Arya

«Hoch«, rief Syrio Forel und schlug nach ihrem Kopf. Die Stockschwerter knallten aneinander, als Arya parierte.

«Links«, rief er, und seine Klinge pfiff heran. Ihre schoß hervor, um ihm zu begegnen. Das Krachen ließ ihn die Zähne aufeinander schlagen.

«Rechts«, sagte er und» tief «und» links «und wieder» links«, schneller und schneller, drängte vorwärts. Arya wich vor ihm zurück, antwortete jedem Hieb.

«Ausfall«, warnte er und schlug zu. Sie trat zur Seite, wischte seine Klinge weg und wollte seine Schulter treffen. Beinah berührte sie ihn, beinah, so nah, daß sie darüber grinsen mußte. Eine Haarsträhne baumelte vor ihren Augen, weich vom Schweiß. Mit dem Handrücken schob sie diese beiseite.

«Links«, rief Syrio.»Tief. «Sein Schwert ging schneller, als man sehen konnte, und die Kleine Halle war erfüllt vom Echo des klack, klack, klack.»Links. Links. Hoch. Rechts, links. Tief. Links!«

Die Holzklinge traf sie oben an der Brust, ein plötzlicher, stechender Hieb, der um so mehr schmerzte, da er von der falschen Seite kam.»Au«, heulte sie auf. Dort würde sie eine frische Prellung haben, wenn sie schlafen ging, irgendwo draußen auf See. Eine Prellung ist eine Lektion, ermahnte sie sich selbst und jede Lektion macht uns nur besser.

Syrio trat zurück.»Du bist tot.«

Arya verzog das Gesicht.»Du hast geschummelt«, sagte sie erhitzt.»Du hast links gesagt und rechts zugeschlagen.«

«Genau so. Und jetzt bist du ein totes Mädchen.«

«Aber du hast gelogen!«

«Meine Worte haben gelogen. Meine Augen und meine

Arme haben die Wahrheit herausgeschrien, nur hast du nicht hingesehen.«

«Hab ich doch«, sagte Arya.»Jede Sekunde hab ich dich beobachtet!«

«Beobachten ist nicht gleich sehen, totes Mädchen. Der Wassertänzer sieht. Komm, leg dein Schwert beiseite, und hör mir zu.«

Sie folgte ihm zur Wand hinüber, wo er sich auf einer Bank niederließ.»Syrio Forel war Erster Recke des Sealords of Braavos, und weißt du, wie das zustande kam?«

«Du warst der beste Schwertkämpfer in der Stadt.«

«Das schon, aber warum? Andere Männer waren stärker, schneller, jünger: Wieso war Syrio Forel der beste? Ich will es dir sagen. «Ganz leicht berührte er mit der Spitze seines kleinen Fingers sein Augenlid.»Das Sehen, das wahre Sehen, das ist der Kern.

Hör mich an! Die Schiffe von Braavos segeln so weit, wie der Wind weht, zu Ländern, die fremd und wundersam sind, und wenn sie heimkehren, bringen ihre Kapitäne sonderbare Tiere mit für die Menagerie des Sealords. Tiere, wie du sie noch nie gesehen hast, gestreifte Pferde, große, gepunktete Viecher mit Hälsen lang wie Stelzen, haarige Mausschweine, groß wie Kühe, Sphinxe, Tiger, die ihre Jungen im Beutel tragen, schreckliche, laufende Echsen mit Klauen wie Sicheln. Syrio Forel hat diese Tiere gesehen.

An jenem Tag, von dem ich spreche, war der Erste Recke eben tot, und der Sealord ließ mich rufen. Viele Haudegen hatten ihn aufgesucht und ebenso viele hatte man fortgeschickt, doch konnte keiner sagen, wieso. Als ich zu ihm kam, saß er, und auf seinem Schoß lag eine dicke, gelbe Katze. Er erklärte mir, einer seiner Kapitäne habe ihm das Tier gebracht, von einer Insel jenseits des Sonnenaufgangs. >Habt Ihr so eine schon gesehen?< fragte er mich.

Und ich antwortete ihm: Jeden Abend sehe ich Tausende wie sie in den Gassen von Braavos<, und der Sealord lachte, und an jenem Tag machte man mich zum Ersten Recken.«

Arya verzog das Gesicht.»Ich verstehe nicht. «Syrio klackte mit den Zähnen.»Die Katze war eine gewöhnliche Katze, nicht mehr. Die anderen erwarteten ein Fabeltier, und ein solches sahen sie dann auch. Wie groß sie sei, sagten sie. Sie war nicht größer als andere Katzen, nur fett von Trägheit, denn der Sealord fütterte sie an seinem eigenen Tisch. Wie seltsam kleine Ohren, sagten sie. Ihre Ohren waren von den Kämpfen als kleines Kätzchen ausgefranst. Und es war ganz deutlich ein Kater, dennoch sprach der Sealord von >ihr<, und so sahen ihn auch die anderen. Verstehst du mich?«

Arya dachte darüber nach.»Du hast gesehen, was da war.«»Genau so. Mach die Augen auf, mehr ist nicht nötig. Das Herz lügt, und der Kopf spielt uns Tricks vor, die Augen aber sehen die Wahrheit. Sieh mit deinen Augen. Höre mit deinen Ohren. Schmecke mit deinem Mund. Rieche mit deiner Nase. Fühle mit deiner Haut. Dann erst kommt das Denken, danach, und auf diese Weise das Wissen um die Wahrheit.«

«Genau so«, sagte Arya grinsend. Syrio Forel gestattete sich ein Lächeln.

«Ich denke gerade, wenn wir dieses Winterfell erreichen, wird es Zeit, dir diese Nadel in die Hand zu geben.«

«Ja!«sagte Arya eifrig.»Warte, bis ich Jon zeige…«Hinter ihr flogen die großen Holztüren der Kleinen Halle krachend auf. Arya fuhr herum.

Ein Ritter der Königsgarde stand im Türbogen, fünf Gardisten der Lannisters hinter ihm aufgereiht. Der Ritter war in voller Rüstung, doch sein Visier war hochgeklappt. Arya erkannte seine matten Augen und den rostroten Backenbart wieder, da er mit dem König auf Winterfell gewesen war: Ser Meryn Tränt. Die Rotröcke trugen Kettenhemden über hartem

Leder und Stahlhelme mit Löwenschmuck.»Arya Stark«, sagte der Ritter,»komm mit uns, Kind.«

Arya kaute unsicher auf ihrer Unterlippe.»Was wollt Ihr?«

«Dein Vater will dich sehen.«

Arya trat einen Schritt vor, aber Syrio Forel hielt sie am Arm zurück.»Und warum schickt Lord Eddard in seinem eigenen Haus Männer der Lannisters? Das wundert mich.«

«Kümmert Euch um Eure Angelegenheiten, Tanzlehrer«, sagte Ser Meryn.»Das geht Euch nichts an.«

«Euch würde mein Vater nicht schicken«, sagte Arya. Sie sammelte ihr Stockschwert auf. Die Lannisters lachten.

«Leg den Stock weg, Mädchen«, erklärte Ser Meryn.»Ich bin Waffenbruder der Königsgarde, der Weißen Schwerter.«

«Das war der Königsmörder auch, als er den alten König erschlug«, sagte Arya.»Ich muß nicht mit Euch gehen, wenn ich nicht will.«

Ser Meryn Tränt verlor die Geduld.»Ergreift sie«, rief er seinen Männern zu. Er ließ das Visier an seinem Helm herab.

Drei von ihnen traten vor, und ihre Ketten klirrten leise bei jedem Schritt. Plötzlich fürchtete sich Arya. Angst schneidet tiefer als ein Schwert, sagte sie sich, damit ihr Herz nicht mehr so raste.

Syrio Forel trat dazwischen, tippte sein Holzschwert leicht an seinen Stiefel.»Bis hierhin und nicht weiter. Seid Ihr Männer oder Hunde, daß Ihr ein Kind bedroht?«

«Aus dem Weg, alter Mann«, grunzte einer der Rotröcke.

Syrios Stock kam pfeifend hoch und schlug ihm an den Helm.»Ich bin Syrio Forel, und du wirst mit mehr Respekt zu mir sprechen.«

«Kahler Wicht. «Der Mann riß sein Langschwert hervor. Wieder zuckte der Stock, blendend schnell. Arya hörte ein lautes Krachen, als das Schwert klappernd auf den

Steinfußboden fiel.»Meine Hand«, jammerte der Gardist und hielt seine gebrochenen Finger.

«Ihr seid schnell für einen Tanzlehrer«, sagte Ser Meryn.

«Ihr seid langsam für einen Ritter«, erwiderte Syrio.

«Tötet den Braavosi und bringt mir das Mädchen«, befahl der Ritter in der weißen Rüstung.

Vier Gardisten der Lannisters zogen ihre Schwerter. Der fünfte, mit gebrochenen Fingern, spuckte aus und zückte mit der Linken einen Dolch.

Syrio Forel klackte mit den Zähnen, nahm seine Wassertänzer-Stellung ein, hielt dem Feind nur seine Seite hin.»Arya, Kind«, rief er, ohne hinzusehen, ohne seinen Blick von den Lannisters zu nehmen,»für heute haben wir genug getanzt. Du solltest besser gehen. Lauf zu deinem Vater.«

Arya wollte ihn nicht allein lassen, doch hatte er sie gelehrt, zu tun, was er sagte.»Leichtfüßig wie ein Reh«, flüsterte sie.

«Genau so«, sagte Syrio Forel, während die Lannisters näher kamen.

Arya zog sich zurück, ihr eigenes Schwert fest in der Hand. Während sie ihn nun beobachtete, wurde ihr klar, daß er bislang nur mit ihr gespielt hatte. Die Rotröcke kamen von drei Seiten mit Stahl in Händen auf ihn zu. Sie trugen Kettenharnische über Brust und Armen und hatten stählerne Hosenbeutel in ihre Hosen genäht, doch nur Leder an den Beinen. Ihre Hände waren nackt, und die Hauben, die sie trugen, hatten zwar Nasenschützer, aber kein Visier über den Augen.

Syrio wartete nicht, bis sie bei ihm waren, sondern wirbelte nach links. Nie zuvor hatte sie gesehen, wie ein Mensch sich derart schnell bewegte. Er parierte einen Schwerthieb mit dem Stock und wich einem zweiten aus. Aus dem Gleichgewicht gebracht, stieß der zweite Mann mit dem ersten zusammen.

Syrio setzte ihm einen Stiefel an den Hintern, und die beiden Rotröcke gingen gemeinsam zu Boden. Der dritte Gardist sprang über die beiden hinweg, hieb nach des Wassertänzers Kopf. Syrio duckte sich unter der Klinge hindurch und schlug nach oben. Schreiend fiel der Gardist, während Blut aus dem feuchten, roten Loch quoll wo sein linkes Auge gewesen war.

Die gestürzten Männer standen auf. Syrio trat einem ins Gesicht und riß dem anderen die stählerne Haube vom Kopf. Der Mann mit dem Dolch stach nach ihm. Syrio fing den Hieb mit dem Helm auf und zertrümmerte dem Mann die Kniescheibe mit seinem Stock. Der letzte Rotrock stieß einen Fluch aus und hackte mit beiden Händen am Schwert auf ihn ein. Syrio rollte nach rechts, und der Schlachterhieb traf den helmlosen Mann zwischen Hals und Schulter, als dieser eben auf die Knie kam. Das Langschwert durchschlug Ketten und Leder und Fleisch. Der Mann auf Knien brüllte. Bevor sein Mörder die Klinge freibekommen konnte, stach Syrio ihm in den Adamsapfel. Der Gardist stieß ein ersticktes Heulen aus und taumelte rückwärts, hielt sich den Hals, und sein Gesicht wurde schwarz.

Fünf Männer lagen tot am Boden oder noch im Sterben, als Arya die Hintertür erreichte, die zur Küche führte. Sie hörte Ser Meryn Tränt fluchen.»Verdammte Esel«, fluchte er, indem er sein Langschwert aus der Scheide zog.

Syrio Forel nahm wieder seine Haltung ein und klickte mit den Zähnen.»Arya, Kind«, rief er, ohne sie anzusehen,»fort mit dir.«

Sieh mit deinen Augen, hatte er gesagt. Sie sah den Ritter in seiner hellen Rüstung, von Kopf bis Fuß, Beine, Hals und Hände von Metall geschützt, die Augen hinter seinem hohen, weißen Helm verborgen und in seinen Händen grausiger Stahl. Dagegen Syrio in einer Lederweste, mit dem Holzschwert in der Hand.»Syrio, lauf«, schrie sie.

«Der Erste Recke von Braavos läuft nicht davon«, rief er, als Ser Meryn auf ihn einschlug. Syrio tänzelte vor dessen Hieb davon, sein Stock kaum zu erkennen. In einem Herzschlag hatte er den Ritter an Schläfe, Ellbogen und Kehle getroffen, das Holz klirrte am Metall von Helm, Handschuh und Halsberge. Arya stand stocksteif da. Ser Meryn griff an, Syrio wich zurück. Er parierte den nächsten Hieb, wich dem nächsten aus, ließ den dritten abprallen.

Der vierte hieb seinen Stock entzwei, splitterte das Holz und durchschlug den Lederkern.

Schluchzend fuhr Arya herum und lief los.

Sie stürzte durch die Küchen und Speisekammer, blind vor Entsetzen, schlängelte sich zwischen Köchen und Kellnern hindurch. Eine Bäckergehilfin trat ihr in den Weg, hielt ein hölzernes Tablett. Arya rannte sie um, daß duftende Laiber von frischgebackenem Brot zu Boden fielen. Sie hörte, wie jemand hinter ihr etwas rief, und drehte sich um, sah, daß ein stämmiger Schlachter mit einem Hackbeil in der Hand in ihre Richtung gaffte. Seine Arme waren bis zum Ellenbogen rot.

Alles, was Syrio Forel sie gelehrt hatte, raste ihr im Kopf herum. Leichtfüßig wie ein Reh. Leise wie ein Schatten. Angst schneidet tiefer als ein Schwert. Schnell wie eine Schlange. Ruhig wie stilles Wasser. Angst schneidet tiefer als ein Schwert. Stark wie ein Bär. Wild wie eine Wölfin. Angst schneidet tiefer als ein Schwert. Der Mann, der fürchtet zu verlieren, hat bereits verloren. Angst schneidet tiefer als ein Schwert. Angst schneidet tiefer als ein Schwert. Angst schneidet tiefer als ein Schwert. Der Griff ihres hölzernen Schwertes war glatt vom Schweiß, und keuchend erreichte Arya die Turmtreppe. Für einen Augenblick erstarrte sie. Rauf oder runter? Der Weg nach oben würde sie zur überdachten Brücke führen, die den kleinen Burghof zum Turm der Hand überspannte, doch würde man von ihr erwarten, daß sie ebendiesen Weg nahm, dessen war sie sicher. Tu nie, was sie von dir erwarten, hatte Syrio einmal gesagt. Arya lief nach unten, immer im Kreis, nahm immer zwei bis drei der schmalen Steinstufen gleichzeitig. Sie kam in einem grottenartigen Keller heraus, umgeben von Bierfässern, zwanzig Fuß hoch gestapelt. Das einzige Licht fiel durch schmale, schräge Fenster hoch oben in der Wand.

Der Keller war eine Sackgasse. Es führte nur der Weg heraus, auf dem sie hereingekommen war. Sie wagte nicht, über diese Treppe zurückzugehen, nur konnte sie hier auch nicht bleiben. Sie mußte ihren Vater finden und ihm erzählen, was geschehen war. Ihr Vater würde sie beschützen.

Arya schob ihr Holzschwert durch den Gürtel und fing an zu klettern, sprang von Faß zu Faß, bis sie an das Fenster kam. Mit beiden Händen packte sie den Stein und zog sich hinauf. Die Mauer war einen Meter dick, das Fenster ein Tunnel, der schräg nach oben und nach draußen führte. Als sie mit dem Kopf auf Bodenhöhe war, spähte sie über den Hof zum Turm der Hand.

Die dicke Holztür hing zersplittert und gebrochen in den Angeln wie mit Äxten bearbeitet. Ein toter Mann lag bäuchlings, alle viere von sich gestreckt, auf den Stufen, sein Umhang unter sich begraben, der Rücken seines Kettenhemdes rot durchweicht. Der Umhang des Toten war aus grauer Wolle mit weißem Satin, wie sie erschrocken merkte. Sie konnte nicht erkennen, wer es war.

«Nein«, flüsterte sie. Was ging hier vor sich? Wo war Vater? Warum hatten die Rotröcke ihn holen wollen? Sie erinnerte sich an die Worte des Mannes mit dem gelben Bart an jenem Tag, als sie die Ungeheuer gefunden hatte. Wenn eine Hand sterben kann, wieso nicht auch die andere?

Arya spürte Tränen in ihren Augen. Sie hielt den Atem an, um Luft zu holen. Sie hörte Kampflärm, Rufen, Schreie, das Klirren von Stahl auf Stahl, das durch die Fenster des Turmes

der Hand drang.

Sie konnte nicht zurück. Ihr Vater…

Arya schloß die Augen. Einen Moment war ihre Angst zu groß und lahmte sie in jeder Bewegung. Sie hatten Jory und Wyl und Heward getötet, und diesen Gardisten auf der Treppe, wer auch immer er gewesen war. Vielleicht töteten sie auch ihren Vater und sie, falls man sie fing.»Angst schneidet tiefer als ein Schwert«, sagte sie laut, doch nützte es ihr nichts zu tun, als sei sie eine Wassertänzerin. Syrio war ein Wassertänzer gewesen, und wahrscheinlich hatte der weiße Ritter ihn erschlagen, und außerdem war sie nur ein kleines Mädchen mit einem Holzstock, allein und verängstigt.

Sie kletterte auf den Hof hinaus, blickte sich argwöhnisch um, während sie sich auf die Beine erhob. Die Burg lag verlassen da. Der Red Keep wirkte nie verlassen. Alle schienen sich drinnen zu verstecken, hatten die Türen verrammelt. Sehnsüchtig sah Arya zu ihrer Schlafkammer hoch, dann ließ sie den Turm der Hand hinter sich, blieb stets dicht an der Mauer, während sie von einem Schatten zum nächsten schlich. Sie tat, als jagte sie Katzen… nur war jetzt sie die Katze, und wenn man sie schnappte, würde man sie töten.

Sie lief zwischen Gebäuden hindurch und über Mauern, hielt, wenn möglich, Stein in ihrem Rücken, damit niemand sie überraschen konnte, und so erreichte Arya die Ställe fast ohne Zwischenfall. Ein Dutzend Goldröcke in Kettenhemd und Panzer stürmten an ihr vorbei, derweil sie über den inneren Burghof lief, ohne zu wissen, auf wessen Seite sie standen, und so kauerte sie sich in die Schatten und ließ die Männer passieren.

Hüllen, der auf Winterfell Stallmeister gewesen war, seit Arya sich erinnern konnte, lag in sich zusammengesunken auf dem Boden bei der Stalltür. Man hatte so oft auf ihn eingestochen, daß es aussah, als sei sein Waffenrock mit roten

Blumen gemustert. Arya war sicher, daß er tot war, doch indem sie näher herankroch, schlug er die Augen auf. «Arya im Wege«, flüsterte er.»Du mußt… deinen… deinen Vater warnen…«Schaumig roter Speichel quoll aus seinem Mund hervor. Wieder schloß der Stallmeister die Augen und sagte kein Wort mehr.

Drinnen lagen weitere Leichen. Ein Stallbursche, mit dem sie gespielt hatte, und drei aus der Leibgarde ihres Vaters. Ein Wagen voller Kisten und Truhen stand verlassen nahe der Stalltür. Die toten Männer schienen ihn gerade für die Reise zu den Docks beladen zu haben, als sie angegriffen wurden. Arya schlich sich heran. Bei einer der Leichen handelte es sich um Desmond, der ihr sein Langschwert gezeigt und versprochen hatte, ihren Vater zu beschützen. Er lag auf dem Rücken, starrte blindlings an die Decke, während Fliegen auf seinen Augen herumkrabbelten. Ganz in der Nähe lag ein toter Mann mit rotem Umhang und einem Helm mit dem Löwenbusch der Lannisters. Aber nur einer, Jeder Nordmann ist mit dem Schwert zehn dieser Südländer wert, hatte Desmond ihr erklärt.»Du Lügner!«fluchte sie und trat in plötzlicher Wut nach seiner Leiche.

Die Tiere waren unruhig in den Ställen, wieherten und schnaubten wegen des Blutgeruchs. Arya konnte nur daran denken, ein Pferd zu satteln und zu fliehen, fort von der Burg und der Stadt. Sie mußte nur auf der Kingsroad bleiben, und diese würde sie heim nach Winterfell führen. Sie nahm Zaumzeug und Geschirr von der Wand.

Während sie hinter dem Wagen entlanglief, fiel ihr eine umgekippte Truhe auf. Sie mußte beim Kampf heruntergefallen sein, oder man hatte sie beim Beladen fallen lassen. Das Holz war gesplittert, der Deckel aufgesprungen, und der Inhalt der Kiste lag am Boden verteilt. Arya bemerkte Seide und Satin und Samt, den sie niemals trug, doch mochte sie auf der Kingsroad vielleicht warme Kleider brauchen… und außerdem…Arya kniete im Dreck zwischen den verstreuten Kleidern. Sie fand einen schweren, wollenen Umhang, einen Samtrock, ein Seidenhemd und einiges an Unterwäsche, ein Kleid, das ihre Mutter ihr bestickt hatte, ein silbernes Kinderarmband, das sie vielleicht verkaufen konnte. Sie stieß den zerbrochenen Deckel beiseite und suchte in der Truhe nach Needle. Das Schwert hatte sie weit unten versteckt, unter allem anderen, aber ihre Sachen waren durcheinandergeraten, als die Truhe umgekippt war. Einen Moment lang fürchtete Arya, jemand könne das Schwert gefunden und gestohlen haben. Dann spürten ihre Finger das harte Metall unter einem Satinkleid.

«Da ist sie«, zischte eine Stimme hinter ihr.

Erschrocken fuhr Arya herum. Ein Stalljunge stand hinter ihr, ein Grinsen im Gesicht, und sein schmutziges, weißes Unterhemd lugte unter einem verdreckten Wams hervor. Seine Stiefel waren voller Dung, und er hielt eine Mistgabel in der Hand.»Wer bist du?«fragte sie.

«Sie kennt mich nicht«, sagte er,»aber ich kenn sie, oh ja! Das Wolfsmädchen.«

«Hilf mir, ein Pferd zu satteln«, flehte Arya, griff hinter sich in die Truhe, suchte nach Needle.»Mein Vater ist die Rechte Hand des Königs, er wird dich belohnen.«

«Vater ist tot«, sagte der Junge. Er schlurfte ihr entgegen.»Die Königin wird mich belohnen. Komm her, Mädchen.«

«Bleib weg!«Ihre Finger schlossen sich um den Griff des Schwertes.

«Ich sage komm. «Er packte sie beim Arm, und zwar fest.

Alles, was Syrio Forel sie je gelehrt hatte, war mit einem Herzschlag vergessen. In diesem Augenblick plötzlichen Entsetzens konnte sich Arya nur noch an eine Lektion erinnern, die Jon Snow ihr erteilt hatte, ihre allererste.

Sie stach mit dem spitzen Ende zu, riß die Klinge mit wilder,

hysterischer Kraft nach oben.

Needle ging durch sein Lederwams, durch das weiße Fleisch seines Bauches und trat zwischen den Schulterblättern wieder hervor. Der Junge ließ die Mistgabel fallen und gab ein leises Ächzen von sich, etwas zwischen Stöhnen und Seufzen. Seine Hände schlössen sich um die Klinge.»Oh, ihr Götter«, stöhnte er, während sein Unterhemd sich rötete.»Zieh es raus.«

Als sie es herauszog, starb er.

Die Pferde schrien. Arya stand über die Leiche gebeugt, still und ängstlich im Angesicht des Todes. Blut war aus dem Mund des Jungen gequollen, als er zusammenbrach, und mehr noch sickerte aus dem Schlitz in seinem Bauch, sammelte sich unter seiner Leiche. Seine Handflächen waren zerschnitten, wo er nach der Klinge gegriffen hatte. Langsam wich sie zurück, Needle rot in ihrer Hand. Sie mußte weg, weit weg von hier, irgendwohin, wo sie vor den anklagenden Augen des Stalljungen sicher war.

Wieder hob sie Zaumzeug und Geschirr auf und rannte zu ihrer Stute, aber indem sie den Sattel auf den Pferderücken hob, wurde Arya plötzlich erschreckend klar, daß die Burgtore geschlossen waren. Selbst die Seitentore würden wahrscheinlich bewacht. Vielleicht würden die Wachen sie nicht erkennen. Falls die Männer sie für einen Jungen hielten, würde man sie vielleicht… nein, sie würden Befehl haben, niemanden aus der Stadt zu lassen, ob man sie nun erkannte oder nicht.

Allerdings gab es noch einen anderen Weg aus der Burg…

Der Sattel glitt Arya aus den Händen, fiel mit dumpfem Schlag in den Dreck und wirbelte Staub auf. Würde sie den Raum mit den Ungeheuern wiederfinden? Sie war nicht sicher, doch sie wußte, daß sie es versuchen mußte.

Sie fand die Kleider, die sie eingesammelt hatte, und warf sich den Umhang über, versteckte Needle in dessen Falten.

Den Rest ihrer Sachen band sie zu einer Rolle zusammen. Mit dem Bündel unterm Arm kroch sie zum anderen Ende des Stalls. Sie entriegelte die Hintertür und spähte vorsichtig hinaus. In der Ferne hörte sie Schwerter klirren und das bebende Heulen eines Mannes, der vor Schmerzen schrie, über den Burghof hinweg. Sie würde die Wendeltreppe hinunter müssen, an der kleinen Kirche und dem Schweinestall vorbei, so war sie beim letzten Mal gelaufen, auf der Jagd nach dem Kater… nur würde sie dieser Weg direkt an den Kasernen der Goldröcke vorüberführen. Das war nicht möglich. Arya überlegte. Wenn sie zur anderen Seite der Burg hinüberlief, konnte sie an der Flußmauer entlang und durch den kleinen Götterhain schleichen… nur mußte sie zuerst den Burghof überqueren, der von den Wachen auf den Mauern offen einzusehen war.

Nie zuvor hatte sie so viele Männer auf den Mauern gesehen. Goldröcke zumeist, mit Spießen bewaffnet. Einige kannte sie vom Sehen. Was würden sie tun, wenn sie Arya auf dem Hof entdeckten? Sie würde von dort oben so klein aussehen… würde man sie überhaupt erkennen? Würde es die Männer interessieren?

Sie mußte jetzt los, sagte sie sich, doch als der Augenblick gekommen war, lahmte sie die Angst.

Ruhig wie stilles Wasser, flüsterte eine leise Stimme in ihr Ohr. Arya erschrak so sehr, daß sie fast ihr Bündel fallen gelassen hätte. Ruckartig sah sie sich um; niemand war im Stall, nur sie, die Pferde und die Toten.

Still wie ein Schatten, hörte sie. War es ihre eigene Stimme oder Syrios? Sie konnte es nicht sagen, dennoch beruhigte sie ihre Angst ein wenig.

Sie trat aus dem Stall heraus.

Es war das Unheimlichste, was sie je im Leben getan hatte. Sie wollte rennen und sich verstecken und zwang sich trotzdem, über den Hof zu gehen, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, als hätte sie alle Zeit der Welt und keinen Grund, sich vor irgend jemandem zu fürchten. Sie glaubte, ihre Blicke zu spüren wie Käfer, die unter ihren Kleidern über ihre Haut krochen. Arya sah nicht auf. Wenn sie bemerkte, wie die Männer sie beobachteten, würde sie den Mut verlieren, das wußte sie, und sie würde das Bündel fallen lassen und rennen und wie ein kleines Kind weinen, und dann wäre sie verloren. Sie hielt ihren Blick auf den Boden geheftet. Als sie in den Schatten der königlichen Septe auf der anderen Seite des Hofes trat, fror Arya vor Schweiß. Niemand hatte sie angerufen.

Die Septe stand offen und war verlassen. Drinnen brannte ein halbes Hundert Kerzen in duftender Stille. Arya dachte sich, die Götter würden zwei davon wohl kaum vermissen. Diese schob sie in den Ärmel und stieg durch ein Hinterfenster hinaus. Zu der Gasse zu schleichen, in der sie den einohrigen Kater gestellt hatte, war einfach, danach verlief sie sich. Sie kroch in Fenster hinein und wieder daraus hervor, kletterte über Mauern und tastete sich durch dunkle Keller, still wie ein Schatten. Einmal hörte sie eine Frau weinen. Fast eine Stunde brauchte sie, das niedrige, schmale Fenster zu finden, das hinunter in den Kerker führte, wo die Ungeheuer warteten.

Sie warf ihr Bündel hinein und machte kehrt, um ihre Kerze anzuzünden. Das war riskant. Das Feuer, das sie dort gesehen hatte, war bis fast zur Asche heruntergebrannt, und sie hörte Stimmen, als sie an die Kohlen blies. Mit den Händen um die flackernde Kerze kletterte sie, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, in dem Moment zum Fenster hinaus, als die Leute durch die Tür traten.

Diesmal machten ihr die Ungeheuer keine Angst. Fast schienen sie wie alte Freunde. Arya hielt die Kerze über ihren Kopf. Bei jedem Schritt bewegten sich die Schatten an den Wänden, als wandten sie sich um und sähen sie vorübergehen.»Drachen«, flüsterte sie. Sie zog Needle unter ihrem Umhang vor. Die schlanke Klinge wirkte sehr klein, und die Drachen wirkten sehr groß, trotzdem fühlte sich Arya mit Stahl in der Hand weit besser.

Der lange, fensterlose Korridor hinter der Tür war so schwarz, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hielt Needle in der Linken, ihrer Schwerthand, die Kerze in der rechten Faust. Heißes Wachs lief über ihre Knöchel. Der Eingang zum Brunnen war links gewesen, also ging Arya nach rechts. Etwas in ihr wollte rennen, doch fürchtete sie, die Kerze zu löschen. Sie hörte das leise Quieken von Ratten und sah winzige, glühende Augen am Rande des Lichtscheins, aber die Ratten machten ihr keine Angst. Anderes hingegen schon. Es war so einfach, sich hier zu verstecken, so wie sie sich vor dem Zauberer und dem Mann mit dem Gabelbart versteckt hatte. Fast konnte sie den Stalljungen an der Wand stehen sehen, die Hände zu Klauen gekrümmt, und Blut lief aus den tiefen Wunden an seinen Händen, wo Needle sie zerschnitten hatte. Vielleicht wartete er darauf, sie zu packen, wenn sie vorüberging. Ihre Kerze würde er von weitem schon sehen. Vielleicht wäre sie ohne Licht besser dran.

Angst schneidet tiefer als ein Schwert, flüsterte die leise Stimme in ihrem Inneren. Plötzlich erinnerte sich Arya an die Gruft von Winterfell. Die war um einiges unheimlicher, redete sie sich ein. Sie war noch als kleines Mädchen zum ersten Mal dort unten gewesen. Ihr Bruder Robb hatte sie mitgenommen, sie und Sansa und den kleinen Bran, der nicht größer war als Rickon jetzt. Nur eine einzige Kerze hatten sie für alle gehabt. Dann entdeckte Bran die Gesichter der Könige des Winters, mit den Wölfen zu ihren Füßen und den Eisenschwertern auf dem Schoß, und seine Augen wurden tellergroß.

Robb führte sie den ganzen Weg bis ans Ende hinunter, an Großvater und Brandon und Lyanna vorbei, um ihnen ihre eigenen Grabstätten zu zeigen. Sansa starrte nur in die stummelige, kleine Kerze, fürchtete, sie könne verlöschen. Old

Nan hatte ihr erzählt, dort unten gäbe es Spinnen und Ratten, groß wie Hunde. Robb lächelte nur.»Es gibt Schlimmeres als Spinnen und Ratten«, flüsterte er.»Hier wandeln die Toten. «Da hörten sie das Geräusch, leise und tief und fröstelnd. Der kleine Bran klammerte sich an Aryas Hand.

Als das Gespenst dem offenen Grab entstieg, fahlweiß und nach Blut stöhnend, rannte Sansa kreischend zur Treppe, und Bran schlang sich schluchzend um Robbs Bein. Arya blieb stehen und versetzte dem Gespenst einen Hieb. Es war nur Jon, mit Mehl bestreut.»Du Dummkopf«, fuhr sie ihn a«,»du hast den Kleinen erschreckt«, aber Jon und Robb lachten und lachten, und bald schon lachten auch Bran und Arya.

Die Erinnerung daran ließ Arya lächeln, und danach konnte die Finsternis sie nicht mehr schrecken. Der Stalljunge war tot, sie hatte ihn getötet, und falls er sie anfiele, würde sie ihn abermals töten. Sie wollte nach Hause. Alles würde wieder besser sein, wenn sie erst zu Hause wäre, in Sicherheit hinter den grauen Granitmauern von Winterfell.

Ihre Schritte schickten ein leises Echo voraus, während Arya immer tiefer in die Dunkelheit vordrang.

Загрузка...