»Und?« fragte Stanley verständnislos. »Sie haben nicht zugehört, mein lieber Freund«, sagte Winterfeld lächelnd. »Der Trick ist, daß es hiernicht kalt genugist. Aber das wird es, so oder so. Ein Vulkanausbruch dieser Größe wird Millionen Tonnen Staub in die Stratosphäre schleudern. Für Wochen, vielleicht für Monate, wird die Sonne nicht mehr scheinen. Und Dunkelheit bedeutet Kälte. Wäre es hier nur ein wenig kälter, würde das Wasser zu Eis gefrieren, ehe es sinken könnte. Der unterseeische Wasserfall würde aufhören zu fließen. «

»Und damit der Golfstrom abreißen«, flüsterte Brockmann. »Europa würde eine neue Eiszeit erleben. «

»Ja«, bestätigte Winterfeld. »Ich maße mir nicht an, die Welt umbauen zu können. Früher oder später wird die Natur die alte Ordnung wiederherstellen, dessen bin ich sicher. « »Es wird ein sehr langer und sehr kalter Winter werden – nach meinen Berechnungen zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Nicht länger. Aber das ist lange genug, um diesen Irrsinn zu beenden. « »Wissen Sie eigentlich, was Sie da reden?« fragte Trautman. Seltsamerweise war seine Stimme ohne jeden Vorwurf. Er klang einfach nur müde – und so, als wisse er genau, wie wenig seine Worte nutzen konnten. »Sie sprechen vom Ende unserer Zivilisation. Zumindest in der Form, wie wir sie kennen. Keine Nation in Europa kann eine Eiszeit überstehen, selbst wenn sienurfünfzehn Jahre andauert. «

»Und wenn?« fragte Winterfeld. »Welches Recht zum Überleben hat eine Zivilisation, deren ganzes Streben darin besteht, immer neue und immer schrecklichere Waffen zu erfinden, mit der sie sich noch schneller selbst auslöschen kann?«

»Und welches Recht haben Sie, über das Schicksal von Millionen Menschen zu entscheiden?« fragte Serena.

Winterfeld starrte sie an, aber Serena hielt seinem Blick ruhig stand, und schließlich war es Winterfeld, der das stumme Duell verlor. Mit einem Ruck senkte er den Blick.

»Mein Entschluß steht fest«, sagte er. »Ich werde diesen Krieg beenden, so oder so. Ihr könnt mir dabei helfen und mit ziemlicher Sicherheit mit dem Leben davonkommen oder es nicht tun und mit großer Wahrscheinlichkeit sterben. « Er atmete hörbar ein, sah wieder auf und blickte herausfordernd von einem zum anderen. »Ich wiederhole mein Angebot ein letztes Mal«, sagte er. »In zwei Stunden erreichen wir die Position der anderen Schiffe, und morgen früh, bei Sonnenaufgang, beginnen wir damit, sie zu versenken. Es ist eure Entscheidung, ob ihr dann in einem Rettungsboot der LEO-POLD sitzen und vor dem Vulkan fliehen werdet oder an Bord der NAUTILUS. «

»So ganz verstanden habe ich das alles nicht«, gestand Chris, als sie wieder zurück in ihrer Kabine waren. »Das... das kann doch alles überhaupt nicht wahr sein. «

»Ich fürchte doch«, antwortete Trautman düster. Er hatte damit begonnen, wie ein gefangener Tiger in der Kabine auf und ab zu gehen, und er sah Chris auch nicht an, als er ihm antwortete, sondern starrte kopfschüttelnd ins Leere. Selbst seine Hände bewegten sich unentwegt, als könnte er sie nicht mehr still halten. »Ich habe geahnt, daß er etwas Verrücktes vorhat, schon als ich die Karten an seinen Wänden gesehen habe. Aber das –«

»Ist vollkommener Unsinn!« behauptete Stanley. »Kein Mensch auf der Welt ist in der Lage, eine neueEiszeitauszulösen. «

Trautman hielt in seinem ruhelosen Herumgehen inne und sah Stanley fast feindselig an. »Sie haben doch gehört, was er gesagt hat«, sagte er. »Sind Sie wirklich so dumm, oder haben Sie einfach nur Angst davor, zuzugeben, daß er recht haben könnte?« »Vielleicht gelingt es ihm ja nicht, eine neue Eiszeit heraufzubeschwören, «, sagte Brockmann, »aber auf jeden Fall wird er eine unvorstellbare Katastrophe hervorrufen, bei der Tausende von Menschen ums Leben kommen können. Wir müssen ihn aufhalten. « »Ein famoser Plan«, sagte Stanley hämisch. »Und wie?« »Das weiß ich nicht«, gestand Brockmann. »Aber irgendwiemußes gelingen. «

»Wir könnten zum Schein auf sein Angebot eingehen«, schlug Juan vor. »Ihr habt gehört, was er gesagt hat. Er braucht die NAUTILUS. Und ich glaube ihm kein Wort, wenn er behauptet, selbst damit zurechtzukommen. « »Winterfeld ist seit dreißig Jahren Seemann«, sagte Brockmann.

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Juan überzeugt. »Die NAUTILUS ist mit nichts zu vergleichen, was Sie kennen. Sie ist viel komplizierter als irgendein anderes Schiff auf der Welt. Er braucht uns. Wenn das nicht so wäre, würde er sich keine

solche Mühe geben, uns zur Mitarbeit zu überreden. «

Trautman schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich muß dich enttäuschen, Juan«, sagte er. »Sicherlich wird er die NAUTILUS niemals so beherrschen wie wir. Aber das muß er auch nicht. Er muß nur ein einziges Mal auf den Meeresgrund hinuntertauchen – und das ist sogar relativ einfach. Vergiß nicht, daß die NAUTILUS sich zum Großteil selbst steuert. «

»Dann ist es um so wichtiger, daß jemand von uns an Bord ist!« sagte Ben. »Juan hat recht – wir gehen zum Schein auf sein Angebot ein, und im richtigen Moment –« »Winterfeld ist kein Dummkopf«, unterbrach ihn Mike. »Er wird ganz genau damit rechnen und entsprechende Vorkehrungen treffen. «

»Das stimmt«, sagte Brockmann.»Ichwürde jedenfalls so handeln. «

»Na wunderbar«, sagte Stanley. »Dann können Sie uns ja vielleicht auch sagen, wie wir diesen Verrückten aufhalten?«

Brockmann würdigte ihn keiner Antwort. Er spürte wohl, daß Stanleys Feindseligkeit nicht ihm galt, sondern nur ein Ausdruck seiner Hilflosigkeit war. Und trotz allem, was Stanley ununterbrochen versicherte, wußte er wohl im Grunde ganz genau, daß Winterfelds Vorhabennichtso aussichtslos und verrückt war, wie er es gerne gehabt hätte.

»Aber erkanndoch keinen Erfolg haben, oder?« fragte Chris noch einmal. Seine Stimme zitterte ein bißchen, und seine Augen waren groß vor Angst. Er blickte Trautman an, und es war klar, daß er diese Frage nur gestellt hatte, damit Trautman sie verneinte. »Ich weiß es nicht«, gestand Trautman, nachdem er Chris wortlos und sehr ernst angesehen hatte. »So wie die Dinge liegen, ist alles möglich. Im besten Fall gibt es nur einen großen Knall und sonst nichts. Aber im schlimmsten könnte sein Plan aufgehen. Und das würde eine unvorstellbare Katastrophe bedeuten. « »Und welche?« erkundigte sich Serena. Sie war die einzige, die kaum Anzeichen von Schrecken gezeigt hatte, und ihre Frage klang auch jetzt eher interessiert als ängstlich.

»Genaukann das niemand voraussagen«, antwortete Trautman. »Wenn der Golfstrom abreißt, würde es in Europa eisig kalt werden. Und das ist nicht einmal das schlimmste. Hinzu käme die Rauch-und Aschewolke des Vulkans, den Winterfeld zum Ausbruch bringen will. Unter Umständen könnte monatelang die Sonne nicht scheinen. Es wäre möglich, daß ganz Europa einen zehn Jahre langen Winter erlebt. Den härtesten Winter, den du dir nur vorstellen kannst. England, Irland, ganz Skandinavien und vielleicht sogar ein Teil des europäischen Festlandes würden im wahrsten Sinne des Wortes unter einem Eispanzer verschwinden. Die Nordsee würde zufrieren und die meisten Flüsse ebenso. « Er seufzte. »Ja, Winterfeld könnte sein Ziel erreichen – der Krieg wäre zu Ende. « »Und wenn er nun recht hat?« fragteSerena. »Ich meine, wenn es wirklich das kleinere Übel wäre?« Alle starrten sie bestürzt an, aber Serena fuhr in nachdenklichem Ton fort. »Ich weiß noch immer nicht viel von eurer Welt und euren Sitten, aber das, was ich bisher erlebt habe, das erschreckt mich manchmal. Die Menschen töten sich gegenseitig und

nicht nur einige wenige, sondern Tausende. In meiner Welt wäre das

unvorstellbar gewesen. Wäre es so schlimm, sie daran zu

hindern?«

»Auf diese Weise, ja«, antwortete Trautman ernst. »Wenn geschieht, was Winterfeld hofft, wäre nicht nur der Krieg beendet. Millionen Menschen würden erfrieren und verhungern, Serena. Unsere Kultur mag weit entwickelt sein, aber sie ist auch sehr empfindlich. Manchmal reicht schon ein einziger harter Winter, um die Versorgung eines Landes zusammenbrechen zu lassen. Eine einzige schlechte Ernte führt bereits zu Hungersnöten, und manchmal kostet ein einziges Unwetter schon Hunderte von Menschenleben. Wir halten uns nur zu gerne für die Herren der Welt, aber die Wahrheit ist, daß wir den Naturgewalten kaum weniger ausgesetzt sind als unsere Vorfahren. « »Sie würden nicht aufhören, sich zu bekämpfen«, sagte Mike. »Die Menschen würden nicht mehr aufeinander schießen, weil man es ihnen befiehlt. Aber sie würden es tun, weil sie Hunger haben. Selbst wenn Winterfeld Erfolg hat, macht er alles nur noch schlimmer. Es gibt nur eine andere Art von Krieg – nicht mehr Nation gegen Nation, sondern Nachbar gegen Nachbar und Bruder gegen Bruder. Auch wenn er recht hat und es nur fünf Jahre dauert – Europa würde hinterher nicht mehr existieren. «

Serena sah ihn an. Sie antwortete nicht, aber Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Sie wirkte plötzlich sehr traurig, aber da war noch etwas anderes in ihrem Blick, etwas, was Mike seltsam berührte und ihn mit einem Gefühl der Scham erfüllte, das er im ersten Moment nicht verstand.

Es war nicht das erste Mal, daß er sich fragte, wie Serena seine Welt wirklich sah. Sie waren jetzt so lange zusammen, daß er manchmal zu vergessen begann, was Serenawirklichwar, aber in Augenblicken wie diesen wurde es ihm immer wieder bewußt und meist auf sehr schmerzhafte Weise. Ganz plötzlich begriff er, daß das wenigste, was er Serena bisher von seiner Welt gezeigt hatte, gut gewesen war. Sie war als Prinzessin und zukünftige Herrscherin einer Welt des Friedens und der Eintracht in ihren gläsernen Sarg gestiegen, und sie hatte sich in einer Zukunft wiedergefunden, die fast ausschließlich aus Gewalt, aus Haß, aus Furcht und Neid bestand – zumindest war es das, was sie im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder erlebt hatte. »Aber wenn das so ist, warum tut er es dann?« fragte Serena. »Er muß doch wissen, was geschieht!« »Ich fürchte, in einem Punkt hatte Kapitän Stanley recht«, sagte Mike. »Winterfeld hat den Verstand verloren. Ich glaube, daß Pauls Tod ihn innerlich zerbrochen hat. Er will nur noch den Krieg beenden, weil er ihm seinen Sohn genommen hat, und es ist ihm völlig egal, um welchen Preis. «

Ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichte die LEOPOLD die Position, an der die anderen Schiffe auf sie warteten. Es waren sieben vollkommen unterschiedliche Schiffe

– zwei gewaltige Frachter, die beinahe die Abmessungen der LEOPOLD selbst hatten, aber auch eine Anzahl kleinerer Schiffe, alle deutscher, britischer und französischer Abstammung. Winterfeld hatte sie wieder aus ihrer Unterkunft holen lassen, empfing sie aber jetzt nicht in seiner Kabine, sondern an Deck. Angesichts der Kälte und des schneidenden Windes hatten sie sich alle in die warmem Felljacken gehüllt, die ihnen Winterfelds Soldaten ausgehändigt hatten, und auch ihre Bewacher waren der Witterung angemessen gekleidet. Nur Winterfeld selbst trug nichts als eine weiße Paradeuniform, von der er, ebenso wie von allen anderen Kleidungsstücken, die er besaß, seine militärischen Rangabzeichen entfernt hatte.

Er mußte in dem dünnen Stoff erbärmlich frieren, aber er ließ sich nichts davon anmerken, sondern empfing sie in tadelloser Haltung und stand fast eine Minute vollkommen reglos da, während sein Blick aufmerksam über das Gesicht jedes einzelnen glitt. Und schon ein einziger Blick in seine Augen machte Mike klar, daß ihre Diskussion von soeben vollkommen sinnlos gewesen war: Es hätte überhaupt keinen Zweck, Winterfeld belügen zu wollen. Er würde es sofort erkennen. »Nun?« begann er. »Haben Sie sich entschieden? Mister Stanley?«

»Gehen Sie zum Teufel«, sagte Stanley grob. Winterfeld lächelte, deutete ein Achselzucken an und wandte sich an seinen deutschen Kameraden, um ihm dieselbe Frage zu stellen. Von ihm bekam er erst gar keine Antwort. Er ging auch darauf mit keinem Wort ein, sondern drehte sich zu Trautman herum. »Ich hoffe, Sie sind etwas vernünftiger als meine geschätzten Kollegen«, sagte er. »Bitte bedenken Sie, daß Sie nicht nur überIhrLeben entscheiden, sondern auch über das der Kinder. « »Lassen Sie sie gehen«, sagte Trautman, ohne dabei direkt auf Winterfelds Frage zu antworten. »Ich beschwöre Sie, Winterfeld – verschonen Sie sie! Ich bleibe hier, und Sie können mit mir machen, was Sie wollen, aber lassen Sie die Kinder gehen!«

»Alswasbleiben Sie hier?« erkundigte sich Winterfeld. »Als mein Gefangener oder als Steuermann der NAUTILUS?«

»Nein«, sagte Serena, ehe Trautman antworten konnte. »Diese Aufgabe werde ich übernehmen. « Mike starrte sie ungläubig an. Ein Gefühl, das beinahe an Entsetzen grenzte, begann sich in ihm breitzumachen. Für einen Moment weigerte er sich einfach, zu glauben, was er gehört hatte. Und auchdie anderen blickten Serena mit einer Mischung aus Überraschung, Staunen und Erschrecken an. Selbst Winterfeld verlor für einen Augenblick seine Fassung. »Wie?« fragte er.

»Ich werde die NAUTILUS steuern«, wiederholte Serena. »Unter der Bedingung, daß Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Mike und den anderen nichts geschieht. « »Nie und nimmer!« sagte Mike impulsiv. »Das lasse ich nicht zu! Nicht du!«

Und das war das Falscheste, was er in diesem Moment überhaupt hatte sagen können. Er begriff es im selben Moment, in dem er die Worte aussprach, aber es war zu spät. Winterfelds Blick wanderte von ihm zu Serena und wieder zurück, und Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirnklickmachte. »So ist das also«, sagte er und lächelte. »Ja, ich hätte eigentlich schon von selbst darauf kommen müssen. Die Art, wie ihr euch anseht und miteinander umgeht... « Er lächelte noch breiter, wandte sich wieder an Serena und schüttelte den Kopf.

»Dein Angebot freut mich, aber ich fürchte, ich kann es nicht annehmen. « »Wieso?« fragte Serena.

»Weil ich dir nicht traue«, antwortete Winterfeld offen. »Siehst du, ich weiß sehr wohl, was du bist – und wozu dufähigbist. Immerhin hast du es mir schon einmal auf sehr drastische Weise bewiesen. Ich möchte wirklich nicht gerne allein mit dir auf einem Schiff sein. « »Aber Serena ist gar nicht mehr –« begann Chris, wurde aber sofort von Trautman unterbrochen: »Nicht mehr so unbeherrscht wie früher. « Er warf Chris einen beschwörenden Blick zu. Winterfeld glaubte ja noch immer, daß Serena im Besitz ihrer magischen Kräfte war, mit denen sie einst in der Lage gewesen war, ganze Stürme zu entfesseln. Und sie waren übereingekommen, ihn in diesem Glauben zu belassen. »Das glaube ich gerne«, antwortete Winterfeld. »Trotzdem – ich selbst weiß am besten, wozu verzweifelte Menschen imstande sind. Nein, ich fürchte, ich kann dein Angebot nicht annehmen. Aber du wirst an ihrer Stelle auf die NAUTILUS gehen. « Er deutete auf Mike.

»Was?« machte Mike überrascht. »Ich? Niemals!«

»O doch«, antwortete Winterfeld. »Du wirst es tun, weil du das Leben deiner Freunde retten willst. «

Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die kleine Flotte, die in einer Reihe neben der LEOPOLD lag. »Es ist alles vorbereitet. Alles, was ich von dir verlange, ist, ein einziges Mal mit der NAUTILUS auf den Meeresgrund hinabzutauchen. Sobald wir zurück sind, übergebe ich euch euer Schiff, und ihr könnt euch in Sicherheit bringen. Deine Freunde werden inzwischen hier auf uns warten. «

»Und wenn ich mich weigere?« fragte Mike herausfordernd.

Winterfeld zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Das wirst du nicht«, sagte er. »Und selbst wenn – es würde nichts ändern. Die Schiffe werden in zehn Stunden, von jetzt an gerechnet, versenkt und gesprengt – ob die NAUTILUS zurückkehrt oder nicht. Deine Freunde würden sich dann allerdings in einem kleinen Rettungsboot wiederfinden, von dem ich, ehrlich gesagt, nicht glaube, daß es die Katastrophe heil übersteht. Du siehst also, es liegt ganz bei dir. « »Das ist Erpressung«, sagte Mike. »Wenn du es so nennen willst. « Winterfeld zuckte abermals mit den Schultern. »Ich nenne es ein Geschäft. Und nun würde ich vorschlagen, daß wir nicht noch mehr kostbare Zeit verlieren, sondern uns an die Arbeit machen. «

»Jetzt?« fragte Mike überrascht.

»Warum nicht? Es gibt keinen Grund mehr, länger zu warten. Im Gegenteil. Unsere Zeit ist reichlich knapp. « Mikes Gedanken überschlugen sich – obwohl er im Grunde bereits wußte, daß ihm gar keine andere Wahl mehr blieb, als auf Winterfelds Forderung einzugehen. Verzweifelt wandte er sich an Serena. »Warum hast du das getan?« fragte er. »Er hätte uns niemals zwingen können, ihm zu helfen!« »Aber das kann er doch auch jetzt noch nicht«, antwortete Serena verwirrt. »Wo ist denn der Unterschied?« »Der Unterschied ist«, sagte Winterfeld, »daß dein Freund jetzt auf jeden Fall überleben wird. Ich glaube, ihr wärt in der Lage gewesen, alle zusammen in den Tod zu gehen, nur um mich aufzuhalten, aber nun... « »Das können wir immer noch!« sagte Ben entschlossen. »Nein«, widersprach Winterfeld. »Ihr vielleicht – aber er nicht. Und genau aus diesem Grund wird er mir helfen. « Er wandte sich mit einem grausamen Lächeln wieder an Mike. »Oder?« fragte er. »Ich müßte mich sehr in dir täuschen, wenn du wirklich mit dem Wissen weiterleben könntest, schuld am Tod deiner Freunde zu sein. «

»Sie... Sie Ungeheuer«, sagte Trautman. »Ich dachte bisher, daß Sie vielleicht verrückt sind, aber trotzdem noch einen Funken Anstand im Leib haben. Aber ich scheine mich getäuscht zu haben. «

»Ja, das scheint wohl so«, sagte Winterfeld gelassen. »Also – gehen wir. «

Trotz allem war es ein beruhigendes und sehr wohltuendes Gefühl, wieder an Bord der NAUTILUS zu sein. Wie seine Freunde hatte Mike die letzten anderthalb Jahre zum größten Teil auf dem Tauchboot verbracht, und das Schiff war für ihn die Heimat geworden, die er niemals gehabt hatte. Das leise Surren der Motoren, das Rauschen des Wassers, das am stählernen Rumpf der NAUTILUS vorbeiglitt, und das beständige leise Knistern und Knacken, mit dem das Schiff auf den allmählich ansteigenden Wasserdruck reagierte, das waren für ihn vertraute Geräusche, mit denen das Schiff ihn nach tagelanger Abwesenheit zu begrüßen schien. Nicht einmal Winterfelds Männer, die allgegenwärtig zu sein schienen, konnten daran etwas ändern. Ganz langsam glitt die NAUTILUS in die Meerestiefe hinab. Vor dem großen Aussichtsfenster war noch ein blasser Schimmer von dunkelgrünem Licht zu sehen, der aber allmählich schwächer wurde. Das Schiff näherte sich den Bereichen des Meeres, in die das Sonnenlicht nicht mehr hinuntertraf. Unter ihnen lag nichts als ein schwarzer, Tausende von Metern tiefer Abgrund, in dem ewige Nacht herrschte – aber keineswegs Ruhe.

Noch merkte man es dem Schiff nicht an, aber die Werte, die Mike auf den Instrumenten des Kontrollpultes ablas, machten ihm klar, daß Winterfelds Theorie stimmte – sie näherten sich einem Bereich, in dem ein enormer Sog herrschte. Rings um sie herum stürzte das Wasser regelrecht in die Tiefe. Und die Gewalt dieser unterseeischen Strömung nahm rasch zu. Mike machte sich keine Sorgen um die NAUTILUS – sie waren schon auf viel heftigere Strömungen und Wirbel gestoßen und würden auch damit fertig werden – aber er begann zu ahnen, daß Winterfelds Plan, so verrückt er ihm auch immer noch vorkam, vielleicht aufgehen mochte. Zumindest einTeilseiner Theorie stimmte. Und wenn der Rest auch zutraf...

Nein, daran wollte er lieber gar nicht erst denken.

Solltest du aber,sagte eine Stimme in seinen Gedanken.Ehrlich gesagt habe ich nur die Hälfte von dem, was du mir erzählt hast, kapiert. Aber wenn es tatsächlich das bedeutet, von dem ich annehme, daß es es bedeutet, dann habt ihr Probleme.

Mike löste seinen Blick kurz von den Steuerinstrumenten und sah Astaroth an. Der einäugige schwarze Kater hatte es sich auf seinem Schoß bequem gemacht und schnurrte wohlig; vor allem, weil Mike von Zeit zu Zeit eine Hand von den Kontrollinstrumenten löste und ihn zwischen den Ohren kraulte. Von Astaroths penetranter Weigerung, sich wie ein Haustier behandeln undstreichelnzu lassen, war nicht mehr viel geblieben. Ganz im Gegenteil – der Kater war regelrecht über Mike hergefallen, als dieser an Bord gekommen war, und hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis er ihn ausgiebig gestreichelt und begrüßt hatte. Mike hütete sich, eine entsprechende Frage zu stellen, aber er nahm an, daß Winterfelds Leute ihn nicht besonders gut behandelt hatten – oder daß er schlichtweg einsam gewesen war. Zwar war er zusammen mit Isis in einer Kabine eingesperrt gewesen, aber Isis war trotz allem nur eine ganz normale Katze, während Astaroth zweifellos ein denkendes, hochintelligentes Wesen war, das nuraussahwie eine gewöhnliche Katze.

Dashaben wir,antwortete Mike auf dieselbe lautlose Weise. Er war nicht allein im Salon der NAUTILUS, und bisher hatte offenbar noch niemand hier gemerkt, was Astaroth wirklich war. Und das sollte nach Möglichkeit auch so bleiben.

Vor allem ich. Ich verstehe Serena nicht. Warum hat sie das nur getan? Vielleicht, um am Leben zu bleiben?schlug Astaroth vor.

Kaum,antwortete Mike.Sie weiß ebensogut wie ich, was geschieht, wenn Winterfeld Erfolg hat. Sie würde niemals Millionen von Menschenleben opfern, um sich zu retten.

Aber vielleicht, um dich zu retten, Dummkopf,sagte Astaroth.

»Wie meinst du das?« Mike starrte den Kater überrascht an. Zwei der Männer neben ihm sahen auf und runzelten verwirrt die Stirn, denn Mike hatte die Worte laut ausgesprochen, so daß er hastig und noch lauter hinzufügte: »Wenn du das noch einmal machst, fliegst du runter. Ich lasse mich nicht beißen. «Gut reagiert,sagte Astaroth.Abgesehen davon, daß sie dich jetzt für verrückt halten, mit einer Katze zu sprechen.

Was hast du damit gemeint?beharrte Mike, nun wieder lautlos, aber mit noch größerem Nachdruck.

Genau das, was ich gesagt habe,antwortete Astaroth.Außerdem weißt du es ganz genau. Also stell dich nicht noch dümmer an, als du sowieso schon bist. Und wenn du es genau wissen willst – ich bin ziemlich sicher, daß sie Winterfeld nicht geholfen hätte. Sondern?

Sondern, sondern,maulte Astaroth.Muß man dir eigentlich jeden Gedanken vorkauen? Was denkst du wohl, hatte sie an Bord des Schiffes vor? Winterfeld helfen? Bestimmt nicht. Aber was denn sonst?

Ich bin nicht sicher,antwortete Astaroth,aber ich denke daran, daß es an Bord der NAUTILUS eine Selbstvernichtungsanlage gibt. Wie? fragte Mike erschrocken.

Ehe du fragst – ich habe keine Ahnung, wie sie funktioniert. Aber ich weiß, daß sie existiert. Ein Druck auf einen bestimmten Knopf – und peng. Kein Winterfeld und keine Eiszeit mehr.

Und keine Serena,dachte Mike. Die Worte waren nicht für Astaroth bestimmt, und der Kater antwortete auch nicht, aber er sah Mike aus seinem einen, gelbleuchtenden Auge sehr ernst an. Mike verspürte ein eisiges Frösteln – und abermals ein Gefühl von Scham, als er daran dachte, daß er Serena tatsächlich verdächtigt hatte, aus Angst gehandelt zu haben. Das genaue Gegenteil war der Fall. Das mußte die Erklärung sein: sie hatte vorgehabt, die NAUTILUS zu zerstören, sobald sie zusammen mit Winterfeld an Bord war. »Ich will nicht drängeln«, drang eine Stimme in seine Gedanken, »aber wir sind bereits ziemlich tief. Solltest du dich nicht lieber um das Schiff kümmern, statt mit der Katze zu spielen?«

Mike fuhr erschrocken auf und blickte in Winterfelds Gesicht. Er hatte nicht gemerkt, daß der Kapitän der LEOPOLD hinter ihm aufgetaucht war. Erschrocken fragte er sich, ob und wieviel dieser von seinem stummen Zwiegespräch mit Astaroth mitbekommen hatte – und ob er gar Verdacht geschöpft haben könnte, daß der Kater mehr war als das, wonach er aussah.Hat er nicht,beruhigte ihn Astaroth.Aber jetzt tu lieber, was er dir sagt, ehe er doch noch etwas merkt. Und über das, was er gerade über mich denkt,fügte er nach einer Sekunde hinzu,werde ich mich später mit diesem Herrn unterhalten. Unter drei Augen, gewissermaßen.

Winterfeld schüttelte den Kopf und seufzte. »Der Kater scheint dich vermißt zu haben«, meinte er. »Meine Leute sagen, daß er sich wie toll gebärdet hat. Sie wollten ihn schon über Bord werfen. Ich möchte nur wissen, was ihr alle an diesem häßlichen Tier findet. «

»Er gehört eben zu uns«, sagte Mike rasch. Ebenso rasch wandte er seine Konzentration wieder den Instrumenten vor sich zu. »Wir sind schon sehr tief«, sagte er. »Es kann nicht mehr lange dauern. Sie sollten mir allmählich sagen, wohin ich überhaupt fahren soll. «

»Einfach nur nach unten«, antwortete Winterfeld. »Wenn meine Karten stimmen, müssen wir uns unmittelbar über dem Vulkan befinden. Aber ich muß sichergehen. Wenn die Schiffe nicht präzise im Krater explodieren, ist alles umsonst. «

Mike ersparte es sich, darauf zu antworten. Es hatte keinen Sinn, mit Winterfeld zu diskutieren. Einen Moment lang spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, den Kurs der NAUTILUS ganz unmerklich zu ändern. Hier unten herrschte stockfinstere Nacht. Sie konnten eine halbe Meile an dem Vulkan vorbeifahren, den Winterfeld auf dem Meeresgrund vermutete, ohne ihn auch nur

zu sehen. Und wenn er nicht fand, wonach er suchte, gab er

seinen verrückten Plan vielleicht auf.

Vergiß es,sagte Astaroth.Er würde es merken. Er rechnet damit, daß du genau das tust, weißt du? Ichweiß gar nicht, warum ihr ihn für verrückt haltet. Er ist ziemlich klug.

Und trotzdem ziemlich verrückt,antwortete Mike.Auch nicht mehr als ihr alle,sagte Astaroth patzig.Nur auf eine andere Art. Übrigens – interessiert es dich, daß er vorhat, sein Wort zu halten? Er wird euch gehen lassen.

Das überraschte Mike nicht im mindesten. Man konnte gegen Winterfeld sagen, was man wollte – er war trotz allem ein Mann von Ehre.

Immer tiefer und tiefer glitten sie in das Meer hinab. Der Sog wurde nun so stark, daß die NAUTILUS spürbar zu zittern begann, und die Motoren dröhnten lauter, da sie sich stärker gegen die Strömung stemmten, die das Schiff mit sich in die Tiefe reißen wollte. Winterfeld sagte jetzt nichts mehr, aber er stand die ganze Zeit hinter Mike und beobachtete sehr aufmerksam, was dieser tat, und nach einer Weile gesellten sich noch zwei von seinen Ingenieuren hinzu, die sich eifrig Notizen machten oder in aufgeregtem Flüsterton miteinander sprachen.

Mike schätzte, daß auf diese Weise eine gute halbe Stunde verging. Sie hatten den Meeresboden nun fast erreicht und somit eine Tiefe, die auch für die NAUTILUS beinahe die Grenzen dessen darstellte, was sie aushalten konnte.

Auch Winterfeld zollte den Fähigkeiten der NAUTILUS gebührenden Beifall. »Phantastisch!« sagte er. »Das ist ... unglaublich, weißt du das eigentlich? Jedes auch nur vorstellbare Unterseeboot wäre schon bei einem Bruchteil dieses Wasserdrucks einfach zermalmt worden. Ich glaube, so etwas können wir selbst in hundert Jahren noch nicht bauen!«

»Wenn Sie mit Ihrem Plan Erfolg haben, können wir es vielleicht nie«, sagte Mike bitter, aber Winterfeld schien die Worte überhaupt nicht gehört zu haben. »Und ein Volk, das so etwas Unglaubliches bauen konnte, mußte untergehen«, fuhr er fort. »Ich finde es wirklich bedauerlich, daß mir nicht mehr Zeit bleibt, mich mit deiner kleinen Freundin zu unterhalten. Ich hätte gerne mehr über Atlantis erfahren. Ich nehme an, du weißt mittlerweile alles darüber, was es zu wissen gibt?« »Dies und das«, antwortete Mike einsilbig. Die Neugier in Winterfelds Worten war nicht gespielt, aber er hatte keine Lust, sich zu unterhalten, als wäre nichts geschehen, während sie dabei waren, den Weltuntergang vorzubereiten.

»Ich verstehe«, sagte Winterfeld. »Du willst nicht mit mir reden. Das tut mir sehr leid. Ich hätte es vorgezogen, wenn du verstehst, warum ich das alles tue. « Mike sah nun doch von seinen Instrumenten auf und direkt in Winterfelds Gesicht. »Das kann ich nicht verstehen«, sagte er. »Niemand kann das.

Bitte, Herr Winterfeld – überlegen Sie es sich noch einmal. Auch Paul hätte das nicht gewollt, dessen bin ich sicher. « Winterfelds Gesicht verdüsterte sich. Aber nicht aus Zorn, wie Mike im allerersten Moment glaubte, sondern vor Trauer und Schmerz.

»Paul«, antwortete er nach einigen Sekunden sehr leise und ohne Mike anzusehen, »wollte auch nicht sterben. Niemand hat ihn gefragt, was erwollte.Es tut mir leid, Mike, aber mein Entschluß steht fest. « »Und Ihre Männer?« fragte Mike.

»Wissen sie, daß Sie sie alle zum Tode verurteilt haben? Interessiert es Sie auch nicht, wassiewollen?«

»Sie werden nicht sterben«, antwortete Winterfeld. »Wofür hältst du mich? Sie alle werden rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden – bis auf einige wenige, die mich freiwillig begleiten. Ich bin kein Mörder. « Es dauerte einen Moment, bis Mike klar wurde, was diese Worte bedeuteten. »Moment mal«, sagte er. »Soll das heißen, daß –«

»Ich selbst an Bord der LEOPOLD sein werde, wenn das Schiff sinkt, ja«, unterbrach ihn Winterfeld. »Es ist notwendig. «

»Das bedeutet Ihren Tod«, sagte Mike. »Ja«, antwortete Winterfeld ungerührt. »Aber er wird nicht umsonst sein. Ein Menschenleben mehr oder weniger – was bedeutet das schon, angesichts dessen, was ich erreichen werde?«

Hör lieber auf,sagte Astaroth warnend.Du hattest recht. Er ist verrückt. Du hättest ihn nicht auf Paul ansprechen sollen.

Tatsächlich hatte Mike Winterfeld noch nie so nahe am Rande seiner Selbstbeherrschung erlebt wie in diesem Moment. Und vielleicht hätte er sie wirklich vollends verloren, hätte sich nicht in genau diesem Augenblick einer der beiden Ingenieure umgewandt und auf das Fenster gedeutet. »Dort!« sagte er. »Seht!«

Aller Aufmerksamkeit wandte sich dem Aussichtsfenster zu. Die Dunkelheit außerhalb der NAUTILUS war nicht mehr vollkommen. Tief unter ihnen glühte ein mattes, rotes Licht mit verschwommenen Rändern in dem hier und da kleine gelbe Funken wie leuchtende Insektenaugen zu sehen waren.

»Der Vulkan!« sagte der Ingenieur. »Dort ist er. Genau, wo

wir berechnet haben!«

Auch Winterfeld drehte sich zum Fenster herum. Er hatte sich jetzt wieder völlig in der Gewalt. Einige Sekunden lang blickte er konzentriert nach draußen, dann schüttelte er ganz langsam den Kopf. »Nein, nicht genau«, sagte er. »Sehen Sie auf Ihre Karten. Es gibt eine Abweichung. Nicht viel, aber sie ist da. Vielleicht eine halbe Seemeile oder zwei. «

Die beiden Männer sahen gehorsam auf ihre Seekarten und verglichen die Angaben darauf mit den Werten, die Mikes Instrumente lieferten. Schließlich nickten sie verblüfft.

»Das stimmt«, sagte der, der den Vulkan entdeckt hatte. »Aber wie konnten Sie das wissen? Es ist praktisch unmöglich – « »Weil ich nicht blind bin«, unterbrach ihn Winterfeld. »Sehen Sie dort, ein Stück hinter dem Krater. Sehen Sie das Licht?«

Selbst Mike, der eigentlich über recht scharfe Augen verfügte, mußte dreimal hinsehen, um den winzigen dunkelroten Punkt zu erkennen, den Winterfeld ausgemacht hatte. Auf einen Wink Winterfelds hin änderte er Kurs und Geschwindigkeit der NAUTILUS, so daß sie sich nun darauf zubewegten – und zugleich natürlich auf den Vulkankrater.

Sie passierten ihn in so geringer Entfernung, daß Mike und die anderen einen Blick direkt in den Krater hineinwerfen konnten. Es war ein Anblick, den er nie im Leben wieder völlig vergessen sollte. Obwohl ihm seine Instrumente verrieten, daß sie mehr als fünfhundert Meter über dem Krater waren, bebte und zitterte die NAUTILUS unter der Gewalt des hochschießenden heißen Wassers, und sie konnten ein leises, aber ungemein machtvolles Dröhnen und Rumpeln hören, das von überallher zugleich zu kommen schien. Es war, als hätte er einen Blick unmittelbar in die Hölle geworfen. Unter ihnen brodelte und zischte es, wo rotglühende Lava auf Wasser traf und es in Dampf verwandelte. Der Krater war unvorstellbar groß; Mike hätte die NAUTILUS bequem hineinsteuern und ein paar Runden darin drehen können, und oben, auf der Erdoberfläche, hätte er einen ansehnlichen Berg abgegeben.

Hier unten jedoch war er nur einer von vielen. Der rote Punkt, den Winterfeld entdeckt hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als zweiter, etwas kleinerer Vulkankrater, und hinter diesem erhob sich ein dritter und vierter – es war eine ganze Kette unterseeischer Vulkane, auf die sie gestoßen waren. »So ist das also«, murmelte Winterfeld. »Jetzt verstehe ich es endlich. « »Was?« fragte Mike.

»Die Vulkane«, antwortete Winterfeld, ohne seinen Blick vom Fenster zu lösen. »Es ist ein doppelter Effekt. Sie müssen seit Zehntausenden von Jahren aktiv sein. Verstehst du nicht? So, wie kaltes Wasser sinkt, steigt heißes rasch nach oben! Das Wasser, das mit der Lava in Berührung kommt, wird sofort zu Dampf, der in die Höhe schießt, und neben ihm stürzt das kalte Wasser nach unten. Auf diese Weise entsteht ein unvorstellbarer Sog! Kein Wunder, daß der Golfstrom um die halbe Welt reicht! Das Wasser wird hier regelrecht nach unten gerissen!«

»Ja, aber wohin verschwindet all dieses Wasser?« fragte Mike.

Winterfeld schwieg einen Moment. »Fahr ein Stück nach rechts«, sagte er. »Und etwas tiefer. « Mike gehorchte, aber vorsichtig. Die NAUTILUS zitterte und stampfte jetzt ununterbrochen, und er hatte die Leistung der Motoren fast bis zum Maximum erhöht, um überhaupt ihre Position zu halten. Was er vorhin über diesen Sog gedacht hatte, stimmte nicht. Er war hundertmal stärker, als sie alle angenommen hatten, selbst Winterfeld und seine Techniker. Mike war gar nicht mehr so sicher, daß das Schiff diesen tobenden Naturgewalten noch lange widerstehen würde. Trotzdem sank die NAUTILUS allmählich tiefer. Mike bemühte sich, einen respektvollen Abstand zu der Kette von Licht und heißen Dampf speienden Bergen zur Linken zu halten, aber das Schaukeln des Schiffes nahm noch mehr zu. Als sie schließlich den Meeresgrund erreichten, liefen die Maschinen mit aller Kraft. Mikes Augen hatten sich mittlerweile an die düsterrote Helligkeit draußen gewöhnt, so daß er ihre Umgebung erkennen konnte. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen, aber es ließ ihn auch erschauern. Es war nicht das erste Mal, daß er den Meeresboden mit eigenen Augen sah, nicht einmal in einer solchen Tiefe – aber er hatte noch nie etwas wie das erblickt.

Unter ihnen war nichts als nackter, schimmernder Fels. Es gab keinen Krümel Sand, keinen Schlick, kein Leben, nur Steine und Felsen, die allesamt sonderbar rund und wie glattpoliert aussahen – und genau das waren sie auch. Der ungeheure Sog, der hier unten herrschte, hatte alle scharfen Kanten abgeschliffen und jede größere Erhebung eingeebnet. Der Anblick war ungemein deprimierend. Die Meere waren die Wiege des Lebens, aber hier gab es nichts, nichts außer Wasser und rötlichem Licht und tobender Bewegung. Unter der NAUTILUS breitete sich eine öde Mondlandschaft aus, auf der es niemals Leben gegeben hatte und niemals geben würde.

»Dort vorne!« sagte Winterfeld. »Siehst du es?« Mike nickte. Diesmal hatte er es im selben Moment entdeckt wie Winterfeld: Nicht mehr sehr weit vor ihnen hörte der Meeresboden einfach auf. Der schimmernde Fels brach ab, und wo der Meeresgrund sein sollte, gähnte nur ein gewaltiger, schwarzer Abgrund. »Vorsichtig jetzt«, sagte Winterfeld. Die Warnung wäre nicht nötig gewesen. Mike drosselte die Geschwindigkeit der NAUTILUS immer mehr, bis sie sich fast nur noch im Schrittempo bewegten. Und schließlich mußte er den Schub der Motoren sogar umkehren, um das Schiff auch nur auf der Stelle zu halten. Der Sog war jetzt so gewaltig, daß er selbst das hundert Meter lange Unterseeboot einfach mit sich gerissen hätte, hätten die Maschinen sich nicht dagegengestemmt.

Unmittelbar über der Kante hielten sie an. Und für lange, endlose Sekunden wurde es sehr still im Salon der NAUTILUS.

Der Anblick war ungeheuerlich.

Unter ihnen gähnte die gigantischste Schlucht, die Mike jemals gesehen hatte. Der Fels stürzte so weit in die Tiefe, daß man nirgendwo einen Boden hätte erkennen können, und der gegenüberliegende Rand des Abgrundes war so weit entfernt, daß sie ihn nicht einmal mehr sehen konnten. Selbst der Grand Canyon war gegen diese Schlucht nicht mehr als ein kümmerlicher Riß.

»Da hast du die Antwort auf deine Frage«, sagte Winterfeld. Seine Stimme klang fast bewundernd. »Das Wasser muß diesen

Schacht gegraben haben«, sagte er. »Mein Gott, es muß

Millionen von Jahren gedauert haben!«

Es fiel Mike nicht leicht, Winterfelds Gedanken zu folgen – aber vielleicht lag das eher daran, daß ihn der Anblick, der sich ihnen bot, einfach erschlug. Was sie sahen, war ein Fluß im Meer, eine gewaltige Rinne, die das Wasser, das von der Meeresoberfläche herabstürzte, im Laufe von Jahrmillionen in den Meeresboden gegraben hatte und durch die es mit unvorstellbarer Gewalt davonschoß. Mike wagte sich nicht vorzustellen, was geschähe, wenn die NAUTILUS indieseStrömung geraten wäre. Vermutlich würde sie im Bruchteil einer Sekunde einfach in Stücke gerissen. »Ich glaube, das war's dann, Winterfeld«, sagte er. Winterfeld sah ihn fragend an. »Was meinst du damit?«

»Das fragen Sie noch?« Mike deutete nach draußen. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie Ihren Plan jetzt noch durchführen können? Aller Sprengstoff der Welt reicht nicht aus, um dasdazu zerstören!«

Zu seiner Überraschung lächelte Winterfeld. »Du bist wirklich hartnäckig«, sagte er. »Das gefällt mir.

Aber du freust dich zu früh. Ich habe etwas in dieser Art erwartet. Ich war nur nicht sicher. Aber jetzt bin ich es. «

Er wandte sich wieder zu seinen Ingenieuren um. »Ich hoffe, Sie haben alles notiert, meine Herren?« »Selbstverständlich«, antwortete einer der beiden. »Aber es wäre sicher nützlich, wenn wir diesen Kanal genauer untersuchen könnten. Ist das möglich?«

Die letzte Frage galt Mike, der sie sofort und mit einem entschiedenen Kopfschütteln beantwortete.

»Niemals«, sagte er. »Die Strömung würde das Schiff in Stücke reißen. Bestenfalls würde sie uns bis in die hintere Mongolei befördern. «

Der Mann wirkte enttäuscht. »Das ist schade«, sagte er.

»Aber nicht zu ändern«, fügte Winterfeld hinzu. »Die vorhandenen Daten müssen eben reichen. Im Grunde bestätigen sie sowieso nur unsere bisherige Vermutung. Mike – wir können auftauchen. Ich habe genug gesehen. «

Mike steuerte die NAUTILUS rasch einige hundert Meter von der Felskante weg und somit aus der schlimmsten Strömung hinaus. Aber er wandte sich noch einmal an Winterfeld, ehe er das Boot aufsteigen ließ. »Verstehen Sie denn immer noch nicht, daß es vorbei ist?« sagte er. »Dieser Kanal muß

– zig Kilometer breit sein und wahrscheinlich mehr als eine Meile tief. Aller Sprengstoff der Welt reicht nicht aus, ihn zu zerstören. «

»Ich habe auch nicht vor, ihn zu sprengen«, antwortete Winterfeld. »Und was dann?« Winterfeld beantwortete diese Frage nicht, aber Astaroth tat es:

Er will die Vulkane zum Ausbruch bringen. Zwei oder drei nebeneinander.

»Wie bitte?« keuchte Mike entsetzt.

Und er ist ziemlich sicher, daß das ausreicht, den Canyon zum Einsturz zu bringen. Ich übrigens auch,

fügte Astaroth hinzu. Winterfeld blinzelte. »Ich habe nichts gesagt«, sagte er. Sein Blick tastete mißtrauisch über Mikes Gesicht.Paß bloß auf,

sagte Astaroth überflüssigerweise.Er beginnt Verdacht zu schöpfen. Er spürt, daß irgend etwas nicht stimmt.

»Ich... ich war nur erschrocken«, stammelte Mike, und Astaroth sagte:

Und jetzt fragt er sich, worüber.

»Weil... weil es doch so sinnlos ist«, sagte Mike. »Ich meine, Sie... Sie opfern sich vollkommen umsonst. Und das Leben Ihrer Begleiter ebenfalls. « »Und wenn?« fragte Winterfeld. »Hast du etwa Angst um mein Wohlergehen?«

»Nein«, sagte Mike. »Ich hatte Sie nur für klüger gehalten, das ist alles. « Er wartete Winterfelds Reaktion diesmal nicht ab, sondern wandte sich wieder dem Instrumentenpult zu. Wenige Augenblicke später begann die NAUTILUS auf der Stelle zu drehen und stieg wieder aufwärts.

Sie hatten die Meeresoberfläche wieder erreicht, aber Mike kam es vor, als wäre ihnen die Dunkelheit gefolgt; und das in gleich zweifacher Hinsicht. Die Sonne war längst untergegangen, und auch Mike fühlte sich von einer Art körperloser Finsternis erfüllt, die ihn zugleich mutlos wie fast rasend vor Zorn machte. Das schlimmste von allem war vielleicht das Gefühl der Hilflosigkeit. Es war beileibe nicht das erste Mal, daß er und die anderen in einer scheinbar ausweglosen Situation waren – aber diesmal war sie eben nicht nurscheinbarausweglos. Sie waren hilflos dazu verdammt, zuzusehen, wie Winterfeld einen ganzen Kontinent ins Unglück stürzte.

Die NAUTILUS legte neben der LEOPOLD an. Winterfeld befahl ihm nicht, von Bord zu gehen, aber er erhob auch keinen Einspruch, als Mike den Salon verließ und sich auf den Weg nach oben machte.Obwohl bereits tiefste Nacht herrschte, war das Deck der LEOPOLD fast taghell erleuchtet. Überallwaren große Scheinwerfer aufgebaut, und Mike bemerkte zu seiner Überraschung, daß der Großteil der Besatzung offenbar damit beschäftigt war, sämtliche Türen und Fenster des Schiffes wasserdicht zu verschließen. Dutzende von Männern schweißten große Stahlplatten vor die Fenster der Brücke, überall hämmerte, klang und blitzte es. Der Sinn dieser hektischen Aktivität wurde Mike rasch klar: Winterfeld hatte tatsächlich vor, das Schiff zu versenken und dabei zumindest mit einem Teil der Besatzung an Bord zu bleiben. Daher versiegelten sie das Schiff, so gut es ging. Mike bezweifelte allerdings die Wirksamkeit dieser Maßnahmen, Winterfeld machte sich wohl trotz allem keine rechte Vorstellung von dem ungeheuren Wasserdruck, der einige tausend Meter unter der Meeresoberfläche herrschte. Die Stahlplatten, die seine Männer vor die Fenster schweißten, würden zerreißen wie dünnes Papier, lange, ehe sie den Meeresgrund erreicht hatten.

Serena, Trautman und die anderen warteten trotz der beißenden Kälte an Deck der LEOPOLD auf ihn, und seine Stimmung mußte wohl auch deutlich auf seinem Gesicht abzulesen sein, denn Trautman empfing ihn mit den Worten: »Was ist passiert?« Mike erzählte, was sie auf dem Meeresgrund gefunden hatten, und auch Trautmans Gesicht verdüsterte sich. »Das ist schlimm«, sagte er, als Mike mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. »Wenn es ihm tatsäch

lich gelingt, die Schiffe direkt in die Vulkankrater zu lenken,

könnte er eine Kettenreaktion auslösen. «

»Sie haben den Canyon nicht gesehen«, sagte Mike. »Er ist gigantisch. Aller Sprengstoff der Welt würde nicht ausreichen, ihn zu verschütten. «

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Trautman. »Aber der Ausbruch eines unterseeischen Vulkans vielleicht doch – wenn er gewaltig genug ist. «

Er wandte sich mit einem fragenden Blick an Brockmann. »Könnte der Sprengstoff ausreichen, um einen Vulkanausbruch hervorzurufen?«

Brockmann zuckte nur mit den Schultern. »Ich bin kein Ozeanologe«, sagte er.

»Aber Soldat«, gab Ben scharf zurück. »Sie sollten sich mit Sprengstoff auskennen, oder?«

»Möglich ist alles«, antwortete Brockmann. »Vielleicht ja, vielleicht nein – in ein paar Stunden werden wir es wissen. «

»Ach, und das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?« Stanley schnaubte. »Na ja, was habe ich auch erwartet?«

Brockmann setzte zu einer wütenden Entgegnung an, besann sich aber dann im letzten Moment eines besseren und beließ es bei einem geringschätzigen Verziehen der Lippen. Vielleicht wollte er auch nurden anderen nicht die Genugtuung bieten, sich in aller Öffentlichkeit mit Stanley zu streiten – sie waren nämlich keineswegs allein. Ein knappes Dutzend von Winterfelds Soldaten umgab sie in einem weiten Halbkreis, und die Männer beobachteten sie sehr aufmerksam. Und genau in diesem Moment gesellte sich auch Winterfeld selbst zu ihnen.

»Der Augenblick des Abschieds ist gekommen«, sagte er. »Uns bleibt nicht mehr sehr viel Zeit, deshalb will ich es kurz machen: Sie können jetzt wieder an Bord der NAUTILUS gehen. Diese Männer hier –«

Er deutete auf die Soldaten, die sie bewachten. »– werden Sie begleiten und dafür sorgen, daß Sie nicht versuchen, mich aufzuhalten. Morgen früh bei Sonnenaufgang werden die Männer Ihnen Ihre Waffen übergeben; Sie sind dann frei. Habe ich Ihr Ehrenwort, daß Sie sie bei nächster Gelegenheit in einem neutralen Land von Bord gehen lassen?«

Trautman nickte. »Selbstverständlich. Aber ich flehe Sie an, Winterfeld, überlegen Sie es –«

Winterfeld unterbrach ihn mit einer herrischen Geste, sagte aber in fast sanftem Ton: »Es ist sinnlos, über das Unvermeidliche zu diskutieren, Herr Trautman. Mein Entschluß steht fest, und keine Macht der Welt kann mich noch davon abbringen. Die Zukunft wird zeigen, wer von uns recht hatte. «

»Sie wollen wirklich das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel setzen?« fragte Mike. Winterfeld lächelte traurig. »Ich will esretten,mein junger Freund. Vielleicht wirst du mich eines Tages verstehen. Ich hoffe es wenigstens. « Er deutete auf die NAUTILUS. »Und nun, lebt wohl. So weit es mich angeht, seid ihr frei. «

Niemand rührte sich. Ein sehr sonderbares Gefühl breitete sich in Mike aus. Er sollte jetzt erleichtert sein

–immerhin waren sie nicht nur mit dem Leben davongekommen, sondern auch wieder frei, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Er fühlte sich noch niedergeschlagener als bisher, und das Gefühl von Hilflosigkeit war so intensiv geworden, daß es fast körperlich weh tat. Es mußte doch irgend etwas geben, was sietunkonnten!»Winterfeld«, sagte er noch einmal, »bitte denken –«»Genug!«Winterfelds Stimme war nicht lauter, aber plötzlich so scharf, daß sie trotzdem fast wie ein Schrei klang. »Geht jetzt–bevor ich es mir anders überlege. « Vielleicht hätte nicht einmal diese Drohung Mike davon abbringen können, Winterfeld weiter ins Gewissen reden zu wollen, aber Trautman wandte sich in diesem Moment um und ging langsam auf die Reling zu, und die anderen folgten seinem Beispiel, so daß sich Mike ihnen

wohl oder übel anschließen mußte. Winterfeld blieb reglos und mit starrem Gesicht stehen und sah ihnen nach. Die Soldaten, die sie bisher bewacht hatten, schlossen sich ihnen an: Zwei der Bewaffneten betraten als erste die schmale Planke, die zum Deck der NAUTILUS hinunterführte, während die anderen darüber wachten, daß sie auch tatsächlich taten, was Winterfeld ihnen befohlen hatte. Ihre Waffen deuteten zwar nicht direkt auf Mike und die anderen, aber sie hielten sie griffbereit in den Händen, und Mike zweifelte nicht daran, daß sie sie einsetzen würden, wenn es sein mußte.

Mike war nicht der letzte, der die LEOPOLD verließ. Sie durften nur einzeln von Bord gehen, und hinter Mike warteten noch Serena und Brockmann. Die schmale Planke vibrierte heftig unter seinen Schritten, so daß er die Arme ausbreitete, um das Gleichgewicht zu halten, und den Blick starr nach vorne richtete

– immerhin lag das Deck der NAUTILUS gute fünfzehn Meter unter dem des gewaltigen Kriegsschiffes, und Mike war nicht schwindelfrei.

Und um ein Haar wäre er dann doch noch ins Wasser gefallen, denn er hatte die Entfernung zur NAUTILUS noch nicht zur Hälfte überwunden, als plötzlich die Maschinen der LEOPOLD ansprangen. Mike fuhr erschrocken zusammen, als das ganze Schiff zu zittern begann. Mit heftig rudernden Armen und schneller, als vielleicht gut war, hastete er die letzten Meter dahin und legte das letzte Stück zum Deck des Unterseebootes hinab schließlich mit einem gewagten Sprung zurück. Prompt glitt er auf dem feuchten Metall aus und wäre gestürzt, hätte ihn Trautman nicht aufgefangen. »Was ist denn jetzt los?« fragte Mike erschrocken. Er sah nach oben. Serena und Brockmann waren ihm nicht gefolgt, sondern standen an der Reling und zögerten, die jetzt heftig zitternde Planke zu betreten. »Sie haben die Maschinen angelassen«, sagte Stanley. »Keine Sorge

das Zittern hört gleich wieder auf. Ich nehme an, sie verlegen die Flotte noch ein kleines Stück. Du

hast es ja selbst gesagt – sie müssen eine oder zwei Meilen weiter nach Norden. « Das war sicher

die Wahrheit, und eigentlich hätte diese Erklärung Mike beruhigen müssen, aber sie tat es nicht.

Ganz im Gegenteil – plötzlich hatte er ein sehr ungutes Gefühl. Irgend etwas würde passieren, das spürte er ganz deutlich. Da war irgend etwas, was sie übersehen oder vergessen hatten, und es war etwas ungemein Wichtiges.

Mike hat bis zu diesem Moment niemals an Vorahnungen geglaubt, aber von diesem Tage an tat er es. Er sah Stanley noch einen Moment lang zweifelnd an, dann wandte er sich wieder um und blickte zu Serena und Brockmann hoch. Der deutsche Kapitän machte gerade Anstalten, mit einem entschlossenen Schritt auf die Planke hinauszutreten. Einer der Männer, die Serena und ihn bewachten, streckte den Arm aus, um ihn zurückzuhalten – und Brockmann packte ihn blitzschnell, brachte ihn mit einem Ruck aus dem Gleichgewicht und schleuderte ihn über Bord. Der Mann stürzte kreischend in die Tiefe und schlug dicht neben der NAUTILUS ins Wasser, aber noch bevor er versank, hatte Brockmann einen zweiten Soldaten gepackt und über Bord geschleudert, dann wirbelte er herum und verschwand mit einem gewaltigen Satzaus Mikes Sichtfeld. Überraschte Schreie und die Geräusche eines heftigen Kampfes drangen zu ihnen herab. Und praktisch im selben Moment stürzte sich Stanley auf die beiden Soldaten, die zusammen mit ihnen auf dem Deck der NAUTILUS standen. Der Angriff kam vollkommen überraschend. Die Männer hatten nicht einmal Gelegenheit, ihre Waffen zu heben – Stanley riß sie mit weit ausgebreiteten Armen von den Beinen, begrub den einen unter sich und setzte ihn mit einem gewaltigen Faustschlag schachmatt. Der zweite wollte sich aufrappeln und seine Waffe heben, aber da war Singh schon über ihm, riß ihm das Gewehr aus der Hand und versetzte ihm einen Stoß, der ihn zum zweiten Mal zu Boden schickte. Als er sich diesmal wieder aufrichtete, blickte er in den Lauf seiner eigenen Waffe.

»Nein!« keuchte Mike. »Seid ihr verrückt geworden? Serena ist noch dort oben!«

Aber es war zu spät. Mike wollte die Planke wieder hinaufstürmen, doch er kam nicht einmal zwei Schritte weit. Plötzlich erschienen zwei Soldaten am oberen Ende des Steges, und Mike reagierte ganz instinktiv und warf sich zur Seite. Dicht hintereinander krachten zwei Schüsse. Die Kugeln bohrten sich genau dort in das Holz, wo er gerade noch gestanden hatte. Zu einem dritten Schuß kamen die Männer nicht, denn Stanley und Singh hatten die erbeuteten Waffen gehoben und erwiderten das Feuer. Winterfelds Soldaten zogen sich hastig zurück.

Doch sie gaben keineswegs auf. Mike beobachtete voller Entsetzen, wie sich das obere Ende der Laufplanke hob – und dann über Bord gestoßen wurde. Mit einem gewaltigen Platschen stürzte der Laufsteg ins Wasser. Die einzige Verbindung zur LEOPOLD existierte nicht mehr.

»Serena!« keuchte Mike. »Um Gottes willen – Serena!« Von der Atlanterin war nichts zu sehen. Die Schreie und der Kampflärm auf dem Deck der LEOPOLD hielten an, und jetzt hörten sie wieder Schüsse

– aber weder von Serena noch von Brockmann zeigte sich auch nur eine Spur.

Mike fuhr zornig zu Stanley herum. »Warum haben Sie das getan?« fuhr er ihn an. »Jetzt wird er Serena bestimmt nicht mehr gehen lassen!«

»Und wir haben eine Chance, ihn aufzuhalten«, antwortete Stanley in kaum weniger scharfem Ton. Seine Augen funkelten kampflustig. Offenbar verstand er gar nicht, warum Mike ihn angriff. Wahrscheinlich war er sogar noch stolz auf das, was er getan hatte. »Verdammt, wir sollten etwas tun, statt hier herumzustehen und zu jammern!«

Mike ballte zornig die Fäuste. »Sie –«

»Laß ihn, Mike«, unterbrach ihn Trautman. »Er hat recht. Und

es ist nicht seine Schuld. Immerhin war es Brockmann, der als

erster angegriffen hat. «

Er schüttelte seufzend den Kopf. »Wenn wir jemandem Vorwürfe machen müssen, dann höchstens mir. Ich hätte wissen müssen, daß Brockmann nicht einfach tatenlos zusieht, was geschieht. «

Mikes Blick glitt verzweifelt an der LEOPOLD hinauf. Das Schiff wuchs wie ein Berg aus Stahl über ihnen empor. Nirgends gab es eine Möglichkeit hinaufzukommen. Was sie sahen, war eine senkrechte, unübersteigbare Wand. Das hieß – nicht ganz.EineMöglichkeit gab es vielleicht doch. Bei dem bloßen Gedanken sträubten sich Mike schier die Haare, aber sie hatten keine andere Wahl, wenn sie Serena nicht einfach im Stich lassen wollten.

»Astaroth!« rief er laut. »Wo bist du?«Hier.Ein schwarzer Schatten glitt lautlos über das Deck der NAUTILUS heran.

Wußte ich doch, daß ihr ohne mich wieder mal aufgeschmissen seid.

»Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für deine Scherze, Astaroth«, sagte Mike ungeduldig. »Ich brauche deine Hilfe. Wie viele Männer sind noch unten im Schiff?«

Nur drei,antwortete der Kater.

»Drei?« wiederholte Mike ungläubig. »Aber vorhin –«

Die meisten sind wieder auf die LEOPOLD übergewechselt. Die, die noch hier sind, gehören zu denen, die euch sowieso begleiten wollen. Sie werden euch keine Schwierigkeiten machen. Nebenbei – die beiden armen Teufel da auch nicht. Sie sind froh, hier wegzukommen. Sie halten Winterfeld für genauso verrückt wie ihr.

Mike erklärte Trautman rasch, was er von Astaroth erfahren hatte, worauf dieser Singh und Stanley anwies, die Waffen zu senken und die beiden deutschen Soldaten freizugeben. Singh gehorchte sofort, Stanley erst nach ein paar Sekunden. Aber die beiden Männer machten tatsächlich keine Anstalten, Widerstand zu leisten.

»Also gut«, fuhr Mike fort. »Geht nach unten. Die NAU-TILUS ist seeklar. Taucht auf zwanzig Meter und bleibt in der Nähe. «

»Und du?« fragte Trautman mißtrauisch. Mike deutete nach vorne, zum Bug der NAUTILUS, der unmittelbar neben dem des viel größeren Kriegsschiffes lag. Es gabdochnoch eine Verbindung zum Deck der LEOPOLD hinauf. »Die Ankerkette«, sagte er. »Ich werde hinaufklettern und Serena holen. « »Du bist verrückt!« keuchte Chris erschrocken.

Mike lächelte matt. »Stimmt. Aber hast du eine bessere Idee?« Er wartete Chris' Antwort nicht ab, sondern fuhr mit erhobener Stimme fort: »Ihr bleibt in der Nähe. Falls die LEOPOLD Fahrt aufnehmen sollte, folgt ihr mir. Möglicherweise müßt ihr Serena und mich aus dem Wasser fischen, falls wir über Bord springen. Astaroth wird euch sagen, was zu tun ist. «Gute Idee,sagte Astaroth.Und wie?Mike blickte den Kater betroffen an. Für einen Moment hatte er einfach vergessen, daß er ja der einzige an Bord der NAUTILUS war, der die Stimme des Katers verstehen konnte.

Es war Chris, der den rettenden Einfall hatte. »Wir nehmen ihn mit in den Steuerraum«, sagte er. »Ich male ein Bild von der

LEOPOLD – und Astaroth zeigt uns, wo ihr euch befindet, an

welcher Seite und ob vorne oder hinten. Kann er das?«

Kein Problem,sagte Astaroth.Das ist nun mal wirklich eine gute Idee. Tz, tz – ihr Menschen seid schon komisch. Je jünger ihr seid, desto schlauer seid ihr. Und sobald ihr erwachsen werdet, beginnt ihr

»Er kann es«, sagte Mike, der keinen besonderen Wert darauf legte, sich wieder einen von Astaroths endlosen Monologen über die geistige Verfassung der menschlichen Spezies im allgemeinen und der einzelnen Besatzungsmitglieder im besonderen anzuhören. »Also los!«

Er drehte sich um und begann auf den Bug der NAUTILUS zuzulaufen, so schnell, daß weder Trautman noch einer der anderen auch nur eine Gelegenheit bekam, ihn zurückzuhalten – und vor allem so schnell, daßerkeine Gelegenheit fand, darüber nachzudenken, wie wahnwitzig sein Vorhaben war.

Und das war es. Die straff gespannte Kette vibrierte und zitterte unter seinen Händen und Füßen, und der Stahl war so schlüpfrig, daß er kaum Halt daran fand.

Dazu kam, daß die Kette keineswegsstilldalag. Unter der LEOPOLD befanden sich mehr als tausend Meter Wasser, so daß das Schiff nicht wirklich irgendwo hatte festmachen können, sondern nur Treibanker geworfen hatte, die sich langsam, aber doch spürbar in der mächtigen unterseeischen Strömung bewegten. Mike biß die Zähne zusammen und kletterte langsam, aber sehr gleichmäßig weiter. Er versuchte mit aller Gewalt, nicht daran zu denken, was ihm passieren konnte, wenn er etwa den Halt verlor und abrutschte – mit dem einzigen Ergebnis natürlich, daß er praktisch an nichts anderes mehr dachte. Ein Sturz aus zehn oder zwölf Metern Höhe ins eisige Wasser war noch das mindeste, womit er rechnen mußte, und selbst das war schon ein tödliches Risiko. Auch wenn er nicht auf dem stählernen Rumpf der NAUTILUS aufschlug und sich dabei alle Knochen im Leib brach, war das Wasser hier so kalt, daß er nur wenige Minuten darin überleben konnte.

Er hatte die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als er doch nach unten sah – und direkt in Singhs Gesicht blickte, der keine anderthalb Meter unter ihm an der Ankerkette heraufkletterte.

»Singh!« rief er erschrocken. »Was fällt dir ein?!«

Singh antwortete nicht darauf – und Mike sparte es sich, Singh Vorwürfe zu machen oder ihm gar den Befehl zum Umkehren zu geben. Das eine wäre sinnlos, und das andere würde er ignorieren. Singh war nun einmal neben allem anderen auch sein Leibwächter, und er würde ihn nie in einer solch gefährlichen Situation allein lassen, wie sie nun an Bord der LEOPOLD herrschte. Und wenn Mike ganz ehrlich zu sich war, dann war er im Grund sogar sehr froh, nicht allein zu sein. Immerhin war er drauf und dran, ein Kriegsschiff mit einer Besatzung von Hunderten von Soldaten zu entern.

Nicht ganz,flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Astaroth. Auch der Kater nahm seine Aufgabe offensichtlich ernst und achtete genau darauf, was Mike tat.Sie beginnen die LEOPOLD zu verlassen. Auf der anderen Seite des Schiffes hat ein kleiner Kutter angelegt. Winterfeld hält Wort – er nimmt nur die Männer mit, die ihn freiwillig begleiten. Aber paß trotzdem

auf. Es sind nicht gerade wenige.

»Wo ist Winterfeld?« fragte Mike. »Und vor allem Serena?«

Ich weiß es nicht,gestand Astaroth.Auf dem Schiff herrscht ein furchtbares Chaos. Noch schlimmer als in deinem Kopf...

Mike seufzte, sagte aber nichts mehr. Astaroth war nun einmal unverbesserlich. Mike konzentrierte sich darauf, Hand über Hand weiter an der Kette emporzuklettern.

Sie hatten den allergrößten Teil der Strecke geschafft, als plötzlich ein so harter Ruck durch die Kette lief, daß Mike um ein Haar den Halt verloren hätte. Im letzten Moment klammerte er sich fest, und auch Singh blieb nur mit Mühe dort, wo er war. Die Kette zitterte und bebte immer stärker – und begann nach oben zu gleiten.

Ein eiskalter Schrecken durchfuhr Mike, als er begriff, was das bedeutete. Die LEOPOLD hatte begonnen, die Anker einzuholen! Entsetzt blickte er nach oben. Sie wurden jetzt viel schneller hochgezogen, als sie hatten klettern können, und am Ende dieses Weges wartete eine tödliche Gefahr aufsie – nämlich die vergleichsweise winzige Öffnung, durch die die Ankerkette eingeholt wurde! Noch ein paar Augenblicke, und er würde einfach abgestreift werden oder von der starken Winde mit nach innen gezogen und zerquetscht.»Spring!«schrie Singh. Und Mike sprang. Er dachte nicht darüber nach, was er tat; hätte er das getan, wäre er vor Schreck vermutlich einfach erstarrt. Er sammelte all seine Kraft, wartete bis zum allerletzten Moment und stieß sich dann mit aller Gewalt ab. Seine weit vorgestreckten Hände bekamen die stählerne Reling über der Ankerkette zu fassen und klammerten sich fest. Aber der grausame Ruck und sein eigenes Gewicht waren zu viel. Mike spürte, wie seine Finger den Halt auf dem nassen Metall verloren und er Millimeter um Millimeter, unendlich langsam, aber auch unaufhaltsam, wieder abzurutschen begann.

Neben ihm erreichte Singh auf dieselbe Weise die Reling. Der Inder sah sofort, in welcher Gefahr Mike schwebte. Blitzschnell griff er zu, umfing Mikes Hüfte und hielt ihn fest, während er sich nur noch mit einer Hand an der Reling festklammerte. Die Anstrengung war selbst für den muskulösen Sikh-Krieger fast zu viel. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, während er Mike langsam wieder in die Höhe schob.

»Schnell!« keuchte er. »Haltet Euch... fest – Ich kann Euch... nicht mehr lange... !«

Die schiere Todesangst gab Mike noch einmal zusätzliche Kraft. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung zog er sich in die Höhe, purzelte ungeschickt über die Reling und schlug auf der anderen Seite auf dem stählernen Deck der LEOPOLD auf. Sofort sprang er wieder in die Höhe, griff seinerseits nach Singhs Handgelenken und half nun ihm, in Sicherheit zu gelangen. Anschließend saßen sie fast eine Minute lang keuchend nebeneinander. Mike wurde schwarz vor Augen, und wäre da trotz allem nicht noch immer die nagende Sorge um Serena gewesen, hätte er jetzt vermutlich aufgegeben. Sie waren gerade erst an Bord des Schiffes, und schon waren sie dem Tod nur um Haaresbreite entronnen.

Müde wandte Mike den Kopf, und was er sah, ließ ihn abermals schaudern. Unmittelbar neben ihnen rollte sich die Ankerkette klirrend auf einer gewaltigen Winde auf. Hätte er einen Sekundenbruchteil später reagiert oder Singh ihm nicht im letzten Augenblick eine Warnung zugerufen, dann wäre er jetzt vielleicht schon unter Tonnen von geschmiedetem Stahl begraben... »Weiter!« sagte Singh. Er erhob sich, zog Mike mit einem kraftvollen Ruck auf die Füße und deutete zum Heck der LEOPOLD. Die Schüsse hatten aufgehört, aber auf dem Schiff herrschte trotzdem noch ein heilloses Chaos. Von überallher gellten Schreie, und sie sahen Dutzende von Männern, die in schierer Panik durcheinanderhasteten. Auf der anderen Seite des Schiffes, dort, wo Astaroths Worten nach der Kutter angelegt hatte, schien ein wahrer Tumult ausgebrochen zu sein. Irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte.Wases war, das begriff er erst wirklich, als er die Flammen sah.

Mike blieb wie angewurzelt stehen. Irgendwo auf dem Achterdeck der LEOPOLD brannte es. Plötzlich fiel ihm auch noch mehr auf: Der stählerne Boden unter seinen Füßen zitterte und bebte noch immer – und er war nicht mehr gerade! Und endlich begriff er wirklich.

Der Ruck, der Singh und ihn beinahe in die Tiefe geschleudert hatte, war nicht nur das Einziehen der Ankerkette gewesen. Was sie gespürt hatten, das wareine Explosion.Irgend etwas im Rumpf der LEOPOLD war explodiert, und zwar mit solcher Wucht, daß es einen gewaltigen Krater in das stählerne Deck des Schiffes gerissen – und ganz offensichtlich auch ein Leck unter der Wasseroberfläche verursacht hatte.Die LEOPOLD sank!

Singh mußte wohl im selben Moment wie er begriffen haben, daß hier etwas nicht stimmte, denn er fuhr wortlos herum und

packte den nächstbesten Matrosen am Arm. »Was geht hier

vor?« herrschte er den Mann an.

»Wir sinken!« keuchte der Matrose in Todesangst. Er versuchte sich loszureißen, aber Singh hielt ihn mit eisernem Griff fest. »Das Schiff sinkt!« keuchte er immer wieder. »Wir müssen von Bord! Schnell!« »Was ist passiert?« fragte Mike noch. Aber der Mann wußte es entweder nicht, oder die Angst war zu viel. Er zerrte und riß mit aller Kraft an Singhs Armen, und schließlich gab Mike dem Inder einen Wink, ihn loszulassen. Blitzschnell war er wieder auf den Füßen und rannte davon.

»Serena!« schrie Mike verzweifelt. »Wo bist du?!« Und zu seinem Erstaunen bekam er sogar Antwort – wenn auch nicht von der Atlanterin. Plötzlich war Astaroths Stimme wieder in seinem Kopf:

Unter Deck. Sie ist bei Winterfeld! Ich kann nicht genau sagen wo, aber sie sind nicht in seiner Kabine. Unter Deck. Ein großer Raum voller lärmender Maschinen. Etwas bewegt sich und stampft. Es macht ihr angst.

»Der Maschinenraum!« sagte Mike. »Singh, sie ist im Maschinenraum! Bei Winterfeld! Komm!«

Sie rannten los. Dutzende von Matrosen kamen ihnen entgegen, aber die Männer, die noch vor einer viertel Stunde ohne zu zögern auf sie geschossen hätten, schienen jetzt nicht einmal mehr Notiz von ihnen zu nehmen. Jedermann an Bord versuchte in verzweifelter Angst den Kutter zu erreichen. Und diese Angst war nicht unbegründet. Die Neigung des Bodens hatte spürbar zugenommen, und Mike glaubte auch zu sehen,

daß das Schiff bereits tiefer im Wasser lag. Die LEOPOLD

sank tatsächlich – und sie sank sehr schnell.

Wo ist sie jetzt? In einem kleineren Raum, neben dem mit den lärmenden Maschinen,antwortete Astaroth.Sie hat Angst. Winterfeld ist bei ihr. Aber sie hat keine Angst vor ihm.

Das verwirrte Mike, aber er war auch viel zu aufgeregt, um weiter darüber nachzudenken. Serena war irgendwo tief unter ihnen, und wenn sie tatsächlich in der Nähe des Maschinenraumes war, dann hatten sie noch weniger Zeit, als er bisher geglaubt hatte. Er war nicht einmal sicher, daß sie überhaupt noch ausreichte – was immer im Rumpf der LEOPOLD explodiert war, mußte ein gewaltiges Leck in das Schiff gerissen haben. Es sank immer schneller.

Dicht vor Singh stürmte er durch eine Tür, sah eine abwärts führende Treppe und rannte sie auf gut Glück hinunter. Auch hier kamen ihnen Männer entgegen, die in kopfloser Panik flüchteten, so daß sich Mike und Singh ihren Weg manchmal mit Gewalt freikämpfen mußten. Die Luft wurde immerschlechter, und Mike roch jetzt Flammen und Rauch und heißes Öl. Hier und da waren die metallenen Wände so heiß, daß sie sich verbrannt hätten, hätten sie sie berührt. Endlich nahm der Menschenstrom ab, der ihnen entgegenkam. Der Boden hatte jetzt eine so starke Neigung, daß Mike manchmal Mühe hatte, nicht auszugleiten, und auch die Hitze nahm immer mehr zu. Rauch erfüllte die Luft und ließ Singh und ihn husten, und ganz flüchtig kam ihm zu Bewußtsein, wie absurd es wäre, in einem sinkenden Schiff zu verbrennen. »Dort!« Singh deutete durch den wirbelnden Qualm nach vorne. »Der Maschinenraum!«

Mike konnte nichts Derartiges erkennen, aber er vertraute auf Singhs Orientierungssinn und stolperte hinter ihm her, und tatsächlich erreichten sie nach wenigen Schritten den Durchgang zum Maschinenraum. Die gewaltigen Motoren des Schiffes liefen noch immer.Auf der anderen Seite!sagte Astaroth.Eine Stahltür. Beeilt euch!

Diesmal war es Mike, der ihr Ziel als erster ausmachte. Mit gewaltigen Sprüngen hetzte er zwischen den dröhnenden Maschinenungeheuern hindurch. Er schrie jetzt ununterbrochen Serenas Namen, aber der Lärm der Motoren verschluckte seine Stimme. Dafür hörte er jedoch etwas anderes, und obwohl er nicht wußte, was dieser Laut zu bedeuten hatte, jagte er ihm einen eisigen Schauder über den Rücken: Ein dumpfes, lang nachhallendes Dröhnen, das sich immer und immer wiederholte und aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien, als schlügen hundert unsichtbare Riesen mit gewaltigen Hämmern auf den Rumpf der LEOPOLD ein – oder als schlügen gewaltige stählerne Türen hinter ihnen zu ...

»Großer Gott!« keuchte Mike. »Die Schotten! Sie schließen sich!«

Und genau das war es: Wie jedes moderne Schiff verfügte die LEOPOLD über gewaltige, stählerne Türen, die im Falle eines Wassereinbruchs dafür sorgen sollten, daß nicht das ganze Schiff überflutet wurde – und die sich offenbar automatisch schlossen. Das Schiff verwandelte sich in genau diesem Moment in ein Labyrinth aus Hunderten von luft-und wasserdicht verschlossenen Kammern und Gängen und in eine tödliche Falle, in der sie vielleicht vor dem eindringenden Wasser sicher waren, aus dem es aber auch kein Entkommen mehr gab. Mike beobachtete entsetzt, wie sich eine gewaltige Stahlplatte vor die Tür zu schieben begann, auf die Singh und er zurannten. Er legte noch einmal Tempo zu, überwand die letzten Meter mit einem einzigen, verzweifelten Satz und sprang durch den zufallenden Eingang. Ungeschickt schlug er auf dem Boden auf, wälzte sich auf den Rücken und sah, wie Singh imbuchstäblich allerletzten Moment durch die Öffnung hechtete. Hinter ihm schlug das Panzerschott mit einem dumpfen, dröhnenden Laut zu. Es war ein Geräusch, als schlösse sich ein gußeiserner Sargdeckel über ihnen.

»Bravo«, sagte eine wohlbekannte Stimme. Mike wandte den Blick – und sah sich Winterfeld gegenüber. Der Kapitän der LEOPOLD stand keine zwei Meter neben ihm und sagte mit einem sonderbaren Lächeln: »Das war eine reife Leistung. Ich hätte nicht gedacht, daß du es schaffst. « Nach einer Sekunde des Zögerns fügte er hinzu: »Aber es war nicht besonders klug, mit Verlaub gesagt. «

Mike stand auf. Winterfeld war nicht allein. Neben ihm stand eine zitternde, leichenblasse Serena, die Mike aus angsterfüllten Augen ansah – und trotzdem begriff er sofort, daß das, was er in ihren Augen las, nicht die Angst vor Winterfeld war.

Winterfeld folgte seinem Blick und lächelte abermals. »Ihr beide scheint wirklich aneinanderzuhängen«, sagte er spöttisch.

»Was haben Sie ihr getan?« fragte Mike. »Wenn Sie ihr –« »Bitte!« Winterfeld hob abwehrend die Hände. »Ich wollte das nicht. Es tut mir sehr leid. «»Wastut Ihnen leid?« fragte Mike. »Brockmann«, sagte Winterfeld. »Ich gestehe es ungern – aber ich habe ihn wohl unterschätzt. « »Brockmann?« Mike runzelte verstört die Stirn. »Ich verstehe nicht. Was... was ist mit ihm?« Winterfeld lachte bitter. »Kommst du wirklich nicht von selbst darauf?« fragte er. »Dieser Narr! Er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, den Heldentod zu sterben. Für Kaiser und Vaterland! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man beinahe darüber lachen. «

»Wieso?« fragte Mike. »Was ist mit ihm? Wo ist er?« »Er ist tot«, sagte Winterfeld ruhig. »Dieser verdammte Narr hat sich selbst in die Luft gesprengt. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie muß er herausgefunden haben, wo die Zünder für die Sprengladungen sind, die ich habe legen lassen, um die LEOPOLD zu versenken. Er hat sie ausgelöst. «

»Wie?« murmelte Mike verwirrt. »Sie meinen, er... er hat sich selbst in die Luft gesprengt?« »Ja«, bestätigte Winterfeld. »Vielleicht hat er gehofft, meine Pläne damit zunichte machen zu können. Aber ich muß dich enttäuschen, wenn du das jetzt auch glaubst. Wir sinken zwar zu früh, aber das macht keinengroßen Unterschied. Die Strömung wird die LEOPOLD so oder so in den Vulkankrater tragen. « Über ihnen fielen weitere Panzertüren ins Schloß. Das dumpfe Dröhnen der Riesenhämmer hielt an, und plötzlich war die Angst da. Sie sprang Mike wie ein Raubtier an, das bisher geduldig in dem Schatten gelauert und auf seine Beute gewartet hatte. »Es tut mir leid, Mike«, sagte Winterfeld. »Ich wollte das nicht, aber so, wie es aussieht, werde ich jetzt wohl doch nicht allein auf den Meeresgrund sinken. « »Aber wir... wir sind doch hier sicher«, stammelte Mike. Er deutete mit einer fahrigen Geste auf die stählernen Wände. »Hören Sie doch! Die Schotten schließen sich. Wir sind zwar gefangen, aber das Wasser kann nicht herein!« Seine Stimme bebte. Er stieß die Worte fast atemlos hervor, wie etwas, von dem er sich nur verzweifelt genug einreden mußte, daß es die Wahrheit war, um es auch dazu zu machen. »Wir werden sterben, Mike«, sagte Serena leise. »Das werden wir nicht!« antwortete Mike heftig. »Hab keine Angst. Trautman wird uns herausholen. Wir haben genug Luft für ein paar Stunden, und sobald wir auf dem Meeresgrund sind, kann die NAUTILUS an der LEOPOLD andocken und uns –«

»Nein, Mike, das haben wir nicht«, unterbrach ihn Winterfeld. »Das Schiff sinkt. Ich habe berechnet, daß es fünfzehn Minuten brauchen wird, um den Meeresgrund zu erreichen. Und genau auf diese Frist sind auch die Zeitzünder eingestellt, die mit dem Sprengstoff in den Laderäumen gekoppelt sind. « »Aber Sie haben sie nicht ausgelöst!« protestierte Mike. »Lügen Sie mich nicht an! Das konnten Sie gar nicht! Alles ist viel zu schnell gegangen!« »Das ist wahr«, sagte Winterfeld traurig. »Aber es war auch nicht nötig. Als Brockmann die Sprengladungen gezündet hatte, wurden sie automatisch aktiviert. Die Zünder sind so konstruiert, daß sie sich von selbst schärfen, sobald die Laderäume der LEOPOLD unter Wasser stehen. « Er atmete hörbar ein. »In fünfzehn Minuten erreichen wir den Meeresgrund, und spätestens eine Minute danach wird die LEOPOLD gesprengt. « Für einige Sekunden herrschte vollkommene Stille. Rings um sie herum tobte ein wahrer Höllenlärm – und trotzdem war es zugleich still, auf eine Weise, die Mike dieses Schweigen fast wie etwas körperlich Anwesendes empfinden ließ. Vielleicht, überlegte Mike, ist es das, was man unter dem WortGrabesstillezu verstehen hat – nicht etwa die Angst vor dem Sterben, sondern die absolute Gewißheit des bevorstehenden Todes. Sie waren verloren. Es gab keine Rettung mehr. Sie waren gefangen in einem stählernen Sarg, der dem Meeresboden entgegensank. Seltsam – aber er hatte plötzlich überhaupt keine Angst mehr.

Dann aber sah er wieder in Serenas Gesicht, und in ihren Augen entdeckte er die Furcht, die er in sich selbst vermißte, Furcht – und Zorn, den er im ersten Moment nicht verstand. Aber dann begriff er, wogegen sich dieser Zorn richtete – nämlich gegen das Schicksal selbst, ein Schicksal, das sich einen wahrhaft grausamen Scherz mit ihr erlaubt hatte, denn es hatte ihr ein zweites Leben geschenkt, nur um es ihr nach mehr als einem Jahr wieder wegzunehmen. Mike verspürte noch immer keine Angst, aber plötzlich empfand er ein so tiefes Gefühl von Mitleid, daß er einfach nicht anders konnte, als auf sie zuzutreten und sie in die Arme zu schließen. Winterfeld, der ihnen zusah, verstand die Bedeutung dieser Geste wohl vollkommen falsch, denn er sagte sehr mitfühlend: »Es tut mir wirklich leid. Das... das war das letzte, was ich wollte, bitte glaubt mir. « Ohne Serena loszulassen oder Winterfeld anzusehen, antwortete Mike: »Es wird nicht besser, wenn Sie immer wieder dasselbe sagen. « Aber er glaubte Winterfeld. Das Mitgefühl und die Schuld in seiner Stimme waren nicht geheuchelt. »Wie lange noch?« fragte Singh.

Winterfeld klappte den Deckel seiner Taschenuhr auf und sah auf das Zifferblatt. »Noch zehn Minuten. Vielleicht zwölf. Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, aber es wird schnell gehen. Ich glaube nicht, daß ihr etwas spüren werdet. «

»Und Sie werden nie erfahren, ob Ihr Plan aufgegangen ist«, sagte Mike.

»Das wird er«, behauptete Winterfeld überzeugt. »Ich werde diesen Krieg beenden, so oder so. Selbst wenn wir zu weit abgetrieben würden und die LEOPOLD wirkungslos explodierte, werden die anderen Schiffe ausreichen. Ich... ich habe es vorhin nicht gesagt, um dich nicht noch mehr zu entmutigen, aber das, was wir auf dem Meeresgrund gefunden haben, übertrifft alle meine Erwartungen. « »Die Vulkane?«

»Der Vulkan«, berichtigte ihn Winterfeld. »Es ist nur eine einzige gewaltige Lavaader mit mehreren Kratern. Ich bin sicher, daß der Ausbruch eines einzigen ausreicht, um eine Kettenreaktion hervorzurufen. Eines der Schiffe wird treffen. «

Na, hoffentlich freut er sich da nicht zu früh,sagte Astaroths Stimme hinter Mikes Stirn.Trautman hat soeben die ersten beiden Schiffe torpediert. Und die anderen kommen gleich dran.

»Torpediert?« antwortete Mike laut. Winterfeld runzelte die Stirn, und Serena sah ihn fragend an. »Astaroth?«

»Ja«, antwortete Mike laut.

Und Nummer drei,sagte Astaroth fröhlich.Sie sind so leicht zu treffen. Der vierte Torpedo ist auchschon unterwegs. Ich soll dir noch sagen, daß wir euch rausholen – aber es wird vielleicht ein bißchenknapp. Zuallererst müssen wir die Schiffe torpedieren. Winterfeld hat recht, weißt du? Wenn auch nur ein einziger sein Ziel erreicht, fliegt der halbe Nordpol in die Luft.

»Was hat er gesagt?« fragte Serena aufgeregt. »Daß wir vielleicht noch eine Chance haben«, antwortete Mike. Plötzlich war er so aufgeregt, daß er nicht mehr stillstehen konnte.

»Was geht hier vor?« fragte Winterfeld mißtrauisch. »Wovon redet ihr eigentlich?«

Bevor Mike antworten konnte, drang ein dumpfes Grollen und Rumoren an ihr Ohr, und nur einen Augenblick später schüttelte es die LEOPOLD so heftig, daß sich Serena instinktiv an Mike festklammerte und dieser Mühe hatte, überhaupt auf den Beinen zu bleiben. »Was war das?« fragte Winterfeld erschrocken. »Das«, antwortete Mike in beinahe fröhlichem Ton, »war eines Ihrer Sprengstoffschiffe. Das vierte, um genau zu sein. Und die anderen erwischt die NAUTILUS auch noch. «

»Die NAUT –« Winterfeld stockte mitten im Wort. Seine Augen wurden groß.

»Das Schiff ist nicht ganz wehrlos«, sagte Mike. »Anscheinend haben Sie das vergessen – oder haben Ihnen Ihre Ingenieure nicht gesagt, daß die NAUTILUS Torpedos an Bord hat?« Plötzlich grinste er. »Ich hätte nicht gedacht, daß man die Teufelsdinger irgendwann einmal nutzbringend einsetzen kann. Aber es funktioniert. «

Das Grollen einer weiteren Explosion drang zu ihnen, noch lauter und noch näher diesmal – und für Mikes Geschmack schon ein bißchen zu nahe. Das sechste und letzte Schiff schließlich mußte sich in unmittelbarer Nähe der LEOPOLD befunden haben. Das Krachen der Explosion schien Mikes Trommelfelle zu zerreißen, und die Erschütterung war so gewaltig, daß sie alle von den Füßen gefegt wurden. Der Boden

lag merklich schräger, als Mike sich wieder aufrichtete, und

seine Ohren klingelten.

Winterfelds Gesicht hatte alle Farbe verloren. Er hatte sich die Stirn angeschlagen und blutete aus einer Platzwunde über dem linken Auge, aber das schien er nicht einmal zu bemerken. »Das nutzt euch alles nichts«, sagte er. »Mein Kompliment – ich habe Trautman wohl unterschätzt. «

»Das scheint Ihnen ja öfter zu passieren«, sagte Mike. Winterfeld fuhr unbeeindruckt fort: »Mein Plan wird trotzdem aufgehen. « Er sah auf die Uhr. »Noch sieben Minuten!«

»Und?« fragte Serena. »Die NAUTILUS hat noch genügend Torpedos. «

»Trautman wird es nicht wagen, auf die LEOPOLD zu schießen«, behauptete Winterfeld. »Damit wird er euch auch umbringen. Und das tut er nicht. « Das schlimme ist, dachte Mike, daß er damit vermutlich recht hat. Ganz egal, welche Folgen es hatte – Trautman würde niemals dieses Schiff torpedieren, solange sie an Bord waren. Auf die unbemannten Sprengstoffschiffe zu feuern war eine Sache, aber er würde niemals die LEOPOLD torpedieren. Es sei denn... Langsam drehte er sich zu Serena herum und sah sie an. Die Atlanterin sagte nichts, und auch Mike schwieg, aber für einen Moment war es fast, als könnte Serena seine Gedanken lesen. Sie wußte, was Mike plante, und sie beantwortete seine lautlose Frage mit einem ebenso wortlosen Nicken.

»Astaroth«, sagte Mike laut. »Mach Trautman klar, daß wir nicht mehr am Leben sind. Wenn er denkt, daß wir schon tot sind, wird er die LEOPOLD vernichten. « Winterfeld keuchte

vor Überraschung und Zorn, und Astaroth antwortete:

Guter Plan. Und wie soll ich das tun, bitte schön?»Du mußt!« beharrte Mike. »Ganz gleich, wie. Ich bin sicher, du kannst es! Laß dir etwas einfallen. « »Hör auf!« krächzte Winterfeld. »Hör sofort auf, oder –« »Oder was?« fragte Mike. »Wollen Sie mich umbringen? Astaroth!«

Schon gut, schon gut!maulte der Kater.Ja, wahrscheinlich könnte ich es. Aber es ist nicht nötig.Trautman hat einen besseren Plan.»Und welchen?« fragte Mike.

Also, das verrate ich euch lieber nicht,antwortete Astaroth.Aber HALTET EUCH FEST!Mike kam nicht einmal mehr dazu, Serena oder Singh eine entsprechende Warnung zuzurufen. Er konnte regelrecht spüren, wie irgend etwas Riesiges, unvorstellbar Schnelles auf die LEOPOLD zuschoß, und in der nächsten Sekunde erbebte das Schiff unter einem ungeheuerlichen Schlag. Metall zerriß kreischend. Mike wurde von den Füßen gerissen und segelte kopfüber durch die Kabine. Er prallte gegen Winterfeld, riß ihn von den Füßen und stürzte gleich darauf ein zweites Mal, als er aufzuspringen versuchte und das Schiff erneut wie unter einem Hammerschlag erbebte. Als er sich wieder aufrichtete, bot die winzige Kabine einen chaotischen Anblick. Alles, was nicht niet-und nagelfest war, war losgerissen und zertrümmert. Eine der Wände hatte eine Beule bekommen, und die Tür aus zentimeterdickem Panzerstahl war aus den Angeln gerissen und wie dünnes Papier zerknüllt worden. Durch die Öffnung konnte man in den Maschinenraum blicken – besser gesagt in das, was einmal der Maschinenraum der LEOPOLD gewesen war. Jetzt war es ein einziger Trümmerhaufen. Die riesigen Aggregate waren zum Großteilzerschmettert und aus den Fundamenten gerissen worden. Überall lagen Trümmer und verdrehte Metallteile herum, und an zahllosen Stellen waren kleine Brände aufgeflammt. Und inmitten dieses Chaos erhob sich ein grünschimmerndes, gezacktes Ungeheuer, das sie aus zwei gewaltigen Glotzaugen anzustarren schien.

»Die NAUTILUS!« flüsterte Mike ungläubig. »Das... das ist die NAUTILUS!«

Er hatte recht – der stählerne Riesenspeer, der die LEOPOLD getroffen hatte, war nichts anderes als die NAUTILUS selbst. Trautman mußte das Schiff auf volle Geschwindigkeit beschleunigt und die LEOPOLD gerammt haben. Und das so zielsicher und mit solcher Wucht, daß der Rammsporn des Unterseebootes den gepanzerten Rumpf glatt durchschlagen hatte. »Unmöglich!« keuchte Winterfeld. »Das... das kann gar nicht sein! Das ist ganz und gar unmöglich!« »Da!« schrie Singh plötzlich. »Das Wasser kommt!Lauft!«

Die NAUTILUSfüllte die Öffnung, die sie gewaltsam in den Rumpf der LEOPOLD geschlagen hatte, fast vollkommen aus, wie ein stählerner Korken in einem Flaschenhals. Doch rings um das Schiff herum begann sich das Wasser einen Weg zu bahnen. Noch war es nur ein dünnes Rinnsal, aber Mike sah auch, daß die Risse im Metall rasend schnell größer wurden. Die LEOPOLD mußte bereits Hunderte von Metern gesunken sein, und der Wasserdruck war in dieser Tiefe bereits so enorm, daß er einen haarfeinen Riß binnen weniger Sekunden zu einem Spalt und dann zu einem klaffenden Leck verbreitern würde.

Schon wurde aus dem Rinnsal ein Strom und dann ein sprudelnder Wasserfall, der sich an der NAUTILUS vorbei in die Maschinenhalle ergoß. Mike griff nach Serenas Hand und zerrte sie hinter sich her, so schnell er nur konnte. Hinterher wurde ihm klar, daß sie kaum mehr als eine Minute gebraucht haben konnten, um die NAUTILUS zu erreichen, aber es war eine Minute ohne Ende. Aus dem Wasserfall wurde ein reißender Katarakt, der sich brüllend und sprudelnd in die Halle ergoß und sie mit eisiger Gischt überschüttete. Sie kamen mit jedem Schritt langsamer voran. Das Wasser war unvorstellbar kalt, und es warf sich Serena und ihm mit immer größerer Gewalt entgegen. Schließlich trat Singh hinter sie und versuchte sie vorwärtszuschieben, aber nicht einmal seine Kräfte reichten dazu aus. Irgendwie gelang es ihnen zwar, auf den Füßen zu bleiben, aber sie kamen nicht mehr von der Stelle. Wahrscheinlich wäre es um sie geschehen gewesen, wäre nicht in genau diesem Moment die Turmluke der NAUTILUS aufgeflogen und hätte Ben ihnen nicht ein Seil zugeworfen.

Mike griff blindlings danach. Mit aller Gewalt klammerte er sich daran fest, und hinter ihm griffen auch Serena und Singh nach dem rettenden Seil, das genau in diesem Moment mit einem Ruck straff gezogen wurde. Ben mußte das Tau wohl an einer Winde befestigt haben, denn sie wurden nur so auf die NAUTILUS zugerissen.

Mike prallte gegen den stählernen Rumpf der NAUTILUS. Aber er ließ das Seil nicht los, so daß er weitergezerrt wurde. Erst als die stählerne Treppe zum Turm hinauf vor ihm lag, löste er seinen Griff und nutzte den Schwung, den er noch immer hatte, um auf die Füße zu springen und sich zu Serena herumzudrehen. Die Atlanterin war jedoch schon aus eigener Kraft auf die Füße gekommen und war mit einem Sprung an ihm vorbei, und keine halbe Sekunde später folgte ihr Singh, wobei er Mike einfach am Kragen ergriff und mit sich zerrte. Erst als sie den Turm erreicht hatten und Serena bereits die Treppe hinunterpolterte, ließ Singh Mike wieder los.

Aber Mike folgte ihnen nicht sofort, sondern wandte sich noch einmal um, um zu Winterfeld zurückzusehen. Was er sah, das ließ ihn vor Schrecken einen Moment erstarren.

Winterfeld stand unter der aus den Angeln gerissenen Tür und starrte zu ihnen herüber. Sein Gesicht war voller Blut, und obwohl der Boden der Maschinenhalle eine starke Schräglage hatte, reichte ihm dasWasser bereits bis zu den Knien, und es stieg in jeder Sekunde höher. Überall bildeten sich Strudel und schäumende Wirbel, und auf der Wasseroberfläche tanzten metallene Trümmer. Wahrscheinlich war es bereits jetzt unmöglich, die NAUTILUS noch zu erreichen, ohne zu ertrinken oder von den gefährlichen Metallstücken tödlich verletzt zu werden. Trotzdem bildete Mike mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie, so laut er nur konnte: »Winterfeld! Kommen Sie her!«

»Niemals!« brüllte Winterfeld zurück. Seine Stimme war schrill und drohte überzuschnappen, die Stimme eines Wahnsinnigen. »Ich werde Erfolg haben! Ihr habt keine Chance! Jetzt werdet ihr alle sterben, ihr Narren!« Mike wollte antworten, aber Ben packte ihn grob am Arm und zerrte ihn herum. »Das hat doch keinen Sinn!« schrie er. »Er will nicht hören, begreif das doch! Und er hat recht – wir werden alle draufgehen, wenn wir noch lange hier herumstehen! Das Schiff sinkt wie ein Stein!«

Natürlich hatte Ben recht. Es ging buchstäblich um Sekunden. Und selbst wenn Winterfeld hätte hören wollen, wäre es wahrscheinlich längst zu spät gewesen. Das Wasser strömte immer stärker und schneller herein. Kein Mensch auf der Welt konnte durch diese sprudelnde Hölle schwimmen.

Und trotzdem drehte er sich noch einmal herum. Das Wasser reichte dem Kapitän der LEOPOLD jetzt bis zur Brust, und es umspülte ihn mit solcher Wucht, daß er sich mit beiden Händen am Türrahmen festklammern mußte, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Es war so, wie Ben gesagt hatte – Winterfeldwolltenicht gerettet werden. Schweren Herzens drehte sich Mike herum und begann die Treppe ins Innere der NAUTILUS hinabzusteigen.

Der Salon der NAUTILUS bot einen ungewohnten Anblick, denn er war voller Menschen. Nicht nur die gesamte Besatzung des Tauchbootes, sondern auch die Soldaten der LEOPOLD und Stanley drängelten sich um Trautman und Juan, die mit verbissenen Gesichtern und hektischen Bewegungen an den Kontrollen arbeiteten. Schon auf dem Weg hier herunter hatte Mike gehört, wie die Maschinen der NAUTILUS wieder ansprangen und mit voller Kraft arbeiteten. Jetzt hatte sich ihr Geräusch in ein gewaltiges Dröhnen und Brausen verwandelt, das beinahe jeden anderen Laut verschluckte. Das Schiff zitterte heftig unter Mikes Füßen, und er hörte einen schrecklichen, mahlenden Laut, der ihm einen Schauer über den Rücken trieb.

Noch ungewöhnlicher als die Anzahl der Personen hier drinnen war allerdings der Ausdruck auf Trautmans Gesicht – es war nackte Angst. Etwas stimmte hier nicht.

»Was ist los?« fragte Mike.

Trautman antwortete nicht, sondern hantierte weiter an den Kontrollinstrumenten, und auch Juan sah nur einmal kurz auf, aber Chris sagte: »Wir sitzen fest. «

»Wie bitte?!«Mike hatte das Gefühl, unversehens einen eiskalten Wasserguß abbekommen zu haben. Er begriff sofort, was Chris' Worte bedeuteten, aber für eine Sekunde weigerte er sich einfach, es zu glauben. »Was... was soll das heißen?« stammelte er. »Genau das, was er gesagt hat«, antwortete Trautman an Chris' Stelle. »Wir hängen fest. Die NAUTILUS hat sich irgendwo verhakt. « Sein Gesicht war starr vor Konzentration, und auf seiner Stirn perlte Schweiß. Aber seine Stimme zitterte vor Furcht – ein Gefühl, das Mike noch niemals bei ihm erlebt hatte. Wieviel Zeit bleibt uns noch? dachte Mike. Drei Minuten? Vier? Kaum mehr.

»Versuchen Sie es!« sagte Stanley überflüssigerweise. »Wenn das, was das Mädchen sagt, stimmt, dann geht es um Sekunden. « Offensichtlich hatte Serena bereits erzählt, was geschehen würde, wenn die LEOPOLD den Meeresgrund berührte.

»Ich tue ja, was ich kann«, antwortete Trautman. »Die Maschinen laufen schon mit aller Kraft. Wenn ich sie noch weiter hochjage, explodieren sie! Es geht einfach nicht! Wir hängen fest!«

Mikes Blick glitt durch das große Aussichtsfenster nach draußen. Die NAUTILUS hatte sich ein Stück zurück bewegt,

so daß vor dem runden Fenster nun wieder das Wasser des offenen Ozeans sichtbar war – aber er sah auch die gewaltige Flanke der LEOPOLD, die wie ein stählerner Berg vor ihnen aufragte. Also wird Winterfeld letzten Endes doch triumphieren, dachte er. Ob sein wahnsinniger Plan nun doch aufging oder nicht – sie würden alle gemeinsam sterben, denn so phantastisch und widerstandsfähig die NAUTILUS auch war, die Explosion der zigtausend Tonnen Sprengstoff, die in den Lagerräumen der LEOPOLD lagen, würde nicht einmal sie überstehen. »Wieviel Zeit haben wir noch?« fragte Stanley nervös.

»Zwei Minuten«, murmelte Trautman. »Allerhöchstens drei, dann haben wir den Meeresboden erreicht. « Plötzlich sah er auf und starrte Mike stirnrunzelnd an. »Was hat Winterfeld über die Zünder gesagt?« fragte er. Mike war verwirrt. »Zünder?«

»Die an den Sprengladungen«, antwortete Trautman ungeduldig. »Welcher Art sind sie? Schnell!« »Ich weiß nicht«, murmelte Mike. »Er hat gar nichts... was soll das denn überhaupt?«

»Sind es Zeitzünder, oder reagieren sie auf den Wasserdruck?«

Sie sind druckempfindlich,sagte Astaroths Stimme in seinem Kopf.Er ist schon tot, aber sein letzter Gedanke war, daß der Wasserdruck die Sprengladungen auslösen wird.

»Wasserdruck«, sagte Mike. »Sie reagieren darauf. « »Dann haben wir vielleicht eine Chance«, antwortete Trautman. »Juan, gib alle Kraft auf die Höhenruder. Wir tauchen auf!«

Während Juan tat, was Trautman ihm befohlen hatte, tauschte Mike einen vollkommen verständnislosen Blick mit Serena. Die

junge Atlanterin schien ebensowenig zu verstehen wie er, was

Trautmans Frage zu bedeuten hatte.

Stanleys Gesicht jedoch hellte sich auf. »Genial!« sagte er. »Wenn Sie es schaffen, die LEOPOLD aufzuhalten, gewinnen wir Zeit. Vielleicht genug, um loszukommen!«

Und jetzt endlich verstand Mike. Die Sprengladungen wurden ausgelöst, sobald die LEOPOLD eine bestimmte Tiefe erreicht hatte. Vielleicht reicht die Kraft der NAUTILUS ja, das Schiff festzuhalten. Und solange sie ihre Tiefe hielten – oder vielleicht sogar ein wenig aufstiegen –, würden die Zünder nicht reagieren. Aber es war nur eine Theorie. Diesmal, so schien es, hatten sie die Möglichkeiten der NAUTILUS überschätzt. Mike las es auf Trautmans Gesicht, noch ehe er die Worte aussprach.

»Sinnlos«, flüsterte Trautman niedergeschlagen. »Wir sinken weiter. Nicht mehr ganz so schnell, aber noch immer schnell genug. Wir haben allerhöchstens eine Minute gewonnen. «

Mike unterdrückte ein enttäuschtes Stöhnen. Er sah nach draußen und versuchte den Meeresboden zu erkennen, aber unter ihnen war nichts als Schwärze. Plötzlich sog Stanley scharf die Luft ein. »Die Torpedos!« sagte er.

Trautman blickte auf. »Was soll damit sein?« »Sie funktionieren doch noch, oder?« Trautman nickte. »Sicher! Aber was soll's? Soll ich die LEOPOLD torpedieren? Dann fliegen wir mit in die Luft. «

»Sie funktionieren nach demselben Prinzip wie unsere Torpedorohre, oder?« fragte Stanley. Trautman nickte abermals, und der Kapitän fuhr in aufgeregtem Tonfall fort: »Sie werden mit Preßluft abgefeuert! Verstehen Sie nicht? Schießen Sie mit leeren Rohren! Vielleicht reicht der Rückstoß, um uns loszureißen!«

Eine Sekunde lang starrte Trautman den Engländer verblüfft an, dann fuhr er herum. »Schnell! Rohr eins und zwei mit Preßluft fluten! Sofort feuern!«

Juans Hände hämmerten mit solcher Wucht auf die Schalter herunter, als wollte er sie zerbrechen. Ein scharfes Zischen erklang, und schon wenige Sekunden später erzitterte die gesamte NAUTILUS. Ein Schwall silberner Luftblasen sprudelte am Fenster vorüber, und Mike konnte spüren, wie sich das Schiff ein Stück rückwärts bewegte. Sein Aufatmen wurde von einem schrecklichen Kreischen und Schrillen beendet, mit dem das Schiff wieder zur Ruhe kam, aber Trautman schrie sofort: »Juan! Noch einmal!«

Juan gehorchte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Torpedorohre wieder mit Preßluft gefüllt hatten, die normalerweise dazu diente, die tödlichen Geschosse abzufeuern, dann erzitterte die NAUTILUS ein zweites Mal, und wieder verschwand das Meer auf der anderen Seite des Fensters hinter einem silbernen Vorhang aus Perlen.

Als er auseinandertrieb, konnte Mike den Meeresgrund sehen. Die schwarze Mondlandschaft aus kahlem Fels und sprudelndem Wasser schien regelrecht zu ihnen heraufzuspringen. Es konnte jetzt nur noch wenige Augenblicke dauern, bis sie aufschlugen. Aber er sah auch noch etwas. Nur ein kleines Stück unter den beiden ineinander verkeilten Schiffen brach der Meeresboden jäh ab und ging in einen abgrundtiefen, schwarzen Schlund über. Der Kanal, den sie bei ihrem ersten Tauchgang entdeckt hatten. Und auch wenn die Kraft der NAUTILUS nicht reichte, den Sturz des gewaltigen Kriegsschiffes aufzuhalten, so reichte sie doch aus, seinen Kurs zu ändern. Mike begriff ganz plötzlich, daß sie nicht auf dem Meeresgrund aufschlagen würden – sie bewegten sich direkt auf den Abgrund zu!

Serena trat neben ihn und ergriff seine Hand. Mike umklammerte ihre Finger so fest, daß es ihr weh tun mußte, aber Serena lächelte nur.

»Noch einmal!« sagte Trautman. »Wir schaffen es. Ich kann es fühlen. Wir kommen frei, Juan!«

Alles schien gleichzeitig zu geschehen. Die Torpedorohre der NAUTILUS entluden sich ein drittes Mal, und den Bruchteil einer Sekunde, bevor der sprudelnde Luftstrom die LEOPOLD ihren Blicken entzog, konnte Mike sehen, wie die NAUTILUS regelrecht aus dem Loch herauskatapultiert wurde, in dem sie bisher gefangen gewesen war. Das Schiff machte einen regelrechten Satz nach hinten und war frei.

Und die LEOPOLD explodierte.

Es war, als wäre tausend Meter unter dem Meer eine zweite, gleißend helle Sonne aufgegangen. Ein unvorstellbar greller Blitz löschte die ewige Dunkelheit vor dem Fenster aus. Mike schrie auf und schlug schützend die Hände vor die Augen. Fast im selben Moment traf ein ungeheuerlicher Schlag die NAUTILUS, der sie alle von den Füßen fegte.

Das Schiff überschlug sich. Der Boden wurde plötzlich zur Decke und umgekehrt, aber noch bevor sie stürzen und sich dabei verletzen konnten, richtete sich die NAUTILUS wieder auf und kippte dann auf die Seite. Der Meeresgrund vor dem Fenster machte einen Salto, sprang ihnen entgegen – und war verschwunden. Plötzlich war unter ihnen nichts mehr.

Das letzte, was Mike von der LEOPOLD sah, war ein Regen aus brennenden, rotglühenden Metalltrümmern, der in kilometerweitem Umkreis auf den Meeresboden herabfiel. Das Schiff war explodiert, aber zu früh. Vielleicht durch einen Zufall, vielleicht durch einen Fehler, den Winterfelds Ingenieure bei der Konstruktion der Zünder begangen hatten, vielleicht sogar ausgelöst durch die Druckwelle, die die Torpedorohre der NAUTILUS hervorgerufen hatten. Es spielte keine Rolle. Die LEOPOLD war explodiert, lange bevor sie den Meeresgrund und damit die dünne Basaltdecke über der Lavaader erreichen konnte, und Winterfelds Plan war fehlgeschlagen. Die große Katastrophe, die er hatte heraufbeschwören wollen, würde nicht eintreten. Mike arbeitete sich mühsam in die Höhe, bückte sich zu Serena und überzeugte sich davon, daß auch sie unverletzt war, dann wandte er sich zu Trautman und den anderen um. Die meisten hockten noch mit benommenen Gesichtern am Boden und schienen ein bißchen erstaunt zu sein, daß sie überhaupt noch lebten, aber Trautman stand bereits wieder an den Kontrollinstrumenten, und Mike konnte hören, wie sich das Geräusch der Motoren erneut veränderte. Irgend etwas stimmte nicht.

Auf Trautmans Gesicht hatte sich ein Ausdruck der Erleichterung breitgemacht, aber nur für wenige Sekunden. Plötzlich war der Schreck wieder da, ebensogroß wie zuvor. Seine Finger huschten immer hektischer über die Kontrollinstrumente. »Was... was ist los?« fragte Mike. »Die Strömung«, antwortete Trautman gepreßt. »Ich komme nicht los. Die Strömung hat uns ergriffen. « Mike sah ihn sekundenlang wortlos an, dann drehte er sich wieder zum Fenster und blickte hinaus. Er erblickte nichts als Schwärze. Der Meeresboden war abermals verschwunden, aber Mike wußte auch, daß er jetzt im Grunde schonüberihnen lag. Die tödliche Strömung hatte die NAUTILUS erfaßt – und es war genau so, wie er Winterfeld gegenüber behauptet hatte: Nicht einmal die gewaltige Kraft der NAUTILUS reichte aus,diesenGewalten zu widerstehen. »Hält das Schiff den Druck aus?« fragte Stanley.

»Ich glaube schon«, antwortete Trautman. »Wir waren schon tiefer, ohne daß etwas passiert wäre. Aber ich komme nicht frei. Die Strömung ist einfach zu stark. «

Stanley antwortete irgend etwas, aber Mike hörte gar nicht mehr hin. Er blickte in die brodelnde Schwärze vor dem Fenster hinaus. Serena trat erneut neben ihn, aber als sie diesmal nach seinen Fingern greifen wollte, hob er die Hand und legte den Arm um ihre Schulter, und als er ihre warme Berührung spürte, durchströmte ihn ein Gefühl von Sicherheit und Trost, das die Furcht vor dem, was er sah, auslöschte.

»Was geschieht jetzt?« fragte Serena leise.

Mike wußte es nicht. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Wohin immer dieser Mahlstrom führt, wir werden mitgerissen. Aber keine Angst. Wir werden es schaffen. Ich bin ganz sicher.«

Serena sah ihn zweifelnd an, und zu seiner eigenen Überraschung spürte Mike plötzlich, wie ein zuversichtliches Gefühl in ihm aufstieg. Es waren nicht nur leere Worte. Sie wußten weder, wohin sie dieser Fluß unter dem Meer trug, noch, was sie dort erwartete, aber er war plötzlich vollkommen sicher, daß am Ende alles gut werden würde. Und er hatte immer noch keine Angst.

Jetzt nicht mehr und vielleicht überhaupt nie wieder im Leben. Sie hatten die Welt vor einer unvorstellbaren Katastrophe gerettet, und das allein zählte – auch wenn es außer ihnen nie irgend jemand erfahren würde.

Es vergingen noch einige Sekunden, dann schaltete Trautman die Motoren ab, deren Kraft ohnehin wirkungslos verpuffte, und Mike und alle anderen konnten spüren, wie die Strömung endgültig nach dem Schiff griff und es immer schneller und schneller mit sich zu reißen begann, hinab in die Tiefen einer Welt, die zwar Teil ihrer eigenen und trotzdem so fremd und phantastisch war, daß seine Vorstellungskraft nicht einmal ausreichte, sich vorzustellen, was sie erwarten mochte. Aber was immer es auch war – er hatte keine Angst davor. Und wovor, dachte Mike, sollte er sich auch fürchten? Er war nicht allein, und bei ihm waren die besten und treuesten Verbündeten, die sich ein Mensch nur wünschen konnte: seine Freunde.

*

siehe Band 3 »Die Herren der Tiefe« *

siehe Band 4 »Im Tal der Giganten«

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