WOLFGANG HOHLBEIN

KAPITÄN NEMOS KINDER

DAS MEERESFEUER

UEBERREUTER

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufhahme

Hohlbein, Wolfgang:

Kapitän Nemos Kinder / Wolfgang Hohlbein. - Wien: Ueberreuter Das Meeresfeuer. –1995 ISBN 3-8000-2412-8 J 2214/1 Alle Rechte vorbehalten Umschlagillustration von Doris Eisenburger Copyright (C) 1995 by

Verlag Carl Ueberreuter Printed in Germany 1357642

Autor: Wolfgang Hohlbein,geboren in Weimar, lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf. Für sein Erstlingswerk »Märchenmond«, ein phantastischer Roman, den er gemeinsam mit seiner Frau Heike schrieb, erhielt er 1982 den ersten Preis des vom Verlag Ueberreuter veranstalteten Wettbewerbs zum

Thema Science Fiction und Phantasie. Außerdem erhielt dieser Titel 1983 den »Phantasie-Preis der Stadt Wetzlar« und den »Preis der Leseratten«. In der Reihe »Kapitän Nemos Kinder« bisher erschienen: Die Vergessene Insel Das Mädchen von Atlantis Die Herren der Tiefe Im Tal der Giganten

Das Meeresfeuer

Die Schwarze Bruderschaft Weitere Bände in Vorbereitung.

Kurzbeschreibung:

Nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen gehen Mike, Serena und Trautman an Land. Trotzdem werden sie von Kapitän Winterfeld erkannt und verfolgt. Der Kapitän hat einen ungeheuerlichen Plan. Er will einen Vulkan auf dem Meeresboden sprengen – eine Klimakatastrophe für die ganze Welt. Dafür braucht er die Nautilus, das berühmte Unterseeboot, auf dem Mike und seine Freunde unterwegs sind.

Wieder einmal geraten sie in die Gefangenschaft des Kapitäns.

Sie wissen: Wenn Winterfeld den Vulkan sprengt, dann werden auch die Menschen an Bord des Schiffes sterben. Wie können sie das verhindern? Erst in letzter Minute scheint Rettung möglich, auch diesmal ist der Kater Astaroth eine große Hilfe.

Es war Nacht, aber der Hafen und

ein Teil der dahinterliegenden Stadt war trotzdem taghell erleuchtet. Der Himmel loderte hell im Widerschein der zahllosen Brände, die an tausend Stellen zugleich aufgeflammt zu sein schienen, und immer wieder zerrissen grelle Explosionen das Bild; turmhohe Feuersäulen, die plötzlich gleich jäh ausbrechenden Vulkanen aus dem Boden schossen, Trümmer und Flammen und schwarzen Qualm in den Himmel schleuderten und die Erde zum Erbeben brachten. Die Häuser und Lagerschuppen, die sich an der Hafenmauer reihten, waren längst zu schwarzen Ruinen verkohlt, und auf dem Wasser triebbrennendes Öl, dessen Flammen an den geschwärzten Rümpfen des Schiffswracks leckten, die die Kaimauer säumten. Niemand versuchte mehr, die Brände zu löschen. Wer das Chaos überlebt hatte, hatte sein Heil in der Flucht gesucht, so daß sich das Feuer ungehindert ausbreiten konnte. Vor der südlichen Hafenausfahrt trieb der ausgeglühte Rumpf eines Zerstörers, des einzigen Kriegsschiffes, das der Stadt Schutz versprochen hatte.

Es hatte dieses Versprechen nicht halten können. Der Angriff war zu plötzlich erfolgt, und selbst wenn der Tod nicht so warnungslos zugeschlagen hätte, hätte das kleine Schiff kaum eine Chance gegen den grauen Stahlgiganten gehabt, der jäh aus der Nacht aufgetaucht war und Tod und Feuer auf die Stadt und ihre Verteidiger schleuderte.

Es war Mike unmöglich, den Blick von dem furchtbaren Bild zu wenden. Wie alle anderen Besatzungsmitglieder der NAUTILUS stand er seit Minuten vollkommen reglos da und verfolgte voll gebanntem Entsetzen die schrecklichen Szenen, die sich auf dem runden Glasschirm vor ihnen abspielten. Das Bild war farbig, aber vollkommen lautlos, was das Geschehen noch erschreckender zu machen schien.

»Kein Zweifel«, sagte Trautman. Seine Stimme klang flach und irgendwie fremd in Mikes Ohren. »Das ist die LEOPOLD. Sie haben den Namen übermalt und die Nationalitätskennzeichen entfernt, aber ich erkenne sie wieder. « Er schloß die Augen, atmete schwer ein und wandte sich dann mit einer sehr müde wirkenden Bewegung an Serena. »Bitte schalte es ab. «

Die Atlanterin gehorchte schweigend. Ihre Hand berührte eine Taste neben dem gläsernen Rechteck, auf dem sich der lautlose Weltuntergang abspielte, und der Schirm wurde grau. Auch Serena war sehr blaß.

Der Schrecken, mit dem sie das gerade Beobachtete erfüllte, war ihr deutlich anzusehen.

»Unglaublich!« murmelte Ben. Er deutete auf die Glasfläche. »Dieser Apparat ist... vollkommen unvorstellbar. Und diese Bilder sind wirklich echt. Es passiert wirklich? Kein Trick?«

»Esistschon passiert«, antwortete Serena. »Vor einer Woche. «

»Aber wie kann man etwas sehen, was an einem anderen Ort –« fuhr Ben fort, aber Trautman unterbrach ihn sofort und in so scharfem Ton, daß Ben zusammenfuhr:

»Das ist jetztwirklichnicht wichtig, Ben!« Er wandte sich wieder an Serena. »Ist das alles, was du darüber weißt?«

»Das sind alle Bilder, die ich euch zeigen kann«, antwortete Serena. »Drei Tage später hat ein Schiff, das genauso aussieht wie das, das wir gerade gesehen haben, einen französischen Frachter vor der Küste von Schottland versenkt. Und gestern wurde der SOS-Ruf eines deutschen Zerstörers aufgefangen, der von einem unbekannten Angreifer berichtete. « Sie zuckte mit den Schultern, drehte sich wieder zu dem Instrumentenpult herum und begann mit den Fingerspitzen über die Glasscheibe zu fahren, die ihnen gerade diese furchtbaren Bilder gezeigt hatte. »Wahrscheinlich ist das noch lange nicht alles, aber imMoment herrscht im Äther ein solches Chaos, daß man nicht genau sagen kann, wer gerade wen vernichtet. « Sie warf Mike einen Blick zu. »Und ihr glaubt,meinVolk wäre seltsam gewesen?«

Mike zog es vor, nichts dazu zu sagen, aber Ben antwortete in einem Ton, als müsse er sich verteidigen: »Was erwartest du? Es herrscht Krieg. Ich finde das auch nicht gut, aber –«

»Ben!« Trautman unterbrach das Gespräch mit einer befehlenden Handbewegung. »Das reicht!« Ben funkelte ihn herausfordernd an, aber Trautman schien nicht geneigt, sich auf eines der zwischen ihnen beinahe schon üblichen Wortduelle einzulassen. Er bedachte den jungen Engländer nur mit einem letzten, strafenden Blick und wandte sich dann wieder an Serena. »Kannst du mir die Punkte auf der Karte zeigen, an denen die LEOPOLD gesichtet wurde?« »Ich denke schon... «, antwortete Serena zögernd, »... wenigstens ungefähr. «

Während die beiden zu dem großen Tisch unter dem Fenster gingen, auf dem sich ein unglaubliches Sammelsurium von Seekarten, nautischen Tabellen, Atlanten und Büchern stapelte, trat Ben wieder anden Apparat heran, der ihnen gerade die schrecklichen Bilder vom Überfall der LEOPOLD auf die Hafenstadt gezeigt hatte. Mike fiel ein, daß sie nicht einmal wußten, um welche Stadt es sich handelte; geschweige denn, um welches Land. In dem kurzen Moment, in dem der Zerstörer im Bild gewesen war, bevor ihn die erste Breitseite der LEOPOLD traf und in ein flammenspeiendes Wrack verwandelte, hatte er geglaubt, die Insignien der deutschen Kriegsmarine zu erkennen. Aber ganz sicher war er nicht. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht – Winterfeld mochte ein Pirat und Meuterer sein, aber er war trotzdem einDeutscher.Es war schwer vorstellbar, daß er sich mitsamt seinem Schiff auf die Seite der Kriegsgegner des Deutschen Reiches geschlagen hatte. Was immer sie alle von Winterfeld halten mochten – einVerräterwar er nicht.

»Unglaublich. Das... das ist das Phantastischste, was ich jemals gesehen habe!« Bens Stimme riß Mike für einen Moment aus seinen Gedanken. Er hatte ein bißchen Mühe, seinen Worten zu folgen, und man mußte das seinem Gesicht wohl ziemlich deutlich ansehen, denn Ben deutete heftig gestikulierend auf den Bildapparat und fuhr in aufgeregtem Ton fort: »Das Ding da meine ich. So etwas... hätte ich nicht fürmöglich gehalten! Ich frage mich, was für Überraschungen dieses Schiff noch für uns bereithält!«

Mike zuckte nur mit den Schultern. Er war von dem, was sie gerade gesehen hatten, noch immer zutiefst erschüttert, und es irritierte ihn ein wenig, daß Ben sich so gar nicht davon beeindruckt zeigte, sondern vielmehr wieder seiner

Begeisterung für die technischen Gerätschaften der NAUTILUS

frönte. Aber irgendwie konnte er ihn auch verstehen.

Es war jetzt etwa anderthalb Jahre her, daß sie auf einer einsamen, auf keiner Karte verzeichneten Insel auf die legendäre NAUTILUS gestoßen waren, die leibhaftige, echte NAUTILUS, das Schiff des sagenumwobenen Kapitän Nemo, von dem sogar Mike bis zu diesem Zeitpunkt annahm, daß er gar nicht wirklich existiert hatte, sondern nur eine Sagengestalt war. Aber Kapitän Nemo war keine Sagengestalt. Kapitän Nemo – der eigentlich Prinz Dakkar hieß und ein indischer Edelmann gewesen war – war niemand anderer als Mikes Vater. Er hatte seinen Sohn unter einem falschen Namen und dem Schutz einer falschen Identität in einem vornehmen Londoner Internat untergebracht, um ihn vor den Nachstellungen seiner Feinde zu schützen, und diese Tarnung hatte auch gute zehn Jahr lang gehalten. Nicht einmal Mike selbst hatte gewußt, wer er wirklich war, bis zu jenem schicksalhaften Tag im Dezember 1913, an dem er und fünf seiner Freunde von niemand anderem als dem Kapitän desselben Schiffes, das gerade vor ihren Augen eine ganze Stadt vernichtet hatte, entführt worden waren. Winterfeld hatte ihn nicht nur über seine Identität aufgeklärt, sondern ihm auch mehr oder weniger freiwillig den Weg zum Versteck der NAUTILUS gewiesen. Es war sein Plan gewesen, sich die NAUTILUS anzueignen. Der Plan war fehlgeschlagen

– Mike, sein indischer Leibwächter und Diener Gundha Singh und seine Freunde waren zusammen mit der NAUTILUS entkommen, begleitet von Trautman, dem letzten überlebenden Besatzungsmitglied der NAUTILUS. Das alles lag jetzt mehr

als ein Jahr zurück. Seither war kaum ein Tag vergangen – vor allem nicht, seit Serena, die atlantischePrinzessin und Letzte ihres Volkes, an Bord gekommen war –, an dem sie nicht eine neue Überraschung erlebten, auf ein neues Wunder stießen, mit dem dieses unglaubliche Schiff aufzuwarten hatte. Das Schiff war viel mehr als nur ein phantastisches Unterseeboot. Es war das Vermächtnis der Atlanter, das Nonplusultra ihrer Technik, die der der Menschen des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte voraus gewesen sein mußte. Und trotzdem hatte er manchmal das Gefühl, daß sie in Wahrheit noch nicht einmal richtig angefangen hatten, seine Geheimnisse zu enträtseln. »Vor allem möchte ich wissen, warum sie erst jetzt damit herausrückt!« fuhr Ben fort, als er endlich einsah, daß er von Mike wohl keine Antwort bekommen würde. »Stell dir nur vor: Man kann Dinge betrachten, die sich an einem anderen Ort abspielen, vielleicht in der nächsten Stadt oder sogar am anderen Ende der Welt. Weißt du, was diese Erfindung für die Welt bedeuten würde? Weißt du, was siewertist?« »Nein«, antwortete Mike einsilbig. »Ich bin auch nicht sicher, ob ich noch mehr davon sehen will. « »Quatsch!« Ben machte eine unwillige Geste. »Es müssen ja nicht unbedingtsolcheBilder sein! Man könnte... « Sein Gesicht hellte sich auf. »Ja, man könnte einen solchen Apparat in jedes Haus stellen. Jeder könnte in seinem Wohnzimmer ein solches Gerät besitzen, und er könnte abends damit eine Theatervorstellung ansehen, ganz bequem, von seinem Sessel aus! Oder ein Konzert. Oder man könnte Filme zeigen, wie sie jetzt in den Kinos laufen, aber viel bequemer und billiger und

für jeden zu haben. «

»Du bist ja verrückt«, sagte Chris, der jüngste der vier Jungen, die neben Singh, Trautman und Serena zur Besatzung der NAUTILUS gehörten. Aber Ben war nicht mehr zu bremsen. Seine eigene Idee gefiel ihm viel zu gut. »Aber es geht noch weiter!« sagte er begeistert. »Man könnte Geld damit verdienen! Millionen, sage ich euch! Die Leute würden dafürbezahlen,um diese Bilder zu sehen. « Chris sagte nichts mehr, aber er tippte sich bezeichnend an die Stirn, doch Ben war nicht mehr aufzuhalten. »Ich weiß sogar schon einen Namen!« sagte er. »Man könnte esFern-Sehennennen. Versteht ihr? Man sieht Dinge, die irgendwo in der Ferne sind!« »Ja, so wie dein Verstand«, sagte Juan. »Du scheinst ihnirgendwo unterwegs verloren zu haben. « Zur allgemeinen Überraschung reagierte Ben nicht auf die Provokation, obwohl er sonst keine Gelegenheit verstreichen ließ, sich mit irgend jemandem an Bord zu streiten. »Ich muß Serena fragen, wie dieses Ding funktioniert«, sagte er aufgeregt. »Diese Erfindung ist Millionen wert, sage ich euch! Stellt euch nur diese ungeahnten Möglichkeiten vor! Man könnte etwas wie eine Zeitung machen, aber aus bewegten Bildern und mit einem Sprecher, der alles gleich kommentiert. Sogar mit Annoncen!« Chris riß die Augen auf. »Wie?«

»Aber sicher!« Ben nickte heftig. »In jeder Zeitung sind Annoncen, oder? Überleg doch – du stellst zum Beispiel Fahrräder her oder Seife. Statt eine Anzeige, in der du dafür wirbst, in der Zeitung drucken zu lassen, zeigst du deine Fahrräder oder deine Seife jedem und preist sie an. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt könnten sie dann bei dir direkt bestellen!« »Und dafür sollen sie dann auch noch bezahlen?« fragte Juan grinsend.

Ben schüttelte heftig den Kopf. »Das würden die tun, die die Anzeigen aufgeben. Das ist überhaupt die Idee! Man könnte einen Film bringen und zwischendurch vielleicht zwei oder drei Pausen, in denen dann Werbung gemacht werden kann! Wir müssen dieses Gerät haben! Wir werden reich, sage ich euch!« »Jetzt ist er völlig übergeschnappt«, seufzte Chris. Auch Mike konnte ein Grinsen kaum noch unterdrücken. Ben fuhr fort, seine völlig unsinnige Idee auszuschmücken, aber Mike hörte nicht mehr hin. Statt dessen trat er nach einigen Augenblicken schweigend an den Tisch, auf dem Trautman mittlerweile eine gut anderthalb Quadratmeter messende Seekarte ausgebreitet hatte. Damit sie sich nicht wieder aufrollte, hatte er ihre Ränder mit Büchern beschwert. Im Moment war er damit beschäftigt, einige rot markierte Punkte, die er offensichtlich nach Serenas Angaben eingezeichnet hatte, mit einem Lineal miteinander zu verbinden.

Er war noch nicht ganz fertig damit, aber das bisherige Ergebnis sah ziemlich abenteuerlich aus, eine vollkommen willkürliche Zickzacklinie, die keinem erkennbaren Kurs folgte, sondern sich im Gegenteil mehrfach selbst kreuzte und überschnitt.

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte Trautman kopfschüttelnd. Er sah kurz zu Serena auf. »Bist du sicher, daß es jedesmal die LEOPOLD war?« »Ziemlich«, antwortete Serena. »Die Beschreibung trifft eigentlich nur aufeinSchiff

zu. Und ich habe es ein paarmal nachgeprüft. «

»Deshalb hast du auch so lange gewartet, um es uns zu sagen«, murmelte Mike.

Serena sah fast ein bißchen schuldbewußt drein. »Nicht nur«, sagte sie. »Es hätte wenig Sinn gehabt, zu früh Alarm zu geben, nicht? Wie Ben sagte: Es herrscht Krieg. Im Augenblick schießt dort draußen so ziemlich jeder auf jeden. Es ist schwer, aus all diesen Informationen die richtigen herauszufinden. « »Aber das alles ergibt überhaupt keinen Sinn!« sagte Trautman erneut und mit einem noch heftigeren Kopfschütteln. »Seht euch das nur an!« Er deutete nacheinander auf die Punkte, die er in die Karte eingezeichnet hatte. Mike bemerkte erst jetzt, daß er neben jedem einige Worte oder auch nur Zahlenkombinationen notiert hatte. »Ein französischer Frachter. Hier eine englische Fregatte, dort ein Nachschubdepot des Kaiserreiches! Ein schwedischer Tanker und da ein deutscher Frachter! Ich kann einfach kein System darin erkennen!«

»Ja. « Serena seufzte. »Ich kenne Kapitän Winterfeld zwar kaum, aber wißt ihr, nach allem, was ich in den letzten Tagen herausgefunden habe, könnte man beinahe glauben, daß er ganz allein dem Rest der Welt den Krieg erklärt hätte. « Vielleicht waren diese Worte sogar als Scherz gemeint, um die gedrückte Stimmung ein wenig zu mildern, die sich in den letzten Minuten im Salon der NAUTILUS breitgemacht hatte. Aber niemand lachte. Ganz im Gegenteil wirkten alle plötzlich sehr betroffen. Dabei konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ahnen,wierecht Serena mit ihren Worten haben sollte...

Die Jagd auf die LEOPOLD begann noch in derselben Stunde.

Wie sich zeigte, befanden sie sich nicht einmal weit von der Stelle entfernt, an der Winterfelds Schiff das letzte Mal gesichtet worden war. Sie rechneten nicht ernsthaft damit, die LEOPOLD dort noch anzutreffen, aber irgendwomußtensie mit ihrer Suche schließlich beginnen, und so nahm Trautman Kurs auf diesen Punkt, zehn Meilen von der Nordküste Schottlands entfernt.

Die NAUTILUS erreichte die bezeichnete Position kurz vor Mitternacht. Um nicht entdeckt zu werden – aber auch, weil das Schiff unter Wasser beinahe doppelt so schnell fahren konnte wie über Wasser –, hatten sie einen Großteil der Strecke tauchend zurückgelegt, und Trautman war extrem vorsichtig, als sie schließlich wieder nach oben kamen: Der Turm der NAUTILUS durchbrach die Wasseroberfläche gerade weit genug, daß sie den Ausstieg öffnen konnten. Erst als Singh, der nach oben geklettert war, meldete, daß sie allein waren, tauchte das Schiff ganz auf. Mike verstand diese Vorsichtsmaßnahmen nur zu gut. Es war sehr wichtig, daß die NAUTILUS nicht gesehen wurde. Sie war zwar jedem anderem Schiff auf der Welt überlegen und konnte im Notfall einfach tauchen und so jedem denkbaren Verfolger eine lange Nase drehen, aber ihr zuverlässigster Schutz war noch immer der Umstand, daß niemand von ihrer Existenz wußte. Wenn sich erst einmal herumsprach, daß das märchenhafte Schiff Kapitän Nemos tatsächlich existierte, dann würde eine weltweite Hetzjagd auf die NAUTILUS beginnen, der sie auf Dauer nicht entkommen konnten. Während des letzten Jahres hatten sie sich zumeist in einsamen Gegenden der Weltmeere aufgehalten, weitab von allen bekannten Schiffahrtsrouten. Hier und jetzt aber befanden sie sich in einem der dichtbefahrensten Gebiete der Meere. Der Erste Weltkrieg tobte seit einem guten Jahr, und er hatte auch vor dem Ozean nicht haltgemacht. Deutsche, britische und französische Schiffe hatten sich gerade vor den Küsten Englands schon mehr als ein Gefecht geliefert, und jeder, der hier draußen war, würde den Ozean sehr aufmerksam beobachten.

Aber im Augenblick waren sie allein. Viel zuverlässiger als ihre Augen überzeugten sie die technischen Gerätschaften der NAUTILUS davon, daß es im Umkreis mehrerer Meilen kein anderes Schiff gab. Und die Küste war fast zehn Meilen entfernt. Selbst mit dem besten Fernglas würde man das Schiff, das mit ausgeschalteten Lichtern auf dem Wasser trieb, nicht mehr ausmachen können. Und trotzdem... eine schwache, aber nagende Beunruhigung blieb. Es war das erste Mal, daß sie seit ihrer Flucht aus England zurück in diesen Teil der Welt kamen, und keinem von ihnen war sonderlich wohl dabei.

Mike war Singh auf das Deck der NAUTILUS hinauf gefolgt und stand fröstelnd in dem schneidenden Wind, der über das Meer strich. Es war kalt, und es gab außer der Schwärze der Nacht hier oben absolut nichts zu sehen. Trotzdem war er nicht der einzige, der heraufgekommen war. In einiger Entfernung bemerkte er Chris, der neben Singh stand und leise mit ihm sprach, und jetzt polterten hinter ihm Schritte auf der eisernen Treppe, die nach oben führte. Er drehte sich herum und erkannte Juan. Auf seiner Schulter hockte ein struppiger schwarzer Schatten: Astaroth, der einäugige Kater, der zusammen mit Serena an Bord gekommen war. Vermutlich, dachte Mike, wird es nicht mehr lange dauern, bis auch Ben und Trautman heraufkommen. Sie befanden sich jetzt seit mehr als einer Woche fast ununterbrochen unter Wasser, und so bequem und sicher die NAUTILUS auch sein mochte – auf die Dauer hatte man an Bord das Gefühl, eingesperrt zu sein, gefangen in einem stählernen Sarg, der Hunderte von Metern unter der Meeresoberfläche dahintrieb. Sie nutzten jede Möglichkeit, an Deck zu gehen, die frische Luft zu atmen und vor allem den freien Himmel über sich zu spüren.

Manchmal fragte sich Mike, wie lange sie dieses Leben wohl noch führen würden. Als sie die NAUTILUS gefunden hatten, da hatten sie Trautman mit Mühe und Not davon abbringen können, das Schiff zu zerstören, denn er war der Meinung gewesen, daß es eine zu große Gefahr darstellte, sollte es irgendwann einmal in falsche Hände geraten. Natürlich hatten sie dieses Ansinnen empört abgelehnt, aber mittlerweile war Mike nicht mehr so sicher wie damals, daß das richtig gewesen war. Der große Krieg, von dem sie nur manchmal hörten, während sie sich in den entlegensten Winkeln der Welt herumgetrieben hatten, schien Trautmans Worte auf grausame Weise zu bestätigen. Die ganze Welt war verrückt geworden. Wenn dieses Schiff tatsächlich einmal in die Hände einer der Kriegsparteien fallen sollte ... nein, der Gedanke war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu verfolgen.

Er trat einen Schritt beiseite, damit Juan aus dem schmalen Ausstieg heraustreten konnte. Astaroth sprang mit einem Satz von seiner Schulter herunter und verschmolz mit der Farbe der Nacht, als er an Mike vorüberhuschte, und Juan atmete hörbar auf. Der Kater wog gute zwölf Pfund, und Mike wurde den Verdacht nicht los, daß er es sich einzig angewöhnt hatte, es sich dann und wann auf der Schulter eines der Jungen bequem zu machen und diesen als Reittier zu mißbrauchen, weil er genauwußte,wie unangenehm sein Gewicht auf die Dauer werden konnte. Trotz aller Fremdartigkeit und Intelligenz war Astaroth tief in sich immer noch eine typische Katze – auch wenn er jedem das Gesicht zerkratzt hätte, der es wagte, das laut zu sagen.

»Gibt es irgend etwas Neues?« fragte Juan. Was soll es hier schon Neues geben? dachte Mike. Sie befanden sich mitten auf dem Meer, zehn Seemeilen von der nächsten Küste entfernt. »Nein«, antwortete er. »Wir sind allein. « Er drehte sich herum, vergrub fröstelnd die Hände in den Jackentaschen und ließ seinen Blick über die Wasseroberfläche schweifen. Im fahlen Mondlicht wirkte der Ozean vollkommen flach und vollkommen schwarz, wie eine Ebene aus Teer. Die NAUTILUS bewegte sich zwar sanft im Rhythmus der Wellen, aber sie waren jetzt schon so lange an Bord des Schiffes, daß sie das längst nicht mehr bemerkten. »Ich frage mich, was wir hier wollen«, murmelte er. »Warten«, antwortete Juan. »Darauf, daß er das nächste Mal zuschlägt. « Sein Gesicht verdüsterte sich, als er Mikes Blick begegnete. »Ich finde es genauso furchtbar wie du, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. «

Mike sagte nichts. Und was auch? Der Gedanke war so schrecklich wie einfach: Sie hatten keine Ahnung, wo die LEOPOLD das nächste Mal zuschlagen würde. Alles, was sie tun konnten, war, abzuwarten, bis sie wieder ein Schiff versenkte oder einen Hafen in Brand schoß, um dann mit voller Kraft hinterherzufahren und zu versuchen, Winterfeld einzuholen. Serena saß unten am Funkgerät und lauschte aufmerksam in den Äther hinaus, so daß sie schon auf den leisesten SOS-Ruf reagieren konnten. Mike war sogar sicher, daß sie Winterfeld auf diese Weise finden würden. Aber die Vorstellung, daß sie tatenlos abwarten mußten, bis er wieder zuschlug – und das bedeutete nichts anderes, als daß dann wieder Menschen sterben würden –, machte ihn krank. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte er. »Er muß vollkommen den Verstand verloren haben. So wie es aussieht, greift er wahllos Schiffe und Häfen an, ganz gleich welcher Nationalität. «

»Und sogar welche, deren Länder gar nicht in den Krieg verwickelt sind«, fügte Juan hinzu. »Trotzdem – ich glaube nicht, daß er einfach verrückt geworden ist. Er folgt einem Plan. Und wir werden schon herausfinden, welchem. Ich bin bestimmt der letzte, der Winterfeld verteidigen würde, aber er ist weder verrückt noch ein gewissenloser Mörder. Er hat irgend etwas vor. Und es muß etwas Großes sein, sonst würde er nicht ein solches Risiko eingehen. «

Mike schwieg. Es hätte eine Menge gegeben, was er hätte antworten können, aber im Grunde gab er Juan sogar recht. Winterfeld hatte sie gejagt, sie entführt und gefangengenommen, er hatte sich der Meuterei und des Hochverrates schuldig gemacht, nur um in den Besitz der NAUTILUS zu gelangen, und trotzdem hatte er das Schiff schließlich wieder aufgegeben, um das Leben seiner Besatzung zu retten. Und mit einem Male betätigte sich dieser Mann als gemeiner Pirat und Seeräuber? Das paßte einfach nicht zusammen. Er schüttelte den Gedanken ab und drehte sich herum, so daß sein Blick in Richtung Küste ging, die in der Nacht allerdings nicht einmal zu erahnen war. Aber auch Juan sah eine ganze Weile versonnen in dieselbe Richtung, und Mike glaubte zu erraten, was hinter seiner Stirn vorging.

»Wir sind gar nicht weit von deiner Heimat entfernt«, sagte er, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander dagestanden hatten. »Hast du eigentlich niemals daran gedacht, wieder nach Hause zu gehen?« Juan zuckte mit den Schultern. Er sah ihn nicht an, aber auf seinem Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. »Nach Hause?« Er schüttelte den Kopf. »Was soll ich dort, Mike? Dashierist mein Zuhause. « »Immerhin leben deine Eltern noch«, antwortete Mike. »Meine Eltern sind tot, und die der anderen auch. Aber dein Vater –«

»– hat vermutlich noch nicht einmal gemerkt, daß ich weg bin«, fiel ihm Juan ins Wort. Seine Stimme klang bitter, und in seinen Augen war ein harter Glanz erschienen, der Mike erschreckte. Er hatte Juan niemals danach gefragt, was zwischen ihm und seinen Eltern wirklich vorgefallen war, ehe er nach England und ins Internat kam, und er fragte ihn auch jetzt nicht. Wenn Juan es ihm erzählen wollte, würde er es irgendwann schon von sich aus tun.

»Wir können nicht ewig auf der NAUTILUS bleiben«, sagte er statt dessen. »Alles, was wir bis jetzt erlebt haben, war ein großes Abenteuer, aber es wird nicht ewig so weitergehen. Trautman hat recht, weißt du? Die Welt ist noch nicht reif für die NAUTILUS. Irgendwann werden wir sie aufgeben müssen.

« »Laß das nicht Serena hören«, sagte Juan mit einem angedeuteten Lächeln. Er wurde sofort wieder ernst. »Du hast recht. Aber ich will nicht darüber nachdenken. Noch nicht. Wir werden eine Lösung finden, aber im Moment... «Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern seufzte nur tief und fuhr dann in verändertem Tonfall fort: »Außerdem haben wir jetzt wirklich Wichtigeres zu tun. Wir müssen diesen Verrückten aufhalten, bevor er noch mehr Schaden anrichtet. « »Ja«, bestätigte Mike, und hinter ihnen sagte eine wohlbekannte Stimme: »Warum eigentlich?«

Sie drehten sich beide zugleich herum und sahen Ben an, der so leise hinter ihnen aufgetaucht war, daß sie ihn nicht gehört hatten. Der spöttische Blick, mit dem er Juan maß, machte klar, daß er zumindest einen Teil ihres Gespräches mit angehört hatte. »Wie meinst du das?« fragte Mike.

»So wie ich es sage«, antwortete Ben. »Warum eigentlich? Ich meine, die Tatsache, daß Winterfeld uns seinerzeit gehen ließ, verpflichtet uns doch nicht automatisch, die Welt jetzt vor diesem Verrückten in Schutz zu nehmen, oder? Im Grunde geht uns die Sache nichts an. Es ist nicht unsere Schuld, wenn er sich mit der ganzen Welt anlegt. Wir könnten einfach unserer Wege gehen. Irgendeiner wird ihn schon erwischen. « »Ja«, sagte Juan. »Und diese Art zu denken ist genau der Grund, aus dem die Welt so ist, wie sie ist. « »Was gefällt dir daran nicht?« stichelte Ben. »Kriege hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Und–«

Falls ihr irgendwann einmal damit fertig werdet, über den Sinn des Lebens zu philosophieren, könntet ihr mal nach vorne

kommen,flüsterte eine Stimme in Mikes Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. Es war nun ein gutes Jahr her, daß der Kater an Bord gekommen war, aber es gab wohl Dinge, an die man sich nie gewöhnen konnte – und ein intelligenter, einäugiger Kater, der Gedanken lesen konnte, gehörte eindeutig dazu. »Astaroth hat etwas entdeckt«, sagte er. »Kommt mit. « Ben und Juan hörten sofort auf zu streiten und folgten ihm. Unterwegs schlossen sich ihnen auch Singh und Chris an, so daß sie alle gemeinsam am Bug der NAUTILUS eintrafen. Astaroth war noch ein Stück weitergelaufen, als es ihnen möglich war, und hockte auf dem gezackten Rammsporn, der den Bug des Tauchbootes noch einmal um gute zehn Meter verlängerte. »Was soll da sein?« fragte Ben. »Ich sehe nichts. «

Da draußen,antwortete Astaroth.Jemand ist dort draußen. Ein Mensch. Vielleicht zwei. Ich bin nicht sicher.

Da Mike der einzige war, der die lautlose Stimme des Katers verstehen konnte, teilte er den anderen mit, was Astaroth ihm gesagt hatte. Einige Sekunden lang starrten sie alle gebannt in die Dunkelheit vor dem Bug der NAUTILUS hinaus, aber auch Mike und den anderen erging es nicht besser als Ben zuvor. Zumindest so weit sie sehen konnten, war der Ozean vollkommen leer. »Der Kater spinnt!« sagte Mike schließlich. »Da ist gar nichts. Außerdem hätten es die Ortungsgeräte gezeigt. Es gibt im Umkreis von fünf Meilen kein Schiff. «Es ist mir egal, was eure komischen Apparate behaupten,antwortete Astaroth in leicht beleidigtem Ton.Dort draußen ist jemand. Gar nicht weit. Aber etwas... stimmt nicht mit ihm.

»Was stimmt nicht mit ihm?« erkundigte sich Mike.Mit

seinen Gedanken,antwortete Astaroth.Sie sind so ... so wirr. Nicht daß das bei euch Menschen etwas Außergewöhnliches wäre. Aber in seinem Kopf herrscht noch mehr Durcheinander als in euren Köpfen. Ich glaube, er ist krank.

Mike bedachte den Kater mit einem angemessen bösen Blick, gab das Gehörte aber doch rasch an die anderen weiter. Singh blickte nur noch einen Moment in die Dunkelheit hinaus, dann wandte er sich um und rannte im Laufschritt zurück zum Turm. Nicht einmal zwei Minuten später konnten sie hören, wie die Maschinen der NAUTILUS tief unter ihren Füßen zu rumoren begannen. Das Schiff hob sich weiter aus dem Wasser, und dann flammten zwei riesige Scheinwerfer an seinem Bug auf, die wie leuchtende, halb meilenlange Finger in die Nacht hinaustasteten.

»Da!« Juan schrie auf und deutete nach rechts. »Seht doch!«

Das Licht des Scheinwerfers hatte ein winziges Boot erfaßt, das in einer Entfernung von zwei- oder dreihundert Metern von der NAUTILUS auf den Wellen trieb. Es hatte kein Segel und auch sonst keinen sichtbaren Antrieb, und sie konnten auch keine Spur einer Besatzung erkennen, aber es war da, ganz wie Astaroth gesagt hatte.

Langsam nahm die NAUTILUS Fahrt auf und glitt auf das kleine Boot zu. In dem Schiff rührte sich nichts, obwohl es jetzt von beiden Scheinwerfern erfaßt und in gleißende Helligkeit getaucht war. Mike war nicht sehr wohl dabei – in der Nacht mußte das Licht meilenweit zu sehen sein. Ganz bestimmt waren sie in diesem Moment bereits entdeckt worden.

Es dauerte einige Minuten, bis Trautman das riesige Schiff

behutsam neben das kleine Boot bugsiert hatte, so daß sie endlich einen Blick in sein Inneres werfen konnten. Mike erschrak, als er die gekrümmte Gestalt sah, die auf dem nackten Holz lag. Es war ein Mann in einer blauen, zerfetzten Uniform. Sein Gesicht und sein Haar waren voller Blut, und obwohl seine Augen offenstanden, schien er sie nicht wahrzunehmen, denn er reagierte nicht, als Juan ihm etwas zurief. Mike wartete, bis das Boot nahe genug war, dann sprang er mit einem Satz vom Deck der NAUTILUS hinunter und neben den Verletzten. Das kleine Boot ächzte unter seinem Aufprall, und ein Knirschen erscholl, das Mike zusammenzucken ließ. Er bemerkte erst jetzt, daß das Boot kaum mehr als ein Wrack war, das eigentlich gar nicht mehr hätte schwimmen dürfen: Die Planken waren von Flammengeschwärzt. Überall im Rumpf gähnten große, ausgefranste Löcher, und er stand fast knöcheltief im Wasser. Hastig kniete er neben dem Mann nieder, aber nun, da er ihn von nahem sah, wagte er es fast nicht, ihn zu berühren. Der Mann war schwer verletzt. Nicht nur sein Gesicht, sondern seine ganze Uniformjacke war dunkel von seinem eigenen Blut. Der Mann war offensichtlich angeschossen worden. Jemand hatte auf dieses Boot gefeuert. Und nicht nur einmal. »Was ist mit ihm?« rief Ben. »Lebt er noch?«Blöde Frage,maulte Astaroth.Ich hätte ihn kaum entdecken können, wenn er tot wäre, oder?»Ja«, antwortete Mike. »Aber er ist schwer verletzt. Helft mir, ihn auf die NAUTILUS zu schaffen. Und beeilt euch. Ich glaube, der Kahn säuft gleich ab. « Tatsächlich war das Wasser im Bootsrumpf in den wenigen Augenblicken, seit er an Bord gekommen war, bereits deutlich angestiegen.

Wahrscheinlich war sein Gewicht zusätzlich zu viel für das winzige Schiffchen. Ben machte Anstalten, zu ihm herunterzuklettern, aber in diesem Moment tauchte Singh wieder auf und hielt ihn mit einer wortlosen Geste zurück. Ben trat gehorsam beiseite, und der Inder kletterte mit der ihm eigenen Leichtigkeit zu Mike und dem Verletzten ins Boot. Es sank spürbar tiefer ins Wasser, und Mike richtete sich nervös auf. Das Boot sank nun tatsächlich und sehr rasch. Sie mußten sich beeilen. Wie alle an Bord war Mike mittlerweile ein ausgezeichneter Schwimmer geworden, aber das Wasser war eiskalt, und er verspürte wenig Lust auf ein mitternächtliches Bad. Singh untersuchte den Mann flüchtig, dann hob er ihn ohne sichtliche Anstrengung auf die Arme und kletterte wieder auf das Deck der NAUTILUS hinauf. Mike folgte ihm, wenn auch viel langsamer, so daß Juan schließlich die Hand ausstreckte und ihm half – keine Sekunde zu früh, wie sich zeigte. Kaum hatte Mike die NAUTILUS wieder betreten, da legte sich das Boot auf die Seite und ging binnen Sekunden unter. Ben blickte mit finsterem Gesicht die Stelle an, an der es gesunken war. »Mist!« sagte er. »Jetzt erfahren wir vielleicht nicht, wo er hergekommen ist!«

»Das Boot war leer«, antwortete Mike. »Es hätte uns sowieso nicht weitergeholfen. « »Hast du seine Uniform erkannt?« fragte Ben. Mike schüttelte den Kopf, und Ben machte ein triumphierendes Gesicht. »Aber ich. Der Mann ist Engländer. « »Die Vermutung liegt nahe«, sagte Juan spitz, »wenn man vor der englischen Küste kreuzt. « »Das war eineMilitäruniform«,sagte Ben betont. »Der Mann gehört zur Kriegsmarine. « Juan sah auf die wieder still daliegende Wasseroberfläche hinab. »Also, ich habe mir eure Kriegsschiffe immer größer vorgestellt«, witzelte er. »Kein Wunder, daß die Deutschen den Krieg gewinnen werden. « Ben setzte zu einer geharnischten Antwort an, aber Mike brachte die beiden mit einem bösen Blick zum Verstummen. Rasch folgten sie Singh, der mittlerweile bereits den Turm erreicht hatte und den Verletzten nach unten trug. Als Mike als letzter wieder ins Innere des Schiffes trat, drang Trautmans Stimme aus der Tiefe zu ihnen herauf.

»Schließt die Luke!« rief Trautman. »Es ist möglich, daß jemand die Scheinwerfer gesehen hat. Wir tauchen besser wieder. «

Wie sich zeigte, waren Trautmans Befürchtungen keineswegs übertrieben gewesen. Offenbar beobachtete man von der Küste aus tatsächlich sehr aufmerksam den Ozean. Es verging keine Stunde, da tauchten gleich zwei Zerstörer der britischen Kriegsmarine über ihnen auf, die das Meer in weitem Umkreis mit Scheinwerfern und Leuchtraketen absuchten. Mike und die anderen verfolgten die Aktion vom Salon der NAUTILUS aus. Durch das riesige, runde Aussichtsfenster konnten sie die Schatten der beiden Kriegsschiffe über sich deutlich erkennen. Die NAUTILUS war dreißig Meter gesunken und dann zur Ruhe gekommen. Trautman hatte die Maschinen abgeschaltet, so daß sie kein verräterisches Geräusch mehr verursachten, und sie hatten das Licht im Salon gelöscht. Trotzdem war Mike nicht sehr wohl in seiner Haut. Die beiden Schiffe kreuzten wie riesige, stählerne Raubfische über ihnen, und allein die Schnelligkeit, mit der sie erschienen waren, bewies, daß sie keineswegs zufallig hier waren. Irgend etwas war hier geschehen, und Mike war fast sicher, daß es mit dem Verletzten zu tun hatte, den sie geborgen hatten.

Ein Geräusch von der Tür her riß ihn aus seinen Überlegungen. Trautman betrat den Salon, machte aber kein Licht, sondern ging zum Fenster und berührte eine große Taste daneben, woraufhin sich eine gewaltige Irisblende vor dem mannsgroßen runden Bullauge schloß. Erst dann schaltete er das Licht ein. Offenbar war auch er nicht hundertprozentig davon überzeugt, daß sie von oben ausnichtgesehen werden konnten. »Wie geht es ihm?« fragte Juan.

Sie hatten den Verletzten in eine der leerstehenden Kabinen des für eine viel größere Besatzung gedachten Schiffes gebracht, und Trautman war bisher bei ihm geblieben. Er schüttelte besorgt den Kopf. »Serena kümmert sich um ihn, aber ich befürchte das Schlimmste«, sagte er. »Er hat sehr viel Blut verloren. Es ist ein kleines Wunder, daß er überhaupt noch lebt. Der Mann muß dringend zu einem Arzt. «

»Ja, ja«, sagte Ben ungeduldig. »Aber hat er etwas gesagt? Haben Sie irgend etwas von ihm erfahren?« Trautman antwortete nicht sofort, sondern trat an den Tisch und beugte sich wieder über die Karten. Er nahm einen roten Stift zur Hand und fügte eine weitere Markierung hinzu; diesmal unmittelbar an der Küste, vor der sie lagen. »Er ist immer noch bewußtlos«, sagte er dann. »Und das wird er wohl auch bleiben, fürchte ich. Aber er phantasiert, und ich habe seine Brieftasche gefunden. « Er legte den Stift aus der Hand und zog eine angesengte

Brieftasche aus der Jacke. Die Jungen traten neugierig näher, als er sie öffnete. »Der Mann war Zeugmeister auf einem britischen Munitionstransporter«, sagte er. »Zeugmeister?« erkundigte sich Chris.

»So eine Art Lagerverwalter«, sagte Ben. An Trautman gewandt und in fragendem Ton fuhr er fort: »Auf einem Munitionstransporter, sagen Sie?« Trautman nickte. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber er phantasiert von Feuer und Schüssen und von einem Piratenschiff... ich wette, es war Winterfeld. Ich verstehe nur nicht, warum. « »Wahrscheinlich geht ihnen langsam die Munition aus«, sagte Juan. »Es ist nur logisch, wenn er einen Munitionstransporter überfällt. « »Aber bestimmt keinenenglischen«,sagte Ben betont. »Die Schiffsgeschütze der LEOPOLD haben ein ganz anderes Kaliber als die der britischen Schlachtschiffe. « »Und außerdem hatte das Schiff gar keine Granaten an Bord«, fügte Trautman hinzu. Er zog einige Papiere aus der Brieftasche und breitete sie auf dem Tisch vor sich aus. »Hier, das sind die Ladelisten. Schießpulver, Dynamit, einige Fässer Nitroglycerin... genug, um eine kleine Insel in die Luft zu jagen, aber keine Granaten. Und selbst wenn es so gewesen wäre – Ben hat völlig recht. Er könnte nichts damit anfangen. « Er schüttelte ein paarmal den Kopf. »Die Geschichte wird immer rätselhafter.Aber immerhin sind wir ihm auf der Spur. Der Überfall fand kurz nach Sonnenuntergang statt, also gerade erst vor ein paar Stunden. Er kann seitdem nicht besonders weit gekommen sein. « »Dann sollten wir keine Zeit mehr verschwenden und ihn suchen«, sagte Mike. »Im Grunde kann er von hier aus nur nach Norden geflohen sein. « Er deutete auf die Seekarte vor Trautman. »In

allen anderen Richtungen wäre er den Engländern in die Arme gelaufen. Wenn wir uns beeilen und ein bißchen Glück haben, holen wir ihn noch vor Sonnenaufgang ein. « »Ja, vermutlich könnten wir das«, sagte Trautman. »Aber wir müssen uns jetzt vor allem um den Verletzten kümmern. Der Mann muß zu einem Arzt, oder er stirbt uns unter den Händen. Wir müssen ihn an Land bringen. « Er deutete zur Decke hinauf. »Sobald die Schiffe abgezogen sind, laufen wir die Küste an. « »Und Winterfeld entkommt!« sagte Ben. »Für diesmal, ja«, gestand Trautman. »Mir gefällt der Gedanke auch nicht, aber wir haben keine Wahl. « »Und wenn wir auftauchen?« schlug Mike vor. »Und uns den Engländern stellen?« fragte Juan. »Du bist verrückt. «

»Natürlich nicht«, verteidigte sich Mike. »Aber wir könnten in zwei oder drei Meilen Entfernung auftauchen, den Verletzten in das Rettungsboot legen und eine Signalrakete abfeuern. Wir sind längst wieder getaucht und meilenweit weg, ehe sie da sind. « Trautman dachte einen Moment ernsthaft über diesen Vorschlag nach, aber dann schüttelte er doch den Kopf. »Es könnte funktionieren«, sagte er, »aber das Risiko ist zu groß. Außerdem habe ich noch einen anderen Grund, um an Land zu gehen. Wir müssen mehr über Winterfeld und die LEOPOLD erfahren. Solange wir nicht einmal wissen, was er vorhat, haben wir auch keine große Chance, seine Pläne zu durchkreuzen. Ich will ein paar Zeitungen besorgen, und mich ein wenig umhören. « Er hob besänftigend die Hand, als Ben erneut protestieren wollte, und deutete mit der anderen auf seine Karte.

»Bisher hat er niemals zweimal hintereinander am gleichen Ort zugeschlagen«, sagte er. »Und es lagenimmer ein oder zwei Tage zwischen den Überfällen. Wir haben noch ein wenig Zeit. «

»Und wenn wir ihn aus den Augen verlieren?« fragte Ben.

»Die Gefahr, daß das passiert, ist viel größer, wenn wir blindlings drauflosstürmen«, erwiderte Trautman. Er deutete wieder auf seine Karte. »Das alles hier hat einen Sinn, Ben. Ich weiß noch nicht, welchen, aber es gibt ihn. Ein paar Stunden, die wir richtig investieren, ersparen uns vielleicht eine tagelange Suche. « Er schloß das Thema mit einer entsprechenden Handbewegung ab. »Geht auf eure Posten. Sobald die beiden Schiffe weg sind, laufen wir die Küste an. Mike – vielleicht gehst du und hilfst Serena?« Mike brauchte keine zweite Aufforderung. Die Stimmung im Salon war so gedrückt, daß er froh war, ihr entfliehen zu können. Rasch verließ er den Raum, lief die kurze Treppe zum darunterliegenden Deck hinab, auf dem die Mannschaftskabinen untergebracht waren, und betrat die Kajüte, ohne anzuklopfen. Der schwerverletzte Mann lag in der untersten der beiden übereinanderliegenden Kojen, die einen Großteil des vorhandenen Raumes einnahmen. Trautman und Singh hatten ihm die zerfetzte Uniform ausgezogen und ihn verbunden, so gut es ging. Aber die Mittel, die sie an Bord der NAUTILUS zur Verfügung hatten, waren beschränkt.

Sie hatten bald herausgefunden, daß das untergegangene Volk der Atlanter, das dieses Schiff gebaut hatte, auch über ein erstaunliches medizinisches Wissen verfügt haben mußte – jeder Arzt der Welt hätte vermutlich sehr viel dafür gegeben, auch nur einen Teil der Medikamente zu besitzen, über die die Bordapotheke des Schiffes verfügte. Seit sie an Bord gekommen waren, war keiner von ihnen krank geworden, und sie hatten eine Anzahl von Tinkturen und Salben entdeckt, die kleinere Verletzungen und Schrammen mit nahezu phantastischer Schnelligkeit heilen ließen. Aber dieser Mann hatte keine kleine Schramme, und er hatte auch keinen Schnupfen. Er war lebensgefährlich verletzt, und bei allen Wundern, die die NAUTILUS bereithielt – sie hatten keinen Arzt an Bord.

Der Mann bot einen bemitleidenswerten Anblick. Seine Schulter war dick verbunden, aber der weiße Stoff hatte sich bereits wieder dunkel gefärbt. Sein ganzer Körper war mit Schweiß bedeckt, und er zitterte ununterbrochen. Serena stand am Kopfende der Liege und kühlte seine Stirn mit einem Tuch, das sie ab und zu in eine Schale mit frischem Wasser tauchte. Als Mike eintrat, sah sie nur kurz auf und schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann nichts für ihn tun. Er hat hohes Fieber. «

Mike trat schweigend neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Normalerweise mochte Serena das nicht, obwohl sie ahnen mußte, welche Gefühle Mike für sie hegte, und Mike fast sicher war, daß sie sie insgeheim ein wenig erwiderte. Aber es war eine Geste reiner Freundschaft, die ihr Trost spenden sollte, und das schien sie zu fühlen, denn sie streifte seinen Arm nicht ab.

»Ich fühle mich so hilflos«, sagte sie leise. »Ich habe ihm ein Medikament gegeben, das das Fieber ein wenig senkt, aber das ist auch alles, was ich für ihn tun kann. Wenn ich meine Kräfte noch hätte! Ich könnte ihn in fünf Minuten heilen!«

Serena spielte damit auf die schier an Zauberei grenzenden Fähigkeiten an, die Teil des magischen Erbes gewesen waren, das ihre Eltern ihr als letzter Prinzessin von Atlantis mitgegeben hatten. Mike hatte am eigenen Leib erlebt, wozu sie in der Lage gewesen war – sie hatte ihn nur flüchtig berührt, und die Verletzungen, die er beim Kampf um die NAUTILUS davongetragen hatte, waren praktisch vor seinen Augen verschwunden. Aber die Macht, Wunden zu heilen, war eben nur ein Teil dieses Erbes gewesen. Der andere, viel gefährlichere Teil hätte sie alle um ein Haar ins Verderben gerissen, und so hatte sie schließlich freiwillig auf diese Kräfte verzichtet. *) Sie hatte es nie laut gesagt, aber es waren Momente wie diese, in denen Mike ahnte, wie groß der Verlust wirklich war, den sie erlitten hatte.

»Wir bringen ihn zu einem Arzt«, sagte Mike. Er bemühte sich, aufmunternd zu klingen, aber er spürte, daß es nicht gelang. Trotzdem fuhr er fort: »Es ist nicht weit zur Küste. Er wird es schon schaffen. « »Wenn er den Morgen noch erlebt, ja. « Serenas Stimme zitterte. Mike sah, daß sie für einen Moment mit den Tränen kämpfte. »Ich verstehe eure Welt nicht«, sagte sie. »Du hast mir so viel davon erzählt, aber das, was ich sehe, das... das ist das genaue Gegenteil. « »Wie meinst du das?« fragte Mike. »Ihr behauptet, daß mein Volk untergegangen ist, weil es seine eigenen Kräfte nicht mehr beherrschen konnte und nicht im Einklang mit sich und der Natur leben konnte –«, antwortete Serena.

»He, das habeichnie behauptet!« protestierte Mike, aber Serena schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, denn sie fuhr ungerührt fort: »– und ihr habt recht damit! Aber ihr selbst macht alles noch viel schlimmer! Ihr führt Kriege gegeneinander! Ihr baut riesige Maschinen, die keinem anderen Zweck dienen, als euch gegenseitig umzubringen! Habt ihr denn gar nichts aus unserem Schicksal gelernt?«Wie könntet ihr?flüsterte Astaroths Stimme in Mikes Gedanken.Die meisten von euch wissen ja nicht einmal, daß es jemals existiert hat. Sie halten es für eine Legende.Mike sah sich suchend in der Kabine um. Er hatte nicht bemerkt, daß Astaroth überhaupt hier war, und er sah ihn auch jetzt nicht. Aber er hätte auch nicht geantwortet, hätte er den Kater gesehen. Astaroths Worte hörten sich überzeugend an, und trotzdem war dies einer der seltenen Momente, in denen der Kater irrte. Er hatte zwar recht – die allermeisten Menschen hielten Atlantis für eine Legende. Und trotzdem war das Wissen um seine Existenz tief in ihnen allen verborgen und vielleicht auch zumindest das Ahnen um den wahren Grund seines Unterganges. Er widersprach Serena nicht, und das lag vielleicht daran, daß er ihn, so gerne er es auch geleugnet hätte, tief in sich drinnen recht geben mußte. Sie alle waren so stolz auf ihre Kultur, auf ihre Technik und ihren Wissensstand, und trotzdem – was unterschied die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich von ihren Vorfahren? Soweit sich Mike zurückerinnern konnte, war die aufgezeichnete Geschichte der Menschen im Grunde nicht viel mehr als eine Folge aufgezeichneterKriege,mit kurzen, zumeist viel zu kurzen Perioden des Friedens dazwischen.

He!sagte Astaroth erschrocken.Laß dich nicht von ihr anstecken. Soooo schlimm seid ihr nämlich gar nicht. Glaub mir, ihr Volk war auch nicht ohne.»Halt endlich den Mund,

Astaroth!« sagte Mike laut. Serena blickte irritiert auf, und

Astaroth antwortete schnippisch:

Strenggenommen habe ich überhaupt nichts gesagt. Ich kann nämlich überhaupt nicht sprechen, weißt du? Nicht in dem Sinn, in dem ihr –

»Schluß jetzt!« sagte Mike noch einmal und in noch schärferem Ton. »Mir ist wirklich nicht nach Witzen zumute, Astaroth. «

Tatsächlich schwieg Astaroth, während Serena sich aus Mikes Umarmung löste und das Tuch, mit dem sie die Stirn des Verletzten kühlte, wieder ins Wasser tauchte. »Ihr bringt ihn morgen früh an Land?« fragte sie.

»Sobald wir von hier wegkommen«, bestätigte Mike. »Es gibt einen kleinen Hafen, ganz in der Nähe. Zumindest auf der Karte sieht er so aus, als könnten wir ohne allzu großes Risiko dort an Land gehen. « »Ich komme mit«, sagte Serena.

»Davon wird Trautman nicht sehr begeistert sein«, erwiderte Mike. »Du weißt, was –« »Ich kenne den Unsinn, den er gerne redet«, unterbrach ihn Serena. »Ich bin ein Mädchen, und Mädchen dürfen sich nicht in Gefahr begeben, ich weiß. Noch so eine Verrücktheit von euch. « »War es bei euch denn anders? « fragte Mike. Serena legte dem Fiebernden das feuchte Tuch wieder auf die Stirn und nickte. »Wir haben keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht. Und weißt du, was? Bei uns sind die Frauen auch nicht reihenweise umgekommen, weil sie sich in Situationen begeben hatten, dieMännersachewaren. Außerdem braucht ihr mich. « Sie sah ihn herausfordernd an und deutete auf den Verletzten. »Ich habe zwar meine Heilkräfte verloren, aber ich kann mich immer noch zehnmal besser um ihn kümmern als einer von euch. Vielleicht sagst du das Trautman. «

»Und warum tust du es nicht selbst?« fragte Mike. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Trautman auf diesen Vorschlag reagieren würde, und er verspürte wenig Lust auf eine mögliche Diskussion. »Weil so etwasMännersacheist«, antwortete Serena mit einem derart unverschämten Grinsen, daß Mike jede Antwort im Hals steckenblieb. Das Mädchen wurde aber auch sofort wieder ernst.

»Geh und rede mit ihm«, bat es. »Er soll sich beeilen. Ich weiß nicht, ob er bis zum Morgen durchhält. Und ich habe keine große Lust, einen Toten an Land zu bringen. « »Also gut«, seufzte Mike. »Ich kann es ja wenigstens versuchen. «

Er verließ die Kabine, aber er war kaum draußen auf dem Gang, als ihm Ben entgegenkam. Er wirkte sehr aufgeregt. »Ist Serena da drin?« fragte er. Mike nickte. »Ja. Warum? Was ist passiert?« Ben wollte einfach an ihm vorüberstürmen, aber Mike vertrat ihm hastig den Weg. »Was willst du von ihr?« »Ich muß noch einmal mit ihr über diesesFern-Sehenreden«, antwortete Ben. Mikes Augen wurden groß. »Wie?« »Aber es ist wichtig!« antwortete Ben. »Versteh doch! Das ist vielleichtdieErfindung des Jahrhunderts! Mir sind da noch ein paar Ideen gekommen, weißt du? Stell dir nur vor, man könnte zum Beispiel Sendezeit verkaufen, damit die Leute, die heiraten wollen, eine Braut oder einen Bräutigam finden! Weißt du, wie viele einsame Menschen es gibt und was sie zahlen würden, um–«

Mike versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn einen Schritt zurückstolpern und erschrocken mitten im Wort verstummen ließ. Wütend schüttelte Mike die Faust vor Bens Gesicht. »Wenn du nicht sofort verschwindest, verpasse ich dir eine blutige Nase!« versprach er. »Untersteh dich, Serena mit diesem Unsinn zu belästigen!«

Ben war vollkommen verwirrt. Er war einen guten Kopf größer als Mike und um einiges kräftiger, wie sich in zahllosen freundschaftlichen Balgereien immer wieder bestätigt hatte. Trotzdem widersprach er nicht, sondern blinzelte nur irritiert auf Mike herab. »Was... was ist denn in dich gefahren?« murmelte er. »Was hast du denn gegen ein gutes Geschäft einzuwenden?« »Du hast mich verstanden«, grollte Mike. »Laß Serena mit diesem Quatsch in Ruhe, oder es kracht!« Und damit lief er an Ben vorbei und machte sich auf den Rückweg zum Salon.

Zu Mikes nicht geringer Überraschung war Trautman keineswegs dagegen, Serena mit an Land zu nehmen. Er war schon von selbst auf den Gedanken gekommen, daß Serena wohl als einzige in der Lage war, sich um den Verletzten zu kümmern, und so kam es, daß sie mit dem ersten Licht des Tages zu dritt in einem der beiden Beiboote der NAUTILUS saßen und in den Hafen von Glengweddyn ruderten.

Der Ort, der so winzig war, daß er auf den meisten Karten nicht einmal wiederzufinden gewesen wäre, lag in einer kleinen Felsenbucht, die den Hafen nicht nur wie ein natürliches Bollwerk vor der See und den Stürmen schützte, sondern ihn auch für jedes Schiff, das größer als ein Fischkutter war, unpassierbar machte. Das Wasser war so flach, daß sie bis auf seinen Grund sehen konnten, und die hoch aufragenden Felsen auf beiden Seiten der Einfahrt hatten es der NAUTILUS ermöglicht, bis auf weniger als eine halbe Meile an die Küste heranzufahren, ehe sie in das Boot umsteigen mußten. Und als hätte sich die Natur entschlossen, ihnen noch eine weitere Hilfe zu gewähren, war mit der Dämmerung dichter Nebel aufgekommen, der das Schiff auch vor jeder zufälligen Entdeckung schützte: Alles, was weiter als zweihundert Yards von der Küste entfernt war, lag hinter einer undurchdringlichen grauen Wand verborgen.

»Also, denkt daran«, sagte Trautman, als sie sich der niedrigen Kaimauer näherten. »Wir haben den Mann draußen auf dem Meer gefunden. Das Boot trieb im Nebel, und wir haben keine Ahnung, wo er herkommt oder wer er ist. Und Serena – stell keine Fragen, und tu nichts, von dem du nicht sicher bist, daß wir es auch täten. «

Serena nickte. Sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie war sehr nervös. Mit Ausnahme einiger einsamer, weitab von aller menschlichen Zivilisation liegender Inseln war dies das erste Mal, daß Serena an Land ging, und somit auch das erste Mal, daß sie eine für sie vollkommen neue und fremdartige Welt betrat. Er hätte sich gewünscht, daß es unter etwas weniger dramatischen Umständen geschehen wäre. Andererseits, versuchte er sich selbst zu beruhigen, was sollte schon groß passieren? Sie würden den Verletzten zu einem Arzt bringen, ihre Geschichte erzählen und wieder verschwinden, noch ehe jemand auf die Idee kommen konnte, ihnen zu viele neugierige Fragen zu stellen. Wenigstens war das die Theorie. Aber irgend etwas sagte ihm, daß es nicht so einfach sein würde. Außerdem war es viel zu spät, sich jetzt noch Sorgen zu machen. Sie hatten jetzt den Kai erreicht, und sie waren auch bereits gesehen worden. Drei Männer in einfacher, grober Kleidung eilten ihnen entgegen.Einer warf Mike ein Tau zu, das dieser geschickt auffing und an einer Öse am Bug des Schiffes befestigte, die beiden anderen beugten sich neugierig vor und versuchten, einen Blick ins Innere des Bootes zu erhaschen. »Ahoi!« rief einer der Männer. »Wer seid ihr denn?« »Und was treibt ihr bei diesem Nebel draußen auf See? Noch dazu in dieser Nußschale?« fügte der andere hinzu.

»Wir haben einen Verletzten an Bord«, antwortete Trautman. Während Mike das Boot vertäute, stand er auf und deutete auf die Gestalt zu seinen Füßen. Sie hatten den Verwundeten so dick in Decken und eine wasserdichte Plane gewickelt, daß nur noch sein Gesicht sichtbar war. »Gibt es hier einen Arzt?« »Doc Hanson«, antwortete einer der Männer. »Aber der wird jetzt noch schlafen, fürchte ich. Was ist passiert?« »Dann sollte jemand gehen und ihn wecken«, erwiderte Trautman. »Und möglichst schnell. Den Mann hat es wirklich schlimm erwischt. Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. «

Mike kam die ruppige Art, auf die Trautman die neugierigen Fragen der Männer abblockte, ein wenig gewagt vor – aber sie tat ihren Dienst. Einer der drei drehte sich auf der Stelle herum und hastete davon, während die beiden anderen Trautman dabei halfen, den Verletzten so behutsam wie möglich aus dem Boot zu heben. Auch Serena und Mike verließen das Boot, hielten sich aber ein wenig im Hintergrund. Serena hatte ein einfaches, grobes Kleid angezogen, und ihr schulterlanges blondes Haar verbarg sich unter einem schwarzen Tuch, das sie weit ins Gesicht gezogen hatte. Aber ihr Blick huschte sehr aufmerksam in die Runde, und obwohl sie sich bemühte, möglichst unbeteiligt dreinzusehen, konnte Mike ihre Aufregung fast körperlich fühlen.

Dabei stellte ihre Umgebung eigentlich eher eine Enttäuschung dar. Ein einziger Blick in die Runde hatte Mike klargemacht, warum Glengweddyn auf so gut wie keiner Karte zu finden war: Es war ein Kaff, das den NamenOrtnicht verdiente. Längs der aus groben Sandsteinblöcken errichteten Kaimauer drängelte sich ein gutes Dutzend Häuser, von denen keines jünger als hundert Jahre zu sein schien, und das war alles. Hinter dem grauen Nebel, der vom Meer heraufgekrochen war und nun auch den Ort einzuhüllen begann, konnte er einen schäbigen Kolonialwarenladen erkennen, dessen Läden noch geschlossen waren, daneben ein winziges Pub, und ansonsten nichts als gleichförmige, schäbige Häuser mit größtenteils ebenfalls noch geschlossenen Läden. Nirgendwo brannte ein Licht. Kein Wunder, dachte er, daß der Arzt noch schlief. Der ganze Ort schien noch zu schlafen.

Irgendwie hatte er das Bedürfnis, sich bei Serena zu entschuldigen. »Es sieht nicht überall so aus wie hier«, sagte er in fast verlegenem Tonfall. »Das hier ist ein sehr kleiner Ort, weißt du?«

»Ich finde es... interessant«, antwortete Serena. Offenbar

wollte sie höflich sein. »So etwas hat es bei uns nicht gegeben.

«

Ja,dachte Mike griesgrämig.Das glaube ich sofort.Er hatte bisher auch nicht gewußt, daß es so etwashiergab.

Aber wenn Glengweddyn auch zu den Orten gehören mochte, deren Namen größer waren als die dazugehörige Stadt, so hatte es doch eines mit den meisten Städten auf der Welt gemeinsam: Seine Bewohner waren nicht nur sehr hilfsbereit, sondern auch sehr neugierig. Es vergingen keine fünf Minuten, bis sich die Straße langsam zu füllen begann. Ein gutes Dutzend Menschen umlagerte Trautman und die beiden Männer, die den Verletzten trugen, und auch Mike und Serena sahen sich plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich, dachte er, verirrt sich so selten ein Schiff in diesen Hafen, daß jeder Fremde hier eine kleine Sensation darstellt. Dann entdeckte er etwas, was ihn überraschte. Inmitten der kleinen Menschenmenge, die sie umlagerte, stand ein Mann. Er war ein gutes Stück größer als die meisten anderen, tadellos frisiert (auch das unterschied ihn von den struppigen und zum Großteil stoppelbärtigen Gestalten) und vor allem: Er trug nicht die übliche, grobe Arbeitskleidung,sondern eine dunkelblaue Marineuniform, auf deren Ärmeln goldene Offiziersstreifen blitzten. Er stand einfach da und blickte ihn an, und er tat es auf eine Art, die Mike nicht gefiel. Unauffällig versuchte er an Trautmans Seite zu gelangen und raunte ihm zu: »Sehen Sie nicht hin – aber da ist ein Offizier. «

Trautman sah natürlichdochhin, aber er tat es ganz bewußt so direkt, daß es als ganz normaler, neugieriger Blick in die Runde

durchgehen mochte. »Ich sehe ihn«, flüsterte er. »Und?«

»Das gefällt mir nicht«, antwortete Mike. »Er trägt die gleiche Uniform wie der Verletzte. Was macht ein Offizier der Royal Navy in einem Kaff wie diesem?« Trautman zuckte mit den Schultern – und dann tat er etwas, was Mike schier den Atem stocken ließ: Er wandte sich um und trat direkt auf den Offizier zu. »Sir!« sagte er. »Gut, daß ich Sie treffe. Sie können mir sicher weiterhelfen. Mein Name ist Trautman. Das da –« Er deutete auf Mike und Serena. »– sind meine Enkel, Mike und Sally. Wir haben diesen Mann heute nacht in einem Boot auf dem Meer treibend aufgefunden, und mir scheint, er gehört zur Navy. Er trug eine Uniform wie Ihre. Vielleicht vermissen Sie ihn schon?« Eine Sekunde lang spiegelte sich nichts als blankes Mißtrauen auf dem Gesicht des Offiziers. Aber dann trat er näher, warf einen flüchtigen Blick auf den Verletzten und schüttelte den Kopf. »Er muß von der HARRISON sein«, sagte er. »Nein, ich kenne ihn nicht. Aber ich weiß, woher er kommt. « Er sah auf, lächelte entschuldigend und salutierte nachlässig, als er sich wieder direkt an Trautman wandte. »Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, Sir. Mein Name ist Stanley. Kapitän Mark Stanley von der HMS GRISSOM. Ich danke Ihnen im Namen Seiner Majestät, daß Sie den Mann gerettet haben. Was hat er für Verletzungen?«

Etwas an der Art, auf die er diese Frage stellte, gefiel Mike nicht, und Trautman mußte es wohl ganz ähnlich ergehen, denn er zögerte eine Winzigkeit, ehe er antwortete: »Ich verstehe nichts davon, Sir. Aber ich glaube, man hat auf ihn geschossen. « »Ja, das denke ich auch«, antwortete Stanley. »Er sieht nicht gut aus. Ein Wunder, daß er noch lebt. Wo bleibt dieser Arzt?« Er sah sich suchend um, dann rief er mit erhobener Stimme: »Sparks!« Es verging nur eine Sekunde, dann drängte sich ein Mann in der blauen Uniform der Kriegsmarine durch die Menge, deren Aufmerksamkeit sich mittlerweile völlig auf den Offizier und Trautman konzentriert hatte. Er war ebenso groß und tadellos gekleidet wie Stanley, hatteaber deutlich weniger Streifen auf dem Ärmel. Wahrscheinlich sein Adjutant, dachte Mike. Der Mann nahm vor Stanley Aufstellung und salutierte zackig. »Sir?«

»Hängen Sie sich ans Funkgerät«, antwortete Stanley. »Sie sollen den Arzt herschicken. Wir haben hier einen Verletzten. «

Sparks eilte mit Riesenschritten davon, und Stanley drehte sich wieder herum und sagte: »Nichts gegen den Arzt der guten Leute hier, aber ich denke, daß sich unser Doktor ein wenig besser auf die Behandlung von Schußverletzungen versteht. «

Wie auf ein Stichwort hin kam in diesem Moment der Mann zurück, den Trautman nach dem Arzt geschickt hatte. Er war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich ein älterer Mann mit schütterem Haar, der noch einen Morgenmantel trug und vollkommen verschlafen wirkte. Trotzdem mußte er Stanleys Worte gehört haben, denn er spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. Aber er enthielt sich jedes Kommentares, sondern beugte sich nur wortlos über den Verletzten und schüttelte den Kopf, als Trautman Anstalten machte, die Decke beiseite zu schlagen, in die er eingewickelt war. »Hier kann ich überhaupt nichts für ihn tun«, sagte er. »Bringt ihn in mein Haus. Aber vorsichtig. « Trautman und die beiden Männer, die ihm schon zuvor geholfen hatten, hoben den Verletzten behutsam auf und trugen ihn zu einem der schmalbrüstigen, alten Häuser. Es ging durch einen dunklen Korridor in ein kleines, auf einen Hinterhof hinausgehendes Zimmer, das, wie es schien, zugleich als Wartewie auch als Behandlungszimmer diente. Es gab eine Anzahl ungepolsterter Stühle, die sich an der Wand neben der Tür aufreihten, einen unordentlichen Schreibtisch und einige mit Medikamenten, Töpfen, Flaschen und allerlei ärztlichen Instrumenten vollgestopfte Schränke. In der Mitte des Raumes stand ein gewaltiger Tisch mit einer makellos polierten Metallplatte, auf die die beiden Männer den Verletzten legten. Mike hatte nie zuvor eine Arztpraxis wie diese gesehen. Was vielleicht daran lag, daß er nie zuvor bei einemArztwie diesem gewesen war...

Mikes Augen wurden groß, als er das über dem Schreibtisch hängende Diplom erblickte: Dr. vet. Marcus Hanson.

Hanson war kein Arzt. Jedenfalls keiner fürMenschen.Er warTierarzt.

»Äh... Trau –« begann er und verbesserte sich hastig. »Großvater?«

Trautman reagierte erst mit ungefähr einer Sekunde Verzögerung, was nicht nur Mike auffiel. Auch Stanley sah auf, und wieder erschien dieser sonderbare, halb nachdenkliche, halb mißtrauische Blick in seinen Augen. Er sagte nichts. »Ja?« fragte Trautman.

Mike deutete schweigend auf das Diplom, und auch Trautman wurde ein wenig blaß um die Nase. Offenbar verstand er jetzt, warum Stanley es plötzlich so eilig gehabt hatte, seinen Schiffsarzt hierherzubeordern. Aber auch Hanson war der kurze Zwischenfall nicht entgangen. Er hatte mittlerweile die Decke von der Schulter des Verletzten entfernt und die Wunde einer ersten flüchtigen Musterung unterzogen. Jetzt sah er eindeutig verärgert auf. »Falls es jemanden interessiert«, sagte er scharf, »ich habe in meinem Leben wahrscheinlich mehr Schußwunden behandelt, als Sie alle zusammen je gesehen haben. Die Leute hier in der Gegend sind ganz versessen darauf, auf streunende Hunde und Katzen zu schießen, und manchmal erwischen sie dabei auch die ihrer Nachbarn oder gleich die Nachbarn selbst. Ich kann es natürlich auch lassen und auf den Arzt vom Schiff warten. « Stanley schien die Verärgerung des Arztes äußerst amüsant zu finden. Er schüttelte lächelnd den Kopf und deutete eine Verbeugung an. »Es liegt mir fern, an Ihren Fähigkeiten zu zweifehl, Doc«, sagte er. »Bitte, tun Sie Ihre Arbeit. «

Hanson bedachte ihn mit einem weiteren, zorngeladenen Blick, aber dann beugte er sich wieder über den Verletzten. »Das ist eine ziemlich üble Schußwunde«, sagte er. »Aber sie ist ausgezeichnet versorgt worden. « Er sah auf und blickte Trautman an. »Haben Sie das getan?« »Das war Sally«, antwortete Trautman. »Sie hat sich um ihn gekümmert, so gut es ging. Wir sind einfache Fischer, wir haben keine Erfahrung in – « »Aber das war hervorragende Arbeit«, unterbrach ihn Hanson. »Besser hätte ich es auch nicht gekonnt. « Er wandte sich an Serena. »Du hast diesem Mann das Leben gerettet, weißt du das? Wieso kannst du so etwas?« Mike hielt instinktiv den Atem an, aber Serena erwies sich als ausgezeichnete Schauspielerin. Mit perfekt gemimter Verblüffung sah sie den Arzt an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie und brachte es sogar fertig, einen kindlich naiven Ton in ihre Stimme zu zaubern. »Ich habe einfach getan, was mir richtig erschien. Habe ich etwas falsch gemacht?« »Um Gottes willen, nein!« sagte Hanson hastig. »Du hast eine Adernkompresse angelegt, die Wunde gesäubertund den Arm stillgelegt. Du mußt ein Naturtalent sein. Du solltest Ärztin werden, weißt du das?« Serena lächelte geschmeichelt, und Hanson wandte sich nach einem letzten, beinahe bewundernden Blick wieder seinem Patienten zu.

»Puh«, flüsterte Mike. »Das war knapp. Sag jetzt besser nichts mehr. «

Serena maß ihn mit einem vollkommen verständnislosen Blick. Als Hanson nach einem Skalpell griff, sog sie scharf die Luft ein.

»Was hat er mit dem Messer vor?« keuchte sie – so laut, daß alle im Raum die Worte hören mußten. »Keine Angst, junge Dame«, sagte Hanson lächelnd. »Ich tue deinem Patienten nichts. Ich muß nur die Wunde ein wenig aufschneiden, damit der Eiter abfließen kann. Ich bin sicher, er merkt es nicht einmal. « »Aber man schneidet doch einen Menschen, der krank ist, nicht auf!« sagte Serena entsetzt. »Das ist barbarisch! Da, wo ich herkomme –«

»Wo kommst du denn her?« fragte Stanley in so beiläufigem Ton, daß Serena um ein Haar geantwortet hätte. Aber Trautman war schneller. »Aus Wilshire, Käpt'n Stanley. « Stanley maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Wilshire, so«, sagte er. »Das

kenne ich. Aber das liegt nicht unbedingt am Meer. «

»Die beiden sind nur zu Besuch auf meinem Schiff«, antwortete Trautman nervös. »Mein Sohn und meine Schwiegertochter haben mit der Seefahrerei nichts am Hut. Aber die beiden haben sich gewünscht, einmal ein paar Wochen mit mir auf Fischfang zu gehen, und in diesem Jahr haben ihre Eltern es zum ersten Mal erlaubt. «

»Mitten im Schuljahr?« fragte Stanley. Er schüttelte den Kopf. »Nun, es geht mich nichts an, aber ich finde es nicht sehr verantwortungsbewußt von Ihnen, mit zwei Kindern an Bord in einem Kriegsgebiet zu kreuzen, Kapitän Trautman. «

»Wir haben vom Krieg bisher nicht viel bemerkt«, sagte Mike. »Ich schätze, die Navy hat uns gut beschützt. « Stanley lächelte, aber Mike war nicht ganz sicher, ob das nicht nur als Anerkennung für seine Schlagfertigkeit gemeint war. Er hatte das Gefühl, daß der Mann ihm kein Wort glaubte. »Wie heißt denn euer Schiff?« fragte Stanley. »Es ist die NAUT –«, begann Mike, biß sich auf die Unterlippe und verbesserte sich hastig: »Die NAUTIC STAR. Aber eigentlich ist es gar kein richtiges Schiff. Nur ein kleiner Kutter. «

»Soso. « Stanley nickte. »Und ihr fischt damit hier vor der Küste. Eigentlich hättet ihr mein Schiff sehen müssen. Die GRISSOM kreuzt draußen vor der Küste, nur ein paar Meilen entfernt. « Er wandte sich an Trautman. »Sind Sie aus östlicher Richtung gekommen?« »Aus Westen«, antwortete Trautman, und Stanley schüttelte abermals den Kopf.

»Seltsam. Sie hätten der GRISSOM genau vor den Bug laufen müssen. Sie ist kaum zu übersehen, wissen Sie. « »Vielleicht...

vielleicht liegt es am Nebel«, sagte Trautman. »Er war wirklich schlimm. Man konnte sozusagen die Hand vor den Augen nicht sehen. « Er lachte unecht. »Ich hoffe, wir finden unser Schiff überhaupt wieder. Es liegt draußen vor Anker. Ich wollte nicht damit in den Hafen einlaufen. Die NAUTIC STAR ist nicht groß, aber sie hat einen ziemlichen Tiefgang. « »Selbstverständlich werde ich Sie und Ihre Enkel zu Ihrem Schiff zurückbringen lassen«, sagte Stanley. »Aber vorher müssen Sie mir die Ehre erweisen, mich auf die GRISSOM zu begleiten und dort mit mir zu essen. Das ist das mindeste, was ich Ihnen als Dank schulde. Immerhin haben Sie einem Matrosen der Royal Navy das Leben gerettet. Und ihr beiden –« Er drehte sich zu Mike und Serena um und lächelte noch breiter. »– möchtet doch bestimmt einmal ein richtiges Kriegsschiff aus der Nähe sehen, oder?« »Ich fürchte, dazu haben wir keine Zeit«, sagte Trautman rasch. »Wir müssen weiter. Wir haben eine Verabredung, die wir einhalten müssen. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Man wird in Sorge sein, wenn wir nicht pünktlich kommen. Sie haben es ja selbst gesagt – die Gegend hier ist nicht besonders sicher. « »Ich kann Sie mit der GRISSOM ein Stück begleiten«, sagte Stanley.

Trautman winkte ab. »Das ist sehr freundlich, aber nicht nötig. Wer hätte schon Interesse daran, einem kleinen Fischerboot etwas zu tun. « Mike fand, daß er sich mit jedem Wort, das er sagte, weniger glaubhaft anhörte. Er wurde immer nervöser, und Stanley machte sich nun gar nicht mehr die Mühe,seine wahren Gefühle zu verbergen. Aber zu Mikes Überraschung verzichtete er darauf, weiter in Trautman zu dringen, sondern zuckte nur mit den Schultern. »Ganz wie Sie wünschen«, sagte er. »Aber dann darf ich Sie wenigstens noch nach draußen begleiten. «

Mike hatte damit gerechnet, daß sie sofort zum Boot gehen würden, aber Trautman wandte sich nach rechts und steuerte auf den Kolonialwarenladen zu, blieb aber nach einigen Schritten wieder stehen, da die Läden noch immer geschlossen waren. Er wirkte enttäuscht, was Stanley mit einem flüchtigen Lächeln quittierte. »Ja, die Provinz«, sagte er spöttisch. »Seit ich hierhergekommen bin, weiß ich endlich, was man unter einemverschlafenen Nestversteht. Die Leute hier gehen mit den Hühnern ins Bett, aber sie stehen nicht mit ihnen auf. « Er deutete auf das Meer hinaus. »Wenn Sie irgend etwas benötigen, ich bin sicher, daß wir an Bord der GRISSOM alles –«

»Das ist wirklich nicht nötig«, unterbrach ihn Trautman hastig. »Wir haben alles, was wir brauchen, vielen Dank. Ich wollte mir nur einige Zeitungen beschaffen. Wir sind jetzt seit zwei Wochen auf See, wissen Sie, und da ist man ganz begierig auf eine neue Zeitung. «

Sie änderten ihre Richtung und gingen nun wirklich auf das Boot zu, das von einer Gruppe Männern interessiert betrachtet wurde. Stanley folgte ihnen beharrlich. Er lachte wieder.

»Sie wären sowieso enttäuscht worden«, sagte er. »Die neueste Zeitung, die Sie hier bekommen, dürfte ein halbes Jahr alt sein. Aber wenn Sie an etwas Bestimmtem interessiert sind – vielleicht kann ich Ihnen Auskunft geben?«

Seine Augen wurden schmal, und sein Blick war nun eindeutig lauernd. Mike wünschte sich, sie hätten Astaroth mitgenommen. Der Kater hatte auch mitkommen wollen, aber Trautman war der Meinung gewesen, daß es zu ungewöhnlich sei, auch noch in Begleitung einer Katze an Land zu kommen. Ein Fehler, wie sich im nachhinein herausstellte. Aufgefallen waren sie Stanley sowieso. Und der Kater hätte seine Gedanken lesen und Mike mitteilen können, was dieser Mannwirklichvon ihnen wollte.

»Oh, ich will nichts Bestimmtes wissen«, antwortete Trautman. »Ich bin einfach nur neugierig. Das heißt

eineFrage interessiert mich doch. Was machen Sie hier? Es ist ungewöhnlich, den Kommandanten eines Kriegsschiffes an einem solchen Ort anzutreffen. « Stanley lächelte. »Sagen wir: Ich bin auf der Suche nach etwas. Oder jemandem. « Er sah Trautman scharf an. »Ihnen ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen auf dem Weg hierher?« fragte er. »Außer dem armen Kerl da drinnen?«

Trautman verneinte. »Nein. Wir haben uns immer dicht an der Küste gehalten. Unser Schiff ist nicht hochseetüchtig, wie Sie ja wissen. Was sollte mir denn aufgefallen sein?«

Stanley zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie es gesehen hätten, wüßten Sie, wovon ich rede. « Sie hatten mittlerweile das Wasser erreicht. Die Männer, die auf dem Kai standen, machten ihnen bereitwillig Platz, und Trautman kletterte als erster in das Boot hinunter. Stanley blickte ihm neugierig nach. »Eine interessante Konstruktion«, sagte er. »Was für eine Art Boot ist das? So etwas habe ich noch nie gesehen. « »Das ist... äh... ein Erbstück meines Vaters«, sagte Trautman. Er versuchte zu lachen, aber es wirkte so wenig überzeugend wie alles andere, was er bisher getan hatte. »Der alte Herr hatte eine Vorliebe für verrückte Sachen. Es sieht interessant aus, aber es schwimmt nicht sehr gut. Bei jeder größeren Welle muß man Angst haben, daß es kentert. « Stanley nickte, aber er tat es auf eine Art, der man ansah, daß er sich seinen Teil dabei dachte. Doch er sagte nichts mehr, sondern trat beiseite, um Serena vorbeizulassen. Mike machte sich als letzter daran, ins Boot zu steigen. Dabei drehte er sich herum, und sein Blick fiel auf die Gruppe von drei oder vier Männern unten an der Straße, die er vorhin schon bemerkt hatte. Er erstarrte. Es war vielleicht nur eine Sekunde, daß er das Gesicht eines der Männer deutlich sah, aber diese winzige Zeitspanne war mehr als ausreichend, um ihn zu erkennen.

Er trug die gleiche Art einfacher, grober Kleidung, die hier üblich zu sein schien. Sein graues Haar war unter einer schwarzen Mütze verborgen und der untere Teil seines Gesichtes lag hinter einem schwarzen Wollschal, vorgebend, es vor dem schneidenden Wind zu schützen, der vom Meer her wehte, in Wahrheit aber wohl eher, um den sauber gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart zu verdecken. Mike wußte, daß er sich hinter dem Schal verbarg. Er hatte sich dieses Gesicht zu deutlich eingeprägt, um es jemals wieder zu vergessen.»Winterfeld!«keuchte er. »Das... das ist Winterfeld!« Trautman sah mit einem Ruck auf. Auf seinem Gesicht machte sich Entsetzen breit, und auch Stanley fuhr abrupt herum, starrte erst ihn und dann den Mann in der schwarzen Jacke an.

Aber als Mike ebenfalls wieder in dessen Richtung blickte, war er verschwunden. Und mit ihm die drei anderen Männer. »Mike!« sagte Trautman scharf. »Komm schon! Wir müssen los!«

Mike erwachte aus seiner Erstarrung und fuhr herum. Er sprang mit einem Satz ins Boot, und noch während er um sein Gleichgewicht kämpfte, löste Trautman bereits mit fliegenden Fingern das Tau, das das Boot am Ufer hielt.

»Sir!« sagte Stanley scharf. »Auf ein Wort noch!« Trautman ignorierte ihn. Hastig warf er das Tau über Bord, griff nach einem der Ruder und versuchte, das Boot damit von der Kaimauer abzustoßen. »Trautman!« sagte Stanley. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« Das war keine Bitte mehr, sondern ganz eindeutig ein Befehl. Jede Spur von Freundlichkeit war aus Stanleys Stimme verschwunden.

Mike griff rasch nach dem zweiten Ruder, stemmte es gegen die Kaimauer und drückte mit aller Kraft. Jetzt bewegte sich das Boot schneller, aber noch immer nicht schnell genug. Stanley hatte wohl eingesehen, daß sie seinem Befehl nicht freiwillig folgen würden, denn er beugte sich vor und versuchte, eines der Ruderblätter zu packen. Serena sprang auf und fuhr ihm mit den Fingernägeln über den Handrücken. Stanley zog die Hand mit einem zornigen Schrei wieder zurück, und endlich kamen sie frei. Das Boot glitt träge drei, vier Yards von der Kaimauer fort und begann sich auf der Stelle zu drehen, als Mike das Ruder ins Wasser tauchte.

»Trautman, das ist ein Befehl!« donnerte Stanley. »Kommen Sie zurück!« Mike ruderte wie wild. Das Boot drehte sich scheinbar auf der Stelle und richtete den stumpfen Bug auf

die Hafenausfahrt und den Nebel, der noch immer wie eine

graue Wand davor aufragte.

Trautman war nach hinten gehastet und hatte die Plane beiseitegeschlagen, unter der sich der Außenbordmotor des Bootes verbarg.

Stanley schrie ihnen ein weiteres Mal zu, dazubleiben, aber seine Worte gingen im Geräusch des erwachenden Motors unter. Nur wenige Sekunden später begann das Wasser hinter dem Heck des Bootes zu brodeln, und sie schossen pfeilschnell auf die Hafenausfahrt und die offene See zu.

Der Nebel verschluckte sie wie eine weiche, weiße Wand, aber das Gefühl der Sicherheit, auf das Mike wartete, stellte sich nicht ein. Er ertappte sich dabei, wie er sich immer wieder umdrehte und in das wogende Grau hinter dem Boot zurückblickte, und er erwartete jeden Augenblick, einen Verfolger dort auftauchen zu sehen. Was natürlich nicht geschehen würde. Das Boot war viel schneller als jedes Schiff, und der Nebel gab ihnen zusätzlichen Schutz.

»Das war knapp!« sagte Trautman. Auch er sah sich immer wieder um, was Mike klarmachte, daß auch er sich nicht sicher fühlte.

»Es tut mir leid«, sagte Mike kleinlaut. »Ich... ich wollte das nicht sagen. Aber als ich Winterfeld erkannt habe –«

»Bist du sicher, daß er es war?« fragte Trautman. »Ganz sicher«, bestätigte Mike. Er hatte ihn allerhöchstens eine Sekunde gesehen, aber es gab überhaupt keinen Zweifel – der Mann in der schwarzen Jacke war Winterfeld gewesen. »Ich weiß, ich hätte mich beherrschen sollen, aber –«

»Es ist nicht deine Schuld«, unterbrach ihn Trautman. »Stanley hätte uns sowieso aufgehalten. Der Mann ist mißtrauisch. Und er ist nicht dumm. Er hat uns kein Wort geglaubt. Keine Angst – er wird uns nicht einholen. Bevor sein Schiff hier ist, sind wir längst meilenweit weg. « Er bemühte sich, optimistisch zu klingen, aber sein Gesichtsausdruck war sehr ernst. »Was mir Sorgen bereitet, ist Winterfeld«, sagte er. »Was macht er hier?«

»Ich frage mich vielmehr, was diesebeidenMänner hier tun«, sagte Serena. »Stimmt es, was Mike über den Ort erzählte? Daß er ganz unbedeutend sein soll?« »Das dürfte noch geschmeichelt sein«, antwortete Trautman.

»Aber es kann nicht stimmen«, widersprach Serena. »Nicht wenn sie beide hier sind. « Trautmans Gesicht verdüsterte sich noch weiter. »Ja«, murmelte er. »Das scheint mir auch so. Aber keine Sorge – wir werden es herausfinden, sobald wir wieder auf der NAUTILUS sind. Und wir –«»Still!«Serena hob hastig die Hand und legte den Kopf auf die Seite. Trautman verstummte mitten im Wort, und auch Mike lauschte angespannt. Nach einer Sekunde hörte er es auch: In das Geräusch der Brandung und das Dröhnen ihres Motors hatte sich ein neuer Laut gemischt. Ein tiefes Summen, das rasch lauter wurde. Mike vermochte nicht zu sagen, was es bedeutete, aber es gefiel ihm nicht.

Auch Trautman schien das Geräusch zu beunruhigen, denn er erhöhte ihr Tempo. Die Sicht betrug vielleicht zehn oder fünfzehn Meter. Sie waren viel zu schnell, um irgendeinem Hindernis, das unversehens vor ihnen auftauchen mochte, noch rechtzeitig auszuweichen. Mike schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß ihre Flucht nicht an einem Riff oder einer Sandbank enden mochte, die sie auf dem Weg hierher übersehen hatten. Aber er beruhigte sich damit, daß Trautman ein ausgezeichneter Steuermann war, der wußte, was er tat.

Sie liefen auf kein Riff, und es vergingen auch nur noch einige wenige Sekunden, bis der Nebel ein wenig auflockerte. Die grauen Schwaden lösten sich nicht ganz auf, aber sie konnten wenigstens wieder etwas weiter sehen. Was Mike allerdingsnichtausmachen konnte, das war die NAUTILUS. »Wo ist das Schiff?« fragte er alarmiert. »Keine Sorge«, antwortete Trautman. »Singh weiß, was er tut. Wenn wir ihn nicht finden, dann findet er uns. « Mike hoffte inständig, daß es so war. Trautman hatte sicher recht – es würde eine geraume Weile dauern, bis Stanley Kontakt mit seinem Schiff aufgenommen hatte und die GRISSOM hier sein konnte. Andererseits saßen sie in einem winzigen Boot, und ihr Treibstoffvorrat war beschränkt, vor allem bei dem mörderischen Tempo, das Trautman vorlegte. Sie konnten sich nicht ernsthaft einreden, ein Wettrennen mit einem ausgewachsenen Zerstörer zu gewinnen.»Da!«schrie Serena plötzlich.»Seht doch!«Ihre Hand wies nach hinten. Mike drehte sich hastig im Boot herum – und schrie vor Schreck laut auf. Das Summen war lauter geworden und mittlerweile fast zu einem Dröhnen angewachsen. Es kam von einem graugestrichenen, schlanken Boot, das hinter ihnen aus dem Nebel aufgetaucht war, viel größer als ihr eigenes – aber nicht nennenswert langsamer. Ganz im Gegenteil: Mike registrierte mit einem Gefühl eisigen Entsetzens, daß ihr Vorsprung allmählich zusammenschmolz. Offensichtlich hatten sie Stanley unterschätzt. Der Kapitän hatte sich nicht allein auf die GRISSOM verlassen, die irgendwo, vielleicht meilenweit entfernt, vor Anker lag. Das Schnellboot mußte ganz in der Nähe des Hafens gewartet haben, ebenso wie die NAUTILUS im Nebel verborgen, so daß sie es auf dem Weg zur Küste nicht einmal gesehen hatten. Trautman fluchte und erhöhte ihre Geschwindigkeit noch einmal. Das Boot machte einen regelrechten Satz und flog nun wie ein flach geworfener Stein über das Wasser, und obwohl auch ihr Verfolger noch einmal kräftig an Geschwindigkeit zulegte, wuchs ihr Vorsprung wieder.

Der Nebel lichtete sich weiter, und endlich sahen sie die NAUTILUS. Das Tauchboot befand sich noch eine gute Meile entfernt, und Mike registrierte voller Entsetzen, daß die Turmluke offen stand und sich die gesamte Besatzung an Deck aufhielt. Er begann zu schreien und mit beiden Armen zu gestikulieren, obwohl er selbst wußte, wie wenig das nutzte. Sie waren viel zu weit entfernt, um gehört zu werden. Erfüllt von einem Gefühl der Furcht, das einer Panik nahe kam, blickte er wieder zu ihrem Verfolger. Das Schnellboot war weiter zurückgefallen, aber nun sah er etwas, was ihm bisher entgangen war: Das Schnellboot war nicht nur ein Schnellboot – es war zugleich auch ein Kanonenboot. Auf dem Vorderdeck befand sich ein bisher unter einer Segeltuchplane verborgenes Geschütz, das nun von zwei Männern hastig freigelegt wurde. Mike zweifelte, daß sie bei dem Tempo, mit dem das Schiff durch die Wellen pflügte, einen gezielten Schuß abgeben konnten, aber allein der Anblick der Kanone, die sich auf sie richtete, ließ sein Herz schneller schlagen.

Er sah wieder zur NAUTILUS hinüber. Dort hatte man gottlob mittlerweile ebenfalls ihre Verfolger bemerkt. Singh und die anderen hasteten mit gewaltigen Schritten auf den Turm zu, und es verging nicht einmal eine Minute, bis das Wasser hinter dem Heck der NAUTILUS zu sprudeln begann. Offensichtlich hatte Singh zumindest nicht den Fehler begangen, die Maschinen ganz abzustellen.

Ein dumpfer Knall wehte über das Meer, und nur einen Augenblick später schoß eine zwanzig Meter hohe Wassersäule rechts von ihnen in die Höhe. Der Schuß lag daneben, aber er zeigte Mike auch, daß ihre Verfolger entschlossen waren, sie unter allen Umständen aufzuhalten; koste es, was es wolle.

Trautman fluchte erneut und versuchte, noch mehr Geschwindigkeit aus dem Motor herauszuholen, aber die kleine Maschine war an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Das Kanonenboot feuerte ein zweites Mal. Diesmal schlug die Granate beunruhigend nahe bei ihrem Boot ein, aber das war wohl nur ein Zufall – der nächste Treffer lag wieder weit vor ihnen im Wasser. Und der vierte Schuß noch weiter. Und dann hatte Mike das Gefühl, von einer eisigen Hand berührt zu werden. »Großer Gott!« flüsterte er. »Sie feuern auf die NAUTILUS!« Wie um seine Worte zu bestätigen, gab die Kanone des Schnellbootes einen weiteren Schuß ab. Die Explosion zerriß die Wasseroberfläche nur wenige Meter vom Heck der NAUTILUS entfernt. Das ganze Schiff schwankte.

Aber auch Singh hatte die Gefahr erkannt. Die NAUTILUS setzte sich in Bewegung. Die nächste Granate verfehlte sie wieder um weit mehr als hundert Meter, und dann stellten die Männer auf dem Schnellboot das Feuer ein; wahrscheinlich, weil sie begriffen hatten, daß ein gezielter Schuß bei ihrem Tempo nicht möglich war, und sie nicht genug Munition hatten, um auf einen Zufallstreffer hoffen zu können. »Hält sie einen direkten Treffer aus?« fragte Mike nervös.

»Ich hoffe«, antwortete Trautman. »Aber keine Angst – sie erwischen uns nicht. «

Die NAUTILUS war mittlerweile herumgeschwenkt und hatte mehr Fahrt aufgenommen. Sie war jetzt fast so schnell wie sie selbst und wurde immer noch schneller, und eine einzige, aber gräßliche Sekunde lang mußte sich Mike mit aller Macht gegen den Gedanken wehren, daß Singh und die anderen vielleicht in Panik geraten waren und sie hier zurückließen. Natürlich war das unvorstellbar. Singh würde sie niemals im Stich lassen, das wußte er. Er hatte irgend etwas vor – aber es vergingen endlose Sekunden, bis Mike begriff, was. Die NAUTILUS lief nun genau vor ihnen her. Sie wurde jetzt wieder langsamer; nicht viel, aber doch genug, daß sich der Zwischenraum zwischen ihr und dem heranrasenden Boot allmählich wieder verringerte. Und endlich verstand er Singhs Plan – und es sträubten sich ihm schier die Haare.

Das Beiboot war normalerweise in einer eigens dafür geschaffenen Aussparung im Heck der NAUTILUS untergebracht, die nun direkt vor ihnen lag – allerdings auch genau zwischen den beiden gewaltigen Schrauben, die das Schiff antrieben. Offensichtlich wollte Singh, daß Trautman das Boot genau in diese Aussparung hineinsteuerte, so daß sie praktisch in voller Fahrt zur NAUTILUS überwechseln und unter Deck gehen konnten. Und da die NAUTILUS immer noch beinahe so schnell war wie ihr Verfolger, würden sie auf diese Weise keine wertvolle Zeit verlieren. Der Plan war gar nicht schlecht – leider aber auch lebensgefährlich. Ein einziger Fehler Trautmans, und sie würden die Aussparung verfehlen und gegen die Heckflosse prallen oder von den Schrauben zerfetzt werden. Nervös sah er zu ihrem Verfolger zurück. Der Abstand zwischen ihnen und dem Schnellboot war wieder gewachsen. Vielleicht befanden sie sich sogar schon außer Schußweite. Trotzdem sah Mike noch keinen Grund, aufzuatmen. Sie hatten nur eine einzige Chance. »Schaffen Sie es?« fragte er gepreßt. Trautman lächelte nervös. »Keine Angst«, sagte er – in einem Ton, der ganz dazu angetan war, das gegenteilige Gefühl in Mike auszulösen. »Aber haltet euch fest. Es könnte ein bißchen wackelig werden!«

Mike und Serena klammerten sich am Bootsrand fest, während sie auf die NAUTILUS zuschossen. Ihr Tempo kam ihm plötzlich gar nicht mehr so viel geringer als das des Unterseebootes vor – ganz im Gegenteil. Auf dem letzten Stück schien die NAUTILUS regelrecht auf sie zuzuspringen. Mike spannte instinktiv alle Muskeln im Leib an, während sie zwischen den beiden gewaltigen Schaumbergen, die die Schrauben aufwirbelten, hindurchjagten. Er konnte den rasenden, so tödlich schnell drehenden Stahl hinter dem sprudelnden Wasser erkennen und glaubte sogar den Luftzug zu spüren, den die rotierenden Schrauben verursachten, dann waren sie dazwischen hindurch – und das Boot glitt mit schier unglaublicher Präzision in den eisernen Hafen, der im Heck der NAUTILUS eingelassen war, und berührte fast sanft den Rumpf des Schiffes. Ein dumpfes Klacken erscholl, als die magnetischen Halterungen einrasteten.

»Schnell jetzt!« schrie Trautman. »An Deck!« Mike sprang als erster aus dem Boot, fuhr herum und streckte Serena die Hand entgegen, um ihr zu helfen. Sie ignorierte diese, war mit einer Bewegung an ihm vorbei und rannte mit gewaltigen Sätzen auf den Turm der NAUTILUS und die offenstehende Luke zu. Der hintere Einstieg war verschlossen, und ihnen würde keine Zeit bleiben, ihn zu öffnen. »Lauf!« schrie Trautman. »Wir haben kei –« Der Rest des Satzes ging in einem ungeheuren Dröhnen und Krachen unter. Mike fühlte sich wie von einer unsichtbaren Hand gepackt und mit grausamer Wucht auf das metallene Deck der NAUTILUS geschleudert. Er spürte den Schmerz kaum, aber eine Sekunde lang mußte er mit aller Macht gegen die Bewußtlosigkeit kämpfen, die seine Gedanken umschlingen wollte. Rings um ihn herum schien die Welt in Stücke zu brechen. Das Dröhnen und Krachen wollte nicht aufhören, und Mike fühlte sich gleichzeitig von eisigem Wasser durchnäßt und von einem heißen Luftzug getroffen. Funken stoben. Es roch nach verbranntem Metall. Trautman riß ihn auf die Füße und zerrte ihn einfach mit sich, während er auf den Turm zuhetzte. Sie waren getroffen worden, das war klar, aber er hatte keine Ahnung, wie schwer. Während er die Leiter zum Einstieg hinaufkletterte, halb von Trautman gezogen, versuchte er zum Heck der NAUTILUS zurückzublicken. Eine schwarze Rauchwolke hatte die Heckflosse und das Beiboot eingehüllt. Mike konnte nicht erkennen, welchen Schaden der Treffer angerichtet hatte. Er hoffte nur, daß der Stahl der NAUTILUS tatsächlich so hart und unzerstörbar war, wie sie immer angenommen hatten. Immer noch halb benommen, kletterte er in den Turm hinab und wartete auf Trautman, der hastig den Einstieg über sich verriegelte. »Singh!« schrie er. »Tauchen! Kurs aufs offene Meer und tauchen! Sofort!« Trautman hatte kaum die ersten Stufen der nach unten ins Schiff führenden Treppe hinter sich gebracht, da antwortete Singhs Stimme aus der Tiefe: »Es geht nicht! Irgend etwas ist beschädigt!« Trautman erstarrte. Für einen Herzschlag machte sich Panik auf seinem Gesicht breit, dann fuhr er herum und trat an das fast mannshohe Steuerrad, das einen Großteil der Turmkammer beanspruchte. Plötzlich wirkte er ganz ruhig. Auf einen Wink hin löste Mike den Hörer der Sprechanlage von der Wand, die die Turmkammer mit dem Salon zwei Stockwerke unter ihnen verband, und reichte ihn ihm, während er selbst bereits nach dem Ruder griff.

Singhs Stimme, die verzerrt aus dem kleinen Trichter drang, schien vor Panik fast überzukippen. »Irgend etwas stimmt nicht!« schrie der Inder. »Alle Geräte sind in Ordnung, aber sie will einfach nicht tauchen. Der Treffer muß irgend etwas beschädigt haben!«

»Ganz ruhig«, antwortete Trautman. Er atmete hörbar ein, schloß für eine Sekunde die Augen und deutete Mike dann mit einer Kopfbewegung, an eines der beiden großen Bullaugen zu treten und die Umgebung im Auge zu behalten.

»Ich übernehme die Steuerung von hier aus«, sagte Trautman.

»Keine Angst – sie kriegen uns nicht. Wir sind immer noch doppelt so schnell wie sie. « »Ja«, sagte Mike, ehe Singh antworten konnte. »Aber dafür sind sie doppelt so viele wie wir. « Trautman blinzelte, drehte den Kopf in seine Richtung – und wurde bleich, als sein Blick an Mike vorbei auf das Meer fiel.

Die NAUTILUS hatte ihren Kurs abermals geändert, so daß das Schnellboot nun nicht mehr direkt hinter ihnen lag und sie den Verfolger sehen konnten. Er war nicht mehr allein. Hinter dem Schnellboot war ein zweites, ungleich größeres Schiff aufgetaucht, das mit voller Kraft auf sie zulief. In leuchtenden, weißen Buchstaben war an seinem Bug der Name HMS GRISSOM aufgemalt.

»Wo zum Teufel sind die so schnell hergekommen?« murmelte Mike fassungslos. »Das sieht ja fast so aus, als hätten sie auf uns gewartet. «

»Ja – oder auf jemand anderen«, sagte Trautman nachdenklich. Er blickte den englischen Zerstörer noch eine Sekunde lang an, dann gab er sich einen Ruck und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem offenen Meer vor der NAUTILUS zu. »Aber das nutzt ihnen auch nichts«, sagte er. »Stanley wird sich gleich verdammt wundern, wie schnell ein Schiff sein kann. « Er griff wieder nach dem Trichter der Sprechanlage. »Singh – ich brauche alle Kraft, die die Maschinen hergeben. Wir wollen unseren britischen Kollegen doch einmal zeigen, was das Wortschnellbedeutet. « Mike fand Trautmans Optimismus etwas unangemessen, aber auf der anderen Seite wußte er auch, wozu dieses Schiff imstande war. Sie würden keine fünf Minuten brauchen, um der GRISSOM so weit davonzulaufen, daß sie die Verfolgung aufgab. Der Zerstörer war nicht annähernd so schnell wie das Kanonenboot, das sie gejagt hatte, und selbst dem waren sie entkommen. »Behalte die GRISSOM im Auge«, sagte Trautman. »Sag mir, wenn sich irgend etwas tut. « »Und was?« fragte Mike.

»Das wirst du wissen, wenn es passiert«, antwortete Trautman. Er klang jetzt wieder nervös. Aufmerksam beobachtete Mike den Zerstörer, der sichtbar hinter ihnen zurückzufallen begann, warf aber trotzdem ab und zu einen Blick nach vorne. Nach ein paar Sekunden bemerkte er etwas, was ihn verwirrte: Trautman hatte den Kurs abermals geändert und steuerte das Schiff nun wieder parallel zur Küste, statt das offene Meer anzulaufen, wie Mike erwartet hatte. Er sah wieder zur GRISSOM zurück – und im selben Augenblick begriff er voller Entsetzen, was Trautman gemeint hatte.

Der Zerstörer fiel immer schneller zurück, jetzt, wo die NAUTILUS mehr und mehr Fahrt aufnahm, aber abgesehen von seiner Größe und Schnelligkeit gab es noch einen Unterschied zwischen dem Zerstörer und dem Kanonenboot, das sie zuerst verfolgt hatte: Die GRISSOM verfügte über wesentlich mehr Geschütze, und sie waren von größerem Kaliber und hatten eine sehr viel größere Reichweite. Mikes Herz schien einen Schlag zu überspringen, als er sah, wie sich zwei der Geschütztürme langsam in ihre Richtung drehten.

»Trautman!« krächzte er.

»Ich weiß«, antwortete Trautman, ohne aufzusehen. »Aber wir schaffen es, keine Angst. « Vom Deck der GRISSOM stiegen zwei weiße Rauchwolken auf. Augenblicke später hörte Mike ein schrilles Heulen, das rasend schnell näher kam. Einer der beiden Schüsse verfehlte die NAUTILUS um fast eine viertel Meile, aber die zweite Granate explodierte so nahe, daß das Schiff sich ächzend auf die Seite legte und eine gewaltige Woge den Turm überspülte. Mike hielt sich hastig am Türrahmen fest, während Trautman mit verbissener Kraft das Steuerruder umklammert hielt.

Schritte polterten die Treppe herauf. Ben stolperte mit angstverzerrtem Gesicht in den Turm und wäre beinahe gegen Trautman geprallt, hätte Mike ihn nicht im letzten Moment zurückgerissen. »Was ist passiert?« stammelte Ben. »Wieso – o Gott!« Seine Augen wurden groß, als er die GRISSOM erblickte. »Das ist das Ende!«

»Keine Angst«, sagte Trautman. »Wir müssen noch eine Salve überstehen, dann sind wir in Sicherheit. Wir schaffen es!« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Küste. Nicht weit vor ihnen erhob sich ein gewaltiger Felsen, der ein gutes Stück weit ins Meer hineinragte. Offenbar hatte er vor, die NAUTILUS nahe genug an diesen Felsen heranzusteuern, um ihn als Schutz zwischen sich und die GRISSOM zu bringen. Und der Plan konnte aufgehen, dachte Mike. Bis der Zerstörer den Felsen erreicht und umrundet hatte, waren sie außer Schußweite. Und wenn sie erst einmal auf offener See und in Sicherheit waren, konnten sie sich in aller Ruhe um die Schäden kümmern, die die NAUTILUS davongetragen hatte.

»Wenn wir nur wüßten, was kaputt ist!« stöhnte Mike. Plötzlich erschrak er und fuhr zu Ben herum. »Haben wir ein Leck?«

»Nein«, antwortete Ben. »Das dämliche Ding taucht einfach nicht, das ist alles!« »Wahrscheinlich ist nur das Tiefenruder verklemmt«, sagte Trautman. »Eine Kleinigkeit. Sobald wir in Sicherheit sind –

festhalten!«

Das letzte Wort hatte er geschrien, aber es ging trotzdem fast im Dröhnen der Explosion unter, die das Meer nur wenige Meter vor der NAUTILUS auseinanderriß. Mike und Ben wurden von den Füßen und gegeneinander geschleudert, als sich die NAUTILUS wie ein waidwundes Tier aufbäumte und dann mit einem ungeheuren Krachen wieder ins Wasser zurückfiel. Als Mike sich benommen aufrichtete, hatten sie den Felsen fast erreicht. Zwei oder drei Sekunden lang sah er nichts als eine mächtige graue Wand, die so nahe vor dem Fenster vorüberglitt, daß er auf das Scharren von Metall wartete und auf das schreckliche Geräusch berstender Rumpfplatten. Trautman ging ein ungeheures Risiko ein, das Schiff so nahe an dem Hindernis vorbeizusteuern – aber jede Sekunde, die sie gewannen, konnte buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. Und der furchtbare Schlag, auf den sie warteten, blieb aus. Plötzlich war der Felsen nicht mehr da, sondern wieder offenes Meer, und die NAUTILUS schien wie ein von der Kette gelassener Jagdhund loszuspringen und –

Der Anblick war so grotesk, daß Mike vollkommen fassungslos das riesige, graugestrichene Kriegsschiff ansah, das nicht einmal eine halbe Meile vor ihnen lag. »Großer Gott!« flüsterte Trautman. Auch er schien vollkommen gelähmt zu sein. Für einen endlosen Augenblick stand er einfach da und starrte das Schiff an, dann begann er wie besessen am Ruder zu drehen und griff mit der anderen Hand nach dem Sprechgerät.»Singh! Maschinen stop! Volle Kraft zurück!«Und dann überschlugen sich die Ereignisse förmlich. Ben schrie. Trautman brüllte Singh ununterbrochen zu, kehrtzumachen, und die NAUTILUS bebte und schwankte wie ein kleines Segelboot im Sturm. Die Maschinen der NAUTILUS brüllten auf und versuchten die rasende Fahrt zu stoppen, aber das Schiff schoß noch immer pfeilschnell auf den wartenden Kreuzer zu, der das Meer vor ihnen blockierte, und Mike war nun endgültig davon überzeugt, daß ihrer aller Tod bevorstand. Sie waren zu schnell. Und das Schiff war einfach zugroß,um es wie ein kleines Motorboot herumzuwerfen und dem Hindernis auszuweichen. Sie mußten unweigerlich gegen den Kreuzer prallen und daran zerschellen.

Aber irgendwie schaffte es Trautman. Weder Mike noch Ben

–und wahrscheinlich nicht einmal Trautman selbst – hätten hinterher sagen können, wie es ihm gelungen war, aber der tödliche Zusammenstoß blieb aus. Die NAUTILUS wurde langsamer. Der Bug tauchte tief in die schäumende See ein und schwenkte dabei wieder herum, und schließlich kam das Schiff zur Ruhe–keine zwanzig Meter vor dem Kreuzer entfernt und jetzt parallel zu ihm liegend, so daß der Bug mit dem Rammsporn wieder auf das offene Meer hinauswies. Ihre Lage kam Mike wie eine böse Ironie des Schicksals vor. Die Freiheit lag in Fahrtrichtung vor ihnen, nur wenige hundert Meter und einige Minuten entfernt, aber ebensogut hätten sie sich auch im Zentrum der britischen Kriegsflotte befinden können. Der Kreuzer hatte sämtliche Geschütze auf die NAUTILUS gerichtet, und Mike war sicher, daß sie das Feuer eröffnen würden, wenn sich das Schiff auch nur rührte. Und aus dieser geringen Distanzkonntensie gar nicht danebenschießen.

»Moment mal«, sagte Ben plötzlich. »Das... das gibt es doch nicht!« »Was?« fragte Mike.

Ben begann plötzlich mit beiden Händen zu gestikulieren. »Bist du denn blind?« rief er. »Siehst du das etwa nicht? Das ist eindeutsches Schiff!«

Mikes Augen weiteten sich ungläubig, während sein Blick über die Flanke des gewaltigen Schiffes glitt, das neben ihnen lag. Er starrte die Flagge mit dem weißen Balkenkreuz auf schwarzem Grund an, und dann die Uniformen der Matrosen, die hinter den Geschützen oder mit angelegten Gewehren an der Reling standen, und er wußte, daß Ben recht hatte – aber er weigerte sich für einen Augenblick einfach noch, es zu glauben. »Das... das darf doch nicht wahr sein!« jammerte Ben. »Vermutlich gibt es in der ganzen deutschen Flotte nur einen Kapitän, der wahnsinnig genug ist, direkt die englische Küste anzulaufen, und wir laufen ausgerechnet ihm in die Arme. « Plötzlich wurde er noch blasser, als er ohnehin schon war. Mit einer entsetzten Bewegung fuhr er zu Trautman herum. »Fahren Sie los!« keuchte er. »Mein Gott, Trautman, wissen Sie, was passiert, wenn die GRISSOM hier auftaucht?! Sie... sie werden auf der Stelle übereinander herfallen, und wir sind mitten zwischen ihnen! Wir werden in Stücke geschossen!«

Trautman sah ihn nur traurig an. Sein Gesicht war grau geworden, und plötzlich sah er unendlich müde und alt aus. Er

rührte sich nicht, und er rührte auch das Ruder nicht an. Es wäre

auch zu spät gewesen.

Die HMS GRISSOM und das Schnellboot tauchten hinter dem Felsen auf. Mike hielt den Atem an. Nichts geschah. Weder das deutsche Schiff noch die GRISSOM eröffnete das Feuer. Der Zerstörer kam langsam näher, begleitet von dem kleinen Kanonenboot, das sich nun wieder aus seinem Windschatten löste und direkt auf die NAUTILUS zufuhr. Sämtliche Geschütze der GRISSOM waren auf die NAUTILUS gerichtet. Auf die NAUTILUS – nicht etwa auf das deutsche Schiff. Und auch dessen Kanonen blieben weiter auf sie gerichtet, statt auf den Erzfeind einzuschwenken, wie Ben und Mike eigentlich erwartet hatten. Nicht einmal die Soldaten, die hinter der Reling des Kreuzers standen, bewegten sich.

»He!« murmelte Mike. »Da... da stimmt doch was nicht!«

Trautman schwieg noch immer. Aber auf seinem Gesicht war ein ungläubiger Ausdruck erschienen. Wortlos sahen sie zu, wie sich das Schnellboot näherte, die NAUTILUS einmal umkreiste und dann ganz in der Nähe des Turmes zur Ruhe kam. In seinem Bug erschien eine hochgewachsene, in eine dunkelblaue Marineuniform gekleidete Gestalt, die ein Megaphon in den Händen hielt.

»Ahoi, Kapitän Trautman – oder wie immer Sie heißen mögen!« rief er. »Gestatten Sie, daß ich an Bord komme?«

Während die Besatzung des Schnellbootes eine Planke herbeischaffte, über die Stanley trockenen Fußes auf das tiefer gelegene Deck der NAUTILUS gelangen konnte, öffnete Trautman die Turmluke und kletterte als erster ins Freie – sehr langsam und mit erhobenen Händen, was Mike im allerersten Moment ein wenig dramatisch vorkam. Aber als er ihm nach einigen Augenblicken folgte und einen Blick zur Reling des Zerstörers emporwarf, da empfand er Trautmans Vorsicht als gar nicht mehr so übertrieben. Zum ersten Mal sah er, wie viele Gewehre sich auf die NAUTILUS gerichtet hatten – er zählte sie nicht, aber es mußten weit über hundert sein. Und obwohl die Soldaten mit sprichwörtlich preußischer Disziplin dastanden und sich nicht rührten, konnte er ihre Nervosität regelrecht fühlen. Die Situation hatte etwas von der Lage eines Mannes an sich, der mit beiden Füßen in einer Schüssel voller Benzin steht und eine brennende Zigarette in der Hand hält. Ein winziger Fehler, vielleicht nur eine unbedachte Bewegung, und ihnen würde keine Zeit mehr bleiben, sie zu bereuen.

Nach und nach kamen auch die anderen an Deck – Ben, Juan, Chris, Singh und schließlich als letzte Serena, dicht gefolgt von Astaroth und Isis, der kleinen schwarzweißen Katze, die sie von ihrem Abenteuer auf dem Meeresgrund mitgebracht hatten. Niemand sprach. Selbst Astaroth, der normalerweise keine Gelegenheit ausließ, eine gehässige Bemerkung anzubringen, schwieg jetzt. Alle blickten Stanley mit steinernem Gesicht entgegen.

Die Soldaten hatten den provisorischen Laufsteg mittlerweile befestigt. Ein halbes Dutzend mit Gewehren bewaffneter Männer war auf das Deck der NAUTILUS heruntergekommen und hatte im Halbkreis rings um sie herum Aufstellung genommen, aber Stanley selbst zögerte sonderbarerweise noch, das Schnellboot zu verlassen. Sein Blick irrte immer wieder zwischen der NAUTILUS und dem deutschen Kreuzer hin und her, als warte er auf etwas oder jemanden. Und er mußte auch nicht mehr lange warten. Nach kaum einer Minute durchdrang das Geräusch eines Motors die fast unheimliche Stille, die sich über dem Tauchboot ausgebreitet hatte, und dann kurvte eine kleine Barkasse um den Kreuzer herum und hielt unmittelbar neben Stanleys Schnellboot an. Mike beobachtete mit wachsender Verblüffung, wie ein halbes Dutzend deutscher Soldaten auf das Kanonenboot übersetzte und sich von dort aus zu ihren englischen Kollegen gesellte. Als letzter setzte ein hochgewachsener, bärtiger Mann in der Uniform eines Kapitäns zu Stanley über. Die beiden tauschten einige knappe Worte und betraten dann gemeinsam die NAUTILUS. »Was um alles in der Welt bedeutet das?« murmelte Ben fassungslos. »Was hat er mit diesem Deutschen zu tun?«

Trautman gebot ihm mit einer raschen Geste, zu schweigen. Er blickte den beiden Offizieren gebannt entgegen. Sie kamen nebeneinander näher, fast im Gleichschritt, und obwohl sie sich so unähnlich waren, wie es nur ging – Stanley eine schlanke, drahtige Erscheinung mit dem typischen Aussehen und Gehaben eines britischen Gentleman, der Deutsche ein wahrer Koloß, gut einen Kopf größer als Stanley und mit einem Gesicht, auf dem ein Lachen einfach unvorstellbar erschien, strahlten sie doch beide dieselbe Art von Autorität und Kompetenz aus. Nur etwas, auf das Mike wartete, fehlte: Zwischen den Männern war nicht die mindeste Feindschaft. Mike wiederholte in Gedanken die Frage, die Ben gerade gestellt hatte: Wasum alles in der Welt ging hier vor?

Stanley und sein riesenhafter Begleiter kamen heran und blieben in zwei Schritten Abstand stehen. Stanley salutierte spöttisch, während der Deutsche Mike und die anderen nur aufmerksam und aus mißtrauisch funkelnden Augen ansah. »Kapitän Trautman«, begann Stanley, nachdem Trautman seinen Gruß mit einem angedeuteten Kopfnicken erwidert hatte. »Ich sagte doch, daß ich darauf bestehe, Sie und Ihre Enkelkinder zum Dinner auf mein Schiff mitzunehmen. Wußten Sie nicht, daß man die Einladung eines britischen Offiziers nicht ausschlägt?«

»Ihr Humor ist unangebracht«, sagte Trautman. Er deutete auf die Soldaten, die mit angelegten Gewehren einen Halbkreis um sie bildeten, und dann auf den Deutschen. »Was geht hier vor? Haben wir etwas verpaßt? Ist der Krieg beendet?«

»Zumindest für Sie – ja«, antwortete Stanley, noch immer in freundlichem Ton, aber jetzt nicht mehr lächelnd. »Aber bitte verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Darf ich vorstellen: Kapitänleutnant Brockmann, kommandierender Offizier des kaiserlichen Zerstörers HALLSTADT. Die GRISSOM kennen Sie ja bereits. Wo ist der Rest Ihrer Besatzung, wenn ich fragen darf?« »Wir sind vollzählig versammelt«, antwortete Trautman.

»Sie lügen«, behauptete Brockmann. »Das sind doch nur ein paar Kinder. «

Trautman zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Wenn Sie sich selbst davon überzeugen wollen, bitte schön«, sagte er. »Die NAUTILUS steht Ihnen zur Verfügung. Ich glaube ohnehin nicht, daß ich Sie daran hindern kann, sie zu durchsuchen. « »Das ist richtig«, erklärte Stanley lächelnd. Er machte eine knappe Handbewegung. Zwei seiner Männer und auch zwei der deutschen Soldaten hängten sich ihre Gewehre über die Schultern und kletterten hintereinander zur Turmluke hinauf, um im Inneren des Schiffes zu verschwinden.

»Was geht hier überhaupt vor?« fragte Trautman. »Was soll das alles bedeuten? Wieso schießen Sie auf uns? Ich verlange eine Erklärung!«

Stanley lachte erneut. »Sie haben Ihren Humor immer noch nicht verloren«, stellte er fest. »Das ist gut. Natürlich werde ich Ihnen Rede und Antwort stehen aber zuerst lassen Sie mich ein paar Fragen stellen, einverstanden?«

»Zuallererst möchte ich wissen, was dieser Deutsche hier zu suchen hat!« sagte Ben. Er deutete herausfordernd auf Brockmann, der mit unbewegtem Gesicht dastand. »Wir sind hier in britischen Gewässern. Was sucht ein deutsches Schiff hier? Noch dazu einKriegsschiff?«

»Immer mit der Ruhe, mein Junge«, sagte Stanley. »Ich kann dir versichern, daß Kapitänleutnant Brockmann mit vollem Wissen und Billigung der Queen und der britischen Regierung hier ist. Du bist Brite?« »Ja«, antwortete Ben. »Aber ich bin seit ein paar Minuten nicht mehr sicher, ob ich wirklich stolz darauf sein soll. «

Stanley nahm auch das mit einem Lächeln hin. Er musterte aufmerksam die Gesichter der anderen. Schließlich blieb sein Blick an Singh hängen. »Inder, nehme ich an. «

Singh antwortete nicht, aber das hatte Stanley wohl auch nicht wirklich erwartet, denn er setzte seine Musterung fort und wandte sich an Juan. »Wie ist dein Name, mein Junge?«

»Juan«, antwortete Juan. »Juan de Perodesta. « »Spanier also.

« Stanley nickte und maß Trautman mit einem nachdenklichen Blick. »Trautman... « sagte er gedehnt. »Das klingt, als wären Sie ein Landsmann von Mister Brockmann. Da haben wir ja eine richtige multinationale Mannschaft, wie? Und da sage noch einmal jemand, daß verschiedene Völker nicht friedlich zusammenarbeiten können. «

Als nächstes kam Serena an die Reihe. »Und du, meine Kleine?« Er hob rasch die Hand. »Laß mich raten

– das blonde Haar, ein sehr hübsches Gesicht... Schweden? Norwegen?«

»Ich komme aus Atlantis«, antwortete Serena. »Falls Sie wissen, wo das liegt. «

Stanley blinzelte, starrte Serena eine Sekunde lang verblüfft an und lachte schließlich wieder. »In der Tat«, sagte er, »eine wirklich erstaunliche Mannschaft haben Sie da, Mister Trautman. Aber irgendwie paßt sie auch zu Ihrem Schiff. Sie haben diesen Koloß tatsächlich nur mit einer Besatzung aus einer Handvoll Kinder gesteuert?«

»Was für eine Art von Schiff ist das überhaupt?« fragte Brockmann. »Ich habe so eine Konstruktion noch nie gesehen. «

»Das glaube ich Ihnen gerne«, sagte Serena. Mike versuchte sie mit einem fast verzweifelten Blick zum Schweigen zu bringen, aber sie bemerkte es nicht. »Es stammt aus meiner Heimat. «

»A ja, aus Atlantis, ich verstehe«, sagte Stanley lächelnd. »Was für eine dumme Frage – deswegen ist es auch ein Unterseeboot, nicht wahr? Verraten Sie mir, unter welcher Flagge Sie fahren, Mister Trautman, und wie Ihr Schiff heißt?«

»Unter keiner Flagge«, sagte Trautman. »Und das Schiff heißt NAUTILUS. «

»NAUTILUS, originell«, sagte Stanley. Er lächelte erneut, aber nur für ungefähr eine halbe Sekunde, dann gefror das Lächeln regelrecht auf seinem Gesicht. Mit einem Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit starrte er erst Trautman an, dann fuhr er herum und sah sich wild um, so, als erwarte er im nächsten Moment etwas Ungeheuerliches zu erblicken. »EtwadieNAUTILUS?« fragte er.

»Sie haben es erraten«, antwortete Trautman. Er seufzte leise, als er Mikes entsetzten Blick bemerkte. »Er hätte es sowieso herausgefunden«, sagte er. »Tut mir leid, aber es ist aus. «

»Die NAUTILUS?« Stanley schien immer noch nicht fassen zu können, was er sah und hörte. »Kapitän Nemos Schiff! Unglaublich! Dann... dann existiert es wirklich. Es ist nicht nur eine Legende!« Kopfschüttelnd wandte er sich an Brockmann, der die ganze Zeit schweigend und mit vollkommen unbewegter Miene zugehört hatte. Dabei hatte der eine Satz, den er in akzentfreiem Englisch gesprochen hatte, bewiesen, daß er Stanleys Sprache ausgezeichnet beherrschte und jedes Wort verstanden haben mußte. Die Selbstbeherrschung, die dieser Mann an den Tag legte, war Mike beinahe unheimlich.

»Jetzt wird mir einiges klar«, sagte Stanley kopfschüttelnd. »Kein Wunder, daß wir Sie so lange vergeblich gesucht haben. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich über dieses Schiff erzählt, dann muß es zu wahren Wunderdingen fähig sein. « Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich wieder zu Trautman herum. Seine Augen wurden schmal. »Sie haben

mir nicht etwa einen falschen Namen genannt, Mister

Trautman? Oder sollte ich Sie besserKapitän Nemonennen?«

Trautman lächelte. »Nein. Ich bin nicht Nemo. Er ist schon lange tot. Und jetzt wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir endlich erklären würden, was das alles hier zu bedeuten hat! Wieso schießen Sie auf uns? Was soll diese Hetzjagd? Wir haben Ihnen nichts getan. Das einzige, was wir uns haben zuschulden kommen lassen, war, Ihren Seemann zu retten. Ist das neuerdings ein Verbrechen?«

»Nein«, antwortete Stanley. Sein Lächeln erlosch wie abgeschaltet. Seine Stimme wurde hart. »Ich werde diesen Umstand selbstverständlich erwähnen. Vielleicht wird er Ihnen ja vor Gericht angerechnet. « »Vor Gericht? Was soll das heißen?« fragte Mike. »Das soll heißen, daß ihr alle zusammen Glück habt, daß wir nicht mehr zu Kapitän Nemos Zeiten leben«, sagte Brockmann an Stanleys Stelle. »Damals hätte man euch kaum den Prozeß gemacht, sondern euch kurzerhand erschossen. «

»Den Prozeß?! Aber was sollen wir denn getan haben?« »Wie wäre es mit Mord?« schlug Stanley vor. »Piraterie? Brandstiftung? Diebstahl... wahrscheinlich habe ich noch das eine oder andere vergessen, aber ich denke, für den Moment sollte das genügen. « »Wie bitte?« ächzte Ben. »Sind Sie verrückt? Wen sollen wir ermordet haben?«

»Es reicht, mein Junge«, sagte Stanley, der nun überhaupt nicht mehr freundlich klang, nicht einmal mehr geduldig. »Ich habe das Gefühl, du hältst das Ganze hier immer noch für ein großes Abenteuer, wie? Aber es ist kein Spiel. Das ist es

niemals gewesen. « Er straffte sich und drehte sich zu Trautman

herum. Seine Stimme wurde sachlich.

»Kapitän Trautman, ich verhafte Sie und Ihre Besatzung im Namen Seiner Majestät und des deutschen Kaisers wegen fortgesetzter Piraterie, Mord und Brandschatzung in mindestens siebenunddreißig Fällen. Ihr Schiff ist beschlagnahmt. Ich hoffe, Sie leisten keinen Widerstand. «

Angesichts des knappen Dutzends Gewehre, das noch immer auf sie gerichtet war, empfand Mike den letzten Satz als lächerlich. Aber Stanley schien ihn vollkommen ernst zu meinen, und auch Trautman sah nicht so drein, als amüsiere er sich.

»Das alles ist ein gewaltiger Irrtum, Kapitän Stanley«, sagte er. »Bitte hören Sie mir fünf Minuten zu. « »Man wird Ihnen weitaus länger zuhören, Mister Trautman«, sagte Stanley. »Aber nicht hier und nicht jetzt. Sie werden ausreichend Gelegenheit haben, sich zu rechtfertigen. «

»Sie begehen einen furchtbaren Fehler, Stanley«, sagte Trautman.

»Nein«, sagte Brockmann.»Siehaben einen Fehler gemacht, Trautman. Haben Sie wirklich geglaubt, daß wir weiter tatenlos zusehen, wie Sie unsere Schiffe versenken und unsere Hafenstädte in Brand schießen? Oder waren Sie tatsächlich so naiv, zu glauben, daß Sie die Kriegswirren ausnutzen können, um sich als Pirat zu betätigen?«

»Wir haben nichts von alledem getan«, antwortete Trautman. »Aber wir wissen, wer es war. Wir sind aus demselben Grund hier wie Sie, Herr Kapitänleutnant. Und ich glaube, wir sind dem Mann, den Sie jagen, ganz dicht auf den Fersen. Aber wenn Sie uns jetzt verhaften und die Suche abbrechen, dann entkommt er. Und die Verantwortung für das nächste Schiff, das er versenkt, oder die nächste Stadt, die er in Brand schießt, tragen Sie dann. «

Brockmann war keinerlei Reaktion anzumerken, aber Stanley sah tatsächlich ein wenig verunsichert drein. Er sagte nichts, blickte Trautman aber plötzlich sehr nachdenklich an.

»Ich flehe Sie an!« sagte Trautman. »Ich verlange nicht, daß Sie uns laufen lassen, aber setzen Sie wenigstens die Suche fort. Wir können Ihnen dabei helfen. « »Darauf wette ich«, sagte Stanley spöttisch, aber Trautman blieb ernst. Seine Stimme wurde fast beschwörend.

»Die NAUTILUS hat eine viel größere Chance, die LEO-POLD zu finden, als Ihre Schiffe!« sagte er. »Schicken Sie eine Besatzung an Bord. Zwanzig, dreißig – so viele Ihrer Soldaten, wie Sie wollen! Was können wir schon tun? Ein alter Mann und eine Handvoll Kinder!« Tatsächlich schien Stanley einen Moment ernsthaft über diesen Vorschlag nachzudenken. Aber bevor er antworten konnte, fragte Brockmann: »Von welchem Schiff haben Sie gerade gesprochen? Die LEOPOLD?« »Ich sehe, der Name sagt Ihnen etwas«, erwiderte Trautman. »Ja. Es war Kapitän Winterfeld, der dies alles getan hat. Nicht wir. Ich kann es beweisen. « Brockmann schwieg, aber Stanley wirkte plötzlich noch nachdenklicher, als er sich an seinen deutschen Offizierskollegen wandte. »Verzeihen Sie mir meine Neugier, Herr Kapitänleutnant – aber könnte es sein, daß es da etwas gibt, was ich wissen sollte?« »Nein«, antwortete Brockmann. Er war vielleicht ein tadelloser Offizier, dachte Mike, aber kein besonders überzeugender Lügner. Trotzdem fuhr er fort: »Ein Bluff, mehr nicht. Es gab da einen... Zwischenfall, vor einem Jahr, das ist richtig. Aber ein deutscher Offizier würde so etwas nie tun. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. « »Eine Hand wird kaum reichen«, sagte Ben. »Wir haben gesehen, wozu Winterfeld in der Lage ist. « Er deutete rasch hintereinander auf die GRISSOM und die HALLSTADT. »Die LEOPOLD ist ein Schlachtschiff, Herr Brockmann. Können Sie sich vorstellen, was sie mit Ihren beiden Schiffen macht, wenn Sie wirklich das Pech haben, sie zu finden?«

Brockmann schwieg. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber die Jungen konnten regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Aber schließlich schüttelte er wieder den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das ist absurd. « »Immerhin«, schlug Stanley vor, »könnten wir die Suche noch eine Weile fortsetzen. Wir bringen sie auf Ihr Schiff und lassen eine Mannschaft auf der NAUTILUS zurück. Die GRISSOM könnte dem ursprünglichen Plan folgen und sich vor der Hafeneinfahrt auf die Lauer legen. Was haben wir schon zu verlieren?« »Meine Befehle lauten anders«, sagte Brockmann stur. Ben lachte ganz leise. »Paßt auf«, sagte er, »jetzt fangen sie gleich doch an, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Ich wette, die beiden überlegen schon angestrengt, wie sie sich die NAUTILUS jeweils allein unter den Nagel reißen können. «

Er hatte laut genug gesprochen, damit Brockmann und Stanley seine Worte verstehen konnten.Brockmann musterte ihn nur kühl, während Stanley zu Mikes Überraschung plötzlich nickte.

»Das könnte in der Tat ein Problem werden«, sagte er. »Aber ich denke, wir finden auch dafür eine Lösung. Sobald wir die NAUTILUS in einen Hafen geschleppt und sie alle den Behörden übergeben haben, heißt das. « Er machte eine unwillige, befehlende Geste. »Abführen!«

Sie wurden an Bord des deutschen Kreuzers gebracht, und obwohl man sie mit ausgemachter Höflichkeit behandelte, wurden sie gründlich nach Waffen durchsucht und einzeln eingesperrt, jeder für sich in eine winzige, vollkommen leere Kabine, in der es nicht einmal einen Stuhl gab, sondern nur ein Bett und einen am Boden verschraubten Tisch. Die Tür hatte innen keine Klinke, und das runde Fenster war sorgsam mit einer Sperrholzplatte verschlossen. Das Licht kam aus einer nackten Glühbirne, die unter einem ziemlich stabil aussehenden Drahtgitter unter der Decke angebracht war. Im Vorbeigehen hatte Mike bemerkt, daß die Unterkünfte der anderen auch nicht anders aussahen. Offensichtlich war das Schiff dafür vorbereitet gewesen, Gefangene aufzunehmen. Leider hatten sie nur die Falschen erwischt. Mike hätte vor Enttäuschung und Wut heulen können. Er machte sich nicht einmal besonders große Sorgen wegen der Anschuldigungen, die Stanley vorgebracht hatte. Sie waren einfach lächerlich – wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gab, würden sie beweisen können, daß sie nichts mit den Überfällen auf Schiffe und Häfen zu tun hatten. Spätestens wenn die LEOPOLD das nächste Mal zuschlug, würde selbst Brockmann eingestehen müssen, daß sie das falsche Wild erlegt hatten. Aber das bedeutete auch, daß Winterfeld weiter ungestört sein Unwesen treiben und weitere

Verbrechen begehen konnte. Und daß weitere Menschen sterben würden.

Aber das war längst nicht alles. Mike hatte den Gedanken zwar bisher erfolgreich verdrängt, doch nun, als er allein mit sich und seinen düsteren Grübeleien war und mißmutig auf der harten Pritsche hockte, kam er wieder, und diesmal gelang es ihm nicht mehr, die Augen davor zu verschließen: Sie würden die NAUTILUS verlieren. Selbst wenn sie ihre Unschuld beweisen konnten und alle Anschuldigungen fallengelassen wurden, würde man ihnen das Schiff wegnehmen. Sie hatten sich länger als ein Jahr erfolgreich vor dem Rest der Welt versteckt, weil sie alle ganz genau gewußt hatten, was geschehen würde, sollte die Existenz der NAUTILUS jemals bekannt werden. Sie würden ihnen das Schiffwegnehmen, und als Mike an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, da war er plötzlich auch gar nicht mehr so sicher, daß man siewirklichlaufenlassen würde. Dieses Schiff stellte einen unvorstellbaren Schatz dar. Allein das Wissen um seine Existenz brachte sie alle in Lebensgefahr. Mike glaubte zwar nicht daran, daß man sie tatsächlichumbringenwürde, aber zwischenumbringen und freilassenlagen viele andere unerfreuliche Möglichkeiten. Eine davon war zum Beispiel, daß sie alle den Rest ihres Lebens an einem ungemütlichen Ort verbringen mochten – einem Ort, der diesem hier ähnelte, mit Türen ohne Klinken und Fenstern, die sich nicht öffnen ließen... Nachdem er zehn Minuten lang gegrübelt hatte, war er überzeugt davon, daß es so kommen mußte. Nach weiteren zehn Minuten war er wild entschlossen, zu fliehen. Und nachdem abermals zehn Minuten verstrichen waren, gab er diesen Plan zumindest für den Moment wieder auf. Er hatte seine Kabine Zentimeter für Zentimeter durchsucht, und das Ergebnis dieser Untersuchung war so einfach wie deprimierend: Es gab keinen Fluchtweg. Das Brett vor dem Fenster war mit einem Dutzend Schrauben befestigt, an denen er sich die Hälfte seiner Fingernägel abgebrochen hatte, ohne auch nur eine davon lockern zu können, und die Tür bestand ebenso wie Wände, Decke und Fußboden aus massivem Stahl, der selbst einem Kanonenschuß standgehalten hätte. Er hatte auch versucht, mit Astaroth Kontakt aufzunehmen, aber keine Antwort erhalten. Der Kater war auf der NAUTILUS zurückgeblieben, und vermutlich waren sie zu weit von ihr entfernt, um ihn telepathisch zu erreichen.

Mike war der Verzweiflung nahe. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in einer scheinbar ausweglosen Lage befand, aber er hatte das ungute Gefühl, daß sie diesmal nicht nurscheinbarausweglos war – selbst wenn es ihm gelungen wäre, seine Kabine irgendwie zu verlassen, so gab es draußen vor der Tür einen Posten, und außerdem wimmelte das Schiff nur so von Soldaten. Ein nagender Zorn auf Winterfeld machte sich in ihm breit. Dieser Mann schien so etwas wie ein Fluch zu sein, der sein ganzes Leben überschattete. Alles hatte mit ihm angefangen, und nun schien es auch zumindestdurchihn zu enden. Mike zweifelte im Grunde nicht daran, daß irgend jemand früher oder später die LEOPOLD aufbringen und Winterfelds Treiben ein Ende setzen würde, aber für sie war es auf jeden Fall zu spät. Wenn auch auf gänzlich andere Weise, als er vorgehabt hatte, so hatte Winterfeld am Ende sein Ziel

doch erreicht: ihnen die NAUTILUS wegzunehmen. Auf diese

Weise verging eine Stunde, dann eine zweite.

Mike schrak irgendwann kurz aus seinen Gedanken hoch und stellte fest, daß sich der Boden unter ihm zu bewegen begonnen hatte. Das Schiff hatte Fahrt aufgenommen, und nun würde es nicht mehr lange dauern, bis sie irgendeinen englischen Hafen erreichten. Doch es sollte anders kommen.

Mike konnte nicht sagen, wie lange er so dasaß und sich seine Zukunft in den schwärzesten Farben ausmalte, aber plötzlich begann sich etwas im gleichmäßigen Schaukeln des Schiffes zu verändern, und zugleich klang das Geräusch der Maschinen anders. Mike fuhr erschrocken hoch, als plötzlich ein schrilles nervtötendes Geräusch durch seine Kabine gellte. Das Heulen der Alarmsirene. Irgend etwas Unvorhergesehenes war passiert.

Mike sprang auf, rannte zur Tür und begann mit den Fäusten gegen den Stahl zu hämmern. Aber der Lärm ging im Heulen der Sirene unter, und selbst wenn man ihn gehört hätte, hätte vermutlich niemand darauf reagiert. Irgend etwas Schreckliches ging dort draußen vor, das wußte er.

Die Sirene hörte nach einer Minute auf zu gellen, aber dafür hörte er jetzt andere, kaum weniger beunruhigende Geräusche, die gedämpft durch den zentimeterdicken Stahl der Wände drangen: Schreie, das immer lauter werdende Dröhnen der Schiffsmotoren, die hastigen Schritte schwerer Stiefel und Befehle, die gerufen wurden – und dann etwas, was ihn wie unter einem elektrischen Schlag zusammenfahren ließ: ein dumpfes, dreifaches Krachen, dessen Echo das ganze Schiff zum Vibrieren brachte. Es war noch nicht lange her, da hatte er

dieses Geräusch schon einmal gehört, wenn auch aus größerer

Entfernung.

Die Geschütze der HALLSTADT hatten das Feuer eröffnet.

Mikes Gedanken begannen sich zu überschlagen. Das Schiff feuerte. Aber worauf? Weshalb? Hatte Ben am Ende recht behalten, und die beiden Kriegsschiffe lieferten sich nun einen verbissenen Kampf um die NAUTILUS?

Die HALLSTADT erbebte wie unter einem Hammerschlag, allerdings eines Hammers, der nicht viel kleiner als das Schiff selbst sein konnte und von Poseidon selbst geführt wurde. Ein trommelfellzerreißendes Kreischen und Dröhnen marterte Mikes Ohren und ließ ihn mit einem Schrei zurücktaumeln. Eine Sekunde später wurde er von den Füßen gefegt und prallte so heftig gegen die Rückwand der Kabine, daß er buchstäblich Sterne sah, aber erst, als das Schiff zum dritten Mal wie eine gigantische Glocke zu dröhnen begann und er das Kreischen von zerreißendem Metall hörte, begriff er wirklich, was geschah. Sie waren getroffen worden. Die GRISSOM hatte das Feuer erwidert, und ihre Geschützmannschaften schienen zu halten, was man sich über britische Kanoniere erzählte. Das Schiff zitterte und bebte, legte sich so weit auf die Seite, daß Mike erneut zu Boden geworfen wurde. Auch die Geschütze der HALLSTADT feuerten jetzt wieder, aber Mike zählte nur zwei Schüsse, dann wurden sie abermals getroffen.

Und diesmal mußte es wohl eine volle Breitseite der GRISSOM sein, die in Rumpf und Deck des deutschen Kreuzers einschlug.

Die nächsten Minuten wurden zu einem Alptraum, der einfach kein Ende nehmen wollte. Treffer auf Treffer schüttelte die HALLSTADT. Das Kreischen von zerberstendem Metall, der Lärm der Explosionen, die Schreie und die furchtbaren Stöße, die den Boden unter ihm wie ein bockendes Pferd hin und her springen ließen, vereinigten sich zu einem schier unvorstellbaren Chaos. Mike lag gekrümmt in einer Ecke seiner Kabine und hatte beide Hände gegen die Ohren gepreßt, aber es nutzte nichts. Er schien den Lärm weniger zu hören, als vielmehr mit dem ganzen Körper wahrzunehmen. Die Luft war plötzlich stickig und heiß, er hörte das Prasseln von Flammen und spürte den stechenden Geruch von glühendem Metall. Er hatte Angst wie nie zuvor in seinem Leben.

Und dann, ganz plötzlich, hörte es auf. Die letzte Explosion verklang, und eine fast unheimliche, atemlose Stille breitete sich über dem Schiff aus. Trotzdem blieb Mike noch eine volle Minute reglos am Boden liegen, ehe er es schließlich wagte, sich ganz langsam aufzurichten. In seinen Ohren dröhnte es, und der Brandgeruch war so intensiv geworden, daß er den Hustenreiz kaum mehr unterdrücken konnte. Mindestens eine der Granaten mußte in unmittelbarer Nähe eingeschlagen sein. Das Schiff brannte, das war klar. Und es hatte eine deutliche Schlagseite. Vielleicht, dachte Mike, sinkt es bereits, und er würde hier drinnen jämmerlich ertrinken, eingesperrt in ein Gefängnis, das unversehens zur Todeszelle geworden war. Zögernd trat er an die Tür und rüttelte ein paarmal daran. Sie rührte sich nicht. Die HALLSTADT war wahrscheinlich kaum noch mehr als ein brennendes Wrack, aber er war immer noch gefangen. Zumindest konnte er jetzt wieder etwas hören. Das Rauschen und Klingen in seinen Ohren verebbte ganz allmählich, und er begriff jetzt, daß es niemals still gewesen war. Im Gegenteil: Durch die Tür drangen Schreie und andere schreckliche Geräusche zu ihm, und dazwischen hörte er immer wieder Schüsse, auch ein paarmal das Hämmern eines Maschinengewehrs, was bewies, daß der Kampf noch lange nicht vorbei war.

Mike fragte sich, was mit den anderen geschehen war. Sie waren alle auf demselben Korridor untergebracht worden. Der Gedanke, daß einer seiner Freunde vielleicht nicht mehr lebte, machte ihn ganz krank. Was für ein Wahnsinn! dachte er. Und das alles nur wegen einesSchiffes!Es spielte überhaupt keine Rolle, wer zuerst geschossen hatte – ob nun die Deutschen auf die Engländer oder umgekehrt, aus den Männern, die etwas so Großartiges vollbracht hatten, ihre Feindschaft zu überwinden und vereint gegen einen gemeinsamen Gegner vorzugehen, waren binnen einer einzigen Sekunde wieder Todfeinde geworden, die einander gnadenlos umbrachten, nur um in den Besitz der NAUTILUS zu gelangen. Es war dieser Moment, in dem Mike zum allerersten Malwirklichbegriff, warum Trautman vorgehabt hatte, die NAUTILUS zu zerstören. Hätte er es doch nur getan! Nach einer Weile hörte das Schießen auf, und auch die Schreie verklangen allmählich. Und schließlich näherten sich Schritte der Tür.

Mike wich automatisch bis an die gegenüberliegende Wand zurück, als er hörte, wie der Riegel draußen zurückschoben wurde. Eine Woge stickiger, heißer Luft und flackernder Feuerschein fielen in die Kabine, so daß er die beiden Männer, die zu ihm hereinkamen, im ersten Moment nur als schattenhafte Umrisse erkennen konnte. Dann packte ihn einer der beiden grob am Arm und stieß ihn derb vor sich her auf den Gang hinaus.

Das erste, was Mike bewußt wahrnahm, nachdem er die Kabine verlassen hatte, war Serena. Sie war zwar bleich vor Schreck, und ihr Gesicht war voller Ruß, aber sie war unverletzt. Mike wollte erleichtert auf sie zutreten, aber der Mann, der ihn aus der Kabine gezerrt hatte, hielt ihn mit einer ärgerlichen Bewegung zurück, so daß Mike es bei einem Lächeln in Serenas Richtung beließ, ehe er sich herumdrehte und in die entgegengesetzte Richtung sah.

Der Korridor bot einen furchterregenden Anblick. Irgend etwas brannte und verbreitete flackernde rötliche Helligkeit und eine erstickende Hitze. In der Decke gähnte ein fast metergroßes Loch, aus dem eine zähe Flüssigkeit tropfte, die auf dem glühenden Boden darunter zu Dampf verzischte, und hinter dem wallenden Rauch konnte Mike die reglosen Gestalten von zwei Soldaten erkennen, die am Boden lagen. Sämtliche Türen standen offen. Er entdeckte Singh, Chris, Ben, Juan und schließlich Trautman, der von einem Mann grob aus seiner Gefängniszelle gezerrt wurde. Alle sahen zutiefst entsetzt aus, aber trotzdem begriff Mike, daß ein kleines Wunder geschehen war – keiner von ihnen war ernsthaft verletzt worden. Das Benehmen der bewaffneten Männer, die sie aus ihren Kabinen zerrten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie noch immer Gefangene waren. Einer von ihnen hatte Singh, der wohl versucht hatte, sich zu wehren, mit einem Kolbenstoß zu Boden

geschleudert, die anderen trieben sie jetzt mit vorgehaltenen

Gewehren zusammen.

Überhaupt – siebenahmensich nicht nur nicht so, wie sich Mike britische Marineinfanteristen vorgestellt hatte, sie sahen auch nicht so aus. Anstelle von Uniformen trugen sie ein buntes Durcheinander von gestreiften Hemden, Hosen, fleckigen Pullovern und den verschiedensten Uniformteilen, die zum Teil nicht einmal derselben Nationalität entstammten, und bewaffnet waren sie mit einem wahren Sammelsurium moderner, aber vollkommen unterschiedlicher Gewehre. Was ging hier vor?

Sie wurden grob den Gang entlang und dann die eiserne Treppe zum Oberdeck des Schiffes hinaufgetrieben, und wohin Mike auch sah, erblickte er überall neue Spuren von immer größerer Zerstörung. Es schien buchstäblich keinen Meter an Bord des Kreuzers zu geben, der nicht inMitleidenschaft gezogen worden war. Überall brannte es, überall erblickte er verbogenes, zerrissenes Metall, und er sah Dutzende von Verletzten, vielleicht auch Toten.

In Mikes Hals saß ein bitterer, harter Kloß, und er kämpfte mit den Tränen. Obwohl dieser entsetzliche Krieg seit anderthalb Jahren tobte und allmählich die ganze Welt in Brand zu setzen schien, hatten sie bisher doch so gut wie nichts davon selbst miterlebt. Sicher, sie hatten die schrecklichen Nachrichten aus allen Teilen der Welt aufmerksam verfolgt, aber sie hatten es aussicherer Entfernunggetan, und es war ein großer Unterschied, davon zu hören oder es zusehen.Mike lernte in diesen Momenten etwas, was er nie wieder im Leben vergessen sollte. Sie hatten in der Schule über die Kriege und Feldzüge der Vergangenheit geredet, und er hatte mit Trautman viel über diesen bisher größten Krieg gesprochen, und er war auch entsetzt gewesen. Und trotzdem, trotz allem hatte er bei all diesen Berichten und Erzählungen immer eine gewisse Faszination verspürt, und er hatte sich dieses Gefühles nicht geschämt. Das Wort Krieg hatte in ihm stets Bilder von gewaltigen Schlachten heraufbeschworen, von tapferen Helden, die todesmutig und mit einem siegessicherenHurraauf den Lippen dem Feind gegenübertraten, es hatte einen Geruch von Abenteuer und heroischen Taten gehabt.

Nichts von alledem war Wirklichkeit. Es gab auf diesem Schiff keine Helden, keine tapferen Krieger und heroische Taten, und wahrscheinlich gab es sie nirgendwo, auf keinem Schlachtfeld der Welt und in keinem Krieg. Es gab nur Tod, Grauen und vollkommen sinnlose, blindwütige Zerstörung. Mike war zutiefst erschüttert und von einem Entsetzen gepackt, das er sich vor ein paar Minuten noch nicht einmal hatte vorstellen können. Sie kamen an einigen toten deutschen Matrosen vorbei, und er empfand nicht wirkliche Trauer bei ihrem Anblick, sondern ein Gefühl, das er selbst nicht richtig einzuordnen imstande war. Es war so... so sinnlos. Diese Männer hier hatten vielleicht selbst Familien gehabt und zwei-, drei-, viermal solange gelebt wie er – und waren in nur einer einzigen Sekunde ausgelöscht worden. Auch das Deck des Kriegsschiffes bot keinen anderen Anblick: Die HALLSTADT brannte lichterloh. Das hintere Drittel des Schiffes schien vollkommen in Flammen zu stehen, und die Hitze war fast unerträglich. Der Himmel über ihnen war schwarz von Qualm.

In den Brückenaufbauten gähnten zahllose, schwarz umrandete Löcher, aus denen Flammen und Rauch quollen. Es war ein wahres Wunder, daß das Schiff nicht schon längst gesunken war. Die GRISSOM hat tatsächlich ganze Arbeit geleistet, dachte Mike bitter. Wie es aussah, hatte Brockmanns Schiff nicht die geringste Chance gehabt – obwohl es ein gutes Stück größer und wohl auch besser bewaffnet gewesen war als der englische Zerstörer.

Dann gingen sie an den Ruinen der brennenden Brücke vorbei, und als Mikes Blick auf das Meer auf deranderen Seite des Schiffes hinausfiel, sah er etwas, was alle seine Überlegungen hinfällig machte: die HMS GRISSOM.

Sie lag keine hundert Meter von der HALLSTADT auf der Seite und sank. Das Meer war ringsum mitTrümmerstücken und brennendem Öl bedeckt. Zahllose Matrosen befanden sich im Wasser und versuchten verzweifelt von dem sinkenden Wrack wegzuschwimmen, um nicht von seinem Sog mit in die Tiefe gerissen zu werden.

Trotzdem verharrte Mikes Blick nur eine Sekunde auf dem sinkenden Zerstörer und den verzweifelt um ihr Leben schwimmenden Matrosen, denn hinter der GRISSOM war noch ein weiteres Schiff aufgetaucht. Es war weitaus größer als die GRISSOM und schien nur aus Panzerplatten und starrenden Geschützen zu bestehen, und obgleich sowohl der Name als auch die Hoheitskennzeichen sorgsam übermalt worden waren, gab es wohl keinen in der kleinen Gruppe, der es nicht sofort erkannt hätte. Es war die LEOPOLD.

Mike hatte sich geirrt. Alles war ganz anders. Nicht Stanley und Brockmann waren übereinander hergefallen, sondern der Feind, den sie eigentlich gemeinsam hatten bekämpfen wollen, in einem Moment der Unachtsamkeit über sie. Bens Prophezeiung, was geschehen würde, wenn die beiden Schiffe auf Winterfelds Schlachtkreuzer trafen, war grausame Realität geworden.

Auch die LEOPOLD war beschädigt: Hier und da flackerten vereinzelte Brände, und aus dem Heck des Schiffes quoll eine fettige, schwarze Wolke, die sich mit der brodelnden Rauchdecke über dem Meer vermischte. Aber das waren im Grunde nur Nadelstiche, die diesen Giganten nicht wirklich beeindrucken konnten. Mike blieb kaum Zeit, seinen neuerlichen Schreck zu verarbeiten. Hinter ihnen hämmerten schwere Schritte auf dem Metall des Decks, und als Mike sich herumdrehte, gewahrte er niemand anderen als Kapitän Winterfeld selbst, der in Begleitung eines halben Dutzend Bewaffneter auf sie zukam. Die Männer waren auf dieselbe abenteuerliche Weise gekleidet wie die, die Mike und die anderen an Deck gebracht hatten, aber Winterfeld trug jetzt wieder seine Paradeuniform, die aussah, als käme sie frisch aus der Reinigung. Mike fiel allerdings auf, daß ihr Träger sorgsam alle militärischen Rangabzeichen und vor allem die Insignien seines Landes entfernt hatte.

»Winterfeld!« sagte Trautman. Er wollte einen Schritt auf Winterfeld zu machen, wurde aber sofort von seinen Bewachern daran gehindert. »Ich hätte mir denken können, daß Sie dahinterstecken. Nur Sie sind zu einem solchen Verbrechen fähig!«

Winterfeld sah den weißhaarigen Steuermann der NAUTILUS eine Sekunde lang mit einem sonderbaren Ausdruck an. Dann gab er den beiden Männern, die Trautman hielten, einen Wink, woraufhin diese ihn losließen.

»Glauben Sie mir – ich habe das nicht gerne getan«, sagte er leise.

»O nein, sicher nicht«, antwortete Trautman. »Die Trauer steht Ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. « Winterfeld seufzte. Trautmans Worte schienen ihn nicht zu verärgern, sondern vielmehr mit Trauer zu erfüllen, was Mike verwirrte. »Ich kann Ihre Gefühle verstehen, Herr Trautman«, sagte er ruhig. »Wir werden später hinlänglich Gelegenheit haben, über alles zu reden. Vielleicht werden Sie dann auch mich verstehen. Aber im Moment haben wir Wichtigeres zu tun. « Er trat an ihm vorbei und musterte die anderen reihum. Sein Blick blieb auf Mikes Gesicht hängen. »Es freut mich, dich wiederzusehen, mein Junge«, sagte er. »Ihr seid alle unversehrt, hoffe ich?« »Mich freut es nicht«, antwortete Mike zornig. »Und ich will nicht mit Ihnen reden, Sie... Sie Mörder!« Winterfeld fuhr leicht zusammen, sagte aber nichts, sondern wandte sich an Serena. »Unsere kleine Prinzessin ist auch noch dabei, wie ich sehe«, sagte er. »Das ist gut. Ich hoffe, du hast dich mittlerweile ein wenig in unserer Welt zurechtgefunden?« Serena funkelte ihn nur haßerfüllt an, und Winterfelds Lächeln wirkte plötzlich ein wenig verkrampft. »Ich hoffe auch, du hast mittlerweile gelernt, dein Temperament zu zügeln, junge Dame«, fuhr er fort.

»Ich habe die Umstände unseres letzten Zusammentreffens nicht vergessen. Ich weiß, wozu du fähig bist. Aber ich habe entsprechende Vorkehrungen getroffen, sei gewiß. « Mike begriff, was Winterfeld meinte. Er hatte keine Ahnung, daß Serena längst nicht mehr im Besitz ihrer Zauberkräfte war! Und wie sollte er auch? Als sie das letzte Mal zusammengetroffen waren, da hatte Serena um ein Haar sein Schiff vernichtet, nur Kraft ihrer Gedanken! Winterfeld schien Serenas Schweigen als Zustimmung zu werten, denn er setzte das Gespräch nicht fort – zumal in diesem Moment eine weitere Gruppe seiner Soldaten über das Deck herankam, die eine riesenhafte, in eine zerfetzte und angesengte Uniform gekleidete Gestalt vor sich hertrieb.

Mike erkannte Brockmann kaum wieder. Der Kapitänleutnant war verletzt. Er hatte den rechten Arm angewinkelt und zog das Bein nach, und sein Gesicht und seine Schulter waren voller Blut. Er musterte Winterfeld mit blankem Haß.

»Herr Brockmann!« Winterfeld trat Brockmann entgegen und salutierte. Brockmann rührte sich nicht. Er starrte Winterfeld nur weiter aus brennenden Augen an. »Sie sind verletzt, wie ich sehe«, fuhr Winterfeld fort. »Das bedauere ich. Sie werden sofort ärztlich versorgt, sobald wir auf meinem Schiff sind. « »Danke, ich verzichte«, antwortete Brockmann. Seine Stimme bebte. Auch die Selbstbeherrschung dieses Mannes hatte Grenzen. »Ich lege keinen Wert darauf, Hilfe von Piraten und Mördern zu bekommen. « »Sie enttäuschen mich, Herr Kapitänleutnant«, sagte Winterfeld kopfschüttelnd. »Fällt es Ihnen so schwer, eine Niederlage hinzunehmen? Wenn es Sie tröstet – Sie hatten keine Chance. Nicht mit diesem Schiff. « »Das war keine Niederlage«, antwortete Brockmann. »Das war Mord. Ich lehne es ab, mit Ihnen zu reden. « »Aber, Herr Brockmann«, sagte Winterfeld kopfschüttelnd. »Ich bitte Sie! Sie sind Soldat wie ich. Muß ich Sie daran erinnern, daß Sie selbst vor nicht einmal zwei Monaten eine französische Fregatte versenkt haben. Die Zahl der Opfer belief sich, wenn ich mich richtig erinnere, auf –«

»Ich verbitte mir diesen Vergleich«, unterbrach ihn Brockmann scharf. »Wir sind im Krieg. Aber das hier war ein Akt der Piraterie!«

»Das ist Auffassungssache«, antwortete Winterfeld achselzuckend. »Nun, wir werden auch darüber noch ausgiebig diskutieren können. Im Moment ist leider keine Zeit dafür. Ist Ihr Erster Offizier noch am Leben?« »Ich glaube ja«, antwortete Brockmann. »Warum? Wollen Sie ihn ertränken lassen?«

Winterfeld nahm die Provokation hin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Bitte lassen Sie ihn suchen, und übergeben Sie ihm das Kommando über Ihr Schiff«, sagte er. Er machte eine Geste auf das Meer hinaus.»Meine Männer werden ihm dabei behilflich sein, die Überlebenden der GRISSOM zu bergen. Die HALLSTADT ist zwar manövrierunfähig, aber sie wird nicht sinken. Und sobald wir einen ausreichenden Sicherheitsabstand erreicht haben, werde ich ihr Hilfe schicken. Sie werden mich auf die LEOPOLD begleiten müssen, fürchte ich. «

»Und wenn ich mich weigere?« fragte Brockmann. Winterfeld schüttelte tadelnd den Kopf. »Sie sind nicht in der Situation, sich zu weigern«, sagte er. »Ich schlage Ihnen einen Handel unter Offizieren und Ehrenmännern vor. Ich verzichte darauf, dieses Wrack endgültig zu versenken, und Sie geben mir Ihr Ehrenwort, mich zu begleiten und keinen Fluchtversuch zu unternehmen. « Er maß Brockmann mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Einverstanden?« »Habe ich eine andere Wahl?« fragte Brockmann. »Kaum«, antwortete Winterfeld. »Also?« »Sie haben mein Wort«, sagte Brockmann zornig. »Aber nur, weil –« Winterfeld unterbrach ihn mit einer Geste, mit der er Brockmanns Bewacher gleichzeitig befahl, ihn loszulassen. Der riesenhafte Mann schwankte, aber er hielt sich aus eigener Kraft auf den Füßen. »Also gut, meine Herren«, sagte Winterfeld, wandte sich kurz zu Serena um und verbeugte sich spöttisch. »Und meine Dame, selbstverständlich. Gehen wir. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. «

Eine knappe halbe Stunde, nachdem man sie an Bord der LEOPOLD gebracht hatte, nahm das Schiff wieder Fahrt auf, und kurz darauf wurden Mike und Trautman zu Winterfeld gebracht. Die Kabine, in der sie gemeinsam untergebracht waren, hatte keine Fenster, so daß sie keinen Blick nach draußen werfen konnten, aber Mike war kein bißchen überrascht, als sie auf das Deck hinaustraten und sahen, daß das Schlachtschiff wieder Kurs auf das offene Meer genommen hatte – und daß die NAUTILUS ihnen folgte. Das Tauchboot war mit einigen dicken Tauen und einer Ankerkette mit fast mannsgroßen, stählernen Gliedern an der LEOPOLD befestigt, und obwohl der Anblick Mike einen tiefen Stich versetzte, beruhigte er ihn auch zugleich ein wenig, denn er bewies, daß Winterfelds Männer nicht in der Lage waren, das Schiff zu steuern. Winterfeld erwartete sie in der Kapitänskajüte, unmittelbar hinter der Brücke. Mike war nicht zum ersten Mal hier, aber er erkannte den Raum trotzdem kaum wieder. Die ehedem so pedantisch aufgeräumte Kabine hatte sich in ein Chaos verwandelt. Ein zweiter Tisch war hereingeschafft worden, auf dem sich Karten, Bücher und Hunderte von eng beschriebenen Blättern stapelten, das Bild des deutschen Kaisers und die dazu passende Fahne, die die Wand hinter Winterfelds Schreibtisch geziert hatten, waren verschwunden und hatten weiteren Karten und großformatigen Diagrammen und Blättern mit mathematischen Formeln und Berechnungen Platz gemacht, und auch Winterfelds Schreibtisch brach schier unter der Last von noch mehr Karten, Büchern und Diagrammen zusammen. Der Anblick verwirrte Mike. Er hatte damit gerechnet, daß es hier nicht mehr so aussehen würde wie bei seinem letzten Besuch – aber Winterfelds Kabine sah ganz und gar nicht so aus wie die Kommandozentrale einesPiratenschiffes.

Er erlebte eine zweite Überraschung, als wenige Sekunden nach ihrem Eintreffen die Tür erneut geöffnet wurde und mehrere von Winterfelds Soldaten Kapitänleutnant Brockmann und seinen englischen Kollegen Stanley hereinführten. Brockmann humpelte jetzt viel mehr als vorhin, aber er hatte eine saubere Jacke an, und die Platzwunde in seinem Gesicht war behandelt worden. Sein Arm hing in einer Schlinge. Offensichtlich hatte sein Stolz doch nicht so weit gereicht, daß er es ablehnte, von WinterfeldsÄrzten behandelt zu werden. Stanley war unverletzt, aber sein Gesichtsausdruck war ebenso finster wie der des Deutschen. Beide Männer nahmen auf einen Wink Winterfelds hin wortlos Platz. Auf einen zweiten Wink hin verließen die Soldaten den Raum wieder.

»Nun, meine Herren«, begann Winterfeld, an die beiden Offiziere gewandt, »ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit, sich ein wenig zu sammeln. Die überlebenden Matrosen der GRISSOM wurden an Bord der HALLSTADT gebracht?«

Die Frage galt Brockmann, der sie mit einem nur angedeuteten Nicken beantwortete. Sein Gesicht war wie aus Stein. Er hatte sich jetzt wieder vollkommen in der Gewalt. Aber hinter der Maske scheinbarer Gelassenheit brodelte es, das konnte Mike ganz deutlich erkennen. Seine unverletzte Hand umklammerte die Lehne des Stuhles mit solcher Kraft, als versuche er sie zu zerbrechen.

»Wir haben mittlerweile einen entsprechenden Funkspruch abgesetzt«, fuhr Winterfeld fort, als er nach ein paar Sekunden begriff, daß Brockmann nicht antworten würde. »Man wird sich um die Männer kümmern. In Anbetracht der Umstände denke ich, daß man die Besatzung der HALLSTADT wohl auf freien Fuß setzen wird. Und wenn nicht... nun, wir wissen, wie ausgesucht höflich die Briten mit Kriegsgefangenen umgehen, nicht wahr? Sie brauchen sich also keine Sorgen um Ihre Männer zu machen, Herr Brockmann. «

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Stanley. »Zumindest, wasSieangeht. Früher oder später kriegen wir Sie, Sie Verbrecher. Bauen Sie dann nicht zu sehr auf die englische Höflichkeit. Sie könnten eine böseÜberraschung erleben. «

»Aber, aber!« Winterfeld hob die Hand und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Ich muß Sie doch bitten, Mister Stanley. Drohungen helfen uns hier nicht weiter. Wir sollten uns wie zivilisierte Menschen benehmen. « »Zivilisierte Menschen«, antwortete Stanley gepreßt, »betätigen sich nicht als Piraten und Mörder. « »Und dafür halten Sie mich?« Winterfeld wirkte ehrlich verletzt. »Nun, ich kann es Ihnen nicht einmal verübeln, wie die Dinge liegen. Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich weder das eine noch das andere bin. « »Ach?« fragte Stanley. »Und was sonst?« »Wir sind hier, damit ich Ihnen die Situation erklären kann«, antwortete Winterfeld. »Ich bitte Sie, mir einfach fünf Minuten zuzuhören. Ich bin sicher, hinterher sehen Sie einiges anders. « Wieder wartete er einige Sekunden lang vergeblich auf eine Antwort, dann drehte er sich halb in seinem Sessel herum und wandte sich direkt an Mike.

»Ich bin froh, daß dir und deinen Freunden nichts geschehen ist«, sagte er. »Es ist ziemlich lange her, daß wir uns begegnet sind, aber wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann wart ihr damals mehr auf dem Schiff. Wo ist dieser junge Franzose – wie war doch gleich sein Name?«

»André«, antwortete Mike automatisch. »Er ist nicht mehr bei uns. «

»Ich hoffe doch stark, daß ihm nichts zugestoßen ist«, sagte Winterfeld, und seltsam – es klang wirklich ehrlich.

»Nein«, antwortete Mike. »André ist –« Er fing im letzten Moment Trautmans warnenden Blick auf und fuhr nach einer Pause fort: »– in Sicherheit. An einem Ort, der ihm besser gefiel als die NAUTILUS. « Winterfeld lächelte. »An einem jener geheimnisvollen Orte, die ihr zweifellos mittlerweile mit der NAUTILUS besucht habt«, sagte er. »Habt ihr Atlantis gefunden?«

Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Stanley ihn anstarrte. So ruhig er konnte, sagte er: »Nein. « »Und wenn es so wäre, würdest du es mir nicht sagen, nehme ich an«, fügte Winterfeld hinzu. »Nun, das überrascht mich nicht. Unsere letzte Begegnung ist ja unter nicht so besonders guten Umständen verlaufen, nicht wahr?«

»Also kennt ihr euch doch«, sagte Stanley bitter. »Ja«, antwortete Winterfeld. »Allerdings tun Sie Mike und seinen Freunden unrecht, Kapitän. Wir sind keineswegs Verbündete oder auch nur Freunde. Ganz im Gegenteil. Aber dazu später. « Er stand mit einem Ruck auf und trat an eine der Karten, die die Wand hinter seinem Schreibtisch zierten. Zwei, drei Augenblicke lang stand er reglos da, dann sagte er, ohne sich zu ihnen herumzudrehen: »Meine Herren – was halten Sie von diesem Krieg?«

Stanley blinzelte verwirrt. Brockmann zuckte nicht einmal mit der Wimper, und nach einigen weiteren, von unbehaglichem Schweigen erfüllten Sekunden drehte sich Winterfeld nun doch herum und sah die beiden Offiziere nachdenklich an. »Ich mache nicht nur Konversation«, sagte er. »Ich frage Sie, was sie zu dem sagen, was gerade in Europa geschieht. Gefällt es Ihnen?« »Was soll diese Frage?« fragte Stanley. »Natürlich nicht. « »Aber Sie sind doch daran beteiligt«, antwortete Winterfeld lächelnd.

»Ich bin Soldat«, erwiderte Stanley. »Kein Politiker. « »0 ja, natürlich«, sagte Winterfeld spöttisch. »Und Sie tun, was man Ihnen sagt, nicht wahr? Genau wie mein geschätzter Kamerad Brockmann, nehme ich an. Für Kaiser und Vaterland, wenn es sein muß, bis in den Tod. Wie viele britische Schiffe haben Sie versenkt, Brockmann? Zwei? Drei? Und Sie, Stanley – wie viele Kameraden haben Sie verloren?«

»Die mitgerechnet, dieSiegerade umgebracht haben?« fragte Stanley.

Winterfeld seufzte. Mit einem wortlosen Kopfschütteln wandte er sich an Mike. »Und du?« fragte er. »Wie meinen Sie das?« fragte Mike. »Wie ich es sage«, antwortete Winterfeld. »Vermutlich habt ihr, du und deine Freunde, bisher wenig direkt von diesem Krieg mitbekommen, aber ich denke, ihr seid alt genug, um euch den Rest vorstellen zu können. Was sagst du zu diesemKrieg?«

Die Art, auf die Winterfeld das letzte Wort aussprach, irritierte Mike. Es hörte sich an wie etwas Obszönes. »Ich halte ihn für Wahnsinn. Und für ein Verbrechen«, antwortete er.

Winterfeld lächelte. »Sehen Sie, meine Herren«, sagte er, nun wieder an Stanley und Brockmann gewandt. »Dieser Junge istkeinSoldat. Er ist nicht einmal ein Erwachsener. Nur ein Jugendlicher. Und trotzdem hat er offenbar viel deutlicher erkannt, was im Moment in der Welt geschieht. Wahnsinn. Und ein Verbrechen. « Plötzlich veränderte sich etwas in seiner Stimme. Sie wurde nicht lauter, aber viel eindringlicher, und es war etwas darin, was Mike schaudern ließ. »Was dort draußen vorgeht,istein Verbrechen. Dort draußen sterben Menschen, jeden Tag, jede Stunde. Und sie sterben vollkommen sinnlos – nur weil einige Politiker glauben, ihre Ziele um jeden Preis durchsetzen zu müssen. Sie werfen mir vor, daß ich getötet habe? Das ist richtig. Aber Sie selbst tun nichts anderes! Der Krieg wütet seit anderthalb Jahren, und die Zahl der Opfer geht bereits in die Hunderttausende. Und Millionen werden vermutlich sterben, bis die eine oder andere Seite aufgibt oder besiegt ist. « »Und das gibt Ihnen das Recht, Ihren eigenen Krieg vom Zaun zu brechen?« fragte Trautman. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sie hereingekommen waren, und sie hörten sich eigentlich gar nicht wie ein Vorwurf an, sondern eher nachdenklich. »Mein eigener Krieg?« Winterfeld lachte leise. »Eine interessante Formulierung – aber ja, vielleicht haben Sie damit sogar recht. Aber wenn, dann führe ich ihn nicht gegen eine Nation. « »Sondern gegen alle?« fragte Stanley. »Nein«, antwortete Winterfeld ernst. »Gegen den Krieg. Und ich möchte Sie bitten, mich dabei zu unterstützen. «

»Wie bitte?« Stanley riß ungläubig die Augen auf. »Sie haben mich richtig verstanden«, sagte Winterfeld. »Sie sind meine Gefangenen, aber ein Wort von Ihnen genügt, und Sie sind frei. Unter der Bedingung, daß Sie mir helfen. «

»Helfen?« fragte Stanley, nunmehr total verwirrt. »Wobei?«

Winterfeld antwortete nicht gleich, sondern sah sie alle vier der Reihe nach und sehr ernst an, ehe er sagte: »Den Krieg zu beenden. «

Ein paar Sekunden lang herrschte absolute Stille. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Stanley, Brockmann und auch Mike starrten Winterfeld an, und Stanley auf eine Art, als zweifelte er ernsthaft an Winterfelds Verstand – was er wahrscheinlich in diesem Moment auch tat. Nur Trautman wirkte viel mehr erschrocken als überrascht. Und sehr nachdenklich. Sein Blick glitt über die überall aufgehängten Karten und Tabellen, und Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. Auch Mike war im ersten Augenblick perplex. Was Winterfeld sagte, hörte sich tatsächlich schlichtweg verrückt an, und in gewissem Sinne war er es sicherlich auch – aber auf der anderen Seite kannte Mike Winterfeld auch zu gut, um wirklich zu glauben, daß der Mann einfach den Verstand verloren hatte. Er konnte sich nicht im Ernst einbilden, nur mit diesem Schiff allein den Krieg beenden zu können. Die LEOPOLD war eine gewaltige Vernichtungsmaschine, und was er tat, bedeutete für die unmittelbar Betroffenen sicherlich dasEnde – aber für die am Krieg beteiligten Nationen war es nicht mehr als ein Ärgernis. Genau das sprach Stanley dann schließlich auch aus: »Sie müssen übergeschnappt sein«, sagte er. »Was haben Sie vor? Solange abwechselnd deutsche und britische Schiffe zu versenken, bis beide Nationen vor Ihnen kapitulieren?«

»Nein«, antwortete Winterfeld ruhig. »Ich bin kein Narr, Kapitän Stanley, auch wenn Sie mich dafür zu halten scheinen. Mir ist klar, daß ich früher oder später gestellt und besiegt werden würde, würde ich so weitermachen wie bisher. Das habe ich nicht vor. Tatsächlich war der Angriff auf Ihre beiden Schiffe der letzte kriegerische Akt, zu dem ich gezwungen war. Wenn Sie so wollen, dann war Ihre Missionerfolgreich: Ab dem heutigen Tage wird es keine Überfälle mehr geben. Ich habe, was ich wollte. «

»Die NAUTILUS«, vermutete Trautman. Winterfeld nickte. »Unter anderem – ja. Mein Angebot gilt selbstverständlich auch für Sie und Ihre Begleiter, Herr Trautman: Sagen Sie mir Ihre Unterstützung zu und geben Sie mir Ihr Ehrenwort, und Sie sind frei. « »Unterstützung wobei?« wollte Stanley wissen. Winterfeld lächelte. »Sie enttäuschen mich erneut, Mister Stanley«, sagte er. »Sie erwarten nicht im Ernst, daß ich Ihnen meine Pläne offenbare, bevor ich weiß, wo Sie stehen?«

»Nein«, antwortete Stanley. »Ebensowenig wie Sie mein Ehrenwort als Offizier erwarten, bevor ich weiß, was Sie vorhaben. «

Diesmal lachte Winterfeld laut. »Ich sehe ein, die Situation ist verzwickt«, sagte er. »Ein klassisches Patt, sozusagen. Aber ich erwarte Ihre Entscheidung auch nicht sofort. Denken Sie in Ruhe über folgendes nach: Wie würden Sie sich entscheiden, wenn Sie die Wahl hätten, entweder Ihrem König und Ihrem Diensteid zu folgen und diesen Wahnsinn weiter mitzumachen oder beide zu verraten und den Krieg dafür zu beenden. «

»Das ist unmöglich!« behauptete Stanley. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen?«

»Wie gesagt – das kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen«, antwortete Winterfeld. »Aber glauben Sie mir – ich kann es. Und ich werde es tun, ob mit ihrer oder ohne Ihre Hilfe. Und das gleiche gilt für euch. «

Er wandte sich nun wieder direkt an Mike. »Meine Ingenieure haben mir versichert, daß sie binnen kürzester Zeit lernen werden, mit der NAUTILUS umzugehen. Aber es wäre einfacher mit eurer Hilfe. Und ihr habt mein Ehrenwort, daß ihr das Schiff zurückbekommt und frei seid, sobald alles vorbei ist. « »Sie müssen verrückt sein!« sagte Stanley. »Ich weigere mich, Ihnen weiter zuzuhören. «

»Das brauchen Sie auch nicht«, antwortete Winterfeld. »Wie gesagt – ich erwarte Ihre Entscheidung nicht sofort. Wir haben vier Tage Zeit, bis wir unser Ziel erreichen. Solange gebe ich Ihnen Bedenkzeit.

Selbstverständlich werden Sie behandelt, wie es einem Offizier zukommt. « Er rief die Wachen herein, die Stanley und Brockmann hinausführten. Auch Trautman und Mike erhoben sich, aber als Mike die Kabine verlassen wollte, rief Winterfeld ihn zurück.

Mike zögerte. Ihm war nicht wohl dabei, mit Winterfeld allein zu sein. Er tauschte einen fragenden Blick mit Trautman, aber als dieser nickte, blieb er stehen und sah Winterfeld fragend an.

Winterfeld schwieg, bis sich die Tür hinter Mike wieder geschlossen hatte, dann sagte er: »Bitte setz dich, Mike. « Mike zögerte erneut. Da war plötzlich etwas in Winterfelds Blick, was ihn erschreckte. Aber er gehorchte, und nachdem er sich wieder gesetzt hatte, nahm auch Winterfeld wieder auf seinem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. »Ich möchte, daß du eines weißt, Mike«, fuhr Winterfeld fort. »Was immer auch passieren mag und wie immer ihr euch auch entscheidet, dir und deinen Freunden wird nichts geschehen. «

Aber das war nicht alles, was Winterfeld ihm sagen wollte, das spürte Mike, ebenso deutlich, wie er spürte, daß Winterfelds Worte ehrlich gemeint waren, nicht nur so dahingesagt, sondern ein Versprechen, das er unter allen Umständen einhalten würde. Er antwortete nicht, aber damit schien Winterfeld auch gar nicht gerechnet zu haben.

»Mirliegt viel daran, daß du mir glaubst, Mike«, sprach er weiter. »Ich sage das nicht nur, um dich umzustimmen. Ihr könnt euch entscheiden, wie ihr wollt. Sobald ich meine Arbeit getan habe, seid ihr frei. Ihr könnt die NAUTILUS nehmen und damit hinfahren, wo immer ihr wollt. «

»Warum haben Sie uns dann überhaupt erst gefangengenommen?« fragte Mike.

Winterfeld lächelte sanft. »Mir kam es eher vor, als hätte ich euchbefreit«,sagte er. »Aber du hast natürlich recht – ichhabeeuch gesucht. Ich brauche die NAUTILUS, wenigstens für eine Weile. Aber ich will sie euch nicht mehr wegnehmen. Ich gebe zu, das wollte ich, aber ich weiß jetzt auch, daß es ein Fehler war. « »Und woher diese plötzliche Einsicht?« fragte Mike. Winterfeld wirkte mit einem Male sehr traurig. »Ich habe mit jemandem gesprochen«, sagte er. »Mit jemandem, der mir die Augen geöffnet hat. Derselbe, dem ich versprochen habe, euch keinen Schaden zuzufügen. « »Paul?« vermutete Mike. Winterfeld nickte. Er sagte nichts. Mike sah deutlich, daß er etwas sagenwollte,aber plötzlich konnte er es nicht mehr. In seinem Gesicht zuckte ein Muskel, und seine Augen schienen sich plötzlich mit Schatten zu füllen. In Mike stieg ein furchtbarer Gedanke empor. »Wie... wie geht es Paul?« fragte er stockend. »Wo ist er?«

»Er ist tot«, antwortete Winterfeld leise. Mike fuhr zusammen. »Tot?« keuchte er. »Aber wie... ich meine, das... das kann doch gar nicht sein... Er... « Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Er wußte, daß Winterfeld die Wahrheit sagte –niemandwürde sich einen Scherz über den Tod seines eigenen Kindes erlauben – aber er weigerte sich einfach, es zu glauben. Paul tot? Das konnte nicht sein. Dasdurftenicht sein. Paul Winterfeld war sein bester Freund gewesen, als sie noch zusammen im Internat in England gewesen waren, und all die Zeit, die inzwischen vergangen war, hatte im Grunde nichts daran geändert, und beste Freunde sterben einfach nicht. »Wie ist es passiert?« flüsterte er. Winterfeld starrte an ihm vorbei ins Nichts. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, das Mike kaum mehr verstehen konnte. »Vor drei Monaten«, antwortete er. »Es war ein Angriff auf die LEOPOLD. Eine deutsche Fregatte. « »Eines IhrereigenenSchiffe?« keuchte Mike. »Ihr Kapitän glaubte wohl, sich einen Orden verdienen zu müssen«, antwortete Winterfeld bitter. »Vielleicht war er auch einfach nur verrückt. Das Schiff tauchte plötzlich auf und eröffnete warnungslos das Feuer auf uns. Es war so... so sinnlos. Er hatte keine Chance. « Mike war kaum in der Lage, Winterfelds Worten zu folgen. Er hörte sie, aber sie erreichten nicht wirklich sein Bewußtsein.

Trotzdem war ihm ganz klar, was geschehen war: Winterfeld war ein Deserteur. Er hatte vor mehr als einem Jahr zusammen mit seinem Schiff und dem Großteil seiner Besatzung den Befehl verweigert und sowohl dem deutschen Kaiserreich als auch dem Krieg den Rücken gekehrt, und natürlich machte nun jeder Kapitän des Kaiserreiches Jagd auf ihn. Vermutlich stand sein Kopf ganz oben auf der Wunschliste des deutschen Kaisers, gleich unter dem des britischen Königs. »Aber... aber wieso?« stammelte er. »Das... das kann doch gar nicht sein!«

»Es war ein Zufallstreffer«, fuhr Winterfeld leise fort. »Wir haben sie in Stücke geschossen, noch ehe sie die zweite Salve

abfeuern konnten. Nur eine einzige Granate hat uns getroffen.

Sie verletzte mich, und sie tötete Paul. «

Mike kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen. »Er hat deinen Namen genannt, Mike«, sagte Winterfeld. »Ich mußte ihm etwas versprechen, und ich werde dieses Versprechen halten. Ich habe ihm geschworen, daß dir und deinen Freunden kein Leid geschieht. Und daß die NAUTILUS nicht in falsche Hände gerät. Deshalb habe ich euch befreit. «

»Dann wußten Sie die ganze Zeit, wo wir waren?« fragte Mike.

»Nicht die ganze Zeit«, antwortete Winterfeld. »Aber seit ein paar Wochen, ja. « Er lächelte traurig. »Ich weiß, ihr habt gedacht, daß ihr mich verfolgt. « »Dabei habenSieuns verfolgt«, murmelte Mike. »Deshalb waren Sie auch so schnell zur Stelle, als Stanleys Schiff uns gejagt hat. « Winterfeld nickte. Er sagte nichts. »Soll ich Ihnen jetzt danken?« fragte Mike. Sein Schmerz schlug in Zorn um. »Das werde ich nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß Paul es so gemeint hat. Sie haben uns gerettet, aber um welchen Preis?« »Ich verstehe deine Verbitterung«, antwortete Winterfeld sanft. »Vielleicht hast du sogar recht. Ich habe es aufgegeben, über Recht und Unrecht nachzudenken, Mike. Sie sind nicht mehr, was sie sein sollten. Es sind nur noch Worte ohne Bedeutung. Recht hat in dieser Welt nur noch der, der stärker ist. « »Aber das ist doch Wahnsinn!« sagte Mike. »Ja«, antwortete Winterfeld. »Das ist es. Es ist Wahnsinn, weil die ganze Welt wahnsinnig geworden ist. Aber ich werde diesen Wahnsinn beenden. « Er machte eine zornig wirkende Geste. »Ich weiß, daß Stanley und Brockmann mich für verrückt halten – und Trautman und du vielleicht auch. Vielleicht braucht es einen Verrückten, um eine Welt von Verrückten zur Besinnung zu bringen. «

»Und das sind Sie?« fragte Mike. »Warum nicht? Jemand muß es tun. Und ich bin in der Lage dazu. « »Und wie?«

»Das kann und will ich dir nicht verraten«, antwortete Winterfeld. »Noch nicht. Aber bald. Und ich bitte dich, über dieselbe Frage nachzudenken, die ich Stanley gestellt habe. Ob du mir glaubst oder nicht – versuch dir einfach vorzustellen, daß ich tatsächlich die Macht hätte, diesen Krieg zu beenden, und dann entscheide. « Er gab sich einen Ruck und sprach lauter und mit veränderter Stimme weiter.

»Du kannst jetzt gehen. Ich habe euch einen Teil des Schiffes zugewiesen, in dem ihr euch frei bewegen könnt. Ich weiß, daß ihr mein Vertrauen nicht ausnutzen werdet. «

Die Nachricht von Pauls Tod versetzte sie alle in tiefe Bestürzung. Selbst Ben, der früher keine Gelegenheit ausgelassen hatte, Paul wegen seiner Herkunft und Nationalität zu hänseln, wurde für eine Weile sehr ruhig, und als Mike genauer hinsah, erkannte er, daß er mit den Tränen kämpfte. Schließlich war es Stanley, der als erster das Schweigen brach. Brockmann und er waren zu den anderen gebracht worden. »Das wäre wenigstens eine Erklärung«, sagte er. »Wofür?« wollte Mike wissen. Auch er kämpfte plötzlich mit den Tränen. Vorhin, als Winterfeld ihm die Hiobsbotschaft überbracht hatte, da hatte er sich noch halbwegs in der Gewalt gehabt. Aber jetzt, nachdem er es selbst erzählt hatte, kostete es ihn all seine Kraft, überhaupt zu sprechen.

»Dafür, daß er offensichtlich den Verstand verloren hat«, antwortete Stanley. »Er wäre nicht der erste, der daran zerbricht, ein Kind zu verlieren. Noch dazu, wo ein Schiff seines eigenen Landes für dessen Tod verantwortlich ist. «

Er sah Brockmann an und wartete offensichtlich auf eine Zustimmung, aber der deutsche Kapitän schüttelte nach einigen Augenblicken den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagte er.

Stanley legte den Kopf schief. »So?« fragte er spöttisch. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Sind Sie der Meinung, daß ein deutscher Offizier sich keine Gefühle erlauben darf?«

Brockmann wollte auffahren, aber Trautman machte eine rasche, beruhigende Geste. »Bitte, meine Herren«, sagte er. »Es nutzt gar nichts, wenn wir uns jetzt streiten. Dürfte ich vorschlagen, daß wir einen Waffenstillstand schließen, bis das alles hier vorbei ist?« Brockmann nickte, während Stanley seinen deutschen Kollegen noch eine Sekunde lang aus brennenden Augen anstarrte, ehe auch er sich zu einem Nicken durchrang.

»Sie machen es sich zu leicht, Stanley«, fuhr Brockmann schließlich fort. »Ich kenne Winterfeld von früher. Er ist nicht so. Dieser Mann ist einer der beherrschtesten und diszipliniertesten Soldaten, die ich je kennengelernt habe. Ansonsten hätte man ihm auch kaum das Kommando über die LEOPOLD anvertraut. «

»Was nicht unbedingt eine weise Entscheidung war«, konnte sich Stanley nicht verkneifen, hinzuzufügen. »Immerhin ist er mit dem Stolz der kaiserlichen Marine auf und davon, wenn ich richtig informiert bin. « »Ja, das ist er«, gestand Brockmann ungerührt. »Und niemand hat bis heute begriffen, warum. Winterfeld ist nicht verrückt. Er mußte wissen, daß er früher oder später gestellt werden würde. Und das gilt immer noch. Er hat uns besiegt, aber auf die Dauer kann er nicht davonkommen. «

»Und wenn er recht hat?« fragte Serena. Alle sahen das Mädchen verwirrt oder spöttisch an, aber Serena nickte nur heftig mit dem Kopf und wiederholte ihre Frage: »Und wenn er nun recht hat? Was, wenn er wirklich in der Lage ist, diesen Krieg zu beenden?«

»Das ist völlig unmöglich«, sagte Brockmann. »Wieso?« wollte Serena wissen. »Sie haben es doch selbst gesagt – er ist bestimmt nicht einfach verrückt. Jedenfalls nicht verrückter als ihr alle. Was, wenn er etwas weiß, was sonst außer ihm niemand weiß. Wenn er eine Entdeckung gemacht hat? Irgendeine Erfindung, die ihn unverwundbar macht?« Trautman lächelte. »Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst, Serena«, sagte er. »Aber so funktioniert das bei uns nicht. Er hat bestimmt keine neue Superwaffeoder etwas Ähnliches entdeckt. So etwas bastelt man nicht in einem Jahr auf einem Schiff auf hoher See zusammen. «

»Aber was kann er dann vorhaben?« fragte Juan. Er schien nicht ganz so sehr davon überzeugt zu sein, daß Serena Unsinn redete, wie alle anderen, Trautman eingeschlossen. Mit einem fragenden Blick wandte er sich an Stanley und Brockmann. »Was wissen Sie über ihn?

Sie haben ihn immerhin gemeinsam gejagt – und das will schon etwas heißen, in diesen Zeiten? Was hat er getan?«

»Das wißt ihr doch genau«, antwortete Stanley heftig. »Er ist ein Pirat und Mörder. Er hat ein Dutzend Schiffe versenkt oder gekapert und fast ebenso viele Häfen in Schutt und Asche gelegt. «

Stanley zog nur eine Grimasse, aber nach ein paar Sekunden sagte Brockmann nachdenklich. »Sprengstoff. « Nicht nur Juan sah den Kapitän mit neuem Schrecken an. »Wie?«

Brockmann nickte ein paarmal und warf einen Blick in die Runde. »Die Schiffe, die er gekapert hat, waren ausnahmslos Munitionstransporter«, bestätigte er. »Und in mindestens drei der deutschen Küstenstädte, die er angegriffen hat, befanden sich Munitionslager. Die LEOPOLD hat sie sturmreif geschossen, aber anschließend haben seine Männer große Munitions-und Sprengstoffvorräte erbeutet. Ich nehme an, so war es auch in den betroffenen Städten an der britischen Küste?«

Die Frage galt Stanley, der jedoch nur mit Schweigen und einem steinernen Gesichtsausdruck darauf reagierte. Schließlich lachte Brockmann leise. »Sie verraten mir keine Staatsgeheimnisse«, sagte er. »Glengweddyn ist alles andere als ein verschlafenes Nest, Stanley. Haben Sie wirklich gedacht, wir wüßten nicht, daß in den umliegenden Bergen eines der größten Munitionslager an diesem Küstenabschnitt verborgen ist?« »Stimmt das?« fragte Trautman. Stanley nickte widerwillig. »Ja«, sagte er. »Aber selbst wenn – was heißt das schon? Was glauben Sie, hat er vor? Er muß zigtausend Tonnen Sprengstoff erbeutet haben, aber was nutzt ihm das schon?« »Das wissen wir noch nicht«, antwortete Trautman. »Aber ich schätze, wir sind auf der richtigen Spur. « Er blickte einige Sekunden lang nachdenklich zu Boden. »Sind Ihnen die Karten in seiner Kabine aufgefallen und all diese Berechnungen und Tabellen?« Stanley nickte. »Sicher. Und?«

»Sie gefallen mir nicht«, sagte Trautman. »Ich könnte nicht sagen, wieso, aber etwas daran machtmirangst. Das Ganzeergibteinen Sinn – ich weiß nur noch nicht, welchen. «

»Wir brauchen Astaroth«, sagte Ben. »Wen?« fragte Stanley.

»Astaroth«, sagte Ben noch einmal. »Unseren Bordkater. «

Stanleys Augen wurden groß. »Den...Kater?«fragte er. »Bist du jetzt auch noch verrückt geworden?« Ben setzte zu einer Antwort an, aber er fing im letzten Moment einen warnenden Blick Trautmans auf und schluckte hinunter, was er Stanley wohl gerade über Astaroth hatte erzählen wollen. Und das ist auch gut so, dachte Mike. Ganz abgesehen davon, daß Stanley ihnen sowieso nicht geglaubt hätte, war es vielleicht – Waffenstillstand hin oder her – ganz gut, wenn Stanley und Brockmann nichtalleswußten. »Das Tier ist ganz allein an Bord der NAUTILUS«, sagte Trautman. »Niemand kümmert sich im Moment darum. Ben sorgt sich wohl nur um ihn. « Stanley blickte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand – was er im Moment wohl auch tat –, sagte aber nichts mehr, sondern schüttelte nur ein paarmal den Kopf.

»Also, noch einmal zurück zu Winterfeld«, fuhr Trautman fort. »Wir wissen, daß er über einen gewaltigen Vorrat an Sprengstoff verfügt und daß seine Kabine voll ist mit Seekarten und mathematischen Berechnungen. Was könnte das bedeuten?«

»Was wohl?« fragte Stanley spöttisch. »Vielleicht will er ja

den Nordpol sprengen. «

Die Worte waren als Scherz gemeint, aber niemand lachte. Brockmann sah ihn eine Sekunde lang eindeutig erschrocken an, und Stanleys Lächeln gefror zu einer Grimasse.

»Den Pol vielleicht nicht, aber irgend etwas anderes«, sagte Trautman in das unbehagliche Schweigen hinein. »Aber was? Wir fahren tatsächlich nach Norden, nicht wahr? Was gäbe es dort, was Einfluß auf den Verlauf des gesamten Krieges hätte, wenn man es zerstört?« »Nichts«, sagte Stanley. »Rein gar nichts, glauben Sie mir. Wir können überlegen bis zum Sankt Nimmerleinstag – die Antwort ist immer dieselbe: Winterfeld ist verrückt geworden. «

»Ich wollte, ich könnte Ihnen glauben«, seufzte Trautman. »Aber irgend etwas sagt mir, daß es nicht so einfach ist. «

Mike hörte nicht mehr hin. Das Gespräch begann sich im Kreise zu drehen, und das würde es auch noch eine geraume Weile weiter tun, denn sie versuchten etwas im Grunde Unmögliches: Antworten zu finden auf Fragen, die sie noch nicht kannten. Das Interesse, das für kurze Zeit in ihm aufgeflammt war, war wohl nur so etwas wie ein Strohhalm gewesen, an den sein Verstand sich klammerte, um sich nicht dem gewaltigen Schmerz stellen zu müssen, der wie ein Abgrund unter seinen Gedanken lauerte. Er fühlte sich wie erschlagen, so leer, als wäre mit Paul tatsächlich ein Stück von ihm gestorben. Nach einer Weile stand er auf und setzte sich auf die Kante des am weitesten von den anderen entfernten Bettes. Er wollte allein sein. Trotzdem verspürte er ein Gefühl von Dankbarkeit, als Serena nach einiger Zeit zu ihm kam. Sie setzte sich wortlos, und sie streckte ebenso wortlos die Hand nach seiner aus und hielt sie fest. Es machte den Schmerz nicht weniger schlimm, aber irgendwie half es ihm, ihn besser zu ertragen.

»Du trauerst um deinen Freund«, stellte Serena schließlich fest.

Mike nickte wortlos.

»Er muß... ein sehr guter Mensch gewesen sein, wenn du ihn so geliebt hast«, fuhr Serena stockend fort. Mike nickte wieder. Er sagte noch immer nichts. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Obwohl er Winterfelds Sohn war«, fügte Serena hinzu, und diesmal klang sie sehr nachdenklich. »Das verstehe ich nicht. Wie kann der Sohn deines Feindes zugleich deinFreundsein?«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, antwortete Mike. »Außerdem ist Winterfeld nicht wirklich unser Feind. «

Serena machte große Augen. »Nach allem, was er getan hat?«

»Ich weiß, es klingt verrückt«, antwortete Mike, »aber er ist trotzdem nicht unserFeind.Er ist von dem überzeugt, was er tut, und er tut es nicht, um uns zu quälen oder uns Schaden zuzufügen. Das macht es nicht besser«, fügte er hastig hinzu, als er Serenas Blick bemerkte. »Im Gegenteil. « »Wieso?«

»Weil es viel leichter ist, jemanden zu bekämpfen, den man haßt«, sagte Mike. »Aber das kann ich nicht. Winterfeld hat versprochen, uns gehen zu lassen, und ich bin sicher, daß er sein Wort hält. Er ist von dem überzeugt, was er tut, und gerade das macht ihn so gefährlich. «

»Ich glaube nicht, daß ich das verstehe«, sagte Serena. »Ihr seid sonderbar. Manchmal kommt ihr mir so wild und barbarisch vor, daß ich beinahe Angst vor euch bekomme. Und dann wieder seid ihr so kompliziert... « Mike lächelte matt. Es waren Momente wie diese, die ihn immer wieder daran erinnerten, daß Serena nur so aussah wie ein ganz normales dreizehn- oder vierzehnjähriges Mädchen. Aber das war sie eben nicht. Sie stammte aus einer Welt, die mit der, in der Mike und die anderen geboren und aufgewachsen waren, nicht viel gemein hatte.

»Was verstehst du nicht?« fragte er. »Alles«, sagte Serena. Sie klang ein bißchen hilflos. »Zum Beispiel diese... dieseFreundschaft.Du hast diesen Paul doch länger als ein Jahr nicht gesehen, und trotzdem trauerst du um ihn wie um einen Bruder. «

»Das spielt überhaupt keine Rolle«, antwortete Mike. »Weißt du, eine richtige Freundschaft hält ein Leben lang. Und man kann sich auch fast ein Leben lang nicht sehen, ohne daß es etwas daran ändern würde. Hast du denn gar keine Freunde gehabt?« »In Atlantis?« Serena schüttelte den Kopf. »Ich war eine Prinzessin«, erinnerte sie ihn, und es klang ein wenig, als hätte Mikes Frage sie beleidigt. »Alle haben mich verehrt, aber niemand hätte es gewagt, mich als seineFreundinzu behandeln. «

»Dann hast du vielleicht das Wichtigste, was es im Leben eines Menschen gibt, niemals kennengelernt«, sagte Mike ernst.

»Was?« fragte Serena. »Um einen Menschen trauern zu müssen, wie du jetzt? Was ist daran so wichtig? Dir bricht beinahe das Herz. « »Aber auch das gehört dazu«, antwortete Mike. »Wenn es so ist, dann bin ich froh, daß ich nie Freunde hatte«, sagte Serena.

Im ersten Moment erschreckten diese Worte Mike – aber plötzlich lächelte er. »Aber die hast du doch längst«, sagte er.

»So?« Serena klang ehrlich verblüfft. »Wie meinst du das?«

»Was ist mit Astaroth?« fragte Mike. »Und Trautman und Singh und Chris und Juan – und selbst Ben? Wir sind doch deine Freunde. Und das werden wir auch immer bleiben, ganz egal, was passiert. « »Das ist... etwas anderes«, behauptete Serena. »Du hast gesagt, daß Freunde –«

»– zum Beispiel füreinander einstehen«, unterbrach sie Mike. »Hast du das etwa nicht getan? Was war auf der Insel der Dinosaurier? Warst du etwa nicht bereit, dein eigenes Leben zu opfern, um uns zu retten?*«

Serena schwieg verwirrt. Aber nach einigen Sekunden sagte sie wieder: »Das war etwas anderes. «

»Das war es nicht«, antwortete Mike. »Aber auch das wirst du noch einmal verstehen. «

Sie sprachen nicht weiter, sondern saßen einfach in vertrautem Schweigen nebeneinander da, und was Mike vorhin schon einmal gespürt hatte, das empfand er jetzt erneut und noch viel intensiver: Es linderte den Schmerz nicht, wenn jemand da war, der ihn teilte. Aber es machte es leichter, ihn zu ertragen. Sehr viel leichter sogar.

Die Zeit strich träge dahin. Die ersten beiden Tage ihrer Gefangenschaft brachten sie fast ununterbrochen zusammen zu, und natürlich diskutierten sie immer wieder über Winterfelds geheimnisvollen Plan. Aber schließlich kamen sie wieder darauf, was Trautman eigentlich schon am ersten Tag auf den Punkt gebracht hatte: Sie konnten nichts gegen Winterfeld unternehmen, solange sie nicht wußten, was er vorhatte. Erst am vierten und somit – Winterfelds eigenen Worten zufolge – letzten Tag ihrer Reise wurden sie das erste Mal wieder an Deck gelassen. Es war sehr kalt. Sie waren ununterbrochen nach Norden gefahren, und da die LEOPOLD auch ein sehr schnelles Schiff war, hatten sie in dieser Zeit ein

gehöriges Stück Weg zurückgelegt. Brockmann hatte gemeint, daß sie sich allmählich dem Polarkreis nähern mußten, und zumindest der erste Blick, den Mike auf das Meer warf, als er gebückt in den eisigen Wind hinaustrat, der über das Deck der LEOPOLD strich, schien ihm recht zu geben: Der Himmel war grau und hing niedrig, und er kam Mike vor wie eine Platte aus massigem Blei, die jemand über die Welt gestülpt hatte. Die Sonne sah aus wie ein daraufgemalter gelber Klecks, der kaum Licht und überhaupt keine Wärme verstrahlte, und selbst vom Wasser schien ein eisiger Hauch aufzusteigen. Die Aufbauten der LEOPOLD waren mit einem weißen Schimmer bedeckt, und hier und da hatte sich sogar Eis gebildet. Im Norden, noch weit entfernt, glitzerte eine weiße Linie, wo eigentlich der Horizont sein sollte. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man eine Anzahl winziger dunkler Punkte davor erkennen, die wie Perlen auf einer unsichtbaren Schnur hintereinander aufgereiht waren.

Ihre Begleiter ließen ihnen Zeit, sich umzusehen, gestatteten aber nicht, daß sie stehenblieben, so daß sie schon nach wenigen Augenblicken wieder zurück ins Innere des Schiffes traten und die Treppe zur Brücke hinaufgingen. Trotzdem reichte das für Mike, festzustellen, daß die NAUTILUS noch immer im Schlepptau hinter dem Kriegsschiff lag. Der Anblick gab ihm einen tiefen, schmerzhaften Stich. Die Rettung war so nahe und trotzdem unerreichbar.

Winterfeld erwartete sie wie üblich in seiner Kabine, und er war nicht allein. Als sie eintraten, stand er zusammen mit zweien seiner Männer über eine riesige Karte gebeugt da, die seinen ganzen Schreibtisch beanspruchte. Mike warf einen neugierigen Blick darauf, aber was er sah, verwirrte ihn völlig. »Ah, unsere Gäste!« begrüßte sie Winterfeld – mit einem Lächeln und in einem fröhlichen Ton, der der Situation überhaupt nicht angemessen schien. Er nickte den beiden Männern zu seiner Rechten zu, woraufhin diese schweigend die Kabine verließen. »Bitte, sucht euch irgendwo einen Platz«, sagte er. »Und verzeiht das Durcheinander. Ich hasse nichts so sehr wie Unordnung, aber leider sind wir hier ein wenig eingeschränkt, was Platz angeht. « Keiner von ihnen rührte sich

– außer Serena, die sich suchend umsah und dann kurzerhand einen Stapel Papier von einem Stuhl fegte, um sich darauf niederzulassen. Winterfeld sah sie einen Moment lang stirnrunzelnd an, zuckte aber dann nur die Achseln und fuhr im selben fröhlichen Ton fort: »Nun, ich hoffe, die Bedenkzeit, die ich Ihnen gewährt habe, hat ausgereicht. Sind Sie zu einem Schluß gekommen?« »Ja«, sagte Stanley böse. »Nämlich zu dem, daß Sie komplett verrückt sind, Winterfeld. Aber dazu hätte ich keine vier Tage gebraucht. «

»Denken Sie ebenso?« Winterfeld nahm die Beleidigung

sichtlich ungerührt hin und wandte sich an Brockmann.

»Nicht ganz«, antwortete der deutsche Kapitän. »Aber die Antwort auf die Frage, ob ich mit Ihnen gemeinsame Sache gegen mein Vaterland machen will, lautet nein – wenn es das ist, was Sie wissen wollen. « Winterfeld seufzte. »Es tut mir leid, wenn Sie es so sehen«, sagte er. »Die Wahrheit ist, daß ich weder gegen unser noch gegen das Land unseres britischen Kameraden vorgehen will oder gegen irgendein anderes. Mein einziger Feind ist der Wahnsinn, der im Augenblick von der ganzen Welt Besitz ergriffen hat. Und Sie, Herr Trautman, und Ihre Freunde?«

Trautman zögerte, sofort zu antworten. Sein Blick glitt wieder über die aufgehängten Karten und Tabellen, und er sah plötzlich wieder besorgt und erschrocken drein wie beim ersten Mal, als sie hiergewesen waren.

Vor allem die große Karte, die auf Winterfelds Schreibtisch lag, schien ihn zu beunruhigen. Mike fragte sich, ob er darin vielleicht mehr sah als er und die anderen. »Wenn ich wirklich wüßte, daß Sie diesen Krieg beenden könnten, würde ich zustimmen«, sagte er schließlich. »Aber das kann niemand. Auch Sie nicht. « »Und wenn ich es Ihnen beweise?« fragte Winterfeld. Trautman schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich weiß, was Sie vorhaben«, sagte er. »Es wird nicht funktionieren, glauben Sie mir. «

Mike blickte Trautman aus großen Augen an, und auch auf den Gesichtern der anderen spiegelten sichÜberraschung und Unglauben. »Sie wissen, was er vorhat?« fragte Stanley.

Trautman ignorierte ihn. »Seien Sie vernünftig, Winterfeld«, sagte er. »Es kann nicht funktionieren – und selbst wenn, hieße es, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. «

»Wovon zum Teufel reden Sie überhaupt?« fuhr Stanley auf. »Sie wissen, was dieser Kerl vorhat? Wenn es so ist, wieso haben Sie es uns nicht gesagt? Machen Sie am Ende doch gemeinsame Sache mit ihm?« Trautman wollte antworten, aber Winterfeld unterbrach ihn mit einer Geste und wandte sich selbst an Stanley. »Ich muß Sie noch einmal bitten, die Form zu wahren, Kapitän Stanley«, sagte er, nun nicht mehr so freundlich wie bisher. »Sie werden gleich alles erfahren. Aus keinem anderen Grund sind wir schließlich hier. Aber zuerst möchte ich noch die anderen befragen. « Mikes Herz begann schneller zu klopfen, als sich Winterfelds Blick nun auf ihn konzentrierte. Der Kapitän der LEOPOLD sagte nichts, aber das war auch gar nicht nötig. Mike hatte das Gespräch, das sie vor vier Tagen geführt hatten, nicht vergessen. »Ich kann es nicht«, sagte er leise. »Ich kann meine Freunde nicht verraten. «

»Du würdest ihr Leben damit retten«, sagte Winterfeld ernst.

»Sagten Sie nicht, daß uns nichts passieren würde?« Winterfeld lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. »Ich sagte, daß euchvon mirkeine Gefahr droht«, antwortete er. »Und das ist die Wahrheit. Aber ich kann euch nicht garantieren, daß ihr davonkommt. Ich will ganz offen sein. Zu dem, was ich vorhabe, brauche ich die NAUTILUS. Meine Ingenieure haben das Schiff in den letzten Tagen gründlich untersucht, und sie sind sicher, daß sie es steuern können.Ichbin dessen nicht so sicher wie sie. Ich fürchte, das Schiff könnte beschädigt werden, vielleicht sogar zerstört. Das muß nicht sein. Ich habe nichts gegen euch, Mike. Das hatte ich nie – auch wenn ich nicht von dir erwarte, daß du mir glaubst. Mein Angebot gilt nach wie vor: Helft mir, meine Pläne zu verwirklichen, und ich lasse euch gehen. Miteurem Schiff. « Er hob die Hand, als Mike antworten wollte. »Überlegt es euch gut. Ich frage nicht noch einmal. «

»Vielleicht hätten Sie endlich die Güte, uns mitzuteilen, was Sie überhaupt vorhaben«, sagte Stanley scharf. Winterfeld lächelte wieder. »Selbstverständlich. Obwohl ich mich ein wenig wundere, daß Sie nicht schon von selbst darauf gekommen sind. Herr Trautman jedenfalls hat es offensichtlich begriffen. Ich werde die Welt zwingen, den Krieg zu beenden. Auf eine ganz einfache Art und Weise. Im Grunde haben Sie mir vorgemacht, wie es geht. «

»Wir?« fragte Stanley. Brockmann sah Winterfeld nur schweigend an, aber auch in seinem Gesicht arbeitete es. Er blickte immer wieder zu der Karte vor Winterfeld, und Mike war jetzt fast sicher, daß er ebenso wie Trautman begriffen hatte, wovon Winterfeld sprach. »Sie«, bestätigte Winterfeld und deutete auf Brockmann und Stanley. »Sie beide entstammen feindlichen Nationen. Sie sind Soldaten zweier Länder, die im Krieg miteinander liegen – und doch haben Sie sich zusammengetan, um gegen einen gemeinsamen Feind vorzugehen, nicht wahr?«

»Ich verstehe«, sagte Stanley spöttisch. »Sie wollen eine Flotte von Piratenschiffen aufbauen, die Europa bedroht. Wer hilft Ihnen noch dabei? Dschingis-Khans Horden? Oder vielleicht die Marsmenschen?« »Ich hoffe, das ist nicht der vielgerühmte englische Humor«, sagte Winterfeld. »Wenn ja, wird er hoffnungslos überschätzt. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, das habe ich nicht vor. Aber ich werde diesen Wahnsinnigen in Europa einen Feind gegenüberstellen, der sie zwingt, zusammenzuarbeiten. Ob sie es wollen oder nicht. Glauben Sie mir – in wenigen Tagen schon wird niemand mehr auch nur daran denken, auf seinen Nachbarn zu schießen. « »Und wieso nicht?« fragte Stanley. »Weil jedermann in Nordeuropa dann damit beschäftigt sein wird, irgendwie am Leben zu bleiben«, antwortete Trautman an Winterfelds Stelle. Er deutete auf die Karte. »Sehen Sie sich die Karte an, Stanley. Erkennen Sie sie?«

Stanley trat neugierig näher an den Schreibtisch heran, musterte die Karte einige Sekunden lang und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nun, das erstaunt mich nicht«, sagte Winterfeld. Er lächelte Trautman zu. »Ebensowenig, wie es mich erstaunt, daßSiesie kennen. Schließlich stammt sie aus Ihrem Schiff. Sie hat uns sehr geholfen. Ebenso wie einige andere Unterlagen, die wir auf der NAUTILUS gefunden haben. «

Trautmans Miene verdüsterte sich. Er schwieg. »Was ist das für eine Karte?« fragte Stanley. »Eine Seekarte«, antwortete Winterfeld. »Aber keine von der Art, mit der Sie normalerweise umgehen müssen, Mister Stanley. Sie zeigt den Meeresgrund. Ungefähr dort, wo wir uns jetzt befinden – genauer gesagt, dort, wo wir in gut zwei Stunden sein werden. Ich selbst verfüge über ähnliche Karten, auch wenn ich zugeben muß, daß sie nicht annähernd so präzise sind. Aber sie bestätigt die Richtigkeit meiner Berechnungen. Mit Hilfe dieser Karte und der NAUTI-LUS bin ich in der Lage, mein Vorhaben durchzuführen. «

»Welches Vorhaben?« fragte Stanley. »Ganz Europa zu vernichten«, sagte Trautman leise. Winterfeld sagte nichts, aber Stanley fuhr wie unter einem Hieb zusammen, und selbst Brockmann verlor für eine Sekunde seine Beherrschung und richtete sich kerzengerade auf. Einer der Soldaten, die sie in die Kabine begleitet hatten, griff nach seinem Gewehr, aber Winterfeld machte eine rasche, beruhigende Geste. Brockmann entspannte sich wieder. »Sie übertreiben, Herr Trautman«, sagte er ruhig. »Ich gebe zu, daß es hart wird. Mit gewissen Opfern muß gerechnet werden, aber –«

»Gewissen Opfern?«Trautman schrie fast. »Sie sind ja völlig wahnsinnig! Wie viele Menschen werden sterben, glauben Sie? Hunderttausende? Millionen?« »Nicht annähernd so viele wie in diesem irrsinnigen Krieg!« antwortete Winterfeld zornig. »Wachen Sie auf, Trautman! Das ist kein kleiner Krieg, wie wir ihn in der Vergangenheit erlebt haben! Die ganze Welt steht in Flammen, und es beginnt erst!« »Ja, und Sie werden diese Flammen unter einem Eispanzer ersticken, wie?« Trautman fuhr auf dem Absatz herum und wandte sich an Stanley und Brockmann. »Wissen Sie, was dieser Wahnsinnige vorhat? Er will eine neue Eiszeit auslösen. Das ist der gemeinsame Feind, den er Europa gegenüberstellen will!« »Wie bitte?« keuchte Stanley. Seine Augen quollen ihm förmlich aus den Höhlen. »Das ist doch völlig unmöglich!«

»Keineswegs«, antwortete Winterfeld. »Es ist sogar ganz einfach, Herr Kollege. Ich erkläre es Ihnen gerne. « Er legte die gespreizten Finger der Linken auf die Karte und deutete mit der anderen Hand hinter sich, wo eine zweite, normale Seekarte hing, die die gesamte nördliche Hemisphäre zeigte.

»Ich muß ein wenig ausholen, aber keine Sorge, es dauert nicht lange. Die Idee ist im Grunde ganz simpel. Ich bin nicht der erste, der darauf kommt. Aber vielleicht der erste, der die Möglichkeiten hat, sie in die Tat umzusetzen. «

Er legte eine kurze Pause ein und fuhr dann in etwas leiserem Ton fort. »Ich nehme an, jeder hier im Raum weiß, was der Golfstrom ist, nämlich eine warme Meeresströmung, die irgendwo vor der Küste Südamerikas beginnt, den Atlantik überquert und die gesamte afrikanische und nordeuropäische Küste mit warmer Luft versorgt. Niemand weiß bis heute genau, wo der Golfstrom entsteht, oder gar, warum, aber Tatsache ist, daß diese warme Luft seit Zehntausenden von Jahren für das europäische Klima verantwortlich ist. « »Wieso?« fragte Ben.

»Nun, wenn du einmal einen Blick auf den Globus wirfst, dann wirst du feststellen, daß es in Nordeuropa eigentlich wärmer ist, als es sein dürfte«, antwortete Winterfeld. »Und zwar viel wärmer. « »Also, mir kommt es die meiste Zeit ziemlich kalt vor«, antwortete Ben.

Winterfeld lächelte flüchtig. »Aber das ist es nicht«, antwortete er. »Im Gegenteil. Der Norden Deutschlands, zum Beispiel, liegt etwa auf dem gleichen Breitengrad wie Moskau, und dort ist es die meiste Zeitziemlichkalt. Im Grunde müßten Deutschland, Frankreich, Teile von Spanien – und erst recht deine Heimat England, mein lieber Junge – dasselbe Klima haben wie Sibirien, und das hieße, acht Monate Winter und vier Monate etwas, waskeinWinter ist, aber den Namen Sommer auch nicht wirklich verdient. Daß das nicht so ist, liegt einzig und allein an der warmen Luft, die der Golfstrom nach Europa trägt. Und das werde ich ändern. « »Jetzt weiß ich genau, daß Sie verrückt sind«, sagte Stanley.

»Nicht im mindesten«, antwortete Winterfeld ungerührt. »Sehen Sie, es ist im Grunde ganz simpel. Das Seegebiet, dem wir uns nähern, ist nämlich zum Großteil dafür verantwortlich, daß der Golfstrom überhaupt so weit reicht. Eigentlich müßte er irgendwo vor der afrikanischen Küste auf den Kontinentalsockel treffen und dort auseinanderbrechen. Daß er es nicht tut, liegt andieserMeeresformation. « Seine gespreizte Hand berührte die Karte.

»Wir sind hier am Polarkreis, Mister Stanley. Und das bedeutet, daß eisige Luft aus dem Norden herbeiströmt und das Wasser abkühlt. Sie wissen, was mit Wasser geschieht, das kalt wird?« »Es gefriert«, sagte Chris.

»Ja, das stimmt«, antwortete Winterfeld. »Aber zuerst einmal wird esschwerer. «

»Blödsinn«, sagte Ben. »Eis schwimmt oben, oder?« »Eis ja«, bestätigte Winterfeld. »Kaltes Wasser, nein. So wie warme Luft nach oben steigt, weil sie leichter ist als kalte, so ist kaltes Wasser schwerer als warmes. Und hier geschieht nun etwas, was in dieser Form und Größe auf der ganzen Welt einmalig sein dürfte: Die kalte Polarluft kühlt das warme Wasser, das der Golfstrom heranträgt, rasend schnell ab. Es beginnt zu sinken, und zwar durch die warmen Wasserschichten in der Tiefe hindurch und sehr schnell. Auf diese Weise entsteht ein Sog, eine Art Wasserfall im Meer, wenn du so willst. Hier, an der Meeresoberfläche, spürt man kaum etwas davon, aber schon hundert Meter tiefer toben Gewalten, die jedes Schiff zerreißen würden. « »Außer der NAUTILUS«, sagte Trautman. »Außer der NAUTILUS«, bestätigte Winterfeld. »Zumindest hoffe ich das. «

»Und Sie haben vor, diesen Sog zu unterbrechen?« Ben schüttelte zweifelnd den Kopf. »Dazu dürfte nicht einmal die NAUTILUS ausreichen. « »Sie nicht«, sagte Winterfeld, »aber etwas, was ich dort unten auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Ich habe die ganze Zeit vermutet, daß es dort ist, aber diese Karte hier gibt mir die Gewißheit, daß es existiert. « »Und was?« fragte Ben.

»Ein Vulkan«, antwortete Trautman. »Ein gewaltiger, unterseeischer Vulkan. « Ben keuchte. »Und Sie wollen ihn –« »Zum Ausbruch bringen, ja«, unterbrach ihn Winterfeld.

»Deshalb also die Überfälle«, murmelte Brockmann. »Dazu haben Sie all diesen Sprengstoff gebraucht. « »Mehr als hunderttausend Tonnen«, bestätigte Winterfeld. »Ich habe insgesamt sieben Schiffe, die bis unter das Deck mit Sprengstoff beladen sind. Wenn ich sie auf den Meeresboden versenke und exakt im selben Moment sprenge, wird der Vulkan ausbrechen. « »Das kann nie und nimmer funktionieren«, sagte Stanley überzeugt. »Der Vulkan wird ausbrechen – und? Das Wasser wird warm und dann wieder kalt. Sie haben es selbst gesagt – vom Pol strömt ununterbrochen kalte Luft herbei. Vielleicht wird es zwei Tage lang kälter in Europa, aber –«

»Er hat recht, Stanley«, unterbrach ihn Trautman leise. »Sie

verstehen immer noch nicht. « Er deutete mit einer müden Geste auf die Karte. »Es reicht vollkommen, den Sog einmal zu unterbrechen. Und selbst wenn nicht – es würde kälter.Hier. «

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