlich?«

»Nun, eigentlich war es ein Flachpack, aber ja. Der Laden gehört meinem Dad und mir. Er hat gerade Sauerstoffflaschen nach Augusta gefahren. Er hat mir ganz schön eingeheizt. Ich weiß nicht, ob es ihm gefällt, wenn ich noch ein Flachpack verleihe, aber mit der Kaution wird es wohl in Ordnung sein.«

»Können Sie mir den Mann beschreiben?«

»Mister, fühlen Sie sich wohl? Sie sind ein wenig blaß um...«

»Mir geht es bestens. Können Sie den Mann beschreiben, der das Flachpack ausgeliehen hat?«

»Alt. Braungebrannt. Fast kahl. Mager... sehnig, könnte man sagen. Wie schon gesagt, er machte einen kräftigen Eindruck.« Der Verkäufer dachte nach. »Er fuhr einen Valiant.«

»Könnten Sie nachsehen, wann er das Flachpack ausgeliehen hat?«

»Sind Sie Bulle?«

»Reporter. Bangor Daily News.« Leandro zeigte dem Verkäufer seinen Presseausweis. Jetzt fing auch der Verkäufer an, aufgeregt auszusehen.

»Hat er noch was angestellt? Ich meine, abgesehen vom Diebstahl unseres Flachpacks?«

»Könnten Sie Name und Datum für mich nachsehen?«

»Klar.«

Der Verkäufer blätterte seine Mietkladde durch. Er fand den Eintrag und drehte das Buch so, daß Leandro ihn lesen konnte. Das Datum war der 26. Juli. Der Name war gekritzelt, aber dennoch lesbar. Everett Hillman.

»Sie haben den Verlust der Ausrüstung nicht der Polizei gemeldet«, sagte Leandro. Es war keine Frage. Wenn gegen den alten Burschen Anzeige erstattet worden wäre, zusätzlich zur gerechtfertigten Empörung seiner Vermieterin, die um zwei Wochen Miete betrogen worden war, dann hätte die Polizei vielleicht mehr Interesse an dem Wie und Warum von Hillmans Verschwinden gezeigt... und daran, wohin er verschwunden war.

»Nein, Dad hat gesagt, wozu die Mühe. Unsere Versicherung bezahlt den Diebstahl vermieteter Ausrüstung nicht, also... nun, das ist der Grund.«

Der Verkäufer zuckte die Achseln und lächelte, aber das Achselzucken war etwas verlegen, das Lächeln etwas unbehaglich, und beides zusammen verriet Leandro eine ganze Menge. Er mochte eine ewige Niete sein, wie David Bright befürchtete, aber er war nicht dumm. Hätten sie den Diebstahl des Flachpacks zur Anzeige gebracht, dann hätte die Versicherung den Schaden nicht bezahlt. Da sie es nicht getan hatten, kannte der Vater dieses Burschen einen anderen Weg, wie er die Versicherung dafür schröpfen konnte. Aber das war augenblicklich eine mehr als zweitrangige Überlegung.

»Nun, danke für Ihre Hilfe«, sagte Leandro und drehte die Kladde wieder um. »Wenn wir jetzt hier zum Ende kommen könnten...«

»Aber sicher, klar doch.« Der Verkäufer war offensichtlich froh, das Thema Versicherung sein lassen zu können. »Sie werden doch nichts in der Zeitung drucken, bevor Sie mit meinem Vater gesprochen haben, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte Leandro mit einer herzlichen Aufrichtigkeit, die selbst P. T. Barnum zufriedengestellt hätte. »Wenn ich jetzt den Mietvertrag unterschreiben könnte...«

»Einverstanden. Aber vorher müßte ich einen Ausweis sehen. Ich habe von dem alten Herrn keinen verlangt, und dazu hat mein Dad auch einiges zu sagen gewußt, das kann ich Ihnen versichern.«

»Ich habe Ihnen doch eben meinen Presseausweis gezeigt.«

»Schon, aber vielleicht haben Sie einen richtigen Ausweis.« Seufzend schob Leandro seinen Führerschein über die Theke.

3

»Langsam, Johnny«, sagte David Bright. Aber Johnny stand in einer öffentlichen Telefonzelle am Rand des Parkplatzes einer Straßengaststätte. Er hörte erste Anzeichen von Aufregung in Brights Stimme. Er glaubt mir! Sohn einer räudigen Hündin, er glaubt mir endlich! Während er von Maine Med Supplies auf Haven zufuhr, waren Leandros Aufregung und Spannung so sehr gestiegen, daß er glaubte, er müsse platzen, wenn er nicht mit jemandem redete. Das mußte er auch, wurde ihm klar, das war eine Verantwortung, die mehr galt als sein Wunsch, den Knüller für sich allein zu haben. Er mußte es tun, weil er zurückfuhr, und es konnte ihm leicht etwas zustoßen, und wenn das geschah, dann sollte gewährleistet sein, daß jemand Bescheid wußte. Und Bright war zumindest völlig ehrlich, so unerträglich er auch manchmal sein konnte; er würde ihn nicht aufs Kreuz legen.

Langsam, _ja, ich muß langsam reden.

Er hielt den Hörer ans andere Ohr. Die Nachmittagssonne schien ihm heiß in den Nacken, aber das fühlte sich eigentlich nicht schlecht an. Er fing mit der Fahrt nach Haven an; dem unglaublichen Durcheinander der Rundfunkstationen; seiner schlimmen Übelkeit; dem Nasenbluten; den ausgefallenen Zähnen. Er erzählte ihm von seiner Unterhaltung mit dem Mann im Supermarkt, daß die ganze Gegend so menschenleer gewesen war, daß man ein riesiges Schild mit der Aufschrift BIN ANGELN GEGANGEN hätte aufstellen können. Er erwähnte seine mathematischen Geistesblitze nicht, weil er sich kaum erinnern konnte, daß er sie gehabt hatte. Etwas war geschehen, aber das war jetzt undeutlich und verschwommen.

Statt dessen erzählte er Bright, er sei zu der Überzeugung gelangt, daß die Luft in Haven irgendwie vergiftet sein mußte - daß es vielleicht zu einem Chemieunfall gekommen oder ein natürliches, aber tödliches Gas aus der Erde entwichen war.

»Ein Gas, das Rundfunkübertragungen verbessert, Johnny?«

Ja-

Er wußte, es war unwahrscheinlich, er wußte, die Teile paßten noch nicht zusammen, aber er war dort gewesen und war sicher, daß es die Luft gewesen war, die seine Übelkeit hervorgerufen hatte. Daher hatte er beschlossen, sich eine tragbare Sauerstoffausrüstung zu besorgen und noch einmal hinzufahren.

Er berichtete über seine zufällige Entdeckung, daß Everett Hillman, den Bright als Irren abgetan hatte, vor ihm dagewesen war - mit genau demselben Anliegen.

»Was meinst du?« fragte Leandro schließlich.

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann sprach Bright die Worte aus, die Leandro für den reinsten Bals am hielt, der ihm in seinem Leben je zuteil geworden war.

»Ich glaube, du hattest die. ganze Zeit recht, Johnny. Dort draußen geht etwas sehr Unheimliches vor sich, und ich gebe dir den dringenden Rat, von dort wegzubleiben.«

Leandro schloß für einen Moment die Augen und lehnte den Kopf gegen das Glas der Zelle. Er lächelte. Es war ein großes und wonnevolles Lächeln.

Recht. Die ganze Zeit recht gehabt. Ah, das waren Zauberworte, voll Schönheit und Heilkraft. Die ganze Zeit recht gehabt.

»John? Johnny? Bist du noch da?«

Leandro, der immer noch die Augen geschlossen hatte und immer noch lächelte, sagte: »Ich bin noch da.« Ich genieße es nur, David, alter Freund, denn ich glaube, ich habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet, daß mir_ jemand sagen würde, ich hätte die ganze Zeit recht gehabt. Mit etwas. Mit irgend etwas.

»Bleib weg. Ruf die Staatspolizei.«

»Würdest du das tun?«

»Nein, verdammt!«

Leandro lachte. »Na also, da hast du es. Ich komme zurecht. Ich habe den Sauerstoff...«

»Den hatte nach Angabe deines Verkäufers Hillman auch. Trotzdem ist er verschwunden.«

»Ich fahre«, wiederholte Leandro. »Was immer in Haven vor sich geht, ich werde der erste sein, der es sieht... und Fotos davon macht.«

»Gefällt mir nicht.«

»Wie spät ist es?« Leandros Uhr war stehengeblieben. Das war komisch; er war sicher, daß er sie aufgezogen hatte, als er heute morgen aufgestanden war.

»Fast zwei.«

»Okay. Ich rufe um vier wieder an. Dann um sechs. Und so weiter, bis ich wohlbehalten wieder daheim bin. Wenn du oder jemand anders nicht alle zwei Stunden von mir hört, dann ruft die Polizei.«

»Johnny, du hörst dich an wie ein Junge, der mit Zündhölzern spielt und seinem Vater sagt, wenn er Feuer fangen sollte, dürfte er die Flammen löschen.«

»Du bist nicht mein Vater«, sagte Leandro heftig.

Bright seufzte. »Hör zu, Johnny. Wenn es etwas ändert, es tut mir verdammt leid, daß ich dich mit Jimmy Olson verglichen habe. Du hattest recht, genügt das nicht? Bleib von Haven weg.«

»Zwei Stunden. Ich möchte zwei Stunden, David. Ich verdiene zwei Stunden, gottverdammt.«

Leandro legte auf.

Er ging zu seinem Auto zurück. Dann drehte er sich trotzig um, ging zum Fenster des Straßenlokals und bestellte zwei Cheeseburger mit allem darauf. Es war das erste Mal, daß er etwas in einem Restaurant bestellte, das seine Mutter Straßenlokal genannt hätte - aberwenn sie es sagte, dann klang das Wort wie die schwärzeste Grube des Entsetzens, so wie in Es kam aus dem Straßenlokal oder Die Erde gegen die Mikrobenmonster.

Die Cheeseburger waren heiß und in fettfleckiges Wachspapier mit der Aufschrift DERRY BURGER RANCH eingewickelt. Den ersten hatte er verschlungen, bevor er wieder bei seinem Dodge angekommen war.

»Wunderbar«, sagte er, und das Wort war so gedämpft, daß es zu etwas wie wunnebar wurde. »Wunnebar, wunnebar!«

Mikroben, tut euer Schlimmstes! dachte er mit beinahe trunkenem Trotz, während er auf die Route 9 fuhr. Er wußte natürlich nicht, daß sich die Dinge in Haven jetzt blitzartig änderten, und zwar schon seit dem Mittag; die Situation in Haven war, im Nuklearjargon, kritisch. Haven war buchstäblich zu einem anderen Land geworden, dessen Grenzen bewacht wurden.

Leandro, der das alles nicht wußte, fuhr weiter, biß in seinen zweiten Cheeseburger und bedauerte nur, daß er nicht noch einen Vanilleshake dazu bestellt hatte.

4

Als er am Supermarkt von Troy vorbeikam, war seine Euphorie verflogen und wieder dieser unterschwelligen Nervosität gewichen - der Himmel über ihm war von einem klaren Blau, in dem ein paar weiße Wölkchen schwebten, aber seine Nerven fühlten sich an, als stünde ein Gewitter bevor. Er betrachtete das Flachpack auf dem Beifahrersitz, die goldfarbene Maske, welche mit Zellophan überzogen war, auf dem stand: IHRER GESUNDHEIT WEGEN SICHERHEITSVERSIEGELT. Mit anderen Worten, dachte Leandro, Mikroben, verzieht euch!

Keine Autos auf der Straße. Keine Traktoren auf den Feldern. Keine Jungen, die mit Angeln in den Händen barfuß am Straßenrand entlanggingen. Troy träumte stumm (und zahnlos, vermutete Leandro) unter der Augustsonne.

Er hatte WZON im Radio eingestellt, und als er an der Baptistenkirche vorbeifuhr, verlor er den Sender im anschwellenden Murmeln anderer Stimmen. Nicht lange darauf fingen die Cheeseburger an, unruhig in seinem Magen herumzuwandern. Er konnte sich vorstellen, wie das Fett aus ihnen herausquoll, während sie das taten. Er war sehr nahe an der Stelle, wo er bei seinem ersten Versuch, nach Haven zu gelangen, umgekehrt war. Jetzt fuhr er, ohne zu zögern, rechts ran. Er wollte nicht, daß die Symptome schlimmer wurden. Die Cheeseburger waren zu gut gewesen, um sie wieder auszuspucken.

5

Nachdem er die Sauerstoffmaske übergezogen hatte, verschwand die Übelkeit auf der Stelle; das Gefühl unterschwelliger, nagender Nervosität dagegen blieb. Er sah sich selbst im Rückspiegel, die goldfarbene Maske auf dem Mund, und empfand einen Augenblick Angst - war er das? Die Augen dieses Mannes sahen zu ernst aus, zu angespannt... es waren die Augen eines Düsenjägerpiloten. Leandro wollte nicht, daß ihn

Leute wie David Bright für eine Niete hielten, aber er war nicht sicher, ob er so ernst aussehen wollte.

Jetzt ist es zu spät. Du bist mittendrin.

Aus dem Radio schwatzten hundert Stimmen, vielleicht tausend. Leandro schaltete es ab. Vor sich konnte er die Stadtgrenze von Haven erkennen. Leandro, der keine Ahnung von unsichtbaren Nylonstrümp -fen hatte, fuhr bis zum Grenzschild - und dann daran vorbei nach Haven, ohne irgendwelche Probleme zu haben.

Obwohl die Batterieversorgung in Haven wieder kritisch wurde, hätte man Kraftfelder errichten können, um die Straßen zur Stadt abzuriegeln. Aber in der ängstlichen Verwirrung angesichts der Ereignisse des Vormittags hatten Dick Allison und Newt eine Entscheidung getroffen, die sich nun direkt auf John Leandro auswirkte. Sie wollten Haven abgeriegelt wissen, aber sie wollten nicht, daß jemand mitten auf dem freien Feld gegen eine unsichtbare Barriere prallte, umkehrte und diese Geschichte den falschen Leuten erzählte...

... und das waren inzwischen alle Menschen auf der Erde.

Ich glaube nicht, daß jemand so nahe herankommen kann, sagte Newt. Er und Dick saßen in Dicks Lastwagen, der Teil einer Prozession von Autos und Lieferwagen war, die zu Bobbi Anderson hinausrasten.

Das habe ich auch gedacht, antwortete Dick. Aber das war vor Hillman... und Bobbies Schwester. Nein, es könnte jemand hereinkommen ... aber wenn, dann kommt er nicht wieder hinaus.

Also gut, prächtig. Bist König für einen Tag. Und kannst du dieses Miststück nicht schneller fahren?

Die Gedanken der beiden Männer-die Gedanken aller um sie herumwaren fassungslos und wütend. Im Augenblick schien das mögliche Eindringen von Auswärtigen nach Haven ihre geringste Sorge zu sein.

»Ich wußte, wir hätten uns diesen gottverdammten Trunkenbold vom Hals schaffen sollen!« rief Dick und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. Heute hatte er kein Make-up aufgelegt. Seine Haut wurde nicht nur zunehmend durchsichtiger, sie wurde auch rauher. In seinem Gesicht - ebenso wie in Newts Gesicht und in den Gesichtern der anderen, die eine gewisse Zeit in Bobbis Schuppen verbracht hatten -hatte die Mundpartie angefangen zu schwellen. Sie wurde eindeutig schnauzenähnlich.

6

Davon wußte John Leandro natürlich nichts - er wußte nur, daß die Luft um ihn herum giftig war - giftiger, als er jemals für möglich gehalten hätte. Er hatte die goldfarbene Maske nur für einen einzigen Atemzug abgenommen, und daraufhin war die Welt sofort trübe geworden und verschwommen. Er hatte die Maske rasch, mit zitternden Händen und klopfendem Herzen, wieder aufgesetzt.

Etwa zweihundert Meter jenseits der Stadtgrenze gab sein Dodge schlicht und einfach den Geist auf. Die meisten Autos und Lieferwagen in Haven waren im Verlauf der vergangenen zwei Monate dergestalt umgebaut worden, daß sie gegen das immer stärker werdende elektromagnetische Feld immun waren, welches das Schiff in der Erde abstrahlte (der größte Teil der Arbeiten war in Elt Barkers Shell-Tankstelle ausgeführt worden), aber Leandros Auto war dieser Behandlung nicht unterzogen worden.

Er saß einen Augenblick hinter dem Steuer und sah ratlos auf die roten Lichter hinunter. Er stellte das Automatikgetriebe auf Parken und drehte den Zündschlüssel herum. Der Motor gab keinen Mucks von sich. Verdammt, nicht einmal der Anlasser klackte.

Wahrscheinlich ist das Batteriekabel ab.

Es war nicht das Batteriekabel. In diesem Fall hätte die Zündanzeige nicht aufgeleuchtet. Aber das war nicht wichtig. Er wußte, daß es nicht das Batteriekabel war, weil er es eben wußte.

Hier standen auf beiden Straßenseiten Bäume. Durch ihre rauschenden Blätter hindurch zeichnete die Sonne verwirrende Lichtmuster auf den Asphalt und den weißen Staub am Straßenrand. Leandro hatte plötzlich den Eindruck, daß ihn hinter diesen Blättern Augen ansahen. Das war natürlich albern, aber der Eindruck war dennoch sehr stark.

Okay, _ jetzt mußt du aussteigen und zusehen, ob du aus dem Giftgürtel herauswandern kannst, bevor dir die Luft ausgeht. Je länger du hier sitzt und dir vor Angst in die Hosen machst, desto schlechter werden deine Chancen.

Er drehte noch einmal den Zündschlüssel. Nichts.

Er nahm seine Kamera, schlang sich den Gurt über die Schulter und stieg aus. Er sah unbehaglich in den Wald rechts von der Straße. Er glaubte, hinter sich etwas zu hören - ein schlurfendes Geräusch - und wirbelte hastig herum, die Lippen zu einem trockenen Grinsen der Angst verzerrt.

Nichts... nichts, das er sehen konnte.

Der Wald ist herrlich, dunkel und tief...

Setz dich in Bewegung. Du stehst hier herum und vergeudest deine Luft.

Er machte die Tür noch einmal auf, öffnete das Handschuhfach und holte die Pistole heraus. Er lud sie, dann versuchte er, sie in die rechte Hosentasche zu stecken. Sie war zu groß. Er hatte Angst, sie könnte losgehen, wenn er sie dort ließ. Er zog das neue T-Shirt hoch, steckte sie in den Gürtel und ließ das T-Shirt wieder herunter.

Er sah wieder in den Wald, dann verbittert auf das Auto. Er konnte Fotos machen, dachte er, aber was würde darauf sein ? Nichts als eine verlassene Landstraße. Die konnte man überall im Staat sehen, selbst während der Haupt-Touristensaison. Die Fotos konnten das Fehlen jeglicher Waldgeräusche nicht vermitteln; sie würden nicht zeigen, daß die Luft vergiftet war.

Soviel zu deinem Knüller, ]ohnny. Oh, du wirst sicher eine Menge Artikel darüber schreiben, und ich habe das Gefühl, du wirst einer Menge Kamerateams sagen, welches deine beste Seite ist, aber dein Bild auf dem Cover von Newsweek? Der Pulitzerpreis? Vergiß es.

Ein Teil von ihm - der erwachsenere Teil - beharrte, daß das dumm war, daß ein halber Laib Brot besser war als gar keiner, daß die meisten Reporter auf der Welt einen Mord begehen würden, um auch nur eine Scheibe von diesem Brot abzubekommen, wie immer es auch aussehen mochte.

Aber John Leandro war eigentlich jünger als seine vierundzwanzig Jahre. Als David Bright eine gewaltige Niete in ihm gesehen hatte, hatte er sich nicht geirrt. Natürlich gab es Gründe für Leandros Art, aber diese Gründe änderten nichts an den Tatsachen. Er fühlte sich wie ein Anfänger, dem bei seinem ersten Oberligaspiel ein Bombenschlag gelingt. Nicht schlecht, aber in seinem Herzen ruft eine Stimme: He, Gott, wenn du mir schon eine _ fette Chance gabst, warum hast du mir dann nicht alles gegeben?

Haven Village war nur eine knappe Meile entfernt. Er hätte es in fünfzehn Minuten erreichen können... aber dann würde er nicht aus dem Giftgürtel heraus sein, bevor die Luft in dem Flachpack ausging, und das wußte er.

Wenn ich nur zwei dieser verdammten Dinger gemietet hätte.

Selbst wenn du daran gedacht hättest, hättest du nicht genügendGeld bei dir gehabt, um diese beschissene Kaution zu hinterlegen. Die Frage ist, ]ohnny, möchtest du für deinen Knüller sterben oder nicht?

Wollte er nicht. Er wollte, daß sein Bild auf dem Cover von Newsweek auftauchte, aber er wollte nicht, daß es von einem Trauerrand umgeben war.

Er stapfte Richtung Stadtgrenze von Troy zurück. Er war fünf Dutzend Schritte weit gekommen, als er feststellte, daß er Motoren hörte -eine ganze Menge, sehr leise.

Auf der anderen Seite der Stadt ist etwas los.

Könnte ebensogut auf der dunklen Seite des Mondes etwas los sein. Vergiß es.

Er warf noch einmal einen unsicheren Blick in den Wald und ging weiter. Er brachte noch ein Dutzend Schritte hinter sich, dann stellte er fest, daß er noch ein Geräusch hören konnte: ein leises, näherkommendes Summen hinter sich.

Er drehte sich rum. Sein Kiefer klappte herunter. In Haven war fast der ganze Juli der Monat der kolossalen Erfindungen gewesen. Im

Verlauf des »Werdens« hatten die meisten Havener das Interesse an solchen Dingen verloren... aber die Geräte waren immer noch da, seltsame weiße Elefanten wie die, die Gardener in Bobbis Schuppen gesehen hatte. Viele davon waren zu Grenzwachen umfunktioniert worden. Hazel McCready saß vor einem Tisch voll Kopfhörer im Rathaus und kontrollierte eines nach dem anderen. Sie war wütend, weil sie zurückgelassen worden war, um diese Pflicht zu erfüllen, während draußen auf Bobbis Farm die Zukunft von allem im Ungewissen lag. Aber jetzt... jetzt war sicherlich jemand in die Stadt eingedrungen.

Hazel, die froh war über die Abwechslung, beschloß, sich des Eindringlings anzunehmen.

7

Es war der Cola-Automat, der vor Cooder's Market gestanden hatte. Leandro stand starr vor Erstaunen da und sah zu, wie er näherkam: ein munterer weiß-roter Kasten, zwei Meter hoch und einen Meter zwanzig breit. Er kam rasch auf ihn zu, die Unterseite schwebte etwa zwanzig Zentimeter über der Straße.

Ich bin in einen Werbespot geraten, dachte Leandro. Einen ganz verrückten Werbespot. In ein oder zwei Sekunden wird die Tür von diesem Ding aufgehen, und O. ]. Simpson wird herausfliegen.

Das war eine komische Vorstellung. Leandro fing an zu lachen. Noch während er lachte, fiel ihm ein, daß er hier sein Foto hatte - o Gott, hier hatte er sein Foto, hier kam ein Cola-Automat eine asphaltierte Landstraße entlanggeschwebt.

Er griff nach der Nikon. Der Cola-Automat, der vor sich hinsummte, wich Leandros Auto aus und kam näher. Er sah aus wie die Halluzination eines Verrückten, aber auf der Vorderseite der Maschine stand, so gern man auch das Gegenteil geglaubt hätte, daß dies THE REAL THING sei.

Immer noch lachend begriff Leandro, daß das Ding nicht anhalten würde, daß es tatsächlich noch beschleunigte. Und was war ein Getränkeautomat eigentlich ? Ein Kühlschrank mit Werbung darauf. Und Kühlschränke waren schwer. Der Cola-Automat, ein rotweißer Marschflugkörper, glitt durch die Luft auf Leandro zu. Der Wind heulte hohl im Geldrückgabeschlitz.

Leandro vergaß das Foto. Er sprang nach links. Der Cola-Automat traf sein rechtes Schienbein und brach es. Einen Augenblick war sein Bein nichts weiter als weißglühender Schmerz. Er schrie in die goldfarbene Maske, als er auf dem Bauch auf der Straße landete und dabei sein T-Shirt zerriß. Die Nikon schnellte bis ans Ende ihres Gurts und fiel knirschend auf den Schotterstreifen am Straßenrand.

Du Hurensohn, diese Kamera hat vierhundert Dollar gekostet!

Er richtete sich auf die Knie auf und drehte sich um, mit aufgerissenem T-Shirt, blutender Brust, kreischendem Bein.

Der Cola-Automat kam zurück. Er hing einen Augenblick in der Luft, seine Vorderseite drehte sich mit kurzen Bewegungen, die Leandro an das Schwenken einer Radarantenne erinnerten. Die Sonne spiegelte sich in der Glasscheibe der Tür. Leandro konnte Cola- und Fantaflaschen dahinter sehen.

Plötzlich drehte er sich in seine Richtung und beschleunigte.

Das Ding hat mich gefunden, Herrgott...

Er stand auf und versuchte, auf dem linken Fuß zu seinem Auto zu hüpfen. Der Automat warf sich auf ihn, sein Münzrückgabeschlitz heulte unheilbringend.

Leandro warf sich kreischend nach vorne und rollte sich ab. Der ColaAutomat verfehlte ihn um etwa fünf Zentimeter. Er landete auf der Straße. Schmerzen bellten an seinem gebrochenen Bein hinauf. Leandro schrie.

Die Maschine wendete, hielt inne, fand ihn und beschleunigte wieder.

Leandro tastete nach der Pistole in seinem Gürtel und holte sie heraus. Er balancierte auf den Knien und feuerte viermal. Jeder Schuß traf. Der dritte zerschmetterte die Glastür der Maschine.

Das letzte, das Leandro sah, bevor die Maschine - die knapp über sechshundert Pfund wog - auf ihn prallte, waren verschiedene alkoholfreie Getränke, die sich schäumend und tropfend aus den Flaschenhälsen ergossen, die seine Kugeln zerschmettert hatten.

Abgebrochene Flaschenhälse kamen mit einer Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern auf ihn zu.

Mama! kreischte Leandros Verstand, und er warf schützend beide Arme vor das Gesicht.

Er brauchte sich keine Sorgen wegen abgebrochener Flaschenhälse zu machen oder wegen der Mikroben, die möglicherweise in den Cheeseburgern der Burger-Ranch gewesen waren. Eine große Wahrheit des Lebens ist folgende: wenn man von einem rasenden, sechshundert Pfund schweren Cola-Automaten plattgewalzt wird, braucht man sich um sonst nichts mehr Sorgen zu machen.

Ein platschendes, knirschendes Geräusch war zu hören. Leandros Schädel barst wie eine auf den Boden geworfene Ming-Vase. Einen Sekundenbruchteil später brach seine Wirbelsäule. Einen Augenblick riß ihn die Maschine mit, er klebte an ihrer Vorderseite wie ein sehr großer Käfer auf der Windschutzscheibe eines schnell fahrenden Autos. Seine gespreizten Beine schleiften auf der Straße, der Mittelstreifen glitt zwischen ihnen hindurch. Die Absätze seiner Schuhe wurden zu rauchenden Gummistummeln. Einer fiel ab.

Dann glitt er von dem Automaten herab und fiel auf die Straße.

Der Cola-Automat kehrte nach Haven Village zurück. Beim Zusammenprall mit Leandro war der Geldbehälter beschädigt worden, und während die Maschine summend durch die Luft schwebte, ergoß sich ein unablässiger Strom Münzen - Vierteldollars, Nickels und Dimes - aus dem Münzrückgabeschlitz und rollte über die Straße.

Achtes Kapitel

Gard und Bobbi

1

Gardener wußte, daß Bobbi bald handeln würde - die alte Bobbi hatte erfüllt, was die Neue und Verbesserte Bobbi als ihre letzte Verpflichtung gegenüber dem guten Jim Gardener angesehen hatte, der gekommen war, um seine Freundin zu retten, und der geblieben war, um einen verdammt seltsamen Zaun zu streichen.

Er vermutete, daß es die Schlinge sein würde - Bobbi würde als erste hinauffahren wollen, und dann würde sie die Schlinge einfach nicht mehr herunterschicken. Er würde unten bleiben, bei der Luke, und dort würde er sterben, neben diesem seltsamen Symbol. Bobbi würde sich nicht einmal mit der Tatsache eines Mordes befassen müssen. Und sie brauchte sich auch nicht damit zu quälen, daß der gute alte Gard dort unten langsam und kläglich verhungern würde. Der gute alte Gard würde ziemlich schnell an rasch aufeinanderfolgenden Blutungen sterben.

Aber Bobbi bestand darauf, daß Gard als erster hinauffuhr, und der sardonische Ausdruck ihrer Augen sagte Gardener, daß sie ganz genau wußte, was er dachte... und um das zu wissen, brauchte sie nicht seine Gedanken zu lesen.

Die Schlinge erhob sich in die Luft, und Gardener klammerte sich am Seil fest und kämpfte gegen Brechreiz an - er glaubte, daß er nicht mehr lange dagegen ankämpfen konnte, aber Bobbi hatte ihm einen Gedanken geschickt, der laut und deutlich durchgekommen war, als sie durch die Luke wieder herausstiegen: Nimm die-Maske-meht ab, bevor du wieder oben bist. Waren Bobbis Gedanken deutlicher, oder bildete er sich das nur ein? Nein. Keine Einbildung. Sie hatten im Inneren des Schiffes beide wieder eine Beschleunigung erfahren. Seine Nase blutete immer noch, sein ganzes Hemd war durchweicht; die Atemmaske füllte sich langsam. Es war bei weitem das schlimmste Nasenbluten, seit Bobbi ihn hierher gebracht hatte.

Warum nicht? hatte er zurückgeschickt und sich dabei sorgfältig bemüht, nur diesen Gedanken von der Oberfläche zu senden und keinen darunter.

Die meisten Maschinen, die wir gehört haben, waren Luftaustauscher. Wenn du die Luft in der Grube einatmest, würde sie dich ebenso schnell erledigen wie die aus dem Schiff, als wir es öffneten. Es wird einen Tag dauern, bis sie sich verflüchtigt hat, vielleicht länger.

Nicht gerade das Denken, das man von einer Frau erwarten würde, die einen umbringen will - aber die Absicht war in Bobbis Augen, und er hatte das Gefühl, daß sie im Hintergrund sämtlicher Gedanken Bobbis stand.

Gardener klammerte sich verbissen an das Seil, biß auf das Gummimundstück und bemühte sich, seinen Magen zum Stillhalten zu zwingen.

Die Schlinge kam oben an. Er ging auf Beinen weg, die sich anfühlten, als bestünden sie aus Gummi und Büroklammern, und er sah kaum den Electrolux, der die Knöpfe bediente. Zähle bis zehn, dachte er. Zähle bis zehn, geh so weit von der Kluft weg, wie du kannst, dann nimm die Maske ab und warte, was passiert. Ich würde sowieso lieber sterben, als mich weiterhin so zu_ fühlen.

Er kam bis fünf, dann hielt er es nicht mehr aus. Verrückte Bilder tanzten vor seinen Augen: wie er Patricia McCardle den Drink in den Ausschnitt geschüttet hatte, wie Bobbi von ihrer Veranda taumelte, als sie herausgekommen war, um ihn zu begrüßen; der große Mann mit der goldfarbenen Maske über Mund und Nase, der ihn aus dem Beifahrerfenster eines Geländewagens angesehen hatte, als Gardener betrunken auf der Veranda lag.

Wenn ich draußen in der Kiesgrube noch an ein paar anderen Stellen gegraben hätte, dann hätte ich ihn vielleicht auch gefunden, dachte er, und dann rebellierte sein Magen endgültig.

Er riß die Maske herunter und übergab sich, wobei er sich an eine Kiefer am Rand der Lichtung tastete und sich Halt suchend daran festklammerte.

Er machte es noch einmal, und ihm wurde klar, daß er in seinem ganzen Leben noch nicht so gekotzt hatte. Aber er hatte darüber gelesen. Das Erbrochene - das meiste davon blutig-, schoß wie Gewehrkugeln aus ihm heraus. Diese Art von Erbrechen betrachtet man in medizinischen Kreisen nicht als Zeichen guter Gesundheit.

.Graue Schleier schwebten vor seine Augen. Seine Knie gaben nach.

Scheiße, ich sterbe, dachte er, aber diese Vorstellung schien keinen emotionalen Gehalt zu haben. Es waren schlechte Nachrichten, nicht mehr und nicht weniger. Er spürte, wie seine Hände an der rauhen Rinde der Kiefer hinabrutschten. Er spürte teeriges Harz. Am Rande registrierte er, daß die Luft verfault und gelb und schweflig roch - wie eine Papierfabrik nach einer Woche stillem, bedecktem Wetter. Es war ihm einerlei. Ob er in die himmlischen Gefilde gelangte oder nur in ein schwarzes Nichts - einen solchen Gestank würde es dort nicht geben. Vielleicht würde er doch gewinnen. Am besten einfach gehenlassen. Einfach...

Nein! Nein, du wirst dich nicht einfach gehen lassen! Du bist zurückgekommen, um Bobbi zu retten - gut, Bobbi war möglicherweise schon nicht mehr zu retten, aber der Junge ist noch da, und der ist es wahrscheinlich. Bitte, Gard, versuch es wenigstens!

»Laß es nicht umsonst sein«, sagte er mit brüchiger, schwankender Stimme. »Jesus Christus, bitte laß es nicht umsonst sein.«

Der wabernde graue Nebel klärte sich ein wenig. Das Erbrechen ließ nach. Er hob die Hand zum Gesicht und wischte Blut damit ab.

Eine Hand berührte seinen Nacken, und Gardener bekam eine Gänsehaut. Eine Hand... Bobbis Hand... aber keine menschliche Hand mehr.

Gard, alles in Ordnung?

»Alles in Ordnung«, antwortete er laut und schaffte es, auf die Beine zu kommen.

Die Welt verschwamm, dann gewann sie wieder Konturen. Als erstes sah er Bobbi darin. Auf Bobbis Gesicht lag ein kalter, berechnender Ausdruck. Er sah keine Liebe darin, nicht einmal geheuchelte Sorge. Bobbi konnte solche Dinge nicht mehr empfinden.

»Gehen wir«, sagte Gardener heiser. »Du fährst. Ich fühle mich...« Er stolperte und mußte sich an Bobbis Schulter festhalten, um nicht hinzufallen. »... ein wenig schwindlig. Muß am Wetter liegen.«

2

Als sie wieder bei der Farm waren, ging es Gardener etwas besser. Sein Nasenbluten war zu einem Rinnsal geworden. Während er die Maske getragen hatte, hatte er eine beachtliche Menge Blut geschluckt; vieles davon mußte das Blut gewesen sein, das er in seinem Erbrochenen gesehen hatte. Hoffte er.

Er hatte insgesamt neun Zähne verloren.

»Ich möchte das Hemd wechseln«, sagte er zu Bobbi.

Bobbi nickte gleichgültig. »Komm in die Küche, wenn du fertig bist«, sagte sie. »Wir müssen miteinander reden.«

»Ja. Glaube ich auch.«

Im Gästezimmer zog Gardener das T-Shirt aus, das er angehabt hatte, und streifte ein frisches über. Er ließ es über den Gürtel herabhängen. Er ging ans Fußende des Bettes, hob die Matratze, nahm die 45er heraus und steckte sie in die Hose. Das T-Shirt war zu weit, er hatte eine Menge abgenommen. Wenn er den Bauch einzog, war der Kolben der Waffe fast nicht zu sehen. Er hielt noch einen Augenblick inne und fragte sich, ob er wirklich bereit dazu war. Er vermutete, daß man so etwas im voraus nie wissen konnte. Dumpfe Kopfschmerzen pochten hinter seinen Schläfen, die Welt schien zyklisch zu verschwimmen und wieder scharf zu werden Sein Mund tat weh, seine Nase war mit trocknendem Blut verstopft.

Das war es; ein Showdown, wie ihn Bobbi in ihren Western nicht besser hatte beschreiben können. Zwölf Uhr mittags in Maine Mach dein Spiel, Partner.

Der Hauch eines Lächelns spielte um seine Lippen. Sämtliche Möchtegernphilosophen in den Anfängerklassen sagten, daß das Leben eine seltsame Sache war, aber dies hier war der absolute Schlager.

Er ging in die Küche.

Bobbi saß am Küchentisch und sah ihn an. Eine seltsame, verschwommen sichtbare grüne Flüssigkeit zirkulierte unter der Oberfläche ihres durchsichtigen Gesichts. Ihre Augen - größer, die Pupillen seltsam mißgestaltet - blickten Gardener nüchtern an.

Auf dem Tisch stand ein Radiorecorder. Dick Allison hatte ihn Bobbi vor drei Tagen gebracht, weil sie ihn darum gebeten hatte. Es war derjenige, den Hank Bück benutzt hatte, um Pits Barfield zu dem großen Ersatzbataillon im Himmel zu schicken. Bobbi hatte weniger als zwanzig Minuten gebraucht, um ihn mit der Spielzeugpistole zu verbinden, die sie jetzt auf Gardener richtete.

Auf dem Tisch standen zwei Bier und ein Glas mit Tabletten. Gardener kannte das Glas. Bobbi mußte im Bad gewesen sein und es geholt haben, während er das Hemd gewechselt hatte. Es war sein Valium.

»Setz dich, Gard«, sagte Bobbi.

3

Gardener hatte seinen geistigen Schutzschirm errichtet, sobald sie das Schiff verlassen hatten. Die Frage war, wieviel noch davon übriggeblieben war.

Er ging langsam durch den Raum und setzte sich an den Tisch. Er spürte, wie die .45er gegen seinen Magen und die Lenden drückte; er spürte sie auch in seinen Gedanken, wo sie schwer an dem lehnte, was von seinem Schild noch übrig war.

» Sind die für mich?« fragte er und deutete auf die Pillen.

»Ich dachte, wir trinken ein Bier zusammen«, sagte Bobbi sachlich, »so wie alte Freunde. Und du könntest ab und zu eine nehmen, während wir uns unterhalten. Ich finde, das ist die gnädigste Methode.«

»Gnädig«, wiederholte Gardener. Er verspürte den ersten leisen Zorn aufwallen. Won't get fooled again, so ging ein Song - Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten -, aber die Angewohnheit war nur schwer zu überwinden. Er jedenfalls hatte sich gewaltig zum Narren halten lassen. Aber, dachte er, vielleicht bist du die Ausnahme von der Regel, Gard-alter-Gard

»Ich bekomme die Tabletten, und Peter bekam sein seltsames Aquarium im Schuppen. Bobbi, deine Vorstellung von Gnade hat sich wirklich drastisch verändert seit jenen Tagen, als du geweint hast, wenn Peter einen toten Vogel nach Hause brachte, Erinnerst du dich noch? Wir lebten gemeinsam hier, wir haben deiner Schwester getrotzt, als sie herkam, und wir mußten sie nicht in eine Duschkabine hängen, um sie loszuwerden. Wir haben ihr einfach einen verdammten Arschtritt verpaßt.« Er sah sie ernst an. »Erinnerst du dich noch, Bobbi? Das war damals, als wir nicht nur Freunde, sondern Liebende waren. Ich dachte, du hättest es vielleicht vergessen. Ich wäre für dich gestorben, Mädchen. Und ich wäre ohne dich gestorben. Weißt du es noch? Erinnerst du dich noch an uns?«

Bobbi betrachtete ihre Hände. Sah er Tränen in diesen fremden Augen? Wahrscheinlich war das nur Wunschdenken.

»Wann warst du im Schuppen?«

»Gestern abend.«

»Was hast du angerührt?«

»Früher habe ich dich angerührt«, sagte Gardener nachdenklich. »Und du mich. Und keinen von uns hat es gestört. Erinnerst du dich?«

»Was hast du angerührt?« schrie sie ihn schrill an, und als sie wieder aufschaute, sah er nicht mehr Bobbi, sondern nur noch ein wütendes Monster.

»Nichts«, sagte Gardener. »Ich habe nichts angerührt.« Die Verachtung in seinem Gesicht mußte überzeugender gewesen sein als jede Beteuerung, denn Bobbi beruhigte sich wieder. Sie trank einen Schluck von ihrem Bier.

»Spielt keine Rolle. Du hättest da drinnen sowieso nichts machen können.«

»Wie konntest du Peter das nur antun? Daran muß ich immerzu denken. Den alten Mann habe ich nicht gekannt, und Anne hatte hier nichts zu suchen. Aber Peter habe ich gekannt. Er wäre auch für dich gestorben. Wie konntest du das tun? In Gottes Namen?«

»Er hielt mich am Leben, als du nicht da warst«, sagte Bobbi. In ihrer Stimme schwang ein leiser, unbehaglicher, verteidigender Tonfall mit. »Als ich rund um die Uhr arbeitete. Er war der einzige Grund, daß du noch jemanden retten konntest, als du hier angekommen bist.«

»Du verdammter Vampir!«

Sie sah ihn an, dann weg.

»Jesus Christus, du hast so etwas getan, und ich habe mitgemacht. Weißt du, wie weh das tut? Ich habe mitgemacht! Ich habe gesehen,was mit dir geschieht... und am Rande auch, was mit den anderen geschah, aber ich habe trotzdem mitgemacht. Weil ich verrückt war. Aber das hast du natürlich gewußt, nicht? Du hast mich auf dieselbe Weise benutzt wie Peter, aber ich war nicht einmal so schlau wie ein alter

Beagle, denn mich mußtest du nicht in den Schuppen bringen und mir eines dieser verfluchten stinkenden Kabel in den Kopf stecken, damit ich gehorchte. Du hast mich einfach nur geölt. Du hast mir eine Schaufel in die Hand gedrückt und hast gesagt: >Los doch, Gard, graben wir dieses Ding aus und halten wir uns die Polizei von Dallas vom Hals.< Aber du bist die Polizei von Dallas. Und ich habe mitgemacht.«

»Trink dein Bier«, sagte Bobbi. Ihr Gesicht war wieder kalt.

»Und wenn nicht?«

»Dann werde ich dieses Radio einschalten«, sagte Bobbi, »und ein Loch in der Wirklichkeit öffnen, und dich... irgendwohin schicken.«

»Nach Altair-4?« fragte Gardener. Er sprach mit beiläufiger Stimme und festigte seinen geistigen Griff

(Schirm-Schirm-Schirm-Schirm) um die Barriere in seinem Verstand. Bobbi runzelte die Stirn ein weinig, und Gardener spürte, wie ihre geistigen Finger wieder bohrten, gruben, herauszufinden versuchten, was er wußte, wieviel - und woher.

Lenke sie ab. Bring sie in Wut und lenke sie ab. Aber wie?

»Du hast eine ganze Menge herumgeschnüffelt, nicht?« sagte Bobbi.

»Erst als ich begriffen habe, wie sehr du mich belügst.« Und plötzlich wußte er es. Er hatte es im Schuppen begriffen, ohne es überhaupt zu merken.

»Die meisten Lügen hast du dir selbst erzählt, Gard.«

»Ach? Was ist mit dem Jungen, der gestorben ist? Oder dem Mädchen, das blind wurde?«

»Woher weißt du . ..«

»Der Schuppen. Dorthin gehst du, um schlau zu werden, nicht?«

Sie sagte nichts.

»Du hast sie losgeschickt, um Batterien zu holen. Du hast ihn umgebracht und sie geblendet, um Batterien zu bekommen. Mein Gott, Bobbi, wie konntest du nur so dumm werden?«

»Wir sind intelligenter, als du dir je zu träumen gewagt...«

»Wer redet denn von Intelligenz?« schrie er wütend. »Ich spreche von Klugheit! Gesundem Menschenverstand, verflucht nochmal! Die Stromleitungen von CMP verlaufen direkt hinter deinem Haus! Warum hast du die nicht angezapft?«

»Klar.« Bobbi lächelte mit ihrem unheimlichen Mund. »Ein wirklich intelligenter - Verzeihung, kluger - Vorschlag. Und bei der ersten Gelegenheit, wenn die Techniker in Augusta den Energieverlust festgestellt hätten...«

»Du versorgst fast alles mit C-, D- und Doppel-A-Batterien«, sagte Gard. »Das ist ein Rinnsal. Jemand, der eine große Motorsäge mit Hausstrom betreibt, würde ihnen mehr Energieabfall bescheren.«

Sie schien verwirrt zu sein. Schien zu lauschen - nicht irgend jemandem, sondern ihrer eigenen inneren Stimme. »Batterien arbeiten mit Gleichstrom, Gard. Wechselstrom hätte uns nichts genützt...«

Er schlug sich mit den Fäusten gegen die Schläfen und schrie: »Hast du noch nie einen gottverdammten Wechselstromumformer gesehen? Die kann man für drei Dollars im Radio Shack kaufen! Willst du mir wirklich im Ernst erzählen, du hättest nicht einen einfachen Wechselstromumformer bauen können, obwohl du deinen Traktor so umbauen konntest, daß er fliegt, und obwohl du eine telepathische Schreibmaschine gebaut hast? Bist du...«

»Niemand hat daran gedacht!« kreischte sie plötzlich.

Es folgte ein Augenblick des Schweigens. Sie sah verblüfft aus, als hätte ihre eigene Stimme sie erschreckt.

»Niemand hat daran gedacht«, sagte er. »Ganz recht. Also hast du diese beiden Kinder geschickt, die bereit waren, ihren Auftrag zu erfüllen oder für das gute alte Haven zu sterben, und jetzt ist der Junge tot, und das Mädchen ist blind. Das ist Scheiße, Bobbi. Es ist mir gleich, wer oder was dich übernommen hat - ein Teil von dir muß noch da drinnen sein. Ein Teil von dir muß erkennen, daß ihr überhaupt nichts Kreatives getan habt. Ganz im Gegenteil. Ihr habt Verdummungstabletten geschluckt und euch gegenseitig dazu gratuliert, wie wunderbar alles ist. Ich war derjenige, der verrückt war. Ich habe mir auch dann noch eingeredet, daß alles gut werden würde, als ich es besser wußte. Aber es ist genau dieselbe alte Scheiße wie immer. Ihr könnt Menschen desintegrieren, ihr könnt sie irgendwohin teleportieren, um sie zu verwahren oder zu begraben oder was auch immer, aber ihr seid so blöd wie ein Baby mit einer geladenen Pistole.«

»Ich glaube, du bist jetzt besser still, Gard.«

»Ihr habt nicht daran gedacht«, sagte er leise. »Mein Gott, Bobbi! Wie kannst du noch in den Spiegel schauen? Irgendeiner von euch?«

»Ich sagte, du bist jetzt...«

»Ihr seid nichts als eine Bande von Dummköpfen mit Schraubenziehern.« Er lachte.

»Sei still!« schrie sie.

»Jesus«, sagte Gard. »Habe ich wirklich geglaubt, Sissy wäre tot? Habe ich das?«

Sie zitterte.

Er nickte zu der Spielzeugpistole. »Wenn ich das Bier nicht trinke und die Tabletten nicht nehme, dann wirst du mich nach Altair-4 schicken, richtig? Ich kann für David Brown Babysitter spielen, bis wir beide ersticken oder verhungern oder an der kosmischen Strahlung zugrunde gehen.«

Sie war jetzt diabolisch kalt, und das tat weh - mehr als er je für möglich gehalten hätte-, aber immerhin versuchte sie nicht mehr, ihn zu lesen. In ihrem Zorn hatte sie es vergessen.

So wie sie vergessen hatte, wie einfach es war, ein batteriebetriebenes Bandgerät an die Wandsteckdose anzuschließen, wenn man einen einfachen Gleichstromumformer zwischen das Gerät und die Stromquelle schaltete.

»Eigentlich gibt es gar kein Altair-4, so wie es eigentlich auch keine Tommyknockers gibt. Für ein paar Dinge gibt es keine Namen, die sind einfach. Jemand gibt ihnen hier einen Namen, und jemand gibt ihnen dort einen anderen Namen. Es ist nie ein guter Name, aber das spielt keine Rolle. Du bist von New Hampshire zurückgekommen und hast von Tommyknockers gesprochen und an Tommyknockers gedacht, also sind wir eben das. Anderswo nennt man uns anders. Und Altair-4 auch. Das ist nur ein Lagerplatz. Normalerweise nicht für Lebewesen. Dachböden können kalt und dunkel sein.«

»Kommt ihr dort her? Dein Volk?«

Bobbi - oder was immer das war, das ihr ein wenig ähnlich sah - lachte fast sanft. »Wir sind kein >Volk<, Gard. Keine >Rasse< Keine >Gattung< Klaatu wird nicht kommen und sagen: >Bringt mich zu eurem Anführen. Nein, wir sind nicht von Altair-4.«

Sie sah ihn an und lächelte immer noch ein wenig. Sie hatte ihre Gelassenheit fast wiedererlangt... und vorläufig schien sie die Tabletten vergessen zu haben.

»Wenn du von Altair-4 weißt, dann wundert es mich, daß du die Existenz des Schiffes als solche nicht ein wenig seltsam findest.«

Gardener sah sie nur an.

»Ich nehme an, du hattest nicht genügend Zeit, dich zu fragen, wieso eine Rasse, die Zugang zur Teleportationstechnologie hat« - Bobbi schwenkte die Plastikpistole ein wenig - »sich überhaupt die Mühe macht, mit einem physischen Schiff umherzusausen.«

Gardener zog die Brauen hoch. Nein, daran hatte er nicht gedacht, aber jetzt, wo Bobbi es angesprochen hatte, erinnerte er sich, wie ihn ein Kollege einmal gefragt hatte, warum Kirk, Spock und Kumpane sich die Mühe mit dem Raumschiff Enterprise machten, wo sie sich doch zu jedem Ort im Universum hinbeamen konnten.

»Verdummungspillen«, sagte er.

»Ganz und gar nicht. Das ist wie beim Rundfunk. Es gibt Wellenlängen. Aber darüber hinaus verstehen wir es nicht besonders gut. Was für die meisten Dinge gilt, Gard. Wir bauen, aber wir verstehen nicht. Wie auch immer, wir haben an die neunzigtausend >klare< Wellenlängen identifiziert - das bedeutet, pro-lineare Settings, auf die zweierlei zutrifft: Vermeidung des binomialen Paradoxons, welches die Reintegration lebenden Gewebes und unbearbeiteter Materie verhindert, und die tatsächlich irgendwohin führen. Aber in den meisten Fällen führen sie zu Orten, wo niemand gerne hin möchte.«

»Als würde man eine kostenlose Reise nach Utica gewinnen, hm?«

»Viel schlimmer. Es gibt da einen Ort, der offenbar sehr viel Ähnlichkeit mit der Oberfläche des Jupiter hat. Wenn du eine Tür dorthin öffnest, dann ist der Druckunterschied so extrem, daß es einen Tornado in der Tür auslöst, der rasch eine steigende elektrische Ladung annimmt, die die Tür weiter und weiter aufreißt... es ist, als risse man eine Wunde auf. Die Schwerkraft ist soviel höher, daß sie anfängt, die Erde der eindringenden Welt einzusaugen, wie ein Korkenzieher einen Korken herauszieht. Bliebe man lange genug auf diesem >Sender<, dann würde das zu einem Schwerkraftzusammenbruch im Orbit des Planeten führen, wenn man davon ausgeht, daß seine Masse mit der der Erde vergleichbar wäre. Je nach Zusammensetzung des Planeten könnte es ihn auch einfach in Stücke reißen.«

»Hätte so etwas auch hier geschehen können?« Gards Lippen waren taub. Neben dieser Möglichkeit erschien Tschernobyl so bedeutend wie ein Furz in einer Telefonzelle. Und du hast mitgemacht, Gard! schrie sein Verstand ihn an. Du hast mitgeholfen, dieses Ding auszugraben!

»Nein, aber einige Leute mußten davon abgebracht werden, zuviel mit den Transmitterfrequenzen herumzuspielen.« Sie lächelte. »Aber es ist anderswo geschehen, wo wir waren.«

»Was ist geschehen?«

»Sie haben es geschafft, die Tür vor dem Jüngsten Tag wieder zuzubekommen, aber es wurden eine Menge Leute geröstet, als sich der Orbit veränderte.« Das Thema schien sie zu langweilen.

»Alle?« flüsterte Gard.

»Nein. Auf einem der Pole leben noch etwa neun- bis zehntausend von ihnen«, sagte Bobbi. »Glaube ich.«

»Mein Gott. O mein Gott, Bobbi.«

»Es gibt andere Kanäle, die enden in Fels. Einfach Fels. Das Innere von Irgendwo. Die meisten enden irgendwo im Weltraum. Mit unseren Sternkarten waren wir nie imstande, auch nur einen einzigen dieser Endpunkte herauszufinden. Stell dir das vor, Gard! Jeder Ort war uns fremd... sogar uns, und dabei sind wir großartige Himmelsreisende!«

Sie beugte sich vor und trank noch etwas Bier. Aber die Spielzeugpistole, die kein Spielzeug mehr war, blieb auf Gardeners Brust gerichtet.

»Das also ist Teleportation. Tolle Sache, was? Ein paar Felsen, jede Menge Löcher, ein kosmischer Dachboden. Vielleicht wird eines Tages jemand eine Wellenlänge ins Herz einer Sonne aufmachen und einen ganzen Planeten grillen.«

Bobbi lachte, als wäre dies ein ganz besonderer Spaß. Aber die Pistole zielte immer noch auf Gardeners Brust.

Bobbi wurde wieder ernst und sagte: »Aber das ist noch nicht alles, Gard. Wenn du ein Radio einschaltest, dann denkst du daran, einen Sender einzustellen. Aber ein Band - Megahertz, Kilohertz, Kurzwellen, was auch immer - besteht nicht nur aus Sendern. Auch aus den ganzen 592 leeren Stellen zwischen den Sendern. Tatsächlich bestehen die meisten Bänder sogar aus diesen leeren Stellen. Kannst du mir folgen?«

»Ja«

»Dies ist meine Methode, dich dazu zu bringen, daß du die Tabletten nimmst. Ich werde dich nicht zu diesem Ort schicken, den du Altair-4 nennst, Gard - ich weiß, daß du dort langsam und unangenehm sterben würdest.«

» So wie David Brown stirbt?«

»Damit hatte ich nichts zu tun«, sagte sie rasch. »Das war ganz allein die Schuld seines Bruders.«

»Wie in Nürnberg, nicht? Nichts war irgendjemandes Schuld.«

»Du Idiot«, sagte Bobbi. »Ist dir nicht klar, daß das manchmal die Wahrheit ist? Hast du so wenig Mumm, daß du die Vorstellung zufälliger Vorkommnisse nicht akzeptieren kannst?«

»Ich kann sie akzeptieren. Aber ich glaube auch an die Fähigkeit von Individuen, irrationales Verhalten rückgängig zu machen«, sagte er.

»Wirklich? DM konntest das nie.«

Auf Ihre Frau geschossen, hörte er den nasebohrenden Deputy sagen. Tolle Sache, was?

Manchmal_ fangen Leute den alten Sühne-Boogie eben etwas spät an, dachte er und sah auf seine Hände.

Bobbis Augen sahen stechend in sein Gesicht. Sie hatte etwas davon mitbekommen. Er versuchte, den Schirm wieder zu stärken - eine verworrene Kette zusammenhangloser Gedanken, wie weißes Rauschen.

»Was denkst du, Gard?«

»Nichts, was dich etwas anginge«, sagte er und lächelte dünn. »Stell es dir als... nun, als Vorhängeschloß an einer Schuppentür vor.«

Sie zog die Lippen einen Augenblick von den Zähnen zurück... dann entspannte sie sich wieder zu diesem merkwürdig sanften Lächeln. »Ist auch nicht wichtig«, sagte sie. »Vielleicht würde ich es sowieso nicht verstehen. Wie ich schon sagte, im Verstehen waren wir nie besonders gut. Wir sind keine Rasse von Super-Einsteins. Ich glaube, Thomas Edison im All wäre schon zutreffender. Vergiß es. Ich werde dich nicht an einen Ort schicken, wo du eines langsamen, kläglichen Todes stirbst. Auf meine Weise liebe ich dich immer noch, Gard, und wenn ich dich irgendwohin schicken muß, dann schicke ich dich... ins Nichts.«

Sie zuckte die Achseln.

»Es ist vielleicht, als würde man Äther einatmen - aber es könnte schmerzhaft sein. Höllisch schmerzhaft. Wie auch immer, lieber etwas, das man kennt, als etwas, das man nicht kennt.«

Plötzlich brach Gardener in Tränen aus.

»Bobbi, wenn du mich daran früher erinnert hättest, hättest du mir eine Menge Kummer ersparen können.«

»Nimm die Tabletten, Gard. Nimm das, was du kennst. In deinem jetzigen Zustand dürften zweihundert Milligramm Valium dich ziemlich schnell hinüberbefördern. Laß mich dich nicht wie einen Brief ohne Adresse wegschicken.«

»Erzähl mir noch mehr von den Tommyknockers«, sagte Gardener und wischte sich mit beiden Händen das Gesicht ab.

Bobbi lächelte. »Die Tabletten, Gard. Wenn du anfängst, die Tabletten zu nehmen, dann werde ich dir alles erzählen, was du wissen willst. Wenn nicht...« Sie hob die Spielzeugpistole.

Gardener schraubte den Deckel des Valiumglases auf, schüttelte ein halbes Dutzend der blauen Tabletten mit der Herzform in der Mitte (Valentinsgrüße aus dem Tal von Torpor, dachte er) heraus, warf sie sich in den Mund, setzte das Bier an und schluckte sie. Sechzig Milligramm gingen die Röhre runter. Eine hätte er vielleicht unter der Zunge verstecken können, aber sechs? Kommt schon, Leute, seid realistisch. Nicht mehr viel Zeit. Ich habe mir den Magen leergekotzt, ich habe eine Menge Blut verloren, ich habe dieses Scheißzeug nie genommen und habe daher keine Toleranzgrenze, ich bin dreißig Pfund leichter als damals, als ich das erste Rezept bekam. Wenn ich diese Scheißdinger nicht schnell wieder loswerde, dann werden sie mich umhauen wie ein wildgewordener Sattelschlepper.

»Erzähl mir mehr von den Tommyknockers«, forderte er sie noch einmal auf. Eine Hand sank in seinen Schoß unter dem Tisch und berührte den Griff

(Schirm-Schirm-Schirm-Schirm)

der Waffe. Wie lange, bis die Tabletten zu wirken anfingen? Zwanzig Minuten? Er konnte sich nicht erinnern. Und niemand hatte ihm je etwas von einer Überdosierung von Valium erzählt.

Bobbi schwenkte die Pistole ein wenig in Richtung des Glases. »Nimm noch ein paar, Gard. Wie Jacqueline Susanne einst geschrieben haben mag, sechs ist nicht genug.«

Er schüttete vier weitere heraus, ließ sie aber auf der Tischdecke liegen.

»Du hast dir dort draußen vor Angst fast in die Hosen gemacht, nicht?« fragte Gardener. »Ich habe gesehen, wie du dich umgeschaut hast, Bobbi. Du hast ausgesehen, als befürchtetest du, daß sie alle wieder aufstehen und wandeln. Zombie.«

Bobbis Neue und Verbesserte Augen flackerten... aber ihre Stimme blieb sanft. »Aber wir sind aufgestanden und wandeln. Wir sind wieder da.«

Gard hob die vier Valium auf und schüttelte sie in der Handfläche. »Ich möchte, daß du mir eines sagst, dann werde ich diese vier nehmen.« Ja. Dieses eine würde in gewisser Weise alle anderen Fragen beantworten - diejenigen, die zu stellen er nie Gelegenheit haben würde. Vielleicht hatte er deshalb noch nicht versucht, auf Bobbi zu schießen. Weil er dies wirklich wissen mußte. Dieses eine.

»Ich möchte wissen, was du bist«, sagte Gardener. »Sag mir, was du bist.«

4

»Ich werde deine Frage beantworten, oder es zumindest versuchen«, sagte Bobbi, »wenn du diese Tabletten, die du da in der Hand hältst, auf der Stelle nimmst. Andernfalls gehst du da-da, Gard. In deinem Verstand ist etwas. Ich kann es nicht lesen - es ist, als sähe man eine Gestalt durch Gaze. Aber es macht mich außerordentlich nervös.«

Gardener nahm die Tabletten in den Mund und schluckte sie.

»Mehr.«

Gardener schüttelte noch vier heraus und schluckte sie. Jetzt war er bei hundertvierzig Milligramm. Bobbi schien sich zu entspannen.

»Ich sagte, Thomas Edison wäre besser als Albert Einstein, und es so auszudrücken, ist so gut wie jeder andere Vergleich«, sagte Bobbi. »Ich denke, hier in Haven gibt es inzwischen Dinge, die Albert abschnallen lassen würden, aber Einstein wußte, was E = mc2 bedeutet. Er verstand die Relativität. Er wußte Dinge. Wir... wir machen Dinge. Reparieren Dinge. Wir theoretisieren nicht. Wir bauen. Wir sind Handwerker.«

»Ihr verbessert Dinge«, sagte Gardener. Er schluckte. Wenn das Valium bei ihm zu wirken anfing, wurde sein Hals trocken. Daran erinnerte er sich. Sobald das geschah, würde er handeln müssen. Er glaubte, daß er bereits eine tödliche Dosis genommen hatte, und es waren noch mindestens ein Dutzend Tabletten in dem Glas.

Bobbi strahlte ein wenig.

»Verbessern! Ganz recht! Das machen wir. So wie sie - wir - Haven verbessert haben. Du hast das Potential gesehen, als du zurückgekommen bist. Wir mußten nicht mehr an der Brust der Elektrizitätsgesellschaft saugen! Bald wird es möglich sein, vollkommen auf.. äh... organische Batteriespeicherquellen umzusteigen. Sie sind austauschbar und halten lange.«

»Du sprichst von Menschen,«

»Nicht nur von Menschen, wenngleich höhere Arten tatsächlich länger anhaltende Energie zu erzeugen scheinen als niedere. Es könnte also eher eine Funktion der Seele als der Intelligenz sein. Das lateinische Wort dafür, esse, beschreibt es wahrscheinlich am besten. Aber selbst Peter hat sich bemerkenswert lange gehalten und eine Menge Energie erzeugt, und er ist nur ein Hund.«

»Vielleicht wegen seiner Seele«, sagte Gardener. »Vielleicht, weil er dich liebte.« Er zog die Pistole aus dem Gürtel. Er hielt sie

(Schirm-Schirm-Schirm-Schirm)

gegen den linken Schenkel gepreßt.

»Das geht am Kem vorbei«, sagte Bobbi und wischte damit das Thema von Peters Seele oder Liebe vom Tisch. »Du bist aus irgendwelchen Gründen zu dem Ergebnis gekommen, daß die Ethik dessen, was wir tun, nicht akzeptabel ist - aber das Spektrum dessen, was du als moralisch akzeptabel betrachtest, ist sehr schmal. Es spielt keine Rolle; du wirst bald einschlafen.

Wir haben keine Geschichte, weder schriftlich noch mündlich. Wenn du sagst, daß das Schiff hier notgelandet ist, weil die Verantwortlichen sich buchstäblich um das Steuer stritten, dann spüre ich, daß daran etwas Wahres ist... aber ich spüre auch, daß es vielleicht vom Schicksal bestimmt war. Telepathen sind wenigstens bis zu einem gewissen Grad präkognitiv, Gard, und präkognitive Geschöpfe lassen sich leichter von den kleinen und großen Strömen leiten, die durch das Universum flie -ßen. >Gott< ist der Name, den einige Menschen diesen Strömen geben, aber Gott ist nur ein Wort - wie Tommyknockers oder Altair-4.

Ich will damit sagen, wir wären wahrscheinlich schon längst ausgestorben, wenn wir uns diesen Strömen nicht anvertrauen würden, denn wir waren immer reizbar und kampfeslustig. Aber >kämpfen< ist ein zu allgemeines Wort. Wir.. . wir...« Plötzlich leuchteten Bobbis Augen in einem tiefen, furchteinflößenden Grün. Ihre Lippen teilten sich zu einem zahnlosen Grinsen. Gardeners rechte Hand umklammerte die Pistole mit schweißfeuchter Handfläche.

»Wir zankenl« sagte Bobbi. »Le mot juste, Gard!«

»Schön für euch«, sagte Gard und schluckte. Er hörte ein Klicken. Die Trockenheit kam nicht langsam - sie war mit einem Mal da.

»Ja, wir zanken. Wir haben schon immer gezankt. Wie Kinder, könnte man sagen.« Bobbi lächelte. »Wir sind wie Kinder. Das ist unsere gute Seite.«

»Tatsächlich?« Plötzlich erfüllte eine monströse Vorstellung seinen Kopf: Grundschulkinder, die mit Büchern und Uzis und SchlumpfVesperkoffern und M16 und Äpfeln für die Lehrer, die sie mochten, und Handgranaten für die, die sie nicht mochten, zur Schule gingen. Und alle Mädchen sahen wie Patricia McCardle und alle Jungen wie Ted der Strom-Mann aus. Ted der Strom-Mann mit grün leuchtenden Augen, die das ganze Schlamassel erklärten, von den Kreuzzügen und Armbrüsten bis zu Reagans mit Sprengköpfen ausgerüsteten Satelliten.

Wir zanken. Ab und zu streiten wir sogar ein wenig. Wir sind Erwachsene - denke ich-, aber wir haben immer noch Wutanfälle wie Kinder und auch gerne unseren Spaß wie Kinder, und daher basteln wir diese nuklearen Steinschleudern, und ab und zu lassen wir eine liegen, damit die Leute sie aufheben können, und weißt du was? Das machen sie immer. Leute wie Ted, die immer bereit sind zu töten, damit keine Frau in Braintree, die es sich leisten kann, auf Elektrizität _ für ihren _ fön verzichten muß. Leute wie du, Gard, bei denen der Gedanke, _ für den Frieden zu töten, nur minimale Skrupel auslöst.«

Ohne Waffen und Zank wäre es eine so langweilige Welt, oder nicht?

Gardener merkte, daß er müde wurde.

»Wie Kinder«, wiederholte sie. »Wir kämpfen, aber wir können auch sehr großzügig sein. So wie hier.«

»Ja, ihr wart sehr großzügig zu Haven«, sagte Gardener, und plötzlich teilten sich seine Kiefer zu einem gewaltigen Gähnen, das seine Sehnen zerrte.

Bobbi lächelte.

»Wie dem auch sei, wir könnten abgestürzt sein, weil es den Strömen zufolge, die ich erwähnt habe, >Absturz-Zeit< war. Dem Schiff ist natürlich nichts passiert. Und als wir angefangen haben, es auszugraben, da sind wir zurückgekommen.«

»Sind noch mehr von euch dort draußen?«

Bobbi zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Und es ist mir auch egal, sagte das Achselzucken. Wir sind hier. Hier sind Verbesserungen vorzunehmen. Das genügt.

»Mehr seid ihr wirklich nicht?« Er wollte sicher sein, sicher, daß nicht mehr im Spiel war. Er hatte schreckliche Angst, daß er zu lange wartete ... viel zu lange... aber er mußte es wissen. »Das ist alles’?«

»Was meinst du damit, alles? Ist es so wenig, was wir sind?«

»Offen gesagt, ja«, sagte Gard. »Schau her, ich habe mein ganzes Leben lang nach dem Teufel außerhalb von mir gesucht, weil der Teufel in mir so verdammt schwer zu fassen war. Es ist schwer, sich so lange einzubilden, man sei... Homer...« Er gähnte wieder breit. Auf seinen Lidern lagen Backsteine. »... und dann festzustellen, daß man die ganze Zeit... nur Kapitän Ahab war.«

Und schließlich fragte er sie zum letzten Mal mit einer Art Verzweiflung:

»Mehr seid ihr nicht? Nur Leute, die Sachen verbessern?«

»Ich denke schon«, sagte sie. »Tut mir leid, daß es so eine Enttäuschung für dich ist... «

Gardener hob die Pistole unter dem Tisch, gleichzeitig spürte er, wie die Droge ihn nun doch noch verriet: Sein Schirm brach zusammen.

Bobbis Augen leuchteten - nein, diesmal blitzten sie. Ihre Stimme, ein geistiger Schrei, fuhr durch Gardeners Verstand wie ein Fleischermesser,

(WAFFE ERHAT EINE WAFFEER HAT EINE)

das durch dichten Nebel schneidet.

Sie versuchte sich zu bewegen. Gleichzeitig versuchte sie, die Spielzeugpistole auf ihn zu richten. Gardener zielte unter dem Tisch mit der 45er auf Bobbi und betätigte den Abzug. Er hörte nur ein trockenes Klicken.. Das alte Mistding hatte eine Ladehemmung.

Neuntes Kapitel

Der Knüller, Schluß

1

John Leandro war gestorben. Der Knüller nicht.

David Bright hatte Leandro versprochen, ihm bis vier Uhr Zeit zu geben, und dieses Versprechen wollte er auch einhalten - natürlich, weil es Ehrensache war, aber auch, weil er nicht sicher war, ob er seine Hände überhaupt in die Sache hineinstecken wollte. Vielleicht war es eine Häckselmaschine, keine Zeitungsstory. Dennoch war er fest davon überzeugt, daß Johnny Leandro die Wahrheit gesagt hatte oder seine Auffassung davon, so verrückt es sich auch alles angehört hatte. Johnny war eine Niete, er zog nicht nur manchmal voreilige Schlüsse, die er dann für bare Münze nahm, aber er war kein Lügner (und selbst wenn er einer gewesen wäre, so glaubte Bright doch nicht, daß er schlau genug war, um sich etwas so Haarsträubendes auszudenken).

Gegen halb drei an diesem Nachmittag begann Bright plötzlich an einen anderen Johnny zu denken - den armen, unrettbaren Johnny Smith, der manchmal Gegenstände berührt und daraufhin etwas »gespürt« hatte. Auch das war verrückt gewesen, aber Bright hatte Johnny Smith geglaubt. Bright hatte geglaubt, daß Smith tun konnte, was er behauptete. Es war unmöglich gewesen, in die unheimlichen Augen des Mannes zu schauen und es nicht zu glauben. Bright berührte nichts, das John Leandro gehörte, aber er konnte seinen Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers sehen, die ordentlich über den Textcomputer gebreitete Schutzhülle, und er bekam ein Gefühl... ein sehr unangenehmes. Das Gefühl, Johnny Leandro könnte tot sein.

Er nannte sich selbst ein altes Waschweib, aber das Gefühl ließ nicht nach. Er dachte an Leandros Stimme, die verzweifelt und vor Aufregung brüchig gewesen war. Dies ist meine Story, und die werde ich nicht so einfach aufgeben. Er dachte an Johnny Smiths dunkle Augen, seine Angewohnheit, sich ständig die linke Stirnseite zu reiben. Bright mußte immer wieder zu Leandros zugedecktem Worthäcksler hinübersehen.

Er hielt bis drei Uhr durch. Inzwischen war aus dem Gefühl übelkeiterregende Gewißheit geworden. Leandro war tot. Es gab kein Vielleicht mehr. Es war durchaus möglich, daß er in seinem ganzen künftigen Leben nie wieder außersinnliche Wahrnehmungen haben würde, aber jetzt hatte er eine. Nicht verrückt, nicht verletzt, nicht vermißt. Tot.

Bright griff zum Telefon, und obwohl die Nummer, die er wählte, die Vorwahl von Cleaves Mills hatte, hätten sowohl Bobbi wie auch Gard gewußt, daß es eigentlich ein Ferngespräch war. Fünfundfünfzig Tage nachdem Bobbi Anderson im Wald gestolpert war, rief endlich jemand die Polizei von Dallas an.

2

Der Mann, den Bright im Polizeirevier von Cleaves Mills an den Apparat bekam, war Andy Torgeson. Bright kannte ihn seit dem College, und mit ihm konnte er reden, ohne das Gefühl zu haben, ihm stünde das Wort ZEXTUNGSSCHNÜFFLER mit gtellroten Buchstaben auf die Stirn tätowiert. Torgeson hörte geduldig zu und sagte wenig, während Bright ihm alles erzählte, angefangen mit Leandros Auftrag, über die verschwundenen Polizisten zu berichten.

»Er bekam Nasenbluten, die Zähne fielen ihm aus, er hatte das Kotzen, und er war überzeugt davon, daß das alles mit der Luft zu tun hatte?«

»Ja«, sagte Bright. »Und dieses Was-immer-es-ist in der Luft hat auch seinen Rundfunkempfang auf unvorstellbare Weise verbessert?«

»Richtig.«

»Und du glaubst, daß er in ernsten Schwierigkeiten sein könnte?«

»Wieder richtig.«

»Ich finde auch, daß er in ernsten Schwierigkeiten sein könnte, Dave. Das hört sich an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»Ich weiß, wie es sich anhört. Ich glaube nur nicht, daß es so ist.«

»David«, sagte Torgeson mit großer Geduld, »es könnte möglich sein

- zumindest in einem Film-, eine Kleinstadt zu übernehmen und irgendwie zu vergiften. Aber durch diese Kleinstadt verläuft ein Highway. In dieser Kleinstadt leben Menschen. Mit Telefonen. Glaubst du wirklich, jemand könnte eine ganze Stadt vergiften oder von der Umwelt abschneiden, ohne daß es jemand mitbekommt?«

»Die Old Derry Road ist kein richtiger Highway«, verbesserte Bright. »Nicht, seit sie vor dreißig Jahren den Abschnitt der 1-95 zwischen Bangor und Newport fertiggestellt haben. Seither ist die Old Derry Road nicht mehr als eine breite, verlassene Rollbahn mit einem gelben Streifen in der Mitte.«

»Du willst mir doch nicht erzählen, daß in letzter Zeit niemand dort entlanggefahren ist?«

»Nein, ich will dir überhaupt nichts erzählen... aber Johnny hat gesagt, daß er ein paar Leute gefunden hat, die ihre Verwandten in Haven seit Monaten nicht mehr gesehen haben. Und daß ein paar Leute, die nach ihnen sehen wollten, krank wurden und schleunigst wieder umkehren mußten. Die meisten machten schlechtes Essen oder so etwas dafür verantwortlich. Er erwähnte auch einen Laden in Troy, dessen Inhaber ein blühendes Geschäft mit T-Shirts macht, weil immerzu Leute mit Nasenbluten von Haven zurückkommen... und das soll schon seit Wochen so gehen.«

»Hirngespinste«, sagte Torgeson. Er sah durch das Bereitschaftszimmer des Reviers und erblickte den Telefonisten, der sich plötzlich aufrichtete und den Hörer in die linke Hand nahm, damit er mitschreiben konnte. Irgendwo war etwas geschehen, und dem bestürzten Blick des Telefonisten nach zu urteilen, war es nicht nur ein Blechschaden oder eine gestohlene Handtasche; Natürlich passierte immer irgendwo etwas, da die Leute nun einmal so waren. Und so ungern er es zugab, es konnte auch in Haven etwas passiert sein. Die ganze Sache hörte sich so verrückt wie der Fünf-Uhr-Tee in Alice im Wunderland an, aber er hatte David Bright eigentlich nie für einen Spinner gehalten.

»Vielleicht«, sagte Bright, »aber das läßt sich schnell feststellen, indem du einen deiner Jungs mal rasch nach Haven hinausschickst.« Er machte eine Pause. »Ich bitte dich als Freund. Ich gehöre nicht zu Johnriys Bewunderern, aber ich mache mir Sorgen um ihn.«

Torgeson sah immer noch in die Kabine des Telefonisten, wo Smokey Dawson inzwischen mit einer Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Minute mitgriffelte. Smokey sah auf, bemerkte Torgesons Blick und hielt eine Hand mit gespreizten Fingern hoch. Augenblick, sagte die Geste. Etwas Großes.

»Ich werde veranlassen, daß heute noch jemand hinfährt«, sagte Torgeson. »Ich fahre selbst, wenn ich kann, aber...«

»Könntest du mich mitnehmen? Wenn ich nach Derry komme?«

»Ich muß zurückrufen«, sagte Torgeson. »Hier ist etwas los. Dawson sieht aus, als bekäme er gleich einen Herzanfall.«

»Ich bleibe hier«, sagte Bright. »Ich mache mir ernstlich Sorgen, Andy.«

»Ich weiß«, sagte Torgeson - als Torgeson erwähnt hatte, daß hier etwas Großes los war, hatte Bright nicht einen Funken Interesse gezeigt, und das sah ihm gar nicht ähnlich. »Ich ruf dich an.«

Dawson kam aus der Telefonkabine. Es war Hochsommer, und abgesehen von Torgeson war die gesamte Mannschaft unterwegs. Die beiden hatten das Revier ganz für sich alleine.

»Mein Gott, Andy«, sagte Dawson. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Wovon?« Er spürte, wie sich seine Brust vor Erregung zusammenschnürte - Torgeson hatte manchmal auch seine Eingebungen, und innerhalb der engen Grenzen seines erwählten Berufes waren sie meistens zutreffend. Wirklich, etwas Großes. Dawson sah aus, als hätte ihn jemand mit einem Backstein geschlagen. Diese zusammenschnürende

Erregung - größtenteils haßte er sie, aber ein Teil von ihm war auch süchtig danach. Und plötzlich stellte dieser Teil von ihm eine schwindelerregende Verbindung her - sie war irrational, aber auch übermächtig. Dies hatte etwas mit dem zu tun, um dessentwillen Bright gerade angerufen hatte. Hole _ jemand die Haselmaus und den Hutmacher und stopfe die Haselmaus in die Teekanne, dachte er. Ich glaube, der FünfUhr-Tee _ fängt gleich an.

»Waldbrand in Haven«, sagte Dawson. »Muß ein Waldbrand sein. Die Meldung sagt, daß es wahrscheinlich in den Big Injun Woods ist.«

»Wahrscheinlich? Was soll der Quatsch - wahrscheinlich’?«

»Die Meldung kam von einer Feuerwache am China Lake«, sagte Dawson. »Sie haben vor mehr als einer Stunde Rauch gesehen. Gegen zwei. Sie riefen die Feuerwehr in Derry und die Ranger Station Drei in Newport an. Löschzüge wurden losgeschickt von Newport, Unity, China, Woolwich...«

»Troy? Albion? Was ist mit denen? Himmel, das sind doch angrenzende Orte!«

»Troy und Albion haben sich nicht gemeldet.«

»Haven selbst?«

»Die Telefone sind tot.«

»Komm schon, Smokey. Geh mir nicht auf die Nerven. Welche Telefone?«

»Alle miteinander.« Er sah Torgeson an und schluckte. »Natürlich habe ich das nicht selbst nachgeprüft. Aber das ist noch längst nicht das verrückteste. Ich meine, das ist schon verrückt, aber...»

»Los doch, spuck's aus!«

Ranger Station Drei unterstand die Feuerwache in Penobscot County, jedenfalls solange ein Waldbrand keine unkontrollierten Ausmaße annahm. Die erste Aufgabe war Beobachtung; die zweite war Feststellen; die dritte war Orten. Hörte sich leicht an. War es aber nicht. In diesem Fall war die Situation noch schlimmer als sonst, denn das Feuer war aus einer Entfernung von dreißig Kilometern gemeldet worden. Station Drei forderte die konventionellen Löschzüge an, weil es immer noch möglich war, daß sie von Nutzen sein konnten. Sie hatten in Haven niemand erreichen können, der es bestätigen oder verneinen konnte. Soviel die Männer der Feuerwache auf Station Drei wußten, konnte das Feuer ebensogut auf Frank Spruces Nordwiese wie eine Meile tief im Wald ausgebrochen sein. Sie hatten drei mit jeweils zwei von ihren Leuten besetzte Geländewagen losgeschickt sowie ein Erkundungsflugzeug. Dawson hatte das Gebiet Big Injun Woods genannt, aber Häuptling Wahwayvokah war schon lange tot, und heute schien der neue Name auf den Landkarten zutreffender: Burning Woods.

Die Löschzüge aus Unity waren zuerst da... Pech für sie. Drei oder vier Meilen vor der Stadtgrenze von Haven, wo die wachsende Rauchsäule immer noch mindestens zwölf Kilometer entfernt war, wurde den Leuten auf dem Pumpwagen schlecht. Nicht nur einem oder zweien; der gesamten siebenköpfigen Mannschaft. Der Fahrer raste weiter, bis er plötzlich am Lenkrad das Bewußtsein verlor. Der Pumpwagen kam von der Old Schoolhouse Road ab und raste in den Wald, immer noch drei Kilometer von Haven entfernt. Drei Männer kamen bei dem Unfall ums Leben, zwei weitere verbluteten. Die beiden Überlebenden krochen buchstäblich auf Händen und Knien aus dem Gebiet und kotzten dabei fast ununterbrochen.

»Sie sagten, es war wie nach einem Gasangriff«, sagte Dawson.

»Waren sie das am Telefon?«

»Mein Gott, nein. Die beiden, die noch am Leben sind, sind mit einem Krankenwagen unterwegs ins Derry Home. Es war Station Drei. Sie versuchen, alles auf die Reihe zu kriegen, aber augenblicklich sieht es so aus, als wäre in Haven eine ganze Menge mehr los als nur ein Waldbrand. Der jedenfalls gerät außer Kontrolle, der Wetterbericht meldet, mit Einbruch der Dunkelheit soll Ostwind aufkommen, und es scheint, als könnte niemand dorthin gelangen, um zu löschen.«

»Was wissen sie sonst noch?«

»Heiliger Strohsack!« rief Smokey Dawson, als wäre das eine persönliche Beleidigung. »Leute, die in die Nähe von Haven kommen, werden krank. Je näher man sich heranwagt, desto übler wird einem. Mehr weiß niemand, abgesehen davon, daß es irgendwo brennt.«

Nicht ein einziger Löschzug war bis Haven gekommen. Die aus China und Woolwich waren am dichtesten herangelangt. Torgeson ging zu einem Windstärkemesser an der Wand und glaubte den Grund zu erkennen. Sie waren mit dem Wind gekommen. Wenn die Luft in Haven vergiftet war, dann wehte der Wind sie in die entgegengesetzte Richtung.

Mein Gott, was ist, wenn es sich um etwas Radioaktives handelt?

Wenn ja, dann war es keine Strahlung, von der Torgeson je etwas gehört hatte - die Löschzüge aus Woolwich hatten hundertprozentiges Maschinenversagen gemeldet, als sie sich der Stadtgrenze von Haven genähert hatten. China hatte einen Pump - und einen Tankwagen geschickt. Der Pumpwagen gab auf, aber der Tankwägen fuhr weiter, und irgendwie gelang es dem Fahrer, ihn wieder aus der Gefahrenzone herauszubringen, während kotzende Männer in der Kabine saßen, sich an den Stoßstangen festhielten oder flach auf dem Tank lagen. Die meisten hatten Nasenbluten; ein paar hatten Ohrenbluten; einer hatte einen Augenriß.

Alle hatten Zähne verloren.

Was für eine verdammte Strahlung soll denn DAS sein?

Dawson sah in die Telefonzentrale, wo alle Leitungen ins Revier aufleuchteten.

»Andy, die Situation entwickelt sich weiter. Ich muß...«

»Ich weiß«, sagte Torgeson, »Du mußt mit Verrückten sprechen. Ich muß das Büro des Justizministers in Augusta anrufen und mit anderen Verrückten sprechen. Jim Tierney ist der beste Justizminister, den wir in Maine hatten, seit ich diese Uniform angezogen habe, und weißt du, wo er an diesem schönen Tag ist, Smokey?«

»Nein.«

»Im Urlaub«, sagte Torgeson mit einem etwas unbeherrschten Lachen. »Dem ersten, seit er das Amt übernommen hat. Der einzige Mann in der Administration, der diesen Wahnsinn vielleicht verstehen könnte, zeltet mit seiner Familie in Utahl Ausgerechnet in Utah! Toll, was?«

»Toll.«

»Was, zum Teufel, ist los?«

»Keine Ahnung.«

»Noch andere Opfer?«

»Ein Ranger aus Newport ist tot«, sagte Dawson widerstrebend.

»Wer?«

»Henry Amberson.«

»Was? Henry?Mein Gott.«

Torgeson war zumute, als hätte er einen heftigen Schlag in den Magen bekommen. Er kannte Henry Andersen seit zwanzig Jahren - sie waren nicht gerade die besten Freunde gewesen, das nicht, aber sie hatten manchmal zusammen Cribbage gespielt, wenn nicht viel los war, oder waren angeln gegangen. Ihre Familien hatten gemeinsam gegessen.

Henry, großer Gott, Henry Anderson. Und Tierney war ausgerechnet in Utahl »War er in einem der Jeeps, die losgeschickt wurden?«

»Ja. Du weißt doch, er hatte einen Herzschrittmacher, und...«

»Was? Was?« Torgeson ging auf Smokey zu, als wollte er ihn schütteln. »Was?«

»Der Fahrer des Jeeps hat offenbar an Drei gemeldet, daß das Ding in Ambersons Brust explodiert ist.«

»Gütiger Heiland!«

»Es ist noch nicht sicher«, sagte Dawson rasch. »Nichts ist sicher. Die Situation entwickelt sich noch.«

»Wie kann denn ein Herzschrittmacher explodieren?« fragte Torgeson leise.

»Weiß ich nicht.«

»Das ist ein Witz«, sagte Torgeson tonlos. »Entweder ein unheimlicher Witz, oder so etwas wie das Hörspiel Krieg der Welten damals.«

Smokey sagte schüchtern: »Ich glaube nicht, daß es ein Witz ist... oder eine Ente.«

»Ich auch nicht«, sagte Torgeson. Er ging in sein Büro und zum Telefon.

»In Utah«, sagte er leise, dann ließ er Smokey Dawson zurück, damit er versuchen konnte, mit den immer unglaublicheren Informationen aus der Gegend fertigzuwerden, in deren Mittelpunkt Bobbi Andersens Farm lag.

3

Torgeson hätte das Büro des Justizministers zuerst angerufen, wenn Jim Tierney nicht ausgerechnet in Utah gewesen wäre. Da er aber dort war, nahm er sich vorher noch pasch die Zeit, David Bright bei den Bangor Daily News anzurufen.

»David? Hier spricht Andy. Hör zu ...«

»Wir haben hier Meldungen über ein Feuer in Haven, Andy. Möglicherweise ein ziemlich großes. Hast du etwas darüber?«

»Ja, haben wir. David, ich kann dich nicht mitnehmen. Aber die Informationen, die du mir gegeben hast, scheinen zuzutreffen. Feuerwehrleute und Aufklärungsmannschaften können nicht in die Stadt hinein. Ihnen wird schlecht. Wir haben einen Ranger verloren. Einen Mann, den ich kannte. Ich habe gehört...« Er schüttelte den Kopf. »Vergiß, was ich gehört habe. Es ist so verrückt, daß es nicht wahr sein ,kam«

Brights Stimme war aufgeregt. »Was war es?«

»Vergiß es.«

»Aber du hast gesehen, daß Feuerwehrleuten und Rettungsmannschaften schlecht wurde?«

Aufklärungsmannschaften. Wir wissen noch nicht, ob jemand gerettet werden muß oder nicht. Und dann ist da die Scheiße mit den Feuerwehrautos und Jeeps. Motoren scheinen zu versagen, wenn sie nach Haven oder in die Nähe kommen...«

»Was?«

»So ist es.«

»Du meinst, es ist der Puls?«

»Puls? Was für ein Puls?« Er hatte die verrückte Vorstellung, daß Bright von Henrys Herzschrittmacher sprach, daß er es die ganze Zeit gewußt hatte.

»Das ist ein Phänomen, das auf gewaltige Kernexplosionen folgen soll. Autos bleiben stehen.«

»Himmel. Was ist mit Radios?«

»Die auch.«

»Aber deine Freunde haben gesagt...«

»Über das gesamte Band hinweg, ja. Hunderte. Kann ich dich wenigstens zitieren, was die Feuerwehrleute und Rettungstrupps und deren Übelkeit anbelangt? Die Motoren, die stehenbleiben?«

»Ja. Als Mr. Quelle. Mister gutunterrichtete Quelle.«

»Wann hast du zuerst gehört...«

»Ich habe keine Zeit, das Playboy-Interview mit dir zu machen, David. Dein Leandro ist zu Maine Med Supplies gegangen, wegen seinem Sauerstoff?«

»Ja«

»Er dachte, es wäre die Luft«, sagte Torgeson mehr zu sich selbst als zu Bright. »Das hat er gedacht.«

»Andy... weißt du, was noch alle Motoren stoppt, jedenfalls in den Meldungen, die wir von Zeit zu Zeit bekommen?«

»Was?«

»UFOs. Lach nicht; es stimmt. Leute, die fliegende Untertassen gesichtet haben, wenn sie in Autos oder Flugzeugen saßen, haben fast immer gesagt, daß ihre Motoren einfach aussetzten, bis das Ding wieder verschwunden war.« Er machte eine Pause. »Erinnerst du dich an diesen Arzt, der vor ein oder zwei Wochen mit dem Flugzeug in Newport abgestürzt ist?«

Krieg der Welten, dachte Torgeson wieder. Was für ein Mist.

Aber Henry Ambersons Schrittmacher war... was? Explodiert? Konnte das wahr sein?

Er würde es herausfinden; darauf konnte sich jedermann verlassen.

»Ich melde mich wieder bei dir, Davey«, sagte Torgeson und legte auf. Es war 15 :15 Uhr. In Haven loderte das Feuer, das auf der alten GarrickFarm angefangen hatte, bereits seit über einer Stunde und breitete sich jetzt in einem großen Bogen in Richtung des Schiffes aus.

4

Torgeson rief um 15:17 Uhr in Augusta an. Zu dem Zeitpunkt fuhren zwei Limousinen mit alles in allem sechs Beamten bereits auf der 1-95 nach Norden; Station Drei hatte um 14:26 Uhr das Büro des Ministers angerufen und um 14:49 die Staatspolizei in Derry. Der Bericht an Derry enthielt erste bruchstückhafte Fakten - der Unfall des Löschfahrzeugs aus Unity, der Tod des Rangers, der offenbar von seinem eigenen Herzschrittmacher erschossen worden war. Um 19:30 Uhr Ortszeit fuhr ein Polizeiwagen der Staatspolizei von Utah auf den Campingplatz, wo Jim Tierney und seine Familie sich aufhielten. Der Beamte informierte ihn, daß in seinem Heimatstaat ein Notfall eingetreten war. Was für ein Notfall? Das, hatte man dem Beamten gesagt, war eine vertrauliche Information, die nur für die bestimmt war, die sie unbedingt wissen mußten. Tierney hätte in Derry anrufen können, aber Torgeson in Cleaves Mills war ein Mann, den er kannte und dem er vertraute. Augenblicklich wollte er mehr als alles andere mit jemandem reden, dem er vertrauen konnte. Er verspürte, wie langsam, ein Grauen in seine

Eingeweide sickerte, ein Gefühl, daß es etwas mit Maine Yankee zu tun haben mußte, dem einzigen Kernkraftwerk des Staates, und so mußte es sein, denn nur eine sehr große Katastrophe konnte diese außergewöhnliche Kontaktaufnahme fast über den ganzen Kontinent hinweg auslösen. Der Beamte stellte die Verbindung her. Torgeson war erleichtert und erfreut zugleich, Tierneys Stimme zu hören.

Um 13:37 Ortszeit stieg Tierney auf der Beifahrerseite des Streifenwagens ein und sagte: »Wie schnell fährt dieses Ding?«

»Sir! Dieses Fahrzeug schafft hundertneunzig Stundenkilometer, und ich bin Mormone und habe keine Angst, so schnell zu fahren, weil ich sicher bin, daß ich nicht in die Hölle kommen werde! Sir!«

»Beweisen Sie es«, sagte Tierney.

Um 14:03 Ortszeit saß Tierney in einem Lear Jet, der außer der US-Flagge keinerlei Abzeichen trug. Er hatte auf einem kleinen Privatflugplatz in der Nähe von Cottonwoods auf ihn gewartet - der Stadt, von der Zane Grey in Riders of the Purple Sage schrieb, dem Buch, das Roberta Andersens Lieblingsbuch gewesen war, als sie noch ein Mädchen war, dem Buch, das sie wahrscheinlich zur Westernautorin gemacht hatte.

Der Pilot war in Zivil.

»Sind Sie vom Pentagon?« fragte Tierney. Der Pilot sah ihn mit einer ausdruckslosen dunklen Sonnenbrille an. »Shop.« Es war das einzige Wort, das er vor, während oder nach dem Flug sagte.

So kam die Polizei von Dallas ins Spiel.

5

Haven war nichts weiter gewesen als eine breite Stelle an der Straße, ein Ort, der sein Leben behaglich abseits der Touristenzentren von Maine verschlafen hatte. Jetzt hatte man von ihm Notiz genommen. Jetzt fuhren Leute in Scharen dorthin. Da sie nichts von den Anomalien wußten, die in immer größeren Zahlen gemeldet wurden, war es anfangs nur die immer höher werdende Rauchwolke am Horizont, die sie anzog wie Motten das Licht. Es sollte fast sieben Uhr abends werden, bis es der Staatspolizei mit Hilfe der Nationalgarde gelingen sollte, alle Straßen in der Gegend zu sperren - die kleinen ebenso wie die großen. Bis zum Morgen entwickelte sich das Feuer zum größten Waldbrand in der Geschichte von Maine. Der steife Ostwind kam pünktlich auf die Minute, und nachdem das geschehen war, gab es keine Möglichkeit mehr, das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Die Erkenntnis stellte sich erst allmählich ein, aber sie stellte sich ein: selbst wenn der Tag windstill gewesen wäre, hätte sich das Feuer wahrscheinlich ungehindert ausbreiten können. Man konnte einen Brand nicht bekämpfen, wenn man nicht

einmal in seine Nähe kam, und die Versuche, in seine Nähe zu kommen, hatten allesamt unangenehme Folgen.

Das Erkundungsflugzeug stürzte ab.

Ein Bus voll Nationalgardisten aus Bangor kam von der Straße ab, prallte gegen einen Baum und explodierte, als das Gehirn des Fahrers platzte wie eine Tomate, in der ein Kanonenschlag steckte. Alle siebzig Wochenendsoldaten kamen ums Leben, aber wahrscheinlich nur die Hälfte bei dem Unfall selbst; die anderen starben bei dem vergeblichen Versuch, aus dem Giftgürtel hinauszukriechen.

Unglücklicherweise wehte der Wind in die falsche Richtung. Torgeson würde es ihnen gesagt haben können.

Der Waldbrand, der in Burning Woods angefangen hatte, hatte halb Newport verkohlt, bevor die Feuerwehren überhaupt erst richtig ihrer Arbeit nachgehen konnten... und dann waren sie zu wenige, um etwas ausrichten zu können, denn die Feuerfront war bereits fast zehn Kilometer lang.

An diesem Abend um sieben waren Hunderte von Menschen - ein paar selbsternannte Brandbekämpfer, die meisten jedoch Angehörige der weit verbreiteten Gattung Homo dickschädelus - in die Gegend geströmt. Die meisten machten auf der Stelle wieder kehrt, mit weißen Gesichtern, hervorquellenden Augen und blutenden Nasen und Ohren. Einige hielten ihre ausgefallenen Zähne in den Händen wie wertvolle Perlen. Und nicht wenige kamen ums Leben - ganz zu schweigen von den etwa hundert unglücklichen Bewohnern von Newport, die eine unerwartete Dosis Haven abbekamen, als der Wind auffrischte. Die meisten von ihnen starben in ihren Häusern. Diejenigen, die zum Gaffen herauskamen und draußen an der schlechten Luft erstickten, fand man an den Rändern verschiedener Straßen in embryonalen Haltungen zusammengekrümmt, die Hände über die Mägen geklammert. Die meisten, sagte ein G. I. später gegenüber der Washington Post (unter der strengen Voraussetzung, daß sein Name nicht genannt wurde), sahen wie verdammte menschliche Kommas aus.

Dies war nicht das Schicksal von Lester Moran, einem Schulbuchverkäufer, der in einem Vorort von Boston wohnte und den größten Teil seiner Tage auf den Highways des nördlichen New England verbrachte.

Lester kam von seinen üblichen Spätsommerverkäufen an den Schulen der Schulverwaltungsbezirke von Aroostook County zurück, als er Rauch - eine ganze Menge - am Horizont sah. Das war gegen 16.15 Uhr.

Lester bog auf der Stelle ab. Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu gelangen, da er Junggeselle war und für die nächsten zwei oder drei Wochen keine Pläne hatte, aber er wäre selbst dann abgebogen, wenn am nächsten Tag die nationale Vertreterkonferenz mit ihm als Hauptredner stattgefunden und er seine Rede noch nicht einmal geschrieben gehabt hätte. Er konnte nicht anders. Lester Moran war ein Feuer-Freak. Das war er schon seit seiner frühesten Kindheit. Obwohl er die letzten fünf Tage auf der Straße verbracht hatte, obwohl seine Wirbelsäule sich wie ein Brett und seine Nieren sich wie Backsteine anfühlten, nachdem er mit dem Auto dauernd über die beschissenen Straßen von Kaffs gefahren war, die so klein waren, daß sie größtenteils nur Kartenkoordinaten als Namen hatten, überlegte Lester sich das nicht zweimal. Seine Müdigkeit fiel von ihm ab; seine Augen erglühten in dem übernatürlichen Licht, das Feuerwehrhauptleute von Manhattan bis Moskau kennen und fürchten: die unheilige Erregung des geborenen Feuerfreaks.

Aber das sind natürlich die Leute, die von Feuerwehrhauptleuten eingesetzt werden, wenn die Lage absolut hoffnungslos aussieht. Vor fünf Minuten hatte sich Lester Moran, der sich im Alter von einundzwanzig Jahren bei der Feuerwehr von Boston beworben hatte und abgelehnt worden war, weil er eine Stahlplatte im Schädel hatte, wie ein geprügelter Hund gefühlt. Jetzt fühlte er sich wie ein von Amphetamin aufgeputschter Mann. Jetzt war er ein Mann, der sich mit Freuden einen Wasserkanister auf den Rücken geschnallt hätte, der fast halb so viel wog wie er selbst, und der ihn die halbe Nacht durch den Wald getragen hätte, während er den Rauch einatmete, wie manche Männer das Parfüm am Hals einer schönen Frau einatmen; er hätte gegen das Feuer gekämpft, bis die Haut seiner Wangen rissig und blasig geworden wäre und er keine Augenbrauen mehr gehabt hätte.

Er verließ die Autobahn bei Newport und fuhr die Straße entlang, die nach Haven führte.

Die Platte in seinem Schädel war die Folge eines schlimmen Unfalls, der passiert war, als Moran zwölf Jahre alt und Schülerlotse gewesen war. Ein Auto hatte ihn erfaßt und zehn Meter weit geschleudert, und sein Flug war durch die Backsteinwand eines Kaufhauses gebremst worden. Man hatte ihm die letzte Ölung gegeben; der Chirurg, der den Jungen operierte, hatte den weinenden Eltern gesagt, daß der Junge wahrscheinlich im Laufe der nächsten sechs Stunden sterben oder daß er mehrere Tage oder Wochen im Koma liegen würde, bevor es zu Ende ging. Statt dessen war der Junge noch vor dem Abend des gleichen Tages aufgewacht und hatte Eiskrem verlangt.

»Ich glaube, es ist ein Wunder!« schluchzte die weinende Mutter des Jungen. »Ein Wunder Gottes!«

»Ich auch«, sagte der Chirurg, der Lester Moran operiert und der das Gehirn des Jungen durch das klaffende Loch in seiner zerschmetterten Schädeldecke gesehen hatte.

Während er sich jetzt dem herrlichen Rauch näherte, verspürte Lester eine gewisse Übelkeit im Magen, aber die schrieb er der Aufregung zu und vergaß sie dann. Die Platte in seinem Schädel war schließlich doppelt so groß wie die von Jim Gardener. Die Abwesenheit von Feuerwehrfahrzeugen, Polizei oder Rangerautos in dem zunehmenden Qualm fand er ungewöhnlich und erregend zugleich. Dann kam er um eine scharfe Kurve und sah einen bronzefarbenen Plymouth auf dem Dach im linken Straßengraben, dessen Rotlicht am Armaturenbrett immer noch blinkte. AufderSeite stand DERRY FEUERWEHR.

Lester parkte seinen alten Ford, stieg aus und schritt zu dem Wrack hinüber. Auf dem Lenkrad, dem Sitz und der Fußmatte auf der Fahrerseite war Blut. Auch auf der Windschutzscheibe waren Bluttropfen.

Alles in allem eine ziemliche Menge Blut. Lester sah es voller Entsetzen, dann schaute er in Richtung Haven. Der untere Teil der Rauchsäule

l war jetzt dunkelrot, und er registrierte, daß er sogar das dumpfe Knacken brennenden Holzes hören konnte. Es war, als stünde man neben dem größten offenen Holzofen der Welt - oder als hätte der größte Holzofen der Welt plötzlich Beine bekommen und käme ihm langsam entgegen.

Im Vergleich zu diesen Geräuschen und dem Anblick des dunklen, aber dennoch titanischen roten Glühens erschienen ihm das umgestürzte Auto des Feuerwehrchefs von Derry und das viele Blut darin plötzlich nicht mehr ganz so wichtig. Lester ging zu seinem eigenen Wagen zurück, focht einen kurzen Kampf mit seinem Gewissen und siegte, indem er sich versprach, daß er beim ersten Münztelefon anhalten und die Staatspolizei in Cleaves Mills, nein, in Derry, anrufen würde. Wie die meisten guten Vertreter, hatte auch Lester eine detailgetreue Karte seines Bezirks im Kopf, und nachdem er diese zu Rate gezogen hatte, hatte er entschieden, daß Derry näher war.

Er mußte dem heftigen Drang widerstehen, das Auto zur Höchstgeschwindigkeit zu prügeln... mehr als hundert war das ohnehin nicht mehr. An jeder Biegung der Straße rechnete er damit, auf eine Straßensperre zu stoßen, auf wirr durcheinander parkende Autos, Funkgeräte, über die hastige Nachrichten durchgegeben wurden, brüllende Männer mit Helmen und Gummimänteln.

Nichts dergleichen geschah. Statt auf Straßensperren und hektische Aktivität stieß er auf den umgestürzten Pumpwagen aus Unity, mit abgebrochenem Fahrerhaus und einem Tank, aus dem sich noch der letzte Rest seines Inhalts ergoß. Lester, der jetzt Rauch ebenso wie Luft einatmete, die praktisch jeden anderen Menschen auf der Welt umgebracht hätte, stand am Straßenrand und betrachtete wie hypnotisiert den schlaffen weißen Arm, der aus dem abgetrennten Fahrerhaus des Pump -wagens heraushing. Rinnsale trocknenden Blutes liefen an der weißen Unterseite des Arms herunter.

Hier stimmt etwas nicht. Hier stimmt eine ganze Menge nicht. Hier ist mehr los als nur ein Waldbrand. Du mußt hier verschwinden, Les.

Aber statt dessen wandte er sich wieder dem Feuer zu und besiegelte damit seinen Untergang.

Der Rauchgeruch in der Luft war jetzt stärker. Das Geräusch des

Brandes war kein Knacken mehr, sondern rollender Donner. Plötzlich fiel ihm die Wahrheit wie ein Eimer voll Beton auf den Kopf. Niemand bekämpfte dieses Feuer. Überhaupt niemand. Aus irgendwelchen Gründen, die er nicht verstehen konnte, hatten sie nicht in dieses Gebiet gekonnt oder durften nicht in dieses Gebiet. Als Folge dessen brannte das Feuer unkontrolliert, und mit Unterstützung des auffrischenden Windes wuchs es wie ein radioaktives Monster in einem Horrorfilm.

Diese Vorstellung machte ihn krank vor Entsetzen... und Erregung ... und dunkler, ungesunder Freude. Es war schlimm, so etwas wie das letzte zu empfinden, aber die Freude war da, und sie ließ sich nicht bestreiten. Und er war keineswegs der einzige, der sie empfand. Diese dunkle Freude schien ein Teil jedes Feuerwehrmannes zu sein, dem er jemals einen Drink spendiert hatte (und das war fast jeder Feuerwehrmann, den er getroffen hatte, seit er seinen eigenen Eignungstest in Boston nicht bestanden hatte).

Er stolperte zu seinem Auto zurück, ließ es mit einigen Schwierigkeiten an (er vermutete, daß er in seiner Aufregung den alten Dinosaurier beinahe hatte absaufen lassen), drehte die Klimaanlage ganz auf und fuhr wieder in Richtung Haven. Ihm war klar, daß dies Idiotie der reinsten, unverwässertsten Art war - schließlich war er nicht Superman, sondern ein fünfundvierzigjähriger Schulbuchverkäufer, der kahl wurde und immer noch Junggeselle war, weil er zu schüchtern war, sich mit Frauen zu verabreden. Aber er benahm sich nicht nur idiotisch. So streng dieses Urteil war, hätte man ihm immer noch ein gewisses Maß an Vernunft zubilligen können. Die Wahrheit war, daß er sich wie ein Wahnsinniger benahm. Und dennoch konnte er sich ebensowenig Einhalt gebieten wie ein Junkie, der seinen Schuß im Löffel kochen sieht.

Er konnte es nicht bekämpfen...

... aber er konnte es sich immerhin ansehen.

Und es würde sicher ein Anblick sein, nicht? dachte Lester. Schweiß rann ihm bereits übers Gesicht, wie in Erwartung der vor ihm liegenden Hitze. Ein toller Anblick, ja. Ein Waldbrand, der aus irgendwelchen Gründen völlig unbekämpft und unkontrolliert lodern konnte, so wie vor Jahrmillionen, als der Mensch noch wenig mehr war als ein kleiner Stamm haarloser Affen, die im Delta des Nils und des Euphrat hausten, und die großen Brände durch spontane Entzündung, Blitzschlag oder Meteoreinfall verursacht wurden, anstatt von betrunkenen Jägern, die es einen Scheißdreck kümmerte, was sie mit ihren Zigarettenkippen anrichteten. Es würde ein grellorangefarbener Ofen sein, eine dreißig Meter hohe Feuerwalze im Wald; es würde über die Lichtungen und Gärten und Wiesen rasen wie ein Präriefeuer in Kansas um 1840, und es würde Häuser so schnell verzehren, daß diese Häuser durch den plötzlichen Druckunterschied implodierten wie die Häuser und Fabriken während der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg. Es würde sehen 610 können, wie die Straße, auf der er sich befand, eben diese Straße, in diesem Ofen verschwand wie eine Autobahn in die Hölle.

Der Asphalt selbst, dachte er, würde erst anfangen, in klebrigen kleinen Rinnsalen wegzufließen, und dann brennen.

Er trat fester auf das Gas und dachte: Wie könntest du nicht weiterfahren? Wenn man einmal im Leben die Möglichkeit hatte, so etwas zu sehen - wie könnte man da nicht weiterfahren?

6

»Ich weiß einfach nicht, wie ich meinem Dad das alles erklären soll«, sagte der Verkäufer von Maine Med Supplies. Er wünschte sich, er hätte sich vor vier Jahren nicht dafür eingesetzt, das Geschäft um diese Vermietungen zu erweitern. Das hatte sein Vater ihm ins Gesicht gesagt, nachdem der alte Mann das Flachpack gemietet und nicht zurückgebracht hatte, und jetzt war überall in Haven die Hölle los - im Radio sagten sie, es wäre ein Waldbrand, deuteten aber an, daß möglicherweise noch viel unheimlichere Dinge vorgingen -, und er war sich bereits ziemlich sicher, daß er das Flachpack, das er an diesem Morgen dem Reporter mit der dicken Brille vermietet hatte, auch nicht wiedersehen würde. Und jetzt waren noch zwei Burschen hier, beide Staatspolizisten, beide groß, und einer von ihnen so schwarz, wie man nur sein konnte, und verlangten nicht nur ein Flachpack, sondern sechs.

»Sie können Ihrem Dad sagen, daß wir sie requiriert haben«, sagte Torgeson. »Ich meine, Sie beliefern die Feuerwehr doch mit Atemgeräten, nicht?«

»Ja, aber...«

»Und in Haven ist ein Waldbrand ausgebrochen, nicht?«

»Ja, aber...«

»Dann bringen Sie sie her. Wir haben keine Zeit für irgendwelchen Unsinn.«

»Mein Vater wird mich umbringen!« heulte er. »Das sind alle, die wir haben!«

Torgeson hatte Claudell Weems getroffen, als dieser in dem Augenblick auf den Parkplatz des Reviers fuhr, in dem Torgeson selbst dort wegfahren wollte. Claudell Weems, Maines einziger schwarzer Staatspolizist, war groß - nicht so groß wie der verstorbene Monster Dugan, aber dennoch sehr beachtliche einsfünfundachtzig. Claudell Weems hatte einen Goldzahn vorne im Mund, und wenn Claudell Weems Leuten sehr nahe kam - zum Beispiel Verdächtigen oder störrischen Verkäufern-, und lächelte und seinen funkelnd goldenen Schneidezahn entblößte, dann wurden sie sehr nervös. Torgeson hatte Claudell Weems einmal gefragt, warum das so war, und Claudell Weems hatte gesagt, er glaube, es läge an der alten schwarzen Magie. Und dann hatte er gelacht, bis die Scheiben in den Revierfenstern im Rahmen geklirrt hatten.

Jetzt kam Weems dem Verkäufer sehr nahe und brachte diese alte schwarze Magie ins Spiel, die er so gut beherrschte.

Als sie Maine Med mit den Flachpacks verließen, wußte der Verkäufer nicht ganz genau, was geschehen war.. er wußte nur, daß der schwarze Bursche den größten Goldzahn hatte, den er je in seinem Leben gesehen hatte.

7

Der zahnlose alte Mann, der Leandro das T-Shirt verkauft hatte, stand auf der Veranda und sah ausdruckslos zu, wie Torgesons Streifenwagen vorbeibrauste. Als er vorbei war, ging er hinein und rief eine Nummer an, die die meisten Menschen gar nicht erreicht haben würden; statt dessen hätten sie das Sirenengeheul gehört, der Anne Anderson so in Wut gebracht hatte. Aber am Telefon des Ladeninhabers war ein Gerät angebracht, und wenig später sprach er mit einer immer nervöser werdenden Hazel McCready.

8

»Also!« sagte Claudell Weems fröhlich, nachdem er sich den Hals verrenkt hatte, um auf den Tacho zu sehen. »Ich sehe, daß wir über hundertfünfzig Stundenkilometer fahren! Und da Übereinstimmung herrscht, daß Sie der beschissenste Autofahrer der gesamten Staatspolizei von Maine sind...«

»Übereinstimmung zwischen wem?« fragte Torgeson.

»Zwischen mir«, sagte Claudell Weems. »Das führt zu einer Schlußfolgerung. Diese Schlußfolgerung ist, daß ich bald sterben werde. Ich weiß nicht, ob Sie etwas davon halten, einem zum Tode Verurteilten seinen letzten Wunsch zu erfüllen, aber wenn ja, dann könnten Sie mir vielleicht sagen, was das alles zu bedeuten hat. Das heißt, wenn es Ihnen möglich ist, bevor der Motorblock in die Fahrerkabine geflogen kommt.«

Andy machte den Mund auf, dann klappte er ihn wieder zu. »Nein«, sagte er. »Ich kann es nicht. Es ist zu verrückt. Nur so viel. Ihnen wird vielleicht übel werden. Wenn das so ist, dann führen Sie sich auf der Stelle diese Dosenluft hier zu.«

»Mein Gott«, sagte Weems. »Ist die Luft in Haven giftig?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube es nur.«

»Mein Gott«, sagte Weems erneut. »Und wie ist es dazu gekommen?«

Andy schüttelte nur den Kopf.

»Und warum bekämpft niemand den Waldbrand?« Der Rauch brodelte immer breiter am Horizont empor - bisher fast nur weiß, Gott sei Dank.

»Ich weiß es nicht. Schalten Sie das Radio ein.«

Weems blinzelte, als glaubte er, Torgeson wäre verrückt. »Welches Band?«

»Irgendeines.«

Also stellte Weems den Polizeifunk ein, und zuerst empfing er nur das verwirrte und ängstliche Plappern von Polizist und Feuerwehrleuten,

| die den Brand bekämpfen wollten, aber irgendwie nicht dorthin gelangen konnten.

Dann hörten sie im Hintergrund eine Bitte um Verstärkung nach einem Einbruch in einen Spirituosenladen. Die angegebene Adresse war

117 Mystic Avenue, Medford.

Weems sah Andy an. »Herrgottnochmal, Andy ich habe gar nicht gewußt, daß es in Medford eine Mystic Avenue gibt - ich hätte gedacht, daß es in Medford überhaupt keine Avenues gibt. Höchstens ein paar Feldwege.«

»Ich glaube«, sagte Andy, und seine eigene Stimme schien in seinen Ohren zu klingen, als käme sie von sehr, sehr weit her, »dieser spezielle Ruf kommt aus Medford, Massachusetts.«

9

Zweihundert Meter hinter der Stadtgrenze vpn Haven versagte Lester

Morans Motor. Er hustete nicht; er spuckte nicht; er hatte keine Fehl-Wündung. Er starb leise und ohne Fanfaren. Lester stieg aus und machte sich nicht erst die Mühe, den Schlüssel umzudrehen.

Das ständige Prasseln des Feuers schien die ganze Welt zu erfüllen. Die Lufttemperatur war um mindestens zehn Grad gestiegen. Der Wind wehte ihm den dichten Rauch entgegen, aber gleichzeitig in die Höhe, so daß man die Luft atmen konnte. Sie hatte dennoch einen heißen, ätzenden Geschmack.

Hier waren links und rechts weite Felder - Clarendon-Land rechts, Ruvall-Land links. Es stieg in einem langen, welligen Hang zum W ald hin an. In diesem Wald konnte Lester das immer heller werdende Flackern von rotem und orangefarbenem Licht sehen; Rauch stieg in einer Säule auf, die ständig dunkler wurde. Er konnte die dumpfen Implosionen hohler Bäume hören, wenn das Feuer den Sauerstoff aus ihnen heraussaugte wie das Mark aus alten Knochen. Der Wind wehte ihm nicht direkt ins Gesicht, aber beinahe; das Feuer konnte jeden Augenblick aus dem Wald ausbrechen und auf die Wiesen übergreifen. Es konnte sich tödlich schnell bis zu der Stelle ausbreiten, an der er schwitzend und mit rotem Gesicht stand. Bevor das geschah, wollte er wieder in seinem Auto sitzen - es würde anspringen, keine Frage, die alte Kiste hatte ihn noch nie im Stich gelassen - und Entfernung zwischen sich und dieses rote, näherkommende Ungeheuer bringen.

Steig ein! Steig ein, um Himmels willen! Du hast es gesehen, jetzt steig ein!

Aber er hatte es eben nicht gesehen. Er hatte seine Hitze gespürt, hatte gesehen, wie es mit den Augen blinzelte und Rauch aus seinen Drachennüstern quoll - aber das Feuer hatte er nicht richtig gesehen.

Dann sah er es.

Es kam wie mit einem Sprung aus Luther Ruvalls Feld. Die Hauptfront des Feuers befand sich in den Big Injun Woods, aber diese Seite brach nun aus dem Wald heraus. Die Bäume, die am hinteren Ende dieses Feldes standen, waren kein Gegner für das rote Tier. Sie schienen einen Augenblick schwärzer zu werden, während das Licht hinter ihnen intensiver wurde - gelb zu orange, orange zu gleißend rot. Dann gingen sie einfach in Flammen auf. Es geschah blitzartig. Einen Augenblick konnte Lester noch ihre Kronen sehen, dann waren auch diese verschwunden. Es war wie der Trick eines fabelhaften Magiers, der Art von Zauberer, der Hilly Brown einmal mit Leib und Seele werden wollte.

Die Feuerfront war vor ihm, sie war zwanzig Meter hoch und verschlang Bäume, während Lester Moran mit offenem Mund wie hypnotisiert dastand. Flammen liefen die Furchen des Feldes herab. Jetzt qualmte der Rauch dichter, würgend, um ihn herum. Er fing an zu husten.

Verschwinde! Um Himmels willen, verschwinde!

Ja. Jetzt würde er verschwinden; jetzt konnte er es. Er hatte es gesehen, und es war in jeder Beziehung so atemberaubend gewesen, wie er erwartet hatte. Aber es war eine Bestie. Und wenn ein Mann bei klarem Verstand von einer Bestie angegriffen wurde, dann lief er weg. So schnell und weit er konnte. Das machten alle Lebewesen. Alle Lebewesen ...

Lester legte den halben Weg zu seinem Auto zurück, dann blieb er stehen.

Alle Lebewesen.

Ja. Alle Lebewesen liefen vor einem Waldbrand davon. Die alten Verhaltensmuster galten nicht mehr. Der Coyote rannte neben dem Kaninchen. Aber über dieses Feld rannten keine Coyoten und keine Kaninchen; keine Vögel flogen am metallisch grauen Himmel.

Außer ihm war niemand hier.

Keine Vögel oder andere Tiere, die vor dem Feuer flohen, und das bedeutete, daß keine im Wald gewesen waren.

Das umgestürzte Feuerwehrauto, überall Blut.

Der im Wald verunglückte Pumpwagen. Der blutige Arm.

Was geht hier vor? schrie sein Verstand.

Er wußte es nicht - aber er wußte, daß er die Siebenmeilenstiefel anziehen mußte. Er riß die Tür auf - dann drehte er sich ein letztes Mal um.

Was er aus der gewaltigen Rauchsäule herauskommen sah, ließ ihn aufschreien. Er inhalierte Rauch, hustete, schrie noch einmal.

Ein Etwas - ein riesiges Etwas - kam wie der größte Wal aller Zeiten aus dem Rauch.

Vom Rauch verdunkeltes Sonnenlicht spiegelte sich weich darauf -und es stieg immer noch höher, stieg höher, stieg höher, und es warkein Laut zu hören außer den prasselnden donnernden Schritten des Feuers.

Höher... höher... höher...

Er neigte den Kopf nach hinten, um seinem Flug zu folgen, und deshalb sah er das komische kleine Ding gar nicht, das aus dem Rauch herauskam und die Straße entlang auf ihn zurollte. Es war ein roter Bollerwagen. Anfang des Sommers hatte er noch dem kleinen Billy Fannin gehört. In der Mitte des Wagens befand sich eine Plattform, und auf dieser war eine Bensohn-Heckenschere montiert - wenig mehr als ein motorisiertes Messer an einer langen Stange. Das Messer wurde mit einer Art Pistolengif bedient. Ein Schild mit der Aufschrift ORDENTLICHE HECKEN MIT BENSOHN ! flatterte noch am Ende der Stange. Die Heckenschere war mit einer beweglichen Kardanaufhängung montiert und ähnelte ein wenig dem vorstehenden Bug eines absurden Schiffes.

Lester lehnte an seinem Auto und schaute zum Himmel hinauf, als der EEG-Sensor der Maschine - der sein Leben als Digitalsonde begonnen hatte - den elektronischen Starter der Heckenschere auslöste (eine Abwandlung, an die die Konstrukteure von Bensohn nie gedacht hatten). Das Messer erwachte kreischend zum Leben, der kleine Benzinmotor heulte wie eine getretene Katze.

Lester drehte sich um und sah so etwas wie eine Angelrute mit Zähnen auf sich zukommen. Er schrie auf und duckte sich hinter das Heck seines Autos.

Was geht hier vor? kreischte sein Verstand. Was geht hier vor, was geht hier vor, was geht hier vor, was ...

Die Heckenschere schwenkte in der Kardanaufhängung und suchte Lester; sie folgte seinen Gehirnströmen, die sie als ein Pulsieren wahrnahm, nicht unähnlich dem Piepsen eines Radars. Die Heckenschere war nicht besonders intelligent (ihr Gehirn stammte aus einem programmierbaren Spielzeug, das Terrible Tracker Tank hieß), aber dennoch imstande, den schwachen elektrischen Strömen von Lester Morans Ge -hirn zu folgen. Seiner Batterie, könnte man sagen.

»Verschwinde!« schrie Lester, während Billy Fannins Bollerwagen auf ihn zukam. »Verschwinde! Verschwinde!«

Statt sich zu entfernen, schien der Wagen auf ihn zu springen. Lester Moran, dessen Herz wild in der Brust hämmerte, wich nach links aus.

Die Heckenschere bewegte sich ebenfalls nach links. Lester Moran versuchte, nach rechts auszuweichen - dann fiel ein riesiger, sich langsam bewegender Schatten auf ihn, und er blickte unwillkürlich nach oben... er konnte einfach nicht anders. Seine Beine stolperten übereinander, und die Heckenschere stieß zu. Das wirbelnde Messer fraß sich in Lesters Kopf. Es bearbeitete ihn immer noch, als das Feuer die Heckenschere mitsamt ihrem Opfer verschlang.

10

Torgeson und Weems -sahen Leandros Leichnam auf der Straße zur selben Zeit. Sie atmeten jetzt beide Dosenluft; die Übelkeit hatte sie rasch und mit beängstigender Heftigkeit gepackt, aber nachdem sie die Sauerstoffmasken übergezogen hatten, war sie völlig verschwunden. Leandro hatte recht gehabt.'Etwas in der Luft.

Nachdem sie den Polizeiruf aus Massachusetts empfangen hatten, hatte Claudell Weems aufgehört, Fragen zu stellen. Danach saß er nur noch da, hatte die Hände im Schoß und schaute aufmerksam in alle Richtungen. Weitere Einstellungen hatten ihnen Informationen über Polizeieinsätze in so interessanten Städten wie Friday, North Dakota oder Arnette, Texas gebracht.

Torgeson hielt an, die beiden Männer stiegen aus. Weems hielt inne, dann holte er die unter dem Armaturenbrett befestigte kurzläufige Schrotflinte heraus. Torgeson nickte. Die Sache wurde allmählich klar; nicht vernünftig, aber klar. Gabbons und Rhodes waren auf dem Rückweg von dieser Stadt verschwunden. Und Monster war am Tag vor seinem Selbstmord hier gewesen. Wie ging dieser Song von Phil Collins, der mit den unheimlichen Trommeln? I can feel it in the air tonight...

Es war tatsächlich in der Luft.

Behutsam drehte Torgeson den Mann um, der, so glaubte er, sie schließlich auf diesen ganzen Wahnsinn hingewiesen hatte.

Er hatte schon viel Schlimmes auf den Straßen gesehen, aber er sog dennoch heftig die Luft ein und wandte das Gesicht ab.

»Mein Gott, was hat denn den erwischt?« fragte Weems. Die Maske dämpfte seine Worte, aber sein Tonfall war unmißverständlich.

Torgeson wußte es nicht. Er hatte einmal einen Mann gesehen, der von einem Schneepflug überfahren worden war. Der hatte ungefähr so wie dieser ausgesehen. Das kam der Sache am nächsten.

Der Mann war von den Überresten seines Kopfes bis zur Taille nichts als Blut. Seine Gürtelschnalle war tief in den Körper gedrückt worden.

»Herrgott, Mann, es tut mir leid«, murmelte er und legte die Leiche sanft wieder hin. Er hätte nach der Brieftasche suchen können, aber er wollte nichts mehr mit diesem zerschmetterten Leichnam zu tun haben.

Er ging zum Auto. Weems setzte sich neben ihn, die Flinte schräg vor der Brust. In der Ferne, im Westen, wurde der Rauch mit jeder Minute dichter, aber hier war vorerst nur leichter Waldgeruch.

»Das ist eine verrückte Scheiße«, sagte Weeds unter der Maske.

»Ja«

»Ich habe ein verdammt mulmiges Gefühl hier.«

»Ja.«

»Ich finde, wir sollten diese Gegend so schnell wie möglich...«

Hinter hnen ertönte ein knackender Laut, und einen Augenblick dachte Torgeson, es wäre das Feuer - relativ gesehen war es weit weg, aber es konnte auch hier sein. Völlig vernünftig. Wenn man am FünfUhr-Tee eines Verrückten teilnahm, dann war alles verrückt. Als er sich umdrehte, wurde ihm klar, daß das Geräusch nicht von brennenden Zweigen verursacht wurde, sondern von brechenden.

»Heilige Scheiße!« rief Claudell Weems aus.

Torgesons Kiefer klappte herunter.

Der dumme, aber zuverlässige Cola-Automat war wieder unterwegs. Diesmal kam er aus einem Gehölz am Straßenrand. Die Glastür war zerschellt, die Seiten des großen rechteckigen Kastens zerkratzt. Im Metallrahmen an der Vorderseite der Maschine sah Torgeson eine Delle, die so tief war, daß sie beinahe wie eine Plastik wirkte.

Sie sah aus wie ein halber Kopf.

Der Cola-Automat schwebte über die Straße und verharrte dort einen Augenblick schwebend wie ein mit unangemessen fröhlichen Farben bemalter Sarg. Zumindest wirkten sie fröhlich, bis man das Blut bemerkte, das darauf verspritzt war und bereits antrocknete.

Torgeson konnte leises Summen und Klicken hören - wie Relais, dachte er. Vielleicht ist er beschädigt. Vielleicht, aber dennoch...

Plötzlich kam der Cola-Automat direkt auf sie zu.

»Scheißding!« brüllte Weems - Fassungslosigkeit und Entsetzen klangen in seiner Stimme, aber gleichzeitig eine Art irren Gelächters.

»Schieß schon! Schieß schon!« schrie Torgeson und warf sich nach rechts.

Weems ging einen Schritt zurück und fiel prompt über Leandros Leiche. Das war außerordentlich dumm. Es war aber auch ein außerordentliches Glück. Der Cola-Automat verfehlte ihn nur um Zentimeter. Als er zu einem weiteren Anlauf ausholte, verpaßte ihm Weems drei Schüsse aus der Flinte. Die Treffer sahen aus wie metallene Gänseblümchen mit schwarzen Löchern in der Mitte. Die Maschine begann zu dröhnen. Sie hielt inne und torkelte in der Luft herum wie ein Mann, der an Veitstanz leidet.

Torgeson zog seine Dienstpistole und feuerte vier Schüsse ab. Der Cola-Automat kam auf ihn zu, aber jetzt schien er lethargisch zu sein und keine Geschwindigkeit mehr erlangen zu können. Er hielt mit einem

Ruck, setzte sich in Bewegung, hielt mit einem Ruck, setzte sich wieder in Bewegung. Er taumelte wie betrunken von einer Seite auf die andere. Das Dröhnen wurde lauter. Klebrige Limonadenbäche flössen an der Vorderseite hinab.

Als er auf ihn zukam, konnte Torgeson mühelos ausweichen.

»Runter, Andy!« schrie Weems.

Torgeson duckte sich. Claudell Weems verpaßte dem Cola-Automaten noch drei Schüsse, so schnell es die Ladeautomatik gestattete. Beim dritten Schuß explodierte etwas in seinem Inneren. Aus einer Seitenwand kamen schwarzer Rauch und ein kurzes Feuerrülpsen.

Grünes Feuer sah Torgeson. Grün.

Dann fiel der Cola-Automat etwa fünf Meter von Leandros Leiche entfernt zu Boden. Er zuckte noch einmal, dann kippte er mit einem hohlen Poltern um. Glasscherben klirrten. Drei Sekunden Stille, dann eine Art metallisches Krächzen. Auch das hörte auf. Der Cola-Automat lag tot auf dem gelben Mittelstreifen der Route 9. Seine weiß-rote Haut war voller Einschußlöcher. Rauch quoll daraus hervor.

»Ich habe gerade meine Waffe gezogen und einen Cola-Automaten erschossen, Sir«, sagte Claudell Weems hohl hinter der Maske.

Andy Torgeson drehte sich zu ihm um. »Und Sie haben ihm nicht einmal befohlen stehenzubleiben oder einen Warnschuß abgegeben. Ich glaube, ich werde Sie suspendieren müssen.«

Sie sahen einander über die Masken hinweg an, dann fingen sie an zu lachen. Claudell Weems lachte so heftig, daß er beinahe umkippte.

Grün, dachte Torgeson. Obwohl er immer noch lachte, war ihm in seinem Inneren nicht komisch zumute. Dos Feuer, das aus diesem Scheißding kam, war grün.

»Ich habe keinen Warnschuß abgegeben«, prustete Weems atemlos. »Nein, das habe ich nicht getan. Das habe ich wirklich nicht getan!«

»Sie haben seine Bürgerrechte verletzt«, sagte Torgeson.

»Das wird eine Untersuchung nach sich ziehen!« lachte Weems. »Klar, Baby! Ich meine... meine...« Er schwankte auf den Beinen, und plötzlich merkte Torgeson, daß ihm selbst schwindlig war. Sie atmeten reinen Sauerstoff... hyperventilierten.

»Hören Sie auf zu lachen!« brüllte er, und seine Stimme schien von weither zu kommen. »Claudell, hören Sie auf zu lachen!«

Irgendwie gelang es ihm, dorthin zu gelangen, wo Weems benommen herumtorkelte. Die Entfernung schien sehr groß zu sein. Als er fast dort war, stolperte er. Weems fing ihn irgendwie auf, und einen Augenblick standen sie schwankend da und hatten die Arme umeinander geschlungen, wie Rocky Baiboa und Apollo Creed am Ende des ersten Kampfes.

»Sie ziehen mich runter, Arschloch«, murmelte Weems.

»Scheiß drauf, Sie haben doch angefangen.« Die Welt wurde wieder scharf, verschwamm, verfestigte sich. Langsam atmen, ermahnte Tor-618 geson sich selbst. Tief und langsam atmen, keine Aufregung. Schlag langsamer, Herz. Er mußte wieder kichern, fing sich aber.

Die beiden taumelten mit um die Taillen geschlungenen Armen zum Streifenwagen zurück.

»Die Leiche«, sagte Weems.

»Lassen wir vorerst hier. Er ist tot. Wir nicht. Noch nicht.«

»Sehen Sie!« sagte Weems, als sie sich ihrem Steifenwagen näherten. »Die Buckel sind aus!«

Die blauen Blinklichter, die von den Polizisten Buckel genannt wurden, waren dunkel und tot. Das durfte nicht sein - es war Vorschrift, das Blinklicht am Schauplatz eines Unfalls immer eingeschaltet zu lassen.

»Haben Sie...« begann Torgeson, dann verstummte er.

Etwas an der Landschaft hatte sich verändert. Der Tag war dunkler geworden, ungefähr so, als schöben sich gewaltige Wolken vor die Sonne

oder als finge eine Sonnenfinsternis an. Sie sahen einander an und drehten sich um. Torgeson sah es zuerst, eine riesige silberne Form, die aus dem Rauch herauskam. Der gewaltige Rand schimmerte.

»Gütiger Heiland!« kreischte Weems fast. Seine große braune Hand fand Torgesons Arm und umklammerte ihn.

Torgeson spürte es kaum, aber am nächsten Tag hatte er blaue Flecken in der Form von Weems' Hand auf dem Arm.

Das Ding stieg höher... höher... höher. Rauchverhangenes Sonnenlicht spiegelte sich auf der silbrigen, metallischen Oberfläche. Es stieg in einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad an. Es schien ein wenig zu schwanken, aber das konnte auch eine Illusion sein.

Natürlich war das Ganze eine Illusion... es mußte eine sein. Es konnte nicht wirklich sein, dachte Torgeson; Sauerstoffrausch.

Aber wie können wir beide dieselbe Halluzination haben?

»O mein Gott!« stöhnte Weems, »es ist eine fliegende Untertasse, Andy, es ist eine verdammte fliegende Untertasse!«

Aber Torgeson fand nicht, daß es wie eine Untertasse aussah. Es sah aus wie die Unterseite eines Kantinentellers der Armee - des größten Kantinentellers aller Zeiten. Es stieg höher und höher; man dachte, es müßte aufhören, ein dunstiger Streifen Himmel müßte zwischen ihm und den Rauchschwaden sichtbar werden, aber es stieg immer noch an, ließ die Bäume zur Zwergenhaftigkeit schrumpfen, ließ die ganze Landschaft zur Zwergenhaftigkeit schrumpfen. Der Rauch des Waldbrands nahm sich dagegen aus wie ein paar in einem Aschenbecher schwelende Zigarettenkippen. Es füllte mehr und mehr vom Himmel aus, verdeckte den Horizont, stieg empor, oh, etwas stieg aus den Big Injun Woods empor, und es war totenstill - kein Laut, überhaupt kein Laut.

Sie starrten es an, und dann umklammerte Weems Torgeson, und Torgeson umklammerte Weems, sie umarmten einander wie Kinder, und Torgeson dachte: Mein Gott, es wird auf uns fallen...

Und es stieg immer noch aus dem Rauch und dem Feuer empor, als wollte es niemals aufhören.

11

Bei Einbruch der Dunkelheit hatte die Nationalgarde Haven von der Außenwelt abgeriegelt. Es war von Gardisten umstellt, diejenigen, die in Windrichtung standen, trugen Sauerstoffmasken.

Torgeson und Weems kamen heraus - aber nicht mit ihrem Streifenwagen. Der war so tot wie John Wilkes Booth. Sie gingen zu Fuß. Als sie den letzten Rest Sauerstoff in ihren Flachpacks aufgebraucht hatten, waren sie bereits in Troy und stellten fest, daß sie mit der Außenluft zurechtkamen - der Wind war ihr Glück gewesen, sagte Claudell Weems später. Sie verließen das, was in streng geheimen Regierungsberichten bald als die »kontaminierte Zone« bezeichnet werden sollte, und von ihnen kam der erste offizielle Bericht darüber, was in Haven vor sich ging. Inzwischen lagen aber Hunderte von inoffiziellen Berichten über die tödliche Luft in Haven vor und Tausende über das gigantische UFO, das aus den Big Injun Woods emporgestiegen war.

Weems kam mit einer blutenden Nase heraus. Torgeson verlor ein halbes Dutzend Zähne. Beide schätzten sich sehr glücklich.

Die erste Postenkette der Nationalgardisten aus Bangor und Augusta war dünn. Gegen einundzwanzig Uhr wurde sie mit Gardisten aus Limestone, Presque Isle, Brunswick und Portland verstärkt. Bei Tagesanbruch waren tausend weitere Gardisten mit Gefechtsausrüstung aus anderen Städten des Eastern Corridor eingeflogen worden.

Zwischen neunzehn Uhr und ein Uhr herrschte bei NORAD die Alarmstufe DEFCON-2. Der Präsident kreiste in einer Höhe von sechzigtausend Fuß im Flugzeug Looking Glass über dem Mittelwesten und schluckte fünf bis sechs Beruhigungstabletten gleichzeitig.

Um 18:00 Uhr erschien das FBI auf der Bildfläche, die CIA um 19:15 Uhr. Um 20 Uhr stritten sie lautstark über ihre jeweilige Zuständigkeit. Um 21:15 Uhr erschoß ein ängstlicher und wütender CIA-Agent namens Spacklin einen FBI-Mann namens Richardson. Der Zwischenfall wurde vertuscht, aber Gardener und Bobbi Andersen hätten es beide verstanden - die Polizei von Dallas war am Schauplatz und hatte die Situation unter Kontrolle.

Zehntes Kapitel

Tommyknockers klopfen an das Tor

1

Nach dem Versagen von Ev Hillmans alter .45er folgte ein Augenblick gelähmten Schweigens in Bobbis Küche, ein Schweigen, das ebenso geistig wie körperlich war. Gards aufgerissene blaue Augen starrten in Bobbis grüne.

»Du hast versucht...« begann Bobbi, und ihr Verstand

(! versucht!)

erzeugte ein Echo in Gardeners Kopf. Der Augenblick schien sehr lang zu sein. Als er brach, brach er wie Glas.

In ihrer Überraschung hatte Bobbi die Spielzeugpistole sinken lassen. Jetzt hob sie sie wieder. Er sollte keine zweite Chance haben. In ihrer Aufregung war ihr Verstand völlig offen für Gardener, und er spürte ihren Schock angesichts der Chance, die sie ihm gegeben hatte. Sie war fest entschlossen, ihm keine zweite Chance zu geben.

Mit der rechten Hand konnte er nichts tun, die war unter dem Tisch. Bevor sie die Mündung der Spielzeugpistole auf ihn richten konnte, preßte er die linke Hand an die Tischkante, und ohne nachzudenken stieß er so heftig zu, wie er konnte. Die Tischbeine quietschten schrill auf dem Boden, als sich der Tisch bewegte. Er prallte gegen Bobbis unförmige, mißgestaltete Brust. Im gleichen Augenblick schoß ein Strahl gleißenden grünen Lichts aus dem Lauf der Spielzeugpistole, die mit Hank Bucks großem Radiorecorder verbunden war. Aber statt Gards Brust zu treffen, ging er in die Höhe und über seine Schulter hinweg - mehr als dreißig Zentimeter darüber. Dennoch konnte er die Haut unter dem Hemd unangenehm kribbeln spüren, als tanzten die Oberflächenmoleküle wie Tropfen auf einer heißen Herdplatte.

Gard drehte sich nach rechts und ließ sich fallen, um von diesem Strahl wegzukommen, der wie grünes Licht aussah. Er stieß mit den Rippen ziemlich fest gegen den Tisch, und der Tisch rammte noch einmal gegen Bobbi, diesmal noch härter. Bobbis Stuhl kippte auf die Hinterbeine, dann fiel er mit ihr zusammen mit lautem Krachen um. Der grüne Lichtstrahl schnellte in die Höhe, und Gardener mußte einen Augenblick an die Lotsen denken, die nachts mit kräftigen Scheinwerfern auf Rollbahnen standen und die Flugzeuge zu ihren Parkpositionen dirigierten.

Er hörte über sich ein leises, knirschendes Geräusch wie splitterndes Sperrholz, sah hoch und stellte fest, daß die Spielzeugpistole einen Schlitz in die Küchendecke gerissen hatte. Gardener richtete sich taumelnd auf. Es war unglaublich, aber seine Kiefer teilten sich wieder zu einem gewaltigen Gähnen. In seinem Kopf hallte und heulte der Buschfeueralarm von Bobbis Gedanken,

(er hat eine Waffe hat versucht mich zu erschießen Dreckskerl Dreckskerl er hat eine) und er versuchte, sie abzuschirmen, bevor er verrückt wurde. Er konnte es nicht. Bobbi schrie in seinem Kopf, und während sie einen Augenblick zwischen dem Tisch und dem umgekippten Stuhl eingeklemmt dalag, versuchte sie, die Waffe für einen zweiten Schuß auf ihn zu richten.

Gardener hob den Fuß und versetzte mit verzerrtem Gesicht dem Tisch einen kräftigen Tritt. Er kippte um, Bier, Tabletten und Radiorecorder glitten herunter. Das meiste fiel auf Bobbi. Bier spritzte ihr ins Gesicht und rann schäumend über ihre neue und verbesserte Haut. Der Recorder landete auf ihrem Hals und glitt dann auf den Boden, wo er in einer Bierpfütze liegenblieb.

Geh hoch, Scheißding! kreischte Gardener ihm zu. Explodiere! Zerstöre dich selbst! Explodiere, gottverdammich, ex...

Der Recorder tat mehr als das. Er schien sich aufzublähen, dann barst er mit einem Geräusch wie alter Stoff, der an den Nähten reißt, in alle Richtungen auseinander; dabei rülpste er grüne Lichtstrahlen wie auf Flaschen gezogene Blitze. Bobbi schrie; was er mit den Ohren hörte, war schlimm; der Schrei in seinem Kopf war unendlich viel schlimmer.

Gardener schrie mit ihr, hörte sich selbst aber nicht. Er sah, daß Bobbis Hemd brannte.

Er ging auf sie zu, ohne daran zu denken, was er vorhatte. Während er das tat, ließ er gedankenlos die .45er fallen. Diesmal ging sie los; die Kugel schlug in Jim Gardeners Knöchel und zerschmetterte ihn. Der Schmerz wehte wie ein heißer Wind durch seinen Verstand. Er schrie wieder. Er tat einen stolpernden Schritt nach vorne, in seinem Kopf dröhnten ihre gräßlichen Gedankenschreie. Noch einen Augenblick, dann würden sie ihn verrückt machen. Dieser Gedanke brachte tatsächlich eine Erleichterung. Wenn er verrückt wurde, konnte ihm diese ganze Scheiße völlig egal sein.

Dann sah Gard, eine Sekunde lang, seine Bobbi zum letzten Mal.

Er glaubte, daß Bobbi vielleicht zu lächeln versuchte.

Dann fing das Schreien wieder an. Sie schrie und versuchte die Flammen auszuklopfen, die ihren Oberkörper in Talg verwandelten, und dieses Schreien war zu viel, viel zu viel, zu laut, viel zu laut; es war unerträglich. Für sie beide, dachte er. Er bückte sich, fand den dreifach verdammten Revolver auf dem Boden und hob ihn auf. Er mußte beide

Daumen nehmen, um den Hahn zu spannen. Die Schmerzen in seinem Knöchel waren schlimm - das wußte er-, aber im Augenblick spürte er sie gar nicht, weil sie in Bobbis kreischender Agonie untergingen. Er richtete Hillmans Revolver auf ihren Kopf.

funktioniere, verdammtes Ding, bitte,funktioniere...

Aber was, wenn es funktionierte und er däneben schoß? Es war vielleicht keine Patrone mehr in der Trommel.

Seine Hände hörten nicht auf zu zittern.

Er sank auf die Knie wie ein Mann, den plötzlich der unwiderstehliche Drang zu beten überkommt. Er kroch zu Bobbi, die dalag, vor Schmerzen kreischte, sich auf dem Fußboden wand und brannte.

Er konnte sie riechen; konnte sehen, wie sich schmelzende schwarze Plastiktrümmer des Radiorecorders in ihren Körper fraßen. Er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre auf sie gestürzt. Dann hielt er ihr die -45er an den Hals und drückte auf den Abzug.

Wieder ein Klicken.

Bobbi schrie und schrie. Schrie in seinem Kopf.

Er versuchte, den Hahn zurückzuziehen, hätte es auch fast geschafft, aber dann rutschte er ab.

Bitte, lieber Gott, oh bitte, laß mich ein letztes Mal ihr Freund sein!

Diesmal bekam er den Hahn zurück. Er drückte noch einmal den Abzug. Jetzt ging der Revolver lös.

Plötzlich wurde der Schrei in Gardeners Kopf zu einem lauten Summen. Er wußte, daß er die geistigen Geräusche des Sterbens hörte. Er hob den Kopf. Ein greller Streifen Sonnenlicht fiel durch den Riß im Dach herein und teilte sein Gesicht in zwei Hälften. Gardener schrie.

Plötzlich hörte das Summen auf, Stille trat ein.

Bobbi Anderson - oder das, wozu sie geworden war - war so tot wie die trockenen Kadaver im Kontrollraum des Schiffes, so tot wie die Galeerensklaven, die den Antrieb des Schiffes geliefert hatten.

Sie war tot, und Gardener wäre in diesem Augenblick ebenfalls mit Freuden gestorben - aber es war nicht vorbei.

Noch nicht.

2

Kyle Archinbourg trank ein Pepsi in Cooder's Market, als die Schreie in seinem Kopfanfngen Die Flasche fiel ihm aus der Hand und zerschellte am Boden, als beide Hände an seine Schläfen flogen. Dave Rutledge, der vor Cooder's auf einem Stuhl döste, dessen Sitz er selbst geflochten hatte, lehnte damit an der Hauswand und hatte unheimliche Träume in fremden Farben. Er riß die Augen auf und schnellte kerzengerade in die Höhe, als hätte ihn jemand mit einem Stromkabel berührt; die Sehnen in seinem Nacken traten hervor. Der Stuhl glitt unter ihm weg, und als sein Kopf gegen die Holzwand des Market prallte, brach sein Genick wie Glas. Er war tot, noch bevor er auf dem Pflaster lag. Hazel McCready machte sich eine Tasse Tee. Als die Schreie anfingen, zuckten ihre Hände. Die Hand, die den Teekessel hielt, schüttete kochendes Wasser über die, die die Tasse hielt, und verbrühte sie stark. Hazel schleuderte den Teekessel durch das Zimmer und schrie vor Schmerzen und Angst. Ashley Ruvall, der mit dem Fahrrad am Rathaus vorbeifuhr, fiel auf die Straße und blieb wie vom Donner gerührt liegen. Dick Allison und Newt Berringer spielten in Newts Haus Cribbage, was ziemlich dumm war, da jeder genau wußte, was der andere in der Hand hielt, aber Newt hatte kein Pachisi-Brett, und außerdem schlugen sie sowieso nur die Zeit tot und warteten darauf, daß das Telefon klingelte, daß Bobbi anrief und ihnen sagte, der Trunkenbold wäre tot und die nächste Phase der Arbeit könnte beginnen. Newt gab, und er wirbelte die Karten über den Tisch und auf den Boden. Dick sprang auf, seine Augen blitzten wild, das Haar stand ihm zu Berge, dann schnellte er zur Tür. Statt dessen prallte er einen Meter daneben gegen die Wand und stürzte hin. Doc Warwick war in seinem Arbeitszimmer und sah seine alten Tagebücher durch. Der Schrei traf ihn wie eine Wand aus Schlackesteinen, die mit großer Geschwindigkeit auf Schienen dahinrast. Sein Körper pumpte eine tödliche Dosis Adrenalin in sein Herz, und es platzte wie ein alter Reifen. Ad McKeen war in seinem Lieferwagen auf dem Weg zu Newt. Er kam von der Straße ab und fuhr in Pooch Baileys verlassene Hot Dog Bude. Sein Gesicht prallte gegen das Lenkrad. Er war einen Augenblick benommen, aber mehr nicht. Er war langsam gefahren. Er sah sich benebelt und entsetzt um. Wendy Fannin kam mit zwei Gläsern eingemachten Pfirsichen aus dem Keller herauf. Seit ihr »Werden« angefangen hatte, aß sie fast nichts anderes mehr. In den letzten vier Wochen hatte sie mehr als neunzig Gläser eingemachte Pfirsiche gegessen. Sie wimmerte und warf diese beiden in die Luft wie ein spastischer Jongleur. Sie kamen herunter, schlugen auf der Treppe auf, zerschellten. Pfirsiche und klebrige Flüssigkeit ergossen sich über die Stufen. Bobbi, dachte sie wie betäubt, Bobbi Anderson verbrennt! Nancy Voss schaute blicklos aus dem Fenster und dachte an Joe. Sie vermißte Joe, vermißte ihn sogar sehr. Sie vermutete, daß das »Werden« dieses Verlangen schließlich auslöschen würde - es schien jeden Tag ferner zu sein-, aber obwohl es schmerzte, Joe zu vermissen, wollte sie nicht, daß dieser Schmerz aufhörte. Das war unsinnig, aber so war es nun einmal. Dann fingen die Schreie an, und sie schnellte mit dem Kopf so heftig nach vorne, daß sie drei der Fensterscheiben mit der Stirn einschlug.

3

Bobbis Schrei hallte über Haven wie eine Luftschutzsirene. Alles und alle waren völlig erstarrt... und dann strömten die verwandelten Bewohner von Haven auf die Straßen. Ihre Mienen zeigten alle den gleichen Ausdruck: Zuerst Schrecken, Schmerz und Entsetzen - dann Wut.

Sie wußten, wer diese Schmerzensschreie verursacht hatte. Während sie andauerten, war keine andere geistige Stimme zu hören, und keiner konnte etwas anderes tun, als ihnen zu lauschen.

Dann kam das summende Todesrasseln, dann eine so vollständige Stille, daß es nur der Tod sein konnte.

Ein paar Augenblicke später erklang das tiefe Pulsieren von Dick Allisons Verstand. Er war zutiefst erschüttert, aber sein Befehl war dennoch eindeutig.

ZU ihrer Farm. Alle. Haltet ihn auf, bevor er noch mehr anrichten kann.

Hazels Stimme griff den Gedanken auf und verstärkte ihn - es war, als bildete eine zweite Stimme mit der ersten ein Duett.

Bobbis Farm. Dorthin. Alle.

Kyles Gedankenstimme machte ein Trio daraus. Der Radius der Stimme wurde umso größer, je kräftiger sie wurde.

Alle. Haltet ihn auf...

Adleys Stimme. Newt Berringers Stimme.

... bevor er noch mehr anrichten kann.

Diejenigen, die Gardener als die Schuppen-Leute bezeichnete, vereinten ihre Stimmen, so daß sie wie eine klangen, befehlsgewohnt, deutlich, keinen Widerspruch duldend... nicht, daß irgend jemand in Haven an Widerspruch auch nur gedacht hätte.

Haltet ihn auf, bevor er dem Schiff etwas tun kann. Haltet ihn auf, bevor er dem Schiff etwas tun kann.

Rosalie Skehan trat von der Spüle weg, ohne erst das Wasser abzustellen, das über den Kabeljau lief, den sie zum Essen putzen wollte. Sie gesellte sich zu ihrem Mann, der hinter dem Haus Holz gespalten und sich um ein Haar ein paar Zehen amputiert hätte, als Bobbis Schreie anfingen. Ohne ein Wort zu sagen, gingen sie zu ihrem Auto, stiegen ein und fuhren in Richtung Bobbis Farm, die sechs Kilometer entfernt war. Als sie aus ihrer Einfahrt kamen, stießen sie beinahe mit Elt Barker zusammen, der mit seiner alten Harley von der Tankstelle aufgebrochen war. Freeman Moss fuhr mit seinem Holzlaster. Er empfand ein vages Bedauern - irgendwie hatte er Gardener gemocht. Er hatte etwas, das irgendwie anerkennenswert war, aber das würde ihn nicht daran hindern, dem Dreckskerl die Eingeweide herauszureißen. Andy Bozeman fuhr. seinen Oldsmobile Delta 88 (MAKLER VERKAUFEN PRO QUADRAT-625

METER, stand auf dem Stoßstangenaufkleber), seine Frau saß neben ihm und hatte die Hände säuberlich über die Handtasche gefaltet. Darin hatte sie einen Molekularanreger, der die Wärme aller Dinge binnen fünfzehn Sekunden auf einem Durchmesser von fünf Zentimetern um tausend Grad anheben konnte. Sie hoffte, sie würde Gardener wie einen Hummer kochen können. Laßt mich nur auf _fünf Schritte an ihn rankommen, dachte sie immerzu. Nur_ fünf Schritte, mehr verlange ich nicht. Aus größerer Entfernung wurde das Gerät unzuverlässig. Sie wußte, sie hätte seine Effektivität auf eine halbe Meile steigern können, und jetzt wünschte Sie sich, sie hätte es getan, aber wenn Andy nicht mindestens sechs frische Hemden im Schrank hatte, war er wie ein Bär. Bozeman selbst trug einen starren Ausdruck der Wut zur Schau, seine Lippen waren in einem trockenen Grinsen von seinen wenigen noch vorhandenen Zähnen zurückgezogen. Ich werde deinen Zaun streichen, wenn ich dich erwische, Pißkopf, dachte er, beschleunigte den Olds auf hundertvierzig Stundenkilometer und überholte eine Reihe langsamerer Autos, die alle in Richtung Bobbis Farm fuhren. Sie alle folgten der BEFEHLSSTIMME, die jetzt zu einer hämmernden Litanei geworden war: HALTET IHN AUF, BEVOR ER DEM SCHIFF ETWAS TUN KANN, HALTET IHN AUF, BEVOR ER DEM SCHIFF ETWAS TUN KANN, HALTET IHN AUF, HALTET IHN AUF, HALTET IHN AUF.

4

Gard stand über Bobbis Leichnam und war halb verrückt vor Schmerz und Kummer und Schock... und dann riß er plötzlich den Mund wieder zu einem gewaltigen, sehnenzerrenden Gähnen auf. Er taumelte zur Spüle, wollte hüpfen, konnte es aber nicht wegen der Schlaftabletten, die er geschluckt hatte. Jedesmal, wenn er auf den verletzten Knöchel trat, hatte er das Gefühl, als steckte eine unerbittlich grabende Metallklaue darin. Die Trockenheit in seinem Mund war viel schlimmer geworden. Seine Glieder fühlten sich schwer an. Seine Gedanken verloren ihre vorherige Schärfe; sie schienen zu zerfließen wie auslaufendes Eidotter. Als er vor der Spüle stand, gähnte er erneut und trat absichtlich auf das verletzte Bein. Die Schmerzen stießen durch den Nebel wie ein frisch geschliffenes Fleischermesser.

Er drehte den mit H markierten Hahn nur ein ganz klein wenig auf und ließ sich ein Glas warmes - fast heißes - Wasser ein. Er wühlte im Schrank darüber und warf eine Packung Frühstücksflocken und ein Glas Ahornsirup zu Boden. Seine Hand schloß sich um die Packung Salz mif dem Bild des kleinen Mädchens darauf. Wenn es regnet, dann schüttet es gleich, dachte er. Wie wahr. Er hantierte eine Weile, die ihm wie ein Jahr vorkam, an der Schüttvorrichtung, bis es ihm schließlich gelang, genügend Salz in das Glas laufen zu lassen, daß das Wasser trüb wurde. Er rührte mit dem Finger um. Schüttete es hinunter. Der Geschmack war wie das Ertrinken.

Er würgte und brachte blaugefärbtes Salzwasser hoch. Er sah außerdem unverdaute Bruchstücke blauer Tabletten in dem Erbrochenen. Ein paar sahen mehr oder weniger intakt aus. Wie viele hat sie mich schluk-ken lassen?

Dann übergab er sich wieder... wieder... wieder. Es war eine Wiederholung des heftigen Herausschleuderns von Erbrochenem beim Schiff - ein überlasteter Stromkreis in seinem Gehirn löste ununterbrochen den Würgereflex aus, einen gefährlichen Schluckauf, der töten konnte.

Schließlich ließ es nach, dann hörte es auf.

Tabletten in der Spüle. Bläuliches Wasser in der Spüle.

Blut in der Spüle. Viel.

Er taumelte zarück, trat auf den verletzten Knöchel, schrie, fiel zu Boden. Er sah über das abgeschabte Linoleum hinweg in Bobbis glasige Augen und machte die eigenen zu. Sein Verstand begann sofort zu entschweben... aber in dieser Schwärze vernahm er Stimmen. Nein, viele Stimmen, die zu einer Stimme verschmolzen. Er kannte sie. Es war die-Stimme der Schuppen-Leute*

Sie waren hinter ihm her, aber er hatte eigentlich immer damit gerechnet, daß sie kommen würden - früher oder später.

Haltet ihn auf... haltet ihn auf... haltet ihn auf!

Beweg dich, sonst werden sie dich gar nicht aufhalten müssen. Sie erschießen dich oder desintegrieren dich oder machen mit dir, was sie wollen., während du schnarchend auf dem Boden liegst.

Er richtete sich auf die Knie auf, dann zog er sich am Küchenschrank auf die Beine. Er glaubte, daß eine Schachtel Hallowach-Tabletten im Badezimmer war, bezweifelte aber, daß sein Magen sie nach der jüngsten Vergewaltigung lange bei sich behalten würde. Unter anderen Umständen hätte sich das Experiment vielleicht gelohnt, aber Gardener hatte Angst, daß das Erbrechen nicht mehr aufhören würde, wenn es noch einmal anfing.

Bleib einfach in Bewegung,. Und wenn es wirklich schlimm wird, dann tu ein paar Schritte mit dem Knöchel. Das macht dich in Sekundenschnelle wieder wach.

Wirklich? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er jetzt rasch handeln mußte, und er wußte nicht, ob er überhaupt noch lange würde handeln können.

Er hinkte zur Küchentür und sah ein letztes Mal zurück. Bobbi, die Gardener immer wieder vor seinen eigenen Dämonen gerettet hatte, war endgültig tot. Ihre Bluse rauchte immer noch. Er hatte sie nicht vor ihren Dämonen retten können. Er hatte sie nur ihrem Zugriff entzogen.

Seine beste Freundin erschossen. Tolle Sache, was?

Er preßte den Handrücken auf den Mund. Sein Magen knurrte. Er machte die Augen zu und unterdrückte das Erbrechen, bevor es wieder anfangen konnte.

Er drehte sich um, machte die Augen wieder auf und fing an, durch das Wohnzimmer zu gehen. Er hatte vor, sich etwas Festes auszusuchen, darauf zuzuhoppeln und sich dann daran festzuhalten. Sein Verstand wollte unbedingt der silbrige Luftballon bleiben, zu dem er wurde, bevor ihn das große schwarze Nichts davontrug. Er kämpfte dagegen an, so gut es ging, konzentrierte sich auf Möbelstücke und hoppelte darauf zu. Wenn es einen Gott gab und wenn Er gütig war, dann würden sie vielleicht alle sein Gewicht tragen und er es durch dieses scheinbar endlose Zimmer schaffen wie Moses und sein Volk durch die Wüste.

Er wußte, daß die Schuppen-Leute bald hier sein würden. Er wußte, wenn er noch hier war, wenn sie kamen, dann würden sie ihn nicht über offenem Feuer rösten, sondern in der Brennkammer eines Kernkraftwerks. Sie hatten Angst, er würde dem Schiff etwas antun. Nun ja. Genau das, wovor sie Angst hatten, hatte er vor; außerdem würde er dort am sichersten sein.

Er wußte auch, daß er nicht dorthin gehen konnte. Noch nicht.

Vorher mußte er noch etwas im Schuppen erledigen.

Er gelangte bis auf die Veranda, wo er und Bobbi bis spät in manche Sommernacht hinein gesessen hatten, während Peter auf dem Boden zwischen ihnen schlief. Sie hatten einfach hier gesessen und Bier getrunken, und die Red Sox hatten ihr nächtliches Spiel im Fenway oder Comiskey Park oder sonstwo abgezogen, auf jeden Fall aber immer in Bobbis Radio; winzige Baseballspieler, die zwischen Röhren und Transistoren herumrannten. Sie hatten hier gesessen und Bierdosen in einem Eimer voll kaltem Brunnenwasser gekühlt. Hatten über das Leben, den Tod, Gott, Politik, Liebe und Literatur gesprochen. Vielleicht sogar einmal oder zweimal über die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten. Gardener glaubte sich an eine oder zwei solcher Gespräche zu erinnern, aber vielleicht spielte ihm lediglich sein müder Verstand einen Streich. Hier waren sie glücklich gewesen. Das schien schon sehr lange her zu sein.

Es war Peter, auf den sich sein übermüdeter Verstand jetzt konzentrierte. Peter war das erste Ziel, das erste Möbelstück, zu dem er hoppeln mußte. Das stimmte nicht ganz, denn bevor er versuchen konnte, den Hund von seinem Leiden zu erlösen, mußte er versuchen, David Brown zu retten, aber David Brown lieferte ihm nicht den emotionalen Rückhalt, den er brauchte; er hatte David Brown in seinem ganzen Leben nicht gesehen. Bei Peter war das anders.

»Guter, alter Peter«, sagte er in den stillen, heißen Nachmittag hinein (war es schon Nachmittag? Bei Gott, das war es). Er kam bis zur 628

Verandatreppe, dann ereilte ihn die Katastrophe. Er verlor plötzlich die Balance und verlagerte das Gewicht auf den verletzten Knöchel. Diesmal konnte er beinahe sehen, wie sich die gesplitterten Knochenbruchstücke aneinander rieben. Gardener stieß einen spitzen, hohen Laut aus - nicht den Schrei einer Frau, sondern den eines sehr jungen Mädchens in Todesangst. Er griff nach dem Verandageländer, während er zur Seite kippte.

In der hektischen Zeit Anfang Juli hatte Bobbi das Geländer zwischen Küche und Keller ausgebessert, aber um das zwischen Veranda und Hof hatte sie sich nie gekümmert. Es war schon seit Jahren morsch, und als Gard sich daran klammerte, zersplitterten beide Pfosten. Uralter Holzstaub puffte ins herbstliche Sonnenlicht... zusammen mit den Köpfen einiger verblüffter Termiten. Gard kippte seitlich von der Veranda, wimmerte kläglich und landete mit einem fleischigen Platschen auf dem Hof. Er versuchte aufzustehen, dann fragte er sich, warum er es versuchte. Die Welt schwankte vor seinen Augen. Er sah erst zwei Briefkästen, dann drei. Er beschloß, die ganze Sache zu vergessen und zu schlafen. Er machte die Augen zu.

5

In diesem langen, seltsamen und schmerzvollen Traum, den er hatte, sah/fühlte Ev Hillman Gardener_ fallen und hörte Gardeners Gedanken (vergiß die ganze Sache und schlaf)

klar und deutlich. Dann zerbrach der Traum, und das war gut; es war schwer zu träumen. Es bereitete ihm überall Schmerzen, tat ihm weh. Und es tat weh, gegen das grüne Licht zu kämpfen. Wenn Sonnenlicht zu hell war

(er erinnerte sich ein wenig an Sonnenlicht)

konnte man die Augen zumachen, aber das grüne Licht war innen, immerzu innen - ein drittes Auge, das sah, und ein grünes Licht, das brannte. Es waren noch andere denkende Gehirne hier. Eines gehörte der PRAU, das andere dem GERINGEREN VERSTAND, der einst Peter gewesen war. Jetzt konnte der GERINGERE VERSTAND nur noch heulen. Manchmal heulte er, daß Bobbi kommen und ihn von dem grünen Licht befreien sollte... aber meistens heulte er, weil er die Qualen des Entleertwerdens ertragen mußte. Die FRAU kreischte gleichfalls nach Befreiung, aber manchmal wurden ihre Gedanken zu widerwärtigen Bildern des Hasses, die Ev kaum ertragen konnte. Also: ja. Besser (besser) zu schlafen (leichter) und alles gehen zu lassen...

... aber da war David.

David starb. Seine Gedanken - die Ev anfangs deutlich empfangen hatte - wurden bereits zu einer enger werdenden Spirale, die zur Bewußtlosigkeitf führen würde und dann rasch zum Tod.

Deshalb kämpfte Ev gegen die Dunkelheit.

Kämpfte dagegen an und ^ fing an zu rufen:

»Stehen Sie auf! Stehen Sie auf! Sie da draußen im Sonnenlicht! Ich erinnere mich an Sonnenlicht! David Brown verdient seine Zeit im Sonnenlicht. Also stehen Sie auf! Stehen Sie auf! Stehen Sie auf! STEHENSIE

6

AUF STEHENSIE AUF STEHENSIE AUF!

Der Gedanke war ein konstantes Klopfen in Gardeners Kopf. Nein, kein Klopfen. Er war mehr wie ein Auto, aber eines mit Reifen aus Glas, und diese Reifen schnitten in sein Gehirn, während das Auto langsam darüber fuhr.

Verdient seine Zeit im Sonnenlicht David Brown STEHEN SIE AUF David AUF STEHEN SIE AUF David Brown STEHEN SIE AUF! David Brown! STEHEN SIE AUF! David Brown! STEHEN SIE AUF GOTTVERDAMMT!

»Schon gut!« murmelte Gardener durch einen Mund voller Blut. »Schon gut, ich verstehe Sie, lassen Sie mich in Ruhe!«

Es gelang ihm, sich auf die Knie aufzurichten. Er versuchte, auf die Beine zu kommen. Die Welt wurde grau. Schlecht. Wenigstens hatte die krächzende, schneidende Stimme in seinem Hirn nachgelassen... er spürte, daß ihr Besitzer irgendwie durch seine Augen schaute, die er wie schmutzige Fenster benutzte und durch sie hindurch sah,

(durch sie hindurch träumte)

was er sah.

Er versuchte wieder, auf die Beine zu kommen, und wieder gelang es ihm nicht.

»Mein Quotient ist immer noch ziemlich hoch«, krächzte Gardener. Er spuckte zwei Zähne aus und begann, durch den Staub des Hofes zum Schuppen zu kriechen.

7

Haven war hinter Jim Gardener her.

Sie kamen mit Autos. Sie kamen mit Lieferwagen. Sie kamen mit Traktoren. Sie kamen mit Motorrädern. Mrs. Eileen Crenshaw, die Avon-Beraterin, die sich bei Hillys ZWEITER GALA-ZAUBERVORSTELLUNG so sehr gelangweilt hatte, kam im Strandbuggy ihres Sohnes Galen. Reverend Goohringer fuhr hinter ihr, die restlichen paar Strähnen seines grauen Haares wehten von seiner sonnengebräunten Glatze. Vern Jernigan fuhr in einem Leichenwagen, den er zu einem Campingfahrzeug hatte umbauen wollen, bevor das »Werden« richtig losgegangen war. Sie drängten sich auf der Straße. Ashley Ruvall fuhr wie ein Slalomfahrer zwischen den Fußgängern dahin und stieg wie ein Verrückter in die Pedale. Er war kurz zu Hause gewesen und hatte etwas geholt, das er eine Zap-Pistole nannte. Noch im Frühling war sie nur ein ausrangiertes Spielzeug gewesen, das auf dem Dachboden Staub angesetzt hatte. Jetzt war sie mit einer Neun-Volt-Batterie und der Elektronikplatte des Speak 'n' Spell seines kleinen Bruders ausgestattet und zu einer Waffe geworden, die das Pentagon interessiert haben würde. Sie blies Löcher in Dinge. Große Löcher. Sie war auf den Gepäckträger seines Fahrrads geschnallt, mit dem er einst Zeitungen ausgetragen hatte. Sie kamen alle in großer Hast, und es kam zu Unfällen. Zwei Menschen wurden getötet, als Early Hutchinsons VW mit dem Kombi der Fannins zusammenstieß. Aber solche Kleinigkeiten konnten niemanden aufhalten. Ihre Gedankenstimmen erfüllten die Hohlräume der Luft mit einem konstanten, rhythmischen Ruf: Bevor er dem Schiff etwas tun kann! Bevor er dem Schiff etwas tun kann! Es war ein schöner Sommertag, ein schöner Tag zum Töten, und wenn jemand getötet werden mußte, dann James Eric Gardener, und daher kamen sie, alles in allem über fünfhundert, gute Leute vom Land, die ein paar tolle neue Tricks gelernt hatten. Sie karhen. Und sie hatten ihre neuen Waffen bei sich.

8

Als Gardener den halben Weg zum Schuppen zurückgelegt hatte, ging es ihm allmählich besser - vielleicht hatte er neuen Aufwind bekommen. Wahrscheinlicher aber war, vermutete er, daß er wirklich fast das ganze Valium losgeworden war und jetzt anfing, die Oberhand über den Rest zu bekommen.

Vielleicht flößte ihm der alte Mann auch irgendwie Kraft ein.

Was auch immer, es reichte aus, daß er wieder auf die Beine kam und zum Schuppen hoppeln konnte. Er klammerte sich einen Augenblick an

der Tür fest, und das Herz hämmerte in seiner Brust. Er sah nach unten

und erblickte ein Loch in der Tür. Es war rund. Der Rand bildete einen

gezackten Reifen aus weißen Holzsplittern. Es sah abgenagt aus,

dieses

Loch.

Der Staubsauger, der die Knöpfe gedrückt hat. So ist er herausgekommen. Er hatte eine neue und verbesserte Säge. Mein Gott, diese Leute sind wirklich verrückt.

Er tastete sich um den Schuppen herum, und plötzlich erfüllte ihn eine kalte Gewißheit: der Schlüssel würde fort sein.

Herrgott, Gard, hör doch auf! Warum sollte er...

Aber er war es. Er war fort. Der Nagel, an dem er gehangen hatte, war leer.

Gardener lehnte sich erschöpft und zitternd gegen die Schuppenwand, sein Körper war schweißgebadet. Er senkte den Blick, und die Sonne ließ etwas am Boden funkeln - den Schlüssel. Der Nagel war ein wenig abwärts geneigt. Er selbst hatte den Schlüssel in großer Hast dorthin gehängt und wahrscheinlich eigenhändig den Nagel in dem weichen Holz etwas heruntergezogen. Er war einfach heruntergerutscht.

Er bückte sich unter Schmerzen, hob ihn auf und stolperte wieder zur Vorderseite. Er war sich deutlich bewußt, wie schnell die Zeit verstrich. Sie würden bald hier sein; wie wollte er die Sache im Schuppen hinter sich bringen und zum Schiff hinaus gelangen, bevor sie hier waren? Da es unmöglich war, war es das beste, erst gar nicht darüber nachzudenken.

Als er wieder vor der Schuppentür stand, konnte er bereits leise Motorengeräusche hören. Er stieß den Schlüssel in Richtung Schloß und verfehlte das Loch. Die Sonne schien hell, sein Schatten war nicht mehr als eine Pfütze, die an seinen Fersen hing. Noch einmal. Diesmal traf der Schlüssel das Loch. Er drehte ihn herum, stieß die Tür auf und ging hinein.

Grünes Licht hüllte ihn ein.

Es war stark - stärker als beim letzten Mal, als er hier gewesen war. Das große, zusammengestoppelte Gerät

(der Transformator)

glühte hell. Es pulsierte, wie zuvor auch, aber jetzt waren die Zyklen rascher. Dünnes grünes Feuer lief über die silbernen Straßenkarten der Schalttafeln.

Er sah sich um. Der alte Mann, der in seinem grünen Bad schwamm, schaute Gardener mit seinem einen Auge an. Sein Blick war gequält, aber vernünftig.

Benützen Sie den Transformator, um David zu retten.

»Alter Mann, sie sind hinter mir her«, krächzte Gardener. »Ich habe keine Zeit.«

Ecke, andere Ecke.

Er sah hin und erblickte etwas, das ein wenig wie eine Fernsehantenne

aussah, ein wenig wie ein Kleiderständer und ein wenig wie diese drehbaren Gestelle, an denen Frauen in Hinterhöfen Wäsche aufhängen.

»Das?«

Bringen Sie es auf den Hof hinaus.

Gardener stellte keine Fragen. Er hatte keine Zeit. Das Ding stand auf einer kleinen rechteckigen Plattform. Er vermutete, daß darin die Schaltkreise und Batterien waren. Aus der Nähe sah er, daß das, was wie die Arme einer Fernsehantenne aussah, in Wirklichkeit dünne Stahlrohre waren. Er griff nach dem Mittelrohr. Das Ding war nicht schwer, aber es war sperrig. Er mußte einen Teil seines Gewichts auf den zertrümmerten Knöchel verlagern, ob es ihm gefiel oder nicht.

Er sah wieder zu dem Tank, in dem Ev Hillman schwamm.

Ganz sicher, Alterchen?

Aber es war die Frau, die antwortete. Sie schlug die Augen auf. In sie hineinzusehen war, als blickte er in den Hexenkessel in Macbeth. Einen Augenblick vergaß Gard seine Schmerzen und seine Müdigkeit und seinen kläglichen Zustand. Dieser vergiftete Blick hielt ihn in seinem Bann. In diesem Augenblick begriff er die schreckliche Wahrheit und die

Macht dieser furchteinflößenden Frau, die Bobby Sissy genannt hatte, und den Grund, weshalb Bobbi wie vor einem Dämon vor ihr geflohen

war. Sie war ein Dämon. Sie war eine Hexe. Und selbst jetzt, in ihrer Qual, hatte ihr Haß Bestand.

Nehmen Sie es, Sie Dummkopf! Ich versorge es mit Energie!

Gardener trat mit seinem verletzten Fuß auf und schrie, als eine grobe Hand von seinem Knöchel aus am Bein hinaufgriff und den weichen Sack

seiner Hoden packte.

Der alte Mann:

warten Sie warten Sie

Es erhob sich von allein in die Luft. Nicht weit; nur drei oder vier Zentimeter. Das grüne Sumpflicht wurde noch greller.

Sie müssen es lenken, Sohn.

Das schaffte er. Es schwankte durch den grünen Schuppen wie das Skelett eines verrückten Strandsonnenschirms, nickte und kippte, warf unheimliche, langgezogene Schatten auf Boden und Wände. Gardener hoppelte ungeschickt hinterher, er wollte nicht noch einmal in die Augen der wahnsinnigen Frau sehen, wagte es nicht. In seinem Kopf spulte sich ein einziger Gedanke immer wieder ab: Bobbi Andersons Schwester war eine Hexe... eine Hexe... eine Hexe...

Er geleitete den schwankenden Schirm ins Sonnenlicht hinaus.

9

Freeman Moss kam als erster an. Er lenkte den Holzlaster, in dem er Gardener einmal mitgenommen hatte, auf Bobbis Hof und war draußen, noch bevor der stöhnende, furzende Motor still stand. Und bei Gott, Leute, da war der Wichser tatsächlich, in höchsteigener Person, und hielt sich an etwas fest, das wie eine Wäschespinne aussah. Der Mann sah wie ein völlig geschaffter Läufer aus. Er hielt einen Fuß - es war der linke -hoch wie ein Hund, der einen Dorn in der Pfote hat. Der Schuh war grellrot und triefte vor Blut.

Sieht so aus, als hätte Bobbi dir wenigstens einen verpassen können, du Schlange.

Ihr mörderischer Freund hatte den Gedanken offensichtlich gehört. Er sah auf und lächelte erschöpft. Er hielt sich immer noch an der Wäschespinne mit der Plattform am unteren Ende fest. Er benutzte sie als Stütze.

Freeman ging auf ihn zu und ließ die Fahrertür des alten Lastwagens offen. Das Grinsen des Mannes hatte etwas Kindisches und Gewinnendes, und nach einem Augenblick verstand Freeman den Grund: mit den Zahnlücken war es das Halloweenkürbis -Lächeln eines kleinen Jungen.

Jesus, ich habe dich wirklich irgendwie gemocht - warum mußtest du so ein Scheißkerl sein?

»Was wollen Sie denn hier, Freeman?« fragte Gardener. »Sie hätten zu Hause bleiben sollen. Sich die Red Sox ansehen. Der ganze Zaun ist gestrichen.«

Du Hurensohn!

Moss hatte eine Daunenweste an, aber kein Hemd darunter; die Weste war ihm einfach als erstes in die Hände gefallen, als er aus dem Haus gestürmt war. Jetzt machte er sie auf und entblößte kein Gerät oder Spielzeug, sondern einen Colt Woodsman. Er zog ihn heraus. Gardener sah ihn an; er hatte einen Fuß hochgezogen und hielt sich an der Wäschespinne fest.

Mach die Augen zu. Ich werde es schnell machen, das wenigstens kann ich für dich tun.

10

(RUNTER ARSCHLOCH DEN KOPF RUNTER SONST WERDEN SIE IHN VERLIEREN WENN ER SEINEN VERLIERT UND ICH GEBE EINEN SCHEISSDRECK DRAUF WER AUF DER STRECKE BLEIBT ALSO RUNTER WENN SIE LEBEN WOLLEN)

In dem Tank blitzten Anne Andersons Augen vor Haß und Wut; ihre

Zähne waren dahin, aber ihr Zahnfleisch oben und unten mahlte aufeinander, mahlte aufeinander, mahlte aufeinander, und kleine Bläschen stiegen empor.

Das Licht pulsierte immer schneller, wie ein Karussell, das beschleunigt. Es wurde zu einer raschen Folge von Blitzen. Das Summen wurde zu einem leisen elektrischen Stöhnen, die Luft im Schuppen roch streng nach Ozon.

Auf dem erleuchteten Computerbildschirm wurde das Wort PROGRAMM?

ersetzt durch das Wort

VERNICHTEN

Es fing an, in rascher Folge zu blinken.

(GEHEN SIE RUNTER ARSCHLOCH ODER BLEIBEN SIESTEHEN »MIRISTES GLEICH)

11

Gardener duckte sich. Sein verletzter Fuß trat auf den Boden. Schmerzen rasten wieder in seinem Bein hoch. Er sank aufHänden und Knien in den Staub.

Über seinem Kopf begann die Wäschespinne sich zu drehen, zuerst langsam. Moss starrte sie an, und der Colt in seiner Hand sank ein Stückchen herunter. Die Erkenntnis huschte über sein Gesicht - im letzten Augenblick, in dem er noch eines hatte. Dann schössen die dünnen Röhren grünes Licht über den Hof. Einen Augenblick lang war die Illusion eines Strandsonnenschirms vollkommen und perfekt. Er war grün und soweit zugeklappt, daß der kreisrunde Saum den Boden berührte. Aber dieser Schirm bestand aus Feuer, und Gard kauerte darunter, hatte die Augen zugekniffen und eine Hand vors Gesicht geschlagen, und er schnitt eine Grimasse wie in großer Hitze... aber da war keine Hitze, wenigstens nicht hier, unter Sissys Giftpilz.

Freeman Moss befand sich am Rande des Schirms. Seine Hose fing Feuer, dann die Daunenweste. Einen Augenblick waren die Flammen grün, dann gelb.

Er schrie, taumelte zurück und ließ die Waffe fallen. Die Wäschespinne über Gardeners Kopf rotierte schneller. Die Arme des Metallskeletts, die auf komische Weise herabgesunken gewesen waren, richteten sich unter Einfluß der Zentrifugalkraft mehr und mehr auf. Der Feuerschirm wurde breiter, und Moss' Schultern wurden von verzehrenden

Flammen eingehüllt, während er rückwärts taumelte. In Gards Kopf setzte dieses teuflische Heulen wieder ein. Er versuchte es abzublocken, aber es ging nicht - es ging einfach nicht. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein Gesicht, das verlief wie warme Schokolade, dann verbarg er sein Gesicht wie ein Kind in einem Gruselfilm.

Die Flammen schössen in einem breiter werdenden Kreis über BobbÉ Hof und schmolzen eine schwarze Spirale Staub im Hof zu einer glasartigen Masse zusammen. Moss' Lastwagen und Bobbis Lieferwagen waren beide innerhalb des endgültigen Durchmessers dieses Dings, der Schuppen selbst gerade noch außerhalb, obwohl seine Bretterwände im Hitzeflimmern waberten. Am Rande dieses Kreises war es zweifellos sehr heiß, aber nicht dort, wo Gardener kauerte.

Die Farbe auf der Motorhaube von Moss' Lastwagen und auf den Seiten des Lieferwagens warf erst Blasen, dann wurde sie schwarz, dann fing sie Feuer und verbrannte bis auf den blanken Stahl. Das Durcheinander von Rinde, Sägemehl und Holzsplittern auf der Pritsche von Moss' Lastwagen entzündete sich wie Anmachholz in einem Ofen. Die beiden großen Mülleimer auf Bobbis Lieferwagen, die aus schwerem Gipskarton bestanden, fingen ebenfalls Feuer und brannten wie Fackeln. Der dunkle Kreis am Rande der Reichweite des Feuerschirms wurde zu einem untertassenförmigen Flammenring. Die Armeedecke, die auf dem zerschlissenen Sitz in Moss' Lastwagen lag, fing Feuer, dann die Sitzbezüge darunter, dann die entflammbare Füllung; jetzt war die ganze Fahrerkabine ein flackernder orangefarbener Ofen, in dem die Skelette von Sprungfedern aus dem Gleißen aufragten.

Freeman Moss taumelte rückwärts und wand und krümmte sich. Er sah aus wie ein Stuntman, der vergessen hat, seinen Asbestanzug anzuziehen. Er brach zusammen.

12

Anne Andersons wüstes Toben übertönte sogar noch Moss' Todesschreie:

Freßt Scheiße und sterbt! Freßt Scheiße und st...

Dann hörte in dem, was noch von ihr übrig war, plötzlich etwas auf -ein letztes grelles Aufflackern von grünem Licht, ein Pulsieren, das fast zwei Sekunden lang anhielt. Das tiefe Summen des Transformators wurde einen Ton höher, jedes Brett im Schuppen griff es auf und klapperte vibrierend mit.

Dann sank das Summen zu seinem vorherigen schläfrigen Dröhnen ab; Annes Kopf fiel in der Flüssigkeit nach vorn/ihr Haar umspülte ihn wie das einer Ertrunkenen. Auf dem Computerschirm erlosch

VERNICHTEN

wie eine ausgeblasene Kerzenflamme und wurde wieder zu

PROGRAMM?

13

Der Feuerschirm flackerte, dann erlosch er. Die Wäschespinne, die sich mit irrsinniger Geschwindigkeit gedreht hatte, wurde langsamer und quietschte rhythmisch wie eine schlecht geölte Gartentür bei leichtem Wind. Die Röhren sanken auf ihren vorherigen Winkel zurück. Ein letztes Quietschen, dann war es still.

Plötzlich explodierte der Benzintank von Bobbis Lieferwagen. Gelbe Flammen schössen himmelwärts. Gard spürte, wie ein Stück Metall an ihm vorbeisauste.

Er hob den Kopf, sah den brennenden Lieferwagen dümmlich an und dachte: Bobbi und ich sind mit diesem Lieferwagen manchmal zum Starlite Drive-In drüben in Derry gefahren. Ich glaube, einmal haben wir während eines albernen Ryan O’Neal-Films sogar darin gevögelt. Was ist geschehen? Mein Gott, was ist geschehen?

In seinem Kopf die Stimme des alten Mannes, beinahe erschöpft, aber dennoch herrisch:

Schnell! Ich kann den Transformator versorgen, wenn die anderen kommen, aber Sie müssen sich beeilen! Der Junge! David! Schnell, Mann!

Nicht viel Zeit, dachte Gardener erschöpft. Mein Gott, nie genügend Zeit.

Er hinkte schwitzend und mit wächsern blassen Wangen wieder zur Tür des Schuppens zurück. Vor dem dunklen verbrannten Ring auf dem Boden blieb er stehen, dann hüpfte er unbeholfen darüber. Irgendwie wollte er ihn nicht berühren. Er stolperte, behielt aber das Gleichgewicht und schleppte sich weiter. Während er in den Schuppen torkelte, gingen die beiden Benzintanks von Moss' Lastwagen mit Donnergetöse hoch. Die Fahrerkabine wurde vom Fahrgestell gerissen, der Lastwagen auf die Seite geschleudert. Brennende Stücke von Sitzbezügen und Sitzfüllung stoben in die Höhe und schwebten wie gleißende Federn durch die Luft. Die meisten fielen auf den Hof und erloschen. Einige jedoch schwebten bis zur Veranda, manche sogar durch die offene Tür, als die erste Bö des Ostwindes einsetzte, der bald wehen sollte. Einer dieser brennenden Baumwollfetzen entzündete ein Taschenbuch, das Gardener vor einer Woche auf dem Tisch direkt neben der Tür liegengelassen hatte. Der Umschlag fing Feuer.

Im Wohnzimmer entzündete ein anderer Fetzen einen Flickenteppich, den Bobbis Mutter in ihrem Schlafzimmer gemacht und heimlich an Bobbi geschickt hatte, als Anne eines Tages nicht zu Hause gewesen war.

Als Jim Gardener wieder aus dem Schuppen herauskam, stand das ganze Haus in Flammen.

14

Das Licht im Schuppen war so schwach wie nie zuvor - ein trübes, wäßriges Grün, die Farbe von stehendem Wasser in einem Teich.

Gardener sah vorsichtig zu Anne, weil er sich vor diesen flammenden Augen fürchtete. Aber er hatte keinen Grund, sich zu fürchten. Sie schwamm nur, ihr Kopf war nach vorn gesunken wie in tiefem Nachdenken, ihr Haar driftete nach oben.

Sie ist tot, mein Junge. Wenn Sie den Jungen zurückholen wollen, dann müssen Sie es gleich tun. Ich weiß nicht, wie lange ich noch Energie liefern kann. Und ich kann mich nicht teilen und mit einer Hälfte auf sie achten und mit der anderen den Transformator betreiben.

Er sah Gardener an, und Gardener empfand tiefstes Mitleid... und Bewunderung für den Mut des alten Mannes. Hätte er halb so viel tun, halb so weit gehen können, wenn die Rollen vertauscht gewesen wären? Er bezweifelte es.

Sie haben jede Menge Schmerzen, was?

Ich fühle mich nicht gerade rosig, mein Junge, wenn Sie das meinen. Aber ich werde es durchstehen... das heißt, wenn Sie sich in Bewegung setzen.

In Bewegung setzen. Ja. Er hatte zu lange getrödelt, viel zu lange.

Er öffnete den Mund zu einem neuerlichen gewaltigen Gähnen, dann trat er vor die Ausrüstung in der Orangenkiste und um sie herum - das, was der alte Mann den Transformator nannte.

PROGRAMM?

fragte der Computerschirm ohne Tastatur.

Hillman hätte Gardener sagen können, was zu tun war, aber das brauchte man Gardener nicht zu sagen. Er wußte es. Er erinnerte sich auch an das Nasenbluten und die Musik in seinem Kopf, als er einmal mit Moss' Schwebegerät herumgespielt hatte. Daneben sah dies hier wie eine Kiste Lincoln Logs aus. Aber seither war sein eigenes »Werden« auch ziemlich fortgeschritten, ob ihm das gefiel oder nicht. Er würde einfach hoffen müssen, daß es genug w..

Scheiße, mein Junge, bleiben Sie dran, wir haben Gesellschaft.

Dann übertönte eine lautere Stimme die von Hillman, eine Stimme, 638 die Gard vage bekannt vorkam, der er aber keinen Namen zuordnen konnte.

(ZURÜCK ZURÜCK BLEIBTALLEZURÜCK)

Ich glaube, nur einer oder zwei.

Das war wieder die erschöpfte Gedankenstimme des alten Mannes. Gardener spürte, wie er sich auf die Wäschespinne draußen im Hof konzentrierte. Im Schuppen glühte das Licht wieder hell auf, dann begann das tödliche Pulsieren.

15

Dick Allison und Newt Berringer waren immer noch zwei Meilen von Bobbis Farm entfernt, als Freeman Moss' Schreie anfingen. Wenige Augenblicke zuvor hatten sie Elt Barker überholt. Jetzt schaute Dick in den Rückspiegel und sah Elts Harley quer über die Straße rasen und dann in die Luft fliegen. Einen Augenblick sah Elt wie Evel Knievel aus, weißes Haar oder nicht. Dann wurde er vom Motorrad geschleudert und landete im Gestrüpp.

Newt trat mit beiden Füßen auf die Bremse, und der Laster kam kreischend mitten auf der Straße zum Stillstand. Er sah Dick mit großen Augen an, die furchtsam und wütend zugleich waren.

Der Hurensohn hat ein Gerät!

Ja. Feuer. Eine Art Feuer.

Dick hob seine geistige Stimme unvermittelt zu einem Brüllen. Newt griff es auf und verstärkte es. In Kyle Archinbourgs Cadillac stimmten Kyle und Hazel McCready mit ein.

'(ZURÜCK ZURÜCK BLEIBT ALLE ZURÜCK)

Sie hielten an, wo sie sich gerade befanden. Normalerweise gehörten sie nicht zu denen, die gern Befehle befolgten, diese Tommyknockers, aber Moss' gräßliche Schreie, die jetzt leiser wurden, waren sehr überzeugend. Alle hielten an, mit Ausnahme eines alten Oldsmobile Delta 88 mit einem Stoßstangenaufkleber, auf dem stand: MAKLER VERKAUFEN PRO QUADRATMETER.

Als der Befehl zum Anhalten und Zurückbleiben kam, war Andy Bozeman bereits in Sichtweite der Anderson-Farm. Sein Haß war über alle Maßen angestiegen - er konnte sich nur noch vorstellen, daß Gardener blutend und tot am Boden lag. Er kam mit quietschenden Reifen auf Bobbis Hof geschlittert. Als Bozeman auf die Bremse trat, schmierten die Hinterräder des Olds weg, das Auto wäre beinahe umgestürzt.

Ich werde deinen Zaun streichen, du verdammtes Arschloch. Ich werde dir eine tote Ratte und eine Schnur geben, an der du sie schwingen kannst, du elender Dreckskerl.

Seine Frau holte den Molekülanreger aus der Tasche. Er sah aus wie ein Bück Rogers-Blaster, den ein halbwegs begabter Verrückter konstruiert hatte. Sein Rahmen war einst Teil eines Gartenwerkzeugs gewesen, das unter dem Handelsnamen Weed Eater verkauft wurde. Die Frau lehnte sich aus dem Fenster und drückte völlig wahllos auf den Abzug. Das Ostende von Bobbis Farmhaus explodierte zu einem Feuerball. Ida Bozeman grinste ein fröhliches Reptiliengrinsen.

Als die Bozemans aus dem Olds ausstiegen, fing die Wäschespinne wieder an, sich zu drehen. Einen Augenblick später bildete sich der grüne Flammenschirm. Ida Bozeman versuchte, ihre »Moleküldisco«, wie sie es nannte, darauf zu richten, aber es war zu spät. Wenn ihr erster Schuß anstelle des .Hauses die Wäschespinne getroffen hätte, dann hätte alles anders kommen können... aber er traf sie nicht.

Die beiden loderten lichterloh. Einen Augenblick später explodierte der Olds, auf den noch drei Raten abzuzahlen waren.

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Die Schreie von Freeman Moss, die gerade in ihren Köpfen nachzulassen begannen, wurden von den Schreien von Andy und Ida Bozeman abgelöst. Newt und Dick warteten mit verzerrten Gesichtern auf ihr Ende.

Schließlich verstummten auch sie.

Vor ihnen konnte Dick Allison andere Fahrzeuge sehen, die an beiden Seiten der Route 9 und in der Mitte standen. Frank Spruce lehnte aus der Fahrerkabine seines großen Tanklastwagens und sah drängend zu Newt und Dick. Er/sie spürte(n) die anderen - alle anderen - auf dieser Straße, auf anderen Straßen; einige standen auf den Wiesen, die sie als Abkürzung benutzt hatten. Alle warteten auf etwas - eine Entscheidung.

Dick wandte sich an Newt.

Feuer.

Ja. Feuer.

Können wir es löschen ?

Kurzes Schweigen, während Newt darüber nachdachte; Dick konnte spüren, daß er es einfach vergessen und dorthin gehen wollte, wo Gardener war. Was Dick wollte, war nicht kompliziert. Er wollte Gardener die Eingeweide herausreißen. Aber das war nicht die Lösung, das wußten sie beide. Alle Schuppen-Leute, sogar Adley, wußten es. Es stand viel auf dem Spiel. Und Dick war davon überzeugt, daß Jim Gardener seine Eingeweide ohnehin verlieren würde, auf die eine oder andere Weise.

Den Tommyknockers in die Quere zu kommen, empfahl sich nicht. Es machte sie wütend. Dies war etwas, das viele Rassen auf anderen Welten schon lange vor den heutigen Festivitäten in Haven herausgefunden hatten.

Dick und Newt sahen beide zu dem von Bäumen gesäumten Feld, in das Elt Barker geflogen war. Die Gräser und Baumkronen wiegten sich -nicht sehr, aber sie wiegten sich eindeutig in einem Wind, der von Ost nach West wehte. Vorerst war es nur eine relativ leichte Brise, aber Dick glaubte alle Anzeichen dafür zu erkennen, daß sie bald auffrischen würde.

Ja, wir können das Feuer löschen, antwortete Newt schließlich.

Das Feuer löschen und den Säufer aufhalten? Meinst du wirklich?

Wieder eine lange Denkpause, dann folgte von Newt die Antwort, die Dick erwartet hatte.

Ich weiß nicht, ob wir beides können. Eines oder das andere sicher, aber ob beides, das weiß ich nicht.

Dann lassen wir das Feuer vorerst brennen wir

lassen es brennen ja gut

dem Schiff passiert nichts dem Schiff

kann nichts passieren und der Wind wie der Wind weht

Sie sahen einander grinsend an, während ihre Gedanken in einem

Augenblick vollkommener Harmonie zusammenkamen - eine Stimme,

ein Verstand.

Das Feuer wird zwischen ihm und dem Schiff sein. Er wird nicht zum Schiff gelangen können!

Auf den Straßen und den Wiesen entspannten sich die Menschen, die auf dieser Gemeinschaftsleitung mithörten, ein wenig. Er kann nicht zum Schiff gelangen.

Ist er immer noch im Schuppen?

Ja.

Newt wandte sein verwirrtes, besorgtes Gesicht zu Dick.

Was, zum Teufel, treibt er da drinnen? Macht er etwas? Etwas, um dem Schiff zu schaden?

Eine Pause, dann Dicks Stimme, nicht nur zu Newt Berringer, sondern zu allen Schuppen-Leuten, deutlich und befehlend:

VERNETZT EURE GEDANKEN. VERNETZT EURE GEDANKEN

MIT UNSEREN. ALLE, DIE ES KÖNNEN. VERNETZT EURE GEDANKEN MIT UNSEREN UND HÖRT ZU. HORCHT GARDENER AB. HORCHT!

Sie lauschten. Sie lauschten in der heißen Sommerstille des frühen Nachmittags. Hinter zwei oder drei Hügeln stiegen die ersten Rauchwolken zum Himmel empor.

17

Gardener spürte, wie sie horchten. Es war ein schrecklich kribbelndes Gefühl auf der Oberfläche seines Gehirns. Es war lächerlich, aber es war da. Er dachte: jetzt weiß ich, wie einer Straßenlaterne zumute sein muß, um die eine Menge Motten schwirren.

Der alte Mann bewegte sich in seinem Tank und versuchte, Gardeners Aufmerksamkeit zu erregen. Es gelang ihm, seinen Verstand auf sich aufmerksam zu machen.

Achten Sie nicht darauf, mein Junge. Sie wollen wissen, was Sie vorhaben, aber achten Sie nicht auf sie. Es schadet nichts, wenn sie es herausfinden. Könnte sogar nützlich sein. Dürfte sie bremsen. Ihr Denken erleichtern. Ihnen liegt nichts an David, nur an ihrem verdammten Schiff. Nur weiter, mein Junge! Nur weiter!

Gardener stand am Transformator und hielt einen der Kopfhörer in der Hand. Er wollte ihn nicht ins Ohr stecken. Er fühlte sich wie ein Mann, der von einem Schalter einen heftigen Stromschlag bekommen hat und nun gezwungen ist, diesen Schalter noch einmal zu berühren.

Muß ich dieses Scheißding wirklich einstecken? Ich habe den Bildschirm schon einmal durch bloßes Denken verändert.

Ja, aber mehr können Sie so nicht tun. Sie müssen ihn einstecken, mein Junge, tut mir leid.

Es war unglaublich, aber Gardeners Lider wurden wieder schwer. Er mußte sie krampfhaft offenhalten.

Ich fürchte, es wird mich umbringen, dachte er zu dem alten Mann und wartete dann in der Hoffnung, der alte Mann würde ihm widersprechen. Aber es kam nichts - nur das gequälte Auge sah ihn an, und die Maschine machte slisscchh-slisscchh-slisscchh.

Ja, es könnte mich umbringen, und er weiß es auch.

Draußen konnte er undeutlich das Prasseln von Feuer hören. Das wuselnde Gefühl auf der Oberfläche seines Gehirns hörte auf.

Widerwillig steckte Gardener den Stöpsel ins Ohr.

18

Kyle und Hazel entspannten sich. Sie sahen einander an. Ihre Augen hatten einen identischen - und sehr menschlichen - Ausdruck. Den Ausdruck von Leuten, die etwas herausgefunden haben, das zu schön ist, um wahr zu sein.

David Brown? dachte Kyle ungläubig zu Hazel. Empfängst du das auch ja er versucht den Jungen zu retten ihn zurückzubringen von Altair-4

Dann ertönte plötzlich Dick Allisons aufgeregte und von saurem Triumph erfüllte Stimme:

GOTTVERDAMMT! ICH WUSSTE, daß uns der Junge noch einmal gut zupaß kommen würde!

19

Einen Augenblick spürte Gardener überhaupt nichts. Er begann sich zu entspannen und war beinahe im Begriff, wieder einzudösen. Dann traf ihn der Schmerz mit einem einzigen gräßlichen Schlag, einem zerstörerischen Rammbock, der seinen Kopf zu zertrümmern drohte.

»Nein!« schrie er. Seine Hände flogen zu den Schläfen und hämmerten dagegen. »Nein, mein Gott, es tut zu weh, Jesus, nein!«

Stehen Sie es durch, mein Junge, versuchen Sie, es durchzustehen. »Ich kann nicht ch kann nicht OH MEIN GOTTES SOLL AUFHÖREN!«

Im Vergleich dazu fühlte sich sein zertrümmerter Knöchel wie ein Moskitostich an. Er registrierte am Rande, daß seine Nase blutete und sein Mund voll Blut war.

STEHENSIEES DURCH, MEINJUNGE!

Die Schmerzen ließen ein wenig nach. An ihre Stelle trat ein anderes Gefühl. Dieses neue Gefühl war schrecklich, schrecklich und entsetzlich.

Einmal, am College, hatte er an etwas teilgenommen, das das Große McDonalds-Leerfressen genannt wurde. Fünf Studentenvereinigungen schickten »Eß-Champions«. Gard war der »Champion« von Delta Tau Delta gewesen. Er aß seinen sechsten Big Mac - was der Gesamtmenge des Gewinners nicht einmal nahe kam - und stellte plötzlich fest, daß er einer völligen körperlichen Überlastung ziemlich nahe war. In seinem ganzen Leben hatte er so etwas noch nicht erlebt. Auf eine brutale Weise war es fast interessant gewesen. Sein Rumpf fühlte sich vom Essen aufgebläht an. Ihm war nicht zum Kotzen; Übelkeit beschrieb eigentlich nicht richtig, wie es gewesen war. Er sah seinen Magen als riesiges Luftschiff, das aufgebläht und reglos in seiner Leibesmitte in der Luft schwebte. Er glaubte sehen zu können, wie in einem Kontrollzentrum allerorten rote Warnlichter aufleuchteten, während sämtliche Systeme versuchten, mit dieser unsinnigen Flut von Fleisch, Brot und Soße fertigzuwerden. Er übergab sich nicht. Er spazierte es weg. Er spazierte es sehr langsam weg. Stundenlang hatte er sich wie die Zeichnungen von Zwiddeldei und Zwiddeldum gefühlt, sein Magen straff und glatt gespannt und dem Platzen nahe.

Jetzt war es sein Gehirn, das sich so fühlte, und Jim Gardener erkannte so kalt und nüchtern wie ein Trapezkünstler, der ohne Netz arbeitet, daß er dem Tode nahe war. Aber da war noch ein anderes

Gefühl, eines, das mit nichts vergleichbar war, und mit einem Mal begriff er, was die Tommyknockers waren - was sie motivierte, was sie antrieb.

Trotz der Schmerzen, die nur nachgelassen hatten, aber nicht verschwunden waren, und trotz des schrecklichen straffen Gefühls, so vollgestopft wie eine Python zu sein, die ein ganzes Kind verspeist hatte, genoß es ein Teil von ihm. Es war wie eine Droge'- eine unglaublich starke Droge. Sein Gehirn fühlte sich an wie der Motor im größten Chrysler, der jemals gebaut worden war, im Leerlauf und nur darauf wartend, daß er den Gang einlegte und Vollgas gab.

Vollgas wohin ?

Überallhin.

Zu den Sternen, wenn er wollte.

Mein Junge, ich verliere Sie.

Das war der alte Mann, der sich erschöpfter denn je anhörte, und Gardener konzentrierte sich wieder auf die bevorstehende Aufgabe - das nächste Möbelstück, zu dem er hüpfen mußte. Oh, dieses Gefühl war auf trunkene Weise wunderbar, aber es war gestohlen. Er zwang sich dazu, wieder an die vertrockneten braunen Gestalten in den Hängematten zu denken. Galeerensklaven. Der alte Mann trieb ihn an; er trank den alten Mann, wie ein Vampir Blut trank. Wie lange noch, bis er selbst ein Vampir war? Wie sie?

Er dachte zu Hillman: Ich bin bei Ihnen, altes Haus.

Ev Hillman schloß sein verbliebenes Auge in stummer Erleichterung. Gard wandte sich dem Bildschirm zu und hielt dabei abwesend den Stöpsel in seinem Ohr fest wie ein Reporter bei einer Außenübertragung, der einer Frage vom Sprecher im Studio lauscht.

Im geschlossenen Raum von Bobbis Schuppen fing das Licht wieder an zu pulsieren.

20

lauschen

Sie lauschten alle; sie hingen alle an einer Gemeinschaftsleitung, die ganz Haven umfaßte und von einem Zentrum ausging, das noch zwei Meilen von der immer noch schwachen Rauchwolke entfernt war. Sie waren alle im Netz, und alle lauschten. Sie akzeptierten keinerlei absolute Gemeinsamkeit; Tommyknockers war ein Name, der so gut war wie jeder andere auch, aber in Wirklichkeit waren sie interstellare Zigeuner ohne König. Doch während dieses kritischen Augenblicks in der Zeit der Regeneration - einer Zeit, da sie verwundbar waren - waren sie bereit, die Stimmen derer zu akzeptieren, die Gardener die Schuppen-Leute nannte. Immerhin waren sie das reinste Destillat von ihnen allen.

die Zeit ist gekommen die Grenzen zu schließen

Ein universelles Seufzen der Zustimmung - ein geistiger Laut, den Ruth McCausland erkannt haben würde: ein Geräusch wie Herbstlaub, das im Novemberwind raschelt.

Zumindest vorübergehend hatten die Schuppen-Leute jeglichen Kontakt mit Gardener verloren. Sie waren damit zufrieden, daß er vorerst anderswo beschäftigt war. Wenn er vorhatte, zu ihrem Schiff zu gehen, würde ihm das Feuer bald den Weg abschneiden.

Die vereinigte Stimme erklärte rasch die weitere Vorgehensweise. Einige dieser Pläne waren vage schon vor ein paar Wochen geschmiedet und konkreter geworden, während das »Werden« der Schuppen-Leute fortschritt.

Es waren Geräte hergestellt worden - scheinbar auf gut Glück. Aber auch Vögel, die nach Süden fliegen, wenn der Winter kommt, scheinen auf gut Glück zu fliegen; ihre Wanderung mag sogar ihnen selbst so vorkommen - nur eine Möglichkeit, den Winter angenehm zu verbringen. Möchtest du nach North Carolina, meine Teuerste ? Selbstverständlich, was für ein reizender Einfall.

Also hatten sie gebaut, und manchmal hatten sie einander mit ihren neuen Spielzeugen umgebracht, und manchmal hatten sie Geräte fertiggestellt, sie zweifelnd angesehen und sie dann irgendwo weggepackt, da sie bei der täglichen Arbeit offensichtlich nicht von Nutzen waren. Aber einige hatten sie an Havens Grenzen gebracht, für gewöhnlich im Kofferraum von Autos oder auf den Pritschen von Lastwagen, unter Planen. Eines dieser Geräte war der Cola-Automat, der John Leandro ermordet hatte; der verstorbene Dave Rutledge hatte ihn erfunden, der mit der Wartung solcher Maschinen einst seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Eines war die Bensohn-Heckenschere gewesen, die über Lester Moran hergefallen war. Es gab umgebaute Fernseher, die Feuer versprühten; es gab Rauchdetektoren (Gardener hatte bei seinem ersten Besuch im Schuppen ein paar davon gesehen, aber nicht alle), die wie Frisbee-Scheiben durch die Luft flogen und dabei tödliche Ultraschallwellen ausstießen; an verschiedenen Stellen befanden sich Kraftfelder. Fast alle diese Geräte ließen sich mit Hilfe einfacher elektronischer Hilfsmittel, die beiläufig »Rufer« genannt wurden, aktivieren; die meisten waren dem Gerät nicht unähnlich, mit dem Freeman Moss die Pumpenteile durch den Wald hatte schweben lassen.

Niemand hatte daran, weshalb diese Geräte ungefähr kreisförmig um die Stadt herum verteilt wurden, einen Gedanken verschwendet, ebensowenig wie ein Vogel darüber nachdenkt, in den Süden zu fliegen, oder eine Raupe darüber, einen Kokon zu spinnen. Aber natürlich kam immer dieser Zeitpunkt - der Zeitpunkt, an dem die Grenzen dichtgemacht werden mußten. Dieser Zeitpunkt war früh gekommen - aber nicht zu früh, wie es schien.

Die Schuppen-Leute hatten auch vorgeschlagen, daß eine Abordnung Tommyknockers n die Stadt zurückkehren sollte. Hazel McCready wurde auserkoren, mit ihnen zu gehen, als Vertreterin der weiter entwickelten Tommyknockers. Die Geräte, welche die Grenzen bewachten, funktionierten weitgehend ohne Kontrolle, bis die Batterien verbraucht waren. In der Stadt selbst gab es noch andere Geräte, die man in den Wald schicken konnte, damit sie das Schiff beschützten, falls der Trunkenbold versuchen sollte, doch dorthin zu gelangen.

Und dort befand sich noch ein weiteres, sehr wichtiges Gerät, das für den wenig wahrscheinlichen Fall bewacht werden mußte, daß es doch jemandem — irgend jemandem - gelingen sollte durchzubrechen. Dieses Gerät stand in Hazel McCreadys Garten wie ein Ein-Manegen-Zirkus unter einem großen Fünf-Mann-Zelt. Das war das Sicherheitsnetz. Es konnte vieles, was auch der Transformator im Schuppen tun konnte, aber dieses Ding, das einst ein Kessel gewesen war, unterschied sich in zweierlei Hinsicht von dem Transformator im Schuppen. Die verzinkten Aluminiumrohre, die früher zu den Ventilatoren an verschiedenen Stellen im Haus der McCreadys geführt hatten, waren jetzt alle himmelwärts gerichtet. Mit diesem neuen und verbesserten Kessel waren vierundzwanzig Lastwagenbatterien verbunden, alle fest auf zwei Holzrampen verankert und von demselben silbernen Gewebe vor den Elementen geschützt, das die Erde in der Kluft hielt, in der das Schiff lag. Wenn dieses Gerät eingeschaltet wurde, erzeugte es Luft.

Tommyknockerluft.

Wenn diese kleine atmosphärenerzeugende Fabrik erst einmal in Betrieb war, würden sie nicht mehr der Gnade von Wind und Wetter ausgeliefert sein - selbst im Falle eines Orkans würde der Luftaustauscher, der von Kraftfeldern umgeben war, sie beschützen, wenn sie sich im Ort versammelten.

Der Vorschlag, daß der Ort abgeriegelt werden sollte, wurde in dem Augenblick gemacht, als Gardener sich den Stöpsel des Transformators ins Ohr steckte. Fünf Minuten später hatten sich Hazel und etwa vierzig andere aus dem Netz ausgeklinkt und kehrten in die Stadt zurück -einige ins Rathaus, um die Grenzen zu überwachen und das Schiff mit anderen Geräten zu beschützen; einige, um sicherzustellen, daß die Atmosphärenfabrik geschützt wurde, im Falle eines Unfalls... oder für den Fall, daß die Reaktion der Außenwelt schneller, informierter und besser organisiert war, als sie erwarteten. Das alles war früher schon geschehen, zu anderen Zeiten, in anderen Welten, und normalerweise wurde alles zufriedenstellend über die Bühne gebracht... aber das »Werden« hatte nicht immer ein Happy End.

In den zehn Minuten zwischen dem Befehl, die Grenzen zu schließen, und dem Aufbruch von Hazel McCreadys Gruppe veränderten sich Form und Größe der zum Himmel steigenden Rauchwolke nicht merklich. Der 646

Wind hatte nicht stark zugenommen... jedenfalls noch nicht. Das war gut, weil sich die Reaktion der Außenwelt langsamer auf sie richtete. Es war schlecht, weil Gardener nicht so schnell vom Schiff abgeschnitten wurde.

Dennoch waren Newt/Dick/Adley/Kyle der Überzeugung, daß Gardeners Spiel so gut wie gelaufen war. Sie hielten die verbliebenen Tommyknockers noch fünf Minuten an Ort und Stelle und warteten auf die Nachricht, daß die Geräte entlang der Grenzen erwachten und sich bereit machten, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Diese kam als anschwellendes Summen.

Newt sah Dick an, Dick nickte. Die beiden klinkten sich aus dem Netz aus und richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schuppen. Gardener, den einst nicht einmal Bobbi hatte lesen können, war immer noch ein äußerst schwieriger Fall. Aber sie hätten imstande sein sollen, den Transformator ohne Mühe zu lesen; seine konstant pulsierende Energie hätte für sie so leicht zu »hören« sein müssen wie Interferenzen von dem kleinen Motor des elektrischen Mixers in einem Fernsehgerät oder Radio.

Aber der Transformator war kaum mehr als ein Flüstern - nicht mehr als das leise Rauschen des Meeres in einer Muschel.

Newt sah ängstlich zu Dick.

mein Gott er ist fort Scheiße

Dick lächelte. Er glaubte nicht, daß Gardener, der immer noch kaum Gedanken lesen oder senden konnte, seine Aufgabe so schnell erledigt haben konnte... wenn es ihm überhaupt möglich war, sie zu erledigen. Die Anwesenheit des Mannes hier und Bobbis perverse Zuneigung zu ihm waren ein Ärgernis gewesen... das nach Dicks Meinung jetzt ein Ende hatte.

Er blinzelte Newt mit einem seiner seltsamen Augen zu. Die komische Mischung von Menschlichem und Außerirdischem war teuflisch und lächerlich zugleich.

Nicht fort, Newt. Das Arschloch ist TOT.

Newt sah Dick einen Augenblick nachdenklich an, dann fing er an zu lächeln.

Daraufhin setzten sie sich alle in Bewegung, "sie näherten sich Bobbis Haus wie eine sich zuziehende Schlinge.

21

Carrying a heavy head.

Dieser Satz ertönte unablässig im Hintergrund von Gardeners Verstand, während er sich dem Bildschirm zuwandte - er schien schon sehr

lange da zu sein. Einst, und für einen Jim Gardener, der schon lange

nicht mehr existierte, hatten seine Gedichte sich um solche Zeilen entwickelt, wie Perlen um Sandkörnchen.

Carrying a heavy head now, boss.

War das aus einem Bandenfilm wie Cool Hand Luke? Einem Song? Ja. Aus einem Song. Etwas, das in seinem Verstand seltsam durcheinander war, etwas aus den West-Coast-Sechzigern, ein psychedelisches Blumenkind mit verwaistem Gesicht in einer Hells -Angels -Jacke und einer Fahrradkette, die um einen schlanken Violinistenarm geschlungen war...

Dein Verstand, Gard, etwas geschieht mit deinem Verstand...

Klar, du verdammtes A-Loch, ich trage einen schweren Kopf u: wurde geboren, um wild zu sein, ich blieb im Stadtverkehr stecken, und wenn sie sagen, daß ich dich nie geliebt habe, dann weißt du, daß sie lügen. Ich trage einen schweren Kopf. Ich kann spüren, wie_ jede Vene, Arterie und Kapillare darin anschwillt und dick wird, so wie die Adern an unseren Händen, wenn wir als Kinder ein Gummiband zehn- bis zwölf mal um das Handgelenk gewickelt und es dort gelassen haben, um zu sehen, was passieren würde. Ich trage einen schweren Kopf. Ich weiß, was ich sehen würde, wenn ich_ jetzt in einen Spiegel schaute - grünes Licht, das sich aus meinen Pupillen ergießt wie die bleistiftdünnen Strahlen von Taschenlampen. Schwerer Kopf- und wenn du ihn schüttelst, wird er platzen. ]a. Also sei vorsichtig, Gard. Sei

vorsichtig, mein Junge.

Ja alter Mann ja.

David.

Das Gefühl, über dem Abgrund zu hängen. Er erinnerte sich an die Reportage über Karl Wallenda, den Großmeister der Hochseilartisten, der in Puerto Rico vom Seil stürzte - nach der Leine griff, sie erwischte, sich eine Minute daran festhielt - und dann fort war.

Gardener verdrängte das aus seinem Denken. Er verdrängte alles aus seinem Denken und versuchte, ein Held zu sein. Oder bei dem Versuch zu sterben.

22

PROGRAMM?

Gard stieß sich den Stöpsel tief ins Ohr und betrachtete stirnrunzelnd den Bildschirm. Stieß den schweren Rammbock seiner Gedanken in seine Richtung. Spürte Schmerzen auflodern; spürte den Ballon seines Gehirns noch ein wenig stärker anschwellen. Der Schmerz ließ nach; das Gefühl zunehmenden Anschwellens blieb. Er starrte den Bildschirm an. 648

ALTAIR-4

Okay... was nun? Er lauschte, ob der alte Mann es ihm sagen würde, aber es kam nichts. Entweder hatte seine geistige Verbindung mit dem Transformator den alten Mann ausgesperrt, oder der alte Mann wußte es nicht. Spielte es eine Rolle, welches von beidem der Fall war? Nitschewo.

ABGLEICHEN MIT...

Plötzlich füllte der Bildschirm sich mit Neunen, von oben bis unten, von rechts nach links. Gardener betrachtete ihn erschrocken und dachte: Oh, mein Gott, ich habe ihn kaputtgemacht!

Die Neunen verschwanden. Einen Augenblick leuchtete

OH MEIN GOTT ICH HABE IHN KAPUTTGEMACHT

wie ein Geist auf dem Bildschirm auf. Dann zeigte der Bildschirm:

BEREIT ZUM ABGLEICH

Er entspannte sich ein wenig. Mit der Maschine war alles in Ordnung. Aber sein Gehirn war bis an die äußerste Grenze belastet, das wußte er. Wenn die Maschine durchhielt, die von dem alten Mann und dem, was von Peter noch übrig war, angetrieben wurde, dann konnte er den -Jungen zurückbringen und vielleicht sogar weggehen... oder hoppeln, wenn man seinen Knöchel bedachte. Aber wenn sie versuchen würde, auch ihn noch anzuzapfen, dann würde sein Gehirn platzen wie ein Knallfrosch.

Aber jetzt war wirklich nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken, oder?

Er leckte sich mit einer gefühllosen Zunge die Lippen, dann sah er zum Bildschirm.

ABGLEICHEN MIT DAVID BROWN

Neunen über den ganzen Bildschirm.

Eine Ewigkeit lang Neunen.

ABGLEICHUNG ERFOLGREICH

Okay. Gut. Was jetzt? Gardener zuckte die Achseln. Er wußte, was er vorhatte, weshalb sich zieren?

BRINGDAVID BROWNVONALTAIR-4 ZURÜCK

Neunen über den Bildschirm. Diesmal zwei Ewigkeiten. Dann erschien eine Botschaft, die so einfach, so logisch und dennoch so verrückt war, daß Gard brüllend gelacht hätte, hätte er nicht gewußt, daß dabei sämtliche funktionierenden Schaltkreise durchgebrannt wären, die er noch besaß.

WOHINSOLL ERGEBRACHT WERDEN?

Der Drang zu lachen ging vorbei. Die Frage mußte beantwortet werden. Wahrhaftig, wohin ? Ins Yankee Stadion ? Zum Picadilly Circus ? Auf den Wellenbrecher am Strand vor dem Alhambra-Hotel ? Natürlich an keinen dieser Orte - aber auch nicht hierher nach Haven. Herrgott, selbst wenn die Luft ihn nicht umbrachte, was wahrscheinlich geschehen würde - seine Eltern verwandelten sich in Monster.

Also, wohin ?

Er sah zu dem alten Mann, und der alte Mann erwiderte den Blick drängend, und plötzlich fiel es ihm ein - es gab wirklich nur einen Ort, wohin er ihn bringen lassen konnte, nicht?

Er sagte es der Maschine.

Er wartete darauf, daß sie um weitere Klärung bitten oder ihm mitteilen würde, daß sie das nicht konnte, oder daß sie ein Codewort verlangen würde, das er nicht kannte. Statt dessen wieder die Neunen. Diesmal blieben sie endlos. Das grüne Pulsieren des Transformators wurde so hell, daß man es fast nicht mehr ansehen konnte.

Gard machte die Augen zu, und in der tiefseegrünen Dunkelheit hinter seinen Lidern glaubte er, den alten Mann schreien zu hören.

Dann schwand die Kraft, die seinen Verstand erfüllt hatte. Bingo! Sie war fort. Einfach so. Gardener sackte nach hinten, der Stöpsel fiel ihm aus dem Ohr und zu Boden. Seine Nase blutete noch, er hatte ein frisches Hemd durchweicht. Wie viele Liter Blut waren im menschlichen Körper? Und was war geschehen? Er hatte weder ein

TRANSFERERFOLGREICH

noch ein

TRANSFERNICHT ERFOLGREICH oder auch nur ein

EINGROSSERDUNKLER TOMMYKNOCKER WIRD IN IHR LEBEN TRETEN

gesehen.

Wozu hatte er das alles auf sich genommen? Ihm wurde kläglich bewußt, daß er es nie herausfinden würde. Zwei Verse von Edwin Arlington Robinson fielen ihm ein: Drum machten wir weiter und Warteten auf das Licht l Und hatten kein Fleisch und verfluchten das Brot...

Kein Licht, Boss; kein Licht. Wenn du darauf wartest, dann werden sie dich doch noch erwischen, und da wartet noch ein Zaun, der nicht einmal halb gestrichen ist.

Kein Licht; nur ein grauer, leerer Bildschirm. Er sah zu dem alten Mann, und der alte Mann schwamm mit nach vorn hängendem Kopf, erschöpft.

Gardener weinte ein bißchen. In seine Tränen mischte sich Blut. Dumpfer Schmerz ging von der Platte in seinem Schädel aus, aber das aufgeblähte Kurz-vor-dem-Platzen-Gefühl war verschwunden. Auch das Gefühl der Kraft. Er stellte fest, daß ihm letzteres fehlte. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, daß es wiederkäme, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

Beweg dich, Gard.

Ja, okay. Er hatte für David Brown getan, was er konnte. Vielleicht war etwas geschehen, vielleicht nicht. Vielleicht hatte er den Jungen umgebracht; vielleicht war David Brown, der zweifellos mit Krieg der Sterne-Figuren gespielt und sich gewünscht hatte, einen E.T. kennenzulernen wie Elliot in dem Film, jetzt nur noch eine Wolke aus sich auflösenden Atomen irgendwo im interstellaren Raum zwischen Altair-4 und hier. Er würde es nie erfahren. Aber er hatte sein Möbelstück erreicht und sich lange genug daran festgehalten - vielleicht zu lange. Er wußte, es wurde Zeit, die nächsten Schritte zu unternehmen.

Der alte Mann hob den Kopf.

Alter Mann, wissen Sie es?

Ob er in Sicherheit ist? Nein. Aber Sie haben Ihr Bestes getan, mein Junge. Ich danke Ihnen. Und jetzt bitte, mein Junge, bitte bitte

Leiser... die geistige Stimme des alten Mannes wurde leiser.

bitte lassen Sie mich heraus aus diesem

und einen langen Flur entlang und

sehen Sie auf eines dieser Regale hinten

Jetzt mußte Gardener sich anstrengen, um ihn zu hören.

bit oh BIT

Leise, ein Flüstern; der Kopf des alten Mannes sank nach vorn, Reste weißen Haars schwebten in der grünen Flüssigkeit.

Peters Beine bewegten sich im Traum, während er im Schlaf Kaninchen jagte... oder nach Bobbi suchte, seiner geliebten Bobbi.

Gard hoppelte zu den Regalen hinüber. Sie waren dunkel, staubig und schmutzig. Hier waren alte und vergessene Sicherungen und eine Maxwell House-Dose voller Schrauben, Unterlegscheiben, Scharnieren und Schlüsseln für Schlösser, deren Standort und Zweck längst vergessen waren.

Auf einem dieser Regale lag ein Transco Sonic Space Blaster, auch ein Kinderspielzeug. An der Seite war ein Schalter. Er vermutete, daß das Kind,das dieses Ding zum Geburtstag bekommen hatte, die Pistole in verschiedenen Frequenzen heulen lassen konnte.

Was machte es jetzt?

Wen interessiert das einen Scheißdreck? dachte Gardener. Dieser ganze Mist ist stinklangweilig geworden.

Langweilig oder nicht, er schob die Pistole in den Gürtel und hoppelte durch den Schuppen. An der Tür sah er den alten Mann an.

Danke, Junge.

Leise, leiser, am leisesten - ein trockenes Rascheln von Laub:

hier heraus Junge

Ja. Sie und Peter. Bald. Versprochen.

Er hoppelte nach draußen und sah sich um. Bis jetzt war niemand mehr gekommen. Das war gut - aber seine Glückssträhne konnte nicht mehr allzu lange anhalten. Sie waren da; sein Verstand berührte die ihren, wie ein Paar, das sich noch fremd ist und steif miteinander tanzt. Er spürte, daß sie zu einem

(Netz)

einzigen Bewußtsein verschmolzen waren. Sie hörten ihn nicht... fühlten ihn nicht... oder was immer sie taten. Entweder hatte das Benutzen des Transformators oder auch einfach nur der Aufenthalt im Schuppen seinen Verstand vor ihrem abgeschirmt. Sie würden bald wissen, daß er, wie Elvis, dick und angeschlagen, aber trotzdem entschlossen und draufgängerisch, sein Comeback gemacht hatte.

Das Sonnenlicht war grell. Die Luft war heiß und von Brandgeruch erfüllt. Bobbis Farmhaus loderte wie trockenes Feuerholz im Kamin. Während er hinsah, stürzte das halbe Dach ein. Funken im grellen Nachmittagslicht, fast farblos, schössen wie durch eine Klamm zum Himmel. Dick, Newt und die anderen hatten nicht viel Rauch gesehen, weil das Feuer heiß und farblos brannte. Der größte Teil des Rauches, den sie gesehen hatten, stammte von den brennenden Fahrzeugen auf dem Hof.

Gard stand einen Augenblick auf seinem unverletzten Bein an der Schuppentür, dann hoppelte er zu der Wäschespinne. Er schaffte etwa den halben Weg, dann stürzte er der Länge nach hin. Während er fiel, dachte er an den Sonic Space Blaster in seinem Hosenbund. Ein Kinder-652

Spielzeug hatte keine Sicherung. Wenn der Abzug betätigt wurde, würde der essentielle Gardener möglicherweise drastisch reduziert werden. Die Tommyknocker-Methode zum schnellen Abnehmen. Er holte das Spielzeug aus dem Gürtel, wobei er damit umging, als wäre es eine scharfe Mine. Den restlichen Weg bis zur Wäschespinne legte er auf Händen und Knien kriechend zurück, dann zog er sich in die Höhe.

Zwölf Meter entfernt brach die zweite Hälfte von Bobbis Dach in sich zusammen. Heiße Funken stoben in den Garten und den daran angrenzenden Wald. Gard drehte sich zum Schuppen, dann dachte er noch einmal, so stark er konnte: Danke, mein Freund.

ET glaubte, eine Antwort zu vernehmen - eine schwache Antwort.

Gardener richtete das Spielzeug auf den Schuppen und drückte ab. Ein grüner Strahl, nicht dicker als eine Bleistiftmine, schoß aus der Mündung heraus. Er hörte ein Geräusch wie Speck, der in einer Pfanne bruzzelt. Einen Augenblick prallte der Strahl von den Brettern ab wie Wasser aus einem Schlauch, dann fingen die Bretter Feuer. Noch mehr heiße Arbeit, dachte Gardener erschöpft. Smokey der Bär würde mich bestimmt nicht verstehen.

Langsam hoppelte er zur Rückseite des Hauses, den Sonic Space Blaster in der Hand, Schweiß und blutige Tränen rannen ihm übers Gesicht. Winston Churchill hätte mich bewundert, dachte er und fing an zu lachen. Er sah den Tomcat... dann riß er den Mund wieder zu einem gewaltigen Gähnen auf.

Ihm kam der Gedanke, daß Bobbi ihm möglicherweise das Leben gerettet hatte, ohne es zu wissen. Es war sogar mehr als möglich, es war wahrscheinlich. Das Valium konme ihn vor der unvorstellbaren Energie' des Transformators gerettet haben. Es konnte durchaus das Valium sein, das...

Etwas in dem brennenden Haus - eines von Bobbis Geräten - explodierte mit einem Knall wie ein Artilleriegeschoß. Gard zog instinktiv den Kopf ein. Plötzlich schien das halbe Haus abzuheben. Zum Glück für Gardener war es die hintere Hälfte. Er sah zum Himmel empor, und ein weiteres herzhaftes Gähnen wurde zu einem fassungslosen Starren.

Da_ fliegt Bobbis Underwood.

Sie flog immer höher und höher, eine Schreibmaschine am Himmel, die sich überschlug und drehte.

Gard hoppelte weiter. Er erreichte den Tomcat. Der Zündschlüssel steckte im Schloß. Das war gut. Er hatte mit Schlüsseln soviel Ärger gehabt, daß es ihm für den Rest seines Lebens reichte - wie wenig das noch sein mochte.

Er zog sich auf den Sitz. Hinter ihm kamen Fahrzeuge hervor und fuhren auf den Hof. Er drehte sich nicht nach ihnen um. Der Tomcat parkte zu dicht am Haus. Wenn er nicht bald von hier verschwand, würde er gebraten werden wie ein Apfel.

Er drehte den Zündschlüssel. Der Motor des Tomcat gab keinen Laut von sich, aber das machte ihm kein Kopfzerbrechen. Er vibrierte sanft. Im Haus explodierte wieder etwas. Funken stoben herab und kitzelten seine Haut. Weitere Fahrzeuge bogen in den Hof ein. Die Gedanken der eintreffenden Tommyknockers waren auf den Schuppen gerichtet, und sie dachten gebratener Apfel er ist im Schuppen gebraten worden tot im Schuppen ganz recht ja

Gut. Sollten sie das denken. Der neue und verbesserte Tomcat würde ihnen keinen Hinweis liefern. Er war so leise wie ein Ninja. Und er mußte losfahren; der Garten stand bereits in Flammen, die riesigen Sonnenblumen und Maispflanzen mit den unglaublichen Kolben loderten. Aber der Pfad in der Mitte des Gartens war noch passierbar.

He! He! HE, ER IST HINTER DEM HAUS! ER LEBT! ER ISTNOCH AM...

Gardener sah erschrocken nach rechts und erblickte Nancy Voss, die über den steinigen Acker raste, der zwischen Bobbis Haus und der Steinmauer lag, die das Hurd-Anwesen umgab. Die Voss fuhr eine Yamaha-Geländemaschine. Sie hatte das Haar zu Zöpfen geflochten, die hinter ihr wehten. Ihr Gesicht funkelte wie das einer Furie... obwohl sie im Vergleich zu Sissy immer noch wie Rebecca von der Sunnybrook Farm aussah, dachte Gardener.

HE! HIER HINTEN! HIER HINTEN!

Oh, du Miststück, dachte Gardener und hob den Sonic Space Blaster.

23

Zwanzig oder dreißig von ihnen waren auf den Hof gefahren. Adley und Kyle waren unter ihnen; ebenso Frank Spruce, die Goldens, Rosalie Skehan und Pop Cooder. Newt und Dick waren noch auf der Straße und sorgten für Ordnung.

Sie alle wandten sich in Richtung der

HIER! HIERHINTEN! ERLEBT! DERHURENSOHNLEBT:

Schreie von Nancy Voss. Sie sahen alle, wie sie auf dem Motorrad über das Feld raste und aussah wie ein Jockey auf einem besonders bockigen Pferd, während die harte Federung der Yamaha sie auf und ab hüpfen ließ. Sie sahen alle, wie ein bleistiftdünner grüner Strahl hinter dem brennenden Haus hervorkam und sie einhüllte.

Keiner sah, wie die Wäschespinne wieder anfing, sich zu drehen.

24

Eine ganze Seite des Schuppens stand in Flammen. Ein Teil des Daches stürzte ein. Funken stoben in einer dicken Spirale aufwärts. Einer landete auf einem Stapel öliger Lappen, die sofort zu Flammenrosen erblühten.

Erlösung, dachte Ev Hillman. Zu guter Letzt... zu guter Letzt...

Der Transformator begann zum letzten Mal mit seinem brillanten Grün zu pulsieren, das dem Feuer einen Augenblick Konkurrenz machte.

25

Dick Allison hörte das Quietschen der Wäschespinne. Sein Verstand war von einem haßerfüllten, erbosten Wutschrei beherrscht, als er feststellte, daß Gardener noch am Leben war. Alles geschah schnell, sehr schnell. Nancy Voss war eine brennende Lumpenpuppe auf dem Feld neben Bobbis Haus. Ihre Yamaha fuhr noch zwanzig Meter, stieß gegen einen Stein und überschlug sich.

Dick sah die ausgebrannten Kadaver von Bobbis Lieferwagen, Moss' Lastwagen, dem Olds der Bozemans - und dann sah er die Wäschespinne.

WEG VONDIESEMDING! WEG! WEG!

Aber er hatte keine Chance. Dick hatte sich aus dem Netz ausgeklinkt, und er kam nicht an den beiden Gedanken vorbei, die es wie einen primitiven Rock and Roll-Rhythmus hämmerten:

Lebt noch. Hinter dem Haus. Lebt noch. Hinter dem Haus.

Es kamen immer mehr an. Sie strömten wie eine Flutwelle auf den Hof und achteten nicht auf das lodernde Haus, den lodernden Schuppen, die qualmenden schwarzen Fahrzeuge.

NEIN! VERDAMMTENARREN! NEIN! RUNTER! WEG!

Newt starrte wie hypnotisiert in das Inferno des Hauses, ohne einen Blick auf die Wäschespinne zu werfen, die sich immer schneller drehte, und in diesem Augenblick hätte Dick ihn mit Freuden umbringen können. Aber er brauchte ihn noch, und daher begnügte er sich damit, ihn grob zu Boden zu stoßen und dann auf ihn zu fallen.

Einen Augenblick lang breitete der grüne Schirm wieder sein feuriges Netz über den Hof.

26

Gardener hörte die Schreie - diesmal viele-, dann blockte er sie ab, so gut er konnte. Sie waren nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig, nur noch, daß er zur letzten Station seiner Reise gelangte.

Der Versuch, den Tomcat schweben zu lassen, war sinnlos. Er legte den ersten Gang ein und fuhr in Bobbis monströsen, nutzlosen, brennenden Garten.

Es kam ein Augenblick, in dem er dachte, daß er es nicht schaffen würde; das Feuer hatte schneller von dem Unkraut und den übergroßen Pflanzen Besitz ergriffen, als er für möglich gehalten hätte. Die Hitze war gewaltig, kaum auszuhalten. Bald würden seine Lungen kochen.

Er hörte dumpfe, knallende Laute, wie große Astknorren in Kiefernscheiten, die in einem Kaminfeuer explodieren, und sah Kürbisse und Melonen platzen. Das Lenkrad des Tomcat verbrannte seine Hände.

Hitze auf seinem Kopf. Gardener griff nach oben. Sein Haar stand in Flammen.

27

Inzwischen brannte das gesamte Innere des Schuppens. Inmitten von alledem nahm das Glühen des Transformators zu und ab, zu und ab - ein pulsierendes Katzenauge in einem Inferno.

Peter lag auf der Seite, seine Beine waren endlich zur Ruhe gekommen. Ev Hillman sah mit erschöpfter Konzentration zu dem Transformator. Die Flüssigkeit, die ihn umgab, wurde sehr, sehr heiß. Das machte nichts; er empfand keine Schmerzen, nicht im körperlichen Sinne. Die Isolierung des Hauptkabels, das ihn mit dem Transformator verband, fing an zu schmelzen und zu schmoren. Aber die Verbindung hielt noch. Augenblicklich hielt sie noch in dem brennenden Schuppen, und Ev Hillman "dachte":

Zu guter Letzt. Gib ihm die Chance zu entkommen. Zu guter Letzt...

ZU GUTER LETZT leuchtete auf dem Computerschirm auf.

ZU GUTER LETZT ZU GUTER LETZT Dann füllte er sich mit Neunen.

28

Die Katastrophe aufBobbi Andersons Hofwar unvorstellbar.

Dick und Newt sahen fasziniert, beinahe ungläubig zu. Wie an jenem Tag im Wald mit dem Polizisten und dem alten Mann fragte sich Dick, wie alles so sehr hatte schiefgehen können. Die beiden - sie und all die anderen, die noch nicht eingetroffen waren - befanden sich außerhalb der tödlichen Reichweite des Schirms, aber Dick stand immer noch nicht auf. Er war nicht sicher, ob er es konnte.

Auf dem Hof brannten Menschen wie trockene Vogelscheuchen. Ein paar rannten herum, schlugen um sich und kreischten mit ihren Stimmen und mit ihren Gedanken. Einigen - einigen wenigen Glücklichen -gelang es, rechtzeitig zurückzuweichen. Frank Spruce ging langsam an der Stelle vorbei, an der Dick und Newt lagen; sein halbes Gesicht war weggebrannt, so daß der Kiefer auf dieser Seite wie in einem Halbgrinsen bloßlag. Es gab Explosionen, als die Waffen, die manche von ihnen bei sich hatten, aufglühten und sich selbst zerstörten.

Dick sah in Newts Augen.

Schick sie los! Ihn umzingeln. Müssen

Ja ich weiß aber mein Gott zwanzig von uns müssen brennen

HÖR VERDAMMT AUF ZU WINSELN!

Newt zuckte zurück und bleckte die Lippen zu einem zahnlosen Fauchen. Dick achtete nicht auf ihn. Das Gedankennetz war auseinandergebrochen. Jetzt konnte er sich Gehör verschaffen.

Geht los! Geht los! Greift ihn! Greift den Säufer! Geht los!

Sie setzten sich in Bewegung, zuerst langsam und mit benommenen Gesichtern, aber dann immer zielstrebiger.

29

Der Computerbildschirm implodierte. Es gab eine hustende Explosion, als räusperte sich ein Riese mit einem Hals voll Schleim, dann ergoß sich zähe, grüne Flüssigkeit aus der Duschkabine, in der Ev Hillman gefangen gewesen war. Sie floß ins Feuer und erzeugte tödlichen grünen Dampf. Ev, gnädigerweise endlich tot, wurde herausgespült wie ein Fisch aus einem geborstenen Aquarium. Einen Augenblick später folgte ihm Peter. Anne Anderson kam zuletzt; ihre toten Hände waren immer noch zu Klauen verkrampft.

30

Der Feuerschirm erlosch. Jetzt war nichts mehr zu hören, außer den Schreien der Sterbenden und Dicks eindringlicher Stimme. Der Sommertag war ein Inferno. Bobbis Hof war ein Sandmeer mit Inseln aus Feuer. Aber am Ende brachten die Tommyknockers immer Feuer, und sie gewöhnten sich rasch daran.

Newt vereinigte seine Stimme mit der von Dick. Kyle war tot, Adley hatte schwere Verbrennungen. Dennoch vereinigte Ad seine sterbende Stimme mit ihren:

Greift ihn, bevor er das Schifferreicht! Er lebt noch! Greift ihn, bevor er das Schiff erreicht! Bevor er das Schiff erreicht!

Die Tommyknockers hatten eine Niederlage einstecken müssen. Es war nicht wichtig, daß fünfzehn von ihnen auf Bobbis Hof gegrillt worden waren. Aber Bobbi war tot; Kyle war tot; Adley würde es bald sein; der Transformator war genau in dem Augenblick vernichtet worden, in dem er nach der Schließung der Grenzen von entscheidender Wichtigkeit für sie gewesen wäre. Und Gardener lebte immer noch. Es war unglaublich, aber Gardener lebte immer noch.

Das Schlimmste aber war vielleicht, daß der Wind'auffrischte.

31

Greift ihn, und greift ihn schnell.

Im Netz; die Tommyknockers waren im Netz.

Sie kamen über die Felder; manche gingen dem sich ausbreitenden Feuer entgegen.

SCHNELL!

Dick Allison drehte sich zur Stadt, und das Netz drehte sich mit ihm

wie ein Radarschirm. Er spürte Hazels fassungsloses Staunen angesichts

der Wendung der Ereignisse.

Er

(das Netz) fegte es beiseite.

Was immer du da draußen hast, Hazel: wirf es ihm entgegen.

Dick wandte sich an Newt.

Du hättest mich nicht so verflucht heftig stoßen müssen, sagte Newt mürrisch und wischte sich Blut vom Kinn.

»Scheiß drauf«, sagte Dick grob. »Greifen wir uns den Hurensohn.«

32

Die jetzt erloschene Wäschespinne hatte ein Feuer entfacht, das sich in einer Form von Bobbis Haus ausbreitete, die einem Damenfächer glich -einem Fächer aus Feuer. Bobbis Haus, inzwischen nur noch schwarze Knochen in einer flimmernden roten Feuersäule, bildete seinen Ausgangspunkt. Von dort entfaltete er sich in den obszön wuchernden Garten, und während die mutierten Pflanzen brannten, verströmten sie grünes Feuer. Jim Gardener war zwischen den Flammen, mit brennendem Haar gekrönt. Sein Hemd schwelte, ein Ärmel rauchte und geriet dann in Brand. Er schlug die Flammen aus. Er wollte schreien, aber dazu war er zu müde, zu erschöpft.

Ich bin schlimm mißbraucht worden, dachte Gardener. Und das ist einzig und allein meine eigene Schuld.

Er erreichte das andere Ende des Gartens. Der Tomcat fuhr schaukelnd und schwankend einen sanften Abhang hinunter und in den Wald. Das niedere Gestrüpp beiderseits des Pfades brannte, erste Flammenzungen leckten bereits in die Big Injun Woods. Gard waren sie herzlich egal. Das Gefühl, daß er geröstet werden würde, hatte nachgelassen. Er patschte sich wiederholt auf den Kopf. Sein Haar roch schrecklich - wie Fleisch, das ein Kind hatte anbrennen lassen.

Als der Tomcat in den Wald hineinfuhr, zischte grünes Feuer über seine rechte Schulter.

Gard zuckte nach links und duckte sich. Er sah nach hinten, und da war Hank Bück mit seiner Zap-Pistole. Hank war mit dem Motorrad zur Farm gefahren, war auf demselben Feld gestürzt, auf dem Nancy Voss das Zeitliche gesegnet hatte, hatte sich aufgerappelt und war losgerannt.

Gardener drehte sich um, hielt den Sonic Space Blaster fest in der rechten Hand und stützte das Handgelenk mit der linken. Er betätigte den Abzug. Der Bleistiftstrahl schoß hervor und traf Hank mehr durch Zufall als durch genaues Zielen an der linken Brustseite. Man hörte das Geräusch von bruzzelndem Speck. Grüner Tod breitete sich über Hanks Gesicht, er stürzte.

Gardener drehte sich wieder um und sah, daß der Tomcat mit gemütlichen zehn Stundenkilometern auf eine große brennende Fichte zufuhr. Er drehte das Lenkrad mit zwei Händen voller Brandblasen und vermied nur knapp einen Frontalzusammenstoß. Ein Reifen des Tomcat streifte den Stamm, und einen Augenblick mußte Gardener brennende Fichtenzweige beiseite schieben wie ein Mann, der sich einen Weg durch brennende Vorhänge bahnt. Der kleine Traktor neigte sich beängstigend, schien zu kippen... aber dann fiel er wieder auf sämtliche Reifen. Gardener gab so viel Gas, wie er konnte, und hielt sich fest, während der Tomcat den Pfad in den Wald entlangfuhr.

33

Sie kamen. Die Tommyknockers kamen. Sie kamen an den sich verbreiternden Außenkanten des feurigen Damenfächers entlang, und in Dick Allison keimten Wut und Verzweiflung auf, weil sie ihn nicht erwischen würden. Gardener war imstande gewesen, den Pfad zu benutzen; das war der entscheidende Unterschied. Drei Minuten später - vielleicht nur eine-, und Gardener wäre wirklich gekocht worden. Vier der Tommy -knockers (unter ihnen Mrs. Eileen Crenshaw und Reverend Goohringer) versuchten, ihm auf diesem Weg zu folgen, und verbrannten bei lebendigem Leibe. Zwei der riesigen lodernden Maispflanzen fielen auf Mrs.

Crenshaw, die kreischte und das Lenkrad des Strandbuggy losließ. Der Buggy fuhr prompt mitten in den brennenden Garten hinein. Seine Reifen explodierten wie Bomben. Sekunden später verschlang das Feuer den ganzen Pfad.

Dicks Wut und Verzweiflung ging tiefer als bis auf die Knochen. Das »Werden« war schon früher unterbrochen oder vereitelt worden - nicht oft, aber es war schon vorgekommen-, aber immer als Folge einer natürlichen Intervention... so wie eine ganze Generation Moskitolarven in einem stillen, stehenden Tümpel von einem sommerlichen Blitzschlag getötet werden kann. Aber dies war kein Gewitter, keine natürliche Ursache; dies war ein Mann, ein Mann, den sie alle mit der wachsamen Verachtung betrachtet hatten, mit der man einen Hund betrachtet, der beißen kann; dies war ein Mann, der den größten Teil der Zeit, die er bei Bobbi verbracht hatte, betrunken gewesen war, ein Mann, der Bobbi irgendwie überlistet und getötet hatte und der sich einfach weigerte, zu sterben, was immer sie auch taten.

Wir werden uns nicht von einem Mann aufhalten lassen, dachte Dick wütend. Das werden wir NICHT! Aber gab es wirklich eine Möglichkeit, das zu verhindern ? Die Feuerfront breitete sich jetzt so schnell aus, daß sie ihn nicht fangen konnten. Gardener war es gelungen, mitten durch eine Gasse im Feuer hindurchzufahren, aber er würde der einzige sein, dem das möglich war. Hank Bück hatte auf ihn geschossen... aber irgendwie war es dem elenden Hurensohn gelungen, Hank zu erschießen.

Dick befand sich in einer Ekstase der Wut (Newt spürte es und wahrte Distanz - Dick war zwanzig Pfund schwerer und zehn Jahre jünger), aber im Zentrum seiner Wut steckte Entsetzen, wie ein Klumpen ranziger Sahne in einer vergifteten Praline.

Die Tommyknockers, hatte Bobbi zu Gard gesagt, waren großartige Himmelsreisende. Das stimmte. Aber sie hatten noch nie und nirgendwo jemanden wie diesen einen Mann getroffen, der sich immer noch aufrecht hielt, trotz seines zerschmetterten Knöchels und seines Blutverlustes und einer Droge, die ihn schon vor fünfzehn Minuten hätte bewußtlos machen müssen, ungeachtet der großen Menge, die er wieder erbrochen hatte.

Unmöglich - aber es war so.

Irgendwie hatte das Feuer, von dem sie gehofft hatten, daß es Gardener vom Schiff fernhalten würde, sich zu Gardeners Schutzschild entwickelt.

Jetzt waren nur noch die automatischen Wächter da - die Geräte.

»Die werden ihn erwischen«, flüsterte Dick. Er und Newt standen wie zwei Generale auf einer kleinen Erhebung neben dem Haus und sahen zu, wie Menschen in den Wald liefen... aber in zwei hoffnungslos unnützen Winkeln. Dick öffnete die Hände, ballte sie, öffnete sie, ballte sie. Grünes Blut pulsierte in seinem Hals. »Sie erwischen ihn, sie halten ihn auf, er wird nicht bis zum Schiff kommen, das wird er nicht, das wird er nicht.«.

Newt Berringer schwieg geflissentlich.

34

Der Rauchdetektor, der selbst einer fliegenden Untertasse sehr ähnlich sah, schwebte stumm durch den Wald, und das rote Sensorlicht an der Unterseite flackerte hektisch. Hazel McCready kontrollierte dieses Baby persönlich. Sie hatte Dick Allisons Flut von Wut, Verzweiflung und Angst gespürt und war entschlossen, sich selbst um Gardener zu kümmern - per Fernsteuerung gewissermaßen. Zuerst hatte sie Pauline Goudge, zu der sie am meisten Zutrauen hatte, mit einer anderen Angelegenheit betraut, dann war Hazel in ihr Büro gegangen, hatte die Tür zugemacht und abgeschlossen.

Aus der untersten Schublade ihres Schreibtischs holte sie einen Radio-recorder heraus, etwas kleiner als das Beseitigungsinstrument des verstorbenen Hank Bück. Sie stellte ihn auf den Schreibtisch, schaltete ihn ein, nahm einen Kopfhörer aus dem Postausgangskorb auf ihrem Schreibtisch und steckte sich den Stöpsel ins Ohr.

Jetzt saß sie mit geschlossenen Augen da; sie konnte auf beiden Seiten des Rauchdetektors Bäume vorbeigleiten sehen, während dieser etwa zwei Meter über dem Boden dahinschwebte. Gardener hätte sich unwillkürlich an Die Rückkehr der Jedi-Ritter erinnert, an die Szene, in der die Guten die Bösen auf einer Art Luftmotorrädern mit atemberaubender Geschwindigkeit durch einen scheinbar endlosen Wald verfolgen.

Hazel jedoch hatte keine Zeit für Vergleiche - und wenn sie dies überstanden hatten, würde sie auch keine haben; Tommyknockers hielten nicht besonders viel von Vergleichen.

Ein Teil von ihr - derjenige, der dem Rauchdetektorteil des Gerätes, das sie konstruiert hatte, zugeordnet war - wollte seine eigentliche Funktion erfüllen und heulen, weil der Wald voller Rauch war. Das Gefühl, das sie dabei hatte, ähnelte dem, das man hat, wenn ein Niesen wie ein Regenschauer bevorsteht.

Der Rauchdetektor bewegte sich mühelos von einer Seite zur anderen, wich im Slalom Bäumen aus, sprang über Erhebungen und dann wieder hinunter wie das kleinste Schädlingsbekämpfungsflugzeug der Welt.

Hazel saß vornübergebeugt an ihrem Schreibtisch, hatte den Stöpsel fest im Ohr und konzentrierte sich verbissen. Sie jagte den kleinen Rauchdetektor schneller durch den Wald, als sie verantworten konnte, aber er war an der Grenze Haven-Newport gewesen, runde acht Kilome -ter vom Schiff entfernt. Sie mußte Gardener erwischen, und die Zeit war knapp.

Der Rauchdetektor kippte zur Seite und verfehlte eine kleine Kiefer nur um Zentimeter. Das war knapp. Aber... da war er, und da war das Schiff, das Echos aus Licht zurückwarf und tanzende Sonnenflecke auf die Bäume tätowierte.

Der Rauchdetektor schwebte einen Augenblick reglos über der dichten Matte abgefallener Nadeln auf dem Waldboden - dann schoß er direkt auf Gardener zu. Hazel machte sich bereit, die Ultraschallanlage zu aktivieren, die Gardeners Knochen in kleine Bruchstücke zerschmettern würde.

35

He, Gard! Links von dir!

Die Stimme war unglaublich. Sie war auch unmißverständlich. Es war Bobbi Andersens Stimme. Die Stimme der alten, unverbesserten Bobbi. Aber Gardener hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er sah nach links und erblickte etwas, das aus dem Wald auf ihn zugeschossen kam. Es war dunkel und hatte ein rotes Blinklicht an der Unterseite. Mehr konnte er in der kurzen Zeit nicht sehen.

Er riß den Sonic Space Blaster hoch und fragte sich, wie um alles in der Welt er dieses Ding treffen wollte, und dann erfüllte plötzlich ein dünnes, wildes Sirren, wie von allen Moskitos der Welt in völliger Harmonie gemeinsam angestimmt, seine Ohren... seinen Kopf... seinen Körper. Ja, es war in ihm; alles in seinem Körper begann zu vibrieren.

Dann war ihm, als umklammerten Hände sein Handgelenk - umklammerten es und drehten es dann. Er schoß. Grünes Feuer jagte durch das Tageslicht. Der Rauchdetektor explodierte. Mehrere ausgefetzte Plastiksplitter flogen an Gardeners Kopf vorbei und verfehlten ihn nur knapp.

36

Hazel schrie und fuhr kerzengerade von ihrem alten Bürostuhl hoch. Ein gewaltiger Energierückstoß floß durch den Kopfhörer. Sie griff danach -und griff daneben. Der Stöpsel steckte in ihrem linken Ohr. Aus ihrem rechten spritzte plötzlich ein Schwall dicklicher, grünlicher Flüssigkeit. Sie sah wie radioaktive Hafergrütze aus. Einen Augenblick spritzte ihr Gehirn noch durch das Ohr aus dem Schädel, aber dann wurde der Druck zu groß. Die rechte Seite ihres Schädels entfaltete sich wie eine seltsame

Blume, ihr Gehirn klatschte mit einem Schmatzlaut gegen ihren Currier

& Ives-Wandkalender..

Hazel sank schlaff auf ihren Schreibtisch, mit ausgestreckten Händen und Augen, die fassungslos ins Nichts starrten.

Der Radiorecorder summte noch eine Weile, dann hörte er auf.

37

Bobbi? dachte Gardener und sah sich wild um.

Hallo., altes Haus, erwiderte eine amüsierte Stimme. Mehr Hilfe bekommst du nicht ~ schließlich bin ich tot, weißt du das?

Ich weiß es, Bobbi.

Noch einen Rat: gib acht auf tollwütige Staubsauger.

Dann war sie fort, als wäre sie nie dagewesen. Hinter ihm ertönte das knirschende Krachen eines umstürzenden Baumes. Der Wald zwischen hier und dem Haus hörte sich jetzt an wie ein riesiger offener Kamin. Nun konnte er Stimmen hinter sich vernehmen, laute und geistige. Tommyknockerstimmen.

Aber Bobbi war fort.

Das hast du dir eingebildet, Gard. Der Teil von dir, der Bobbi will-der Bobbi BRAUCHT-, versucht, sie wieder zu erfinden, das ist alles.

Ach _ ja, und was ist mit der Hand? Der Hand an meinem Handgelenk? Habe ich die auch erfunden? Ich hätte dieses Ding nicht-selbst treffen können. Annie Oakley hätte dieses Ding nicht ohne fremde Hilfe treffen können.

Aber die Stimmen - die in der Luft und die in seinem Kopf - kamen näher. Das Feuer ebenfalls. Gardener atmete eine Lunge voll Rauch ein, legte den Gang des Tomcat ein und fuhr weiter. Im Augenblick hatte er keine Zeit für Diskussionen.

Gardener fuhr zum Schiff. Fünf Minuten später erreichte er die Lichtung.

38

»Hazel?« rief Newt mit beinahe panischem Entsetzen. »Hazel? Hazel?« ]a, Hazel! brüllte Dick Allison ihn wütend an und konnte sich nicht mehr beherrschen. Er warf sich auf Newt. Dummes Arschloch!

Hurenficker! spie Newt zurück, dann rollten die beiden über den Boden und versuchten, sich mit funkelnden grünen Augen gegenseitig an die Kehlen zu fahren. Unter den gegebenen Umständen war das alles andere als logisch, aber jede Ähnlichkeit zwischen den Tommyknockers und Leuten wie Mr. Spock war rein zufällig.

Dicks Hände fanden die schwabbeligen Falten von Newts Hals und begannen zu drücken. Seine Finger stießen durch das Fleisch, grünes Blut blubberte über Dicks Finger. Er fing an, Newt hochzuziehen und wieder auf den Boden zu hämmern. Newts Gegenwehr wurde schwächer ... schwächer... schwächer. Dick würgte ihn, bis er tot war.

Nachdem er das getan hatte, stellte Dick fest, daß er sich etwas besser fühlte.

39

Gard stieg von dem Tomcat herunter, stolperte, verlor das Gleichgewicht, fiel hin. Im selben Augenblick sauste ein summendes, heulendes Projektil an der Stelle durch die Luft, an der er sich noch einen Augenblick zuvor befunden hatte. Gardener betrachtete fassungslos den Elec-trolux-Staubsauger, der ihm beinahe den Kopf abgerissen hätte.

Er raste wie ein Torpedo über die Lichtung, wendete und kam erneut auf ihn zu. An einem Ende befand sich etwas, das die Luft zu einem silbernen Wirbel verzerrte - so etwas wie ein Propeller.

Gardener dachte an das runde, ausgefetzte Loch in der Schuppentür, und plötzlich trocknete aller Speichel in seinem Mund.

Gib acht auf...

Er kam im Sturzflug auf ihn zu, der Sägeaufsatz heulte und summte wie der Benzinmotor eines Kinderflugzeugs. Die kleinen Räder, die eigentlich dazu dienten, der Hausfrau die Arbeit zu erleichtern, wenn sie ihren getreuen Staubsauger von Zimmer zu Zimmer hinter sich herzog, drehten sich träge in der Luft. Das Loch, an dem sich verschiedene Schläuche befestigen ließen, klaffte wie ein offenes Maul.

Gardener tat so, als wollte er nach rechts ausweichen, aber dann behielt er seine Position noch einen Augenblick bei - wenn er zu schnell auswich, dann würde der Staubsauger mit ihm die Richtung ändern und sich so mühelos durch seine Eingeweide fressen, wie er sich durch die Schuppentür gefressen hatte, als Bobbi ihn rief.

Er wartete, täuschte ein Ausweichen nach links vor und warf sich dann im letzten Augenblick doch nach rechts. Er schlug schmerzhaft auf dem Boden auf. Die Knochenfragmente in seinem Knöchel knirschten aneinander. Gardener schrie kläglich.

Der Electrolux machte eine Bruchlandung. Der Propeller fraß sich in die Erde. Dann hüpfte er wie ein Flugzeug, das noch einmal hochschnellt, nachdem es zu hart auf der Rollbahn aufgesetzt hat. Er heulte in Richtung der großen geneigten Scheibe des Schiffes davon, aber dann wendete er zu einer neuerlichen Attacke. Jetzt kam das Kabel, mit dem er die Knöpfe der Winde gedrückt hatte, aus dem Kabelfach heraus. Das Kabel pfiff durch die Luft - ein trockener, schlangenähnlicher Laut, den

Gardener unter dem Prasseln des Feuers gerade noch hören konnte. Das Kabel peitschte, und einen Augenblick fühlte Gardener sich an ein Wildwest-Rodeo erinnert, zu dem seine Mutter ihn einmal mitgenommen hatte. Da war ein Cowboy mit einem großen, weißen Hut gewesen, der Lassotricks vorgeführt hatte. Bei einem Trick hatte er ein großes Lasso in Knöchelhöhe kreisen lassen und war in die Schlinge hinein und wieder herausgesprungen, während er auf der Harmonika »My Gal Sal« gespielt hatte. Das Kabel, das jetzt aus dem Kabelfach herauspeitschte, sah genau aus wie dieses Lasso.

Der Wichser wird dir den Kopf abschneiden, so glatt wie ein Messer durch Scheiße geht, wenn du ihn läßt, Gard-alter-Gard.

Der Electrolux kam heulend auf ihn zu, sein Schatten lief unter ihm mit.

Gardener lag auf den Knien, hielt den Sonic Space Blaster vor sich und feuerte. Der Staubsauger wich aus, während er zielte, aber Gardener erwischte ihn dennoch. Ein Stück Chrom über einem Hinterrad wurde weggerissen. Das Kabel zog eine Zickzacklinie durch den Erdboden. greift ihn ja greift ihn bevor er dem Schiffschaden kann

Näher. Die Stimmen kamen näher. Er mußte dem ein Ende machen.

Der Staubsauger umkreiste einen Baum und kam wieder zurück. Er neigte sich nach oben, stieg, dann setzte er zu einem Kamikaze-Sturzflug an, die Säge kreiste immer schneller und schneller.

Gardener wappnete sich, indem er an Ted den StromMann dachte.

Dieses Scheißding solltest du dir ansehen, Teddy-Boy, dachte er irrsinnig. Du würdest abschnallen! Besser leben durch Elektrizität!

Er betätigte den Abzug der Spielzeugpistole, sah, wie der bleistift -dünne Strahl gegen die Schnauze des Staubsaugers prallte, dann schob er sich vorwärts, indem er beide Füße in den Boden stemmte, ohne Rücksicht auf den zertrümmerten Knöchel. Der Electrolux schlug neben dem Tomcat auf und wühlte sich fast einen Meter tief in den Boden. Schwarzer Rauch quoll als kompakte kleine Wolke aus dem aufragenden Ende hervor. Er gab ein lautes Furzgeräusch von sich und starb.

Gardener richtete sich auf, hielt sich am Tomcat fest und ließ den Sonic Space Blaster in der rechten Hand baumeln. Er sah, daß das Plastikgehäuse teilweise geschmolzen war. Er würde nicht mehr lange durchhalten. Dasselbe traf zweifellos auch auf ihn selbst zu.

Der Staubsauger war tot - er war tot und ragte aus dem Boden wie ein Blindgänger. Aber es waren jede Menge andere Geräte unterwegs, einige flogen, andere rollten auf behelfsmäßigen Rädern eilig durchs Unterholz. Er konnte nicht mehr warten.

Was hatte der alte Mann am Ende gedacht? Zu guter Letzt... und... Erlösung.

»Gutes Wort«, sagte Gardener heiser. »Er-lösung. Großartiges Wort.«

Und zugleich, wurde ihm klar, der Titel eines Romans. Eines Romans von einem Dichter. James Dickey. Ein Roman um Männer aus der Stadt, die Dresche kriegen und ausgeplündert und mit vorgehaltener Pistole vergewaltigt werden mußten, bevor sie begriffen, daß sie doch gute alte Kumpane waren. Aber in diesem Roman war eine Stelle... einer der Männer sieht einen anderen an und sagt ihm ruhig: »Maschinen können versagen, Lewis.«

Das hoffte Gardener sehr.

Er hoppelte zum Unterstand und drückte auf den Knopf, der die Schlinge hinabließ. Er würde sich Hand für Hand am Kabel hinunterhangeln müssen. Das war dumm, aber so war es eben mit der Tommy -knocker-Technologie. Der Motor fing an zu surren. Das Kabel glitt hinab. Gardener hoppelte zum Rand der Kluft hinüber. Wenn er sich -wirklich da hinunterhangeln konnte, dann war er in Sicherheit.

In Sicherheit unter den toten Tommyknockers.

Der Motor verstummte. Er konnte kaum die nutzlose Schlinge am Grund sehen. Die Stimmen waren näher, das Feuer war näher, und er spürte ein ganzes Verbrecheralbum von Geräten auf sich zukommen. Einerlei. Er hatte die Stromschnellen hinter sich gebracht, die Leitern erklommen und war irgendwie vor den anderen über die Ziellinie gegangen.

Glückwünsche, Mr. Gardener! Sie haben eine _fliegende Untertasse gewonnen! Möchten Sie aufgeben, oder wollen Sie versuchen, einen bezahlten Urlaub im Weltraum zu gewinnen?

»Scheiße«, krächzte Gardener und warf die halb geschmolzene Spielzeugpistole weg. »Bringen wir es hinter uns.«

Auch das weckte eine Erinnerung.

Er ergriff das Kabel und schwang sich über den Rand. Während er das tat, fiel es ihm ein. Klar. Gary Gilmpre. Das hatte Gary Gilmore gesagt, bevor er vor das Erschießungskommando in Utah getreten war.

40

Er war halb unten, als er merkte, daß ihn der letzte Rest seiner Kraft verließ. Wenn er nicht rasch etwas tat, würde er abstürzen.

Er kletterte schneller hinab und verfluchte ihre hirnlose Idee, den Schalter für die Seilwinde so weit von der Kluft entfernt anzubringen. Heißer, beißender Schweiß rann ihm in die Augen. Seine Muskeln zuckten und flatterten. Sein Magen fing wieder an, langsame, träge Purzelbäume zu schlagen. Seine Hände rutschten... griffen... rutschten wieder. Dann lief das Kabel plötzlich wie heiße Butter durch seine

Hände. Er hielt es fest und schrie vor Schmerzen auf, während die Reibungshitze zunahm. Ein Draht, der sich aus dem Kabel gelöst hatte und vorstand, bohrte sich in seine Handfläche.

»Mein Gott!« schrie Gardener. »Oh gütiger Gott!«

Er rammte mit seinem verletzten Fuß sauber in die Schlinge hinein. Schmerzen jagten brüllend in seinem Bein hoch, durch den Magen, durch den Hals. Sie schienen seinen Schädel aufzureißen. Sein Knie gab nach und schlug gegen die Schiffswand. Die Kniescheibe ploppte wie ein Kronenkorken.

Gardener spürte, wie es um ihn herum grau wurde, und kämpfte dagegen an. Er sah die Luke. Sie war noch offen. Die Luftaustauscher arbeiteten immer noch.

Sein linkes Bein war eine erstarrte Mauer aus Schmerzen. Er sah daran hinab und stellte fest, daß es wie durch Zauber kürzer geworden war als sein rechtes. Und es sah... nun, es sah zerkrümelt aus, wie eine alte Zigarre, die jemand zu lange mit sich in der Tasche herumgeschleppt hat.

»Mein Gott, ich falle auseinander«, flüsterte er, und dann lachte er zu seinem eigenen Erstaunen. Eines mußte er ihm lassen: dies war wirklich viel interessanter, als einfach nur mit einem Kater von einem Wellenbrecher zu springen.

Über sich vernahm er ein hohes, summendes Geräusch. Es war wieder etwas angekommen. Gardener wartete nicht, was es sein würde, statt dessen stieß er sich in die Luke und begann, den runden Korridor entlangzukriechen. Das Licht aus den Wänden glomm sanft auf seinem ausgezehrten Gesicht, und dieses Licht - weiß, nicht grün - war gütig. Jemand, der Gardener in diesem Licht gesehen hätte, hätte fast glauben können, daß es nicht mit ihm zu Ende ging. Fast.

41

Letzte Nacht und die Nacht davor,

(Über den Berg und durch die Wälder)

Tommyknockers, Tommyknockers klopften an mein Tor.

(Zieh’n wir zu Großmutters Haus)

Sie sind nicht tot, sind sie auch stumm,

(Das Pferd kennt den Weg, den Schlitten zu zieh’n)

Die Tommyknockers spuken dir im Kopf herum!

(Über die schneeweißen Felder)

Knittelverse widerhallten in seinem Kopf, während Gardener durch den Korridor kroch und nur einmal anhielt, um sich zu übergeben: Die Luft hier drinnen war immer noch ziemlich beschissen. Er dachte, daß der Kanarienvogel eines Bergarbeiters bereits auf dem Käfigboden liegen würde, noch am Leben, aber gerade noch.

Aber die Maschinen, Gard... hörst du die? Hörst du, wieviel lauter sie geworden sind, seit du hereingekommen bist?

Ja. Lauter, selbstsicherer. Und es waren nicht nur die Luftaustauscher. Tiefer im Schiff erwachten auch andere Maschinen summend zum Leben. Das Licht wurde heller. Das Schiff saugte aus ihm heraus, was noch übrig war. Sollte es.

Er kam an die erste innere Luke. Er schaute zurück. Betrachtete stirnrunzelnd die zur Kluft hin offene Luke. Sie konnten jeden Augenblick auf der Lichtung eintreffen; vielleicht waren sie schon da. Vielleicht versuchten sie, ihm ins Innere zu folgen. Wenn er nach den ehrfürchtigen Reaktionen seiner »Helfer« urteilte (selbst der dickköpfige Freeman Moss war nicht völlig immun gewesen), war es wenig wahrscheinlich... aber er durfte nicht vergessen, wie verzweifelt sie waren. Er wollte sicher sein, daß die Verrückten ein für allemal aus seinem Leben verschwunden waren. Gott wußte, daß nicht mehr viel von seinem Leben übrig war; er wollte nicht, daß ihm diese Arschlöcher den letzten Rest auch noch verdarben.

Erneute Schmerzen erblühten in seinem Kopf, trieben ihm das Wasser in die Augen und zerrten an seinem Gehirn wie ein Angelhaken. Schlimm, aber nichts verglichen mit den Schmerzen in seinem Knöchel und dem Bein. Es überraschte ihn nicht zu sehen, daß sich die Hauptluke geschlossen hatte. Konnte er sie wieder aufmachen, wenn er es wollte? Irgendwie bezweifelte er es. Jetzt war er eingesperrt. .. eingesperrt mit den toten Tommyknockers.

Tot? Bist du sicher, daß sie tot sind?

Nein; ganz im Gegenteil. Er war sicher, daß sie es nicht waren. Sie waren lebendig genug gewesen, um alles wieder in Gang zu bringen. Lebendig genug, um Haven in eine einzige unheimliche Munitionsfabrik zu verwandeln. Tot?

»Verdammt unwahrscheinlich«, krächzte Gardener und zog sich durch die innere Luke in den angrenzenden Korridor. Maschinen pochten und summten in den Eingeweiden des Schiffes; wenn er die leuchtende gekrümmte Wand berührte, konnte er ihre Vibration spüren.

Tot? Oh, nein. Du kriechst durch das älteste Spukhaus des Universums, Gard-alter-Gard.

Er glaubte ein Geräusch zu hören und drehte sich rasch und mit klopfendem Herzen um; die Speicheldrüsen ließen bitteren Saft in seinen Mund fließen. Natürlich war nichts da. Trotzdem war etwas da. Ich habe allen Grund, ängstlich zu sein, denn die Tommyknockers waren wir ganz allein.

»Hilf mir, Gott«, sagte Gardener. Er schüttelte das stinkende Haar aus den Augen. Über ihm befand sich die spindeldürre Leiter mit den weit 668 'auseinanderliegenden Sprossen . . . jede mit dieser tiefen, beunruhigenden Kerbe in der Mitte. Diese Leiter würde in die Vertikale gedreht werden, wenn... falls... das Schiff wieder in seine horizontale Flugposition gelangte.

Jetzt ist ein Geruch hier drinnen, Luftaustauscher oder nicht, ein Geruch, und es ist der Geruch des Todes, glaube ich. Eines langen Todes. Und des Wahnsinns.

»Bitte hilf mir, Gott, nur ein klein wenig Hilfe, ja? Laß den Jungen nur noch eine Weile durchhalten, mehr verlange ich nicht, okay?«

Immer noch zu Gott betend, kroch Gardener weiter. Wenig später erreichte er den Kontrollraum und ließ sich hinunter.

42

Die Tommyknockers standen am Rand der Lichtung und sahen Dick an. Mit jeder Minute kamen mehr. Sie kamen - und dann blieben sie einfach stehen, so wie einfache Computerspielzeuge, die ihre wenigen einprogrammierten Funktionen alle ausgeführt hatten.

Sie standen da und sahen von der geneigten Scheibe des Schiffes... zu Dick... wieder zum Schiff... wieder zu Dick. Sie waren wie ein Haufen Schlafwandler bei einem Tennisspiel. Dick konnte spüren, daß die anderen, die in die Stadt zurückgekehrt waren, um die Grenzen zu bewachen, ebenfalls einfach warteten... und durch die Augen derer sahen, die tatsächlich hier waren.

Hinter ihnen kam das Feuer näher, es wurde immer heftiger. Erste Rauchschwaden zogen bereits über die Lichtung. Ein paar Leute husteten, aber niemand bewegte sich.

Dick sah sie verwirrt an - was genau erwarteten sie von ihm? Dann begriff er. Er war der letzte der Schuppen-Leute. Die anderen waren alle nicht mehr am Leben, und am Tod jedes einzelnen war direkt oder indirekt Gardener schuld gewesen. Es war unerklärlich und mehr als nur ein wenig beängstigend. Dick kam mehr und mehr zu der Überzeugung, daß so etwas in der langen, langen Geschichte der Tommyknockers noch niemals vorgekommen war.

Sie sehen mich an, weil ich der letzte bin, ich soll ihnen sagen, was zu tun ist.

Aber sie konnten nichts tun. Es war ein Wettrennen gewesen, und Gardener hätte verlieren müssen, aber irgendwie hatte er gewonnen, und jetzt konnten sie nichts anderes tun als abwarten. Zusehen und abwarten und hoffen, daß das Schiff ihn irgendwie umbringen würde, bevor er etwas tun konnte. Bevor...

Plötzlich griff eine riesige Hand in Dick Allisons Kopf und zerquetschte sein Gehirn. Er schlug die Hände gegen die Schläfen, die

Finger hatte er steif abgespreizt. Er versuchte zu schreien, konnte es aber nicht. Er bekam nur am Rande mit, daß unter ihm auf der Lichtung Menschen reihenweise auf die Knie sanken, wie Pilger, die Zeugen eines Wunders oder einer göttlichen Erscheinung werden.

Das Schiff hatte angefangen zu vibrieren - das Geräusch erfüllte die Luft mit einem dumpfen, unterschwelligen Summen.

Das bekam Dick noch mit... dann flogen ihm die Augen aus dem Kopf wie halberstarrte Gallertbällchen, und er spürte nichts mehr. Jetzt nicht, und niemals wieder.

43

Ein wenig Hilfe, Gott, abgemacht?

Er saß in der Mitte des geneigten sechseckigen Raums, sein verkrümmtes, gebrochenes Bein lag ausgestreckt vor ihm (zerkrümelt, dieses Wort ging ihm nicht aus dem Sinn, sein Bein war zerkrümelt), direkt an der Stelle, wo das dicke Kabel aus dem Boden kam.

Ein wenig Hilfe_ für den_ jungen. Ich weiß, ich bin nicht viel wert, habe auf meine Frau geschossen, tolle Sache, habe meine beste Freundin erschossen, noch eine tolle Sache, eine neue undverbesserte tolle Sache, könnte man sagen, aber bitte, lieber Gott, ich brauche_ jetzt Hilfe.

Das war auch keine Übertreibung. Er brauchte mehr als nur ein wenig. Das dicke Kabel teilte sich in acht kleinere, die alle nicht in einem Ohrstöpsel endeten, sondern in richtigen Kopfhörern. Wenn er in Bobbis Schuppen Russisches Roulette gespielt hatte, dann war dies hier, als würde er seinen Kopf in ein Kanonenrohr stecken und jemanden auffordern, die Abzugsleine zu ziehen.

Aber es mußte getan werden.

Er hob einen der Kopfhörer auf und stellte wieder fest, daß sie in der Mitte nach innen ausgeheult waren, dann sah er zu dem Haufen brauner, vertrockneter Leichen in der Ecke des Raumes.

Tommyknockers ? Nonsens-Name oder nicht, er war immer noch zu gut für sie. Höhlenmenschen aus dem All, das waren sie gewesen, mehr nicht. Lange Krallen, die Maschinen bedienten, welche sie zwar hergestellt, die zu verstehen sie sich aber nicht die Mühe gemacht hatten. Zehen wie die Sporen von Kampf hähnen. Dieses Ding war ein bösartiger Tumor, der rasch entfernt werden mußte.

Bitte, Gott, laß meinen kleinen Einfall richtig sein.

Konnte er sie alle anzapfen? Das war wahrhaftig die 64ooo-Dollar-Frage, nicht? Wenn das »Werden« ein geschlossenes System war — auf der Hülle des Schiffes entwich etwas, das es auslöste-, dann war die Antwort wahrscheinlich nein. Aber Gardener war zu der Überzeugungoder vielleicht nur der Hoffnung - gelangt, daß es mehr war, nämlich ein 670 offenes System, in dem das Schiff die Menschen versorgte und sie dazu brachte zu »werden«, und die Menschen das Schiff versorgten, damit es... was? Wiederkehren konnte, natürlich. Konnte man das Wort »Wiederauferstehen« gebrauchen? Tut mir leid, nein. Zu nobel. Wenn er recht hatte, dann handelte es sich hier um eine Art Jungfernzeugung in einem Gruselkabinett, das seinen angemessenen Platz unter grellen Jahrmarktslichtern und in der Regenbogenpresse hatte, nicht in unsterb -lichen Mythen oder religiösen Überzeugungen. Ein offenes System... ein Sklavensystem... buchstäblich ein Fick-dich-selber-System.

Bitte, Gott. ]etzt ein bißchen Hilfe.

Gardener zog den Kopfhörer über.

Es geschah auf der Stelle. Diesmal kein Gefühl des Schmerzes, nur eine gewaltige weiße Strahlung. Die Lichter im Kontrollraum flammten zu voller Stärke auf. Eine der Wände wurde wieder zu einem Fenster und zeigte den rauchverhangenen Himmel und die Kronen der Bäume. Und dann wurde eine weitere Wand des Raumes transparent... noch eine... noch eine. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schien Gard in einem offenen Raum zu sitzen, über sich den Himmel und die Kluft mit dem silbrigen Gewebe auf beiden Seiten. Das Schiff schien verschwunden zu sein. Er hatte einen Rundblick von 360 Grad.

Motoren wurden einer nach dem anderen aktiviert und wärmten sich zu voller Funktionsgeschwindigkeit auf.

Irgendwo läutete eine Glocke. Riesige Relais klickten eines nach dem anderen und ließen das Metalldeck unter ihm beben.

Das Machtgefühl war unglaublich; ihm war, als strömte der Missis -sippi bei Hochwasser durch seinen Kopf. Er spürte, daß ihn das umbrachte, aber das machte nichts.

Ich habe sie alle angezapft, dachte Gardener schwach. Oh Gott, ich danke dir, Gott, ich habe sie alle angezapft! Es hat funktioniert!

Das Schiff begann zu zittern. Zu vibrieren. Das Vibrieren wurde zu einem zuckenden Rütteln. Der Zeitpunkt war gekommen.

Gardener entblößte seine letzten Zähne, bereitete sich auf seinen letzten, entscheidenden Einsatz vor.

44

Er hatte sie alle angezapft, aber es waren Dick Allison, wegen seines fortgeschrittenen Entwicklungsstadiums, und Hazels etwa vierzig Grenzbeobachter in der Stadt, die den Löwenanteil zur Energiegewinnung des Schiffes beitrugen - die letzteren hatten sich alle zu einem dichten Netz zusammengeschlossen, und nach diesem griff das Schiff ganz einfach. Sie kippten um, Blut rann ihnen aus Augen und Nasen, und sie starben, während das Schiff ihre Gehirne aussaugte.

Das Schiff saugte auch an den Tommyknockers im Wald, und einige der älteren starben; die meisten jedoch empfanden nur unerträgliche Schmerzen in den Köpfen, während sie am Rand der Lichtung knieten oder am Boden lagen. Ein paar waren sich darüber klar, daß das Feuer jetzt sehr nahe war. Je heftiger der Wind wehte, desto weiter öffnete sich der brennende Damenfächer. Dicke, grauweiße Rauchwolken zogen über die Lichtung. Das Feuer prasselte und donnerte.

45

Jetzt, dachte Gardener.

Er spürte etwas in seinem Verstand rutschen, greifen, rutschen.. und dann fest greifen. Es war wie ein Getriebe. Er hatte Schmerzen, aber sie waren erträglich.

SIE spüren die meisten Schmerzen, dachte er schwach.

Die Wände der Kluft schienen sich zu bewegen. Zuerst nur ein wenig. Dann etwas mehr. Es gab ein knirschendes, kreischendes Geräusch.

Gardener konzentrierte sich, er hatte die Stirn gerunzelt und die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.

Das silbrige Gewebe begann langsam, aber stetig vorbeizugleiten. Natürlich bewegte es sich überhaupt nicht, es war das Schiff, das sich bewegte; das Knirschen war das Geräusch gewesen, mit dem es sich aus dem Gestein befreite, das es so lange festgehalten hatte.

Aufwärts, dachte er zusammenhanglos. Damenunterwäsche, Strumpfwaren, Galanteriewaren, und besuchen Sie auch unsere Haustierabteilung...

Es beschleunigte, die Wände der Kluft auf beiden Seiten glitten schneller vorbei. Droben wurde der Himmel breiter - er hatte einen stumpfen Grauton. Funken stoben vorbei wie Schwärme winziger brennender Vögel.

Er zitterte vor Erregung.

Gardener kam es vor, als schaute er aus einem U-Bahnfenster, wenn der Zug gerade die Haltestelle verließ, zuerst langsam, dann immer schneller - als sähe er die gekachelten Wände vorbeigleiten wie den Papierstreifen in einem elektrischen Klavier, als könnte er die Werbung lesen, die von links nach rechts vorbeiglitt-Annie, A Chorus Line, Diese Zeit braucht die Times, Tauch the Velvet, Dann in die Dunkelheit, wo nur noch Bewegung war und der vage Eindruck vorüberhuschender Mauern.

Eine elektrische Hupe ertönte dreimal, die ihn fast taub machte und zum Schreien brachte; frisches Blut ergoß sich in seinen Schoß. Das Schiff erschauerte und rumpelte und quietschte und befreite sich aus der Gruft in der Erde; es stieg empor in dichtere Rauchwolken und dunstiges

Sonnenlicht, seine polierte Hülle kam heraus, immer weiter heraus, immer höher, immer höher, eine Metallwand in Bewegung. Jemand, dem sich dieser verrückte Anblick aus nächster Nähe geboten hätte, hätte denken können, daß die Erde einen stählernen Berg erschuf oder eine Titanmauer in der Luft errichtete.

Der Bogen des Rands wurde immer breiter, er erreichte den Saum der Kluft, die Bobbi und Gardener immer tiefer ausgehoben hatten - sie hatten mit ihren schlauen Geräten die Erde aufgerissen wie Halbidioten, die einen Kaiserschnitt versuchten.

Hoch und hinaus, hoch und hinaus. Fels kreischte. Die Erde stöhnte, Staub und Rauch von der Reibungshitze stiegen aus der Kluft. Aus der Nähe blieb die Illusion eines emporsteigenden Berges oder einer Mauer bestehen, aber schon auf so kurze Entfernung wie vom Rand der Lichtung wurde die gerundete Form des Dinges offenbar - die titanische Form der Untertasse, die jetzt wie eine riesige Maschine aus der Erde herauskam. Es war lautlos, aber das Donnergrollen berstenden Gesteins hallte über die Lichtung. Es stieg immer noch höher, riß die Kluft immer weiter auf, sein Schatten fiel allmählich über die gesamte Lichtung und den brennenden Wald.

Seine Kante - die, über die Bobbi gestolpert war - schnitt den Wipfel der höchsten Fichte im Wald ab, und er fiel taumelnd und krachend zu Boden. Und immer noch gebar sich das Schiff selbst aus der Gebärmutter, die es so lange festgehalten hatte; machte weiter, bis es den ganzen Himmel ausfüllte und neu geboren war.

Dann hörte es auf, die Kluft weiter aufzureißen; einen Augenblick später gab es tatsächlich bereits eine Lücke zwischen den Wänden und dem Rand des Schiffes. Das Zentrum war endlich erreicht und überschritten worden.

Das Schiff kam aus der rauchenden Kluft ins rauchende Sonnenlicht, und endlich hörten die kreischenden, berstenden Laute auf, zwischen der Erde und dem Schiff war Tageslicht.

Es war frei.

Es stieg höher und neigte sich, bis es wieder in der Horizontalen lag, drückte mit seinem unbekannten, unfaßbaren Gewicht Bäume nieder und ließ ihre Stämme aufplatzen. Harz sprühte wie dünne bernsteinfarbene Schleier in die Luft.

Es bewegte sich mit einer langsamen, schwerfälligen Eleganz durch den brennenden Tag und schnitt eine Schneise durch die Baumkronen wie ein Gärtner, der eine Hecke schneidet. Dann verharrte es schwebend, als wartete es auf etwas.

46

Jetzt war auch der Boden unter Gardener transparent geworden; er schien mitten in der Luft zu sitzen und auf die wabernden Rauchwolken hinabzusehen, die vom Wald emporstiegen und die Luft verdunkelten.

Das Schiff war zu neuem Leben erwacht - aber seines ging zu Ende.

Seine Hände tasteten nach dem Kopfhörer.

Scotty, dachte er, gehen wir auf Entweichgeschwindigkeit. Wir verlassen diese Disco.

Seine Gedanken stießen mit aller Kraft zu, und diesmal waren die Schmerzen heftig und faserig und übelkeiterregend.

Kernschmelze, dachte er vage, so. fühlt sich eine Kernschmelze an.

Er hatte das Gefühl von unglaublicher Geschwindigkeit. Eine Hand stieß ihn heftig auf das Deck, obwohl er keine vielfache Schwerkraft spürte; die Tommyknockers hatten offenbar eine Methode gefunden, sie zu vermeiden.

Das Schiff neigte sich nicht; es stieg einfach höher in die Luft.

Anstatt den ganzen Himmel zu verdecken, verdeckte es nur noch drei Viertel, dann die Hälfte. Es wurde im Rauch undeutlich, seine scharfkantige Metallwirklichkeit wurde verschwommen und traumartig.

Dann war es im Rauch verschwunden, zurück blieben die benommenen, leeren Tommyknockers, die versuchen mußten, die Beine in die Hand zu nehmen, bevor das Feuer sie erreichte. Es ließ die Tommyknok-kers zurück, die Lichtung, den Unterstand... und die Kluft, gleich einer schwarzen Öffnung, aus der ein giftiger Reißzahn herausgezogen wordenwar.

47

Gard lag auf dem Boden des Kontrollraums und sah in die Höhe. Der rauchige, verchromte Himmel verschwand. Er wurde wieder blau - das hellste, klarste Blau, das er je gesehen hatte.

Unvergleichlich, wollte er sagen, aber er brachte kein Wort heraus -nicht einmal ein Krächzen. Er schluckte Blut und hustete, wandte aber den Blick nicht von dem herrlichen Himmel ab.

Das Blau wurde zu Indigo... dann zu Purpur.

Bitte laß es_jetzt nicht aufhören ...

Purpur zu Schwarz.

Und jetzt sah er in dieser Schwärze die ersten harten Sterne funkeln.

Die Hupe plärrte erneut. Er verspürte neue Schmerzen, als das Schiff sich von ihm speiste, er hatte das Gefühl nochmals gesteigerter Ge -schwindigkeit, als wäre in einen höheren Gang geschaltet worden.

Wohin fliegen wir? dachte Gardener zusammenhanglos, dann über-

kam ihn die Schwärze, während das Schiff empcrstieg und der Erdatmosphäre so mühelo s entkam wie dem Boden, der es so lange festgehalten hatte. Wohin_fliegen ...?

Höher und höher, höher und höher - das Schiff stieg empor, und Jim Gardener, geboren in Portland, Maine, stieg mit ihm.

Er driftete durch schwarze Ebenen der Bewußtlosigkeit, und kurz bevor das letzte Erbrechen einsetzte - ein Erbrechen, das er nicht mehr wahrnahm -, hatte er einen Traum. Einen so wirklichkeitsnahen Traum, daß er lächelte, während er in der Schwärze lag, vom Weltraum umgeben, die Erde nichts weiter als eine blaugraue Murmel unter ihm.

Er hatte es überstanden - irgendwie hatte er es überstanden. Patricia McCardle hatte versucht, ihn zu brechen, aber es war ihr irgendwie nie gelungen. Jetzt war er wieder in Haven, und Bobbi kam die Verandatreppe herunter und über den Hof, um ihn zu begrüßen, und Peter bellte und wedelte mit dem Schwanz, und Gard nahm Bobbi und umarmte sie, denn es war schön, bei seinen _ freunden zu sein, schön, dort zu sein, wohin man gehörte... schön, einen sicheren Hafen zu haben, in den man einlaufen konnte.

Jim Gardener lag auf dem transparenten Boden des Kontrollraums, bereits mehr als hunderttausend Kilometer draußen im All, in einer Lache seines eigenen Blutes... und lächelte.

Epilog

Curl up, baby! Curl up tight!

Curl up, baby! Keep it all outta sight!

Undercover

Keep it all outta sight,

Linder cover ofthe night.

the rolling stones , »Undercover«

O every night and every day A little piece of you is _ falling away...

Toe your line andplay their game Let the anaesthetic cover it all Till one day they callyour name:

You're only waitingfor the hammer to fall.

queen, »Hammer to Fall«

1

Die meisten von ihnen kamen im Feuer um.

Nicht alle; hundert oder mehr erreichten die Lichtung nicht mehr, bevor sich das Schiff aus der Erde befreite und am Himmel verschwand. Einige, wie zum Beispiel Elt Barker, der von seinem Motorrad gestürzt war, erreichten es nicht, weil sie verletzt oder tot waren... Kriegsglück. Andere, wie Ashley Ruvall oder die alte Miss Timms, die am Dienstag und Donnerstag in der Stadtbibliothek Dienst tat, waren einfach zu spät dran oder zu langsam.

Es starben aber auch nicht alle, die die Lichtung erreichten. Das Schiff war in den Himmel gestiegen, und die schreckliche, aussaugende Kraft, die sie gepackt hatte, verschwand im Nichts, bevor das Feuer die Lichtung erreichte (obwohl zu dem Zeitpunkt bereits Funken auf sie herabregneten und zahlreiche Bäume am östlichen Rand brannten). Einigen gelang es, vor dem tobenden Feuer zu fliehen und weiter in den Wald zu taumeln oder zu hinken. Natürlich hatten die, die nach Westen gingen, kein Glück (zu denen gehörte Rosalie Skehan ebenso wie Frank Spruce und Rudy Barfield, der Bruder des verstorbenen und weitgehend unbe-weinten Pits), denn ihnen ging schließlich trotz des aufgekommenen Windes die Atemluft aus. Um der Feuerfront auszuweichen, mußten sie zuerst nach Westen gehen und sich dann nach Süden oder Norden wenden... ein Verzweiflungsspiel, bei dem die Strafe für das Scheitern nicht war, den Ball zu verlieren, sondern in den Big Injun Woods zu Asche verbrannt zu werden. Ein paar - nicht alle, aber ein paar -schafften es sogar.

Aber die meisten starben auf der Lichtung, wo Bobbi Andersen und Jim Gardener so lange und hart gearbeitet hatten. Sie starben nur wenige Schritte von dem leeren Loch entfernt, wo etwas begraben gewesen und dann herausgezogen worden war.

Sie waren brutal von einer Kraft mißbraucht worden, die viel größer war, als sie im zaghaften Frühstadium ihres »Werdens« ertragen konnten. Das Schiff hatte nach dem Netz ihrer Gedanken gegriffen und es benutzt, um dem schwachen, aber eindeutigen Befehl des Kommandan-

ten zu gehorchen, der den organisch-kybernetischen Schaltkreisen des Schiffes als ENTWEICHGESCHWINDIGKEIT übermittelt worden war. Das Wort ENTWEICHGESCHWINDIGKEIT stand nicht im Vokabular des Schiffes, aber das Konzept war klar gewesen.

Die Überlebenden lagen größtenteils bewußtlos am Boden, andere waren zutiefst benommen. Einige richteten sich auf, hielten sich stöhnend die Köpfe und schienen die Funken gar nicht zu bemerken, die um sie herumstoben. Ein paar, die sich der Gefahr bewußt waren, die aus dem Osten auf sie zukam, versuchten aufzustehen, kippten aber wieder um.

Einer von denen, die nicht wieder umfielen, war Chip McCausland, der an der Dugout Road wohnte, zusammen mit seiner ihm nicht angetrauten Ehefrau und schätzungsweise zehn Kindern; vor zwei Monaten und einer Million Jahren war Bobbi Anderson bei Chip gewesen, um Eierkartons für ihre wachsende Kollektion von Batterien zu besorgen. Chip torkelte wie ein Betrunkener über die Lichtung und fiel in die leere Kluft. Er schrie, bis er unten am Boden anlangte, wo er an Schädel-und Genickbruch starb.

Andere, die die Gefahr des Feuers erkannten und möglicherweise hätten entkommen können, beschlossen, es nicht zu versuchen. Das »Werden« war zu Ende. Es hatte mit dem Verschwinden des Schiffes aufgehört. Ihr Lebenszweck war ihnen genommen worden. Daher blieben sie einfach sitzen und warteten darauf, daß das Feuer verzehren würde, was von ihnen übrig war.

2

Bei Einbruch der Dunkelheit waren in Haven weniger als zweihundert Menschen am Leben. Der größte Teil der dichtbewaldeten Westhälfte der Stadt war verbrannt oder brannte noch. Der Wind nahm immer noch zu. Die Luft begann sich zu verändern, die verbleibenden Tommyknok-kers versammelten sich keuchend und mit verstörten Gesichtern in Hazel McCreadys Hof. Phil Golden und Bryant Brown setzten den großen Luftgenerator in Gang. Die Überlebenden drängten sich darum, wie sich einst Leute in einer bitterkalten Nacht um einen Herd gedrängt haben mochten. Ihr gequältes Atmen wurde allmählich leichter.

Bryant sah zu Phil.

Das Wetter von morgen?

Klarer Himmel, nachlassende Winde.

Marie stand daneben, und Bryant sah, wie sie sich entspannte.

Gut - das ist gut.

Und das war es auch - vorläufig. Aber der Wind würde nicht für den Rest ihres Lebens ausbleiben. Und nachdem das Schiff fort war, standen nur noch dieses Gerät und vierundzwanzig Lastwagenbatterien zwischen ihnen und dem Ersticken.

Wie lange? fragte Bryant, aber niemand antwortete. Man sah nur das Glitzern ihrer entsetzten, nichtmenschlichen Augen in der rotglühenden Nacht.

3

Am nächsten Morgen waren sie zwanzig weniger. In der Nacht war John Leandros Geschichte rund um die Welt gegangen, und zwar mit der Wucht eines Hammerschlags. Innen- und Verteidigungsministerium dementierten alles, aber die Fotos waren überzeugend... und niemand konnte den Nachrichtenstrom aus »informierten Kreisen« wie den verängstigten Einwohnern der angrenzenden Städte und den ersten Nationalgardisten eindämmen.

Die Abschirmung von Haven hielt, jedenfalls vorerst noch. Das Feuer war nach Newport gezogen, wo man es endlich unter Kontrolle gebracht hatte.

In der Nacht pusteten mehrere Tommyknockers ihre Gehirne heraus.

Poley Andrews schluckte Dran-O.

Phil Golden erwachte und stellte fest, daß Queenie, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet war, in Hazel McCreadys ausgetrockneten Brunnen gesprungen war.

An diesem Tag gab es nur vier Selbstmorde, aber die Nächte... die Nächte waren schlimmer.

Als die Armee ein paar Tage später schließlich nach Haven eindrang, wie unbegabte Einbrecher in einen gut gesicherten Safe, waren weniger als achtzig Tommyknockers übrig.

Justin Hurd erschoß einen dicken Armeesergeanten mit einem Kinderluftgewehr, das grünes Feuer versprühte. Der dicke Sergeant explodierte. Ein verängstigter E-4 in dem Spähwagen, der gerade an Cooder's Market vorbeiraste, richtete die Kaliber .50, hinter der er saß, auf Justin , Hurd, der vor dem Werkzeugladen stand und nur eine vergilbte lange Unterhose Marke Haines und seine orangefarbenen Arbeitsstiefel anhatte.

»Ich hab's den Murmeltieren gegeben!« schrie Justin. »Ichhabe es ihnen allen gegeben, den verdammten Arschlöchern, den ...«

Dann wurde er von ein paar Geschossen Kaliber .50 getroffen. Justin explodierte auch beinahe.

Der E-4 kotzte in seine Gasmaske und wäre fast darin erstickt, bevor ihm jemand eine neue aufsetzen konnte.

»Jemand soll diese Waffe holen!« brüllte ein Major durch ein elektri-ches Megaphon. Seine Maske dämpfte die Worte, machte sie aber nicht unverständlich. »Holt Sie, aber seid vorsichtig! Am Lauf anfassen! Ich wiederhole, seid extrem vorsichtig. Auf niemanden zielen.«

Auf jemanden zielen, würde Gardener gesagt haben, kam immer erst später.

4

Mehr als ein Dutzend wurden am ersten Tag der Invasion von ängstlichen, schießwütigen Soldaten niedergeschossen, von denen die meisten noch halbe Kinder waren, die die Tommyknockers von Haus zu Haus« verfolgten. Nach einer Weile ließ die Angst der Soldaten etwas nach. Am Nachmittag machte es den meisten sogar Spaß - sie waren wie Männer, die Kaninchen durch ein Getreidefeld trieben. Zwei weitere Dutzend wurden niedergeschossen, bevor die Armeeärzte und Genies aus dem Pentagon merkten, daß die Luft außerhalb von Haven für diese Gruselkabinett-Mutationen, die einst amerikanische Steuerzahler gewesen waren, giftig war. Aus der Tatsache, daß die eingedrungenen Soldaten die Luft in Haven nicht atmen konnten, hätte man eigentlich schließen müssen, daß das der F all war, aber in der ganzen Aufregung dachte keiner richtig nach (Gard hätte das nicht sonderlich überrascht).

Jetzt waren es nur noch an die vierzig. Die meisten waren verrückt; und diejenigen, die es nicht waren, wollten nicht reden. Auf dem Areal, das in Haven Village als Marktplatz galt, wurde eine behelfsmäßige Palisade errichtet- rechts neben dem turmlosen Rathaus. Dort hielt man sie eine weitere Woche eingesperrt, und in dieser Zeit starben vierzehn.

Die veränderte Luft wurde analysiert; die Maschine, die sie erzeugte, wurde sorgfältig studiert; die leeren Batterien wurden ersetzt. Wie Bobbi einmal vermutet hatte, brauchten die Genies nicht lange, um hinter die Mechanik der Geräte zu kommen, und die zugrundeliegenden Prinzipien wurden bereits am MIT, im Cal-Tech und in den Bell Labors untersucht, und zwar von Wissenschaftlern, denen vor Aufregung beinahe schlecht wurde.

Die verbleibenden sechsundzwanzig Tommyknockers, die wie die erschöpften, todkranken Überlebenden des letzten noch existierenden Apachenstammes aussahen, wurden in ihrer sorgsam kontrollierten Umwelt im Frachtraum eines C-140 Starlifters zu einer Regierungsinstitution in Virginia geflogen. Diese Institution hieß der Shop und war einmal von einem Kind bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden. Dort wurden sie studiert, und dort starben sie, einer nach dem anderen.

Die letzte Überlebende war Alice Kimball, die Lehrerin, die eine Lesbe war (eine Tatsache, die Becka Paulson an einem heißen Julitag von Jesus erfahren hatte). Sie starb am 31. Oktober... Halloween.

5

Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Queenie Golden auf dem Rand von Hazels ausgetrocknetem Brunnen stand und sich bereit machte, zu springen, betrat eine Schwester Hilly Browns Zimmer, um nach dem Jungen zu sehen, bei dem sie im Lauf der letzten Tage schwache Anzeichen dafür entdeckt hatten, daß er das Bewußtsein wiedererlangte.

Sie betrachtete stirnrunzelnd das Bett. Es konnte nicht sein, daß sie das sah, was sich vor ihren Augen befand - es war eine Illusion, ein doppelter Schatten, vom Licht im Korridor an die Wand geworfen...

Sie schaltete das Zimmerlicht ein und kam näher heran; Sie klappte den Mund auf. Es war keine Illusion gewesen. Es waren zwei Schatten an der Wand, weil zwei Jungen im Bett lagen. Sie schliefen und hatten die Arme umeinander geschlungen.

»Was... ?«

Sie ging noch einen Schritt näher, und ihre Hand glitt unbewußt zu dem Kruzifix, das sie um den Hals trug.

Einer war natürlich Hilly Brown, dessen Gesicht mager und verfallen aussah und dessen Arme nicht dicker waren als Streichhölzer, die Haut fast so weiß wie der Krankenhausschlafanzug.

Den anderen Jungen, der noch sehr klein war, kannte sie nicht. Er hatte eine kurze Hose und ein T-Shirt an, auf dem SIE NENNEN MICH DR. LOVE stand. Seine Füße waren schwarz vor Schmutz... und etwas an diesem Schmutz kam ihr unnatürlich vor.

»Was... ?« flüsterte sie noch einmal, und der kleinere Junge regte sich und schlang die Arme enger um Hillys Hals. Seine Wange ruhte auf Hillys Schulter, und sie erkannte mit einer Art Bestürzung, daß sich die Jungen sehr ähnlich sahen.

Sie kam zu dem Ergebnis, daß sie Dr. Greenleaf informieren mußte. Sofort. Sie wollte kehrtmachen, ihr Herz klopfte schnell, eine Hand umklammerte immer noch das Kruzifix... und dann sah sie etwas, das völlig unmöglich war.

»Was... ?« flüsterte sie zum dritten und letzten Mal. Sie hatte die Augen weit aufgerissen.

Noch mehr von diesem seltsamen schwarzen Schmutz. Auf dem Boden. Fußspuren auf dem Boden. Sie führten zum Bett. Der kleine Junge war zum Bett gegangen und hatte sich hineingelegt. Die Ähnlichkeit der beiden Jungen deutete darauf hin, daß es sich um Hillys verschollenen - und seit langem für tot gehaltenen - kleinen Bruder handelte.

Die Fußspuren kamen nicht aus dem Flur. Sie fingen mitten auf dem Fußboden an.

Als wäre der kleine Junge aus dem Nichts gekommen.

Die Schwester rannte aus dem Zimmer und schrie nach Dr.

Greenleaf.

6

Hilly Brown schlug die Augen auf.

»David?«

»Sei still, Hilly, ich schlafe.«

Hilly lächelte, er war nicht sicher, wo er war, was für ein Tag es war, er wußte nur, daß vieles nicht in Ordnung gewesen war - und auch, daß das alles keine Rolle mehr spielte, weil jetzt alles gut war. David war da, er lag warm und greifbar an seiner Seite.

»Ich auch«, sagte Hilly. »Morgen müssen wir G. I. Joes tauschen.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Aber wir müssen es tun. Ich habe es versprechen

»Wann?«

»Keine Ahnung.«

»Solange ich Crystal Ball bekomme«, sagte David und machte es sich

in Hillys Armbeuge bequemer.

»Okay.«

Schweigen. In der Schwesternstation am Ende des Korridors herrschte helle Aufregung, aber hier war nur Stille und die Wärme der beiden Jungen.

»Hilly?«

»Was?« murmelte Hilly.

»Es war kalt da, wo ich war.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Jetzt besser?«

»Besser. Ich hab' dich sehr lieb, Hilly.«

»Ich dich auch, David. Es tut mir leid.«

»Was?«

»Keine Ahnung.«

»Oh.«

Davids Hand tastete nach der Decke, fand sie und zog sie hoch. Hundertfünfzig Millionen Kilometer von der Sonne und hundert Parsec vom galaktischen Nordpol entfernt lagen Hilly und David Brown einander in den Armen und schliefen.

19. August 1982 -19. Mai 1987

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