Cavin

1

Der Regen hatte endlich aufgehört. Zum ersten Mal seit Tagen schien die Sonne wieder aus einem wolkenlosen, blauen Himmel auf die Zinnen und Türme Hochwaldens herab. Aber es war noch immer kalt und in der Luft lag ein klammer, unangenehmer Hauch, als wäre der Regen nicht wirklich gewichen, sondern nur irgendwie unsichtbar geworden. Die Äste des nahen Waldrandes waren schwer von Feuchtigkeit und zwischen den Stämmen griffen dünne, graue Nebelfinger in den Morgen hinaus.

Prinz Cavin zog den pelzgefütterten Mantel fröstelnd enger um die Schultern. Er warf einen letzten, nachdenklichen Blick zum Waldrand hinüber und wandte sich dann um, um in den Turm zurückzugehen. Der Sommer kam spät in diesem Jahr und er versprach kalt zu werden. Aber vielleicht spielten ihm auch nur seine Erinnerungen einen Streich.

Es war lange her, dass er in Hochwalden gewesen war, viel zu lange, wie es ihm jetzt schien. Damals war er ein Kind gewesen und seine Erinnerungen waren die eines Kindes. In all den Jahren, in denen er draußen in der Welt gewesen war und studiert und gelernt hatte, war Hochwalden stets ein Juwel in seiner Erinnerung geblieben – die Perle des Schwarzeichenckwaldes, gewaltig und wehrhaft zwar, aber trotzdem von strahlender Pracht und in ewigen Sonnenschein gebadet.

Nun, dachte er niedergeschlagen, während er rasch die gewundene Treppe im Inneren des Turmes herabeilte, so viel zum Thema Erinnerungen und Träume. Jetzt war er – endlich – wieder zu Hause und die Wirklichkeit hatte ihn eingeholt.

Wie um dem Gedanken das nötige Gewicht zu verleihen, schoss ein scharfer Schmerz durch seine rechte Hand. Er erinnerte ihn daran, dass die Wunde, die er bei dem Kampf drauckßen im Wald erlitten hatte, noch lange nicht verheilt war.

Statt oben in Wind und Kälte auf dem Turm zu stehen und alten Erinnerungen nachzuhängen, sollte er lieber in seinem Geckmach bleiben und sich schonen, damit seine Wunden heilten. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es bald sehr wichtig für ihn sein mochte, im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein.

Auf dem Weg zu seinem Schlafgemach begegnete ihm niemand. Hochwalden kam ihm nicht nur größer, sondern auch dunkler und stiller vor, als er es in Erinnerung hatte. Auf den Zinnen der Burg hatten zwar nie sehr viele Wachen gestanden, da Hochwalden niemals über viele Krieger verfügt hatte. Denn trotz seines Achtung gebietenden Äußeren und dem Eindruck von Wehrhaftigkeit und Stärke, den seine wuchtigen Mauern und die gigantischen Ecktürme vermittelten, war es ein Ort des Friedens und der Ruhe. Aber er hatte den größten Teil der letzckten vier Wochen genutzt, um noch einmal – wie der kleine Junge, der er einmal gewesen war – durch die endlosen Gänge und Hallen der Feste zu strolchen, und er hatte viele Räume verlassen und ganze Flügel verwaist vorgefunden.

Die Burg war stiller geworden. Stiller und irgendwie … anders.

Cavin konnte das Gefühl nicht richtig in Worte kleiden, aber es war sehr deutlich. Und es war kein sehr angenehmes Gefühl.

Es begann mit den Wachen. Die wenigen Soldaten, denen er begegnet war, waren ausnahmslos schweigsam und finster gewesen – große, ausgesucht kräftige Männer, denen man auf hundert Schritte ansah, dass sie zu kämpfen verstanden. Sie hatten ihn mit dem gehörigen Respekt behandelt, ja waren fast schon unterwürfig gewesen. Aber es waren nicht die Männer, an die er sich erinnerte, die Männer, die zu Hochwalden gehörten; Männer wie Gwenderon, auf dessen Eintreffen er jetzt seit Tagen wartete, oder Norrot und Willhard, die ein so schreckliches Ende gefunden hatten. Sie hatten sich verändert und vielleicht war der Wandel, der mit Hochwalden vor sich gegangen war, an ihnen am deutlichsten zu bemerken.

Früher war jeder einzelne Mann der Wache sein Freund gewesen. Königssohn hin oder her, hatten sie ihn wie das Kind behandelt, das er war. Sie hatten ihn mit hinausgenommen, wenn sie ausritten, und es war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen gewesen, mit seinem kleinen Spielzeugschwert dramacktische Ritterkämpfe mit den Männern der Garde auszufechten (die er meist gewann) oder auf seinem kleinen Pony inmitten der schwer bewaffneten Garde gegen einen imaginären Drachen zu kämpfen (den er natürlich immer schlug).

Aber diese Zeiten waren vorbei. Er war kein Kind mehr. Jetzt war er Prinz und würde bald König sein und sie waren seine Untergebenen und ließen es ihn fühlen.

Und dann war da die Sache mit Lassar, und das war etwas, das er gar nicht mehr verstand. Mehr noch – etwas in ihm schreckte davor zurück, es überhaupt verstehen zu wollen.

Auch sein eigenes, großzügig bemessenes Gemach war vercklassen und still, als er es erreichte. Die beiden Diener, die ihm zur persönlichen Verfügung gestanden hatten, als er Hochwalden erreichte, waren ihm unheimlich gewesen. Er hatte sie weggeschickt und beanspruchte ihre Dienste nur, wenn es unckumgänglich war – was so gut wie nie vorkam. Eines der ersten Dinge, die er gelernt hatte, war, dass auch ein Prinz gut beraten war, wenn er allein für sich sorgen konnte. Und er mochte die beiden Diener nicht.

Cavin warf den Mantel achtlos über einen Stuhl. Er trat an das Bücherregal neben dem Fenster und nahm unschlüssig einen der schweren, in hartes Leder gebundenen Bände zur Hand.

Er hatte eigentlich keine Lust, sich weiter den Kopf mit irgendwelchen trockenen Schriften über vergangene Königreiche und längst vergessene Kriege voll zu stopfen. Aber seine Ausckbildung war noch lange nicht abgeschlossen. Und wenn er eines Tages König von Hochwalden geworden war, dann würde er sich auch auf diplomatischem Parkett so sicher bewegen müssen wie auf dem Rücken seines Pferdes. Außerdem war ihm langweilig.

Ohne großes Interesse blätterte er in dem Buch, sah schließcklich hoch und ging zu seinem Stuhl zurück. Sein Blick streifte die Tür.

Cavin erstarrte.

Verwirrt ließ er das Buch sinken, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der Linken über die Augen und blinzelte ein paar Mal. Aber das Bild blieb. Grauer Rauch quoll unter der Tür hindurch.

Cavins erster Gedanke war, dass irgendwo draußen auf dem Gang ein Feuer ausgebrochen sein musste. Aber im gleichen Moment wurde ihm klar, dass dem nicht so war. Was er sah, war kein Rauch, sondern es war Nebel, zu dünnen Fäden vercksponnener Nebel. Binnen Sekunden wurde es kühl, dann so kalt, dass Cavins Gesicht und Hände zu prickeln begannen. Er sah, wie sich die Steinfliesen des Bodens, wo der Nebel sie berührte, mit dünnen, gesprungenen Eisplättchen überzogen. Und plötzlich konnte er seinen eigenen Atem als Folge kleiner grauer Dampfwölkchen vor dem Gesicht sehen.

Der Nebel quoll immer rascher und rascher durch die Türritzen, bis die Tür hinter einer dichten, wogenden Wand grauer Schwaden verschwunden war. Seltsamerweise spürte Cavin gar keine Furcht. Die Erscheinung war unheimlich und hätte ihn beängstigen können. Aber es war, als flüsterte in ihm eine lautlose Stimme und sagte ihm, dass er nichts zu befürchten hatte.

Die grauen Schwaden ballten sich weiter zusammen. Ein unsichtbarer Sturmwind schien plötzlich durch das Zimmer zu fahren. Vorhänge und Kleider und Papier wirbelten durcheinckander. Der Nebel begann zu brodeln. Ein dunkler, nur vage erkennbarer Umriss formte sich in den grauen Schwaden, dann …

»Faroan!«, murmelte Cavin.

Die Gestalt war nur unscharf zu sehen, blass und farblos und wie ein Spiegelbild in bewegtem Wasser, das immer wieder auseinander treiben wollte. Aber er erkannte das Gesicht trotzckdem: die Augen, die ihm früher immer so freundlich zugelächelt hatten, den schmalen, von einem messerscharf ausrasierten Bart eingefassten Mund, aus dem er so vielen Geschichten und Mären gelauscht, und die Hände, die ihm so oft freundlich über das Haar gestrichen hatten –

Es war Faroan, der Hofzauberer von Hochwalden! Aber hatte sein Vater ihm denn nicht erzählt, er wäre tot?

»Faroan«, murmelte Cavin. »Was … wo kommst du …«

Die Schattengestalt hob die Hand.

»Hör mir zu, Cavin«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang unheimlich, wie ein Hauch aus einer anderen, düsteren Welt. Cavin schauderte. Und plötzlich fiel ihm auch auf, wie sehr sich der greise Magier verändert hatte. In seinen Augen stand ein Ausdruck unendlich tiefen, qualvollen Schmerzes geschrieben und seine Lippen waren zusammengepresst wie zu einer dünnen, blutleeren Narbe.

»Hör mir zu, Cavin«, wiederholte die Geistergestalt. »Du bist in Gefahr. Ganz Hochwalden ist in großer Gefahr. Oro ist nicht …«

Die Gestalt begann zu zerfließen. Etwas im Inneren des Neckbels änderte sich, ohne dass Cavin sagen konnte was. Das Grau schien plötzlich eine Spur tiefer, die Umrisse des alten Magiers wirkten unschärfer. Er konnte das Gesicht nicht mehr erkennen und die Stimme wurde leiser.

Erschrocken trat er auf Faroan zu und hob die Hand, blieb aber dann mitten in der Bewegung stehen, als sich die Gestalt wieder zu festigen begann.

»…ne Zeit zu verlieren!«, verstand er. »… ist verraten worden. Lassar hat … Hinterhalt …«

Die Nebel zuckten wie ein großes, lebendes Wesen. Plötzlich hatte Cavin das heftige Empfinden eines Schmerzes, der nicht sein eigener war. Faroans Gestalt begann immer rascher und rascher zu verblassen, bis sie kaum mehr von den treibenden Nebelschwaden zu unterscheiden war. Seine Stimme wurde zu einem Flüstern und erstarb.

Dann, so schnell wie die Erscheinung gekommen war, war sie wieder verschwunden. Aber Cavin blieb weiter reglos steckhen und starrte auf die Stelle, an der sie gewesen war. Der Neckbel löste sich auf und verblasste wie ein Trugbild. Mit ihm wichen auch die Kälte und der Atem des Unheimlichen, die das Zimmer für einen Moment erfüllt hatten.

»Faroan …«, flüsterte Cavin. »Wo bist du? Was wolltest du mir sagen? So antworte doch!«

Aber die Stille blieb. Nur die Schatten rechts und links der Tür schienen ein ganz kleines bisschen tiefer geworden zu sein, und als Cavin erneut fröstelte, war es keine äußere Kälte, die ihn frieren ließ.

Plötzlich fühlte sich Cavin allein. So allein und verloren wie niemals zuvor in seinem Leben …

2

Der Griff der beiden Raetts war hart; sehr viel härter, als nötig gewesen wäre, um Resnec zu halten. Aber selbst wenn es ihm gelungen wäre, sich loszureißen – was unmöglich war –, und selbst wenn es ihm außerdem gelungen wäre, schneller und ausdauernder zu laufen als die beiden schwarzfelligen RaettKreaturen – was noch unmöglicher war –, und selbst wenn er den Weg aus diesem schwarzen Labyrinth des Wahnsinns hicknausgefunden hätte – was nun völlig unmöglich war –, es hätte ohnehin keinen Ort gegeben, wohin er hätte fliehen können.

Resnec erinnerte sich nicht, wie er hierher gekommen war. Er wusste nicht mehr, ob sie eine Stunde durch den Wald gezogen waren oder eine Woche oder vielleicht nur einen Augenblick, der ihm zwar endlos erschienen war, in Wahrheit aber keine Zeit beansprucht hatte. Manchmal, in den Nächten, in denen er wach lag und die Dunkelheit über sich anstarrte, die sich in nichts von der der Tage unterschied, glaubte er sich an einen Weg zu erinnern, einen Wald – nicht den Schwarzeichenwald, ganz und gar nicht! –, der Stunden mit monotoner Gleichförmigkeit beiderseits des Weges vorbeigezogen war wie eine Mauer, jenseits derer die Welt einfach aufhörte.

Im Laufe der Tage hatte Resnec die Überzeugung gewonnen, dass es wirklich so war: Hinter der lichtschluckenden Mauer seines Gefängnisses erhob sich eine Barriere aus ineinander gekrallten Dornen und verfilztem Gestrüpp und dahinter war nichts mehr. Er war in einem Teil der Welt gefangen, der nicht zum Schwarzeichenwald, nicht zu diesem Kontinent, vielleicht nicht einmal mehr zu diesem Universum gehörte. Er wünschte sich, endlich sterben zu können. Aber vielleicht war er ja schon tot.

Manchmal drohten Resnecs Sinne zu schwinden, nicht kurz, nicht für Augenblicke oder Stunden, sondern gänzlich; er hatte das Gefühl, in einer gewaltigen Wolke aus Finsternis und Kälte zu schweben, die seinen Körper und viel mehr noch seinen Geist durchdrang und beides aufzulösen drohte, als wäre er nur ein Stück der Ewigkeit, das sich durch einen puren Zufall zu einem Körper (und einer Seele?) zusammengeballt hatte und nun wieder in den Urzustand zurückfloss. Es war keine Angst in dieser Vorstellung, allerhöchstens ein Gefühl großen, sehr wohltuenden Friedens. Er hätte es begrüßt, in diese Leere eingehen zu können. Aber irgendetwas war da, das ihn stets zurückhielt.

Resnec fühlte sich schwach. Er wusste nicht, wie lange er hier war, aber es mussten viele Tage sein, vielleicht Wochen. Mehrere Dutzend Male waren die Raetts gekommen und hatten ihm zu essen und Wasser gebracht; Nahrung, die aufzunehmen er sich zu Anfang geweigert hatte, bis ihn sein Körper zwang das zu tun, was sein Stolz ihm verbot. Trotzdem schien die Zeit spurlos an seinem Körper vorübergegangen zu sein. Seine Wunden heilten nicht. Seine Schulter war zu einem unförmigen Klumpen aus Schmerz geworden, der dünne, feurige Fäden in jeden Teil seines Körpers spann, und auf seiner Zunge war der Geschmack von Blut. Wenn er die Augen schloss, um der entsetzlichen Dunkelheit seines Kerkers zu entgehen, dann sah er Faroans Gesicht. Manchmal wurde es zu dem Lassars, und nur zu oft überzogen sich die schmalen Züge des Schattenkönigs jäh mit schwarzbraunem Fell und die grundlosen Schattenaugen wurden zu den matt blinkenden Knopfaugen seiner halb tierischen Kerkermeister. Vielleicht wurde er auch verrückt. Vielleicht war das die Strafe, die Faroan ihm zugedacht hatte – nicht der Tod, keine endlosen Folterqualen, sondern die immer währende Verdammnis des Wahnsinns.

»Gehen«, krächzte der Raett. Resnec schrak jäh hoch, verzog das Gesicht vor Schmerz und stolperte ein wenig schneller zwischen den beiden schwarz bepelzten Riesen einher. Für einen Moment fand er in die Wirklichkeit zurück, begriff, dass sie ihn – wieder einmal – aus seinem Kerker geholt hatten, um ihn zu jenem schrecklichen Ort im Zentrum dieses steingewordenen Alptraumes zu bringen, seinem schwarzen, schlagenden Herzen, das unter einem Himmel aus geronnener Finsternis lag, für immer verborgen vor den Augen der Menschen. Aber seine Sinne verwirrten sich rasch wieder. Beinahe willenlos stolperte er zwischen den beiden Raetts einher. Ein paar Mal hatte er vor lauter Schwäche das Bewusstsein verloren, als sie ihn aus seickner Zelle geholt hatten, und sie hatten ihn getragen, und einmal hatte er auch versucht, sich schlafend oder bewusstlos zu stellen, aber die beiden Raetts waren nicht darauf hereingefallen und hatten ihn geschlagen; nicht sehr fest, aber doch heftig genug, dass er es kein zweites Mal versuchte.

Sie gingen eine Treppe hinauf, durch einen finsteren, halbrunden Gang, der so niedrig war, dass die spitzen Ohren der Raetts mit raschelndem Geräusch an der Decke entlangstrichen, dann schwang ein Tor vor ihnen auf und helles Sonnencklicht stach schmerzhaft in Resnecs an Dunkelheit gewohnte Augen. Im ersten Moment sah er nichts außer einem Muster aus viel zu grellem Blau und viel zu tiefem Schwarz, Stücke flimmernden Himmels und lichtschluckender Wände. Doch ehe seine Augen aufgehört hatten zu tränen oder sich gar an die veränderten Lichtverhältnisse anpassen konnten, wurde er durch eine weitere Tür gestoßen, wieder hinab über Treppen und spiegelglatte Rampen, die so steil in die Tiefe führten, dass selbst die Raetts mit ihren scharfen Krallen kaum Halt darauf fanden.

Dann erreichten sie eine letzte Tür und wie die Male zuvor blieben die Raetts zurück und bedeuteten ihm nur mit Gesten und schrillen Pfiffen, weiterzugehen.

Etwas war anders.

Die Kammer war wie immer – ein schwarzes Loch, das jeckmand in die Wirklichkeit gestanzt hatte und in dem nur hier und da winzige rote Lichter wie böse Augen glommen, scharf abgegrenzte Flecken, von Dunkelheit wie mit erstickendem, schwarzem Schlamm umlagert. Und doch war etwas da, was bisher nicht hier gewesen war. Die Male zuvor, als die Raetts ihn hergebracht hatten, war er allein gewesen, allein mit seinen Gedanken, seiner Angst und den Schmerzen, die zu einem Teil seines Lebens geworden waren. Jetzt … es war, dachte Resnec schaudernd, als berühre er die Unendlichkeit, als streife er mit einem Teil seiner Seele die große Kälte zwischen den Zeiten. Ganz plötzlich spürte er das Alter der ihn umgebenden Mauern, die Millennien, die auf ihnen lasteten. Die Dunkelheit schien zu weichen – nein, sie wich nicht, aber etwas begann in ihr Form anzunehmen, sich zu ballen wie treibender Rauch und wieder auseinander zu wehen, sich neu zu formen. Resnec sah Licht. Er sah Farben. Er sah Formen. Dann hörte er die Stimme. Eine Stimme, die sehr leise war, nicht mehr als ein Flückstern, und in der doch das Gewicht der Ewigkeit lag.

Was sie sagte, erfüllte ihn mit Staunen. Zuerst. Dann mit Schrecken, schließlich mit schierem Entsetzen. Er begann zu schreien, fiel auf die Knie herab und schlug mit verzweifelter Kraft die Hände vor die Ohren, barg schließlich den Kopf zwickschen den Knien, nur um diese entsetzliche Stimme nicht mehr zu hören und die tausendmal schrecklicheren Worte, die sie sprach.

Es nutzte nichts. Die Stimme, die seine eigene war, ohne dass er es auch nur gemerkt hätte, fuhr fort. Leise, beinahe sanft, aber unnachgiebig.

Nach einer Weile hörte Resnec auf zu schreien. Und irgendckwann, sehr viel später, kamen die beiden Raetts, hoben ihn hoch und trugen ihn zurück in die Zelle, in der er die letzten Wochen verbracht hatte.

3

Das Lager befand sich in jenem Teil des Waldes, in dem die Schatten tiefer und das Grün der Bäume lebendiger waren als anderswo, in dem Gebiet jenseits des Flusses, von dem sich die Menschen düstere und unheimliche Dinge erzählten. Kaum einer, der es zu betreten gewagt hatte, war je wieder zurückgekehrt.

Die Bäume, die die winzige runde Lichtung wie stumme Wächter umstanden, schienen ihre Äste wie beschützende Hände über die Laubdächer der sechs Hütten auszustrecken. Und selbst das Licht wirkte hier irgendwie weicher, die Schatten sanfter und der Wind weniger beißend als anderswo.

Die Lichtung lag nicht nur im übertragenen Sinne im Herzen des Waldes, dachte Gwenderon. Es war sonderbar; er war niemals zuvor hier gewesen, kannte diesen Teil des Schwarzeichenwaldes nur aus Erzählungen und Legenden, und trotzdem schien ihm alles auf seltsame Weise vertraut. Seit sie das Lager vor einigen Wochen erreicht hatten, hatte er stets das Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn er von einem seiner Patrouillenritte zurückkam, die er ebenso wie der Geringste seiner Krieger regelmäßig ausführte, wenn die Reihe an ihn kam. Und jedes Mal, wenn er das Lager vor sich sah, erschien es ihm aufs Neue unglaublich, dass sie all dieses in weniger als hundert Tagen geschaffen hatten – aus der Hand voll lieblos zusammengeschusterter Laubhütten, nicht viel mehr als die Nester von Tieren, zu denen Guarr und seine Sippe sie geführt hatten, war eine Siedlung geworden, klein zwar, und noch im Aufbau, aber doch eine Siedlung, der man ansah, dass sie von Menschen bewohnt wurde und dass sie ihnen zur Heimat geworden war. Zwei Drittel der Lichtung waren von einem Palisadenzaun eingefasst, der Rest des noch nicht geschlossenen Kreises ein mannstiefer Graben, der darauf wartete, mit angespitzten Pfählen gefüllt zu werden, und in der Mitte des Lagers, von einer zweiten, sehr viel höheren Palisade umgeben, begann das Skecklett eines hölzernen Turmes emporzuwachsen, so schnell, dass man dabei zusehen konnte. Drei, vielleicht vier weitere Wochen, dachte Gwenderon, und aus dem Nomadenlager der Raetts würde schließlich eine Burg geworden sein, vielleicht nicht ganz so stolz und ansehnlich wie Hochwalden, aber fast ebenso wehrhaft.

Manchmal überkam ihn auch Bitterkeit bei ihrem Anblick, Trotz aller Mühe, die sie sich gaben, trotz aller Anstrengung und Kunstfertigkeit war es doch nur Flickwerk, und wenn er es ganz objektiv betrachtet hätte – was zu tun er sich hütete –, hätte er zugegeben, dass es wohl nur ein eher rührender Vercksuch war, ihrem Anspruch wenigstens äußerlich Gewicht zu verleihen. Sie waren Rebellen und fühlten sich auch so – wecknigstens viele von ihnen –, aber was sie in Wahrheit taten, war Steine gegen einen Drachen zu schleudern. Wenn Lassars Späckher diesen Ort entdeckten, würde er einen Tag später nicht mehr existieren. Fünfzig Schwerter und eine Burg aus Holz gegen die Macht eines Mannes, der eine halbe Welt unterjocht hatte.

Gwenderon verscheuchte den Gedanken. Er war müde. Er hatte zwei Tagesritte in nur wenig mehr als einer Nacht zurückgelegt und nicht nur sein Pferd zitterte vor Erschöpfung.

Die Späher, die hoch oben und selbst für seine scharfen Augen unsichtbar in den Baumkronen saßen und über die Sicherckheit des Lagers wachten, hatten seine Ankunft längst bekannt gegeben. Als er auf die Lichtung hinausritt, wurde er von einem Dutzend Männer erwartet. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen, halfen ihm aus dem Sattel und griffen nach dem Zaumzeug seines Pferdes. Neugierige Fragen und Scherzworte klangen auf.

Aber Gwenderon hielt sich diesmal – ganz gegen seine gewohnte Art – nicht lange mit der Begrüßung auf, sondern ging rasch über die Lichtung und betrat die größte der runden Laubhütten.

Im ersten Moment konnte er kaum sehen. Trotz des dichten Blätterdaches war es draußen merklich heller gewesen und seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Schatten erfüllte Dämmerung im Inneren der Hütte zu gewöhnen.

Dann erkannte er Mannon, den Zwerg, und Quarr, den Führer des Raett-Clans, der sich ihnen angeschlossen hatte. Zwischen ihnen hockte mit untergeschlagenen Beinen und müden, rot geränderten Augen ein vielleicht fünfzigjähriger, grauhaariger Mann, den er nicht kannte. Auch das war nichts Besonderes. So jung ihre Rebellion – wenn dies überhaupt das richtige Wort war – sein mochte, so viel Zulauf hatten sie. Karelian hatte Boten ausgeschickt, Zwerge und Raetts und einige von den wenigen, die das Gemetzel vor den Toren Hochwaldens überstanden hatten, um alle seine Freunde und Vertrauten herbeizurufen, und sie kamen. In Scharen. Manchmal fragte sich Gwenderon, ob er froh darüber war. Sicher – sie konnten jede Hand und jedes Schwert bitter nötig gebrauchen, aber es gab Augenblicke, da sah er sich nur von fremden Gesichtern umgeben, von Männern, deren Namen er nicht einmal wusste, und manchmal hatte er das Gefühl, dass ihm alles zu entgleiten begann. Dies war lange nicht mehr sein Kampf. Er befand sich im Herzen einer zwar noch kleinen, aber sehr rasch anwachsenden Armee. Was er nicht wusste, war, ob es noch seine Armee war. In Momenten wie jetzt – er war eine Woche weg gewesen – war es besonders schlimm. Dann fühlte er sich als Fremder unter Fremden. Wie sollte er einen Krieg gewinnen, wenn er nicht einmal den Namen des Mannes wusste, der neckben ihm ritt?

»Gwenderon! Du kommst früh.«

Guarrs Stimme klang fremdartig und schrill wie immer. Obwohl der Raett in den wenigen Wochen, die sie nun beieinander waren, die Sprache der Menschen erstaunlich besser sprechen gelernt hatte, kostete es Gwenderon noch immer Mühe, nicht beim Klang dieser hohen, quietschenden Stimme zusammenzufahren. Auf absurde Weise war es nicht das Äußere der Raetts, das Gwenderon ihre Fremdartigkeit immer wieder vor Augen führte. Einem Menschen, der nie zuvor einen Raett gesehen hatte, wären sie wie Ungeheuer vorgekommen – zwei Meter große, aufrecht gehende Ratten, die in ihrer dunklen Leckderkleidung und den mannslangen, nackten Schwänzen wie eine böse Vorahnung des Menschen aussahen. An ihren Anckblick hatte sich nicht nur Gwenderon überraschend schnell gewöhnt; manchmal kamen sie ihm jetzt sogar beinahe ästhetisch vor, denn trotz ihres abstoßenden Äußeren waren sie von einer natürlichen Kraft und Eleganz, die ein Mensch niemals erreichen würde. Aber an ihre Stimme würde er sich nie gewöhnen.

Er verbarg sein Erschrecken und nickte nur kurz, grüßte auch Mannon und den Fremden auf die gleiche Weise und ließ sich mit einem hörbaren Seufzer auf eine der Strohmatten sinken, die den Boden bedeckten. Einen Luxus wie Stühle gab es im ganzen Lager nicht.

»Gwenderon?« Der Fremde runzelte die Stirn, und obwohl Gwenderon sein Gesicht noch immer nicht deutlich erkennen konnte, glaubte er doch einen raschen Ausdruck von Erschrecken über seine Züge huschen zu sehen. »Ihr seid Gwenderon?«

Der alte Waffenmeister nickte. »Das bin ich. Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf?«

»Mein Name ist Corben«, antwortete der Fremde und wirkte plötzlich verlegen. »Verzeiht meine Frage, Gwenderon. Ich habe von Euch gehört, aber ich hatte mir Euch … anders vorgestellt.«

Gwenderon nickte und zog eine Grimasse. »Das tun die meicksten«, knurrte er. »Jünger und größer und mit mindestens zwei Schwertern und einem drei Meter langen Morgenstern im Gürtel.«

Corben wirkte betroffen und zog es vor, nicht zu antworten. Gwenderon sah, wie es in Mannons Augen aufblitzte, als der Zwerg mit Mühe ein Grinsen unterdrückte.

Corben war nicht der Erste, der über Gwenderons graues Haar und sein faltiges Gesicht staunte. In den langen Jahren seines Lebens hatte sich der ehemalige Waffenmeister von Hochwalden nicht nur im Schwarzeichenwald einen gewissen Ruf erworben. Und wer nur diesen Ruf kannte und dem Mann, der dazugehörte, zum ersten Mal begegnete, stellte meist mit Erstaunen fest, wie alt und gebrechlich Gwenderon aussah.

Und mehr als einer, der diesem Irrtum erlegen war, hatte ihn mit dem Leben bezahlt.

»Verzeiht, Corben«, murmelte Gwenderon. »Ich war unhöfcklich zu Euch. Aber ich bin zum Umfallen müde.« Er wandte sich an Mannon. »Ist Karelian im Lager?«

Der Zwerg verneinte. »Seit fünf Tagen nicht mehr. Er ist gleich nach Euch weggegangen. Er wollte nach Süden, um bei den Bergvölkern um Waffen und Nahrungsmittel zu bitten.« Sein Gesicht verfinsterte sich. Der Schwarzeichenwald war arm an Wild und essbaren Früchten. »Unsere Lage wird immer ernster, Gwenderon. Ich weiß nicht, wie lange wir die Männer noch ausreichend verpflegen und bewaffnen können.«

Er ballte zornig die Faust und deutete auf Corben. »Vor drei Tagen erst hat Karelian eine ganze Maultierkarawane mit Waffen und Kleidern auf den Weg geschickt, aber Lassars Männer haben sie überfallen. Corben hier ist der einzige Überlebende.«

»Dann kennen sie also auch den Pfad durch die Berge?«

»Nein«, antwortete Corben. »Wir haben den Wald unbehelligt erreicht. So mächtig Lassar auch ist, scheint er eine offene Konfrontation mit den freien Steppenvölkern noch zu scheuen. Und er achtet auch den Waffenstillstand mit den Zwergen. Seickne Häscher lauerten uns im Wald auf. Drei Tagesritte von hier.«

»Sie werden immer dreister«, fügte Mannon hinzu. »Noch ein halbes Jahr, und wir werden das Lager aufgeben müssen.«

»Warum bauen wir es dann überhaupt auf?«, fragte Gwenderon gereizt. Seine Worte taten ihm augenblicklich wieder Leid. Er schüttelte den Kopf, lächelte entschuldigend und fuhr sich müde mit dem Handrücken über die Augen. »Verzeih, Mannon. Ich bin müde. Wir sollten ein andermal weiterreden.« Er warf einen fragenden Blick in Corbens Richtung, aber der Fremde wich seinem Blick aus. Irgendwie, fand Gwenderon, wirkte er enttäuscht. Was hatte er erwartet?, dachte er zornig. Eine Burg aus Stahl, in der hunderttausend goldgepanzerte Reiter darauf warteten, zu den Waffen zu greifen und den Tyrannen vom Angesicht der Erde zu fegen?

Gwenderon seufzte. »Ich fürchte, so viel Zeit bleibt uns nicht einmal«, sagte er, an Mannons Worte anknüpfend. »Ich bin ebenfalls angegriffen worden, weniger als einen Tagesritt westlich von hier. Das ist der Grund, aus dem ich vor der Zeit zurückgekommen bin.«

»Angegriffen?« Guarr richtete sich erschrocken auf. Sein braunes Rattengesicht blieb ausdruckslos wie immer, aber seickne Barthaare zitterten; ein deutliches Zeichen seiner Erregung.

»Wo? Wann? Wie viele?«

Gwenderon hob besänftigend die Hand. »Nur einer, Guarr«, sagte er. »Er ist tot. Aber das hier habe ich bei ihm gefunden.«

Er griff unter seinen Gürtel, förderte eine kleine, runde Mecktallscheibe zutage und warf sie Guarr hinüber, der sie geschickt auffing. Der Raett begutachtete sie einen Moment schweigend, biss hinein – Gwenderon lächelte flüchtig –, dann reichte er sie an Mannon weiter.

»Das ist ein kilianischer Goldheller«, murmelte der Zwerg. Er starrte die Münze mit wachsender Verwirrung an und gab sie schließlich an Gwenderon zurück. »Aber das allein muss nichts bedeuten.«

»Das allein nicht«, bestätigte Gwenderon. »Aber du hast ihn nicht gesehen, Mannon. Der Mann war kein gewöhnlicher Strauchdieb, der geglaubt hat, sich mit Lassars Kopfprämie ein leichtes Stück Geld verdienen zu können. Der Kerl hat ein wahres Waffenlager mit sich herumgeschleppt – und er machte mir ganz den Eindruck, dass er damit auch umgehen konnte.«

»Aber Ihr habt ihn getötet«, wandte Corben stirnrunzelnd ein. »Worüber macht Ihr Euch Sorgen?«

»Wo einer ist, sind bestimmt noch mehr«, antwortete Gwenderon unwillig. »Ihr gehört noch nicht lange zu uns, und desckhalb –«

»Ich kämpfe seit fünfzehn Jahren gegen Lassar!«, unterbrach ihn Corben beleidigt.

»Wo?«

»Wo?« Corben schien verwirrt. »Nun, in meiner Heimat, aber auch in diesen …«

»Aber nicht bei uns«, unterbrach ihn Gwenderon. »Nicht wahr?«

»Macht das einen Unterschied?«

Gwenderon seufzte. »Es macht einen, Corben. Sogar einen gewaltigen. Es ist erst vier Wochen her, dass Lassar Hochwalden überfallen und seinen rechtmäßigen König ermordet hat, und schon in dieser kurzen Zeit ist es ihm gelungen, uns bis hierher zurückzutreiben.« Er machte eine Handbewegung, die die Hütte und das ganze Lager einschloss. »Draußen, unter den Augen der Welt, wagt er es nicht, seine ganze Macht einzusetzen, denn er weiß sehr wohl, dass er nicht der einzige Magier ist und andere eifersüchtig darüber wachen, dass er nicht zu stark wird.« Er seufzte. »Hier gibt es niemanden, der ihn beockbachtet, Corben. Niemand, auf den er Rücksicht nehmen müsste. Wir haben uns tief in die Wälder zurückgezogen, um vor seinen Schergen sicher zu sein. Bislang hat es Lassar nicht gewagt, uns bis hierher zu folgen. Wahrscheinlich könnte er es und wahrscheinlich könnte er uns sogar hier aufspüren und vernichten. Genug Männer und Macht dazu hat er. Aber er hat es bisher nicht gewagt, weil er weiß, dass der Preis für einen solchen Sieg zu hoch wäre. Und weil wir auf der anderen Seite nicht so gefährlich für ihn sind, dass unsere Vernichtung das Risiko lohnte, ein paar hundert oder auch tausend Krieger zu verlieren.«

»Das verstehe ich nicht«, gestand Corben. »Ihr bekämpft ihn, oder nicht?«

»Würdet Ihr Euch die rechte Hand abhacken, weil Euch dort ein Floh beißt?«, fragte Gwenderon. »Sicher – wir bekämpfen ihn, wenn Ihr es so nennen wollt. Ab und zu überfallen wir seine Patrouillen, und dafür hetzt er uns Strauchdiebe und Wegelagerer auf den Hals, die das Gold lockt, das er auf unsere Köpfe ausgesetzt hat. Aber wirklich wehgetan haben wir ihm bisher nicht – so wenig wie er uns.« Er brach ab, drehte die kleine Münze in der Hand und starrte sekundenlang nachdenkcklich zu Boden. »Der Mann, dem dieser Heller gehörte, kam von den kilianischen Inseln«, fuhr er fort. »Ihr kennt den Ruf dieser Männer?«

Corben nickte. »Sie sind Söldner.«

»Mörder«, verbesserte ihn Gwenderon. »Die gefährlichsten und hinterhältigsten Mörder, die Ihr im Umkreis von zehntaucksend Meilen findet.«

»Und die teuersten«, fügte Mannon hinzu. »Lassar muss den Herrschern der Insel gewaltige Zugeständnisse gemacht haben, um sich ihre Hilfe zu erkaufen.« Der Blick seiner dunklen Zwergenaugen blieb einen Moment auf Corbens Gesicht haften und suchte dann den Gwenderons.

»Du weißt, was es bedeuten würde, wenn dieser Mann nicht durch Zufall hier war?«

»Zufall?« Gwenderon gab einen Laut von sich, der sowohl ein Lachen als auch etwas ganz anderes sein konnte. »Wo Lassar die Hände im Spiel hat, gibt es so etwas wie Zufall nicht. Und ob ich es weiß, was es bedeutet – nämlich das, was ich schon seit langem befürchtet habe. Lassar ist den Floh leid und beginnt sich zu kratzen.«

»Aber warum?«, fragte Corben. »Ihr selbst habt gesagt …«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, fiel ihm Gwenderon ungeduldig ins Wort. »Und Lassars plötzlicher Sinneswandel ist mir ebenso unerklärlich wie Euch. Es sei denn …«

»… dass etwas geschehen ist, was Lassar zwingt so zu handeln«, führte Mannon den Satz zu Ende, als Gwenderon nicht weitersprach. »Und das würde auch zu dem Überfall auf Corckbens Karawane passen. Und der Truppenkonzentration im Norden, von der die Späher berichtet haben. Aber was nur?«

Gwenderon starrte sekundenlang an dem Zwerg vorbei ins Leere. Mit einem Male war die Müdigkeit wieder da; er spürte, wie sein Körper jetzt mit Macht den Preis für die durchrittene Nacht verlangte und dass er die Augen nicht mehr lange würde offen halten können.

Aber da war noch etwas. Vielleicht lag es schlichtweg an seiner Erschöpfung, aber vielleicht war es auch mehr. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht nur die kleine Goldmünze in seiner Hand mit zurück ins Lager gebracht zu haben, sondern auch den Keim des Unheils. Vielleicht war es ihm gefolgt wie ein unsichtbarer Schatten, und vielleicht war das, was er für Anzeichen seiner Erschöpfung hielt, nichts als die dumpfe Vorahnung kommenden Unglücks.

Und mit einem Male war er sicher, dass sie die Antwort auf Mannons Frage schneller bekommen würden, als ihnen allen lieb war.

4

»Und bist du sicher, dich nicht getäuscht zu haben?« König Oros Stimme war leise und sie klang auf die gleiche, erschreckende Weise leblos und erschöpft wie am ersten Tag, als Cavin nach Hochwalden zurückgekehrt war. Sein Gesicht war eine Maske der Müdigkeit. Es war eine Müdigkeit, die nichts mit normaler Erschöpfung zu tun hatte, sondern eher die Last der Jahre ausdrückte, die auf den gebeugten Schultern des Königs von Hochwalden lag. Das Einzige, was in seinem Gesicht noch zu leben schien, waren die Augen. Sie funkelten schwarz und wachsam. Der Anblick erschreckte Cavin so sehr wie am ersten Tage.

»Ich bin sicher«, antwortete Cavin. »Es war Faroan, Vater, daran besteht gar kein Zweifel. Aber es war …«

Er brach ab, suchte einen Moment nach den richtigen Worten und rettete sich schließlich in ein eher verlegenes Lächeln.

»Ich habe nie an Geister geglaubt«, fuhr er fort – und diesmal wich er Oros Blick aus, als er sprach. »Aber mir fällt kein besseres Wort dafür ein. Es war unheimlich.«

»Wiederhole, was er gesagt hat«, verlangte Lassar. »Wort für Wort.«

Cavin starrte den hoch gewachsenen Magier mit einer Mickschung aus Widerwillen und eisigem Respekt an, schwieg aber.

Lassar war ihm unheimlich; mehr noch – er flößte ihm Angst ein, einfach dadurch, dass er existierte. Dabei war er im Grunde nicht einmal hier. Lassars Körper, so hatte ihm sein Vater gesagt, hielt sich in Wirklichkeit tausende von Meilen entfernt in seinem Palast auf, und was er sah, war nur sein Schatten. Er verstand das nicht. Aber vielleicht war es gerade das, was Cavin solche Angst einflößte.

In den ganzen vier Wochen, seit er nach Hochwalden zurückgekehrt war, spürte er Furcht, wenn er die Schattengestalt Lassars erblickte. Und daran hatte sich nichts geändert. Sosehr er sich dagegen sträubte, den Gedanken auch nur zu denken – er wusste, was er als Erstes tun würde, wenn er nicht mehr Prinz, sondern König von Hochwalden war.

»Tu es, mein Sohn«, bat Oro, als Cavin auch nach endlosen Sekunden keine Anstalten machte, Lassars Aufforderung nachzukommen. »Es ist wichtig.«

Cavin gehorchte. Auf den greisen Zügen seines Vaters war keine Reaktion zu erkennen, während er die wenigen Wortfetzen wiederholte, die er verstanden hatte. Aber Lassars Schattengesicht verdüsterte sich mit jedem Wort, das er hörte. Als Cavin zu Ende gekommen war, wandte er sich mit einem Ruck an Oro und hob herrisch die Hand. »Sagt es ihm, König!«

Der befehlende Ton in Lassars Stimme versetzte Cavin in Rage. Seine Hände spannten sich um die Sessellehnen, als wolle er sie zerbrechen, und für einen Moment war er dicht davor, Lassar in scharfem Ton daran zu erinnern, dass er trotz allem nichts als ein Gast auf Hochwalden war, ein geduldeter Gast noch dazu, kein gern gesehener.

Aber dann begegnete er dem Blick seines Vaters, und es war etwas darin, was ihn frösteln ließ. »Was sollst du mir sagen?«, fragte er leise.

Oro atmete schwer. Seine Lippen zuckten, und Cavin hatte das Gefühl, als bereite es ihm große Mühe, überhaupt zu reden. Ein schwer zu deutender Ausdruck, wie von Trauer, machte sich in seinem Blick breit, und als er lächelte, wirkte es wie eine Grimasse.

»Lasst uns allein, Lassar«, bat er. »Ich … werde ihm alles erklären, aber ich möchte … mit meinem Sohn allein sein.«

»Selbstverständlich«, sagte Lassar. »Aber ich bitte Euch, sagt ihm die Wahrheit, König Oro. So schwer es Euch auch fallen mag.«

Cavin war der kurzen Unterhaltung mit immer größerer Verckwirrung gefolgt. Jetzt stand er auf und machte einen Schritt auf Lassar zu, blieb aber dann mitten in der Bewegung stehen, als sich die Schattengestalt aufzulösen begann und die Umrisse des Fensters verschwommen durch sie hindurch sichtbar wurden.

Wie Faroan vorhin verblasste Lassar, wurde in Bruchteilen eines Atemzuges zu einem Schemen, dann zu einem kaum noch wahrnehmbaren Hauch und war schließlich vollends verckschwunden.

Cavin schauderte.

Für einen Magier wie Lassar mochte diese Art, von einem Ort zum anderen zu reisen, normal sein. Aber er würde sich niemals daran gewöhnen, einen Mann buchstäblich aus dem Nichts auftauchen und auch wieder dorthin verschwinden zu sehen. Auch das war etwas, was Lassar von Faroan unterschied – ihre Macht mochte gleich gewesen sein, aber Faroan hatte niemals damit geprotzt. Er hatte gewusst, wie unheimlich sie selbst auf die wirkte, denen sie zu Diensten stand. Möglicherckweise war Lassar der mächtigere Zauberer, aber mit Sicherheit war Faroan klüger gewesen.

»Was bedeutet das alles, Vater?«, fragte er.

Oro antwortete auch diesmal nicht sofort, sondern erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl. Cavin sprang rasch hinzu und streckte die Hände aus, um ihn zu stützen, aber Oro schüttelte den Kopf. »Lass nur, Cavin«, sagte er. »Noch bin ich nicht so gebrechlich, dass ich nicht allein gehen kann. Komm mit.«

Er wandte sich um, schlurfte mit kleinen, mühsamen Schritten durch den Thronsaal und trat auf den halbmondförmigen Balkon an der Südseite des Turmes hinaus. Cavin folgte ihm und fasste sich weiter in Geduld, bis sich Oro schwer auf das steinerne Geländer gestützt hatte.

Der Wind war noch immer kalt und der Prinz sah, wie die Böen seinem Vater ins Gesicht schlugen und ihn blinzeln lieckßen. Trotzdem schien er das Gefühl sichtlich zu genießen.

Nach einer Weile hob Oro die Hand und deutete über die Mauer auf das grüne Meer des Waldes. Weit im Süden hingen graue Regenschleier wie Spinnweben über dem Wald. Cavin konnte die Feuchtigkeit riechen, die mit dem Wind herankam.

»Sieh dort hinunter, mein Sohn«, verlangte Oro.

Cavin gehorchte. Der Balkon lag dicht unter der Spitze des Turmes, fast hundert Manneslängen über dem Boden, sodass der Blick ungehindert über Meilen und Meilen ging, aber nirgends war ein Ende oder auch nur eine Unterbrechung des grücknen Ozeans zu erkennen.

Der Gedanke, dass er selbst erst vor wenigen Tagen durch diesen so undurchdringlich erscheinenden Dschungel geritten war, kam Cavin mit einem Male absurd vor. Er fühlte sich klein und verwundbar.

War es wirklich erst vier Wochen her, dass er neben Gwenderon durch den Wald geritten war, dass er auf die Raetts und den grimmigen kleinen Zwerg gestoßen war und sein Leben gegen eine Armee hirnloser, kleiner Ungeheuer verteidigt hatte? Die Erinnerungen schienen so weit entfernt, als sei alles schon lange her. Jahrelang.

»Das alles wird bald dir gehören, Cavin«, sagte Oro leise. »In wenigen Tagen schon.«

Es dauerte einen Moment, bis Cavin begriff, was sein Vater gesagt hatte. Er erschrak.

»Unsinn«, sagte er hastig. »Irgendwann einmal sicher, aber so alt bist du nun auch noch nicht.« Er versuchte vergeblich seiner Stimme einen scherzhaften Ton zu verleihen, und als sich Oro herumdrehte und ihm in die Augen sah, hatte er das Gefühl, einen glühenden Dolch ins Herz gestoßen zu bekommen.

»Nein, Cavin«, antwortete der König. »Lassar hatte Recht – du bist alt genug die Wahrheit zu erfahren. Du warst ein Kind, als du fortgegangen bist, aber jetzt bist du ein Mann. Manchmal … muss ich mir diese Tatsache wieder ins Gedächtnis zurückrufen.« Er lächelte, wieder auf diese sonderbare Art, hob seine Hand und berührte Cavin flüchtig im Gesicht. Seine Haut fühlte sich eiskalt an.

»Ich habe dich zurückgerufen, weil ich meine Zeit kommen spürte, mein Sohn«, sagte er ernst. »Und nun ist es so weit. In wenigen Tagen werden der Schwarzeichenwald und Hochwalden dir gehören. Dann wirst du der Waldkönig sein und auf deinen Schultern wird die Verantwortung für dieses Land liegen.« Er stockte, ließ die Hand fallen und blickte wieder auf den Wald hinab. »Glaube nicht, dass es eine geringe Last sein wird«, fuhr er nach einer Weile fort. »Glaube nicht, dass du herrschen wirst, Cavin. Hochwalden ist nicht wie die anderen Burgen, die du gesehen hast. Dieser Wald hier ist nicht dein Eigentum. Du bist nicht sein Herrscher, sondern sein Beschützer. Und oft wirst du dich fragen, ob du nicht in Wahrheit sein Sklave bist.« Cavin starrte ihn aus tränenerfüllten Augen an. Er wollte antworten, irgendetwas sagen, aber er konnte es nicht. Die Stimme seines Vaters klang fast teilnahmslos, aber voller Ernst, und Cavin spürte, dass er Recht hatte, mit jedem Wort. Er würde sterben. Sehr bald.

Cavin hatte es gewusst, als er ihn das erste Mal gesehen hatte, nach dem Kampf im Wald vor vier Wochen. Der Tod hatte diesen alten, gütigen Mann bereits gezeichnet. Cavin hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

»Ich habe dich beobachtet, Cavin«, fuhr Oro fort. »Seit du zurückgekehrt bist, stehst du fast ununterbrochen oben auf dem Turm oder den Mauern und blickst in den Wald hinab, als würdest du etwas suchen. Du wartest, nicht wahr?«

Cavin nickte. Seine Kehle fühlte sich abgeschnürt und hart an und seine Augen brannten immer stärker. Nur mit letzter Kraft hielt er noch die Tränen zurück.

»Du wartest auf Gwenderon«, fuhr Oro fort. »Aber er wird nicht kommen. Er wird nicht kommen, weil er weiß, dass ihn der sichere Tod erwartet, würde er auch nur einen Fuß in diese Burg setzen.«

»Was meinst du damit?«, entfuhr es Cavin.

Oros Blick wurde noch unergründlicher. »Es tut mir Leid, mein Sohn«, murmelte er. »Ich … ich hatte gehofft, dir diese Enttäuschung ersparen zu können. Aber meine Zeit läuft ab und bald werde ich nicht mehr da sein, um dich beschützen zu können. Gwenderon ist unser Feind.«

»Das ist nicht wahr!«, keuchte Cavin. »Das ist unmöglich, Vater. Du musst dich täuschen. Du …«

Oro unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln. »Ich wollte, es wäre so«, sagte er. »Aber ich täusche mich nicht. Ich weiß, dass Gwenderon einst dein Freund war. Aber der Mann, der dich auf den Knien geschaukelt hat und der dich Reiten und Fechten und Ringen lehrte, existiert längst nicht mehr.

Der Gwenderon, den du gekannt hast, ist tot. Ich weiß, was du jetzt denkst und fühlst, und glaube mir, mein Sohn, ich fühle mit dir. Auch ich habe mich einst geweigert die Wahrheit zu sehen, wie so vieles. Selbst Faroan. Aber Faroan hat diesen Irrtum mit dem Leben bezahlt und mich hätte er um ein Haar Hochwalden gekostet.«

Cavin rang verwirrt die Hände. »Ich … ich glaube es einfach nicht«, stammelte er. »Gwenderon ist …«

»Ein Verräter«, unterbrach ihn Oro. Plötzlich klang seine Stimme hart und Cavin glaubte fast so etwas wie Hass in seicknen Worten zu hören. Aber nur für einen Moment. »Der Überfall auf euch war sein Werk, Cavin, ebenso wie der Angriff auf Hochwalden und der Mord an Faroan. Es ist schwer zu glauben und doch ist es so.«

Lange, endlos lange starrte Cavin seinen Vater an, während die Gedanken in seinem Kopf wie in einem irren Veitstanz tobten, und es fiel ihm schwer, nicht einfach loszureden und sinnlose Worte zu stammeln.

Gwenderon ein Verräter?

Sicher, sie hatten Meinungsverschiedenheiten gehabt, sich gestritten, aber Gwenderon, der Waffenmeister Hochwaldens, der Mann, der sein Leben gegeben hätte, ehe er auch einen einzigen Baum des Schwarzeichenwaldes opfern würde, ein Verräter? Lächerlich!

Und doch musste es so sein, denn es war sein eigener Vater, mit dem er sprach.

»Was … was ist geschehen?«, fragte er mühsam.

»Das ist eine lange Geschichte«, begann Oro. »Und doch ist sie schnell erzählt. Es begann vor einem Jahr, als Lassars Bote zum ersten Mal hierher nach Hochwalden kam.«

»Resnec?«

Oro nickte. »Du hast ihn kennen gelernt, aber ich fürchte, dass auch er nicht mehr am Leben ist. Gwenderon hätte ihn schon damals getötet, hätte ich es nicht verhindert. Er war … wie von Sinnen. Verrannt in seinem Hass auf Lassar. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er Lassar Resnecs Kopf als Antwort zurückgeschickt.«

»Antwort?«, fragte Cavin. »Antwort worauf?«

Oro zögerte einen Moment. »Als eine Antwort auf sein Angebot«, sagte er schließlich. »Du weißt, warum er hier war. Gwenderon hat es dir erzählt.«

»Er hat mir erzählt, dass er die Bäume des Schwarzeichenckwaldes schlagen will, um Kriegsschiffe daraus zu bauen«, beckstätigte Cavin. Ein Gefühl dumpfen Entsetzens machte sich in ihm breit.

»Aber du hast es doch nicht angenommen, Vater?«, keuchte er. »Du lässt doch nicht zu, dass der Wald gefällt wird? Diese Bäume sind heilig!«

Seltsamerweise lächelte Oro. »Heilig«, wiederholte er. »Ja, das sind sie wohl. Aber Lassar ist nicht der Einzige, der seine Macht gerne auch bis in diesen Teil der Welt ausdehnen möchte. Jahrhundertelang hat es niemand gewagt, auch nur einen Baum des Schwarzeichenwaldes zu fällen, und jahrhundertecklang war Hochwalden der Garant für seine Sicherheit. Aber die Zeiten ändern sich, mein Sohn.«

»Was heißt das?«, fragte Cavin, als Oro nicht weitersprach.

Oro seufzte. »Hast du die Antwort darauf nicht gelernt, auf deinen Schulen?«, fragte er. »Hast du nicht Jahre deines Leckbens damit verbracht, die Welt zu studieren, die ich nie geseckhen habe?« Er machte eine vage Geste über die Wipfel des Waldes hinaus. »Sag mir, wie es draußen in der Welt aussieht, Cavin. Wie viele Königreiche gibt es und was tun sie?«

Cavin verstand den Sinn dieser Frage nicht, aber er antworteckte ganz automatisch: »Neun große Königreiche und zahllose kleinere. Und den Teil der Welt, den Lassar erobert hat«, fügte er hinzu. »Und er wird größer.«

Oro ignorierte seinen letzten Satz. »Neun große Reiche«, wiederholte er. »Und was tun sie?«

»Was sie tun?«, wiederholte Cavin verständnislos. »Ich verckstehe deine Frage nicht.«

Oro drehte sich nun doch zu ihm um. »Dann will ich sie dir selbst beantworten«, sagte er. »Sie führen Krieg, Cavin. Gegen Lassar oder untereinander, welchen Unterschied macht es?«

»Einen großen«, sagte Cavin heftig. »Außerdem –«

»Nenne mir ein Land, in dem Frieden herrscht«, unterbrach ihn Oro. »Ich meine wirklichen Frieden, nicht bloß eine Pause zwischen zwei Feldzügen, oder den Frieden der Tyrannen, der auf Angst gegründet ist.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und stützte sich schwer auf die steinerne Brüstung. »Die Welt ist alt, Cavin, sehr alt. Ihre Geschichte ist lang und du hast sie zehnmal besser studiert, als ich es je gekonnt hätte. Sie ist mit Blut geschrieben und du weißt es. Es ist eine Geschichte der Kriege. Kein Land, das länger als ein Jahrzehnt in Frieden gelebt hätte, ohne von seinen Nachbarn überfallen zu werden oder sie seinerseits auszuplündern, keine Generation, die nicht das Klirren von Waffen und den Gestank der Schlacht kennen gelernt hätte. Und es wird schlimmer. Die Welt brennt und der Rauch ist so dicht, dass wir nicht einmal mehr die Flammen sehen.« Er schwieg einen Moment, als müsse er sich erst auf die richtigen Worte besinnen, und fuhr dann leiser fort: »Du verachtest Lassar und du fürchtest ihn. Auch mir geht es nicht anders. Und doch habe ich ihn kommen lassen und ich habe mir angehört, was er zu sagen hat.«

»Seine Lügen«, behauptete Cavin.

Oro lächelte verzeihend. »Seine Wahrheit«, sagte er. »Aber es ist eine Wahrheit, die so schrecklich ist, dass wir sie nur zu gerne als Lüge abtun. Ich will nicht behaupten, dass Lassar in Wirklichkeit ein verkannter Heiliger ist, mein Sohn. Er ist, wofür du ihn hältst – ein machtgieriges Ungeheuer, dem ein Menschenleben nichts gilt und das sich mit Mächten der Finsternis eingelassen hat. Und doch gehört ihm die Zukunft.«

»Das ist nicht dein Ernst!«, widersprach Cavin. »Das kannst du nicht wirklich meinen, Vater!«

»Doch«, antwortete Oro müde. »Schau dich doch um! Ich habe dich in die Welt hinausgeschickt, damit du sie studierst, und jetzt sage mir, was du gelernt hast! Die Welt ist voller Lassars. Ein jeder deiner neun großen und hundert kleinen Könige tut, was Lassar tut; nichts anderes. Nur nicht so perfekt. Sie bekämpfen und bestehlen und plündern und betrügen einander, wo immer sie die Möglichkeit dazu finden.« Er spie aus, als erfülle ihn allein die Vorstellung mit Ekel. »Sie sind alle gleich. Lassar ist nicht schlechter als irgendeiner – er ist nur konsequenter. Und wenn wir vor ihm erschrecken, dann nur, weil er uns zeigt, wie wir selbst sind. Die Welt stirbt, Cavin. Vielleicht dauert dieser Tod noch ein Jahrtausend, vielleicht nur noch wenige Jahre, aber sie stirbt. Die Zeit der Menschen ist abgelaufen und sie haben es nur noch nicht bemerkt. Möglicherweise wird Lassar geschlagen. Er ist stark, aber nicht stark genug, siegen zu können, wenn sich alle anderen gegen ihn verbünden. Aber dann wird ein neuer Lassar kommen und nach ihm wieder einer und wieder einer. So oder so – die Zukunft wird Männern wie Lassar gehören, glaube mir.«

Oro brach ab, offensichtlich erschöpft von der langen Rede, und Cavin spürte ein Gefühl eisigen Entsetzens in seiner Seele emporkriechen. Das war nicht sein Vater, dem er zuhörte! Das war ein verbitterter alter Mann, dem das Leben mehr genommen als gegeben hatte und der irgendwann, vermutlich schon vor Jahrzehnten, angefangen hatte, die Menschen und sich selbst zu verachten. Aber was Cavin am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass er Recht hatte – von seinem Standpunkt aus. Man konnte die Welt so sehen, und es war sogar leicht, es zu tun. Aber es stimmte nicht. Sie war nicht so. Trotzdem wickdersprach er nicht, als Oro nach einer Weile fortfuhr.

»Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie die, in der dieser Wald entstand«, sagte er noch einmal. »Du hast gesagt, dieser Wald ist heilig, und du hast Recht damit. Aber selbst das Heilige muss manchmal dem Ansturm des Neuen weichen.«

»Heißt das, du … du gibst Lassars Forderung nach?«, fragte Cavin ungläubig. Das Gefühl des Entsetzens in seinem Inneren wandelte sich in Unglauben, Zorn – und ein plötzliches, heißes Aufwallen von Hass, als er an den Herrn der Schatten dachte.

»Nicht so, wie es dir Gwenderon vielleicht erzählt hat«, antckwortete König Oro. »Ich habe ein Bündnis mit Lassar geschlossen, das ist richtig. Ich gebe ihm einen von hundert Bäumen und er garantiert dafür für die Sicherheit Hochwaldens und des Schwarzeichenwaldes.«

»Weil er sich die anderen neunundneunzig auch noch holen will, ja!«, fuhr Cavin auf. Er musste sich mit aller Kraft beherrckschen, nicht zu schreien. »Vater, das ist nicht dein Ernst. Du …«

»Doch, Cavin«, unterbrach ihn der König. »Es ist mein Ernst. Die Verträge sind besiegelt und es ist mein fester Wille, dass sie gehalten werden, auch nach meinem Tode. Ich verlange nicht, dass du gutheißt, was ich getan habe. Aber du wirst meicknen Willen respektieren. Und irgendwann einmal wirst du erkennen, dass ich richtig gehandelt habe. Manchmal muss man einen kleinen Teil opfern, um das Ganze zu retten.«

»Er hat dir gedroht«, vermutete Cavin.

Oro lächelte. »Nein. Das musste er nicht. Hätte ich ihn fortgeschickt, wären andere gekommen. Es ist das Beste so, glaube mir. Lassar hat mir versprochen, dem Wald nicht mehr zu nehmen, als er verkraften kann. Ein anderer wäre vielleicht weniger rücksichtsvoll gewesen.«

»Und … Gwenderon?«, murmelte Cavin.

Oros Blick verdüsterte sich. »Reagierte so wie du, Cavin«, sagte er. »Nur heftiger. Zorniger. Er wandte sich von mir ab und schließlich drohte er mir sogar. Aber ich nahm es nicht ernst. Ich glaubte, er würde sich schon wieder beruhigen. Aber es kam anders. Er war es, der das Söldnerheer aufstellte, das Hochwalden berannte, Cavin.«

»Das … das kann ich nicht glauben«, murmelte Cavin. »Nicht Gwenderon! Er würde dir niemals Hochwalden wegcknehmen wollen. Er hätte sein Leben gegeben für dich!«

»Für den Wald«, verbesserte ihn Oro sanft. »Du verstehst noch immer nicht. Gwenderon ist besessen. Er glaubt, ich hätte den Wald verraten, und er glaubt, er wäre dazu verpflichtet, ihn zu retten, und zwar mit allen Mitteln. Glaube nicht, dass ich ihn deshalb hasse. Er ist nicht böse, sondern nur blind und verrannt. Es war sein Plan, Hochwalden zu stürmen und mich gefangen zu setzen. Dich hatte er ja schon in seiner Gewalt.«

»Aber warum dann der Überfall?«

»Gwenderon ist kein Narr«, sagte Oro. »Als er erfuhr, dass der Angriff fehlgeschlagen war, ließ er den Überfall inszenieren, um Lassar die Schuld daran zu geben. Er wusste, dass ich bald sterbe. Wahrscheinlich wären er und du mit knapper Not entronnen. Ihr hättet euch in den Wäldern versteckt, bis er Nachricht von meinem Tod erhalten hätte, und du hättest nichts auf der Welt so gehasst wie Lassar.« Er lächelte flüchtig. »Du weißt, dass Gwenderon ein kluger Mann ist.«

»Aber das ist … das …« Cavin begann zu stammeln und ballte in einer plötzlichen Aufwallung sinnlosen Zornes die Fäuste. Er wusste, dass sein Vater ihn nicht belog; er hatte ihn nie belogen, trotzdem konnte Cavin einfach nicht glauben, was er gehört hatte. Vor wenigen Tagen noch war Gwenderon sein Freund und Lassar sein Feind gewesen und plötzlich sollte alles gerade andersherum sein?

»Ich weiß, was du jetzt fühlst, mein Sohn«, sagte Oro sanft. »Aber begehe jetzt nicht den Fehler, Lassar für das verantwortlich zu machen, was geschehen ist. Es ist leicht, einen anderen zu hassen, wenn man mit einem Schmerz fertig werden muss, und es tut weh, einen Freund zu verlieren.«

Cavin antwortete nicht und nach einer Weile trat er schweigend an seinem Vater vorbei und starrte auf die erstarrten grücknen Wogen des Waldes hinab.

Aber er sah sie kaum, denn seine Augen hatten sich mit Träcknen gefüllt und in seinem Herzen saß nichts als Verzweiflung.

5

Unruhe, die am jenseitigen Ende des Lagers entstand, weckte ihn. Gwenderon blinzelte, sah das milde Licht des späten Nachmittags durch das Blätterdach seiner Hütte schimmern und dachte im ersten Moment daran, dass die Hütten ihnen keinen Schutz vor der Kälte und dem Schnee bieten würden, wenn der Winter erst einmal kam. Dann drangen die Geräusche abermals und heftiger in sein Bewusstsein und er vertrieb überflüssige Gedanken an Schnee und Eisregen und stand auf.

Er hatte lange geschlafen; fast den ganzen Tag. Die Sonne neigte sich bereits und stand nur noch als zerfranster Halbkreis über den südlichen Wipfeln des Waldes und die Schatten wurden bereits lang; dunkle Finger, die sich über den Platz erstreckten und absurd geknickt an der Palisade des Fluchtturmes emporkrochen. Dort, wo die Schatten herkamen, war Aufregung entstanden; ein gutes Dutzend Männer hatte sich am westlichen Ende des Lagers zusammengefunden, vielleicht noch einmal die gleiche Anzahl Raetts, und zwischen ihnen stand eine gewaltige zweischneidige Axt, die ein lächerlich gebauter Knirps hielt. Über den Köpfen der so zusammengekommenen Menge ragten die Oberkörper zweier berittener Raetts auf, neben denen die schwarzhaarige Animah ritt, und neben ihr wiederum …

Der Anblick fegte auch den letzten Rest von Müdigkeit aus Gwenderons Geist. Für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen blieb Gwenderon noch wie versteinert stehen, dann lief er los, wurde schneller und legte das letzte Drittel des Weges schließcklich im Laufschritt zurück. Die Männer, die sein Näherkommen bemerkten, wichen respektvoll vor ihm zur Seite, bis er die vier Pferde und ihre ungleichen Reiter erreichte. Er blieb stehen, starrte erst die beiden Raetts, dann ganz kurz Animah und schließlich den Mann in ihrer Begleitung an.

»Resnec!«

Gwenderon erschrak beinahe selbst über den kaum mehr unterdrückten Hass in seiner Stimme. Auch Resnec fuhr zusammen und sah ihn mit neu erwachendem Misstrauen an. Aber er sagte kein Wort, sondern wandte sich mit einem fast Hilfe suchenden Blick an Animah.

»Ihr seht recht, Gwenderon«, sagte Animah nach einer Weickle. »Es ist Resnec. Aber urteilt nicht vorschnell.«

Gwenderon hörte gar nicht hin. Mit einer rüden Bewegung stieß er einen Raett beiseite, der ihm im Wege stand, trat an Resnecs Pferd heran und ergriff es grob an den Zügeln. Das Tier scheute, als es seine Aggressivität spürte; Gwenderon brachte es mit einem zweiten, noch härteren Ruck zur Räson.

»Was wollt Ihr hier?«, fauchte er. »Wer hat Euch gesagt, wo unser Lager ist, und was –« Er brach ab, fuhr mit einem Ruck herum und starrte Animah an. »Bringst du ihn als Gefangenen?«

»Wenn es dein Wunsch ist, ja«, antwortete Resnec an Animahs Stelle. Es waren die ersten Worte, die er sagte, und Gwenderon erschrak, als er seine Stimme hörte. Sie klang … alt. Die Stimme eines gebrochenen Mannes. Aber seine Wut fegte auch diesen Gedanken beiseite. Ohne ein weiteres Wort griff er zu Resnec hinauf, packte ihn grob am Arm und zerrte ihn aus dem Sattel. Resnec keuchte vor Schmerz und fiel beicknahe und Gwenderon sah erst jetzt, dass seine Schulter dick bandagiert war und sein Arm in einer Schlinge hing. Trotzdem lockerte er seinen Griff nicht.

»Was sucht Ihr hier?«, schrie er. »Wer hat Euch erlaubt in diesen Teil des Waldes zu kommen?«

»Wir erlauben«, mischte sich eine pfeifende Stimme ein. Gwenderon fuhr zornig herum und starrte in Guarrs ausdrucksckloses Mäusegesicht. Die Knopfaugen des Raett funkelten, aber Gwenderon war nicht sicher, ob es Spott oder Zorn war, den er darin las.

»Resnec unser Gefangener«, radebrechte Guarr weiter. »Wir entscheiden. Wir nehmen. Wir bringen.« So einfach die Wahl dieser Worte war, so eindeutig waren sie. In die umständlichere Sprache der Menschen übertragen bedeuteten sie nicht weniger, als dass sich Gwenderon gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern sollte. Er verstand Guarrs Worte sehr wohl – aber sie fachten seinen Zorn nur noch mehr an.

»Dieser Hund wird nicht hier im Lager bleiben!«, sagte er erregt. »Er wird nicht einmal –«

»Urteile nicht vorschnell, Gwenderon«, sagte Animah ruhig.

Gwenderon fuhr abermals herum, funkelte sie wütend an und versetzte Resnec aus purer Bosheit einen Stoß, der ihn gegen die Flanke seines Pferdes taumeln und um ein Haar stürzen ließ. Einer der beiden Raetts, die ihn begleitet hatten, stieß einen schrillen Pfiff aus, den Guarr – eine Spur höher und befehlender, – wie Gwenderon spürte – erwiderte. Die Barthaare des Riesennagers sträubten sich erregt. Animah seufzte und schüttelte den Kopf.

Plötzlich fühlte er sich unendlich allein. Er spürte, dass er einen Fehler begangen hatte, einen, der ihn nahe an die Grenze der Lächerlichkeit gebracht hatte, und sein Zorn stieg abermals und erreichte nun fast die Grenzen eines körperlichen Schmerckzes. Hilflos ballte er die Fäuste, starrte der Reihe nach Resnec, Animah, Guarr und schließlich Mannon an und dann wieder Resnec.

»Also gut«, sagte er, mühsam beherrscht und noch immer mit schriller, schwankender Stimme. »Anscheinend bin ich der einzige Idiot, der nicht weiß, was hier vorgeht. Was bedeutet dein Kommen, Resnec? Antworte – und ich rate dir, antworte gut oder ich schneide dir eigenhändig die Kehle durch.« Seine Hand klatschte gegen das Hosenbein; dorthin, wo er normalerckweise sein Schwert trug. Jetzt lag die Waffe zusammen mit seinen übrigen Sachen in seiner Hütte. Aber die Geste verlor dadurch nichts von ihrer Drohung.

»Resnec ist hier, um sich uns anzuschließen«, sagte Animah.

»Wenn Ihr es erlaubt«, fügte Resnec hinzu. Abermals fiel Gwenderon auf, wie alt und kraftlos seine Stimme klang. Und mit einem Male sah er auch noch mehr, Dinge, die ihm bisher entgangen waren, weil es nur winzige Kleinigkeiten waren und er viel zu erregt gewesen war darauf zu achten. Jetzt, als Rescknec ganz nahe vor ihm stand, konnte er sie nicht mehr verleugcknen: Resnec schien um zehn Jahre gealtert, obgleich seine Züge so hart und straff waren wie immer. Aber etwas war daraus gewichen, eine Verschlossenheit, die erst durch ihr plötzliches Fehlen überhaupt sichtbar geworden war. Resnec wirkte verckbraucht; ein Mann, der eine Schlacht zu viel geschlagen und einmal zu viel Blut und Tod gesehen hatte. In seinen Augen war etwas, was Gwenderon schaudern machte. Es waren Augen, dachte er, die … ja – es waren die Augen eines Mannes, der Gott gesehen hatte.

»Du willst dich uns anschließen?«, fragte er, als das Schweigen zwischen ihnen peinlich zu werden begann. »Aus freien Stücken, einfach so?« Er versuchte zu lachen, aber es blieb bei einem Versuch. Die Herablassung in seiner Stimme geriet zur Hilflosigkeit.

»Wer schickt dich?«, fauchte er. »Lassar? Oder ist es deine eigene Idee, dich bei uns einzuschleichen, um deinem Herrn Informationen über unser Lager und unsere Stärke zu bringen? Vielleicht lässt er dich ja dann wieder seine Stiefel lecken.«

Resnec lächelte traurig. »Ich hatte befürchtet, dass Ihr so reagieren würdet, Gwenderon«, sagte er. »Ich kann Euch versteckhen. Ich würde nicht anders denken, wäre ich an Eurer Stelle. Aber glaubt mir – ich bin nicht mehr euer Feind.«

Gwenderon lachte. »Oh, dann bist du geläutert, wie?« Wücktend deutete er auf die beiden Raetts, die noch immer nicht von ihren Pferden gestiegen waren. »Was haben sie getan? Sich vier Wochen mit dir unterhalten und dir die Schönheit des Waldes gezeigt? Oder dich einfach davon überzeugt, dass wir gewinnen werden und du besser daran tätest, dich auf die Seite der Sieger zu schlagen, solange du es noch kannst?«

»Du tust ihm unrecht, Gwenderon«, sagte Animah. Sie saß ab, kam auf Gwenderon zu und stellte sich wie durch Zufall so zwischen ihn und Resnec, dass sie den Blickkontakt zwischen ihnen unterbrach. Gwenderon starrte sie trotzig an.

»Ich hätte ein anderes Wort gewählt, aber du hast Recht«, sagte Animah. »Resnec ist geläutert. Er hat die Wahrheit erkannt, das ist alles.«

»Welche Wahrheit?«, fauchte Gwenderon, der sich mehr und mehr in die Defensive gedrängt fühlte. »Was soll das alles beckdeuten? Er stellt uns eine Falle, tötet die meisten meiner Freunde, hilft Cavin zu entführen, und dann taucht er vier Wochen später wieder auf und –«

»Bitte, Gwenderon«, unterbrach ihn Animah. Sie lächelte nicht mehr, sondern wirkte jetzt gleichzeitig ungeduldig und verärgert. Gwenderon kam – wieder einmal – zu Bewusstsein, dass sie ihn fast um Haupteslänge überragte. »Ich kann dich verstehen und auch Resnec und Guarr begreifen deinen Zorn. Aber gib ihm wenigstens eine Chance.«

»Wozu?«, fauchte Gwenderon. »Uns zu verraten?«

»Ich bin nicht mehr euer Feind«, sagte Resnec. Etwas von seiner alten Überheblichkeit blitzte durch seine erschöpften Züge, als er hinzufügte: »Glaubt es oder lasst es bleiben. Ich kann meiner Wege ziehen, wenn Ihr es wünscht. Aber ich bin euch nützlicher, wenn ich bei euch bin.«

»Das richtig«, pfiff Guarr. »Resnec kennen Lassar gut. Wertckvoller Verbündeter.«

»Es fragt sich nur, für wen«, murmelte Gwenderon. Aber jetzt war es wirklich nur noch ein reiner Reflex. Wie ein geprügelter Hund biss er noch einmal um sich, aber er wusste, dass er niemandem mehr damit wehtun konnte. Voller stummem Zorn starrte er Resnec an.

»Gib ihm eine Chance«, sagte Animah in einem Ton, der die Wahl ihrer Worte Lügen strafte. »Ich kann dir nicht sagen, was mit ihm geschehen ist, aber Guarr weiß es und ich vertraue ihm. Tue es auch – wenigstens für einen Tag oder zwei. Er wird seine Loyalität beweisen oder sterben.«

Gwenderon sagte nichts mehr. Wütend drehte er sich herum und stapfte zu seiner Hütte zurück. Was er in diesem Moment am meisten bedauerte, war die Tatsache, dass keine Tür da war, die er hinter sich zuschlagen konnte.

6

Der Hügel lag eine Stunde nördlich des Lagers. Er erhob sich auf einer Lichtung ähnlich der, auf der die Laubhütten des Reckbellenlagers standen. Nur war diese Lichtung kleiner und weckniger auffällig; ihre Ränder wurden von wild wucherndem Unterholz beherrscht und selbst der knapp mannshohe Hügel war überwuchert mit Buschwerk und dornigen Sträuchern.

Gwenderon selbst hatte mitgeholfen, sie aus dem Wald zu schlagen. Aber obwohl seither kaum vier Wochen vergangen waren, hatte die stumme Front der Bäume das verlorene Gebiet schon fast zur Gänze zurückerobert. Wo noch keine Schösslinge wuchsen, war der Boden unter dem dichten Teppich aus Moos und Grüngewächsen aufgewölbt. Pilze begannen den Boden mit ihren blassweißen Hüten zu tupfen. Gestrüpp und grüne, wie Schlangen ineinander gewundene Wurzeln gruben sich ihren Weg ans Licht und hier und da wuchsen sogar blasse Waldblumen.

In einem Jahr, dachte Gwenderon, würde der Wald den kleicknen Flecken wieder zurückerobert haben, den sie ihm so mühsam abgerungen hatten. Und weitere zehn Jahre später würde selbst der Grabhügel von den gigantischen Pfeilern des Schwarzeichenwaldes überwuchert sein: ein würdiges Grab für den Mann, den sie darunter zur Ruhe gebettet hatten.

Ein bitterer Geschmack machte sich auf seiner Zunge breit. Vier Wochen waren nicht genug, den Tod eines Mannes zu verwinden, mit dem ihn eine so tiefe Freundschaft verbunden hatte wie mit Faroan. Vielleicht hätten auch vier Jahre nicht gereicht. Es gab Wunden, die selbst die Zeit nicht heilen konnte.

Er vertrieb den Gedanken, stieg aus dem Sattel und reichte Guarr den Zügel seines Pferdes. Das Tier scheute; es war neu und hatte sich noch nicht vollends an die Gegenwart des Raett gewöhnt. Gwenderon beruhigte es mit ein paar raschen, geflücksterten Worten. Dann wandte er sich abermals um, schob mit der behandschuhten Rechten einen dornigen Zweig aus dem Weg und trat auf die Lichtung hinaus.

»Du wirklich gehen?«, fragte Guarr leise.

Gwenderon nickte ohne sich zu dem Raett umzudrehen. Sein Herz schlug schnell und beinahe schmerzhaft und er spürte, wie seine Hände in den Handschuhen feucht vor Schweiß wurden.

Der Gedanke, das Grab zu öffnen und den Toten darin in seickner ewigen Ruhe zu stören, erfüllte ihn mit einer tiefen, bohrenden Angst. Aber es musste sein.

Faroan hatte ihnen schon einmal aus dem Drüben – wo immer dieses Drüben sein mochte – herausgeholfen und Gwenderon hatte das sichere Gefühl, dass er es wieder tun würde. Es war mehr als eine Ahnung. Ohne dass er einen konkreten Grund dafür angeben konnte, wusste er, dass er mehr finden würde als ein Grab und einen verfallenen Leichnam. Er wusste es mit unerschütterlicher Sicherheit.

Zögernd umrundete er den Hügel und sah noch einmal zu Guarr zurück. Der Raett war ebenfalls aus dem Sattel gestiegen, machte aber keine Anstalten, ihm zu folgen. Er hätte es wohl auch unter Androhung des Todes nicht getan. Trotz ihres wilden Äußeren und ihrer Kraft, die selbst Gwenderon immer wieder überraschte, waren die Rattenwesen so abergläubisch wie kein zweites Volk. Schon allein die Nähe des Grabhügels musste den Raett an den Rand seiner Selbstbeherrschung treickben. Sie waren ein junges Volk. Noch vor einer Generation waren sie Tiere gewesen. Sie hatten das Recht, abergläubisch zu sein.

Gwenderon verscheuchte auch diesen Gedanken mit einem ärgerlichen Kopfschütteln, ging weiter und stand schließlich vor der wuchtigen Metallplatte, die in die Rückseite des Hügels eingelassen war.

Die Scharniere bewegten sich beinahe lautlos, als er die schwere Platte anhob. Dahinter kamen die Stufen einer steilen, aus dem Erdboden herausgearbeiteten Treppe zum Vorschein.

Ein Schwall feuchtkalter Luft schlug Gwenderon entgegen, als er die Treppe hinabzusteigen begann. Die Stufen führten fünf, sechs Meter weit nahezu senkrecht in die Erde und mündeten in einem kleinen, halbrunden Raum voller Kälte und dem Geruch modernder Erde.

Obwohl das Tageslicht über ihm zurückgeblieben war, war es nicht vollkommen dunkel. Ein seltsamer, grünlicher Schein, der aus keiner bestimmten Quelle kam, lag in der Luft, und rings um den offenen Steinsarg des Magiers schien sich die Helligkeit zu sammeln wie Wasser in einer Bodensenke. Gwenderon wusste, dass an diesem Licht nichts Magisches war – es waren leuchtende Organismen, winzig kleine Pilze und Flechten, die dieses Licht ausstrahlten wie andere Pflanzen Sauerstoff. Trotzdem nahm dieses Wissen dem Bild nichts von seiner Unheimlichkeit.

Gwenderons Herz begann schneller zu schlagen. Trotz der klammen Kälte brach ihm plötzlich der Schweiß aus und auf seiner Zunge war mit einem Male ein pelziger, widerwärtiger Geschmack.

Er hatte Angst.

Zögernd näherte er sich dem steinernen Sarg, und obwohl er geahnt hatte, was er sehen würde, erschrak er zutiefst, als sein Blick auf die Gestalt fiel, die darin aufgebahrt war.

Faroan war seit mehr als einem Monat tot – und trotzdem schien er nur zu schlafen. Sein Gewand war so makellos weiß wie an dem Tag, an dem sie seinen Leichnam hierher gebracht hatten, und auf seinen Zügen lag noch immer der gleiche sonderbar friedliche Ausdruck, mit dem sie ihn beigesetzt hatten. Seine Hände waren über der Brust gefaltet, um den hässlichen Blutfleck zu überdecken, wo ihn die Pfeile seiner Mörder getroffen hatten. Der Magier sah überhaupt nicht aus wie ein Tockter.

Gwenderon trat vollends an den Sarg heran, legte die Hände auf den harten, kalten Stein und blickte aus brennenden Augen auf die erstarrten Züge des Magiers herab.

Mit einem Male fühlte der alte Kämpe sich hilflos. Er war hierher gekommen, weil er der festen Überzeugung gewesen war, hier die Antwort auf all die Fragen zu bekommen, die ihn quälten. Und jetzt, als er sich endlich überwunden hatte und vor Faroans Sarg stand, jetzt wusste er nicht einmal zu sagen, was er eigentlich hier wollte.

Vielleicht war es nur eine sentimentale Anwandlung gewecksen, mehr nicht, dachte er. Vielleicht war er einfach geflohen, durch Resnecs Auftauchen und seinen so plötzlichen Sinnesckwandel bis ins Innerste erschreckt.

Vielleicht wurde er auch einfach nur alt.

Irgendwo hinter ihm raschelte etwas. Staub rieselte in feinen Bahnen von der Decke und etwas geschah mit dem Licht: Es wirkte plötzlich anders, ohne dass er den Unterschied in Worte fassen konnte. Das raschelnde Geräusch wiederholte sich und Gwenderon widerstand nur mit aller Kraft der Versuchung, herumzufahren und die Hand auf das Schwert zu legen.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Faroan war schon einmal von den Toten auferstanden und hatte ihnen geholfen, im Augenblick der höchsten Not. Aber er wusste auch, dass die Umstände damals anders gewesen waren. Damals waren erst wenige Stunden seit seinem Tod vergangen und ein Magier mochte Mittel und Wege kennen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und ihm noch ein wenig Zeit abzutrotzen.

Nein – diesmal erhob sich Faroan nicht mehr von den Toten. Seine Augen blieben geschlossen und die Atemzüge, auf die Gwenderon ebenso sehr wartete, wie er sie fürchtete, kamen nicht.

Dafür hörte er seine Stimme – ein lautloses, dunkles Flüstern, das irgendwo tief unter seinen Gedanken erklang.

Du bist also gekommen, mein Freund.

Trotz allem erschrak Gwenderon bis ins Mark. Seine Hände begannen zu zittern und alles in ihm schrie danach, herumzufahren und wegzulaufen, so schnell und so weit wie möglich. Er stand in einem Grab und er hörte die Stimme eines Toten!

Für einen Moment drohte die Angst übermächtig zu werden. Dann fühlte er etwas wie die Berührung einer unsichtbaren, freundlichen Hand und Furcht und Entsetzen verblassten wie ein übler Traum. Er begriff, dass es Faroans Magie war, die die Angst aus seinem Herzen verbannte.

Du hast meinen Ruf vernommen, fuhr die Geisterstimme fort.

»Deinen … Ruf?«, antwortete Gwenderon verwirrt. »Ich kam, um …« Er zögerte. Dann lächelte er. »Ich weiß nicht warum«, gestand er. »Vielleicht einfach, weil ich müde bin.«

Du bist gekommen, weil ich dich gerufen habe, sagte Faroan. Nur wusstest du es nicht.

Plötzlich klang die lautlose Stimme anders; ein wenig traurig und fast schwermütig, dachte Gwenderon. Konnte ein Toter Trauer empfinden?

Du kämpfst noch immer gegen Lassar.

Gwenderon nickte. »Soweit man es kämpfen nennen kann, wenn man sich Schritt für Schritt weiter zurückzieht.« Er seufzte. »Wir leisten ihm Widerstand, aber wir sind nur gedulckdet, Faroan. Die Welt weiß es vielleicht noch nicht und Mannon und Guarr wollen es immer noch nicht wahrhaben, aber der wahre Herr des Schwarzeichenwaldes heißt Lassar. Alles, was wir erreicht haben, ist, ihn ein bisschen zu ärgern. Wir haben ihm nicht einmal wirklich wehgetan. Aber jetzt …«

Er brach ab, starrte dumpf an Faroans Sarg vorbei zu Boden und ballte in einer Geste hilflosen Zornes die Fäuste. »Irgendetwas geht vor«, murmelte er. »Ich spüre es, Faroan. Ich weiß nicht, was, aber ich spüre, dass Lassar eine neue Teufelei vorckhat.«

Ich weiß, antwortete die Geisterstimme. Auch ich spürte die Gefahr, die sich über dem Schwarzeichenwald zusammenballte, mein Freund. Aus diesem Grund rief ich dich zu mir. Du musst mir helfen.

»Ich?«, wiederholte Gwenderon ungläubig. »Du verlangst Hilfe von mir?«

Faroans lautlose Stimme klang plötzlich amüsiert. Es mag dir absurd vorkommen und doch ist es so. Meine Macht ist begrenzt, Gwenderon. Lassar ist ein mächtiger Zauberer, der mir schon im Leben überlegen war. Jetzt bin ich ein Nichts gegen seine Kräfte. Ich … habe versucht den Prinzen zu warnen, aber …

»Cavin?«, unterbrach ihn Gwenderon erregt. Eine eisige Hand schien seinen Nacken zu berühren. »Du meinst, Prinz Cavin lebt?«

Er lebt, bestätigte Faroan. Aber er ist in Lassars Netz gefangen und meine Kräfte reichen nicht mehr, den magischen Schutz zu durchbrechen, den der Herr der Schatten um Hochwalden gelegt hat.

»Was soll das heißen – er ist in Lassars Netz gefangen?«, wiederholte Gwenderon.

Auch für ihn sind nur wenige Tage vergangen, Gwenderon, antwortete Faroan. Er weiß nichts von eurem Kampf. Doch bald wird er Hochwalden verlassen, zusammen mit Lassar, zu einem ganz bestimmten Zweck.

»Und welchem?«, fragte Gwenderon leise.

Dem, das zu tun, was Lassar selbst nicht kann, will er es nicht riskieren, den Zorn der ganzen Welt auf sich zu ziehen, antwortete der Magier. Lassar ist mächtig und ohne Skrupel, aber der Schwarzeichenwald ist heilig, noch immer, und er wird es bleiben, ganz gleich, was geschieht. Es gibt Dinge, an die nicht einmal ein Lassar zu rühren wagt. Nicht einmal er würde es wagen, mit offener Gewalt gegen euch vorzugehen. Aber es gibt jemanden, der es kann.

Die Geisterstimme schwieg einen Moment, wie um ihren Worten das gehörige Gewicht zu verleihen, und obwohl Gwenderon ihre nächsten Worte vorausahnte, erzitterte er bis ins Mark, als Faroan fortfuhr: Es gibt einen Menschen auf der Welt, der es ungestraft tun kann, Gwenderon. Den rechtmäßigen Herrn von Hochwalden. Den König des Schwarzeichenwaldes. Er hat Cavin nur aus einem einzigen Grund in seine Gewalt gebracht: euch zu vernichten.

7

Die Sonne sank und die Schatten wurden länger. Mit dem Abend kroch Kälte in das Unterholz, dicht gefolgt von einem tiefen, fast unheimlichen Schweigen; einer Ruhe, die anders war als die normale Stille des Abends. Wären Gwenderon und seine halb menschlichen Begleiter noch da gewesen, wäre ihnen die Stille aufgefallen, mit der die ansonsten solchen Dingen gegenüber so respektlose Natur den Begräbnisplatz würdigte. Vielleicht hätten sie auch nur angenommen, dass ihr Auftauchen das scheue Leben des Schwarzeichenwaldes vollends vertrieben hätte.

Aber das war es nicht.

Noch lange nachdem der Mann und die beiden Raetts auf ihre Pferde gestiegen waren, lastete die Stille über der Lichtung; die Tiere, die vor den Hufschlägen der drei Pferde und dem Geruch ihrer Reiter geflohen waren, fürchteten nun etwas anderes.

Dabei war die Lichtung jetzt verlassen. Nur die Schatten waren da, die die sinkende Sonne allmählich tiefer und länger werden ließ.

Einer von ihnen hätte einen zufälligen Beobachter – hätte es einen solchen gegeben – an den Umriss eines menschlichen Körpers erinnert.

Aber nur beinahe.

8

Obwohl der Wind hinter ihnen zurückblieb, als sie in den Wald eindrangen, blieb es kalt. Der tagelange Regen hatte den Boden aufgeweicht, sodass der schmale Waldweg zu einem schlammigen Morast geworden war, in dem die Pferde kaum noch von der Stelle kamen. Das Wasser machte die Äste der Bäume beiderseits des Pfades schwer, sodass sie sich wie grünbraune Arme senkten und den zwei Dutzend Reitern immer wieder in die Gesichter zu schlagen drohten. Nicht zum ersten Mal, seit er in seine Heimat zurückgekehrt war, hatte Cavin das absurde Gefühl, dass sich der Schwarzeichenwald gegen sie wehrte. Der finstere, kalte Dschungel, durch den sie ritten, schien nichts mehr mit dem grünen Ozean gemein zu haben, den er von den Türmen Hochwaldens aus gesehen hatte. Alles hier war fremd und kalt und abstoßend und schrie ihnen seine Ablehnung entgegen. Selbst das Unterholz war mit Stacheln gepanzert, die schon bei der flüchtigsten Berührung verletzen mussten.

Sie waren seit zwei Stunden unterwegs, aber ihre Tiere waren schon jetzt erschöpft. Die Leiber der Pferde dampften vor Anstrengung und immer wieder kam eines der Tiere aus dem Tritt, wenn seine Hufe auf dem morastigen Boden keinen fecksten Halt fanden. Und auch an den Gestalten ihrer Reiter begannen sich Müdigkeit und Schwäche immer stärker bemerkckbar zu machen.

Cavin wischte sich mit der Linken den Regen aus dem Gesicht, beugte sich ein wenig tiefer über den Hals seines Tieres und warf der gebeugten Gestalt seines Vaters einen besorgten Blick zu. Er hatte mit aller Macht versucht König Oro von diesem Ritt abzuhalten. Allmählich begann er, selbst jeden einzelcknen Schritt des Pferdes schmerzhaft zu spüren, und die Kälte biss wie mit tausend kleinen spitzen Zähnen durch seine Kleickder. Für ihn und jeden einzelnen Mann in ihrer Begleitung war dieser Ritt eine Qual. Für König Oro der reine Selbstmord, fügte er düster in Gedanken hinzu. Er hatte mit Engelszungen geredet, um Oro von diesem Ritt abzuhalten, hatte argumentiert, gebeten, sich schließlich verstockt gezeigt und einfach gesagt, er würde nicht mitreiten. Aber alles Flehen und Arguckmentieren des Prinzen war sinnlos gewesen. Sein Vater hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Und er war vor allem nicht nur sein Vater – dem er schlimmstenfalls den Gehorsam verckweigern konnte, sondern auch sein König, dessen Befehlen er zu gehorchen hatte. Trotzdem war es Cavin nicht müde geworden, ihn immer wieder zum Umkehren aufzufordern. Aber Oro reagierte – wenn überhaupt, so immer nur mit einem matten Kopfschütteln oder einem Lächeln darauf. Schließlich – schon eine Stunde jenseits der Tore Hochwaldens – hatte er es aufgegeben.

Wenn er wenigstens gewusst hätte, warum sie hier waren! Aber nicht einmal das hatte ihm sein Vater verraten. Und die Wachen, die er gefragt hatte, hatten nur mit einem stummen Achselzucken geantwortet und gesagt, er solle sich gedulden.

Gedulden, dachte Cavin zornig. Wie lange? Bis sein Vater tot aus dem Sattel fiel, gestorben an einer Anstrengung, die selbst seinen um vierzig Jahre jüngeren Sohn an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit brachte? Was wollte dieser alte Narr beweicksen?

Sie erreichten eine Stelle, an der sich der Weg gabelte, und anders als die Male zuvor ritt der Mann an der Spitze der kleicknen Kolonne nicht weiter, sondern hielt sein Pferd an und wartete, bis Oro und Cavin an seine Seite gekommen waren. Dann deutete er nach links. »Dort drüben ist die Lichtung, Herr. Wir werden hier auf Euch und den Prinzen warten.«

Oro nickte. Selbst diese Bewegung wirkte müde. Sein Gesicht war mit Schlamm bespritzt, den die Pferdehufe hochgeschleudert hatten. Ein Ast hatte einen dünnen, aber heftig blucktenden Kratzer in seine Wange geschlagen, und das Blut vermischte sich mit dem Regen, der über sein Gesicht lief, und dem Schmutz zu einem bizarren Muster, das das Gesicht des Königs wie eine Grimasse erscheinen ließ. »Es ist gut, Kommandant«, sagte er. »Gönnt Euren Männern eine Pause. Aber seid auf der Hut vor den Rebellen.«

Cavin starrte abwechselnd seinen Vater und den Soldaten an. Sein Pferd scheute, sodass er Mühe hatte, es unter Kontrolle zu halten, und vor Anstrengung keuchte. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass wir allein weiterreiten, Cavin«, antckwortete Oro. Er hob rasch die Hand, um Cavins Widersprach im Keim zu ersticken. »Kein Sterblicher, in dessen Adern nicht das Blut der Herren von Hochwalden fließt, darf uns zu dem Ort begleiten, zu dem ich dich führen werde«, sagte er mit grockßem Ernst. »Und nun komm. Es ist nicht mehr viel Zeit.«

Nicht mehr viel Zeit?, dachte Cavin verwirrt. Wofür?

Aber Oro gab ihm auch diesmal keine Gelegenheit, die Frage laut auszusprechen oder ihn gar zum Umkehren zu bewegen. Ohne eine Antwort abzuwarten gab er seinem Pferd die Sporen und trabte weiter, in der entgegengesetzten Richtung zur Lichtung, auf der die Soldaten warten würden. Cavin sah ihm verckwirrt nach und wollte ihm folgen, aber der Krieger neben ihm hielt ihn noch einmal zurück.

»Wartet, Herr«, sagte er. Mit einer raschen Bewegung löste er seinen Waffengurt mit dem Schwert und hielt ihn Cavin hin.

»Nehmt das Schwert, Herr«, sagte er, als Cavin zögerte danach zu greifen. »Bitte.«

Widerstrebend gehorchte der Prinz, band sich den Gurt aber noch immer nicht um, sondern blickte den dunkelhaarigen Krieger nur verstört an. Seine Augen waren unter dem heruntergeklappten Visier seines Helmes nur als glitzernde Schatten zu erkennen. Trotzdem glaubte Cavin, einen deutlichen Ausckdruck von Angst darin zu sehen. »Was soll ich damit?«, fragte er beunruhigt.

Der Mann machte eine vage Handbewegung. »Ich hoffe nichts«, antwortete er. »Aber der Schwarzeichenwald ist nicht mehr sicher, mein Prinz. Nicht einmal hier. Und König Oro ist ein alter Mann, der einem Angriff schutzlos ausgeliefert wäre. Nehmt diese Waffe – mir und Eurem Vater zuliebe.«

Verwirrt schnürte sich Cavin den mittelalterlichen Gurt um die Taille und rückte das Schwert so zurecht, dass es ihn beim Reiten nicht behinderte. Dann folgte er seinem Vater. Oro hatte mittlerweile einen gehörigen Vorsprung gewonnen, denn er trieb sein Pferd unbarmherzig an, nahm aber dann sein Tempo zurück und wartete, bis Cavin zu ihm aufgeschlossen hatte.

Über die greisen Züge seines Vaters huschte ein rasches Lächeln, als er die Waffe an Cavins Seite sah. Aber er schwieg auch diesmal, und als der Prinz eine Frage stellen wollte, machte er nur eine unwillige Handbewegung. Cavin schwieg. Der Wald wurde finsterer. Der Regen, der längst aufgehört hatte, setzte neu ein, als sich die Zweige so weit auf den Weg herabneigten, dass sie sie mit ihren gekrümmten Rücken und Helmen berührten und das Wasser herausschüttelten, das sich im Blattwerk gesammelt hatte.

Länger als eine halbe Stunde ritten sie wortlos nebeneinanderher. Der Weg wurde ein wenig besser; die Bäume standen hier so dicht, dass der Regen den Boden kaum mehr erreicht hatte, und obwohl sie weiter durch einen feinen Schleier aus Feuchtigkeit sprengten, den ihre eigenen Schritte hervorriefen, mussten sich die Pferde nicht mehr nach jedem einzelnen Schritt mühsam aus fesselhohem, saugendem Morast herauskämpfen. Dafür wurde der Pfad schmaler und bald war das Unterholz so dicht, dass es ihren Weg zur Rechten und zur Linken wie eine stachelige, grüne Mauer umgab.

Schließlich – Cavin hatte die Hoffnung, ihr unbekanntes Ziel jemals zu finden, schon beinahe aufgegeben – erreichten sie eine weitere Weggabelung und wieder hielt Oro an. Lange, endlose Minuten, wie es Cavin vorkam, blickte er abwechselnd nach rechts und links. Dann – als wäre er in Gedanken zu einem Entschluss gekommen – nickte er und stieg wortlos aus dem Sattel.

Cavin wollte ihm helfen, aber Oro ignorierte seine ausgestreckte Hand und bedeutete ihm nur, ebenfalls abzusitzen. Cavin gehorchte. Aber schließlich hielt er es vor Ungeduld und Neugierde nicht mehr aus: »Was bedeutet das alles, Vater? Warum führst du mich hierher und warum hast du die Wachen zurückgeschickt?«

Oro blickte ihn mit sonderbar ernstem Ausdruck an. »Weil das, was ich dir zeigen werde, nicht für ihre Augen bestimmt ist«, antwortete er. Er deutete nach rechts, wo sich der Weg in schattigem Grün und seltsam körperlicher Finsternis verlor. Wasser lief über seinen Helm und sein Gesicht, sammelte sich in seinem Bart und verlieh ihm das Aussehen eines gütigen greisen Meergottes.

»Der Grund, aus dem ich dich zurückrief, mein Sohn, liegt dort vorne. Das wahre Geheimnis des Schwarzeichenwaldes. Dein Erbe.«

Irgendetwas in der Art, wie Oro sprach, ließ Cavin frösteln. Einen Moment lang starrte er seinen Vater verstört an, dann wandte er sich um und versuchte die Finsternis am Ende des Weges zu durchdringen. Aber er sah nichts außer Dunkelheit und Grün in allen nur denkbaren Schattierungen.

»Komm«, sagte Oro.

Sie gingen los. Die Schritte des alten Königs gewannen merklich an Kraft, als sie in den schattigen Tunnel aus grünem Licht und Zweigen eindrangen, und Cavin hatte den Eindruck, dass sich seine Schultern strafften, als gäbe ihm das, worauf sie sich zubewegten, noch einmal die Kraft und Stärke zurück, die ihm die Jahre genommen hatten.

Er wusste nicht, wie lange sie nebeneinander durch den Wald gingen. Sein Zeitgefühl geriet irgendwie durcheinander und für Momente hatte er das gleiche bizarre Gefühl, das er schon einmal verspürt hatte, als Mannon sie durch die Schatten geführt und eine Tagesreise in wenigen Augenblicken überwunden hatte, nur dass er dieses Mal überhaupt keine Angst empfand, sondern sich im Gegenteil mit jedem Schritt sicherer fühlte; fast, als gäbe es da etwas, was ihn beschützte, und sei es nur vor seiner eigenen Angst. Irgendwann – vielleicht nach Minuten, vielleicht auch nach Stunden – begann der Wald rechts und links vor ihnen zurückzuweichen und der schmale Weg wurde zu einer gewaltigen, kreisrunden Lichtung, viel größer als Hochwalden, größer selbst als die größte Stadt, die er während seiner Studienreisen durch die Welt gesehen hatte.

In ihrer Mitte erhob sich die Festung.

Cavin erstarrte.

Es war wie ein Hieb; ein jäher Guss eiskalten Wassers; ein unverhoffter Schmerz, der einen aus dem Schlaf reißt. Seine Augen weiteten sich, so sehr, dass sie zu schmerzen begannen. Er hatte das Gefühl, sein Herz setze aus.

Die Festung war eine Ruine, eine titanische schwarze Stadt der Riesen, die vor tausend Jahren verlassen worden war und seither verfiel, ein schwarzer Alptraum aus Granit und Staub und zerborstenen Felsen, der im Herzen der gewaltigen Lichtung aufragte, selbst jetzt noch zehnmal größer als Hochwalden; und hundertmal beeindruckender. Wenn er jemals wirkcklich begriffen hatte, was das Wort Macht bedeutete, dann jetzt.

Und er kannte diese Festung.

Er war niemals hier gewesen, hatte niemals von ihr gehört und trotzdem war ihm jede Linie, jede zerborstene Zinne, jeder einzelne ihrer von der Zeit abgenagten Türme vertraut wie ein alter Freund.

Es war das Bild aus seinem Traum, jenem düsteren Traum in Schwarz, den er das erste Mal in Gwenderons Begleitung geträumt hatte, als sie den Wald durchquerten und nach Hochwalden zurückkehren wollten, und danach immer wieder und wieder, ohne dass er auch nur eine Winzigkeit von seinem Schrecken eingebüßt hatte. Er hatte es bisher nicht gewusst, aber jetzt, als er neben seinem Vater stand und zu den zyklopickschen Granit- und Lavatrümmern hinaufsah, erkannte er sie, als hätte es nur dieses Anblickes bedurft, das Bild zu vollenden. Aus der wirbelnden Schwärze und der Angst seines Traumes formte sich das Bild, das seine Augen sahen.

Jede Linie war ihm vertraut: das halb eingestürzte, zehnfach mannshohe Tor, die schräg nach innen geneigten Mauern, wie von den Hammerschlägen eines zornigen Gottes zermalmt und trotzdem noch immer gigantisch und stark, die so seltsam geformten Zinnen, steinerne Reißzähne, die wie geschliffener Stahl blinkten, die absurd hohen, einwärts gebogenen Türme, die wie eine Lavakralle in den Himmel griffen, die Trümmer, die gezackten schwarzen Blitze, längs derer der Boden geborcksten war – nichts, nichts von alledem war ihm fremd. Sein Herz jagte.

»Was … ist … das?«, fragte er. Seine Stimme kam ihm seihst fremd vor. Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen. Er spie sie aus wie kleine, pelzige Tierchen. Irgendetwas in ihm war der absurden Überzeugung, dass an diesem Ort der Klang menschlicher Stimmen einer Götterlästerung gleichkam.

»Das Geheimnis des Schwarzeichenwaldes, mein Sohn«, sagte Oro noch einmal. Auch seine Stimme zitterte. Er sah Cavin nicht an. Sein Blick war starr auf den schwarzen Alptraum vor ihnen gerichtet. Als Cavin sich mühsam vom Anblick der riesigen Ruine losriss, sah er die Angst in den Augen seines Vaters. »Dein Erbe, Cavin. Dein wahres Erbe. Die Megidda.«

»Megidda …« Cavin wiederholte das Wort, einmal laut und dann noch mehrmals in Gedanken, nur für sich. Es verlor dabei nichts von seinem düsteren, unheilschwangeren Klang. Er wusste nicht, was dieses Wort bedeutete, aber er wusste mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es mehr als ein bloßer Nackme war.

»Aber das ist … unmöglich«, flüsterte er.

Oro wandte ganz langsam den Kopf und sah ihn an. »Was?«, fragte er. »Dass du sie gesehen hast?«

Cavin starrte ihn an. Er empfand keinen Schrecken, nicht einmal mehr Überraschung, denn er hatte die Grenzen seines Staunens erreicht. Trotzdem musste seine Verwirrung deutlich auf seinem Gesicht zu lesen sein, denn Oro lächelte, berührte ihn sanft an der Schulter und deutete mit der anderen Hand auf die Festung. »Du kennst sie, Cavin. Du hast von ihr geträumt, oft sogar. Du hast nur nicht gewusst, was das ist, das dich um deinen Schlaf brachte.«

»Woher … weißt du das?«, murmelte Cavin stockend. Er hatte mit niemandem über seine Träume gesprochen, schon allein aus jenem absurden Stolz heraus, der ihm einredete, dass Alpträume etwas für Kinder und Schwächlinge waren.

Oro lächelte verzeihend. »Weil du mein Sohn bist, Cavin«, antwortete er. »Weil dies dein wahres Erbe ist, nicht Hochwalden, nicht der Wald oder die alberne Krone, die in meiner Schatzkammer verstaubt. Weil ich die gleichen Träume hatte, als ich so alt war wie du, und vor mir mein Vater, und vor diesem seiner. Weil es nur die wahren Herren des Schwarzeichenwaldes sind, die ihren Ruf vernehmen. Und nun komm.«

Er wollte sich umwenden und weitergehen, aber Cavin hielt ihn zurück; so grob, dass Oros Lippen kurz vor Schmerz zuckten. Cavin bemerkte es nicht einmal. »Mein … Erbe?«, stammelte er. »Das Blut der wahren Könige? Was bedeutet das alles, Vater?« Er wies erregt auf die gigantische Ruine. »Was ist das?!«

Oro machte seinen Arm mit sanfter Gewalt los. »Du wirst alles verstehen, Cavin«, sagte er. »Bald. Manches werde ich dir erklären, vieles wirst du selbst ergründen, so wie ich manche Rätsel löste, die meinem Vater verborgen blieben, und vieles wird auf ewig deinem Verständnis entzogen bleiben.« Mit einem Male klang seine Stimme beinahe beschwörend, obwohl er nicht lauter redete als vorher. »Dies hier ist dein wahres Erckbe, Cavin. Niemand weiß von der Existenz dieser Festung, niemand außer mir und nun dir, und niemand darf es erfahren. Gib Lassar, was er verlangt, Cavin. Opfere einen Teil des Waldes, opfere Hochwalden, wenn es sein muss, aber niemand darf diese Stätte betreten. Dies hier ist das Geheimnis, das die Köcknige von Hochwalden bewahren. Ganz gleich, was sie dir antun, ganz gleich, was sie dir bieten – du darfst es nicht verrackten.« Und damit ging er ein zweites Mal los, nicht sehr schnell, aber mit festen, sehr sicheren Schritten, die Cavin verrieten, wie oft er hier gewesen sein musste und wie genau er jeden Fußbreit dieses Bodens kannte.

Die wahre Größe der Festung kam ihm erst zu Bewusstsein, als sie sich ihrem Tor näherten. Der Weg schien kein Ende zu nehmen, und als sie endlich zwischen den zerborstenen schwarzen Eisenflügeln standen, die schräg aus schwarzen Schutthalden ragten, die allein halb so hoch wie die Mauern Hochwaldens sein mussten, kam er sich winzig und verloren vor. Die ungeheuerliche Größe dieser Wahnsinnsburg schien ihn zu erschlagen. Ihre schwarze Farbe machte ihm Angst und er spürte den Atem der Millennien, die an diesen Mauern vorckbeigezogen waren, ohne ihnen wirklich etwas anhaben zu können. Und er spürte die Gewalt, die diese Festung hatte. Sie vercksinnbildlichte und demonstrierte sie nicht – sie war Gewalt; eine Macht von der Art eines Gottesjenseits von Gut und Böse oder all den anderen lächerlichen Belangen der Menschen, aber gnadenlos. Er fror. Seine Hände zitterten. Alles in ihm sträubte sich dagegen, weiterzugehen. Er war fest davon überzeugt, dass die Welt über ihm zusammenbrechen würde, wenn er durch dieses entsetzliche schwarze Tor schritt, vor dem er sich vorkam wie eine Ameise vor dem Stiefel eines Giganten.

Sein Vater wartete geduldig, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, seine Angst niederzuringen und ihm zu folgen, erst dann wandte er sich um und betrat das Innere der Festung. Es war so entsetzlich und finster wie ihr Äußeres; alles war zu groß und zu mächtig, als dass es wirklich von Menschen geschaffen sein konnte, und alles war schwarz und strahlte den gleichen erstickenden Schrecken aus. Und auch hier war nichts, was ihm fremd war, denn auch diesen Teil der Megidda hatten ihm seine Träume gezeigt, ohne dass er es erkannt hätte.

Dann sah er den Baum. Er wuchs aus einem mit schwarzem Stein ummauerten Hügel in der Mitte des mit Trümmern und Staub übersäten Hofes und angesichts der ungeheuerlichen Größe der Festung kam er ihm im ersten Moment gar nicht so groß vor.

Aber er war es.

Cavin sah seinen Vater an, aber Oro lächelte nur, deutete auf den Baum und machte eine auffordernde Bewegung, weiterzugehen. Nach kurzem Zögern gehorchte Cavin, wenn auch nur, um nach wenigen Schritten wieder stehen zu bleiben und den Baum anzublicken. Ein Gefühl eisiger Kälte kroch in seine Seele.

Es war eine Schwarzeiche, einer der Bäume, die nur hier und sonst nirgends auf der Welt wuchsen und von denen der Wald seinen Namen hatte. Ihr Stamm war glatt wie Stahl und schwarz, wie aus der Nacht herausgemeißelt, und nicht einmal zwanzig Männer hätten ausgereicht, ihn an seiner Wurzel zu umfassen. Fünfzig, sechzig oder mehr Meter weit strebte er senkrecht in die Höhe, ehe sich der erste, fünfmal mannsdicke Ast abspaltete. Die Krone dieses Baumgiganten ragte höher in den Himmel als der höchste Turm Hochwaldens, ja schien selbst höher als die himmelzerreißenden Lavakrallen der Megidda zu sein. Dabei war er sicher, ihn von außen nicht gesehen zu haben.

Cavin schwindelte, als er den Kopf in den Nacken legte und versuchte den Himmel durch das dichte, schwarzgrüne Gewirr der Blätter zu erkennen. »Das … das ist … das ist unglaublich«, murmelte er. »Ich habe … ich habe niemals einen Baum wie diesen erblickt.«

»Niemand hat das, mein Sohn«, antwortete Oro leise. »Nieckmand außer den Herren von Hochwalden. Und kein Sterblicher, so heißt es, darf ihn jemals sehen, der nicht in direkter Linie von unserer Familie abstammt.«

Cavin hörte die Worte seines Vaters kaum. Der Anblick des Baumgiganten erschütterte ihn, stärker, als er jetzt schon ahnen mochte, stärker als der der Megidda selbst. Plötzlich glaubte er zu begreifen, warum die schwarze Festung so war, wie sie war.

Sie musste gigantisch sein, ein Ding, dicht an den Grenzen des Vorstellbaren, das den Anblick der Eiche verbarg und zugleich vorbereitete. Niemand, der den Anblick der Megidda nicht ertragen hätte, hätte es ertragen, vor ihm zu stehen. Es war nicht einfach ein großer Baum, sondern ein Titan, der Urckvater aller Bäume. Der Gott der Schwarzeichen. Cavin schwindelte, als er versuchte sich das Alter dieses Baumes vorzustellen.

»Wieso sieht man ihn nicht von Hochwalden aus?«, murmelte er. »Er müsste doch hundert Meilen weit sichtbar sein.«

Oro lächelte verzeihend, als hätte er eine sehr dumme Frage gestellt. »Vielleicht ist er das«, antwortete er. »Und doch hat ihn noch keines Menschen Auge erblickt. Nicht einmal Faroan wusste um ihn.« Er nickte, als er Cavins Erstaunen bemerkte, und fuhr fort: »Wir sind sehr weit von Hochwalden fort, Cavin. Der Weg, den ich dich geführt habe, war kein Weg, wie du ihn kennst. Dieser Ort gehört nicht mehr ganz zu unserer Welt, aber auch noch nicht ganz zu der anderen.«

Cavin verstand nicht, was sein Vater meinte, aber er hatte das sichere Gefühl, dass es besser war, jetzt zu schweigen.

»Ich habe dich hierher geführt«, fuhr Oro fort, »um dir dies zu zeigen. Das Geheimnis dieses Waldes. Ich erfuhr es von meinem Vater, als er seine Zeit kommen spürte, so wie er es von seinem Vater erfuhr, und du es eines Tages an deinen Erckben weitergeben wirst. So ist es Gesetz. So wurde es gehalten, seit die Welt besteht, und so wird es gehalten werden, solange sie besteht.«

»Ich … habe keinen Erben«, entfuhr es Cavin. Im nächsten Moment hätte er sich für diese Bemerkung ohrfeigen können. Aber wieder lächelte Oro nur.

»Du wirst ihn haben«, sagte er. »Später. Auch dies ist ein Teil des Geheimnisses, mein Sohn – solange dieser Wald becksteht, wird unsere Familie nicht sterben. Und umgekehrt. Dieckser Baum ist mehr als eine große Schwarzeiche, Cavin. Er ist das Herz des Waldes. Und irgendwann, wenn die Zeit gekommen ist, wird er es sein, der …«

Irgendwo hinter ihnen polterte ein Stein. Der Laut rollte wie ein Donner in der andächtigen Stille der Megidda und Oro brach mitten im Wort ab. Cavin sah, wie seine Augen sich weickteten.

Das Poltern wiederholte sich und dann hörte er Schritte.

Cavin fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum. Seine Hand zuckte zum Schwert und zog es.

Aber so schnell die Bewegung auch war – der andere war schneller. Cavin sah einen Schatten und die Andeutung einer Bewegung, dann traf irgendetwas mit grausamer Wucht sein Handgelenk, prellte ihm das Schwert aus der Hand und schmetterte ihn gleichzeitig zu Boden. Er fiel, schrie vor Schrecken und Schmerz und kam mit einer Rolle wieder auf die Füße.

Metall blitzte auf. Cavin spürte einen neuen, reißenden Schmerz, fühlte warmes Blut an seinem Hals herablaufen und starrte eine halbe Sekunde lang entsetzt auf die Schwertspitze, die seine Haut geritzt hatte. Dann hob er den Blick.

Seine Augen weiteten sich vor Unglauben, als er in das Gesicht des Mannes sah, der ihm das Schwert an die Kehle hielt.

»Gwenderon!«, keuchte er.

9

Mannon, der Zwerg, war der Erste, der das Schweigen brach, nachdem Gwenderon mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. Fünf Minuten hatte sich Stille wie eine erstickende Decke über der kleinen Hütte ausgebreitet. Es war eine sonderbar beckdrückende Stille, die von kommendem Unglück und Leid zu künden schien. Selbst das Prasseln des Feuers, das die Hütte erhellte, schien innegehalten zu haben. Die Stimme des Zwerges klang fast wie ein Sakrileg in Gwenderons Ohren.

»Das sind mehr Fragen als Antworten, die du gebracht hast, Gwenderon.«

Der Waffenmeister nickte. Er fühlte sich leer, nachdem er von seinen Erlebnissen in Faroans Grab berichtet hatte. Es war, als hätten ihn die Worte ausgelaugt. Und der Gedanke, mit einem Toten gesprochen zu haben, erfüllte ihn noch immer mit einem tiefen, lähmenden Entsetzen. Einem Schrecken, der gröckßer zu werden schien statt abzunehmen. Es war, als begriffe er erst jetzt ganz langsam, was wirklich geschehen war.

»Nicht gut, mit Toten reden«, pfiff Guarr mit seiner schrillen Raett-Stimme. »Böse Zeit, wenn die Toten sprechen.«

»Aber vielleicht ist es noch weniger gut, ihre Warnungen zu missachten«, fügte Resnec hinzu. Guarr grinste ein spitzzahniges Rattengrinsen, während Gwenderon mühsam den Kopf wandte und Resnec böse ansah. Er hatte nicht ein einziges Mal widersprochen, als sich Resnec ihrer rasch einberufenen Beracktung unaufgefordert angeschlossen hatte. Aber er ließ ihn fühlen, dass er ein Fremder war und dass er ihn hasste wie am ersten Tage.

»Was meinst du damit, Resnec?«, fragte er.

»Ich wäre froh, wenn ich es selbst wüsste«, gestand Resnec mit einem raschen, halbherzigen Lächeln. »Ihr kennt Faroan besser als ich. Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, wirklich zu glauben, dass Ihr mit einem Toten gesprochen habt. Aber das heißt nicht, dass wir seine Worte in den Wind schlagen dürfen. Er hat Recht – nicht einmal Lassar würde es wagen, seine Truppen in aller Offenheit hierher zu schicken. Cavin könnte es.«

»Unsinn«, schnappte Mannon. »Er könnte es, aber er wird es nicht tun.«

»Bist du da so sicher?«

»Natürlich bin ich sicher!«, knurrte der Zwerg. »Nenne mir nur einen Grund, aus dem Cavin sich mit Lassar verbünden sollte! Nur einen einzigen!«

»Mir fallen eine Menge ein«, erwiderte Resnec ruhig. »Aber einer reicht wohl schon – Faroans eigene Worte, Mannon. Hast du sie vergessen? Cavin ist in Lassars Netz gefangen – das sagte er doch, oder?«

Gwenderon nickte. »So ungefähr.« Sein Ärger wuchs. Es passte ihm nicht, wie Resnec das Gespräch an sich riss. Für ihn war Lassars früherer Statthalter ein unwillig geduldeter Gast, der den Mund zu halten und zuzuhören hatte. Und dass Resnec mit jedem Wort, das er sprach, Recht hatte, ärgerte ihn beinahe noch mehr.

»Eben«, fuhr Resnec in beinahe triumphierendem Tonfall fort. »Vergiss nicht, dass Cavin seit mehr als vier Wochen unter Lassars Einfluss steht. Für Lassar mehr als genug Zeit, sich in Cavins Geist zu schleichen. Der Mann, der jetzt in Hochwalden auf dem Thron sitzt, hat vermutlich so wenig mit Prinz Cavin gemein wie ich oder eine von Lassars Raett-Kreaturen!«

Guarr stieß einen protestierenden Pfiff aus und Resnec lächelte entschuldigend. »Verzeih, Guarr«, sagte er hastig und mit einem fast erschrockenen Seitenblick auf Gwenderon. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber Tatsache ist, dass es Lassar wie kein Zweiter versteht, mit Lüge und Betrug und Täuschung zu arbeiten.«

»Das mag für das Land gelten, aus dem du gekommen bist, Resnec«, sagte Mannon überzeugt. »Vielleicht auch für den Rest der Welt, aber nicht für den Schwarzeichenwald. Seine Magie verliert hier ihre Macht.«

»So?«, fragte Resnec böse. »Vielleicht solltest du nach Hochwalden reiten und Lassar dies sagen, Zwerg. Er scheint das nämlich nicht zu wissen.«

»Mannon hat Recht, Resnec«, unterbrach ihn Gwenderon zornig. »Es ist schwer zu erklären, und nicht einmal ich weiß genau, warum es so ist – aber der Schwarzeichenwald ist vielleicht der einzige Ort auf der Welt, bis zu dem Lassars Macht nicht reicht. Wäre es anders, würden wir alle nicht mehr leckben.«

Resnecs Gesichtsausdruck machte deutlich, wie sehr er Gwenderons Worte anzweifelte, und der Waffenmeister fuhr fort: »Überlege selbst, Resnec – als du hierher gekommen bist, warst du Lassars treuester Sklave. Du warst völlig in seiner Macht. Dann hast du begonnen zu zweifeln.« Die Provokation in diesen Worten war unüberhörbar. Animah warf ihm einen erschrockenen Blick zu, den Gwenderon ignorierte.

»Das war etwas anderes«, behauptete Resnec. »Ich habe eingesehen, dass Lassar …«

»Eben«, unterbrach ihn Gwenderon. »Du hast eingesehen, dass Lassar im Unrecht ist. Du hattest die Möglichkeit, etwas einzusehen, und zwar zum ersten Mal. Lassars Macht über dich schwand, je länger du dich im Schwarzeichenwald aufgehalten hast. Er mag die Burg beherrschen, aber er ist auch gleichzeitig ihr Gefangener.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Resnec – so leicht ist es leider nicht. Lassar kennt die Gefahr, die der Wald für ihn bedeutet, sehr gut, und er wird den Teufel tun uns hier anzugreifen, wo wir ihn schlagen könnten. Ich fürchte, er hat etwas ganz anderes vor.«

»Aber warum hat dir Faroan nicht gesagt, was?«, begehrte Resnec auf. »Zum Teufel, er muss doch irgendetwas gesagt haben!«

»Das hat er. Er hat uns gewarnt, und es ist so, wie du selbst sagtest – wir dürfen diese Warnung nicht missachten. Aber es besteht auch kein Grund, in Panik zu geraten. Lassar ist mächtig, aber nicht allmächtig.«

»Ach?«, sagte Resnec spitz. »Und wieso sitzt er dann seit vier Wochen seelenruhig in Hochwalden? Wieso sind alle eure Angriffe gescheitert und wieso –«

»Weil wir niemals einen wirklichen Angriff unternommen haben, Resnec«, unterbrach ihn Animah. Sie hatte bisher still am Feuer gesessen und nur zugehört. Jetzt richtete sie sich auf, sah erst Resnec, dann Gwenderon an und sagte noch einmal: »Du hast es selbst gesagt, Resnec – er sitzt seelenruhig in Hochwalden und wartet, dass wir etwas unternehmen. Wir hackben ein paar seiner Patrouillen überfallen, einige seiner gekaufckten Mörder gefangen und getötet, und Guarrs Raetts haben die Arbeiter vertrieben, die er geschickt hat, um an der südlichen Grenze Bäume zu fällen. Aber wir brauchen Zeit.« Sie lächelte, als müsse sie sich für ihre nächsten Worte im Vorhinein entschuldigen.

»Unser Aufstand ist jung, Resnec. Wir müssen das Rebellenhandwerk erst noch lernen.«

»Dazu wird euch Lassar nicht die Zeit lassen«, erwiderte Resnec düster.

Gwenderon fuhr auf. »Zum Teufel, was sollen wir tun?«, schnappte er. »Hochwalden angreifen?«

»Wenn es sein muss, ja«, erwiderte Resnec ernst.

Gwenderon schnaubte. »Du redest irr, Resnec! Wir sind nicht einmal fünfzig Krieger, Guarrs Raetts mitgezählt. Lassars Leibgarde allein ist uns an Zahl überlegen, von seinen Schattenkriegern ganz zu schweigen.«

»Die niemand jemals gesehen hat«, warf Mannon ein, verckstummte aber wieder, als Resnec und Gwenderon ihn gleichzeitig anstarrten, der eine mit einem Blick, der ihm sagte, dass er sie sehr wohl gesehen hatte und um ihren Schrecken wusste, der andere voller kaum noch unterdrückter Wut.

»Tatsache ist, dass jeder Tag, der vergeht, ein Tag für Lassar ist«, fuhr Resnec schließlich fort.

»Unsinn! Unsere Zahl wächst mit jedem Tag«, sagte Gwenderon ärgerlich. »Karelian leistet in den nördlichen Bergen gute Arbeit. Noch ein halbes Jahr –«

»Und Lassar sitzt auf dem Thron Hochwaldens«, unterbrach ihn Resnec ruhig. »Ihr versteht noch immer nicht, Gwenderon. Hier, bei Euch, in Euren Wäldern und unter Gleichgesinnten, mag alles ganz einfach aussehen. Aber der Schwarzeichenwald ist nicht die Welt.« Er beugte sich erregt vor und begann mit den Händen zu gestikulieren. »Lassar ist ein mächtiger Mann. Das Bild, das Ihr von ihm habt, ist falsch. Er ist verhasst wie kein Zweiter, aber er ist auch mächtig wie kein Zweiter. Ihr sagt, er beherrscht Cavin und er betrügt ihn, und Ihr habt Recht, aber wird man Euch glauben?«

»Was … meinst du damit?«, fragte Gwenderon verstört.

»Tatsache ist, dass auf Hochwaldens Thron König Cavin sitzt, der legitime Erbe des Reiches. Gebt ihm dieses halbe Jahr, von dem Ihr sprecht, und greift dann Hochwalden an, Gwenderon, und die ganze Welt wird Euch einen Verräter nennen, weil Ihr es dann seid, der sich gegen Hochwalden aufcklehnt. Ihr sagt, Ihr habt Zeit, aber das stimmt nicht. Die Zeit arbeitet für Lassar. Wenn Ihr wartet, bis der Sommer vorbei ist und Euer Heer steht, braucht sich Lassar nicht einmal mehr die Mühe zu machen, Euch zu bekämpfen. Das werden dann andere tun.« Er lachte bitter. »Die Unantastbarkeit des Schwarzeichenwaldes, Gwenderon, das ist es, worauf Ihr baut. Aber sie wird für Lassar arbeiten, wenn Ihr zu lange zögert.«

»Und was schlägst du also vor?«, fragte Gwenderon wütend.

Resnec presste ärgerlich die Lippen zusammen. »Wenn es Cavin ist, von dem uns Gefahr droht, dann müssen wir uns darauf vorbereiten.«

»Und wie?«

»Zubeißen, ehe sie es können«, sagte Guarr. Seine Schnurrckhaare zitterten erregt. »Besser, wir fressen ihn, ehe er uns frisst.«

Gwenderon schnaubte. »Ein Angriff auf Hochwalden wäre der glatte Selbstmord.«

»Eben«, sagte Guarr. Gwenderon wusste, dass es schlichtweg unmöglich war – und trotzdem hatte er für einen Moment das Gefühl, ein rasches, listiges Lächeln über das Gesicht des Riecksennagers huschen zu sehen. »Lassar rechnet nicht mit Angriff auf Hochwalden. Niemand so dumm.«

»Und wir auch nicht«, fiel ihm Gwenderon ins Wort. »Es wäre Wahnsinn. Seine Männer sind uns zehn zu eins überlegen, und selbst wenn es nicht so wäre, stünden wir einem Magier gegenüber, der immerhin mächtig genug war sogar Faroan zu töten. Nimm es mir nicht übel, mein Freund, aber ich fürchte, dein Temperament geht mit dir durch.«

»Nicht offener Angriff«, erwiderte Guarr beleidigt. »Wir kennen Wege unter Erde und durch Schatten. Wir Hochwalden erreichen und Prinzen holen.«

»Und zwischendurch schaut ihr bei Lassar herein und trinkt einen Becher Wein mit ihm, wie?«, murrte Mannon. »Vergiss es, Rattengesicht.«

Guarr zischte und zeigte drohend sein Raubtiergebiss und Mannon wich in gespieltem Schrecken ein Stück zurück. Dann wurde er übergangslos wieder ernst.

»Vielleicht hat der Raett doch gar nicht so Unrecht«, murmelte Resnec plötzlich.

Gwenderon sah überrascht auf und auch zwischen Mannons buschigen Brauen entstand eine steile, fragende Falte.

Resnec wirkte mit einem Male aufgeregt. Sein Gesicht rötete sich. »Starrt mich nicht so an«, sagte er, »ich bin nicht verrückter als ihr drei. Natürlich kommt ein Angriff auf Hochwalden nicht infrage, aber vielleicht ist er auch nicht nötig. Nicht, wenn es stimmt, was ihr mir erzählt habt, dass Lassars Magie wirklich nachlässt, sobald er die Burg verlässt.«

»Natürlich stimmt es«, murrte Mannon. »Aber was nutzt es uns?«

»Nichts«, sagte Resnec. »Aber was nutzt ihm ein Prinz Cavin, der in Hochwalden sitzt und seinen Befehlen gehorcht? Wir können vielleicht nicht hinein in seine Burg, aber wenn er uns angreifen will, ganz gleich ob mit magischen Mitteln oder mit Schwert und Bogen, dann muss er Hochwalden wohl zwangsläufig verlassen, oder?«

Gwenderon nickte. »Und?«

»Alles, was wir tun können«, erklärte Resnec, »ist, Cavin aus der Burg zu locken. Wir müssen ihm irgendwie eine Falle stellen. Haben wir ihn erst einmal in unserer Gewalt, sehen wir weiter.«

»So schlau ist Lassar schon lange«, sagte Mannon. »Glaubst du nicht, er hätte jede Möglichkeit einkalkuliert?«

Resnec starrte ihn wütend an. »Wenn du das wirklich denkst«, sagte er, »dann ist euer Widerstand sinnlos, meinst du nicht?«

»Hör auf!«, befahl Gwenderon scharf. Resnec starrte ihn wütend an und auch in den Augen des Zwerges blitzte es kurz zornig. Aber dann nickte er.

»Gwenderon hat Recht. Es nutzt nichts, wenn wir uns streickten. Wir müssen herausfinden, was Faroans Warnung zu beckdeuten hatte.«

Einen Moment lang starrte er ins Leere, dann wandte er den Kopf und blickte Guarr an. »Du wirst ein paar deiner zuverlässigsten Späher nach Hochwalden schicken«, sagte er. »Sie sollen die Burg beobachten und uns jede Bewegung melden. Mehr können wir nicht tun. Jedenfalls im Moment nicht.«

Er seufzte, stand umständlich auf und rieb sich demonstrativ die Augen. »Es ist spät geworden«, sagte er. »Warum gönnen wir uns nicht alle ein paar Stunden Schlaf und reden morgen weiter?«

Gwenderon nickte. »Du hast Recht, Mannon. Es nutzt nichts, die Entscheidung herbeizwingen zu wollen.«

Er stand ebenfalls auf, nickte noch einmal in die Runde und verließ die Hütte.

10

»Ja, junger Herr«, nickte Gwenderon. »Ich bin es. Es tut mir Leid, dass wir uns unter solchen Umständen wieder sehen müssen.«

Cavin schluckte ein paar Mal, um den riesigen, harten Kloß loszuwerden, der plötzlich in seiner Kehle saß. Es war nicht die Furcht vor Gwenderons Schwert, obwohl die Klinge seine Haut ritzte, sodass ein einzelner Blutstropfen an seinem Hals herabrann.

»Du … du verdammter … Verräter!«, stammelte er. Seine Hände begannen zu zittern und sein Blick irrte verzweifelt über den Boden und suchte das Schwert, das ihm Gwenderon aus der Hand geschlagen hatte. Aber in seinen Zorn mischte sich ein immer größer werdendes Entsetzen, das nicht auf die rein körperliche Bedrohung zurückzuführen war. Es war unmögcklich, dachte er immer wieder. Das war nicht Gwenderon, nicht der Gwenderon, den er kannte!

Der Waffenmeister verstärkte den Druck auf seine Kehle um eine Winzigkeit und schüttelte warnend den Kopf. »Versucht es nicht«, sagte er leise. »Ich bitte Euch. Ich möchte Euch nicht verletzen.«

»Aber du würdest es tun, wenn es nötig wäre, nicht wahr?«

Gwenderon antwortete nicht, sondern starrte ihn eine weitere, endlose Sekunde lang mit steinernem Gesicht an. Dann senkte er mit einem Ruck das Schwert und trat zurück.

Cavin sah erst jetzt, dass er nicht allein war: Ein halbes Dutzend großer, struppig brauner Gestalten hatte sich im Halbkreis hinter ihm und Oro aufgebaut. Raetts. Aber keine wilde, barbarische Bande dieser Kreaturen, wie es Guarrs Meute gewesen war, sondern ausgesucht große, kräftige Wesen: Raett-Krieger in schwarzbraunen Lederharnischen, mit Schwertern und Spieckßen in den Klauen und Mordlust in den Augen.

»Packt ihn«, befahl Gwenderon. »Aber tut ihm nicht weh.«

Zwei der Raett-Krieger stürzten sich auf den jungen Prinzen, ergriffen seine Arme und hielten ihn fest, ohne auf Cavins wütende Gegenwehr zu achten.

Gwenderon sah ihnen reglos dabei zu. Dann rammte er sein Schwert mit einer übertrieben heftigen Bewegung in die Scheickde zurück, wandte sich mit einem Ruck um und trat auf Oro zu, der die Szene mit unbewegtem Gesicht verfolgt hatte. Er war bleich geworden; alles Blut war aus seinem Gesicht und seinen Händen gewichen und seine Hände zitterten sichtbar. Aber das Flackern in seinen Augen war keine Angst, sondern nur Zorn.

»Verräter!«, sagte er. Seine Stimme war ganz kalt, aber als er weitersprach, klang jedes einzelne Wort wie ein Fluch, und selbst Gwenderon fuhr beim Klang seiner Stimme sichtlich zusammen. »Ich habe Euch vertraut, Gwenderon, und Ihr wagt es, mit dem Schwert in der Hand hierher zu kommen! Hierher, an einen Ort, der heilig und unantastbar ist –«

»Und es bleiben wird«, unterbrach ihn Gwenderon kalt. »Es tut mir Leid, mein König. Ich gäbe mein Leben, hätte es eine andere Möglichkeit gegeben. Aber Ihr habt mir keine Wahl gelassen.«

»Keine Wahl wozu?«, fragte Oro. »Diesen Ort zu entweihen? Allein Euer Hiersein ist ein Frevel, dessen wahres Ausmaß Ihr nicht einmal ahnt!«

»Ihn zu retten«, antwortete Gwenderon.

»Zu retten!« Oro spie die Worte fast aus. Sein Gesicht flammte vor Zorn. »Ihr wagt es, die Hand gegen mich und meinen Sohn zu erheben, die rechtmäßigen Herrscher des Schwarzeichenwaldes?«

»Nicht seine Herrscher«, verbesserte ihn Gwenderon. »Seine Diener, mein König.« Er legte eine winzige Pause ein, während derer er Oro beinahe traurig ansah. »Waren das nicht Eure eigenen Worte? Wart Ihr es nicht, der mir sagte, dass Hochwalden stets nur der Beschützer dieses Waldes war, nicht sein Beckherrscher?«

Oro ballte die Fäuste. »Was wollt Ihr, Gwenderon? Mich verspotten oder mich töten?«

»Weder das eine noch das andere«, sagte Gwenderon. »Ich appelliere ein letztes Mal an Eure Einsicht, Herr – lasst von diesem Pakt mit Lassar ab. Werft ihn und seine verfluchten Baummörder aus dem Wald und haltet den Eid, den Ihr vor so vielen Jahren an diesem Ort geschworen habt und den Euer Sohn heute schwören soll! Wacht endlich auf!«

»Ich habe ihn gehalten«, erwiderte Oro. »Ihr seid es, der blind ist, Gwenderon. Was ich tue, tue ich nur, um den Wald zu schützen. Ihr seid es, der diesen Ort entweiht. Ihr dürftet nicht einmal hier sein!«

Gwenderons Hände zuckten. Cavin konnte sehen, wie sich seine Kiefer aufeinander pressten. Seine ganze Gestalt begann zu zittern. »Das ist Euer letztes Wort?«, fragte er mühsam.

»Mein letztes«, bestätigte Oro.

»Dann, mein König«, sagte Gwenderon leise, während er das Schwert zog und die Waffe mit beiden Händen ergriff, »lasst Ihr mir keine Wahl.«

Und damit enthauptete er König Oro mit einem einzigen, wuchtigen Hieb.

Cavin schrie auf. Verzweifelt warf er sich nach vorn, brüllend und halb irrsinnig vor Angst und Entsetzen. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den Griff der beiden RaettKrieger und brach in die Knie, als ihn die Faust einer der Kreackturen im Nacken traf. Er spürte den Schmerz kaum.

Er spürte auch kaum, wie ihn die Raetts auf einen stummen Wink Gwenderons hin losließen und er vollends zu Boden fiel. Das Entsetzen über den kaltblütigen Mord, den er mit angeseckhen hatte, hatte ihn fast wahnsinnig gemacht.

Minutenlang blieb er bäuchlings ausgestreckt auf dem staubbedeckten Stein liegen. Erst schrie und heulte er vor Verzweifcklung, dann wurden seine Schreie zu einem leisen, halb erstickten Weinen. Und schließlich versiegten auch seine Tränen. Eine tiefe, unendlich tiefe, tödliche Kälte begann sich in ihm auszubreiten. Cavins Gestalt war in die rote Farbe des Hasses getaucht, als er den Kopf hob und zu dem grauhaarigen Waffenmeister aufsah.

»Mörder«, flüsterte er. »Du gemeiner, hinterhältiger Mörder!«

»Es tut mir Leid, mein König«, sagte Gwenderon leise. »Glaubt mir, dass ich mich zehnmal lieber selbst in mein Schwert gestürzt hätte als dies zu tun. Aber mir blieb keine Wahl.«

Cavin stemmte sich hoch. Sofort sprangen die beiden RaettKrieger wieder hinter ihn, aber Gwenderon trieb sie mit einer raschen Geste zurück.

»Dafür wirst du bezahlen, Gwenderon!«, flüsterte Cavin. »Töte mich. Nimm dein Schwert und schlage mir auch den Kopf ab oder hetze deine Ratten auf mich, aber töte mich, hier und jetzt. Denn wenn du es nicht tust, dann werde ich dich umckbringen, du Hund. Ich schwöre es. Ich schwöre es bei diesem heiligen Ort, dass ich nicht eher ruhen werde, bis ich deinen Kopf in den Händen halte.«

Seine Worte schienen Gwenderon eher traurig zu stimmen als wütend. »Ihr habt nichts verstanden, mein König«, sagte er. »Aber wie könntet Ihr auch. Ihr seid jung.«

Cavin schrie auf. »Nenn mich nicht so, du Mörder!«, brüllte er. »Deinen König hast du erschlagen und …«

»Und damit seid Ihr der neue König von Hochwalden«, fiel ihm Gwenderon ins Wort. »Ob es Euch gefällt oder nicht – die Verantwortung für den Schwarzeichenwald liegt nun allein auf Euren Schultern.« Seine Stimme wurde beschwörend. »Kommt zu Euch, Cavin! Ihr müsst Euch von Lassar abwenden! Lasst nicht zu, dass er an diesem Wald frevelt!«

»Und wenn doch, dann wirst du mich genauso umbringen wie meinen Vater, wie?«, fragte Cavin böse.

Gwenderon senkte den Blick. »Wenn es sein muss, ja«, sagte er. »Ich habe geschworen diesen Wald mit meinem Leben zu verteidigen.«

»So wie du meinem Vater die Treue geschworen hast, nicht wahr?« Cavin trat einen Schritt auf den Waffenmeister zu und blieb wieder stehen, als eine der Raett-Kreaturen ein warnendes Zischen ausstieß. »So wie du auch mir die Treue geschworen hattest, als du mich nach Hochwalden begleitetest? Du hast mich schon damals verraten und jetzt versuchst du, mich mit Worten wie Treue und Schwüren zu überzeugen? Du bist nicht nur ein Verräter, Gwenderon – du bist auch dumm.«

Gwenderon sah mit einem Ruck auf. Er wirkte erschrocken. »Ihr … wisst?«

»Natürlich«, antwortete Cavin. »Mein Vater hat mir alles erckzählt. Ich habe ihm nicht geglaubt, Gwenderon. Ich habe an deine Treue geglaubt und die Worte meines eigenen Vaters angezweifelt. Ich habe gehofft, dass sich alles als Irrtum und Missverständnis herausstellen würde. Aber du hast mir bewiecksen, wie Recht mein Vater hatte. Du bist schlimmer, als er glaubte.«

Er ballte erneut die Fäuste, bewegte sich abermals auf Gwenderon zu und ein Stück nach rechts und blieb wieder stehen. Plötzlich begann er zu schreien: »Er wusste, dass er sterben würde, Gwenderon! Er wusste, dass er den heutigen Tag nicht überleben würde! Nur wenige Stunden noch, und nicht einmal die hast du ihm gelassen! Du hast nicht einmal den Anstand besessen, einem sterbenden, alten Mann seine letzten Stunden zu lassen, du verdammter Mörder. Und jetzt stirb, du Schwein!«

Gwenderons Reaktion kam zu spät. Cavin sprang ihn mit weit ausgebreiteten Armen an und riss ihn allein mit der ungestümen Wucht seines Anpralles zu Boden. Seine Hände fanden den Griff des Schwertes in Gwenderons Gürtel und zerrten es heraus. Mit einem Schrei sprang er auf die Füße, schleuderte Gwenderon zurück und hieb wie von Sinnen um sich. Sein Schwert trieb die Raetts zurück, dann wirbelte er herum, riss die Waffe mit einem gellenden Schrei über den Kopf und schlug zu. Der Stahl zuckte wie eine bizarre stählerne Schlange nach Gwenderons Gesicht.

Der Waffenmeister warf sich im letzten Moment zur Seite, und der Hieb, der ihn hätte enthaupten sollen, riss nur eine fingerlange Wunde in seine rechte Wange.

Als Cavin zu einem zweiten Hieb ausholen wollte, waren die Raetts schneller. Starke Hände griffen nach ihm, entrangen ihm die Waffe und bogen ihm die Arme auf den Rücken. Ein Schlag trieb ihm die Luft aus den Lungen, dann zuckte die Krallenhand eines Raetts nach seinem Gesicht, zerriss seine Wange und hinterließ drei dünne, parallel verlaufende Schnitte in seiner Haut.

»Hört auf!«

Gwenderons Befehl trieb die Raetts wie ein Peitschenhieb auseinander. Cavin fiel auf die Knie, als ihm einer der Raetts doch noch einen Schlag zwischen die Schulterblätter versetzte. Für einen Moment sah er nichts als Schwärze und blutig roten Nebel.

Als sich sein Blick wieder klärte, waren die Raetts einen Schritt zurückgewichen und bildeten einen weiten, aber dicht geschlossenen Kreis um ihn und Gwenderon. Ein Dutzend Speerspitzen reckte sich drohend nach ihm.

Gwenderon war wieder aufgestanden. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz. Zwischen den Fingern, die er auf die rechte Wange presste, quoll dunkelrotes Blut hervor. Er hatte sein Schwert aufgehoben, und für einen Moment war Cavin fast sicher, dass er ihn nun damit töten würde, so, wie er seinen Vater ermordet hatte.

Dann entspannte sich die Haltung des Waffenmeisters. Er schloss die Augen und nahm die Hand von der Wange. Sein Gesicht war voller Blut. Die Wunde, die Cavin ihm zugefügt hatte, war sehr tief.

»Bring mich schon um!«, stöhnte Cavin. »Los, tu es. Bring zu Ende, was du begonnen hast – wenn du nicht zu feige dazu bist.«

Aber Gwenderon schüttelte nur den Kopf. »Nein, mein Köcknig«, sagte er. »Ich bin Euer Gegner, aber nicht Euer Feind. Ich werde Euch nicht töten, weder jetzt noch später – es sei denn, Ihr zwingt mich dazu.«

Cavin starrte ihn an. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber es waren Tränen der Wut, nicht des Schmerzes. »Dann nimm dich in Acht, Gwenderon«, flüsterte er. »Von diesem Tage an werde ich dich jagen. Ich werde dich verfolgen bis ans Ende der Welt und darüber hinaus, wenn es sein muss. Ab heuckte wirst du ein Gejagter sein. Du wirst nirgends mehr Sicherckheit finden, nie wieder Frieden. Ich werde dich töten. Ich werde dich suchen und finden und töten, und wenn du dich in den Abgründen der Hölle vor mir verstecken solltest. Ich schwöre es.«

Gwenderon blickte ihn nur wortlos an; dann schob er sein Schwert in den Gürtel und richtete sich mit sichtlicher Anstrengung auf. Er gab seinen Raett-Kriegern einen Wink und wandte sich um.

Cavin starrte ihnen nach, bis die Schatten der schwarzen Feckstung das Dutzend Gestalten wieder verschlungen hatten. Dann kroch er auf Händen und Füßen zu Oro hinüber.

Länger als eine Stunde saß der neue König des Schwarzeichenwaldes da und beweinte seinen toten Vater. Aber die ganze Zeit über hielt seine Hand das Schwert umklammert. Wie von fremder Hand geführt fand er den Weg zurück zu den Männern der Garde, und er wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wie sie zurück nach Hochwalden kamen. Aber als er endcklich im Ratssaal der mächtigen Burg stand und den Thron becktrachtete, der ihm nun von Rechts wegen gehörte, war in seicknem Herzen nur noch Hass.

Später, lange nach Mitternacht, erwachte er endlich aus seickner Starre und rief einen der Diener zu sich.

»Schickt nach Lassar«, sagte er. »Ich habe mit ihm zu reckden.«

11

Der Wald lag verlassen da. Vor Augenblicken war ein Posten vorbeigekommen, ein dunkel gekleideter, schwerer Mann, dessen Schritte noch in der stillen Nachtluft nachzuhallen schiecknen, obwohl er längst weitergewandert war auf seinem ruhelocksen Weg, den er in dieser Nacht noch ein Dutzend Mal oder mehr zurücklegen würde. Obgleich er vorsichtig ging, hatten seine Schritte die kleinen Bewohner des nächtlichen Waldes vertrieben: die Insekten und Nagetiere, die Käfer und Spinnen, die Jäger und Gejagten, die ihre Rollen oft in Sekundenschnelle tauschten.

Aber anders als sonst kehrte das Leben nicht wieder, nachdem die Schritte des Mannes verklungen waren. Die empfindcklichen Farngewächse, deren Blätter sich bei der geringsten Erckschütterung zusammenrollten und so schon die Spur manches sehr vorsichtigen Eindringlings verraten hatten (aus keinem anderen Grund waren sie angepflanzt worden und bildeten einen beinahe unsichtbaren, aber sehr wirkungsvollen Schutz um das Lager), blieben eingerollt und bildeten ein flaches Lockenmuster auf dem Boden, das Huschen und Trippeln und Zirckpen der Insekten klang nicht wieder auf, denn sie alle spürten das Nahen des Fremden, die Gefahr, die den groben Sinnen des Menschen noch verborgen blieb.

Zuerst war es nur Kälte; nicht mehr als ein flüchtiger Hauch, der sanft durch die Äste strich, ohne das geringste Geräusch zu erzeugen. Dann veränderten sich die Schatten. Sie wurden tiefer, nahmen eine Schwärze an, die sie selbst in der Nacht noch dunkel erscheinen ließ, ballten sich zu etwas, das vage an die Umrisse eines menschlichen Körpers erinnerte, aber viel massiger und größer war. Wo Lassars Auge und Ohr den Boden berührten, rollten sich die empfindlichen Farnwedel weiter ein, überzogen sich mit hellen, fleckigen Krusten von Raureif und verdorrten. Ein besonders dummes Insekt, dem sein Fressen wichtiger gewesen war als die Warnung, die ihm seine uralten Instinkte zuschrien, fiel mit zuckenden Beinen auf die Seite und starb.

Und noch etwas war anders als sonst. Lassars Schatten blieb kein flüchtiger Schemen. Nur für Augenblicke stand er lautlos da, ein bloßer Hauch, den menschlichen Sinnen so unsichtbar, dass Jeder, der des Weges gekommen wäre, vielleicht einen unerklärlichen Schauer von Furcht verspürt hätte, sonst aber nicht gezögert hätte, geradewegs durch ihn hindurchzuschreickten. Dann vertieften sich die Schatten weiter. Der bizarre Umriss schrumpfte, bis er die Größe eines normal gewachsenen Mannes erreicht hatte, verdichtete sich weiter und nahm mehr und mehr Farbe und feste Form an. Es ging ganz schnell.

Die verdorrten Farnbüschel knisterten unter seinen Stiefeln wie trockenes Pergament, als sich der Mann umwandte und geduckt auf das Lager zuhuschte.

12

Er hatte vorgegeben, die Wachen noch einmal kontrollieren zu wollen, aber in Wahrheit war es eine Flucht. Gwenderon fühlte sich verstört und verunsichert wie niemals zuvor. Ihr Gespräch hatte sich im Kreise gedreht und wieder einmal zu nichts geführt, und so gerne er Resnec die Schuld daran gegeben hätte, wusste er doch, dass das nicht stimmte. Den größten Teil der Zeit, die er im Lager war, verbrachte er mit Beratungen und Plänen, die zu nichts anderem führten als zu Kopfschmerzen und Ärger. Es war wohl so, wie Animah gesagt hatte – ihr Aufstand war jung und jeder von ihnen musste das Rebellenhandckwerk erst noch lernen. Tatsache war, dass sie sich wie die Tiere hier im Wald verkrochen und sich bisher nicht einmal geeinigt hatten, wie sie Lassar bekämpfen sollten; geschweige denn es taten. Die wenigen Nadelstiche, die sie ihm bisher versetzt hatten, taten ihm nicht einmal weh. Bisher hatte sich nicht nur Gwenderon stets an die Hoffnung auf den Herbst geklammert, vielleicht auch das nächste Frühjahr, wenn sie genug Waffen und Männer zusammenhatten, um eine offene Konfrontation mit Lassar wagen zu können.

Aber was – wenn Resnec Recht hatte? Wenn sie im nächsten Frühjahr aus dem Wald brachen und sich plötzlich auf der Seite des Unrechts sahen, weil für die Welt draußen, auf deren Hilfe sie so bitter angewiesen waren, sie es waren, die Hochwalden bedrohten?

Gwenderon bemerkte, dass sich seine Gedanken im Kreise zu drehen begannen. Das ungute Gefühl, das ihn schon den ganzen Tag über gequält hatte, war schlimmer geworden und hatte im Laufe der letzten Minuten fast die Intensität eines körperlichen Schmerzes erreicht. Auf seinen Gedanken schien ein dumpfer, betäubender Druck zu lasten. Er kam sich vor wie ein Mann, der auf die aufgeschlagenen Seiten eines Buches starrte und plötzlich feststellen muss, dass er das Lesen verlernt hatte. Selbst das Denken fiel ihm schwer.

Nach einer Weile hörte er Schritte. Als er den Kopf wandte, erkannte er Resnecs schlanke Gestalt als flachen Schattenriss gegen das Schwarz des Himmels. Demonstrativ wandte er sich ab. Er wollte nicht reden. Schon gar nicht mit Resnec.

Aber Resnec ignorierte seine Geste, obwohl er sie bestimmt bemerkte. Schweigend trat er neben ihn, blickte einen Moment zu Boden und deutete dann zum Waldrand.

»Ihr kontrolliert die Wachen?«, fragte er. »Darf ich Euch begleiten?«

»Nein«, knurrte Gwenderon und ging weiter. Resnec ignorierte seine Antwort und folgte ihm. Gwenderon ballte stumm die Faust und beherrschte sich mit aller Gewalt, sie Resnec nicht ins Gesicht zu schlagen.

»Was willst du?«, fragte er wütend. »Dich in mein Vertrauen schleichen?«

»Es erbitten«, antwortete Resnec ruhig. »Aber das hat wohl wenig Sinn, wie?«

»Ganz recht«, sagte Gwenderon. »Was –«

»Was«, unterbrach ihn Resnec mit ganz leicht erhobener, aber auch nicht zorniger Stimme, »muss ich tun, um Euch zu beweisen, dass ich nicht mehr Euer Feind bin, Gwenderon?«

»Nimm dein Schwert und stürze dich hinein«, fauchte Gwenderon. »Das wäre zum Beispiel ein Beweis.« Resnecs Augen verdunkelten sich noch mehr, aber er schluckte die scharfe Antwort, die ihm sichtlich auf der Zunge lag, herunter und schüttelte nur den Kopf.

»Glaubt nicht, dass ich Euch nicht verstehe, Gwenderon«, sagte er. »Wäre ich an Eurer Stelle, würde ich wohl nicht anders reagieren.«

»Warum bist du dann hier?«, fragte Gwenderon. »Wenn du dich wirklich von Lassar losgesagt hast, wie du behauptest, warum steigst du dann nicht auf dein Pferd und reitest, bis du über den Rand der Welt fällst?«

Resnec seufzte. »Weil man vor Lassar nicht davonlaufen kann«, sagte er. »Du kannst Lassars Freund sein oder sein Feind, Gwenderon, nichts dazwischen. Ganz egal, wo ich mich vor ihm verbergen würde, er würde mich finden. Ich kann ihm dienen oder ihn bekämpfen.«

»Wenn du glaubst, wir würden dich vor ihm beschützen, dann täuschst du dich«, sagte Gwenderon böse. »Wir haben genug mit unseren eigenen Problemen zu tun, Resnec.«

»Ich suche keinen Schutz«, erwiderte Resnec. »Wahrscheincklich wird er mich töten, so wie er euch alle töten wird, aber hier habe ich wenigstens eine Chance. Und ich kann euch nützlich sein. Ich weiß mehr über Lassar als irgendein anderer.«

Gwenderon wollte antworten, stieß aber dann nur ein zorniges Schnauben aus und wandte sich mit einem Ruck um. Eine dünne, aber sehr beharrliche Stimme in seinen Gedanken sagte ihm, dass Resnec möglicherweise doch die Wahrheit sprach. Aber er wollte sie nicht hören.

Schweigend gingen sie nebeneinander durch das Lager, erreichten die Lücke in der noch nicht ganz geschlossenen Palicksade und drangen ein paar Schritte tief in den Wald ein. Gwenderon blieb stehen, hob die Hände an den Mund und ahmte den Ruf eines Nachtvogels nach. Hoch oben über ihnen in den Zweigen raschelte es und der Ruf wurde erwidert; zweimal hintereinander und in leicht veränderter Tonlage. Gwenderon nickte zufrieden und ging weiter.

Nacheinander kontrollierten sie sämtliche Posten, bis sie das Lager einmal umrundet hatten und wieder am Ausgangspunkt angelangt waren. Aber auch dann machte Gwenderon noch keine Anstalten zurückzugehen, sondern blieb stehen und starrte scheinbar gedankenverloren in die Nacht. Er wartete darauf, dass Resnec sich endlich zum Teufel scherte und ihn allein ließ. Aber Resnec rührte sich nicht.

Schließlich wurde es Gwenderon zu viel. »Also«, sagte er. »Was ist es, Resnec? Ich habe keine Lust, die ganze Nacht hier draußen zu verbringen – also sag mir, was du sagen willst.«

Resnec lächelte flüchtig. »Bin ich so leicht zu durchschaucken?«

Gwenderon antwortete gar nicht.

»Es gibt tatsächlich etwas, was ich mit dir bereden wollte«, begann Resnec umständlich. »Aber ich wollte erst allein mit dir sprechen; ohne die anderen.« Plötzlich wirkte er verlegen. »Du traust mir immer noch nicht«, sagte er.

»Nein«, sagte Gwenderon kalt.

»Trotzdem möchte ich erst mit dir reden«, beharrte Resnec. »Gerade weil du mir nicht traust, ist es wichtig. Es ist ein Plan, auf den mich Guarr gebracht hat, vorhin, bei eurer … Unterreckdung. Es ist vielleicht eine verzweifelte Idee, aber ich glaube, dass ich eine Chance hätte.«

»Wobei?«, fragte Gwenderon. Misstrauisch blickte er Resnec an, aber der wich einen Schritt weit in die Dunkelheit zurück, bis sein Gesicht zu einem hellen Fleck wurde und Gwenderon den Ausdruck auf seinen Zügen nicht mehr erkennen konnte.

»Du weißt wobei«, sagte er leise. »Guarr hatte vollkommen Recht mit dem, was er sagte. Wir müssen zuschlagen, ehe sie es können.«

»Und wie? Keiner von uns käme auch nur auf fünfhundert Schritt an Hochwalden heran.«

»Keiner von euch«, bestätigte Resnec. »Das stimmt. Aber ich vielleicht.«

»Du bist verrückt!«, entfuhr es Gwenderon, aber Resnec unterbrach ihn mit einer Handbewegung und fuhr leise, aber sehr erregt fort: »Das bin ich nicht. Ich wollte es schon vorhin vorckschlagen, aber ich habe befürchtet, dass Mannon und dieses Rattengesicht genauso reagieren würden wie du jetzt. Ich bin vielleicht der Einzige, der eine Chance hat, Hochwalden zu betreten und auch lebend wieder zu verlassen.«

»Und wie?«, fragte Gwenderon. »Bist du vielleicht immun gegen Lassars Zauber?«

»Das nicht. Aber ich kenne ihn wie kein Zweiter, Gwenderon. Ich war so lange sein Sklave, dass ich gelernt habe so wie er zu denken. Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber ich bin sicher, dass ich eine Chance habe. Und ich bin es euch allen schuldig. Lass es mich versuchen, Gwenderon. Ich könnte mich in die Burg schleichen und versuchen …«

»… auf möglichst originelle Weise umgebracht zu werden, ja«, unterbrach ihn Gwenderon. »Oder vor Lassar niederzuknien und ihm zu berichten, was du hier gesehen hast.« Zornig schüttelte er den Kopf. »Kein Wort mehr, Resnec. Ich werde dieses Gespräch vergessen, und du tätest gut daran, es ebenfalls zu tun.«

»Aber ich …«

»Kein Wort mehr, habe ich gesagt!«, sagte Gwenderon streng. »Ich lasse nicht zu, dass du uns alle in Gefahr bringst, nur weil du glaubst uns irgendetwas schuldig zu sein!«

»Du glaubst, ich würde euch verraten.«

Gwenderon antwortete nicht.

»Du glaubst, ich würde die erste Gelegenheit nutzen, zu Lassar zurückzukehren. Warum sollte ich so etwas Dummes tun? Warum hätte ich herkommen sollen, wenn es so wäre?« Resnec trat erregt auf ihn zu und hob die Arme. Wenn er noch einen Schritt näher käme, dachte Gwenderon, würde er ihn niederckschlagen. »Verdammt, Gwenderon, ich …«

Irgendwo in der Dunkelheit hinter Resnec bewegte sich ein Schatten. Plötzlich erscholl ein heller, sirrender Laut. Resnec schrie auf, sprang mit einer blitzartigen Bewegung vor Gwenderon und stieß ihn zurück, und plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag und aus Resnecs Schrei wurde ein unartikuliertes Stöhnen. Seine Augen wurden groß vor Schmerz und Unglauben. Er taumelte, griff Halt suchend mit beiden Händen nach Gwenderon und stürzte schließlich mit einem seufzenden Laut zu Boden. Aus seiner verletzten Schulter ragte der Schaft eines Pfeiles.

Alles ging unglaublich schnell. Gwenderon hörte das helle Peitschen der Bogensehne ein zweites Mal, warf sich zur Seite und spürte einen dumpfen, betäubenden Schlag im Gesicht.

Er fiel, sprang fast sofort wieder auf die Füße und brach dann rücksichtslos durch das Unterholz. Irgendwo hinter ihm im Wald erscholl der misstönende Schrei eines Hornes. Sekunden später hörte man aufgeregtes Rufen aus dem Lager. Gwenderon aber achtete nicht darauf. Er stürmte mit gezücktem Schwert und brüllend vor Wut weiter, auf den Schatten und das verräterische Blitzen von Metall zu, das er gesehen hatte.

Der Mann war dabei, mit fliegenden Fingern seinen dritten Pfeil auf die Sehne zu legen, als Gwenderon ihn erreichte. Als er den grauhaarigen Riesen heranstürmen sah, warf er sich blitzschnell zur Seite, trat nach seinen Beinen und riss den Bogen wie einen Schild über den Kopf.

Das Schwert zerschmetterte das fingerdicke Eibenholz, zerriss das Kettenhemd des Attentäters, als bestünde es aus Papier, und hinterließ einen handlangen, blutigen Riss auf seickner Haut. Jeder normale Mensch hätte sich vor Schmerz gekrümmt oder wenigstens geschrien, aber der Angreifer schien die Verletzung nicht einmal zu spüren. So schnell, dass Gwenderon die Bewegung kaum sah, rollte er herum, sprang auf die Füße und schmetterte Gwenderon mit einem wütenden Hieb die Klinge aus der Hand.

Gwenderon taumelte. Seine Waffenhand war gelähmt, wo ihn die Faust des Mannes getroffen hatte, und noch ehe er dazu kam, schützend die Arme hochzureißen, traf ihn ein zweiter, unglaublich harter Schlag, der ihn gegen einen Baum prallen und haltlos in die Knie brechen ließ. In der Hand des rasenden Schattens, der plötzlich über ihm war, blitzte ein Dolch.

Und dann war plötzlich ein zweiter Schatten hinter dem ersten, eine rasche, schlagende Bewegung, und der Dolch, der auf Gwenderons Gesicht gezielt hatte, flog im hohen Bogen davon. Gwenderon stöhnte. Seine Rippen schmerzten, als hätte ihn eine Lanze getroffen. Er konnte kaum atmen. Die beiden kämpfenden Schatten vor ihm verschmolzen zu einem einzigen wirbelnden Umriss mit schemenhaft erkennbaren Armen und Beinen, und plötzlich erscholl ein heller, knackender Laut und einer der Schatten erschlaffte und sank reglos zu Boden.

Gwenderon blieb sekundenlang schwer atmend hocken, ehe er die Kraft fand, sich auf Hände und Knie hochzustemmen und zu den beiden reglosen Körpern hinüberzukriechen. Rescknec lag stöhnend auf dem Rücken, das Gesicht eine Grimasse der Qual, die Hand auf die Schulter gepresst, die der Pfeil des Attentäters ein zweites Mal durchbohrt hatte. Der Attentäter lag neben ihm, den Kopf in unmöglichem Winkel zur Seite geneigt, das Genick gebrochen. Die Dunkelheit machte den Toten zu einem schwarzen Schatten, aber Gwenderon musste ihn nicht genau sehen, um zu wissen, dass er auf die gleiche Weise gekleidet sein würde wie der Mann, der ihn vor Tagesfrist angegriffen hatte. Und dass er in seiner Tasche eine kleine, durchbrochene Goldmünze finden würde: den Kopfpreis, den Lassar auf ihn ausgesetzt hatte.

Nach einer Weile richtete sich Gwenderon auf, schob das Schwert in den Gürtel und beugte sich zu Resnec herab. Im Lager waren Feuer aufgeflammt und die Stille der Nacht war dem aufgeregten Rufen Dutzender Stimmen gewichen. Hastige Schritte näherten sich ihnen, Metall blitzte, Schatten umringten sie, und als Gwenderon aufsah, erkannte er in zweien von ihnen Mannon und Guarr und etwas hinter ihnen, vor Schrecken erstarrt, aber den Bogen mit aufgelegtem Pfeil in der Hand, Animah. In ihrem Blick war ein Vorwurf, den Gwenderon nicht mehr verstand.

»Was war das?«, fragte der Zwerg aufgeregt. »Ein Attentäckter?«

Gwenderon nickte. Er fühlte sich wie betäubt. »Ja«, erwiderte er halblaut. »Ein Attentäter, Mannon. Ein Mann von den Inseln.« Er ballte die Faust, hob die Hand vor das Gesicht und ließ den Arm dann mit einer kraftlosen Bewegung wieder sinken. »Ein Gruß von Lassar«, murmelte er. »Damit wir uns nicht sicher fühlen.«

Mannon antwortete nicht, aber der Ausdruck von Schrecken in seinen dunklen Zwergenaugen wuchs. Plötzlich fuhr er zusammen und deutete mit der Hand auf Gwenderons Gesicht.

»Du blutest ja!«

Gwenderon hob verwirrt die Hand, tastete nach seiner Wange und fühlte warmes Blut, das aus einem fingerlangen Schnitt unter seinem Auge quoll und sein Gesicht besudelte. Es tat weh, jetzt, als er sich der Wunde bewusst wurde.

Trotzdem machte er nur eine wegwerfende Handbewegung, nachdem er sich mit dem Hemdsärmel das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte.

»Das ist nichts«, sagte er. »Ein Kratzer. Mehr nicht.«

Er lächelte, um seine Worte zu unterstreichen, wandte sich wieder um und ging abermals neben Resnec in die Hocke.

Resnec war bei Bewusstsein, aber in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, als Animah auf seiner anderen Seite niederkniete und mit spitzen, kundigen Fingern nach dem Pfeil in seiner Schulter tastete. Dann, ganz plötzlich, klärte sich sein Blick und er sah Gwenderon an.

»Nun, Gwenderon«, flüsterte er. »Glaubt Ihr jetzt, dass Ihr nicht einmal hier sicher seid?«

Gwenderon schwieg. Das plötzliche Auftauchen des Attentäckters hatte ihn mehr erschreckt, als er jetzt schon zuzugeben bereit war. Er hatte gehofft, dass sie wenigstens hier sicher seien.

»Dieser Pfeil galt dir«, vermutete Animah.

Gwenderon nickte. »Er hätte getroffen«, sagte er zögernd. Seine nächsten Worte, die er an Resnec wandte, kosteten ihn große Überwindung. »Es sieht so aus, als verdanke ich dir mein Leben, Resnec. Ich danke dir.«

Resnec lachte mühsam. »Und gleichzeitig fragst du dich, ob der Pfeil nicht doch sein wirkliches Ziel getroffen hat, nicht wahr? Du fragst dich, ob es wirklich Zufall war, dass der Mann ausgerechnet jetzt auftauchte. Schließlich …« Er stockte, presste schmerzhaft die Lippen zusammen und fuhr mit leiser, immer wieder stockender Stimme fort: »Schließlich gibt es keine bessere Möglichkeit, das Vertrauen eines Mannes zu gewinnen, als ihm das Leben zu retten, nicht wahr?«

Gwenderon schwieg. Resnec sprach tatsächlich nur das aus, was auch er dachte, wenngleich vielleicht auch nicht in dieser Offenheit und Härte. Er spürte, wie ihn alle anderen anstarrten. Es war ihm peinlich, dass er so leicht zu durchschauen war.

»Was muss ich noch tun, um Euch zu beweisen, dass ich auf Eurer Seite stehe, Gwenderon?«, stöhnte Resnec. »Ihr würdet mir nicht einmal glauben, wenn ich Euch Lassars Kopf brächte, wie? Aber ich werde Euch … beweisen, dass ich kein Verräter bin.«

Gwenderon antwortete noch immer nicht, sondern starrte Resnec nur an. Und nach einer Weile drehte er sich herum und ging mit langsamen Schritten zu seiner Hütte zurück. Die Wunde auf seiner Wange blutete noch immer. Sie tat sehr weh.

13

Über den Zinnen von Hochwalden war die Sonne aufgegangen. Die Nacht war dem ersten Grau der Dämmerung und wenig später strahlendem Sonnenschein gewichen, und als wolle sich die Natur für das anhaltende schlechte Wetter der letzten Wochen entschuldigen, war es bereits jetzt warm. Cavin hatte nicht einmal gemerkt, dass die Nacht wich. Spät am Abend des vergangenen Tages war er zurückgekommen und hier hinaufgegangen und seither hatte er den Raum nicht verlassen, er hatte nicht einmal gespürt, wie die Zeit verstrich; und wenn, wäre es ihm gleich gewesen. Der Ratssaal war noch immer vom flackernden Licht der Kerzen erhellt und beiderseits der Tür schwelten noch immer die Fackeln, die die Diener nach seiner Rückkehr entzündet hatten, obwohl das Licht des neuen Tages ihren Glanz längst überstrahlte.

Cavin fühlte sich noch immer wie betäubt. Die unheimliche, lähmende Kälte, die Besitz von seiner Seele ergriffen hatte, war nicht gewichen, aber auch der furchtbare Schmerz, auf den er wartete, kam nicht. Sein Blick saugte sich an dem Schattengesicht seines Gegenübers fest, ohne dass er es wirklich sah. Er sah Gwenderon. Immer wieder Gwenderon. Zum ersten Mal in seinem Leben begann er zu spüren, was das Wort Hass bedeuckten mochte.

»Nun?«, fragte er leise. »Ihr hattet Zeit genug, Euch mein Angebot zu überlegen, Lassar. Nehmt Ihr es an?«

Seine Stimme klang seltsam fremd in der lastenden Stille, die sich über den Saal gebreitet hatte. Es war eine Stille ganz sonderbarer, körperlicher Art, als wäre sie nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern das Dasein von etwas anderem, Finsterem. Und vielleicht war es auch so. Vielleicht – nein, nicht vielleicht: Cavin war jetzt sicher, dass mit Lassar noch etwas anderes, Finsteres nach Hochwalden gekommen war. Aber es war ihm jetzt gleich. Alles war ihm gleich. Er hätte sich mit dem Teufel persönlich verbündet, um Gwenderon zu bekommen. Vielleicht hatte er es.

Lassar war ein flackernder, schwarzer Schatten, der wie ein Stück Wirklichkeit gewordener Traum vor dem Fenster stand und das Sonnenlicht verschluckte: die gleiche, unheimliche Erscheinung, in der Cavin ihn kennen und fürchten gelernt hatte. Und trotzdem hatte er sich verändert, schien auf unbestimmckte Weise gegenwärtiger und körperlicher geworden, als wäre jetzt etwas mehr von seiner furchtbaren Gestalt nach Hochwalden gelangt. Nicht sehr viel, aber doch eine Winzigkeit mehr als nur ein bloßer Schatten.

Und es war etwas seltsam Vertrautes an ihm.

Cavin verscheuchte den Gedanken und richtete sich ein wecknig auf. Er war müde; sein Rücken schmerzte vom langen, regcklosen Sitzen auf dem unbequemen Thron und auch seine Hand tat weh. Gwenderons Schwerthieb hatte ihm das Gelenk verckstaucht.

»Was Ihr verlangt, ist viel, mein Prin… mein König«, verckbesserte sich Lassar. »Das wisst Ihr.«

»Ich verlange nichts«, antwortete Cavin kalt. »Ich schlage Euch einen Handel vor. Ein Geschäft, bei dem Ihr mehr bekommt als gebt, und das wisst Ihr.«

»Euer Vater gab mir sein Wort«, erinnerte Lassar, aber Cavin unterbrach ihn mit einem ärgerlichen Kopfschütteln.

»Das weiß ich«, schnappte er. »Und ich stehe zu seinem Wort, Lassar. Aber die Verträge, die Ihr mit König Oro geschlossen habt, gelten nur für kurze Zeit. Irgendwann werdet Ihr zu mir kommen und sie verlängern wollen. Vielleicht ist Euch dann daran gelegen, einen Partner zu haben, der Euch etwas schuldig ist.«

Lassar starrte ihn einen Herzschlag lang aus seinen grundlocksen, schwarzen Augen an. Dann lächelte er. »Ihr lernt schnell, König Cavin«, sagte er anerkennend.

»Ich hatte gute Lehrmeister«, erwiderte Cavin kalt. »Also?«

Lassar zögerte noch immer. »Die Entscheidung, die Ihr vercklangt, Cavin, ist nicht so leicht«, sagte er ausweichend. »Ihr wisst besser als ich, dass Euer Reich nicht mit irgendeinem anderen Königreich zu vergleichen ist. Der Schwarzeichenwald ist heilig. Was würden die Könige Eurer Nachbarländer sagen, wenn ein Heer meiner Krieger seinen Boden betreten würde?«

»Habt Ihr Angst?«, fragte Cavin böse.

Lassar zog eine Grimasse. »Es geht nicht um mich«, sagte er ärgerlich. »Stünde sonst nichts auf dem Spiel, würde ich diese Rebellen in einer Woche vom Antlitz der Erde fegen und Euch Gwenderons Kopf zu Füßen legen, sogar ohne irgendeine Gegenleistung. Ihr seid es, der Schaden davontragen könnte, würde ich zu offen …«

»Was kümmert Euch mein Schicksal?«, schnappte Cavin. Wütend fuhr er auf und schlug so heftig mit der Faust auf die Sessellehne, dass das Holz knackte. »Ich will Gwenderon!«, schrie er. »Ich will, dass der feige Mord an meinem Vater gerächt wird, und es ist mir egal, was die Welt dazu sagt!«

»Sie wird nichts dazu sagen«, antwortete Lassar ruhig. »Nicht, solange es Eure Krieger sind, die die Rebellen fangen und töten.«

»Ich habe nicht genug Männer«, antwortete Cavin, noch immer erregt, aber doch schon merklich ruhiger. »Hochwalden hat niemals mehr als eine Hand voll Krieger gehabt. Es wäre sinnlos, Gwenderon mit ein paar Dutzend Reitern suchen zu wollen. Und wahrscheinlich wäre er uns sogar überlegen. Habt Ihr vergessen, dass er sich mit Raetts verbündet hat?«

»Trotzdem«, beharrte Lassar. »Es ist gefährlich. Vergesst nicht, was Eurem Vater geschehen ist. Gwenderon ist ein Verräter und wahrscheinlich ist er sogar verrückt. Aber er ist auch ein Fanatiker. Würde mein Heer in den Wald eindringen, würde er überall die Nachricht verbreiten, dass ich am heiligen Wald frevele.« Er sah Cavin durchdringend an. »Es könnte sein, dass ich ihm helfe statt ihn zu vernichten, mein König. Ich möchte nicht eines Tages nach Hochwalden kommen und ihn auf dem Thron finden, der Euch zusteht.«

Cavin starrte ihn aus brennenden Augen an. »Also versagt Ihr mir Eure Hilfe?«

»Natürlich nicht«, antwortete Lassar. »Aber wir sollten warten.«

»Warten?«, fauchte Cavin. »Worauf, Lassar? Bis er hierher kommt und sich Hochwalden nimmt?«

»Bis Euer Schmerz ein wenig abgeklungen ist, König Cavin«, erwiderte Lassar ruhig. Cavin wollte auffahren, aber die Schattengestalt trat einen halben Schritt auf ihn zu und hob begütigend die Hand. »Verzeiht, wenn es so klingt, als wolle ich Euch belehren, Cavin«, sagte er sanft. »Aber Ihr seid jung und Ihr hattet niemals Gelegenheit, Euch an diese Seite des Lebens zu gewöhnen. Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass es niemals gut ist, auf die Stimme der Rache zu hören. Eure Geckdanken sind erfüllt von Gram über den Tod Eures Vaters und Zorn über den Frevel, den Gwenderon begangen hat. Gebt Euch selbst und mir ein wenig Zeit, die nötigen Schritte zu bedenken. Mir ist so sehr an Gwenderons Tod gelegen wie Euch, denn er ist für den Mord an einem meiner besten Männer verantwortlich. Aber wir müssen klug vorgehen. Kraft allein reicht nicht aus, um Gwenderon zu schlagen. Der Preis dafür könnte zu hoch sein. Wenn wir Gwenderon schlagen wollen, dann mit seinen eigenen Waffen. Lasst die Kunde von Gwenderons Verrat im ganzen Land verbreiten. Bittet Eure Freunde und Nachbarn um Hilfe und stellt ein Söldnerheer auf. Oro war ein beliebter Mann. Die Menschen werden in Scharen zu den Waffen eilen, wenn sie erfahren, auf welche Weise er starb.«

»Ein Söldnerheer?« Cavin überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »So etwas würde Jahre dauern, Lassar. Und es kostet Geld. Mehr Geld, als ich habe. Hochwalden ist nicht reich.«

Lassar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn es nur Gold ist, um das Ihr mich bittet, dann gebe ich es Euch. Verrechnet es meinetwegen als Vorschuss auf die Verträge, die ich mit Eurem Vater schloss. Und was die Zeit angeht – mit meiner Hilfe wird das Heer in drei Monaten bereit sein.«

Er lächelte, sehr dünn und sehr hässlich. »Es ist manchmal von Vorteil, zur gleichen Zeit an mehreren Orten sein zu können.« Wieder lächelte er und für einen Moment war Cavin fast sicher, einen Ausdruck von Triumph in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Aber seine Stimme klang unverändert, als er weicktersprach: »Ich verstehe und teile Euren Schmerz, König Cavin, denn Euer Vater war ein Mann, dem auch ich Achtung gezollt habe, und auch ich will, dass der feige Mörder seine gerechte Strafe bekommt.«

Plötzlich löste er sich von seinem Platz am Fenster, trat auf Cavin zu und streckte ihm eine Hand entgegen, die aus Rauch und Dunkelheit geformt zu sein schien.

»Schlagt ein, Cavin«, sagte er, »und in drei Monaten, von heute an gerechnet, sende ich Euch fünfhundert Männer mit Waffen und Pferden. Ich verlange nichts dafür. Nichts als Eure Freundschaft.«

Cavin zögerte. Der Gedanke, diesen fürchterlichen Schattenkörper berühren zu sollen, erfüllte ihn mit Entsetzen. Aber dann sah er wieder das Gesicht seines toten Vaters vor sich und er dachte an Gwenderon und seinen Verrat und den Frevel, den er darüber hinaus begangen hatte. Mit einer fast zornigen Beckwegung stand er auf und ergriff Lassars Rechte.

Es war ein Gefühl, als würde er brennendes Eis berühren, und Cavin wusste im gleichen Moment, in dem er es tat, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Einen Pakt, der ihn mehr, viel mehr kosten würde, als er jetzt schon ahnte.

Aber auch dieser Gedanke erstickte unter einer neuen Woge von Hass. Er griff fester zu, drückte Lassars Hand mit trotziger Kraft und genoss den Schmerz sogar, den die Berührung verurcksachte.

Er schob den Gedanken beiseite, dass Lassars Lächeln wirkcklich das bedeutete, was er darin zu sehen glaubte.

14

Eine Woche lag er im Fieber, eine weitere etwas ruhiger, in einem normalen, wenngleich noch immer sehr tiefen und von üblen Träumen geplagten Schlaf. Als er erwachte – zum ersten Male wirklich erwachte, nicht für Augenblicke hochschrak und wieder in seinen Dämmerzustand versank, ohne mehr als wirre Bilder und Eindrücke mit hinüber ins Reich der Alpträume zu nehmen –, war es Nacht. Durch den unverschlossenen Eingang seiner Laubhütte konnte er einen kleinen Ausschnitt des Himmels sehen, ein dunkelblaues Band über der gewellten schwarckzen Linie des Waldes, übersät mit zahllosen winzigen Lichtpunkten. Es war warm. Der rote Schein eines fast völlig heruntergebrannten Feuers erhellte die kleine Hütte, und auf seiner unverletzten Schulter lag eine Hand, so schlaff und weich, dass er wusste, dass ihr Besitzer schlief, noch ehe er den Kopf wandte.

So vorsichtig seine Bewegung war, sie war heftig genug, Animah aufzuwecken. Die schwarzhaarige Frau schrak zusammen, zog die Hand zurück und starrte ihn einen Moment lang mit noch leerem Blick an, ehe sie sich in ein Lächeln rettete. Resnec versuchte es zu erwidern, aber nach sechs Tagen und Nächten gehorchten ihm seine Muskeln noch nicht völlig wieder.

»Du … bist wach«, murmelte Animah. Ihr Gesicht war bleich. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen und kündeten von zu vielen Nächten mit zu wenigen Stunden Schlaf.

»Ich muss … eingeschlafen sein«, sagte sie verlegen. »Verckzeih. Wie fühlst du dich?«

Objektiv betrachtet war das eine ziemlich dumme Frage, dachte Resnec. Trotzdem freute sie ihn; vielleicht, weil es zu lange her war, dass sich irgendjemand Sorgen um ihn gemacht hatte. Er versuchte abermals zu lächeln – diesmal gelang es –, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schale mit Wasser, die neben Animah auf dem Boden stand. Sie beugte sich herab, hob seicknen Kopf mit der Linken ein wenig an und setzte ihm mit der anderen Hand die Schale an die Lippen.

Resnec leerte sie bis zur Neige. Hinterher war sein Durst nicht kleiner, aber seine Lippen und seine Zunge fühlten sich geschmeidiger an und er konnte wenigstens versuchen zu reckden. »Wie lange … habe ich … geschlafen?«, fragte er stockend.

Animah setzte die Schale ab und tupfte ihm mit einem sauberen Tuch über die Lippen, als wäre er ein Säugling, ehe sie antwortete: »Zwölf Tage und Nächte. Du wärst beinahe gestorckben.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf seine geschwollenen Schultern. »Der Pfeil war vergiftet. Guarrs Leute brachten uns eine Salbe. Ohne sie hättest du den ersten Tag nicht überlebt.« Sie zögerte einen ganz kurzen Moment, ehe sie hinzufügte: »Der Arm wird für lange Zeit steif bleiben. Vielleicht für immer.«

Obwohl ihre Worte ihn hätten erschrecken müssen, taten sie es nicht. Alles, was Resnec empfand, war ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit, dass Animah so offen zu ihm war. Seit seiner Trennung von Lassar hatte er eine tiefe Abneigung gegen jede Art von Lügen entwickelt.

»Hast du … die ganze Zeit hier gesessen?«, fragte er.

Animah schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht«, sagte sie, und Resnec spürte, dass dies eine Lüge war. »Wir haben uns abgewechselt. Die meiste Zeit über war einer von Guarrs Raetts hier. Gwenderon«, fügte sie hinzu, und Resnec spürte, dass es eine weitere Lüge war, »war auch ein paar Mal hier und hat sich nach deinem Befinden erkundigt.«

»Wollte er wissen, ob ich schon tot bin?«, fragte Resnec.

»Du bist verbittert«, stellte Animah fest.

»Und ich habe kein Recht dazu, meinst du?«

Animah schwieg. Dann, nach einer Weile, schüttelte sie den Kopf, lächelte und gab sich einen sichtlichen Ruck. »Was reckden wir«, sagte sie mit veränderter, viel energischerer Stimme. »Du bist krank und solltest dich auf nichts anderes konzentrieren als darauf, möglichst rasch wieder gesund zu werden. Und es hilft dir nicht dabei, wenn du finstere Gedanken wälzt.«

Plötzlich glaubte Resnec zu begreifen, dass die Fürsorge, die er in ihrer Stimme und ihrem Blick las, gar nicht ihm selbst galt. Trotz ihres abenteuerlichen Äußeren und ihres manchmal bewusst harten Auftretens war Animah im Grunde eine sehr sanfte Frau, und es war nichts als die gleiche Pflege, die sie auch einem kranken Pferd hätte angedeihen lassen; oder einem von Guarrs Raetts, wäre er verletzt. Sie pflegte einen Kranken, und sie tat es mit aller Aufopferung und Kraft, deren sie fähig war. Es spielte keine Rolle, ob er Resnec hieß oder ein braunes Gesicht mit Knopfaugen hatte. Ein ganz kleines bisschen war er enttäuscht, aber nicht sehr tief und nicht sehr lange. Was hatte er erwartet? Er hatte diesen Männern und Frauen hier mehr angetan, als er in zehn Leben wieder gutmachen konnte.

Und – und dieser Gedanke erschreckte ihn wirklich – wollte er es überhaupt? War er wirklich hier, um Gwenderon und den anderen zu helfen, den Schwarzeichenwald zu beschützen und Cavin zu befreien, oder vielleicht nur, um sich an Lassar zu rächen?

»Du musst Gwenderon verstehen«, sagte Animah plötzlich. »Er hat zu viel verloren. Gib ihm ein wenig Zeit.«

»Ich verstehe Gwenderon«, antwortete Resnec. »Wen ich nicht verstehe, das bist du, Animah. Du und Mannon und die anderen …« Er richtete sich ein wenig auf, obwohl die Bewegung einen dumpfen Schmerz in seiner Schulter auslöste. »Wieso traut ihr mir mit einem Male?«

Die Frage schien Animah zu überraschen, denn es dauerte eine geraume Weile, bis sie antwortete. »Vielleicht weil Guarr dir vertraut.« Sie lächelte, als sie seine Verwirrung bemerkte. »Es mag dir verrückt vorkommen, aber … Guarr würde wissen, wenn du uns belügst. Und du könntest es nicht einmal, wenn du wolltest. Es ist so, wie der Zwerg behauptet, Resnec – Lassars Zauber hat hier keine Macht.«

»Du hast mit den Raetts gesprochen«, vermutete Resnec.

Animah schüttelte den Kopf, nickte und schüttelte gleich darauf abermals den Kopf. »Ich habe es versucht«, sagte sie. »Aber diese Raetts sind ein sonderbares Volk. Die meisten verstehen unsere Sprache mittlerweile recht gut und Guarr spricht sie beinahe perfekt, aber jedes Mal, wenn ich herauszuckbekommen versuche, was geschehen ist, nachdem Faroan dich an sie übergeben hat, scheinen sie alles Gelernte auf der Stelle zu vergessen.« Sie lächelte. »Ich nehme an, auch du willst nicht darüber reden?«

Resnec dachte einen Moment über ihre Frage nach. Wollte er über das reden, was er erlebt hatte? Er wusste es nicht.

Tatsache war, dass er es nicht konnte, nicht jetzt, nicht mit ihr, und wahrscheinlich überhaupt niemals und mit keinem anderen Menschen. Wie konnte er von jenem schrecklichen Ort erzählen, an dem er gewesen war? Wie sollte er in Worte fassen, wofür es keine Worte gab? Und wie sollte er ihnen berichten, was ihm diese entsetzliche Stimme erzählt hatte, ohne ihnen alle Hoffnung zu nehmen?

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht«, sagte er ernst. »Bitte frage nicht weiter, Animah. Ich … könnte es nicht einckmal, wenn ich es wollte.«

»Damit wird sich Gwenderon nicht zufrieden geben«, sagte Animah.

»Gwenderon.« Resnec seufzte, versuchte sich weiter aufzurichten und nickte dankbar, als Animah ihm dabei half. Obwohl seine Schulter so dick bandagiert war, dass er sich wie ein Buckeliger vorkam, spürte er kaum Schmerzen; allenfalls einen leichten Schwindel, der aber wohl eher auf die sechs Tage und Nächte zurückzuführen war, die er reglos dagelegen hatte. Überhaupt fühlte er sich erstaunlich kräftig, bedachte er, was geschehen war. »Es wird nicht leicht sein, sein Vertrauen zu gewinnen«, sagte er. »Dabei wäre es so wichtig. Ich fürchte, er weiß noch immer nicht, wie gefährlich Lassar wirklich ist.«

»Oh doch«, widersprach Animah. »Er weiß es, Resnec, glauckbe mir. Und er weiß wohl auch, auf welcher Seite du wirklich stehst. Gib ihm ein wenig Zeit, sich zu bedenken, ohne das Gesicht dabei zu verlieren. Er ist ein sturer alter Dickschädel, aber ein guter Mann.«

Zeit, dachte Resnec. Zeit war vermutlich das Einzige, was sie nicht hatten. Aber er sprach es nicht aus. Es hätte nichts genutzt.

»Du siehst müde aus«, sagte er stattdessen. »Geh und ruh dich aus. Ich komme allein zurecht. Und ich werde bestimmt nicht fortlaufen«, fügte er mit einer Geste auf seine bandagierte Schulter hinzu.

Animah lächelte pflichtschuldig. Die Sorge in ihrem Blick war nicht kleiner geworden, aber ihre Müdigkeit erwies sich als stärker. Sie nickte, stand sehr langsam und mit den umständlichen Bewegungen eines Menschen auf, der die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit längst überschritten hatte, und deutete zur Tür. »Wenn du irgendetwas brauchst, dann rufe einfach«, sagte sie. »Vor der Tür steht eine Wache. Es war Gwenderons Befehl«, fügte sie in entschuldigendem Tonfall hinzu. »Sobald die Sonne aufgeht, komme ich zurück. Mit Gwenderon. Und dann werde ich dafür sorgen, dass er dir zuhört.«

15

In dieser Nacht träumte er wieder. Erst spät am Abend des nächsten Tages hatte sich Cavin in sein Gemach zurückgezogen, nicht einmal aus Einsicht oder Müdigkeit, sondern nur, weil seine Diener in ihn drangen und auch Lassar zu bedenken gab, dass er jetzt schließlich König und somit für mehr als sein eigenes Wohlbefinden verantwortlich sei; und überdies, so fügckte er hinzu, würden die nächsten Tage anstrengend werden und sein kühles Überlegen fordern. Nachdem er sich einmal zurückgezogen und auf seinem Bett ausgestreckt hatte, begann sein Körper einfach zu fordern, was ihm Cavin vorenthalten hatte; er schlief ein, kaum dass sein Kopf die Kissen berührt hatte – und er träumte wieder. Es war der übliche Traum, der ihn seit Monatsfrist peinigte, die wogende Schwärze, von der er nun wusste, dass es die Megidda war, von der irgendetwas in ihm gewusst hatte, lange ehe er sie jemals zu Gesicht bekam, und die Furcht, die ihm noch immer so unerklärlich war wie zuvor. Aber dann änderte sich der Traum doch und er sah den Baum, aber es war kein Baum mehr, sondern eine gigantische, vielfingrige Klaue, die sich in den Himmel gekrallt hatte. Ströme von Blut liefen aus der Wunde, die sie in das Firmackment riss, tropften als roter, klebriger Regen zu Boden und durchtränkten die Männer, die an seinem Fuße durcheinander liefen. Erst kam es Cavin wie ein sinnloses Hin und Her vor, dann erkannte er, dass sie kämpften: Er sah sich selbst, er sah Lassar und seine Krieger, er sah Mannon und eine Anzahl Raetts in schwarzen Lederrüstungen, und Gwenderon, Gwenderon mit einem blutigen Schwert in der Hand, Gwenderon mit Kleidern und Haaren, die rot und schwer von Blut waren, Gwenderon mit dem abgeschlagenen Kopf seines Vaters in der Hand, Gwenderon mit einem Speer, mit dem er auf ihn eindrang – immer wieder Gwenderon, den Mann, den er wie nichts auf der Welt hasste.

Er erwachte übergangslos.

Sein Herz jagte. Obwohl er in Schweiß gebadet war, fror er, und für Augenblicke glaubte er noch die schwarzen Schemen seines Traumes wie schreckliche, finstere Nachtbilder auf seickner Netzhaut zu sehen. Dann begriff er, dass der Schatten neckben seinem Bett echt war. Er fuhr auf.

»Lassar? Was … was tut Ihr in meinem Schlafgemach? Wer hat Euch hereingelassen?«

Es war das erste Mal, dass er einen Schatten lächeln sah. »Niemand, mein König«, antwortete Lassar. »Vergebt Euren Wachen. Es ist nicht ihre Schuld. Ich weiß Wege, auf denen sie mich nicht aufhalten können. Ihr habt im Schlaf geschrien. Ich war in Sorge um Euch.«

»Ein Alptraum«, antwortete Cavin unwillig. »Es war nichts.«

»Nichts?« Lassar sah ihn einen Moment scharf an, dann wandte er sich um, ging zum Kamin und tat etwas mit den Flammen, das sie höher auflodern ließ, sodass sich der Raum mit flackernd roter Helligkeit erfüllte. »Ihr träumt von der Megidda und Ihr glaubt, es wäre nichts?«

»Woher kennt Ihr diesen Namen?«, fragte Cavin erschrocken. »Ihr … ihr wisst, was –«

»Ihr scheint zu vergessen, mein König«, unterbrach ihn Lassar, sehr sanft, aber auch voller Spott, »dass die Träume und Visionen mein Reich sind.«

Er drehte sich herum, ohne sich aus der gebeugten Haltung aufzurichten, in der er sich vor den Kamin gehockt hatte, und lächelte verzeihend. Cavin sah, dass das flackernde Rot der Flammen durch seine Hände hindurchschien. »Ich weiß, dass Euer Vater glaubte, das Wissen um die Megidda und den Köcknig der Bäume wäre Eurer Familie vorbehalten. Aber habt keickne Sorge – Euer Geheimnis ist sicher aufgehoben bei mir.«

»Woher wisst Ihr davon?«, fragte Cavin scharf, ohne Lassars Worte auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

»Ich weiß es«, antwortete Lassar, nun in einem Ton, der deutlich machte, dass dies für ihn Antwort genug sei. Er stand auf, kam näher und sah einen Moment lang auf Cavin herab; mit einem Blick, unter dem dieser sich beinahe sofort unwohl zu fühlen begann.

»Ihr solltet diesen Träumen nicht zu wenig Beachtung schenken, mein König«, sagte er, mit einem Male sehr ernst. »Träuckme sind mehr, als die meisten Menschen ahnen. Sie sind Botckschaften. Manchmal auch Warnungen. Es wäre ein Fehler, sie zu missachten. Erzählt mir, was Ihr geträumt habt.« Er lächelte, als Cavin ihn nur mit wachsendem Schrecken ansah ohne zu gehorchen. »Oh, ich verstehe – Euer Vater hat Euch verboten über die Megidda zu sprechen, nicht wahr? Nun, er tat recht daran. Aber erzählt mir von Eurem Traum. Lasst alles, was die schwarze Festung betrifft, einfach weg.«

»Ich sah … Männer«, sagte Cavin nach einer Weile. »Und Raetts. Sie … sie kämpften.«

»Um die Festung?«

»Und Gwenderon«, fuhr Cavin fort, als hätte er Lassars Frage gar nicht gehört.

Ein Schatten von Unmut huschte über Lassars Züge. Dann lächelte er wieder. »Gwenderon«, murmelte er. »Nun, es scheint mir normal, dass Ihr von Gwenderon träumt, mein Köcknig. Nach allem, was geschehen ist … Aber es gefällt mir nicht, dass Ihr es in diesem Zusammenhang tut. Gwenderon weiß von der schwarzen Festung. Er weiß, wo sie ist.«

Es war keine Frage, und obwohl Cavin mit jedem Moment mehr spürte, dass es einfach falsch war, Lassar gegenüber auch nur den Namen jener geheimnisvollen Stadt im Wald zu erckwähnen, nickte er. Er hatte Lassar zwar erzählt, dass Gwenderon ihm und seinem Vater im Wald aufgelauert hätte. Aber vielleicht war es sinnlos, den Herrn der Lügen belügen zu wollen.

»Es war dort, wo er meinen Vater erschlug«, antwortete er schließlich.

»Dann weiß er nicht nur um ihre Existenz, sondern hat sie auch entweiht«, murmelte Lassar besorgt. »Das gefällt mir nicht. Vielleicht war Euer Traum wirklich eine Warnung. Wenn es ihm gelingt, sich mit seinen Rebellen dorthin zurückzuziehen …«

Mit einem Male wirkte er nervös. »Entschuldigt mich, mein König. Ich muss gewisse … Vorbereitungen treffen.« Er wandckte sich zur Tür, aber Cavin rief ihn noch einmal zurück.

»Lassar!«

Lassar blieb mit deutlichen Anzeichen von Widerwillen steckhen und sah ihn an. »Mein König?«

»Die … Megidda«, sagte Cavin. Selbst den bloßen Namen auszusprechen kostete ihn Überwindung. »Was ist sie?«

Lassar zögerte einen Moment. »Wenn Ihr es nicht wisst, Cavin, woher soll ich es dann wissen?«, sagte er schließlich.

»Aber Ihr –«

»Sie ist ein Teil von Euch«, unterbrach ihn Lassar. »So wie Ihr ein Teil von ihr seid. So wie Euer Vater und alle Könige von Hochwalden ein Teil davon waren.« Er trat einen halben Schritt auf Cavin zu und blieb wieder stehen. Cavin glaubte plötzlich zu sehen, dass er sehr nervös war. Aber worüber konnte man sich wirklich sicher sein, bei einem Schatten? »Sie ist nicht so unbekannt, wie Euer Vater glaubte«, fuhr er fort. »Viele wissen von ihr, doch die meisten scheuen sich darüber zu reden. Manche sagen, sie wäre das Herz der Welt, andere glauben, sie wäre nichts als eine Ruine, errichtet von einem Volk, das lange vor dem unseren lebte. Wieder andere halten sie für eine bloße Legende.«

»Und was glaubt Ihr?«

»Ich?« Lassar lächelte. »Welche Rolle spielt es, was ich glaube, mein König? Ich fürchte sie, weil ich ihre Macht spüre.«

»Die Macht einer Ruine?«

»Oh, sie ist mehr«, widersprach Lassar. »Ich weiß nicht, was sie ist – niemand weiß das wirklich –, aber ich spüre, dass sie ein Quell großer magischer Kraft ist, vielleicht die Kraft des Schwarzeichenwaldes selbst. Vielleicht sogar etwas von der Macht, die die Welt erschuf. Und das ist es, was ich fürchte, Cavin.«

»Wieso?«

»Wenn es stimmt, dass Gwenderon um ihre Existenz weiß, und wenn Euer Traum das bedeutet, was ich fürchte«, antwortete Lassar, »so kann es sein, dass dieser Narr eine größere Gefahr heraufbeschwört, als Ihr Euch vorzustellen vermögt, mein König.«

»Aber was könnte Gwenderon tun, wenn selbst Ihr die Megidda fürchtet?«

»Das ist es ja gerade«, antwortete Lassar. »Ich weiß um ihre Macht und ich weiß, was geschähe, versuchte ich daran zu rühren. Dieser Narr weiß nichts. Er ist ein Kind, das mit dem Feucker spielt. Und es kann sein, dass er nicht nur sich, sondern uns alle gleich mit verbrennt. Wenn er versucht mit seinen Rebellen dort Unterschlupf zu finden, so kann er Mächte entfesseln, die uns alle verderben. Ihn selbst, Euch, mich – vielleicht die ganze Welt.« Er schwieg einen Moment, dann wandte er sich wieder zur Tür. »Und nun entschuldigt mich, Cavin. Es kann sein, dass jetzt jede Minute zählt.«

Cavin wollte ihn abermals zurückrufen, aber Lassar ging so schnell, dass er keine Gelegenheit mehr dazu fand. Allein und verunsicherter und nervöser als je zuvor blieb er zurück. Das Gespräch mit Lassar hatte seine Verwirrung nicht beseitigt und mehr Fragen gebracht als Antworten. Am meisten entsetzte ihn, dass Lassar so beiläufig erklärt hatte, dass er von der Exickstenz der Megidda wusste. Cavin verstand das nicht mehr. Er selbst hatte bis vor Tagesfrist nicht einmal geahnt, dass es im Herzen des Schwarzeichenwaldes noch irgendetwas anderes gab als Bäume, und da waren die Worte seines Vaters, der sehr deutlich gesagt hatte, wie groß dieses Geheimnis sei und wie wichtig es war, dass es gehütet bliebe. Und jetzt kam Lassar und behauptete in einem Nebensatz, jedermann wüsste darum? Wenn es so war, wieso hatte er dann nie davon gehört, in den zwölf Jahren, die er mit nichts anderem als Lernen verbracht hatte, auf all den zahllosen Schulen und Universitäten, auf decknen er gewesen war? Wieso hatte niemals einer der Gelehrten, einer der Zauberer und Schamanen, einer der Lehrer und Wissenschaftler, mit denen er länger als ein Jahrzehnt zusammen gewesen war, auch nur ein Wort darüber verloren?

16

»Söldner?« Mannon gab sich keine Mühe, den zweifelnden Ton aus seiner Stimme zu verbannen. »Und Ihr seid ganz sicher Euch nicht getäuscht zu haben?«

»Wenn ich jemals ein Söldnerheer gesehen habe, dann das!«, erwiderte Corben heftig. Sein Gesicht flammte vor Erregung. »Männer von den Inseln, aus Velan, Belth, den nördlichen Geckbirgen, Barbaren aus der Eissteppe – was Ihr nur wollt.« Er spie aus. Seine Miene spiegelte Abscheu und Zorn, aber auch Furcht. »Was sich nur an Mörderpack und Halsabschneidern denken lässt, Mannon. Und der Mann an ihrer Spitze trägt das Drachenbanner von Hochwalden.«

Mannon starrte den grauhaarigen Rebellen weiter voller Zweifel an. Söldner?, dachte er. Hier? Im Schwarzeichenwald? Das war unmöglich! Im Laufe der letzten Wochen und Monate hatten sie mehr als einen von Lassars gekauften Mördern gefasst; Mannon selbst hatte eigenhändig zwei dieser Kreaturen getötet, die für Geld Jagd auf Menschen machten und für die er nichts als Abscheu und Ekel empfand – aber ein Söldnerheer unter dem Banner Hochwaldens? Das war schlichtweg undenkbar.

Der Zwerg führte den Befehl über einen Nachschubtrupp, und der Weg, den sie nahmen, hatte sie bis auf wenige Meilen an Hochwalden herangeführt; ein Risiko, das weit kleiner war, als es im ersten Moment schien. Es spielte keine Rolle, ob sie zehn oder hundert Meilen von Hochwalden entfernt waren – weder im guten noch im schlechten Sinn. Der Schwarzeichenckwald war hier so undurchdringlich und tödlich für Lassars Kreaturen wie fünf Tagesritte weiter nördlich, nahe ihrem Lager, und sie waren dort so wenig sicher vor seinen gekauften Meuchelmördern wie hier. Da sie selbst auf den geheimen Pfackden, die Mannon kannte, das Lager heute nicht mehr erreichen würden, hatten sie hier ihre beiden Planwagen zusammengefahren und ein vorläufiges Lager aufgeschlagen.

Es war schwierig, die Rebellen im Wald auch nur mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen, und Mannon war gewiss der richtige Mann, ein solches Unternehmen anzuführen. Doch die Nachricht des Spähers hatte ihn aus der Fassung gebracht.

Er wirkte äußerlich noch immer ruhig, so gelassen und stark, wie ihn alle hier kannten, aber hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Söldner? Gekaufte Krieger, die für Geld töteten und kämpften, unter dem Drachenbanner Cavins?, dachte er immer wieder. Lächerlich!

»Wie viele waren es?«, fragte er.

»Ich habe sie nicht gezählt«, antwortete Corben erregt. Dann lächelte er entschuldigend, atmete hörbar ein und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen. Er musste wie der Teufel geritten sein, denn das Fell seines Pferdes glänzte vor Schweiß und war übersät mit blutigen Schrammen und Kratzern. Er atmete noch immer schwer, obwohl seit seiner Ankunft fast zehn Minuten vergangen waren. Seine Kleider waren dunkel vor Schweiß. »Verzeiht, Mannon«, murmelte er. »Ich …«

»Schon gut«, unterbrach ihn Mannon. »Wie viele habt Ihr gesehen?«

»Hundert«, antwortete Corben nach kurzem Überlegen. »Vielleicht auch hundertfünfzig. Es ist schwer zu sagen; sie marschieren in kleinen Gruppen und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Und ich bin sofort zurückgekommen, um Euch zu warnen.«

Der Zwerg gab einen sonderbaren, fast schmerzhaft klingenden Seufzer von sich. »Das war richtig, Corben«, sagte er. »Söldner! Ein Söldnerheer im Schwarzeichenwald! Ihr Götter, was geschieht mit der Welt, die wir kennen?«

»Fragt Lassar«, murmelte Corben düster. »Vielleicht weiß er die Antwort.«

Gegen seinen Willen musste Mannon lachen. »Aber ich fürchte, er wird sie uns nicht zur Verfügung stellen, mein Freund«, sagte er. Dann wurde er übergangslos wieder ernst. »Und nun geht und lasst Euch zu essen und Wein geben. Und ruht Euch aus. Wenn Eure Entdeckung das bedeutet, was ich fürchte, dann werden wir in den nächsten Tagen wenig Zeit zum Schlafen finden.«

Corben gehorchte. Auch Mannon wandte sich um, ging aber nur die wenigen Schritte bis zum Waldrand hinüber und blieb abermals stehen. Sein Blick tastete über das wuchernde Gründes Unterholzes und für einen Moment wünschte er sich nichts sehnlicher als den Busch durchdringen und mit eigenen Augen sehen zu können, was sich vor den Toren Hochwaldens abspielte. Gleichzeitig hatte er Angst davor, denn er wusste nur zu gut, dass Corben die Wahrheit gesagt hatte. Seine Hiobsbotckschaft passte zu gut in das Bild, das sich in den letzten Wochen herauskristallisiert hatte, um ein bloßer Zufall zu sein. Und es war letztlich der Grund für ihr Hiersein.

Die letzten Wochen waren still gewesen, beinahe zu ruhig für Mannons Geschmack. Nach dem missglückten Mordanschlag auf Resnec und Gwenderon hatte jener den Wald in weitem Umkreis um das Lager herum durchkämmen lassen, und sie hatten ein weiteres halbes Dutzend gekaufter Mörder gestellt und getötet. Und dann war Ruhe gewesen. Der Angriff, mit dem sie gerechnet hatten, kam nicht, und selbst die gelegentlichen Überfälle auf ihre Nachschubwege hatten nachgelassen, wenn auch nicht gänzlich aufgehört.

Es war, als hielte der Krieg, den Lassar gegen sie und sie gegen Lassar führten, den Atem an. In den letzten zwei Wochen war das Leben im Lager der Rebellen so friedlich gewesen, als wäre alles, was zuvor geschehen war, nichts als ein böser Traum gewesen.

Aber dafür begannen Nachrichten das ewige Schweigen des Schwarzeichenwaldes zu durchdringen. Es waren ebenso beunruhigende wie verwirrende Nachrichten. Irgendetwas begann sich zu ändern, langsam und zuerst fast unmerklich, aber unckaufhaltsam.

Es waren seltsame Dinge, grundlos und auf den ersten Blick ohne direkten Zusammenhang, die im Grunde nur eines verckband: Sie waren beunruhigend. Menschen, die sie bisher unterckstützt hatten, halfen ihnen nicht mehr. Städte, in denen die Reckbellen sonst ein Versteck und ein Nachtlager gefunden hatten, schlossen plötzlich ihre Tore. Könige, deren Waffenkammern den Rebellen offen gestanden hatten, verweigerten ihnen den Nachschub. Verträge, die gerade erst besiegelt worden waren, wurden nicht gehalten. Es war ein langsamer, beinahe unmerkcklicher Vorgang, aber es war nicht mehr zu leugnen: Die Stimmung in der Welt außerhalb des Schwarzeichenwaldes begann umzuschlagen.

Und jetzt dieses Söldnerheer, eine fremde Armee, die sich in kleinen Gruppen, wie es schien, aber in beständigem Zustrom um Hochwalden sammelte.

Es ergab einfach keinen Sinn!

Minutenlang starrte Mannon blicklos in den Wald. Dann fuhr er mit einem Ruck herum, ging quer über die Lichtung und rief einen seiner Begleiter zu sich. »Sattelt mein Pferd«, befahl er. »Rasch. Und wähle drei Männer aus, die mich begleiten. Die anderen sollen das Lager abbrechen und sich bereithalten. Es kann sein, dass wir sehr schnell aufbrechen müssen.«

Der Mann erschrak, entfernte sich aber gehorsam und kam nach weniger als einer Minute zurück, Mannons struppiges Zwergenpony am Zügel mit sich führend. In seiner Begleitung befanden sich zwei junge Männer und ein graufelliger Raett, der bis auf einen handbreiten, silbernen Schwertgurt unbekleickdet war. Doch schleppte er eine gewaltige Axt und einen noch gewaltigeren Schild mit sich.

Mannon unterdrückte ein Grinsen. Wie alle im Lager hatte er rasch gelernt die Raetts zu mögen, nachdem er erst einmal seicknen natürlichen Widerwillen gegen die intelligenten Riesennager überwunden hatte. Aber an ihre Art, menschliches Verhalten nachahmen zu wollen und dabei allzu leicht die Grenzen des Lächerlichen zu überschreiten, würde er sich wohl nie gewöhnen.

Manchmal hatte er das Gefühl, dass für die Raetts dieser ganze Krieg nichts als ein einziger gewaltiger Spaß war.

Mit einem dankbaren Nicken ergriff er die Zügel, schwang sich auf den Rücken des Ponys und wartete ungeduldig, bis auch die drei anderen ihre Pferde geholt hatten und aufgesessen waren. Ohne ein weiteres Wort ritten sie los und verließen das Lager.

Mannon fühlte sich umso unbehaglicher, je weiter sie sich dem Waldrand und Hochwalden näherten. Sie bewegten sich leise vorwärts, nahezu lautlos, in der Art von Männern, die gelernt hatten, dass sie nur auf diese Weise überleben konnten. Der Wald war so still wie ein gewaltiges grünes Grab. Nicht einmal der Wind raschelte in den Blättern.

Und trotzdem hatte Mannon das Gefühl, von tausend unsichtbaren Augen beobachtet zu werden.

Mannon rief sich in Gedanken zur Ordnung, straffte sich im Sattel und ritt ein wenig schneller weiter. Seine beiden menschlichen Begleiter schlossen auf, während der Raett ein Stück zurückfiel und ihnen den Rücken deckte.

Etwa zwanzig Minuten bewegten sie sich auf dem schmalen Waldweg entlang. Dann zügelte Mannon sein Pferd und gab auch den beiden anderen das Zeichen anzuhalten. Vor ihnen hellte sich das Grün des Waldes auf, und ab und zu zerriss ein verirrter Sonnenstrahl die Dämmerung mit einem Lichtblitz. Der Geruch von Wasser lag in der Luft.

Sie saßen ab. Der Raett-Krieger blieb bei den Pferden zurück, während sie den Weg verließen und quer durch das dornige Unterholz weiter auf den Waldrand zugingen. Dann lag Hochwalden vor ihnen.

Ein sonderbar klammes Gefühl ergriff von Mannons Herz Besitz, als er den gewaltigen, finsteren Quader der Burg sah. Die Sonne stand im Zenit und ließ den sichelförmigen See, der die Festung an drei Seiten umschloss, wie eine gewaltige Mecktallplatte aufblitzen.

Mannon spürte ein dumpfes Gefühl von Zorn in sich aufsteigen, begleitet von Trauer und Hilflosigkeit. Er war niemals dort drüben gewesen und diese Burg war nicht seine Burg, sondern ganz im Gegenteil ein Ort, den er instinktiv ablehnte und wohl auch ein wenig fürchtete: eine Stadt der Menschen, zu groß, zu laut und mit zu viel Himmel darüber. Aber er war ein Zwerg und für das Zwergenvolk war nicht nur der Schwarzeichenwald heilig, sondern auch Hochwalden. Allein der Gedanke, dass es in Wahrheit längst Lassar, der Herr der Schatten, war, der jetzt über die schwarze Perle des Schwarzeichenwaldes herrschte, entfachte in ihm einen wilden Grimm.

Einer seiner Begleiter berührte ihn an der Schulter und deuteckte stumm nach Westen. Mannon schrak aus seinen Gedanken hoch und blickte in die angegebene Richtung.

Zwischen den Bäumen am Waldrand war ein einzelner, in flirrendes Silber und Gold gekleideter Reiter erschienen. Er ritt das weiße Schlachtross der Könige und über seinem Helm wehte das Drachenbanner Hochwaldens.

Mannon unterdrückte im letzten Augenblick einen überraschten Ausruf, als er den Reiter erkannte.

»Cavin!«, flüsterte er. »Das ist … bei allen Göttern – das ist Prinz Cavin!«

»Der König von Hochwalden?« Der Mann neben ihm starrte erst ihn, dann Cavin ungläubig an. Wie viele, die sich ihrer Rebellion angeschlossen hatten, hatte er Cavin niemals geseckhen. Der Prinz kam langsam näher, aber er bewegte sich irgendwie ziellos, hielt immer wieder an und blickte in den Wald oder über den See hinaus. »Das ist König Cavin?«

»Still!«, befahl Mannon scharf. Seine Gedanken überschlugen sich. Der einsame Reiter war näher gekommen und hatte schließlich angehalten, kaum zwanzig Schritte von ihrem Vercksteck entfernt. Sein Pferd hatte den Kopf gesenkt und stillte seinen Durst am eisigen Wasser des Sees, während Cavin aus weit geöffneten, aber blicklosen Augen in den Wald starrte. Er wirkte wie ein Mann, dessen Gedanken in Wirklichkeit weit, weit fort waren.

»Das ist die Gelegenheit, Herr!«, flüsterte einer der Männer. »Er ist allein. Wir könnten ihn überwältigen und gefangen nehmen.«

Mannon schwieg. Der Mann sprach nur aus, was er im gleichen Moment gedacht hatte, in dem er den einzelnen Reiter erkannte: Cavin war in Waffen und Harnisch, und Mannon wusste, wie gut der Prinz trotz seiner Jugend mit dem Schwert umzugehen verstand. Aber sie waren zu dritt und hatten den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Mit etwas Glück könnten sie ihn überwältigen und verschwinden, ehe drüben in Hochwalden auch nur Alarm gegeben wurde. Und wenn Cavin erst einmal in ihrer Gewalt und somit dem unmittelbaren Einfluss Lassars entzogen war …

Dicht hinter dem Prinzen teilte sich das Unterholz, und mehr als zwei Dutzend Krieger traten aus dem Wald und machten Mannons Pläne mit einem Schlag zunichte.

Einen Moment lang starrte er noch aus brennenden Augen zu Cavin und der Söldnertruppe hinüber. Dann kroch er rücklings fünf, sechs Meter weit in den Schutz des Waldes zurück, richtete sich auf und wartete, bis die beiden Männer ihm gefolgt waren, und deutete nach Norden. »Schnell jetzt«, sagte er. »Wir müssen die anderen warnen.«

So rasch sie konnten, liefen sie zum Weg zurück, saßen auf und sprengten zum Lager zurück. Alle Vorsicht war jetzt vergessen. Der Wald flog an ihnen vorbei, aber Mannon trieb sein Pony zu immer größerer Schnelligkeit an. Noch immer hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, und obwohl der Wald tot und still war wie zuvor und das Donnern ihrer Pferdehufe auch die letzten Spuren von Leben vertrieb, wurde es stärker. Es wuchs mit jedem Meter, den sie sich dem Lager näherten.

17

»Sie sind unterwegs, Herr.«

Die Stimme des Söldners klang so düster, wie sein Gesicht hart war. Er war ein Mann von den nördlichen Eisinseln, seiner Kleidung und dem harten Dialekt nach zu schließen – groß, hager, mit Händen wie aus rauem Holz und grausamen Augen. Hätte Cavin ihn unter anderen Umständen getroffen, hätte er vielleicht Angst vor ihm gehabt. Jetzt befriedigte ihn der Anckblick. Der Mann war wie seine fünfhundert Kameraden ein Subjekt, das, aus reiner Lust am Kämpfen und Töten zu seiner Fahne geeilt war. Für Cavin war er nicht mehr als ein Werkckzeug. Ein perfektes Werkzeug.

»Wie viele sind es?«, fragte er.

Der Mann deutete nach Norden. »Vier, Herr. Zwei Männer, eine von diesen stinkenden Raett-Kreaturen und ein Zwerg.«

»Ein Zwerg?« Cavin runzelte die Stirn und sah den Söldner fragend an. »Ein kleiner schwarzhaariger Kerl mit Vollbart und einer Axt, die fast größer ist als er selbst?«

Der Krieger nickte überrascht. »Ihr kennt ihn?«

»Mannon«, flüsterte Cavin. »Er ist hier. Ich –« Er brach ab, schwieg einen Moment und fuhr dann, lauter und sichtlich erregt, fort: »Ruf deine Leute zusammen. Wir folgen ihnen. Auf der Stelle.«

»Aber das …«, begann der Krieger, wurde aber sofort von Cavin unterbrochen.

»Das entspricht nicht unserem Plan, ich weiß«, sagte der Prinz ungeduldig. »Aber ich will Mannon haben. Er gehört zu denen, die mich verrieten und Schuld am Tod meines Vaters haben. Verfolgt sie. Spürt ihr Lager auf und greift sie an. Es reicht, wenn einer oder zwei von ihnen entkommen, um uns zu ihrem Hauptlager zu führen. Aber ich will diesen Zwerg. Leckbend – hast du das verstanden?«

»Es wird nicht leicht werden, einen Zwergenkrieger lebend einzufangen, Herr«, wandte der Krieger ein. Eine Spur von Furcht klang in seiner Stimme mit. Der Ruf der Zwergenkrieger war nicht nur bis nach Hochwalden gedrungen.

Cavin fuhr auf. »Wozu bezahle ich euch? Bringt mir Mannon und bringt ihn mir lebend. Die anderen gehören euch. Ihr könnt euch teilen, was sie an Waffen und Geld bei sich haben. Und nun geh!«

Der Mann starrte ihn noch einen Moment zweifelnd an, dann drehte er mit einem Ruck sein Pferd herum, sprengte zu seinen Kameraden zurück und begann in seiner Heimatsprache Befehle zu brüllen. Für einen Moment verwandelte sich die geordneckte Formation der Söldner in ein scheinbar unentwirrbares Chackos, dann nahmen die zwei Dutzend Reiter in Zweierreihen hintereinander Aufstellung und verschwanden in scharfem Galopp im Wald.

Irgendetwas geschah mit den Schatten, kurz bevor die Stille des Schwarzeichenwaldes das Geräusch ihrer Hufschläge verckschluckt hatte: Für einen ganz kurzen Moment hatte Cavin den Eindruck, als ob sich Licht und Farben des Busches um eine Winzigkeit ins Düstere hin verschoben; aus Braun wurde Schwarz, aus Grün Dunkelheit, aus Schatten Nacht. Dann war alles wieder normal. Nur die zwei Dutzend Männer waren verckschwunden.

Aber der Gedanke erreichte Cavins Bewusstsein kaum. In seiner Seele war nur noch Platz für Hass.

Mannon, dachte er, und für einen Moment glaubte er das Gesicht des Zwergenkriegers direkt vor sich zu sehen. Du wirst der Erste sein, der für den Verrat bezahlt. Seine Rechte spannte sich um das Schwert, das er im Gürtel trug; so fest, dass es schmerzte.

18

Quer über dem Weg lag ein Toter. Er war nicht nur ermordet, sondern auch noch ausgeplündert worden. »Diese Bestien«, murmelte Mannon. »Diese verdammten …«

Seine Stimme versagte. Er war ein Mann des Zwergenvolkes, und Krieg und Tod waren ihm nicht fremd. Er hatte vor Jahren aufgehört die Schlachten zu zählen, in denen er gefochten hatte. Und trotzdem traf ihn der Anblick des verwüsteten Lagers so hart, als wäre es das erste Mal.

Von dem Dutzend Männer, das sie zurückgelassen hatten, lebte keiner mehr. Die kleine Lichtung hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Menschen und Pferde lagen wirr übereinander, die beiden Wagen waren zerstört und da und dort flackerten Brände.

Es war kein Kampf gewesen, dachte Mannon düster. Nicht in dem Sinn, in dem er das Wort bisher immer benutzt hatte. Die Rebellen hatten keine Chance gehabt. Den Spuren nach zu schließen mussten sie von einer erdrückenden Übermacht überfallen und in wenigen Augenblicken getötet worden sein. Manche der Toten hatten nicht einmal mehr die Zeit gefunden, ihre Waffen zu ziehen.

Mit einem unterdrückten Seufzer richtete sich Mannon auf, griff nach dem Sattelknauf und schwang sich mit einer kraftckvollen Bewegung auf den Rücken des Ponys. Das Tier begann nervös zu tänzeln. Der Geruch des Todes, der wie ein süßlicher Pesthauch über der Lichtung lag, machte es rasend.

»Aber wie ist das möglich?«, murmelte einer seiner beiden Begleiter. »Wie … wie kann das sein, Herr? Wir … wir sind doch sofort … sofort zurückgekehrt.«

»Magie«, sagte Mannon. Er dachte an das Gefühl, das er gehabt hatte, als ob ihn unsichtbare Augen aus dem Dunkel des Waldes heraus anstarrten. Er hatte es gespürt, als sie das Lager verlassen hatten, und es war noch immer da. Sie waren nicht allein. Lassars Magie lag wie eine unsichtbare, erstickende Wolke über der Lichtung.

»Besser wir gehen«, quietschte der Raett. »Bevor sie kommen.«

Mannon drehte sich halb im Sattel herum und sah das riesige, braunpelzige Rattenwesen mit einer Mischung aus Trauer und Resignation an. Mit einem Male erschien ihm die kriegerische Bewaffnung des Raett eher hilflos als lächerlich.

»Ich fürchte, das hat nicht mehr viel Sinn, mein Freund«, sagte er leise. »Sieh dort hinüber.«

Seine Hand wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Raett und seine beiden menschlichen Begleiter fuhren herum – und erstarrten.

Der Weg war nicht mehr leer. Wie ein Schatten, der urplötzcklich aus der Nacht auftaucht, war ein Reiter auf dem schmalen Waldpfad erschienen.

Es war ein dunkler, seltsam konturloser Mann auf einem gewaltigen, schwarzen Schlachtross, groß und düster und von einer sonderbaren Aura des Finsteren eingehüllt, als schreckten selbst die Strahlen der Sonne vor der schattenhaften Gestalt zurück.

»Wer ist das, Herr?«, murmelte einer der Krieger. Seine Stimme zitterte vor Angst und selbst Mannon spürte, wie irgendetwas in seiner Seele vor der Anwesenheit dieser Kreatur der Nacht zurückschrak.

»Lassar«, flüsterte er. Seine Hand kroch wie ein kleines leckbendes Wesen zum Sattelgurt und schmiegte sich um den Griff der Streitaxt. Aber er zog die Waffe nicht. Einen Schatten konnte man nicht mit Stahl bekämpfen. Ein dumpfes Gefühl von Resignation machte sich in ihm breit.

»Lassar«, sagte er noch einmal; lauter, so, dass der Herr der Schatten seine Worte hören musste. »Du bist selbst gekommen, um uns zu vernichten.«

Lassar lachte leise und begann auf sie zuzureiten. Mannon sah, dass die Hufe seines Pferdes den morastigen Boden nicht wirklich berührten. Wie sein Reiter war das Tier nur ein Trugckbild. Illusion, mehr nicht. Aber eine Illusion, die töten konnte.

»Du überschätzt deine Wichtigkeit, Zwerg«, sagte er. Seine rechte Hand machte eine rasche, kaum wahrnehmbare Bewegung. Die Schatten am Rande des Weges begannen sich zusammenzuballen, wurden zu Körpern und Farben und blitzendem Stahl. Wo vor Sekunden nichts als morastiger Boden gewesen war, erhoben sich plötzlich die Gestalten von Kriegern. Kriegern in zerfetzten, wild zusammengewürfelten Kleidern. Söldner.

Es waren die gleichen Söldner, die er am Ufer des Sees geseckhen hatte. Die Männer, mit denen Cavin geredet hatte.

»Also betrügst du ihn auch«, sagte Mannon leise.

»Betrügen?« Lassar legte den Kopf auf die Seite, als müsse er über das Wort nachdenken. »Ihr Zwerge habt manchmal eine sonderbare Art, die Dinge zu benennen«, sagte er. »Ich habe einen Handel mit dem König von Hochwalden geschlossen. Er verlangte Söldner von mir – ich gab sie ihm. Was ist daran Betrug?«

»Weiß er, dass es in Wahrheit deine Kreaturen sind?«, fragte Mannon.

Lassar machte eine zornige Handbewegung, als wolle er seickne Worte beiseite fegen. »Wo ist der Unterschied, Zwerg? Sieh dich um! Cavin verlangte euren Tod und er wird ihn bekommen.«

»Du Hund!«, zischte der Mann neben Mannon. »Du verdammter Betrüger. Dafür stirbst du!«

Ehe Mannon es verhindern konnte, rammte der Mann seinem Pferd die Sporen in die Seiten und zog sein Schwert. Das Tier stieg auf die Hinterläufe und machte einen gewaltigen Satz nach vorne, direkt auf Lassar zu.

Der Herr der Schatten wartete reglos, bis ihn der Krieger fast erreicht hatte. Dann hob er abermals die Hand.

Mannon konnte nicht genau erkennen, was geschah. Irgendetwas Finsteres, Großes, schien aus dem Nichts aufzutauchen und sich auf den Krieger zu stürzen. Das Kreischen seines Pferdes klang plötzlich panikerfüllt und dann war sein Reiter mit einem Male verschwunden, der Sattel leer und das Tier fuhr mit einem schrillen Wiehern herum und raste davon. Ein Geruch wie nach Blut und Feuer lag in der Luft.

Langsam zog Mannon seine Streitaxt aus dem Sattelgurt. Er wusste, wie wenig ihm die Waffe gegen Lassar nutzen würde, so sicher wie er wusste, dass er diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würde. Aber er wollte wenigstens das Gefühl haben, im Kampf zu sterben.

»Du wirst verlieren, Lassar«, sagte er leise. »Du kannst mich töten und diesen Mann hier und den Raett, aber du wirst verlieren. Dein Zauber nutzt dir nichts in diesem Wald.«

»Bisher funktioniert er hervorragend«, antwortete Lassar trocken. »Und was das Töten angeht – ich habe nicht die Absicht, dich zu töten.« Er lachte spöttisch, zwang sein Pferd mit einem Schenkeldruck zur Seite und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. »Geht.«

Ungläubig starrte Mannon den Magier an. »Das ist … eine Falle«, murmelte er. »Hast du nicht einmal den Mut, mich von vorne anzugreifen?«

»Geht!«, sagte Lassar, noch einmal und in scharfem, befehlendem Ton. »Meine Krieger werden Euch nichts zuleide tun. Ihr glaubt, ich würde Cavin betrügen? Geht und fragt ihn. Er erwartet Euch, Zwerg.«

Wieder machte er eine rasche, befehlende Geste mit der Hand, und die Söldner, die den Weg hinter ihm blockiert hatten, wichen nahezu lautlos auseinander. Hinter ihnen, noch weit entfernt, aber rasch näher kommend, sprengte ein Tross von Reitern heran. Mannon erkannte das flatternde Drachenckbanner Hochwaldens über dem Kopf ihres Anführers.

»Es ist Cavin«, sagte Lassar. Seine Stimme klang amüsiert. »Keine Sorge, Zwerg, ich täusche Euch nicht. Ich werde auch nicht versuchen Euch aufzuhalten oder zu hintergehen. Reitet ihm entgegen und sprecht mit ihm.«

Mannon starrte den Magier an, aber Lassar hielt seinem Blick gelassen stand. In seinen dunklen Augen blitzte so etwas wie boshafte Vorfreude auf. »Geht«, sagte er noch einmal.

Ohne ein weiteres Wort trieb Mannon sein Pferd an, schob die Axt in den Sattelgurt zurück und ritt dem König von Hochwalden entgegen.

Ein bitterer Geschmack begann sich auf seiner Zunge auszuckbreiten, und das Gefühl, in eine Falle zu reiten, wurde übermächtig, während Cavin langsam näher kam und er ihn genaucker erkennen konnte.

Der junge König von Hochwalden hatte sich nicht verändert, seit Mannon ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sein Gesicht war noch immer so glatt und unfertig wie das des Jungen, den Mannon vor mehr als sechs Wochen durch den Schwarzeichenwald geführt hatte: das Antlitz eines Mannes, der den Schritt vom Knaben zum Mann gerade erst getan hat und sich seiner neuen Rolle noch nicht vollends bewusst war. Und um seinen Mund lag noch immer der gleiche leicht hochmütige Zug, der Mannon schon damals geärgert hatte. Und trotzdem schien er in den letzten vier Wochen um die gleiche Anzahl von Jahren gealtert zu sein. Er wirkte … härter. Härter und auf schwer zu beschreibende Weise verbittert.

Der Zwerg zügelte sein Pferd und hielt an, als er sich dem Prinzen und dessen Begleitern auf zehn Schritte genähert hatte. Auch Cavin verharrte für einen Moment. Dann gab er den Männern hinter sich ein Zeichen, zurückzubleiben, zog sein Schwert aus dem Gürtel und kam weiter auf Mannon zu.

»Mannon«, flüsterte er. In seiner Stimme bebte ein Ton, den der Zwerg nicht verstand. »Endlich sehen wir uns wieder. Lange genug hat es gedauert.«

»Ihr … Ihr seid in großer Gefahr, Herr!«, begann der Zwerg verwirrt. Cavin kam langsam näher und jetzt sah er, wie sehr sich der junge König doch verändert hatte. In seinem Blick lag ein Ausdruck von harter Grausamkeit, der neu war. Mannon hatte plötzlich das Gefühl, einen fürchterlichen Fehler begangen zu haben.

»Ich muss Euch warnen, Herr!«, rief er. »Ihr seid in Gefahr! Euer Vater ist tot und …«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Cavin. »Ich war dabei, als er starb, du Verräter. Aber die Gefahr ist nicht so groß, wie du glaubst: jetzt nicht mehr.«

Mannon kam nicht mehr dazu, über den Sinn dieser Worte nachzudenken. Das Letzte, was er sah, war das Aufblitzen von Cavins Schwert.

19

Die Stille war absolut. In die Grabkammer tief unter dem Bockden, geborgen im schweigenden Schoß der Erde, drang kein Laut, kein Lichtschimmer und kein noch so geringes Anzeichen von Leben.

Dann geschah etwas.

Es war unmöglich, es mit menschlichen Worten und Begriffen zu beschreiben, denn es war etwas, das seinen Ursprung nicht in der Welt der Menschen hatte, sondern einem anderen, älteren und vielleicht höheren Sein entsprang. Geräusche, die kein menschliches Ohr je gehört, Farben, die kein menschliches Auge je geschaut, und Bewegungen, die kein menschlicher Sinn zu erfassen in der Lage gewesen wäre, erfüllten den kleinen, kuppelförmigen Raum.

Dann breitete sich wieder die Stille des Todes über der Katakombe aus.

Aber etwas hatte sich verändert.

Der steinerne Sarg, der auf einem Podest in der Mitte des Raumes gestanden hatte, war leer.

Faroan, der Magier von Hochwalden, war zum zweiten Mal von den Toten auferstanden.

20

In dem Trank, den Animah ihm gegeben hatte, musste etwas gewesen sein, denn Resnec schlief bis weit in den nächsten Tag hinein, und als er erwachte, fühlte er sich so frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Er war allein. Durch die Tür drangen Sonnenschein und die Geräusche des Lagers herein und auf dem Boden konnte er den verzerrten Schatten eines Raett erkennen, breiter als der eines Menschen und mit spitzen, sich ständig bewegenden Katzenohren. Der Anblick rief ihm die Tatsache in Erinnerung zurück, dass er noch immer wenig mehr als ein Gefangener war, so freundlich ihn auch alle beckhandeln mochten.

Er stand auf. Die Bewegung bereitete ihm weniger Mühe, als er geglaubt hatte, obwohl seine Schulter und sein Arm noch immer taub waren; zudem so dick verbunden, dass er den Vercksuch, sein Wams überzustreifen, kein zweites Mal unternahm. Missmutig schlüpfte er in seine Hose, was sich als gar nicht so einfach erwies, da er nur eine Hand zu Hilfe nehmen konnte, und sah gerade noch das spitze Raett-Gesicht seines Bewachers unter der Tür verschwinden, als er sich herumdrehte.

Resnec musste nicht lange warten, bis die Reaktion auf sein Erwachen erfolgte. Der Raett kam zurück, begleitet von Animah, Gwenderon und – Resnec wusste nicht, ob er wirklich froh darüber sein sollte – auch Karelian, der wohl erst im Laufe der Nacht ins Lager zurückgekehrt sein musste, denn er wirkte erschöpft und abgerissen. Trotzdem waren seine Augen wach und das Misstrauen darin war unübersehbar.

»Wie ich sehe, geht es dir besser.« Gwenderon begann das Gespräch, ohne sich mit irgendwelchen Floskeln oder Begrückßungen aufzuhalten, und in seiner Stimme war noch immer die gleiche Kälte, die Resnec kannte. Er war enttäuscht, ohne dass er eigentlich Grund dazu gehabt hätte. Was hatte er erwartet – dass Gwenderon ihn umarmte und ihm einen Bruderkuss gab?

»Eure Pflege war gut«, sagte er. Animah lächelte flüchtig – als Einzige –, aber auch sie wurde sofort wieder ernst.

»Fühlt Ihr Euch kräftig genug zu reden?«, fragte Karelian. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging er an Resnec vorbei und setzte sich auf den Boden. Er machte eine auffordernde, ungeduldige Bewegung und Resnec, der Raett und nach kurzem Zögern auch Animah taten es ihm gleich. Nur Gwenderon blieb stehen. Sein Blick sprühte vor Feindseligkeit. Aber Resnec hatte das sichere Gefühl, dass sie im Grunde weniger ihm als den anderen galt. Was mochte zwischen ihnen vorgefallen sein? Er begriff, dass wahrscheinlich er der Grund für einen Streit zwischen Gwenderon und den anderen gewesen war, und es tat ihm Leid. Resnec lag sehr viel daran, Gwenderons Vertrauen zu gewinnen.

»Ihr habt zwei Wochen geschlafen, Resnec«, begann Karelian. »Es ist eine Menge geschehen in dieser Zeit.«

»Lassar weiß, wo euer Lager ist.«

Karelians Züge verdüsterten sich. »Nach dem Attentat auf Gwenderon und Euch hat es wohl wenig Sinn, dies abzustreickten«, sagte er. »Aber das ist nicht alles.« Er sprach nicht weiter, aber sein Schweigen war von einer ganz bestimmten, niedergeschlagenen Art, und mit einem Male fiel Resnec auch auf, wie ernst Animah war und dass der Zorn in Gwenderons Blick nicht diesen beiden galt. Er hatte sich getäuscht. Gwenderon und die beiden anderen hatten sich nicht gestritten. Etwas war geschehen. Etwas Schreckliches.

»Mannon ist tot«, sagte Animah plötzlich.

»Tot?!« Obwohl Resnecs Stimme beinahe zu einem Flüstern herabgesunken war, füllte sie das Innere der kleinen Laubhütte aus wie ein Schrei; ein Fluch, in dem aller Schrecken, aller Unglauben und alles Entsetzen mitschwang, das dieses eine Wort auszudrücken vermochte. »Tot, sagst du? Du bist … dir vollkommen sicher?« Es war nicht wirklich eine Frage, sondern eher ein Ausdruck der Verzweiflung.

»Natürlich ist sie sich sicher.« Gwenderons Augen waren geweitet, als sähe er gar nicht das bleiche Gesicht seines Gegenübers, sondern etwas ganz anderes. Etwas Schreckliches. »Drei seiner Leute haben das Gemetzel überlebt. Sie haben es gesehen. Mit eigenen Augen, Resnec. Cavin hat ihn erschlagen.«

»Cavin?« Resnec starrte den ehemaligen Waffenmeister von Hochwalden fassungslos an. »Er selbst! Aber wie –«

»Sie waren in der Nähe von Hochwalden«, berichtete Karelian. »Ein Späher berichtete, dass er Reiter gesehen habe. Söldckner, die unter Hochwaldens Banner ritten. Mannon ritt hin, um sich selbst zu überzeugen. Auf dem Rückweg lief er in eine Falle.«

»Aber wie kann das sein?«, murmelte Resnec verwirrt. »Mannon hat ihm das Leben gerettet und …«

»Es spielt jetzt keine Rolle, warum er es getan hat«, unterckbrach ihn Karelian. »Er hat es getan, das allein zählt. Wir können uns später den Kopf über das Warum zerbrechen. Jetzt gilt es zu handeln. Mannons Tod ist nicht alles.«

Resnec starrte ihn an und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht zu einer Grimasse, in der sich Furcht, Unglauben, Zorn und maßlose Verwirrung miteinander mischten. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Du hast Recht, Karelian«, murmelte er. »Verzeih. Es kam nur alles so … so überraschend.«

Er schluckte mühsam, fuhr sich mit einer fahrigen, unsicheren Handbewegung über das Gesicht und wandte sich wieder an Gwenderon. »Sind … alle tot?«, fuhr er fort, noch immer stockend, aber doch hörbar gefasster.

Gwenderon nickte. »Alle«, bestätigte er. »Wen die Söldner am Leben gelassen haben, der wurde von Cavins Garde erschlagen, bis auf zwei Leute und einen von Guarrs Volk, die sich rechtzeitig verbergen konnten.«

»Verbergen? Vor Lassar?« Resnec schüttelte überzeugt den Kopf.

»Du weißt, dass es nur eine einzige Erklärung dafür gibt, dass sie entkommen konnten. Sie haben sie entkommen lassen.«

»Damit man ihnen den Weg zu unserem Lager zeigt«, fügte Karelian heftig hinzu. »Dieser Narr! Wahrscheinlich weiß Cavin jetzt bereits, wo wir zu finden sind. Es würde mich nicht wundern, wenn Lassar wüsste …«

»Das weiß er längst«, unterbrach ihn Resnec. »Ich fürchte, sein Verhalten hat einen ganz anderen Grund.«

»Und welchen?«

»Vielleicht will er sichergehen, dass auch wir wissen, dass er es weiß«, sagte Resnec. Gwenderon runzelte die Stirn und Resnec fügte mit einer erklärenden Geste hinzu: »Ihr selbst habt gesagt, dass seine Magie hier nicht wirkt. Wenn es wirkcklich so ist, Gwenderon, dann weiß auch Lassar davon, er als Erster.«

»Du meinst, er will uns hier herauslocken«, vermutete Animah.

»Ich meine gar nichts«, antwortete Resnec kopfschüttelnd. »Es hat wenig Sinn, irgendwelche Vermutungen anzustellen, wenn Lassar im Spiel ist. Er will uns zu einer Unbesonnenheit verleiten, das ist alles. Versteht ihr denn nicht? So wie es aussieht, können wir nicht viel tun gegen Lassar und seine Krieger. Aber er auch nicht gegen uns.«

»Und wenn er uns zwingt aktiv zu werden –«

»– begehen wir vielleicht Fehler«, führte Resnec den Satz zu Ende. »Richtig. Unterschätzt seine Verschlagenheit nicht. Was immer wir tun, er wird darauf vorbereitet sein. Der Mord an eurem Freund vom Kleinen Volk ist nicht so sinnlos, wie es euch scheinen mag. Lassar will euch provozieren.«

»Es war Cavin, der Mannon erschlug«, sagte Karelian.

»Nicht der Cavin, den Ihr gekannt habt, Karelian«, behaupteckte Resnec. »Glaubt mir – ich kenne Lassar. Er –«

»Trotzdem bleibt keine Zeit zu verlieren«, beharrte Karelian. Von der Ruhe und Überlegenheit, die den Waldläufer sonst immer ausgezeichnet hatten, war nicht viel geblieben. Es war das erste Mal, dass Gwenderon oder einer der anderen deutliche Anzeichen von Panik an dem ansonsten so stillen Mann erkannten. »Wir müssen das Lager aufgeben, Gwenderon. Noch heute. Wir müssen fort, ehe diese Söldner auftauchen.«

»Fort?« Gwenderon wiederholte das Wort auf sonderbare Art. »Und wohin, mein Freund?«, fragte er. »Wir sind so weit vor ihnen geflohen, wie wir konnten. Dieser Ort liegt im Herckzen des Waldes. Hast du vergessen, dass du selbst es warst, der ihn uns gezeigt hat? Und dass du es warst, der gesagt hat, hier wären wir sicher?«

»Sicher vor Lassars Magie, ja«, erwiderte Karelian heftig. »Nicht vor den Schwertern seiner Söldner. Wir müssen fliehen, Gwenderon. Weiter nach Norden, zum Fluss und …«

»Und aus dem Wald heraus, wenn sie uns weiter folgen, nicht wahr?« Gwenderons Worte klangen bitter. »Selbst wenn Lassar so dumm wäre, uns den Rückweg nicht abzuschneiden, Karelian, dann hätte er gewonnen. Welchen Sinn hat unser Wickderstand noch, wenn wir den Wald aufgeben? Worum haben wir so hart gekämpft, wenn wir jetzt Lassar das Feld räumen?«

»Dann müssen wir kämpfen«, sagte Karelian, aber wieder schüttelte Gwenderon den Kopf.

»Du weißt, dass wir das nicht können. Es sind Cavins Krieger, die gegen uns ziehen. Ich kann nicht gegen Oros Sohn kämpfen.«

»Oros Sohn!«, wiederholte Karelian erregt. Zornig deutete er auf Resnec. »Er hat Recht, Gwenderon, und du weißt das so gut wie ich. Du weißt, dass dieser Mann nichts weiter mehr mit Cavin gemein hat als seinen Namen und sein Gesicht. Er ist zu einer Marionette Lassars geworden.«

»Du weißt, dass das unmöglich ist. Seine Macht zählt nicht im Schwarzeichenwald.«

Karelian machte eine wütende Handbewegung. »Dann hat er ihn auf andere Weise getäuscht. Zum Teufel, Gwenderon – was willst du tun? Hier sitzen und warten, bis Cavins Söldner über uns herfallen und uns abschlachten?«

»Noch hat kein einziger seiner Männer den Wald betreten«, sagte Animah.

Gwenderon bedachte sie mit einem Blick, der an Verachtung grenzte. »Verzeih meine Dummheit«, sagte er bissig. »Sichercklich hat er all diese Männer nur kommen lassen, um Hochwaldens Garde zu verstärken. Möglicherweise fürchtet er einen Angriff auf die Burg.«

Gwenderon schwieg länger als eine Minute. Dann wandte er sich um und ging zum Ausgang, verließ die Hütte jedoch nicht, sondern blieb starr und mit ausdrucksloser, steinerner Miene stehen.

»Nein«, sagte er schließlich. »Ich kann nicht gegen Cavin kämpfen, das musst du verstehen.«

»Dieser Mann ist nicht Cavin!«, sagte Karelian verzweifelt. »Versteh das doch! Was immer Cavin getan hat – er ist zu unserem Feind geworden, Gwenderon. Er hat Mannon getötet und er wird auch dich töten, wenn du ihm Gelegenheit dazu gibst! Was willst du tun? Du willst nicht gegen ihn kämpfen, aber du willst auch nicht fort.«

»Ich will Lassar das Feld nicht kampflos überlassen«, sagte Gwenderon. »Das stimmt. Aber das heißt nicht, dass ich die Hand gegen meinen rechtmäßigen König erhebe.«

»Cavin ist …«

»König Oros Sohn und nach seinem Tod der rechtmäßige Erbe Hochwaldens und Herrscher über den Schwarzeichenckwald«, unterbrach ihn Gwenderon. »Alles andere zählt nicht. Was soll ich tun? Ihn töten und Lassar damit sein schmutziges Handwerk noch erleichtern?« Er ballte wütend die Faust. »So wie es aussieht, können wir gar nichts tun. Lassar hat gewonnen.«

»Eine Möglichkeit gibt es noch«, mischte sich Resnec ein. Er deutete auf Karelian. »Er hat es selbst gesagt. Der Trumpf in diesem Spiel ist Hochwalden.«

Gwenderon starrte ihn an. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Warum nicht?«, fragte Resnec. »Ein direkter Angriff auf Hochwalden ist mit Sicherheit das Letzte, was Cavin erwartet. Und Lassar ebenso.«

»Aber das wäre völlig verrückt! Es wäre Selbstmord!«

»Eben«, sagte Resnec. Gwenderon wollte auffahren, aber Resnec ließ ihn nicht zu Wort kommen und deutete auf Karelian. »Ich weiß nicht, ob sein Vorschlag ernst gemeint war oder nicht, aber er könnte sich als die letzte Rettung erweisen. Lassars Macht gründet auf Lüge und Betrug, auf Täuschung und Furcht, Gwenderon! Überlegt selbst – es war Cavin, der Mannon erschlug, nicht Lassar, und es ist Cavin, unter dessen Banner die Söldner reiten! Lassar spielt ein teuflisches Spiel, aber –«

»Ein Angriff auf Hochwalden ist völlig unmöglich«, unterckbrach ihn Gwenderon. »Selbst ohne die Söldner ist uns die Garde überlegen. Wir sind nicht einmal hundert Mann.«

»Natürlich ist es unmöglich, die Burg zu stürmen«, sagte Animah. »Nicht offen.«

»Nicht offen?« Gwenderon zog eine Grimasse. »Was soll das heißen? Willst du sie angreifen, ohne dass sie es merken?« Er lachte, aber es klang unsicher, und Animah blieb ebenfalls ernst.

»Ich frage mich, ob wir Lassars Spiel nicht mitspielen sollten«, sagte sie. »Resnec hat Recht – Lassar spielt ein teuflicksches Spiel, aber es könnte sein, dass er ihm selbst zum Opfer fällt.« Plötzlich klang ihre Stimme erregt. Sie sprang auf. »Wenn es uns gelingt, Hochwalden zu erobern und Cavin zu befreien, hat Lassar verloren. Er wird es nicht wagen, offen gegen den rechtmäßigen König des Schwarzeichenwaldes vorckzugehen. Die ganze Welt würde sich gegen ihn erheben.«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Gwenderon, noch immer ablehnend, aber schon nicht mehr ganz so überzeugt wie bisckher.

»Indem wir ihn das tun lassen, wozu er uns zwingen will«, sagte Resnec. Gwenderon blickte ihn fragend an. »Prinz Cavin zieht ein Heer in Hochwalden zusammen«, fuhr Resnec fort. »Vermutlich, weil er uns zu einer offenen Konfrontation zwingen will; zu einer Schlacht, die wir verlieren müssen, denn auckßerhalb des Waldes hat er Lassars Magie auf seiner Seite. Aber wenn es uns gelingt, sie hierher zu locken –«

»Stürmen sie unser Lager binnen einer halben Stunde und machen es dem Erdboden gleich«, fiel ihm Gwenderon ins Wort.

Resnec nickte. »Lasst sie«, sagte er erregt. »Lasst sie eine leere Festung erstürmen. Lasst ihr ganzes Heer hier aufmarckschieren und dieses Lager niederbrennen. Während sie damit beschäftigt sind, erobern wir Hochwalden.«

»Und entführen so ganz nebenbei noch Cavin, entziehen ihn Lassars Einfluss und erklären ihm, dass alles nur ein Irrtum war, wie?«, fragte Gwenderon böse. »Für wie dumm hältst du Lassar? Glaubst du, er würde nicht merken, wenn wir auf Hochwalden marschieren?«

»Wer spricht von einem offenen Angriff?«, wiederholte Rescknec. »Natürlich würde ihm ein Heer nicht entgehen, das sich auf die Burg zubewegt. Aber ein kleiner Trupp … zehn, allerhöchstem fünfzehn Männer, die sich einzeln der Burg nähern …«

»Während die anderen hier bleiben und sich abschlachten lassen«, fügte Gwenderon hinzu. »Das meinst du doch, nicht?« Er starrte Resnec an. »Und ich nehme an, du würdest dich freiwillig melden, den Angriff auf Hochwalden zu führen.«

Animah atmete scharf ein und auch Karelian sah alarmiert auf, während Resnec Gwenderon nur einen Moment lang mucksterte und dann traurig den Kopf schüttelte. »Ich verstehe«, sagte er. »Ihr traut mir noch immer nicht. Ihr denkt, ich versuche Euch eine Falle zu stellen.«

»Unsinn«, widersprach Gwenderon. »Ich denke nur, dass dein Vorschlag der glatte Selbstmord ist. Selbst wenn dein Plan aufginge, würde er das Leben vieler kosten. Die Männer, die hier blieben, um Lassars Truppen zu binden, wären verloren.«

»Nicht, wenn wir den Angriff genau planen«, widersprach Karelian. »Es ist nicht nötig, sie in eine Schlacht zu verwickeln. Es reicht, sie hierher zu locken.«

»Auch das würde Leben kosten«, fauchte Gwenderon.

»Ein Krieg kostet immer Leben«, sagte Karelian ruhig. »Vielleicht sterbe auch ich. Vielleicht wir alle. Tun wir aber nichts, sterben wir mit Sicherheit.« Er erhob sich nun ebenfalls und trat auf Gwenderon zu. »Resnec hat Recht – es ist unsere einzige Chance. Lassar rechnet mit allem – also müssen wir das tun, womit er nicht rechnen kann.«

Gwenderon ballte zornig die Fäuste. Aber zu Resnecs Verckwunderung widersprach er nicht mehr. »Und du?«, fragte er schließlich, mit einer Kopfbewegung zu ihm, aber ohne ihn anzusehen.

»Ich bleibe bei Euch«, antwortete Resnec rasch. »Es sei denn, Ihr entschließt Euch, mich den Angriff auf Hochwalden führen zu lassen. Ich kenne Lassar und ich weiß, wie mit seicknen Schattenkriegern fertig zu werden ist. Aber wenn Ihr darckauf besteht, bleibe ich als Geisel. Ihr könnt mich töten, wenn Ihr glaubt, es wäre eine Falle. So viel Zeit bleibt Euch immer.«

Gwenderon senkte den Blick, aber Resnec sah trotzdem, wie es in seinem Gesicht arbeitete. »Das ist Wahnsinn«, murmelte er schließlich. »Ein Angriff auf Hochwalden! Wir kämen nicht einmal in die Burg hinein!«

»Mit Guarrs Hilfe schon«, widersprach Karelian. »Seine Raetts können uns den Weg ebnen. Und wenn uns Resnec die Schattenkrieger vom Hals hält …«

Gwenderon schwieg sehr lange Zeit. Als er schließlich aufsah, flackerte sein Blick. Resnec hatte niemals zuvor einen Ausdruck solch tiefer Unsicherheit im Gesicht eines Menschen gesehen.

»Kannst du es?«, fragte er einfach.

Resnec nickte. Es würde sein Leben kosten, das wusste er, aber er empfand überhaupt keine Furcht bei diesem Gedanken. Und irgendetwas sagte ihm, dass es keine Rolle mehr spielte. »Ja. Aber niemand darf von unserem Plan wissen«, fügte er hinzu. »Keiner außer denen, die mich begleiten. Und auch die erst im allerletzten Moment. Lassars Augen und Ohren sind überall. Wenn er von unserem Vorhaben erfährt, fängt er uns in der Falle, die wir für ihn aufgestellt haben. Nicht einmal Eure eigenen Krieger dürfen von diesem Plan wissen.«

»Man spürt Lassars Schule, wenn man dir zuhört«, sagte Gwenderon böse.

»Dem Herrn der Lügen kann man nur mit Lügen beikommen«, erwiderte Resnec kalt. »Und am Ende entscheidet noch immer Ihr, Gwenderon.«

Gwenderon antwortete nicht mehr, sondern starrte ihn noch einen Herzschlag lang mit unverhohlener Wut an, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und stürmte aus der Hütte.

21

Niemand hatte den Schatten gesehen, der dicht neben der kleicknen Laubhütte stand; nicht einmal der Raett, der vor Augenckblicken an ihr vorübergegangen war, so dicht, dass er den Schatten gestreift hätte, hätte er den Arm auch nur eine Winzigkeit von sich gestreckt. Jetzt verschwand er wieder in das finstere Reich aus Kälte und Dunkelheit, aus dem er gekommen war. Niemand hatte ihn gesehen, niemand hatte ihn gehört, niemand hatte seine Anwesenheit gespürt. Aber der Schatten hatte gesehen; und er hatte gehört.

22

»Schon jetzt?« Cavin nippte an dem schweren, süßen Wein und blickte das Schattengesicht unter der Kapuze zweifelnd über den Rand des Bechers hinweg an. Ohne dass er einen konkreckten Grund dafür hätte angeben können, gefiel ihm Lassars Vorckschlag nicht. Alles ging zu schnell. Wenn er in den letzten Wochen etwas über Lassar gelernt hatte, dann, dass der Herr der Schatten sein Tun sehr gründlich vorzubereiten und minutiös auszuführen pflegte. Eine blitzartige – und noch dazu gefährliche und Cavins Meinung nach ganz und gar sinnlose – Änderung seiner Pläne passte gar nicht zu ihm.

»Was ist geschehen?«, fragte er, als Lassar auf seine erste Frage nicht antwortete. »Ihr spracht von drei Monaten, Lassar. Jetzt ist nicht einmal die Hälfte dieser Zeit vorbei, und von den fünfhundert Kriegern, die Ihr mir schicken wolltet, sind nur weniger als zweihundert hier.«

»Mehr als genug, es mit einer Hand voll Wegelagerer aufzucknehmen«, sagte Lassar abfällig.

»Ihr wisst genau, dass Gwenderons Rebellen alles andere als eine Hand voll Wegelagerer sind«, erwiderte Cavin, sehr ruhig, aber auch sehr überzeugt. »Sie sind uns an Zahl beinahe ebenckbürtig, zumindest im Moment noch, und wenn wir versuchen, sie dort drinnen anzugreifen –«, er wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der sich die grüne Wand des Schwarzckeichenwaldes hinter den Basaltmauern Hochwaldens verbarg, »– dann schlachten sie Eure Leute ab wie Mastvieh, Lassar.«

»Es sind Söldner«, antwortete Lassar ruhig. »Sie sind zum Sterben da, oder?« Er lachte leise, begann im Zimmer auf und ab zu gehen und blickte schließlich einen Moment in die prasselnden Flammen des Kaminfeuers. Ein schwacher Schimmer der roten Glut durchdrang den wogenden Schatten, der sein Körper war, und ließ ihn in sanftem Licht leuchten. Es war ein unheimlicher Anblick. Cavin hatte das Gefühl, dem Teufel persönlich gegenüberzustehen. Er vertrieb den Gedanken.

»Sprecht, Lassar«, sagte er noch einmal und jetzt mit größerem Nachdruck. »Was ist geschehen, dass Ihr Eure Pläne so überstürzt ändert und Gwenderon nur mit halber Kraft angreifen wollt? Ihr verschenkt den Sieg, wenn Ihr Pech habt, das wisst Ihr.« Er widerstand im letzten Moment der Versuchung, auf Lassar zuzutreten und ihn bei der Schulter zu ergreifen. »Wir haben nur diesen einen Versuch.«

»Unsinn«, widersprach Lassar. »Wir wissen, wo ihr Lager ist, und wir wissen, wie viele sie sind –«

»Noch«, unterbrach ihn Cavin. »Wir können sie überraschen, Lassar, ein einziges Mal. Schlägt der Angriff fehl, dann verstreuen sie sich in alle Winde und wir können zehn Jahre suchen, ehe wir sie aufspüren. Der Schwarzeichenwald ist ein Labyrinth, in dem sich eine Armee verbergen kann.«

»Das ist es, was ich fürchte«, antwortete Lassar ernst. »Verckzeiht, wenn ich das sage, König Cavin, aber es war ein Fehler, den Zwerg zu töten.«

Cavins Hand schloss sich so fest um den Trinkbecher, dass sich das dünne Goldblech verbog. Er erschrak darüber, blickte fast schuldbewusst auf das demolierte Trinkgefäß in seiner Hand und stellte es behutsam ab. »Glaubt Ihr?«, fragte er. Seickne Stimme bebte vor Zorn. Die Erwähnung Mannons allein hatte gereicht seinen Hass wieder aufflammen zu lassen.

»Ja«, antwortete Lassar ruhig. »Die Schuld daran trifft auch mich, denn ich hätte es verhindern sollen. Gwenderon weiß nun, dass Ihr es ernst meint, Cavin. Und er ist kein Narr. Er wird mit einem Angriff rechnen.« Er seufzte, schüttelte ein paar Mal den Kopf und fuhr fort, unruhig in der Kammer auf und ab zu gehen. »Meine Boten berichten mir, dass sich etwas im Wald tut. Die Rebellen ziehen Männer zusammen, sehr vieckle Männer, mein König. Ihre Zahl hat sich bereits verdoppelt. Ich fürchte, wenn wir warten, bis der letzte der fünfhundert Männer hier ist, die ich Euch versprach, sehen wir uns plötzlich einer Übermacht gegenüber.«

»Aber es sind doch nur Wegelagerer und Gesindel«, antwortete Cavin spöttisch, indem er ganz bewusst Lassars eigene Worte nachahmte. »Oder fürchtet Ihr die Zauberkraft des Waldes?«

»Nein.« Lassar blieb ernst. »Dieser Wald hat so wenig Zauckberkraft wie Ihr, oder diese Burg, oder der Becher da in Eurer Hand. Aber er ist ein Labyrinth, wie Ihr selbst gesagt habt. Lassen wir ihnen Zeit, sich auf unser Kommen vorzubereiten, dann laufen wir in eine Falle. Nein, Cavin –« Er schüttelte entschieden den Kopf. »– es muss jetzt sein. Meine Männer stehen bereit. Ein Wort von Euch, und sie brechen noch heute auf. In weniger als zwei Tagen erreichen wir ihr Lager und der ganze Spuk ist vorbei. Ich bitte Euch, gebt den Befehl.«

Lassars Worte übten eine sonderbare Wirkung auf Cavin aus. Meine Männer, hatte Lassar gesagt. Und das waren sie wohl auch, ganz gleich ob er sie offiziell unter Cavins Kommando gestellt hatte oder nicht. Hochwalden hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Die nicht einmal fünfzig Männer der Garde waren der dreifachen Anzahl zerlumpter, abenteuerlicher Gestalten gewichen, die auf dem Hof, auf dem freien Gelände jenseits des Grabens und selbst auf der heruntergelassenen Zugbrücke lagerten. Ihr Lärmen und Grölen hallte Tag und Nacht in der Burg wider. Und es waren Lassars Krieger, die Wahl seiner Worte war kein Zufall gewesen. Cavin kam sich vor wie ein Gast auf seiner eigenen Burg.

»Wie viele Männer wollt Ihr mitnehmen?«, fragte er.

»Alle.« Lassar machte eine einnehmende Handbewegung. »Wir werden jeden einzelnen Mann brauchen, Cavin, auch Eure Krieger, selbst Eure persönliche Garde. Sorgt Euch nicht um Hochwalden – ich werde Vorkehrungen treffen, die Burg zu sichern, bis wir zurück sind.«

»Ihr habt bereits alles geplant, wie?«, fragte Cavin. Seine Stimme klang belegt. Es gefiel ihm nicht, dass er nur noch eine Puppe war, an deren Fäden Lassar zog. Lassar nickte und wieckder starrte Cavin endlose Sekunden ins Nichts, ehe er reagierte.

»Was, wenn es misslingt?«, fragte er. »Was, wenn sie uns entkommen, Lassar?«

»Das wird nicht geschehen«, erwiderte Lassar überzeugt. »Ich weiß, was Ihr fürchtet, mein König. Ihr fürchtet, er könne sich an jenen Ort zurückziehen, an dem er unerreichbar für uns wäre.«

»Wäre er das?«, flüsterte Cavin ohne Lassar anzusehen. Vor seinen Augen entstand das Bild einer gewaltigen schwarzen Festung, eines Kolosses aus Granit und erstarrter Nacht, dessen bloßer Anblick etwas in ihm zum Gefrieren brachte.

»Das wäre er«, bestätigte Lassar. »Aber es wird nicht geschehen. Meine Macht reicht nicht bis dorthin, aber ich kann verhindern, dass –«

»Und selbst wenn«, unterbrach ihn Cavin. »Ich würde ihn finden, Lassar. Selbst dort.«

Lassar seufzte. »Ich glaube Euch, mein König. Und das ist es, wovor ich Angst habe. Ihr würdet mit Waffen an diesen Ort gehen und ihn ein zweites Mal entweihen. Ihr würdet Blut an einem Ort vergießen, an dem nicht einmal ein böses Wort ungestraft fallen darf.«

Cavin fuhr herum. Sein Blick bohrte sich in das schwarze Schattengesicht unter der Kapuze. »Was soll das heißen, Lassar?«, fragte er scharf. »Was wisst Ihr von der Megidda? Was bedeuten Eure Worte?«

»Vielleicht nichts«, antwortete Lassar, ohne in irgendeiner Form auf Cavins erregten Tonfall zu reagieren. »Es gibt … Legenden. Düstere Legenden, die uralt sind. Es heißt, was dort geschähe, würde das Schicksal der Welt verändern. Vielleicht sind es wirklich nur Legenden und vielleicht ist es wahr. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.« Er lachte, sehr leise und ohne die geringste Spur von Humor. »Wollt Ihr Gwenderon die Gecklegenheit geben, es herauszufinden?«

Cavin wollte widersprechen, aber irgendetwas geschah, was er sich selbst nicht erklären konnte: Ein unsichtbarer Sturmckwind schien durch seine Gedanken zu fahren und alles auszulöckschen, bis nur noch Platz für seinen Hass auf Gwenderon war. Es war wie der Griff einer gewaltigen, eisigen Hand, die sein Denken bis zur Hilflosigkeit erstickte und dass er nun wirklich die willenlose Fadenpuppe war, mit der er sich selbst verglichen hatte. Aber selbst dieser Gedanke entschlüpfte ihm, ehe er ihn vollends zu Ende denken konnte.

»Nein«, sagte er entschlossen. Mit einem Male war seine Stimme ganz kalt. Er spürte jetzt nicht einmal mehr Zorn, wenn er an Gwenderon dachte, nur eine tiefe, durch nichts mehr zu ändernde Entschlossenheit. »Gebt den Männern Befehl, sich fertig zu machen. In einer Stunde brechen wir auf.«

Lassar lächelte.

23

Der Wald kam ihm dunkler vor, düsterer und kälter als gewohnt. Der Schwarzeichenwald war niemals freundlich zu den Menschen gewesen, nicht einmal zu denen, die sich seine Beckschützer nannten. Aber er war auch niemals feindlich gewesen, nicht mehr, als es in der Natur üblich war. Jetzt aber schien die jahrtausendealte Gleichgültigkeit des finsteren Blätterdomes einer stummen Ablehnung gewichen zu sein; die Dornen, die den Weg säumten, beschränkten sich nicht mehr darauf, Kleickder und Haut eines Unvorsichtigen aufzureißen, sondern stachen den Eindringlingen entgegen, die tief hängenden Äste peitschten nicht mehr nur die Gesichter derer, die zu nachlässig waren, auf den Weg zu achten, sondern schlugen gezielt wie kratzende Krallen zu, der Boden gab nicht durch puren Zufall unter den Hufen der Pferde nach, wo etwa ein Kaninchenbau oder das Labyrinth der Wühlmäuse seine Festigkeit unterhöhlt hatte, sondern schnappte mit immer neuen Mäulern nach den Fesseln der Tiere, die Dunkelheit zwischen den mannsdicken Stämmen lenkte den Schritt des Wanderers nicht mehr ohne Absicht in die Irre, sondern ballte sich zu hässlichen schwarzen Schatten, hinter denen unvorstellbare Gefahren lauerten. Sie hatten die Gewalt in dieses Reich ewigen Friedens gebracht und der Wald reagierte.

Resnec war nervös – sie alle waren nervös und sie hatten Grund dazu –, aber das war nicht alles. Seit die Späher vor zwei Tagen gemeldet hatten, dass Cavins Söldnerheer die Burg verlassen hatte und sie selbst aufgebrochen waren – ihnen entgegen und einen gewaltigen Bogen schlagend, um nicht unvercksehens mit dem näher kommenden Heer zu kollidieren –, hatte sich der Wald verändert. Es war eine schleichende, fast unckmerkliche Veränderung gewesen, die trotzdem unübersehbar geworden war.

Er versuchte die Vorstellung zu verscheuchen, aber es ging nicht. Die stumme Aggressivität, die aus dem Wald wie ein übler Geruch kam, war bereits in seine Gedanken gekrochen. Außerdem hatte er Angst.

Nervös richtete er sich hinter seiner Deckung auf und spähte durch das dichte Blattwerk zum See hinüber. Eine Stunde war vergangen, seit der Raett lautlos im Unterholz verschwunden war, und Resnecs Unbehagen war während jeder Sekunde dieser Stunde gestiegen. Seine Hand strich über das Schwert, das nutzlos an seiner Seite hing. Nutzlos, weil ein einarmiger Mann nicht sehr viel mit einem Schwert anfangen konnte und er zwar noch beide Arme hatte, der eine aber gefühllos wie ein Stück Holz von seiner Schulter hing. Sie glitt über dieses Schwert, kroch weiter den Gürtel hinauf und strich nervös über sein Kinn, fast ohne sein Zutun, und sank wieder herab, als sich Resnec der Tatsache bewusst wurde, dass er nicht allein war und ihn ein Dutzend menschlicher und die dreifache Anzahl Raett-Augen anstarrten.

Er vertrieb auch diesen Gedanken, richtete sich ein wenig weiter auf und blickte konzentriert zur Burg hinüber. Hochwalden ragte wie ein schwarzer Monolith gegen den Himmel auf. Über der Spitze ihres höchsten Turmes flatterte das rotckweiße Drachenbanner Cavins, selbst über die Entfernung von mehr als einer Meile noch deutlich zu erkennen, und das offen stehende Tor mit der heruntergelassenen Zugbrücke kam ihm vor wie ein aufgerissenes Maul, das nur darauf wartete, dass sie hineinmarschierten. Wenn er jemals eine Falle gesehen hatte, dann war es Hochwalden.

»Er bleibt sehr lange«, murmelte er. Obwohl er geflüstert hatte, kam ihm der Klang seiner eigenen Stimme übermäßig laut vor. Das grüne Halbdunkel des Waldes verschluckte sie nicht, sondern warf sie tausendfach gebrochen zurück; ein unheimliches Flüstern und Wispern, als befänden sie sich in einer gewaltigen Höhle, nicht in einem Wald.

»Weg weit«, antwortete Gionn, dem die Worte gegolten hatten. Der zwei Meter große Raett – Guarrs Bruder – blickte zu Resnec hin und bleckte das Gebiss zu einer Grimasse, die er für ein Lächeln halten mochte, die Resnec aber nur mit Schaudern erfüllte. Trotz seiner Größe war er in der grünbraunen Dämmerung kaum zu erkennen; nicht mehr als ein pelziger Schatten, der sich seiner Umgebung perfekt anpasste. »Fakor vorsichtig«, fuhr der Raett fort. »Wenn Falle, merken.«

»Ich hoffe es«, antwortete Resnec ernst. Wieder suchte sein Blick die Burg. Für einen Moment schien es ihm, als bewege sich der Schatten, zu dem Hochwalden kurz vor Sonnenuntergang geworden war, als verlagere der steinerne Drache, dessen aufgerissenes Maul ihnen höhnisch die Zunge herausstreckte, in einer sehr sachten, aber unendlich mächtigen Bewegung sein Gewicht und erstarrte dann wieder zur Reglosigkeit. Aber das war Unsinn. Lassar war mächtig, aber nicht so mächtig, dass er eine Burg zum Leben erwecken konnte.

Wenigstens versuchte Resnec sich dies einzureden.

Er ließ sich wieder zurücksinken, verlagerte sein Körpergewicht, bis er in eine einigermaßen bequeme Haltung gerutscht war, und lehnte den Kopf gegen einen Baum. Er war müde und gleichzeitig erfüllte ihn eine schon fast schmerzhafte Unruhe. Wenn ihr Plan aufging – ja, wenn er aufging, und keines der zahllosen Wenns, die er enthielt, sich zu ihren Ungunsten entckwickelte –, dann gehörte Hochwalden in wenigen Stunden ihnen, und wenn sich die gleiche Anzahl von Wenns hundert Meilen weiter nördlich ebenso zu ihren Gunsten entschied, dann würde in nicht einmal zwei Tagen König Cavin hier eintreffen, und sie hatten Lassar mit seinen eigenen Waffen geschlagen …

Beinahe fand Resnec die Situation absurd. Er war hierher gekommen, um Hochwalden zu erobern, und jetzt tat er es und wollte damit das genaue Gegenteil dessen, was ihn in diesen Teil der Welt geführt hatte. Und da war eine Stimme in seinen Gedanken, die ihm sagte, dass es unmöglich war. Er und seine Leute waren Fliegen, die versuchten eine Spinne in ihrem eigenen Netz zu fangen. Lächerlich.

»Fakor kommt.« Gionns pfeifende Stimme drang unangenehm schrill in seine Gedanken. Resnec sah auf, drückte die Zweige vor seinem Gesicht mit der Hand auseinander und erkannte einen geduckten, schwarzbraunen Schatten, der sich auf allen vieren dem Waldrand näherte, sehr schnell und mit Beckwegungen, die eher an ein Gleiten und Fließen erinnerten als an ein Kriechen. Der Anblick hatte etwas Bedrückendes, denn Gionns Späher sah nun wirklich aus wie eine ins Absurde vergrößerte Ratte. Während der letzten Tage war Resnec so viel mit den intelligenten Riesennagern zusammen gewesen, dass er manchmal vergaß, dass sie nicht nur etwas sonderbar ausseckhende Menschen waren.

Rings um sie herum entstand Bewegung, denn nicht nur er hatte das Kommen des Spähers bemerkt. Ein, zwei Dutzend Gestalten kamen auf ihn zu – der größte Teil der Krieger, die ihn und Gionn begleiteten. Aber er registrierte auch, dass es ausnahmslos menschliche Gestalten waren. Nicht einer von Gionns Raetts verließ seinen Posten. Ein völlig widersinniges Gefühl von Neid machte sich in Resnec bemerkbar. Es erschien ihm einfach nicht richtig, dass diese halb tierischen Kreaturen über mehr Disziplin verfügen sollten als seine menschlichen Begleiter.

Der Späher kam zurück. Mit erstaunlicher Lautlosigkeit durchbrach er den Waldrand, hockte sich neben Gionn nieder und begann eine Folge rascher, unglaublich hoher Pfeif- und Quietschtöne auszustoßen. Seine Klauenhände bewegten sich in komplizierter Folge, und plötzlich – eigentlich zum ersten Mal – fiel Resnec auf, dass sich auch Ohren, Barthaare und Schwanz des Wesens nicht willkürlich, sondern in einem ganz bestimmten Ablauf bewegten. Die Raetts waren nicht nur auf das gesprochene Wort angewiesen. Resnec schauderte, während er Gionn und Fakor bei ihrer rasend schnellen Unterhaltung zusah. Der Gedanke, dass diese beiden Wesen als Tiere geboren waren und als denkende Individuen sterben würden, erfüllte ihn mit Entsetzen.

»Nun?«, fragte er, als sich Gionn nach kaum einer Minute umwandte und ihn aus seinen schwarzen Knopfaugen anstarrte.

»Fakor sagt, Burg leer«, pfiff Gionn. »Alle fort. Lassar, Cavin, Krieger, niemand mehr da.«

»Das ist unmöglich«, widersprach Resnec impulsiv. »Das Tor steht offen, Gionn. Sie würden Hochwalden nicht allein zurücklassen?!«

»Wozu Tor und Riegel schließen, wenn niemand da?«, gab Gionn quietschend zurück. »Fakor nicht irren. Niemand in Burg. Wir gehen.«

»Das ist eine Falle!«, behauptete Resnec. Es war einfach unckmöglich, dass Cavin – und erst recht Lassar! – so leichtsinnig sein sollten. »Wahrscheinlich lauern sie in einem Versteck und warten nur darauf, dass wir kommen!«

Fakor pfiff einen Kommentar und Gionn übersetzte: »Nieckmand Versteck, Mensch. Fakor fragen kleine Brüder. Burg leer. Nichts lebt.«

»Kleine Brüder?« Resnec runzelte demonstrativ die Stirn. »Wer soll das sein?«

»Burg sicher«, beharrte der Raett. »Wir gehen. Komm.«

Resnec wollte abermals widersprechen, aber dann besann er sich auf die Tatsache, dass Gwenderon sehr deutlich gesagt hatte, wer diesen Angriff führen solle. Mit einem Ruck richtete er sich auf und starrte den gewaltigen Schatten Hochwaldens an. Es war unmöglich, dachte er immer wieder.

Aber er widersprach nicht mehr.

24

Lassar deutete auf einen Punkt auf der Karte, der mit einem roten Kreuz markiert worden war, ein Stück schräg rechts über der kleineren, grünen Markierung, die ihre eigene Position kennzeichnete.

»Ihr Lager ist genau hier. Zwei Stunden von uns entfernt.« Ein rasches, düsteres Lächeln huschte über seine Züge und erlosch wieder. »Die Falle ist zugeschnappt.«

»Seid Ihr sicher, Lassar?«, fragte Cavin.

Lassar schnaubte. »So sicher, wie man nur sein kann. Meine Späher sind zuverlässig, mein König. Sie sehen auch dort, wo menschliche Augen versagen. Die Rebellen sitzen in der Falle. Gwenderons Kopf gehört Euch – wie ich es versprach.«

Cavin nickte, blickte den Schattenfürsten aber weiter mit unckverhohlenem Zweifel an.

Es war der zweite Tag, seit sie Hochwalden verlassen und in den Wald eingedrungen waren, und bisher hatten sich alle Vorckaussagen Lassars als richtig erwiesen. Sie waren, aufgeteilt in ein Dutzend Gruppen unterschiedlicher Stärke, nach Norden marschiert, um sich mit der zweiten Hälfte des Söldnerheeres zu vereinigen, die den Wald umgangen hatte und aus entgegengesetzter Richtung vorgedrungen war; zusammen fast zweihundert Mann, die sich – wenn Lassars Späher die Wahrckheit berichtet hatten – einer nicht einmal halb so starken Rebellenarmee gegenübersahen. Zudem waren es zweihundert kampferprobte Männer, deren Handwerk das Töten war; und trotzdem hätte sich Cavin gewünscht, sie hätten gewartet, bis auch die übrigen Söldner eingetroffen wären. Gwenderon war kein Narr, sondern der Waffenmeister seines Vaters, ein Mann, der sein Handwerk mindestens so gut verstand wie die gekaufckten Mörder, die in ihrer Begleitung ritten. Und wenn er auch eine Armee aus Träumern und Narren befehligte, so hatten sie doch den Wald auf ihrer Seite; ein Labyrinth aus Schatten und undurchdringlichem Unterholz, in dem ein einzelner Mann es mit einem Heer aufnehmen konnte. Cavin war sich ihres Sieges nicht halb so sicher wie Lassar.

Aber bisher waren sie kaum auf nennenswerten Widerstand gestoßen, sah man von einigen kleineren Scharmützeln ab, die die Söldner aber rasch beendet hatten.

Trotzdem fiel es ihm schwer zu glauben, dass alles so leicht sein sollte. Sie führten keinen Krieg, dachte er, sondern veranstalteten eine Treibjagd. Eine Treibjagd, bei der die Opfer Menschen waren. In wenigen Augenblicken würde er sein Zelt verlassen und auf sein Pferd steigen und zwei Stunden später würde alles vorbei sein. Die Rebellen hatten keine Chance mehr.

Aber das Gefühl des Triumphes, das er jetzt eigentlich empfinden sollte, kam nicht.

Vielleicht, dachte er, weil es ein zu teuer erkaufter Sieg war. Zum ersten Mal, seit sich die Welt drehte, hatten fremde Krieger den Schwarzeichenwald betreten; Männer unter dem Drachenbanner Hochwaldens zwar, aber trotzdem Fremde.

Er hatte das Gefühl, an etwas gerührt zu haben, das nicht berührt werden durfte.

Cavin wischte die Karte mit einer zornigen Geste vom Tisch und stand auf. Lassar lächelte dünn. Sein Gesicht war wie eine halb transparente Schattenmaske, durch die das Weiß der Zeltplane hindurchschimmerte.

Lassar verlor an Glaubhaftigkeit, je tiefer sie in den Wald eindrangen, dachte Cavin. Selbst ihm, der von magischen Dingen nur sehr wenig wusste, war nicht verborgen geblieben, wie schwer es dem Herrn der Schatten in dieser Umgebung fiel, seine Erscheinung aufrechtzuerhalten.

Nebeneinander verließen sie das Zelt.

Das Lager befand sich auf einer sanften Anhöhe, die kaum groß genug schien, die zwanzig Zelte und die mehr als hundert Pferde und Männer aufzunehmen, die es bevölkerten. Und dies war nur die Hälfte der kleinen Armee, die ihm gefolgt war. Plötzlich kam es ihm gar nicht mehr so sonderbar vor, dass die Rebellen sich kaum gewehrt hatten. Welche Aussicht hatte eine Hand voll armseliger Rebellen gegen diese Woge aus Stahl und Kraft, die den Wald überschwemmte?

»Die Männer sind bereit, mein König«, sagte Lassar. »Sie warten auf Euren Befehl.«

Warum kamen ihm seine Worte so höhnisch vor?, dachte Cavin. Verwirrt blieb er stehen und sah Lassar an.

Hier draußen, im letzten Licht der Sonne, wirkte der Herr der Schatten unwirklicher denn je, als sei er nicht mehr als ein Hauch aus düsterem Nebel, der durch eine pure Laune des Zufalls menschliche Umrisse angenommen hatte. Und – ja, irgendwie schienen die Farben in seiner Umgebung blasser, als schrecke – etwas in der Natur dieses Waldes vor ihm zurück.

Cavin vertrieb diesen Gedanken. Wieder glaubte er Gwenderon zu sehen und wieder fühlte er eine Welle heißen, brennenden Hasses in sich emporsteigen.

»Ihr habt Recht, Lassar«, sagte er. »Bringen wir es zu Ende.«

Ein sonderbares Gefühl von Kraft durchströmte ihn, als er zu den wartenden Reitern hinüberging und sich in den Sattel schwang.

25

Der Ruf eines Waldvogels durchschnitt die Nacht. Er war nicht sehr laut, und jemandem, der nicht wie Gwenderon und seine Begleiter seit Jahren in diesem Wald lebte und jeden Laut der Natur kannte, wäre nichts Besonderes daran aufgefallen. Doch für die fünfunddreißig Männer und Raetts, die sich eine halbe Meile vor dem Lager im Schutze der Dunkelheit postiert hatten, war er ein Alarmsignal.

»Sie kommen«, flüsterte Karelian. »Früher, als ich gehofft hatte.«

Gwenderon zog behutsam sein Schwert aus dem Gürtel, legte die Waffe vor sich auf den Boden und löste den Bogen vom Rücken. Dann nahm er eine Hand voll Pfeile aus dem Köcher, prüfte sie pedantisch der Reihe nach und warf einen von ihnen fort, ehe er die anderen griffbereit neben sich in den weichen Waldboden steckte. Erst dann wandte er den Kopf und antwortete auf Karelians Worte.

»Und mehr, als ich befürchtet habe«, sagte er. »Die Späher haben mehr als hundert Krieger gemeldet, allein aus dieser Richtung.« Er deutete mit einer Kopfbewegung nach Süden, dann nach Norden. »Und mindestens noch einmal so viele aus der entgegengesetzten.«

Er lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert, eher bitter. »Wir versuchen eine Lawine mit bloßen Händen aufzuhalten, Karelian.«

Der Waldläufer sah ihn ernst und beinahe traurig an, antwortete aber nicht. Er wusste selbst am besten, dachte Gwenderon, wie verzweifelt klein ihre Chance war, auch nur die nächste Stunde zu überleben, geschweige denn die Nacht.

Die zweihundert Krieger, die aus entgegengesetzten Richtungen auf das Lager zuritten, stellten nicht einmal die Hälfte von Cavins Streitmacht dar. Selbst wenn das Unmögliche geschehen sollte und sie den ersten Angriff überlebten, würden sie nicht lebend davonkommen. Der Schwarzeichenwald, der ihnen Schutz und Sicherheit versprochen hatte, hatte sich in eine Falle verwandelt. Gwenderon versuchte vergeblich sich einzureden, dass es Lassar und seine Kreaturen waren, die sich in dieser Falle fangen würden. Ihr Plan war aus schierer Verckzweiflung geboren und sein Gelingen hing von so vielen Unckwägbarkeiten ab, dass Gwenderon sich einfach weigerte wirkcklich realistisch darüber nachzudenken.

Faroan, dachte er matt. Faroan, warum hast du uns verlassen? Warum warnst du uns erst, wenn du uns dann nicht einmal sagen kannst, was wir tun sollen?

Gwenderon richtete sich ein wenig hinter seiner Deckung auf und machte eine knappe, befehlende Geste. Eine Hand voll Männer huschte davon, rasch und nahezu lautlos, mit der Geschicklichkeit von Menschen, die jahrelang in einer Umgebung wie dieser gelebt hatten und jeden Fußbreit Boden kannten.

Jemand berührte ihn am Arm, und als er aufsah, blickte er in das braune Pelzgesicht Guarrs. Der Raett war so leise herangekommen, dass er ihn nicht bemerkt hatte.

»Sind deine Leute bereit?«, fragte er.

Guarr nickte ungeschickt, ließ sich ein wenig nach vorne sinken und stützte sich mit der linken Hand am Boden auf, um das Gleichgewicht zu halten. Er hatte seine Kleider ausgezogen und war wieder zu der tierhaften Raett-Gestalt geworden, in der Gwenderon ihn das erste Mal gesehen hatte. Sein brauner Pelz verschmolz mit den Farben der Nacht. Es war eine perfekckte Tarnung.

»Späher zurück«, pfiff er erregt. »Du Recht, Gwenderon. Cavin bei den Reitern. Sie kommen.«

»Ich weiß«, sagte Gwenderon düster. »Ich spüre Lassars Näckhe wie einen Pesthauch. Und wo er ist, ist auch Cavin nicht weit.«

»Aber es viele«, gab Guarr zu bedenken. »Kleiner Bruder zählte hundert. Vielleicht mehr.«

»Hundert von Lassars Kreaturen gegen fünfunddreißig von uns«, murmelte Gwenderon achselzuckend. »Das Verhältnis könnte schlechter sein, findest du nicht?«

Der Raett gab einen schwer einzuordnenden Laut von sich. »Menschen seltsam«, sagte er. »Vielleicht wir gleich alle tot, und du Scherze. Keine Angst?«

»Wer sagt, dass es ein Scherz war?«, knurrte Gwenderon. Er verlagerte sein Gewicht, zog einen Pfeil aus dem Boden und legte ihn sorgsam auf die Sehne, ehe er sich wieder an den Raett wandte. »Natürlich habe ich Angst. Aber wir Menschen sind nun einmal der Meinung, dass es sich für einen Mann nicht gehört, Angst zu zeigen.« Er lachte leise. »Was tut euer Volk, ehe es in die Schlacht zieht, Freund?«, fragte er.

»Wir keine Schlachten«, erklärte Guarr ernst. »Du glaubst, wir Tiere, aber wir bringen nicht gegenseitig um. Menschen töten Menschen. Raett nicht töten Raett.«

»Niemals?«

»Nicht so«, antwortete Guarr.

Der Ruf des Waldvogels erscholl erneut und diesmal war seine Tonlage um eine Winzigkeit höher; der Laut klang warnender und schriller. Gwenderon gebot Guarr mit einer raschen Handbewegung, still zu sein, duckte sich tiefer hinter den Busch, der ihm Deckung gab, und starrte konzentriert auf den Weg hinaus.

Seine Geduld wurde auf keine harte Probe gestellt. Schon nach wenigen Augenblicken wurde die Stille der Nacht abermals durchbrochen – diesmal vom dumpfen Geräusch zahllockser, eisenbeschlagener Hufe, das sich wie das Grollen einer bizarren Brandungswelle rasch näherte und lauter und lauter wurde, bis Gwenderon glaubte, den Boden unter seinen Füßen tanzen zu spüren.

Dann tauchten die ersten Reiter auf.

Sie ritten in Viererreihen, dicht an dicht, sodass sich die Leickber der Pferde berührten, eine schier endlose Zahl großer, waffenstarrender Gestalten, die sich wie einzelne Glieder eines gigantischen Wurms den schmalen Waldweg entlangschlängelten. Es waren an die hundert Gestalten, aber Gwenderon kamen sie wie tausend vor.

Gwenderons Hände wurden feucht vor Aufregung, während die Reiter näher kamen. Seine Finger begannen zu schmerzen, so fest hielt er den Pfeil, und in seinem Magen war plötzlich ein eisiger Klumpen. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Wieder kam ihm zu Bewusstsein, wie verckzweifelt klein ihre Zahl war und wie gewaltig die Übermacht der Feinde.

Er hatte keine Angst vor dem Tod. Der Krieg war sein Handwerk gewesen, solange er denken konnte, und der Gedanke ans Sterben schreckte ihn nicht. Aber es ging nicht nur um sein Leben. Wenn ihr Plan fehlschlug, war die Zukunft des Schwarzeichenwaldes besiegelt; vielleicht für alle Zeit.

Er versuchte den Gedanken aus seinem Schädel zu verbannen und sich zu konzentrieren, aber es gelang ihm nur zum Teil. Sein Blick wanderte unstet über die schier endlose Reihe der Reiter und verharrte schließlich auf einer einzelnen Gestalt, die in strahlendes Weiß und einen goldschimmernden Brustpanzer gekleidet war. Neben ihr ritt ein hünenhafter, ganz in Schwarz gehüllter Reiter.

Irgendetwas war an seiner Gestalt nicht so, wie es hätte sein sollen, dachte Gwenderon. Aber er wusste nicht was.

»Das Cavin«, flüsterte Quarr.

Gwenderon nickte abgehackt. »Ja«, gab er ebenso leise zurück. »Und die Kreatur neben ihm – das muss Lassar sein.«

Seine Hände spannten sich so fest um den Schaft des Bogens, als wolle er ihn zerbrechen. Einen Moment lang folgte die Pfeilspitze der düsteren Schattengestalt Lassars, und Gwenderon musste all seine Willenskraft aufbieten, um das Geschoss nicht abzufeuern. Im letzten Moment riss er den Bogen herum, zielte auf den Rücken des Mannes unmittelbar vor Cavin und ließ die Sehne los.

Der Pfeil verwandelte sich in einen sirrenden Schemen, traf den Mann wie ein gewaltiger Fausthieb und riss ihn aus dem Sattel.

Und im gleichen Moment schien der Wald zu beiden Seiten des Pfades zu todbringenden Leben zu erwachen. Ein ganzer Hagel von Pfeilen und Bolzen regnete auf den Söldnertrupp nieder und das Sirren der Pfeile und das Peitschen der Sehnen mischte sich mit den Schreien der Getroffenen.

Gwenderon legte mit fliegenden Fingern einen neuen Pfeil auf die Sehne, zielte auf den Reiter hinter dem Prinzen und ließ das Geschoss fliegen. Als der Mann stürzte, hatte er bereits seinen dritten Pfeil aufgelegt und schoss.

Unter den Söldnern brach eine Panik aus. Die Pfeile der Angreifer jagten aus Baumkronen und Büschen heran, ohne dass sie auch nur einen ihrer Gegner zu Gesicht bekamen, und die Rebellen schossen so schnell und gezielt, dass schon nach den ersten Salven eine Reihe von Cavins Kriegern tot oder verckwundet aus den Sätteln gestürzt waren. Gwenderon hatte nur die besten und zuverlässigsten Schützen für diesen verzweifelten Angriff ausgewählt und beinahe jeder Pfeil fand sein Ziel. Die Söldner mussten sich einer Übermacht, zumindest aber einem gleich starken Gegner gegenüberglauben.

Aber der Moment der Überraschung hielt nicht lange an. Lassar stieß einen scharfen, weithin hallenden Befehl aus und plötzlich stob die Formation der Reiter auseinander. Aus leichten, nahezu bewegungslosen Zielen wurden hin und her rasende Schatten und mit einem Male gingen die Pfeile der Angreifer ins Leere oder schlugen in hastig hochgerissene Schilde.

Dann erfolgte der Gegenangriff. Die Reiter drängten ihre gepanzerten Pferde rücksichtslos durch das dornige Unterholz und drangen in den Wald ein. Gwenderon schleuderte mit einem Fluch seinen Bogen fort, riss das Schwert hoch und sprang auf, als gleich drei der Söldner sein Versteck ausmachten und auf ihn eindrangen. Neben ihm wuchs Guarrs mächtige Gestalt wie ein zum Leben erwachter Alptraum in die Höhe. Der Raett war waffenlos, aber seine Fänge waren gebleckt, die mächtigen Hände mit den blitzenden Klauen kampfbereit ausgestreckt und seine Augen schienen in Flammen zu stehen.

Gwenderon warf sich herum, als der erste Krieger heranstürmte, wehrte einen heimtückischen Schwerthieb ab und warf sich zur Seite, als der zweite Reiter heransprengte und versuchte ihn kurzerhand über den Haufen zu reiten.

Ein Schwerthieb verfehlte ihn um Haaresbreite; dann traf ein Schlag seine Schulter und ließ ihn mit einem unterdrückten Schmerzlaut nach vorne taumeln. Wie in einer bizarren Vision sah er, wie Guarr den dritten Krieger mit bloßen Händen packte und in vollem Galopp aus dem Sattel zerrte. Dann waren die beiden anderen wieder heran und Gwenderon blieb keine Zeit mehr, Guarr zu beobachten; für die nächsten Augenblicke hatte er alle Hände voll damit zu tun, am Leben zu bleiben.

Die beiden Männer hatten aus ihren Fehlern gelernt. Hier, abseits vom Weg und zwischen Gestrüpp und Bäumen, nutzte ihnen die Beweglichkeit ihrer Pferde nicht mehr viel. Aber sie waren beide erfahrene Krieger, die es verstanden, aus der Not eine Tugend zu machen – wie Gwenderon rasch und schmerzckhaft herausfand.

Langsam, und immer so, dass einer von ihnen in seinem Rücken war, während ihn der andere von vorne attackieren konnte, begannen sie Gwenderon zu umkreisen. Ihre Schwerter zuckten immer wieder nach seinem Gesicht, seinen Armen oder seiner eigenen Waffe, aber sie griffen nie wirklich an, sodass Gwenderon Gelegenheit zu einem Gegenangriff gefunden hätte.

Er spürte, dass er dieses grausame Spiel nicht lange durchhalten würde. Seine Kräfte begannen bereits zu schwinden, während sich die beiden Krieger darauf beschränkten, ihn unentckwegt zu umkreisen und abwechselnd nach einer Lücke in seickner Deckung zu suchen. Und von Guarr war keine Spur zu seckhen.

Die Verzweiflung gab ihm noch einmal zusätzliche Kraft. Er hieb nach dem Mann vor sich, wirbelte blitzschnell herum und riss das Schwert mit aller Kraft nach oben. Der andere Krieger wollte zurückweichen – aber es war zu spät.

Die Klinge schrammte über den empfindlichen Leib des Pferdes und riss Stiefel und Bein seines Reiters auf. Die Verckletzung war nicht tödlich; wahrscheinlich nicht einmal gefährcklich. Aber das Pferd bäumte sich in irrsinnigem Schmerz auf, schlug wie in Raserei mit den Vorderhufen in die Luft und warf seinen Reiter ab.

Gwenderon rollte sich blitzschnell zur Seite, um aus der Reichweite der hämmernden Hufe zu gelangen. Der Söldner stürzte mit einem Aufschrei neben ihm zu Boden, versuchte sich aufzurichten und sank zurück, als er seinen Arm belastete. Gwenderon schlug ihm den Schwertknauf vor die Schläfe, sprang mit einem federnden Satz auf die Füße und wandte sich dem letzten verbliebenen Gegner zu. Sein Schwert blitzte auf, zerschmetterte die Waffe des Söldners dicht über dem Griff und drang durch sein Panzerhemd. Der Mann keuchte und kippte seitwärts aus dem Sattel.

Gwenderon griff nach den Zügeln seines Pferdes, schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung auf dessen Rücken und brachte das bockende Tier mit hartem Schenkeldruck zur Ruhe. Er wischte sich mit der Linken Schweiß und Blut aus dem Gesicht und hielt nach Guarr Ausschau.

Der Raett hatte seinen Gegner getötet, hockte aber weiter in seltsam verkrampfter Haltung am Boden und presste beide Hände gegen die Brust. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor und färbte sein Fell dunkel.

»Kannst du reiten?«, fragte Gwenderon hastig.

Guarr nickte, stemmte sich mühsam hoch und machte einen torkelnden Schritt auf das zweite, reiterlose Pferd zu. Das Tier schrak zurück und versuchte nach ihm zu beißen.

Gwenderon zwang sein eigenes Tier mit einer harten Bewegung an seine Seite, griff nach den Zügeln und brach den Wickderstand des Tieres mit einem schnellen Ruck. Guarr pfiff dankbar, griff mit einer Hand nach dem Sattelknauf und zog sich ungeschickt auf den Rücken des Tieres.

Wieder begann das Pferd zu bocken; anders als die Pferde der Rebellen war es Raett-Reiter nicht gewohnt und der scharfe Raubtiergestank des Rattenwesens machte es rasend. Nach ein paar Sekunden gab Guarr den Kampf auf und sprang mit einem unterdrückten Schmerzenslaut wieder zu Boden. Die Wunde in seiner Brust blutete stärker.

Gwenderon blieb keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Die Söldner hatten sich vollends von ihrer Überraschung erholt und nun machte sich ihre fast dreifache Überlegenheit bemerkbar. Gwenderon sah sich plötzlich von zwei weiteren Männern attackiert, schlug einen von ihnen mit einer mehr instinktiven Bewegung aus dem Sattel und schrie eine halbe Sekunde später vor Schmerz auf, als die Klinge des anderen ihm heiß und brennend über den Oberschenkel fuhr. Ein zweiter Hieb verfehlte seinen Kopf um Haaresbreite, dann krachte das Schwert des Angreifers mit fürchterlicher Wucht gegen seine Seite, zerbrach die Kettenglieder seines Panzerhemdes und zwei oder drei seiner Rippen und federte zurück.

Gwenderon sah nur noch wie durch einen blutigen Nebel. Irgendwo neben oder hinter ihm begann Guarr schrill und warnend zu pfeifen; er spürte einen weiteren schmerzhaften Hieb und schlug halb blind zurück.

Sein Schwert traf auf Widerstand. Ein dumpfer Schmerzenscklaut drang an sein Ohr. Der Mann begann zu zittern, ließ das Schwert fallen und kippte rücklings aus dem Sattel.

Dann wurde die Welt um Gwenderon rot und er spürte nur noch Schmerz und Übelkeit und das rasende Hämmern seines eigenen Herzens. Guarrs Pfiffe klangen plötzlich schriller und beinahe drohend in seinen Ohren. Er hatte den flüchtigen Eindruck von Bewegung, die irgendwo hinter den schwarzen Schleiern war, die sein Bewusstsein einzuhüllen begannen, dann glaubte er eine scharfe, befehlende Stimme zu hören.

Irgendetwas war im Klang dieser Stimme, was die saugenden Schleier um seine Gedanken noch einmal durchbrach. Und dann erkannte er sie.

Es war Cavins Stimme, und es war nicht ihr Klang, der ihn noch einmal ins Bewusstsein zurückgerissen hatte, sondern das, was sie schrie: »Das ist Gwenderon!«, schrie der junge König. »Bringt mir seinen Kopf! Hundert Goldstücke für den, der ihn tötet!«

Irgendetwas schien in Gwenderon zu zerbrechen. Bis jetzt, bis zum letzten Moment, hatte sich etwas in ihm noch immer geweigert die Tatsache anzuerkennen, dass Cavin zu seinem Feind geworden war. Und selbst jetzt weigerte er sich.

Dann lichtete sich der Nebel vor seinen Augen, und als er aufsah, blickte er direkt in Cavins Gesicht hinüber. Und der Ausdruck, den er darin gewahrte, fegte auch den letzten Rest von Zweifel beiseite.

»Gwenderon! Flieh!«

Guarrs Stimme brach den Bann, der von Gwenderon Besitz ergriffen hatte, und mit einem Male erkannte der Waffenmeickster wieder, in welcher Gefahr er sich befand. Ihr verzweifelter Überfall war längst abgeschlagen. Die meisten seiner Männer waren tot oder geflohen. Nur hier und da wurde noch gekämpft – und ein halbes Dutzend Reiter preschte auf breiter Front gerade auf ihn zu!

Verzweifelt riss Gwenderon sein Pferd herum, stieß ihm die Absätze in die Seiten und schlug ihm zusätzlich mit der Breitckseite des Schwertes gegen die Flanke. Das Tier sprang mit einem gewaltigen Satz los.

26

»Er entkommt!« Cavins Stimme überschlug sich fast. Mit einem gellenden Schrei riss er sein Schwert empor, zerrte an den Zügeln seines Pferdes und trieb dem Tier rücksichtslos die Sporen in die Weichen. Alles, was er damit erreichte, war, dass die gequälte Kreatur auf die Hinterläufe stieg und ausschlug.

»Er entkommt euch, ihr verdammten Narren! Fasst ihn!«, brüllte er. »Bringt mir seinen Kopf oder ich verlange eure!«

Eine Hand berührte ihn an der Schulter und er hörte, wie Lassar irgendetwas sagte, aber die Worte erreichten sein Beckwusstsein kaum. Vor ihm war der Mörder seines Vaters! Der Mann, der seinen Vater vor seinen Augen erschlagen hatte, dessenthalben er dieses Heer aufgestellt und diesen ganzen Krieg begonnen hatte, und er drohte zu entkommen!

Plötzlich beruhigte sich sein Pferd und auch Cavin spürte eine sonderbare, fast unangenehme Ruhe, die nicht aus ihm selbst zu entspringen schien, sondern irgendwie von außen in seinen Körper einfloss.

Verstört drehte er den Kopf und sah, dass Lassar eine seiner Schattenhände gehoben hatte und mit gespreizten Fingern gleichzeitig auf ihn und das Tier deutete. Cavin schauderte.

»Beruhigt Euch, mein König«, sagte Lassar. »Er kann uns nicht mehr entkommen. Unsere Krieger haben das Lager umckstellt. Es gibt keinen Ort mehr, wohin er fliehen könnte.«

Cavin starrte den Schattenfürsten an. Für einen Moment flammte noch einmal Zorn in ihm auf und drohte sich auf Lassar zu entladen.

Dann, mehr niedergeschlagen als noch wirklich zornig, rammte er sein Schwert in die Scheide zurück und blickte in die Richtung, in der Gwenderon verschwunden war. Mehr als ein Dutzend Söldner hatten die Verfolgung aufgenommen. Zehnmal so viele würden es in den nächsten Augenblicken tun, um sich die hundert Goldstücke zu verdienen, die er als Belohnung in Aussicht gestellt hatte. Und selbst wenn Gwenderon das Unmögliche schaffte und ihnen entkam …

Lassar hatte Recht. Es gab keinen Ort mehr, wohin er fliehen konnte. Die andere Hälfte ihres Heeres näherte sich der Waldfestung der Rebellen von Norden her. Der Ring schloss sich. Die Falle war zugeschnappt.

»Es besteht kein Grund zur Aufregung, mein König«, sagte Lassar noch einmal. »Der Sieg ist Euer. Keiner von denen, die sich gegen Euch gestellt haben, wird diese Nacht überleben.«

Cavin nickte, aber es war eher ein Reflex als eine Bestätigung. Jetzt, da sein Zorn verraucht war, fühlte er sich sonderckbar leer und müde. Fast, als wäre er der Verlierer, nicht Gwenderon und seine Rebellen.

Warum erfüllten ihn Lassars Worte mit einem solchen Schrecken?, dachte er. Schließlich war er hier, um die Rebellen zu vernichten und den Frieden im Schwarzeichenwald wiederckherzustellen.

Und trotzdem kam er sich so vor, als wäre er es, der den heickligen Frieden dieses Ortes entweiht hatte …

Zornig vertrieb er den Gedanken, griff wieder nach den Zückgeln und zwang sein Pferd herum.

Der Kampf war vorbei, als sie weiterritten. Es war nur eine Hand voll Rebellen gewesen, die ihnen aufgelauert hatte, und nachdem seine Krieger erst einmal ihres Schreckens Herr geworden waren, hatten sie leichtes Spiel mit ihnen gehabt. Hier und da drangen noch Schreie oder das Klirren von Schwertern aus dem Wald, aber am Ausgang des Kampfes bestand kein Zweifel mehr.

Trotzdem hatten sie einen hohen Blutzoll bezahlt. Cavin zählte mehr als zwanzig Tote, während er langsam weiter in nördlicher Richtung ritt, und gut doppelt so viele Männer mussten verwundet sein.

»Das Schicksal dieser Kreaturen braucht Euch nicht zu kümmern, Cavin«, sagte Lassar abfällig.

Cavin sah verstört auf. Seine Augen wurden schmal. »Was soll das heißen, Lassar?«, fragte er scharf. »Lest Ihr meine Geckdanken?«

Lassar lachte leise. »Nein. Das kann ich nicht, und an diesem Ort schon gar nicht. Aber sie sind nicht schwer zu erraten. Euer Blick spricht Bände, mein König.«

Die beiden letzten Worte klangen eindeutig spöttisch, auf eine Art, die Cavin nicht gefiel. Aber er kam nicht dazu, dem Schattenfürsten die scharfe Antwort zu erteilen, die ihm auf der Zunge lag, denn Lassar zügelte plötzlich sein Pferd und deutete mit einer Geste nach vorne. Cavins Blick folgte seiner Bewegung.

Quer über dem Weg lag ein verwundeter Raett. Sein braungraues Fell war dunkel von Blut, und seine Krallen hatten sich im Todeskampf in den Boden gegraben, als hätte er versucht dort Schutz zu suchen. Seine breite Brust hob und senkte sich in schnellen, unregelmäßigen Stößen.

»Guarr«, sagte Lassar.

Cavin fuhr unwillkürlich zusammen, zügelte sein Pferd und besah sich den verwundeten Raett genauer, Lassars Worte lieckßen die Erinnerung an den Führer der Raett-Horde so deutlich wie ein Bild vor seinen Augen aufsteigen.

Und irgendetwas war an diesem Bild falsch.

»Seid Ihr … sicher?«, fragte er stockend.

Lassar nickte. »Ich irre mich nie«, behauptete er. »Das ist Guarr, der Anführer dieser Raett-Kreaturen, mit denen sich Gwenderon verbündet hat.« Er lachte hässlich. »Damit gibt es nur noch ihn, mein König. Und auch das nicht mehr lange.«

Cavin blickte weiter zweifelnd auf den Raett herunter.

Er besann sich vage auf den Stammesführer der Raetts, die ihn und Gwenderon vor den Tauspinnen gerettet und eine Zeit lang den gleichen Weg wie sie genommen hatten. Aber die Erinnerung war seltsam unscharf, als läge sie Jahre zurück, nicht Tage.

Guarr war ein mächtiges, barbarisches Raett-Männchen gewesen, ein Wesen, das nur gebrochen die menschliche Sprache beherrschte und sich viel mehr wie ein Tier denn wie ein vernunftbegabtes Wesen benahm – zumindest auf den ersten Blick hin. Der Raett, der sterbend vor ihm lag, trug einen Waffengurt und neben ihm lag ein zerbrochenes Schwert im Schlamm. Es erschien ihm sonderbar, dass sich der Raett in den wenigen Monaten, die seit ihrer ersten Begegnung vergangen waren, derart verändert haben sollte.

Aber er sprach nichts davon aus, sondern richtete sich ohne ein weiteres Wort im Sattel auf und deutete auf Guarr, dann auf den am nächsten stehenden Söldner. »Töte ihn«, sagte er. Dann ritt er weiter, ohne Guarr und den Krieger auch nur eines Blickes zu würdigen, dem Lager der Rebellen entgegen.

Hätte er es getan, dann hätte er vielleicht gesehen, wie sich Lassars Schattenhand ein zweites Mal auf diese sonderbare, flatternde Weise bewegte und diesmal auf den Söldner deutete. Der Mann hatte sich dem Raett genähert und seinen Speer mit beiden Händen ergriffen, um ihn Guarr zwischen die Schultern zu stoßen. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Ein erstaunter, verwirrter Ausdruck huschte über seine Züge. Einen Moment lang starrte er die Waffe in seinen Händen an, dann den stöhnend daliegenden Raett, dann wieder den Speer – und dann warf er seine Waffe in hohem Bogen davon und ging zu seinem Pferd zurück, um sich den anderen Kriegern anzuckschließen.

Lassar lächelte.

27

Die Burg war leer.

Resnec hatte sich bis zum letzten Moment einfach geweigert es zu glauben – aber der Raett hatte die Wahrheit gesagt. Hochwalden war leer, von jeglichem menschlichen Leben vercklassen, so gründlich, als hätte es in seinen schwarzen Mauern niemals etwas anderes gegeben als Stille und Staub.

Der Abend war längst der Nacht gewichen. Dunkelheit hatte sich wie eine schwarze Glocke über den Hof gestülpt und mit dem kühlen Wind, den der Abend gebracht hatte, trieben Wolken über den Himmel, sodass auch das letzte bisschen Sternencklicht noch verschluckt wurde. Die Türme Hochwaldens waren nicht mehr sichtbar; wenige Manneslängen über den Zinnen der Wehrmauern schienen die Burg und die Welt einfach aufckzuhören und in alles verschlingende, brodelnde Schwärze überzugehen. Es war kalt. Resnec war sicher, dass die Nacht noch Regen bringen würde.

Schaudernd trat er von der Burgmauer zurück und blickte in den Hof hinab. Das ungleichmäßige Rechteck war mit roten Glutpunkten getupft, die wie lodernde Löcher in der erstarrten Kruste eines Vulkanes wirkten. Nachdem sie Hochwalden einer ersten, flüchtigen Untersuchung unterzogen hatten, hatten die Männer Feuer entzündet; gut die Hälfte von ihnen war dabei, alles für das Nachtlager vorzubereiten, während die anderen die Festung ein zweites Mal und gründlicher untersuchten.

Resnec wusste, dass sie nichts finden würden. Hochwalden war leer. Leer und still wie ein gewaltiges, steinernes Grab.

Es war kein Zufall, dass sich Resnec ausgerechnet dieser Vergleich aufdrängte. Er hatte es gespürt, im gleichen Augenckblick, in dem er an Gionns Seite durch das offen stehende Tor gegangen war und sich gegen die Vorstellung gewehrt hatte, es könne hinter ihnen zuschnappen und sie mit stählernen Drachenzähnen zerquetschen: Hochwalden war nicht nur von seicknen menschlichen Bewohnern verlassen. Es war leer. Vollkommen. Es war, dachte er schaudernd, als hätte etwas alles Leben aus der Burg verjagt. Selbst der See, der in der Nacht wie ein gewaltiger Halbmond aus geschmolzenem Pech unter den Burgmauern glänzte, wirkte auf schwer in Worte zu fassende Weise tot.

Ein Geräusch drang in seine Gedanken. Resnec drehte sich herum. Im ersten Moment sah er nichts als einen klobigen Schatten, dann spürte er den scharfen Raubtiergestank eines Raett. Fast ohne sein Zutun lächelte er. Er hatte es sich bisher nicht eingestanden, aber beinahe fühlte er sich in der Nähe der Rattenmänner wohler als in der seiner menschlichen Begleiter. Vielleicht, weil sie wie er Ausgestoßene waren. Gwenderons Männer akzeptierten sie, weil sie sie brauchten und ihre Rebellion ohne die Hilfe dieser riesigen, starken Wesen schon in den ersten Tagen kläglich gescheitert wäre, aber das bedeutete nicht, dass sie sie mochten. Und irgendwie galt dies auch für ihn. Ganz gleich, was Karelian und Animah und der Zwerg gesagt haben mochten – er würde immer ein Fremder unter ihnen bleiben; ganz gleich, was er tat und sagte.

»Gionn. Alles in Ordnung?«

Der Raett versuchte ein menschliches Kopfschütteln nachzuckahmen, was wie immer kläglich misslang; man kann keinen Hals drehen, den man nicht hat. »Nichts in Ordnung«, pfiff er. »Festung verlassen. Nicht gut.«

»Vorhin warst du anderer Meinung«, sagte Resnec.

»Vorhin denken, keine Krieger«, antwortete Gionn ernst. »Jetzt wissen, kein Leben.«

Resnec schauderte. Der Raett drückte mit wenigen, holperig gewählten Worten aus, was er empfand. Setzte er einfach einckmal voraus, dass sowohl Cavin als auch Lassar im gleichen Moment den Verstand verloren hatten, dann war es vielleicht noch denkbar, dass sie Hochwalden einfach verließen, darauf vertrauend, dass sich niemand den reifen Apfel pflücken würde, den sie am Baum zurückgelassen hatten. Aber das erklärte nicht, warum alles Leben aus der Festung gewichen war. Rescknec hatte nicht einmal eine Spinne gesehen, als er sich an der Durchsuchung Hochwaldens beteiligte.

»Du glaubst, es wäre eine Falle.«

»Böser Zauber«, bestätigte Gionn. »Besser, wir gehen.«

»Zauber?« Resnec schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. Nein – er hätte es gemerkt, wäre Lassars Magie im Spiel gewesen. Er konnte die Nähe des Schattenfürsten spüren, ebenso wie die seiner Kreaturen. »Nein«, sagte er laut. »Es ist keine Magie, Gionn. Wenn es eine Falle ist, dann …«

Er sprach nicht weiter, denn es gab nichts, was er hätte sagen können. Was, dachte er bedrückt, wenn sie Lassar einfach unterschätzt hatten? Wenn sich der Herr der Schatten so sehr mit einem Mantel aus Intrigen und Lügen umgeben hatte, dass sie die Wahrheit nicht mehr erkannten, weil sie so einfach war, nämlich offensichtlich? Was, wenn es Lassar vollkommen gleich war, ob sie Hochwalden einnahmen oder nicht?

»Was tun?«, fragte Gionn. Seine Augen glitzerten im Widerckschein der Feuer, die unten auf dem Hof brannten. Obwohl er Resnec um mehr als anderthalb Haupteslängen überragte, kam er ihm plötzlich klein und hilflos vor. Mit einem Male begriff er, wie unendlich weit Lassar ihnen allen überlegen war. Sie kämpften mit den beiden einzigen Waffen, die ihnen geblieben waren – Tapferkeit und Kraft –, gegen einen Mann, der das Instrumentarium der Lüge und des Betruges zur Perfektion entwickelt hatte, der die Wahrheit so lange zu verbiegen und verzerren gelernt hatte, bis er sie seinem Gegenüber ganz offen unter die Nase halten konnte, ohne dass dieser sie noch zu seckhen vermochte. Was nutzten ihnen die gewaltigen Körperkräfte der Raetts gegen Lassars Lügen, dachte er matt, was Gwenderons Umsicht und die Schnelligkeit und Klugheit der beiden Waldläufer gegen Lassars Heimtücke, was seine eigene Erfahrung gegen Lassars Bosheit?

»Was tun?«, fragte Gionn noch einmal. Seine Stimme klang fast kläglich. »Gehen?«

Vielleicht wäre es das Beste, dachte Resnec. Möglicherweise töteten Lassars Meuchelmörder gerade in diesem Moment alle, die im Lager zurückgeblieben waren, und vielleicht standen sie hier und warteten auf Männer, die nie mehr kommen würden. Aber laut sagte er: »Nein. Wir bleiben, bis die Sonne aufgeht. Haben wir bis dahin keine Erklärung gefunden, reite ich selbst zurück zum Lager. Ihr anderen könnt hier bleiben oder euch im Wald verbergen.«

»Wald besser«, sagte Gionn beinahe hastig. »Dunkel und warm. Gut.«

Resnec lächelte. »Du hast wohl Recht, mein Freund«, sagte er. »Es spielt keine Rolle, ob wir die Festung zwei Tage oder nur zwei Stunden vor Lassars Männern besetzen, nicht wahr? Wir –«

Ein peitschender Laut erklang. Gionn stieß einen schrillen, von entsetzlicher Pein erfüllten Pfiff aus, taumelte zurück und prallte gegen die hölzerne Brüstung des Wehrganges, die unter seinem Gewicht zerbrach. Mit einem gellenden, unendlich hockhen Schmerzensschrei kippte er nach hinten und stürzte in den Hof hinab. Resnec sah gerade noch die zitternde Pfeilspitze, die seinen Schädel durchbohrt und wie eine blutige Zunge zwickschen seinen Fängen wieder hervorgetreten war, dann spürte er selbst ein schmerzhaftes Brennen an der Hüfte und einen Schlag und warf sich gedankenschnell zu Boden. Ein zweiter Pfeil zischte eine Handbreit über ihm durch die Luft, dann zerbarst eine ganze Salve der schlanken, tödlichen Geschosse am schwarzen Fels der Zinne, dicht über seinem Gesicht.

Resnec wälzte sich herum, kroch hastig ein Stück davon und richtete sich auf Hände und Knie auf. Schreie und Kampflärm drangen vom Hof zu ihm herauf und jenseits der Mauern erckhellte plötzlich ein flackerndes, düster-rotes Licht die Nacht. Etwas Riesiges, Brennendes erhob sich in einem Funken sprückhenden Halbkreis aus dem See, prallte gegen die Zinnen und zerbarst in einer grellweißen Explosion, flammendes Öl nach allen Seiten schleudernd.

Resnec warf einen raschen Blick auf den Hof hinab. Die Feuer brannten höher, ein paar waren auseinander gerissen und zu kleineren flackernden Flammennestern geworden, brennendes Öl war in dünnen Bahnen an der jenseitigen Seite der Maucker herabgelaufen und verbreitete ein unheimliches rotes Licht, in dem die durcheinander hastenden Gestalten von Menschen und Raetts zu erkennen waren. Vier, fünf der schwarzen Schatten lagen reglos da, und die anderen schienen einen sinnlosen, wahnsinnig schnellen Tanz aufzuführen, den Resnec sich im ersten Moment nicht erklären konnte. Dann sah er die schwarckzen Schatten vom Himmel fallen und hörte das leise, boshafte Pfeifen und begriff, dass es noch immer Pfeile regnete; hunderte, tausende der tödlichen Geschosse, die jenseits der Burgckmauern abgefeuert wurden. Und es waren viele – so unendlich viele!

Ein Pfeil bohrte sich mit einem dumpfen Schlag zwei Fingerbreit neben seiner Hand ins Holz des Wehrganges. Resnec fuhr zusammen, kroch hastig ein Stück zurück und richtete sich erst wieder auf, als er im toten Winkel unter den Zinnen lag und zumindest im Augenblick in Sicherheit war. Keuchend drehte er sich herum, schob behutsam den Kopf über die Mauer und spähte in die Nacht hinab.

Draußen auf dem See, eine halbe Meile von Hochwalden entfernt, erwachte ein zweiter, grell lodernder Feuerball zum Leckben, zog einen feurigen Schweif hinter sich her und senkte sich mit tödlicher Präzision auf die Plattform des höchsten Turmes Hochwaldens herab, wo er explodierte. Von einer Sekunde auf die andere war der Himmel über Hochwalden in grellrotes, flackerndes Licht getaucht.

Aber Resnec verschwendete keinen Blick auf den brennenden Turm. Er reagierte auch nicht, als ein Pfeil nur wenige Fingerbreit neben seinem Gesicht über den Stein scharrte und klappernd neben ihm zerbrach. Sein Blick war wie gebannt auf die Flöße gerichtet, die sich Hochwalden näherten: flache, mehr als zwanzig Manneslängen im Quadrat messende Flöße, die im grellen Widerschein der Flammen wie schwarze Löcher in der spiegelnden Oberfläche des Sees wirkten. Es waren mehr als ein Dutzend, und auf jedem einzelnen erhob sich ein gewaltiges Katapult, jedes mit einem der schrecklichen Brandgeschosse geladen, von denen schon zwei ausgereicht hatten, einen Teil seiner Männer zu töten und Hochwalden in Flammen zu setzen. Resnecs Blick war auf sie gebannt – und die Armee, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und das freie Feld zwischen Hochwalden und dem Waldrand mit einem zweiten schimmernden Wald aus geschliffenem Stahl und drockhend emporgereckten Pfeilspitzen füllte.

Es waren tausende und aus dem Wald drängten immer mehr und mehr Krieger heran; keine Söldner wie die Männer in Cavins Begleitung, keine Schattenwesen wie die schrecklichen Geschöpfe, die den ersten Sturm auf Hochwalden ausgeführt hatten, sondern Krieger, tausende und tausende Krieger in schwarzen Lederpanzern, die mit der Präzision eines perfekt gedrillten Heeres heranmarschierten, ohne Hast, aber so unaufckhaltsam wie eine Lawine aus Stahl. Plötzlich wusste er, warum er nichts von Lassars schwarzer Magie gespürt hatte. Es war keine Magie im Spiel. Es war Lassars gesamtes Heer.

Resnec sprang auf, fuhr herum und war mit einem Satz an der Brüstung. »Flieht!«, schrie er in den Hof hinab. »Rettet euch, ehe –«

Ein Pfeil traf ihn in den Rücken und tötete ihn.

28

Wie um den letzten Akt des Dramas in angemessener Weise zu beleuchten, war der Mond hinter den Wolken hervorgekommen und tauchte das Lager in silbernes Licht.

Das große, exakt gezogene Rund der Palisadenfestung war still. Die Hütten wirkten auf sonderbare Weise tot und verlassen und der noch immer nicht vollends geschlossene Kreis aus doppelt mannshohen Pfählen schien ihre Hilflosigkeit eher zu betonen. Selbst der Kampflärm, der noch immer gedämpft hier und da aus dem Wald erscholl, schien die Ruhe im Lager der Rebellen noch zu unterstreichen.

Es war kein normales Schweigen, nicht einfach die Abwecksenheit von Geräuschen, sondern das Dasein von etwas anderem, etwas Körperlosem und Unsichtbarem, das wie ein Hauch aus einer fremden Welt über der Lichtung lag, dachte Gwenderon.

Lassars Nähe, die den Wald verpestete und selbst das Atmen schwer machte.

Gwenderon schauderte. Sein Blick tastete unstet hierhin und dorthin, saugte sich an einem Schatten fest und glitt weiter. Die Wunde pochte in seiner Seite und das dumpfe Gefühl der Furcht, das von seinem Herzen Besitz ergriffen hatte, nahm langsam, aber unbarmherzig zu. Und es war eine Angst ganz anderer Art als die, die er während des Kampfes oder irgendckwann einmal vorher gespürt hatte.

Irgendetwas war in diesem Schweigen, dachte er. Etwas, das mit unsichtbaren Händen nach seiner Seele griff und sie erstarren ließ. Mannon und Karelian hatten sich getäuscht. Lassars Magie reichte bis hierher. Möglicherweise gab es auf der ganzen Welt keinen Ort, an den sie nicht reichte.

Vielleicht war es das erste Mal in seinem Leben, dass er wirklich Angst verspürte.

»Wie lange noch?«, flüsterte er.

»Bald. Hab noch etwas Geduld.« Karelians Stimme klang gepresst, und als Gwenderon den Waldläufer ansah, begriff er, dass er mit seiner Angst nicht allein war.

Gwenderon nickte. Selbst diese Bewegung fiel ihm schwer. Alles in ihm schrie danach, diesen Ort mit seiner fürchterlichen Stille zu verlassen, wegzulaufen, so schnell er konnte, ganz gleich wohin. Und sei es in die Schwerter der Söldner. Unsicher begann er auf der Stelle zu treten, bis Karelian ihm einen missbilligenden Blick zuwarf und den Zeigefinger auf die Lipckpen legte. Gwenderon nickte nervös, wandte sich um und blickte den hölzernen Turm in der Mitte des Lagers an. Er war noch immer nicht vollendet und er würde auch nie mehr vollckendet werden.

Mit einem Male erschien ihm der Anblick grotesk; er musste sich beherrschen, um nicht in ein hysterisches Gelächter ausckzubrechen. Bisher war ihm diese Festung im Herzen des Schwarzeichenwaldes stark und uneinnehmbar erschienen. Hatte er sie nicht einmal sogar mit Hochwalden verglichen? Jetzt erkannte er, was sie wirklich war – eine Spielzeugburg. Lassars Reiter würden ihre albernen Palisaden einfach niederckwalzen.

»Jetzt?«, fragte er.

Karelian schwieg einen Moment. Seine Augen wirkten plötzcklich glasig und leer, als lausche er in sich hinein. Dann klärte sich sein Blick und er schüttelte den Kopf.

»Noch nicht«, sagte er. »Wir müssen Geduld haben, Gwenderon. Wenn wir diesmal versagen, ist alles aus. Eine zweite Chance werden wir kaum bekommen.«

Die Worte klangen seltsam bitter und Gwenderon hörte in ihnen auch das, was der Waldläufer nicht aussprach.

Der verzweifelte Angriff auf Cavin und seine Söldnergarde war notwendig gewesen, denn sie mussten sichergehen, dass es auch wirklich Cavin war, der ihnen folgte. Darauf beruhte ihr ganzer waghalsiger Plan. Und darauf, dass der Weg, den sie ihn führen wollten, sich ihnen wirklich im entscheidenden Moment öffnen würde.

Aber wo die Macht der Waffen versagte, konnten sie nur noch auf die Macht des Waldes hoffen.

Wenn Mannon doch noch bei ihnen wäre, dachte Gwenderon. Das Bild seines alten Kampfgefährten stieg vor seinen Augen auf und er spürte einen Kloß in seiner Kehle. Der Zwerg mit seiner unerschütterlichen Ruhe und Erdverbundenheit war tiefer als alle anderen in die Geheimnisse des Schwarzeichenckwaldes eingedrungen und auf Pfaden gewandelt, die gewöhnlichen Sterblichen verboten waren. Nun ging er selbst den dunkelsten aller Pfade …

Zu viele tapfere Männer waren in diesem Kampf schon gestorben. Mehr als dreißig hatten ihren verzweifelten Angriff mit dem Leben bezahlt und die meisten davon waren seine Freunde gewesen. Außer ihm und Karelian selbst hatten nur drei Mann das Lager lebend erreicht.

Auch Guarr war nicht unter ihnen.

Karelian machte ein Geräusch und Gwenderon schrak abrupt aus seinen Gedanken hoch. Die Hand des Waldläufers deutete nach Süden durch die Lücke der Palisade, und als Gwenderon der Geste folgte, sah er einen ganzen Trupp Söldner aus dem Wald brechen und in breiter Front auf die Lichtung ausschwärmen. Sie konnten nur einen kleinen Teil des Waldrandes erkennen, aber Gwenderon wusste, dass es überall so aussah.

An der Spitze des Trupps ritt ein Mann in einer weißgoldecknen Rüstung. In seiner Rechten flatterte das Drachenbanner Hochwaldens. Cavin.

Mit einem Male fielen Gwenderon tausend Dinge ein, die ihren Plan vereiteln mochten. Was, wenn Cavin nicht versuchte die Palisadenfestung zu stürmen, sondern sie schlichtweg niederbrennen ließ? Was, wenn er seine gedungenen Krieger angreifen ließ und wartete, bis sie ihm seinen und Karelians Kopf brachten? Was, wenn Lassars Magie ihnen den Weg versperrte, den die Raetts geschaffen und Karelian erkundet hatte? Was, wenn –

»Sie greifen an«, sagte Karelian, trat einen Schritt vor und stieß den rechten Arm mit dem Schwert in die Höhe.

»Jetzt!«, rief er mit weit schallender Stimme.

Im gleichen Moment begannen Pfeile auf die Reiter herabzuregnen, von übermenschlich starken Raett-Muskeln geschleuckderte Steine und Speere, tödliche Bolzen, die selbst Harnische und Schilde zu durchschlagen vermochten. Der Vormarsch der Reiter kam ins Stocken. Männer sanken reglos aus den Sätteln oder wurden von ihren Pferden abgeworfen, die sich getroffen aufbäumten. Die geordnete Formation der Angreifer verwandelte sich in ein heilloses Durcheinander.

Aber es war nur ein schwacher – und nicht einmal ernst gemeinter – Versuch, das Ende hinauszuzögern. Gwenderon sah, wie sich die zerbrochene Kampfformation des Söldnerheeres rasch wieder bildete und wie viele Männer wieder auf die Rücken ihrer Tiere stiegen, verwundet, aber keineswegs kampfunfähig. Lassars Krieger waren keine Narren. Sie hatten gewusst, was sie erwartete, und waren gepanzert wie urzeitliche Ungeheuer. Ein Pfeil, der nicht aus unmittelbarer Nähe abgeschossen wurde, vermochte ihnen kaum ernsthaften Schaden zuzufügen. Aber das wollte er ja auch gar nicht.

Als wäre dieser Gedanke Gwenderons ein Auslöser gewesen, stieß Cavin seine Standarte in die Höhe und preschte an der Spitze der Krieger los, gedeckt von einem halben Dutzend Reickter auf gepanzerten Schlachtrossen, die sich tief hinter massige Eichenschilde duckten und auch ihn selbst damit zu schützen versuchten. Eine neue, noch wütendere Salve aus Pfeilen und Wurfgeschossen regnete auf die Angreifer herunter und riss zwei von ihnen aus den Sätteln, aber die anderen kamen näher. Der Abstand zwischen ihnen und der durchbrochenen Palisade schmolz rasend schnell.

Gwenderon blickte nervös zum Turm hinüber. Sein Blick saugte sich an der erst halb fertig gestellten Holzkonstruktion fest. Alles hing von diesem lächerlichen Loch ab, einem nicht einmal zweihundert Meter messenden Tunnel, an dem fünfzig von Guarrs Raetts eine Woche lang gegraben hatten und der bei der geringsten Erschütterung einstürzen konnte. Mit einem Male erschien es ihm wie heller Wahnsinn, das Schicksal des Schwarzeichenwaldes von einem Loch abhängig zu machen, das nicht einmal hoch genug war, dass ein Mann aufrecht darin stehen konnte. Aber es war zu spät, sich jetzt noch eines Besseren zu bedenken.

Cavin und seine Begleiter hatten die Palisade fast erreicht und Gwenderon sah voller Zufriedenheit, dass der Abstand zwischen ihnen und dem Rest des Söldnerheeres weiter gewachsen war – eine Entwicklung, der die Bogenschützen hinter den Palisaden durch gezielte Salven von Pfeilen und Brandgeschossen deutlich nachhalfen.

Dann waren sie heran. Cavins Pferd setzte mit einem gewaltigen Sprung über den Graben hinweg, der jenseits des Holzckzaunes lag, und Karelian stieß das Schwert ein zweites Mal in die Höhe.

In der gleichen Sekunde begann die Palisade zu wanken. Eickne letzte, mörderische Pfeilsalve trieb die Söldner zurück und plötzlich begannen die Bogenschützen zu rennen, fort von der wankenden Mauer aus Holz, die von einem Augenblick auf den anderen ihre Festigkeit verloren hatte. Mit einem ungeheuren Bersten und Krachen stürzte sie zusammen, erschlug zwei von Cavins Begleitern, ein halbes Dutzend der nachdrängenden Reiter und auch zwei oder drei Verteidiger, die nicht schnell genug gewesen waren, und bildete plötzlich eine tödliche Barriere aus wirr über- und untereinander liegenden Balken, an deren zerborstenen Enden sich Mensch und Tier aufspießen mussten, wenn sie versuchten sie zu überrennen. Das Söldnerckheer prallte zurück wie eine gewaltige Woge aus Eisen und Fleisch. Nicht allen gelang es, ihre Tiere schnell genug herumzureißen.

Natürlich wusste Gwenderon, dass auch dieses neuerliche Hindernis die Krieger nicht länger als zwei, vielleicht drei Micknuten aufhalten konnte, trotz des wütenden Beschusses, der abermals eingesetzt hatte und die Söldner weiter zurücktrieb.

Aber sie brauchten nicht mehr als diese zwei oder drei Minuckten.

Er fuhr herum, hob sein Schwert und deutete auf Cavin, dessen Tier ein Dutzend Schritte hinter der niedergestürzten Palicksade zum Stehen gekommen war. Seine Begleiter hatten ihre Waffen und Schilde gehoben und versuchten einen lebenden Schutzwall um ihn zu bilden, aber auf die kurze Distanz schützten sie nicht einmal mehr ihre Rüstungen gegen die Speere und Steine, die die Raetts nach ihnen schleuderten. Eickner nach dem anderen sank aus dem Sattel, bis der Letzte vercksuchte sein Tier herumzureißen und mit einem verzweifelten Satz über die hölzerne Barrikade hinwegzusetzen. Gwenderon sah nicht hin, als sein Todesschrei erklang.

Sein Blick begegnete dem Cavins, und was er darin las, war … Hass.

Einen Hass, wie er ihn niemals zuvor im Blick eines Menschen gesehen hatte.

»Worauf wartest du?«, fauchte Karelian neben ihm. Gwenderon fuhr zusammen, drehte sich fast schuldbewusst herum und gab Animah das verabredete Zeichen. Die Waldläuferin war mit einem Sprung beim Turm und öffnete die Tür, während Gwenderon, Karelian und ein halbes Dutzend ausgesuchter Männer auf Cavin zustürmten. Jenseits der Barrikade formierten sich die Söldner zum letzten, entscheidenden Angriff, und für einen Moment glaubte Gwenderon eine hoch gewachsene Gestalt zwischen ihnen zu erkennen, die nur aus Schatten und schwarzem Rauch bestand. Aber er wusste, dass sie zu spät kommen würden.

Die Männer hatten Cavin erreicht. Der junge König von Hochwalden schrie vor Zorn, schlug mit seinem Schwert um sich und versuchte die Angreifer mit der Standarte zu Boden zu stoßen, aber er stand einer zehnfachen Übermacht gegenüber. Ein Hieb prellte ihm das Schwert aus der Hand, harte Hände griffen nach dem Zaumzeug seines Tieres und zwangen es nieder, dann wurde er aus dem Sattel gezerrt und von einem Dutzend Armen gehalten.

Und dann geschah alles gleichzeitig.

Ein gellender, vielstimmiger Schrei zerriss die Luft. Aus den Augenwinkeln sah Gwenderon, wie Animah rücklings aus dem Turm taumelte, mit blutigem Gesicht, den schlaffen Körper eines Raett mit beiden Armen auffangend, der gegen sie geprallt war und sie mit seinem Gewicht niederwarf. Ein zweiter Raett torkelte aus dem Turm, der Schädel eine einzige blutige Masse, in seinem Rücken die gefiederten Schäfte von fast einem Dutzend Pfeilen, und plötzlich quoll eine Welle aus blitzendem Metall und Lumpen aus dem Turm und breitete sich johlend auf dem Hof aus. Etwas Schwarzes, ungeheuer Großes raste lautlos heran, traf die Barriere aus zerborstenem Holz und zermalmte sie.

Aus, dachte Gwenderon. Er führte den Schritt, den er auf Cavin zu getan hatte, nicht zu Ende. Er spürte keine Furcht, nicht einmal Erschrecken, sondern allerhöchstens so etwas wie eine tiefe, aber erwartete Enttäuschung. Er dachte nur dieses eine Wort. Lassar hatte gesiegt. Ihr närrischer Plan, einen Tunnel zu graben und direkt unter seinen Füßen hindurch den Wald zu erreichen, ehe er es auch nur merkte, und dabei auch noch Cavin mit sich zu nehmen, war gescheitert. Lassar hatte sie in der Falle gefangen, die sie für ihn aufgestellt hatten.

»Zurück!«, brüllte Karelian mit überschnappender Stimme. »Wir sind verraten! Flieht, Gwenderon!«

Gwenderon reagierte nicht. Wie gelähmt stand er da, starrte abwechselnd die näher kommenden Reiter an, vor denen plötzcklich kein Hindernis mehr war, und die Söldner, die noch immer aus dem Turm quollen und gnadenlos niedermachten, was immer sich ihnen in den Weg stellte. Die Männer leisteten Widerckstand, aber sie vermochten den Ansturm der Krieger nicht einckmal zu verlangsamen, geschweige denn aufzuhalten. Von den sechzig Männern und Raetts, die sie gewesen waren, lebten noch dreißig. Und ihr Kampfesmut war gebrochen, jetzt, als sie mit ansehen mussten, wie der Feind ihr Lager auf dem Weg stürmte, auf dem sie hatten fliehen wollen. Gwenderon fühlte sich wie betäubt. Selbst wenn er es gekonnt hätte, wäre er nicht geflohen. Wohin auch?

»Fort!«, brüllte Karelian abermals. Er fuhr herum, packte Gwenderon am Arm und zerrte ihn mit sich, in die einzige Richtung, die ihnen blieb: auf den jenseitigen Rand der Festung und den Wald zu, der wieder sichtbar geworden war, nachdem Lassars Magie die Palisade vernichtet hatte. Ein Söldner vercksuchte ihnen den Weg zu verstellen. Karelian erschlug ihn. Pfeile regneten auf sie herab und etwas schrammte heiß und schmerzhaft an Gwenderons Bein entlang. Er spürte nichts von alledem. Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, hätte er Karelians Hand abgestreift und wäre zurückgegangen.

Wie durch ein Wunder erreichten sie den Waldrand ohne aufgehalten oder getroffen zu werden. Karelian blieb keuchend stehen, schob sein Schwert in den Gürtel zurück und sah sich gehetzt um. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Sein Blick irrte unstet über das Unterholz, als suche er etwas.

Gwenderon wandte sich um. Das Rund der ehemaligen Waldfestung war mit Toten und Sterbenden übersät. Hier und da wurde noch gekämpft, aber es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis auch der letzte Verteidiger fiel. Mehr als ein Dutzend Söldner bewegte sich auf Karelian und ihn zu.

Sein Blick suchte Cavin. Die Gestalt in der weißgoldenen Prachtrüstung ritt an ihrer Spitze und noch einmal begegneten sich ihre Blicke. Und wieder las Gwenderon diesen unglaublichen, entsetzlichen Hass darin, einen Hass, der schlimmer war als ihre Niederlage, schmerzhafter als der Gedanke an seinen bevorstehenden Tod, entsetzlicher als das Morden und Töten rings um sie herum.

»Jetzt!«, schrie Karelian.

Gwenderon starrte ihn an. »Was …«

Karelian ließ ihm keine Zeit, seine Frage zu stellen, sondern packte ihn grob bei der Schulter und versetzte ihm einen Stoß, der ihn haltlos auf den Wald zutaumeln ließ.

Und im gleichen Moment teilte sich das grüne Dunkel hinter ihnen …

29

Zorn stieg in Cavin empor und fegte den letzten Rest klaren Denkens aus seinem Schädel. Mit einem gellenden Schrei riss er sein Schwert hoch, sprang zu seinem Pferd und in den Sattel und preschte auf die beiden einsamen Gestalten zu.

Gwenderon und der Waldläufer fuhren im gleichen Moment herum und begannen zu laufen, aber Cavin holte rasend schnell auf. Als die beiden Rebellen den Rand der Lichtung erreicht hatten, war er nur noch wenige Schritte hinter ihnen.

Und in diesem Moment geschah etwas Sonderbares. Cavin war vollkommen sicher, dass vor einer Sekunde noch die massive Wand des Waldes vor den beiden Männern gewesen war – aber plötzlich gähnte dort, wo eigentlich undurchdringliches Unterholz sein sollte, eine schmale, wie mit einem Lineal umrissene Lücke in der grünen Mauer. Gwenderon und sein Begleiter verdoppelten ihre Anstrengungen, überwanden die letzckten Schritte – und verschwanden. Cavin heulte vor Wut und Enttäuschung auf und jagte hinter ihnen her.

Die Lücke im Unterholz entpuppte sich als Beginn eines Hohlwegs, über dem sich die Äste wie zu einem grünen Kupckpeldach vereinigten. Irgendetwas aber stimmte nicht damit, das spürte er. Die Schatten waren irgendwie falsch und auch die Farben und Umrisse der Bäume schienen ihm nicht in Ordcknung.

Cavin achtete nicht darauf, sondern preschte in unvermindertem Tempo hinter den beiden Flüchtlingen her. Er hatte Gwenderon zu weit gejagt, um ihn jetzt noch im letzten Moment entkommen zu lassen. Er hätte Gwenderon verfolgt, selbst wenn dieser bis in die Hölle geflüchtet wäre.

Für einen Moment umfing ihn Dunkelheit und irgendetwas Fremdes, Körperloses schien wie eine unsichtbare Hand über seinen Körper zu tasten. Sein Pferd wieherte schrill, als es – genau wie sein Reiter – für eine schreckliche Sekunde blind war.

Dann zerriss der Schleier und Cavin sah die beiden Flüchtenden wieder vor sich.

Ihr Vorsprung hatte sich verzehnfacht – und er wuchs weiter! Obwohl Cavins Tier wie rasend ausgriff und der Boden nur so unter seinen Hufen davonzufliegen schien, entfernten sich Gwenderon und der Waldläufer rasend schnell, als gehorche ihre Zeit anderen Gesetzen als denen, die für ihn galten. Innerckhalb weniger Augenblicke vergrößerte sich ihr Vorsprung so weit, dass er sie nur noch als helle, auf und ab hüpfende Punkte weit vor sich erkennen konnte.

Dann fiel ihm die Stille auf. Trotz des rasenden Tempos, in dem er dahinjagte, hörte er nicht den geringsten Laut; nicht einmal die Hufschläge seines eigenen Pferdes.

Ein dumpfes, bedrückendes Gefühl begann sich in Cavin breit zu machen. Der Wald um ihn herum wurde immer düsterer, als wäre hinter der sichtbaren Begrenzung des Weges noch eine zweite, unsichtbare Mauer, die den Weg wie einen Tunnel umschloss.

Und im gleichen Maße, in dem der rasende Zorn in ihm verrauchte, begann Cavin zu begreifen, dass nichts von dem, was er erlebte, Zufall war. Dem rasenden Zorn, der sein Denken vernebelt hatte, folgte eine tiefe, beinahe schmerzhafte Ernüchterung.

Er war mit seinem Heer auf dem Weg ins Herz des Schwarzckeichenwaldes praktisch auf keinen Widerstand gestoßen. Der jämmerliche Haufen, der ihn und seine Garde angegriffen hatte, war der einzige kaum ernst zu nehmende Gegner gewesen, und auch das Lager auf der Lichtung war praktisch verlassen. Die große Schlacht, auf die er gewartet hatte, hatte nicht stattgefunden, weil es niemanden gab, gegen den seine Krieger hätten kämpfen können. Niemanden außer Gwenderon und Karelian und einer Hand voll Krieger, die zurückgeblieben waren, als …

Als hätten sie auf ihn gewartet, dachte Cavin.

Und plötzlich begriff er, dass dieser Weg eine Falle war. Eine Falle, die ganz allein ihm galt. Erschrocken richtete er sich im Sattel auf und wollte den rasenden Galopp seines Pferdes bremsen.

Aber obwohl er mit aller Macht an den dünnen Lederriemen riss, bewegte sich das Zaumzeug des Tieres nicht um einen Millimeter. Das Pferd jagte weiter und schien im Gegenteil noch schneller zu werden und Cavins verzweifelte Schreie wurden von der magischen Stille des Weges aufgesogen. Nicht der geringste Laut drang an sein Ohr. Verzweifelt bäumte er sich im Sattel auf und zerrte noch einmal vergeblich an den Zügeln, die plötzlich hart und unnachgiebig wie Stahl waren.

Plötzlich riss die gespenstische Dunkelheit auf. Der Weg verbreiterte sich zu einer gewaltigen, in helles Mondlicht getauchten Lichtung. Mit einem Male waren auch Karelian und Gwenderon wieder da, nur wenige Schritte vor ihm. Sein Pferd sprang mit einem erleichterten Wiehern an den beiden Männern vorüber, kam aus dem Tritt und fand im letzten Augenckblick sein Gleichgewicht wieder. Cavin kämpfte mit aller Macht darum, nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden. Dann riss er das bockende Tier herum, gab ihm abermals die Sporen und sprengte auf Gwenderon zu.

Sein Schwert sirrte wie ein flirrender Blitz auf den Waffenckmeister nieder und riss eine blutige Schramme in seine Schulter.

Gwenderon stürzte hintenüber und rollte sich zur Seite, um nicht unter die Hufe des Pferdes zu geraten. Cavin riss das Tier abermals herum und drang ein zweites Mal auf ihn ein.

Aber diesmal war Gwenderon auf den Angriff vorbereitet. Als Cavins Klinge niedersauste, sprang er nicht zur Seite, sondern tauchte unter dem Hieb hindurch, umklammerte mit der Linken Cavins Handgelenk und riss mit der anderen Hand mit aller Kraft am Zaumzeug seines Pferdes. Das Tier bäumte sich auf.

Der zweifache Ruck war zu viel für Cavin. In hohem Bogen wurde er aus dem Sattel geschleudert, segelte in einem Salto über Gwenderons Rücken hinweg und schlug schwer auf dem Boden auf. Das Schwert entglitt seinen Fingern und für eine halbe Sekunde drohte er das Bewusstsein zu verlieren.

Als sich die schwarzen Schleier vor seinen Augen lichteten, hockte Gwenderon auf seiner Brust und nagelte seine Arme mit den Knien am Boden fest. Er keuchte vor Erschöpfung und die alte Wunde an seiner Seite war wieder aufgebrochen. Sein Gesicht flammte vor Zorn.

Cavin bäumte sich auf, aber Gwenderon war viel zu stark und erfahren für ihn. Mit einem Ruck presste er ihn auf den Boden zurück, schüttelte den Kopf – und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Hört auf, Cavin!«, keuchte er. »Ich flehe Euch an, gebt den Widerstand auf, ehe ich gezwungen bin Euch wirklich wehzucktun!«

»Mörder!«, keuchte Cavin. »Du verdammter feiger Mörder, Gwenderon!« Mit verzweifelter Kraft stemmte er sich gegen Gwenderons Griff, bekam eine Hand frei und versuchte nach dem Gesicht des Waffenmeisters zu schlagen. Gwenderon hielt seinen Arm fest; so spielerisch, wie ein Erwachsener den Hieb eines ungeschickten Kindes auffängt.

»Mörder«, wimmerte Cavin. »Du verdammter Mörder. Du …«

Gwenderon versetzte ihm eine zweite Ohrfeige.

»Was soll das heißen?«, schnappte Gwenderon. »Wieso nennt Ihr mich einen Mörder? Wieso kämpft Ihr gegen uns, Cavin?«

»Du … du hast meinen Vater getötet«, wimmerte Cavin. »Du hast Oro erschlagen, vor meinen Augen, und du hast …«

»Ich habe Euren Vater nicht mehr gesehen, seit ich Hochwalden verließ, um Euch nach Hause zu bringen, Cavin«, unterbrach ihn Gwenderon. Er sprach sehr leise, aber mit einem solchen Ernst, dass Cavin unwillkürlich aufhörte sich zu wehren und ihn sekundenlang wortlos anstarrte.

»König Oro ist tot«, fuhr Gwenderon, noch immer sehr leise und noch immer im gleichen, sonderbar traurigen Ton fort. »Das ist richtig. Aber nicht ich habe ihn erschlagen, Herr. Er starb durch Lassars Hand. Lange bevor Ihr Hochwalden wieder erreichtet, Cavin.«

Eine eisige Hand schien nach Cavins Herz zu greifen und es zusammenzupressen. »Bevor ich …?«, krächzte er.

Gwenderon nickte. Eine Sekunde lang hielt er Cavin noch fest, dann ließ er seine Handgelenke los, trat einen Schritt zurück und bedeutete ihm mit einer Geste aufzustehen. »Ja«, beckstätigte er. »Er war bereits tot, als Ihr nach Hochwalden zurückgekehrt seid. Der Mann, in dessen Begleitung Ihr die Burg erreichtet, war nicht Euer Vater. Es war Lassar.«

»Das … das ist nicht wahr«, stammelte Cavin. »Ihr lügt! Ich … ich habe es selbst gesehen. Ich habe mit Euch gekämpft und …« Er stockte, rang einen Moment vergeblich nach Worten und deutete plötzlich auf Gwenderons Gesicht.

»Die Narbe auf Eurer Wange beweist es!«, rief er. »Ich selbst habe sie Euch beigebracht, als ich mit Euch gekämpft habe.«

Gwenderon starrte ihn an, hob die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über die dünne, weiße Narbe unter seinem rechten Auge. »Wann soll das gewesen sein?«

»Spielt nicht den Narren, Gwenderon!«, begehrte Cavin auf. »Ihr habt gesiegt. Meinetwegen bringt mich um, wie Ihr meicknen Vater umgebracht habt, aber behandelt mich nicht wie einen Idioten. Wollt Ihr leugnen, dass Ihr meinem Vater und mir aufgelauert habt, als Oro mich zum König des Waldes führte, um …«

»Dem Waldkönig?«, unterbrach ihn Gwenderon. Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Ihr … Ihr habt den Waldkönig gesehen, Herr? Ihr … Ihr habt die Megidda betreten?! Ihr wart dort?«

Cavin verstummte verwirrt. Gwenderons Überraschung war nicht gespielt, das spürte er. Der Schrecken in seinen Augen war echt. Und irgendwo, noch tief in ihm und unformuliert, aber allmählich stärker und quälender werdend, begann in Cavin ein furchtbarer Verdacht zu erwachen.

»Aber Ihr wart doch dabei«, murmelte er hilflos.

Gwenderon lachte. Es klang fast wie ein Schrei. »Dabei? Verzeiht, Herr, aber das ist … das ist unmöglich. Kein lebender Mensch hat den König des Schwarzeichenwaldes jemals geseckhen. Was immer Ihr erlebt habt …«

»Ich war da!«, unterbrach ihn Cavin. Plötzlich begann seine Stimme zu zittern. »Ich … Oro brachte mich zu ihm und dann seid Ihr aufgetaucht und habt ihn getötet. Und ich habe Euch im Gesicht verletzt.«

»Ich war nie an diesem Ort«, antwortete Gwenderon leise. »Und auch Euer Vater nicht, Cavin. Oro ist tot. Der Mann, den Ihr für Euren Vater gehalten habt, war Lassar selbst.«

»Das … das stimmt nicht«, wimmerte Cavin. »Das ist nicht wahr, Gwenderon. Ihr lügt! Ich kann mich nicht so getäuscht haben. Ich hätte doch gemerkt, wenn …« Seine Stimme vercksagte. Plötzlich begannen seine Augen zu brennen und zu dem scharfen Blut auf seiner Zunge gesellte sich der bittere Geschmack der Niederlage.

»Ihr könnt ihm nicht glauben«, sagte Karelian leise. Cavin sah auf und starrte ihn an, als sähe er ihn das erste Mal, und auch auf Gwenderons Gesicht erschien ein fragendes Stirnrunzeln. Aber er sagte nichts, sondern stand gehorsam auf, als Karelian ihm ein Zeichen gab, Cavin loszulassen, behielt jedoch das Schwert in der Hand. Er wirkte verwirrt, aber auch wachsam.

»Ihr könnt Gwenderon nicht glauben, denn Ihr meint alles mit eigenen Augen gesehen zu haben«, wiederholte Karelian. »Und ich verstehe Euch sogar, Cavin.« Er lächelte traurig. »Würdet Ihr Faroan glauben, wenn Ihr die Wahrheit aus seicknem Munde hörtet?«

»Faroan?«, murmelte Gwenderon verstört. Karelian beachteckte ihn gar nicht.

»Würdet Ihr ihm glauben, Cavin?«, fragte er.

»Faroan ist … tot«, antwortete Cavin verstört, aber Karelian schien auch seine Worte nicht zu hören. »Würdet Ihr ihm glauckben, wenn er Euch die Wahrheit sagte?«, beharrte er.

Cavin nickte. Er konnte nicht antworten. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Irgendetwas geschah, das spürte er. Etwas Entsetzliches.

»Dann kommt«, sagte Karelian. »Ich bringe Euch zu ihm.«

Das ist nicht notwendig, hörten sie eine Stimme in ihren Geckdanken. Denn ich bin hier.

Noch während sie sich umwandten, wussten sie, welcher Anckblick sie erwarten würde.

Er stand über ihnen auf einem mächtigen Findling, um den sich die Wurzeln der großen Bäume krallten. Er hielt den Magierstab mit dem goldenen Knauf in seiner Rechten und die Linke beschwörend erhoben. Das Licht, das in schrägen Strahlen durch das dichte Blätterdach des Waldes herabströmte, ließ sein weißes Gewand und das Haupthaar und den langen, schneeigen Bart in überirdischer Helligkeit aufleuchten.

Ja, ich bin es, sprach Faroan lautlos. Und ich bin gekommen euch nach Hochwalden zu bringen. Dort wird sich für alles eine Erklärung finden.

30

»Sie sind fort, Herr.« Obwohl sich der Mann alle Mühe gab, sich nichts von seinen Gefühlen anmerken zu lassen, zitterte seine Stimme vor Angst. Er war ein Riese; an die zwei Meter groß, mit einem Gesicht wie aus Stein und Händen, die groß wie Schaufelblätter waren. Trotzdem wirkte er klein und erckbärmlich, wie er vor Lassar stand. Sein Blick flackerte. »Ich … ich verstehe das nicht, Herr«, stammelte er. »Wir … wir haben den Wald abgesucht, jeden Fußbreit, jeden … jeden Zoll. Unsere Männer haben … haben die Festung umstellt. Niemand konnte ihren Ring durchbrechen, Herr. Ich schwöre bei meicknem Leben –«

»Du solltest keine Schwüre leisten, deren Einlösung dir nicht gefällt«, unterbrach ihn Lassar kalt. »Sie sind fort? Alle drei?«

»Der Waldläufer und Gwenderon und … und König Cavin, ja«, bestätigte der Söldner ängstlich.

»Wie?«

»Es … es gibt einen Hohlweg«, antwortete der Krieger. »Ich schwöre, er war vorher nicht da. Wir haben jeden Baum untercksucht, jeden Strauch. Er … er war einfach nicht da. Das ist schwarze Magie. Sollen … sollen wir sie verfolgen? Die Männer haben Angst, aber sie werden es tun.«

»Verfolgen?« Lassar wiederholte das Wort, als habe der Mann etwas unendlich Dummes gesagt. Aber dann lächelte er, sehr dünn und auf eine Art, die den Krieger abermals schauckdern ließ.

»Nein«, sagte er. »Geh jetzt. Was geschehen ist, ist gescheckhen. Geh und sieh zu, dass sich die Tölpel, die du befehligst, nicht noch im Wald verlaufen. Und bringt diese Amazone, die ihr gefangen habt, in mein Zelt. Die anderen Gefangenen könnt ihr töten.«

Er machte eine ungeduldige Handbewegung und der Söldnerführer entfernte sich, rückwärts gehend und so hastig, dass er um ein Haar über den Leichnam eines seiner Männer gestolpert wäre. Lassar unterdrückte ein Lachen.

Erst als der Krieger gegangen und er wieder vollkommen allein war, verzogen sich seine Lippen zu einem dünnen, durch und durch zufriedenen Lächeln. Der Blick seiner aus Schatten geronnenen Augen suchte den Waldrand.

»Faroan, mein Freund«, flüsterte er. »Was bist du doch für ein Narr.« Lassar lachte, schüttelte den Kopf und zwang sein Pferd herum, um in ihr Feldlager zurückzureiten, das zwei Stunden südlich der zerstörten Waldfestung lag. Auf seinen Lippen lag noch immer das gleiche triumphierende Lächeln, als er endlich dort ankam und absaß.

31

Hochwalden brannte.

Der Widerschein der Flammen ließ die Oberfläche des Sees in rotem Licht erstrahlen, als hätte sich sein Wasser in Blut verwandelt. Der Wind trug das Prasseln des Feuers und die Hitze der Glut zu ihnen heran. Beißender Brandgeruch erfüllte die Luft des Waldes.

Ab und zu lösten sich Trümmer aus den berstenden Mauern der Festung und stürzten Funken sprühend wie flammende Sterne in den See. Und dann bebte plötzlich der Boden und der mächtige Hauptturm Hochwaldens neigte sich zur Seite, verckharrte einen Moment wie ein stürzender Riese, der sich noch einmal mit verzweifelter Kraft gegen sein Ende auflehnt, und brach zusammen.

Cavin schloss mit einem Stöhnen die Augen, aber das Bild blieb, als hätten die Flammen Narben in seine Netzhäute gebrannt. Etwas von ihm starb mit dieser Burg.

Das ist Lassars Werk, wisperte Faroans Stimme in seine Geckdanken. Sein Spiel ist nun zu Ende. Er wollte dein Leben zerstören und so zerstört er nun dein Heim. Und das Symbol der Hoffnung aller freien Menschen.

Cavin nickte. Selbst diese kleine Bewegung schien unendlich viel Kraft zu kosten. Er fühlte sich leer. Erschöpft und ausgelaugt wie nie zuvor in seinem Leben.

Lassars Werk, dachte er. Die Worte hallten wie bitterer Spott hinter seiner Stirn wider. Lassars Werk. So wie die grausame Posse, die Lassar ihm vorgespielt hatte.

»Warum, Faroan«, fragte er laut. »Warum hat er mich nicht einfach umgebracht, so wie er meinen Vater umgebracht hat?«

Weil er es nicht konnte, erwiderte der Magier auf seine lautlose Weise. Er selbst hat dir die Antwort auf diese Frage gegeben. Auch seine Macht ist nicht so groß, dass er es wagen würde, sich den Schwarzeichenwald mit Gewalt zu nehmen. Du warst nur sein Werkzeug.

»Sein Werkzeug?« Cavin ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Ich habe getötet, Faroan. Ich habe die umgebracht, die mich schützen wollten!«

Lassar ist ein Meister der Täuschung, erwiderte Faroan. Selbst vermag er nichts; er wirkt immer nur durch andere. Niemand hätte sein Spiel durchschaut, an deiner Stelle. Und sein Plan ist fehlgeschlagen. Du hast Gwenderon nicht getötet und seine Söldner werden euch vergeblich suchen. Ich bringe euch an einen Ort, an dem ihr in Sicherheit seid.

»Und wohin?«, fragte Cavin.

Faroan lächelte. An einen Ort, bis zu dem seine Macht nicht reicht, sagte er. Du kennst ihn, Cavin. Lassar selbst hat ihn dir gezeigt. Und nun kommt mit mir, Cavin, Karelian und Gwenderon. Meine Zeit ist begrenzt und es gibt noch so viel zu tun.

Er wandte sich um und ging in den Wald hinein. Der junge König und sein ergrauter Waffenmeister folgten ihm und in einiger Entfernung auch Karelian, der Mann, der Faroan geholt hatte und der doch am wenigsten wusste, worum es bei diesem so sinnlos erscheinenden Krieg überhaupt ging.

Aber kurz bevor Cavin hinter dem Magier in den Wald zurücktrat, wandte er noch einmal den Blick und sah in die Richtung zurück, in der der Feuerschein der brennenden Burg den Himmel erhellte.

»Noch ist nicht alles verloren«, sagte er laut, wie zu sich selbst. »Ich werde Hochwalden wieder aufbauen. Und dann, Lassar, werde ich mich rächen für all das, was du mir angetan hast. So wahr ich der Sohn des Waldkönigs bin.«

Aber es war seltsam – er dachte dabei weniger an den alten Vater, den er nie richtig gekannt hatte, sondern an das Bild der mächtigen Eiche, die im Herzen des Waldes stand.

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