Kapitel 4


Es war der Rücken des Mannes, der Alberich während der Fahrt mit geradezu gespenstischer Vordringlichkeit in Anspruch nahm. Er konnte nicht anders, als wieder und wieder darauf zu starren, mit Blicken dem Verlauf der Geweihenden zu folgen, ihren Spitzen und Verzweigungen, die allesamt an einer Art äußere Wirbelsäule zusammenliefen. Auch diese war aus Horn geformt und ähnelte in Gliederung und Oberfläche den übrigen Geweihstücken. Der Mann mußte einen Weg gefunden haben, die Enden frei zu formen. Tat er es mit Hitze, wie beim Stahl? Mit Wasser oder Zaubersang? Allein mit seinem Willen?

Alberich wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als Geist ihn unter der Decke anstieß. Sie gab ihm mit einer zaghaften Geste zu verstehen, sich tiefer hinab zu ducken. Wenn einer der Krieger sie bemerkte, war es aus mit ihnen. Nicht einmal die Tarnhaut des Waldfräuleins war dann noch ein brauchbarer Schutz.

Der Geweihmann wisperte dem Pferdelenker etwas zu, und gleich darauf brachte dieser die Tiere zum Halten. Mit einem neuerlichen Ruck blieb der Wagen auf einem engen Waldweg stehen.

Jetzt haben sie uns, dachte Alberich.

Doch statt dessen sprangen die beiden Drachenkrieger vom Wagen und schlugen sich rechts und links des Weges in die Büsche. Der Geweihmann nahm die Zügel auf und trieb die Pferde zur Weiterfahrt. Wenig später hatten sie die beiden Männer hinter sich gelassen.

Ein Hinterhalt, dachte Alberich.

Ein Hinterhalt für wen?



Der Waldpfad war schmal und von hohen Bäumen umstanden, fast schon ein Hohlweg. Der Mond spendete nur spärliches Licht, und jeder Schritt wollte sorgfältig gesetzt sein; Wurzeln und Steine waren tückische Stolperfallen. Mütterchen saß auf Rohlands breitem Rücken, obgleich sie neue Kraft in ihren Beinen spürte. Es widerstrebte ihr, sich mehr zu schonen als unbedingt nötig war. Andererseits wagte sie nicht, sich vorzustellen, was ihnen noch bevorstehen mochte. Manchmal war es unausweichlich, sich ihr eigenes Alter einzugestehen. Räuber ist man ein Leben lang, dachte sie, aber ein brauchbarer Räuber ist man... nun, ganz erheblich kürzer.

Löwenzahn führte das Pony am Zügel. »Horch!« zischte er plötzlich und ließ Rohland anhalten. Das Tier schnaubte ungehalten, und Mütterchen tätschelte seine Mähne.

Von hinten, noch aus weiter Ferne, ertönte das Hämmern von Pferdehufen.

»Dort vorne!« flüsterte Mütterchen aufgeregt und deutete auf eine Senke links des Pfades. Sie war steil, möglicherweise zu steil für das Pony, jedoch von den Wurzeln einer mächtigen Eiche überschattet. Das beste Versteck, das sich ihnen bot.

Sie eilten weiter, und Löwenzahn sprang die Böschung hinunter. Mütterchen stieg ächzend vom Pony und gab Rohland einen Klaps. Das Tier sträubte sich; erst als Mütterchen schob und Löwenzahn zog, glitt es unter Getöse hinab in die Senke. Löwenzahn konnte gerade noch beiseite springen, ehe das Pony ihn rammte.

Augenblicke später hockten sie unter den breiten Strängen der Wurzel und blickten durch die Lücken hinauf zum Weg. Es dauerte eine Weile, ehe das Pferd und sein Reiter sie passierten, doch als es endlich soweit war, stockte ihnen abermals der Atem. Es war der Krieger in Schwarz, jener Recke, den sie für Wodan selbst gehalten hatten. Über den Hals seines Rappen gebeugt, das Gesicht zwischen den buschigen Rabenfedern vergraben, wirkte er noch unheimlicher. Er mochte kein Gott sein, doch sein Anblick war angsteinflößend.

Sie warteten, bis er in den Nacht verschwunden war, dann halfen sie gemeinsam dem Pony zurück auf den Weg.

»Gehen wir weiter in der gleichen Richtung wie er?« fragte Mütterchen. Sie schämte sich nicht länger ihrer Furcht.

»Er ist nur ein Mann«, entgegnete Löwenzahn. »Außerdem haben wir ihm unser Leben zu verdanken.«

»Trotzdem hat es ihn nicht gestört, daß die Sklaven in den Schächten bei lebendigem Leibe verbrannten. Verstehst du nicht? Er hat es in Kauf genommen. Was für ein Mensch ist das?«

»Sein Haß auf den Geweihten muß groß sein.«

In einem Anflug von Abneigung bemerkte Mütterchen, daß auch Löwenzahn der Verlust an Menschenleben nicht verwerflich schien. Allein Marrets Tod hatte ihn tief getroffen; all die Unbekannten aber, die im Feuer gestorben waren, bedeuteten ihm nichts. Ein Erbe seiner Hunnenseite? Aber Löwenzahn konnte nichts für sein Empfinden. Und vielleicht täuschte sie sich sogar. Immerhin waren sie Freunde geworden.

Schließlich einigten sie sich darauf, dem Weg ungeachtet des schwarzen Ritters weiter zu folgen, denn immer noch galt ihr Streben dem Blut des Drachen. Das immerhin waren sie Alberich schuldig; auch der Zwerg würde seinen Weg dorthin fortsetzen, falls er den Kriegern entkommen war. Ein Wiedersehen unter Freunden, fand sie, wäre ein hübscher Ausklang ihres Abenteuers.

Sie mochten eine Stunde gewandert sein, die Dämmerung zeigte sich bereits hinter den Baumkronen, als sie hinter einer Wegkehre die Laute eines Kampfes vernahmen. Schwerter prallten aufeinander, und immer wieder erklang das Keuchen und Fluchen der Kontrahenten.

Löwenzahn gab Mütterchen ein stummes Zeichen, mit dem Pony zurückzubleiben.

Sie aber schüttelte entschieden den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage«, flüsterte sie. »Wir gehen gemeinsam.«

Sie banden Rohland an einen Ast und schlichen am Rande des Unterholzes den Weg entlang. Bald schon erkannten sie, was vor ihnen im Gange war.

Der Ritter in Schwarz focht erbittert mit zwei Kriegern des Geweihten, baumlangen Kerlen, die mit funkelnden Breitschwertern auf ihn einhieben. Beide waren wendig und wagemutig. Zudem wußten sie die Enge des Pfades geschickt für sich zu nutzen, indem sie ihren Feind von zwei Seiten bedrängten. Gerade tauchte der Ritter unter einem Hieb des einen Kriegers hinweg, als ihn der andere schon mit wilden Schwertschlägen eindeckte. Sein verletztes Bein, vom Bolzen durchbohrt, ließ ihn hinken und verminderte seine Gewandtheit.

»Er verliert«, raunte Löwenzahn. »Sollen wir etwa zusehen?«

»Willst du, daß Löwenzahn ihm hilft?« Mütterchen hob die Schultern. »Wir verdanken ihm unser Leben, das waren deine Worte.«

Löwenzahn nickte, packte das Schwert, das er dem toten Krieger in der Festung abgenommen hatte, und stürmte mit einem urtümlichen Kampfschrei vorwärts. Innerhalb eines Augenblickes hatte er einen der beiden Drachenkrieger erreicht und deckte ihn mit einem wahren Gewitter aus blitzenden Streichen und Stichen ein. Der schwarze Ritter schenkte ihm durch den Schlitz seines Helmes ein grimmiges Lächeln, dann widmete er sich dem zweiten Feind.

Der Drachenkrieger stellte sich schnell auf den neuen Gegner ein. Er zögerte nicht, zeigte nicht einmal Erstaunen. Jede seiner Bewegungen war tadellos einstudiert, eine mustergültige Abfolge von Attacken und Paraden, die dem grobschlächtigen Kampfstil Löwenzahns an Fintenreichtum überlegen war. Was dem Krieger jedoch abging, war Löwenzahns rohe Gewalt. Obwohl beide etwa gleich groß waren und auch der Drachenkrieger über erhebliche Kräfte verfügte, gelang es Löwenzahn doch, seinen Feind durch die Stärke seiner Hiebe in Bedrängnis zu bringen. Immer wieder ließ er sein Schwert auf die Klinge des Feindes krachen, immer schneller und ungezielter, denn er erkannte sehr wohl, worin sein Vorteil lag. Mochte der Drachenkrieger im Umgang mit der Waffe besser geschult sein, so war ihm die Wildheit des Halbhunnen fremd. Statt tückischer Finten und Figuren brach eine ungezähmte Folge von brutalen Schlägen über ihn herein, und bald schon wurde sein Arm vom ewigen Parieren lahm.

Da gelang es Löwenzahn, den Gegner in die Knie zu zwingen. Schützend hob der Drachenkrieger sein Schwert über den Kopf, als auch schon Löwenzahns Waffe auf ihn niedersauste, seine Klinge zerbrach und ihm den Schädel spaltete. Ein Berserkerschrei entrang sich der Kehle des Riesen, als der Krieger unter ihm zusammensackte. Soweit hatte die Kampfeswut Löwenzahn schon in ihrer Gewalt, daß er gar ausholte und dem toten Feind mitten in das zerstörte Gesicht trat, letzter Triumph des Überlegenen.

Mütterchen wandte sich voller Abscheu ab. Immer wieder entdeckte sie unter der bärenhaften Gutmütigkeit des Freundes neue, unvermutete Grausamkeit. Selbst seine Art zu kämpfen und den Sieg zu feiern schien ihr fremd und abstoßend. War es nur der Tod des Mädchens, der ihn rasend machte?

Derweil war es dem schwarzen Ritter trotz der Wunde gelungen, seinen Gegner mit dem Rücken gegen die Fichtenwand zu treiben. Noch einmal versuchte der Krieger einen Ausfall, stach geradewegs vor, drehte die Klinge und zog sie flink nach oben. Nur um Haaresbreite verfehlte die Schwertspitze die Kehle des Ritters, der Krieger wurde von der eigenen Wucht nach vorne gezogen - direkt in das Schwert seines Feindes. Knirschend brach es durch den Schuppenpanzer und durchbohrte seinen Brustkorb.

Gebannt und atemlos trat Mütterchen aus dem Dickicht. Sie hatten ihr Teil an Schwertkämpfen erlebt, gerechten und heimtückischen, aber selten hatte sie erlebt, daß zwei solche Giganten Seite an Seite stritten. Der Ritter war selbst mit verletztem Bein noch jedem Krieger ebenbürtig.

Mit blutigem Schwert trat er auf Löwenzahn zu und betrachtete ihn düster mit seinem einzelnen Auge. »Ich sah Euch im Hof der Festung. Was treibt einen Hunnen in diese Gegend?«

Ehe Löwenzahn etwas - zweifellos Ungeschicktes - erwidern konnte, ergriff Mütterchen das Wort: »Seid Ihr meinem Freund nicht einen Dank schuldig, Herr Ritter, bevor Ihr ihn befragt?«

»Das bin ich«, gab der Mann zu, »doch mehr noch schulde ich Treue meinem Herrn, dem König. Und Etzels Hunnen sind seine Feinde.«

»Ich bin kein Hunne«, widersprach Löwenzahn zornig. Mütterchen vermochte nicht zu sagen, ob seine Wut ein Überbleibsel des Kampfes war oder ob ihn das Verhalten des Ritters erzürnte. Beides bereitete ihr Sorgen.

»Euer Aussehen straft Eure Worte Lüge«, sagte der Ritter. Um dennoch zu zeigen, daß ihm nicht an einem Kampf lag, packte er seinen Helm am Busch und zog ihn vom Kopf. Darunter kam ein hartes, nicht mehr ganz junges Gesicht zum Vorschein. Es war schmal, fast eingefallen, und mehrere Narben zogen sich über die Haut. Sein linkes Auge war von einer schwarzen Binde verdeckt.

Löwenzahn funkelte ihn finster an. »Ihr wollt behaupten, daß ich lüge, Mann?«

Der Ritter hob die Schultern. Sein Kragen aus Rabenfedern wallte auf und nieder. »Mir liegt nicht an voreiligen Schlüssen und weniger noch an einem neuerlichen Kampf. Ihr schuldetet mir Euer Leben, und nun habt Ihr möglicherweise das meine gerettet. Belassen wir es dabei.«

Er schaute sich nach seinem Pferd um, während Mütterchen und Löwenzahn verwunderte Blicke wechselten. Der Ritter drehte sich um und eilte zu einer Schneise im Dickicht. Er fluchte, als er etwas im Unterholz entdeckte und mit weiten Schritten im Gesträuch verschwand.

Als Mütterchen und Löwenzahn ihm folgten, sahen sie, wie er sich sorgenvoll über den blutenden Leib seines Rappen beugte. Das Tier lag auf der Seite im Dickicht und zuckte krampfend mit den Beinen. Der Schwertstreich eines Drachenkriegers hatte ihm die Seite aufgeschlitzt.

Der Ritter erhob sich, schloß für einen Moment sein verbliebendes Auge, dann hob er sein Schwert und ließ es kraftvoll in den Körper des Pferdes gleiten, mitten hinein ins Herz. Das Tier schnaubte ein letztes Mal, dann war es von seiner Qual erlöst.

Wortlos trat der Ritter an den beiden vorbei auf den Weg. Sein Gesichtsausdruck kündete von Trauer und Zorn, und selbst Löwenzahn zog es in diesem Augenblick vor zu schweigen.

Der Ritter schien einen Moment lang ungewiß, wie es weitergehen sollte, dann sagte er: »Verkauft mir Euer Pony.«

Es war keine Frage, sondern ein Befehl. Und er machte Mütterchen wirklich zornig.

»Wo denkt Ihr hin? Dieses Pony ist mein Freund.«

»Dann hat es einen Namen?« fragte der Ritter und trat auf Rohland zu.

»So ist es«, bestätigte Mütterchen, ohne ihn indes zu verraten.

Der Ritter beugte sich an das Ohr des Ponys und flüsterte etwas hinein. Rohland stampfte mit einem Vorderhuf auf und wieherte.

Löwenzahn sah einfältig drein. »Kann denn jeder hier mit Tieren sprechen?«

Mütterchen stapfte vor und schob sich erbost zwischen Rohland und den Ritter. Jener schaute sie erst drohend, dann belustigt an. Doch sein Lächeln währte nur einen Augenblick, dann wirkte er wieder so finster wie zuvor.

»Wollt Ihr Euch gegen einen Freund des Königs stellen?«

»Wollt Ihr eine wehrlose Alte erschlagen?«

Der Ritter legte verwundert den Kopf schräg. »Ihr appelliert an meine Ehre?« Plötzlich lachte er schallend. »Verzeiht, aber damit seid Ihr an den Falschen geraten. Meine Ehre ist soviel wert wie Eure greisen Knochen.«

»Mir sind sie einiges wert.«

»Daran zweifle ich nicht.«

Löwenzahn stand da und überlegte, ob er dazwischengehen sollte. Er kam jedoch zu dem Schluß, es nicht zu tun; die Wortgefechte überließ er besser Mütterchen.

Sie begegnete dem Ritter mit Kühnheit. »Ihr wollt zum Drachen, nicht wahr?«

»Dann ist er auch Euer Ziel?«

»Wir könnten zusammengehen. Ihr selbst und mein Freund gebt ein gutes Kampfgespann ab.«

»Ihr würdet mich nur aufhalten.«

»Vergeßt nicht, bisher habt Ihr uns aufgehalten.«

Wieder lächelte er, und an den frischen Falten, die es auf seinem Gesicht erzeugte, erkannte Mütterchen, daß er dergleichen nicht oft tat. Es wirkte unbeholfen, als hätte er es nie gelernt.

»Nennt mir Euren Namen, Weggefährtin«, sagte er zu ihrem Erstaunen.

»Früher hieß man mich Mütterchen Mitternacht.«

»Die Grausame persönlich?«

»Eben jene.«

»Und Euer Gefährte?«

»Löwenzahn«, sagte Mütterchen.

Der Ritter sah verwundert von einem zum anderen, enthielt sich aber einer Bemerkung.

»Wie ist Euer Name?« fragte die Räuberin und konzentrierte ihren Blick auf das Auge des Mannes. »Mit Verlaub, mein Freund hier hielt Euch schon für den Rabengott selbst.«

Löwenzahn fuhr voller Empörung auf. »Das warst du, nicht ich!«

Mütterchen winkte ab. »Papperlapapp!«

Der Ritter aber versank in tiefem Schweigen. Schließlich sagte er gedankenverloren: »Tatsächlich hat man mich einst so genannt. Der Rabengott... Aber das ist lange her.«

»Und wie heißt Ihr wirklich?«

»Heute nennt man mich bei meinem wahren Namen«, sagte er und fügte leiser hinzu: »Ich bin Hagen von Tronje.«

Seltsam, dachte Mütterchen, es klingt beinah, als schäme er sich dafür.



Mit einem Laut wie ein Schrei fuhr der Wind durch die Wälder. Alberich fröstelte. Nicht einmal die Decke, die ihn und das Moosfräulein vor den Blicken des Geweihmannes schützte, vermochte die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Und vielleicht war es ja gar nicht die Kälte des Windes, die ihn schaudern ließ. Alberich gestand sich ein, daß er sich selten zuvor so unwohl gefühlt hatte. Die Ungewißheit dessen, was sie noch erwarten mochte, widersprach seinem geruhsamen Leben im Hohlen Berg und brachte ihn ganz durcheinander. Beinahe wünschte er sich, der Schmerz des Alleinseins möge zurückkehren und ihn vor allen weiteren Abenteuern behüten.

Und noch etwas beunruhigte ihn. Bei seiner ersten Begegnung mit Geist war ihm klargeworden, daß sie beide die letzten ihrer Art waren, wenigstens in dieser Gegend, und er hatte die Verbundenheit gefühlt, die daraus zwischen ihnen entstand. Je länger er aber nun auf den Rücken des Geweihmannes blickte, auf die verschlungenen Hornstränge, die gleichsam mit seinem Körper verwachsen schienen, desto deutlicher empfand er diese Verbundenheit auch mit ihm. Er war ihr Feind, ohne Zweifel, ein grausamer noch dazu, aber gleichzeitig war da eine spürbare Verbindung zwischen ihnen, als sei mit dem Geweihmann ein drittes Wesen mit dem magischen Blut der Alten an ihre Seite gestoßen.

Das vierte war der Drache.

Alberich erschrak. Wenn er selbst die Nähe eines Zauberwesens spürte, mußte umgekehrt dann nicht auch der Geweihmann die Anwesenheit von Geist und Alberich fühlen? Wußte er längst, daß sie auf dem Wagen lagen? Wollte er, daß sie mit zum Kadaver des Drachen kamen?

Alberich hatte die schreckliche Vorahnung, daß ihnen etwas Grauenvolles bevorstand, wenn sie nicht sofort die Flucht ergriffen. Wir müssen hier weg! durchfuhr es ihn. Abspringen und fortlaufen.

Lautes Hufgetrampel riß ihn aus seinen Gedanken. Ein berittener Drachenkrieger kam ihnen auf dem Weg entgegengesprengt. Erstaunt riß er sein Pferd herum, als er seines Meisters angesichtig wurde. Tänzelnd kam das Tier zum Stehen.

»Herr!« rief der Krieger aus. »Ich wurde gesandt, Euch die Botschaft zu überbringen. Die Sklaven sind durchgestoßen! Das Blut des Drachen fließt!«

Von ihrem Versteck aus konnte Alberich nicht in das Gesicht des Geweihmannes blicken, aber ihm war fast, als könne er den Triumph ihres Feindes am eigenen Leibe spüren.

Der Krieger bot seinem Herrn das Pferd an, doch der Geweihmann lehnte ab. Statt dessen befahl er dem Reiter, den Wagen zu eskortieren. Alberich war jetzt sicher, daß sie entdeckt waren. Der Geweihmann wollte sichergehen, daß sie ihm nicht mehr entkommen konnten.

Er blickte zu Geist hinüber. Sie starrte furchtsam zurück, als wäre sie zum gleichen Schluß gekommen. Keiner von beiden wagte zu flüstern, und so war es unmöglich, eine gemeinsame Flucht zu beschließen. Alberich erwog für einen Moment, einfach die Decke zurückzuschlagen und vom Wagen zu springen; Geist würde es ihm schon gleichtun. Der Gedanke an den Krieger hielt ihn jedoch davon ab, denn obgleich das Moosfräulein aufgrund seiner Chamäleonhaut entkommen würde, wäre ihm Alberich doch ausgeliefert gewesen. Gegen einen Menschen auf einem Pferd hatte er als Zwerg kaum eine Hoffnung auf Sieg.

Er grübelte hin und her - zu lange, wie sich erwies, denn der Wald blieb mit einemmal zurück, und der Wagen rollte hinaus auf die Heide. Wenig später schon kam er vor der Höhle des Drachen zum Stehen. Alberich sah, wie mehrere Krieger auf sie zueilten.

Er schüttelte alle Vorbehalte ab und rief: »Weg hier!«

Geist und er kamen gleichzeitig auf die Beine, doch schon im Sprung vom Wagen zeigte sich, wie flink das Mädchen und wie unbeholfen er selbst war. Ehe die Krieger überhaupt begriffen, was geschah, war Geist bereits an ihnen vorbei, ein erdfarbener Schemen mit strahlend blauen Augen, der mit weiten Sätzen zum Waldrand jagte.

Alberich hingegen kam genau fünf Schritte weit, dann packte ihn von hinten eine Hand. Er fuhr herum und ließ die Goldgeißel nach oben wirbeln. Der Krieger schrie auf, als ihm die Stachelkugeln das Gesicht zerfetzten. Zwei weitere näherten sich von rechts und links. Alberich sah noch, wie der Geweihmann mit verschränkten Armen auf dem Kutschbock stand und auf ihn herabblickte, dann beanspruchte der Kampf seine ganze Aufmerksamkeit. Die Geißel traf die Knie eines weiteren Mannes. Sogleich brach er zusammen. Derweil aber packte schon der nächste Alberich am Arm. Die Männer griffen nicht mit ihren Schwertern an; ihr Anführer mußte Befehl gegeben haben, ihn lebendig zu fangen.

Wieder bissen die Kugeln in Fleisch, und schon glaubte Alberich, sich abermals Luft geschaffen zu haben, als er plötzlich gewahr wurde, daß er umzingelt war. Mindestens zehn Krieger kamen von allen Seiten auf ihn zu, und obgleich ihnen die wirbelnde Geißel Respekt abzollte, so war doch abzusehen, daß Alberich auf verlorenem Posten kämpfte. Er schlug und peitschte, fluchte und brüllte, doch schon kurz darauf brachte ihn die Überzahl der Gegner zu Boden. In Windeseile hatten sie ihm die Goldgeißel entrissen. Einer zog ihm das Horn vom Hals und verschwand damit.

Zu viert hielten sie Alberich am Boden fest. Lange Zeit mühte er sich zeternd, sie abzuschütteln. Erst als ihm klar wurde, daß die ersten bereits über seine Anstrengungen lachten, gab er auf. Statt dessen blickte er zur heranbrechenden Morgendämmerung empor und horchte auf Kampfgeräusche. Es gab keine. Geist mußte ihnen entkommen sein.

Ein schwarzer Umriß schob sich vor das aufblühende Morgenrot des Himmels, als der Anführer der Krieger sich über Alberich beugte. Die Geweihenden zuckten um sein Gesicht wie giftige Schlangen.

Es sind nur Schatten, dachte Alberich panisch. Nur der zitternde Feuerschein von Fackeln, die einige Krieger in Händen trugen.

»Sollen wir das Mädchen verfolgen?« fragte einer der Männer, doch der Geweihte schüttelte den Kopf.

»Laßt sie laufen«, brachte er mit zischelnder Stimme hervor und wandte dabei seinen Blick nicht von Alberich.

»Dieser hier hat alles, was wir brauchen.«



Zügig und wachsam folgten die drei dem Waldpfad. Sie rechneten jederzeit mit weiteren Hinterhalten, und vor allem Löwenzahn schien der Vorstellung nicht abgeneigt, sich erneut zu beweisen. Doch sein Wunsch blieb vorerst unerfüllt. Nichts rührte sich, abgesehen von einer aufstiebenden Schleiereule, die Mütterchen einen gehörigen Schreck einjagte.

Hagen war ein wortkarger Begleiter. Nachdem er sich einmal durchgerungen hatte, die Gesellschaft der beiden zu dulden, schien er lange Zeit bemüht, ihre Anwesenheit durch ehernes Schweigen zu verdrängen. Er trug seinen Helm in der einen, das Schwert in der anderen Hand, und hatte dem treuen Rohland sein Bündel übergeworfen. Mütterchen hatte den Eindruck, das Pony beobachte den Ritter verstohlen, als begreife es nicht recht, wen es da vor sich hatte. Einen einfachen Menschen? Oder mehr als das? Sicher war, daß Hagen eine Aura von Düsternis, von Melancholie verströmte, und jeder, der ihm zu nahe kam, wurde davon erfaßt.

Sie waren bereits eine ganze Weile gewandert - fast gerannt, fand Mütterchen, zumindest fühlten sich ihr Beine so an -, als Hagen ganz unvermittelt sein Schweigen brach.

»Ich bezweifle, daß Ihr wißt, auf was Ihr Euch eingelassen habt«, sagte er so leise, daß Mütterchen erst glaubte, der Wind habe die Baumkronen zum Flüstern gebracht.

Löwenzahn aber hatte es sehr wohl verstanden und polterte los: »Nichts, dem Ihr Euch entgegenstellt, müßte uns Grund zum Fürchten geben!«

Hagen schenkte ihm keine Beachtung und wandte sich statt dessen an Mütterchen. »Der Geweihte ist nicht einfach irgendein Räuberhauptmann, wie Ihr sie von früher kennen mögt.«

Sie nickte bitter. »Habt Ihr es deshalb für nötig gehalten, so viele Unschuldige in den Tod zu schicken?«

Der Ritter blickte ihr kalt in die Augen. »Es war nötig.«

»Was war es überhaupt, das der Geweihte dort oben im Turm tat? Wozu die ganzen Sklaven?«

»Nichts als Maskerade.«

»Maskerade?« Der Grimm im schmalen Gesicht des Ritters schien ihr so verzehrend, so angsteinflößend, daß sie vor ihm zurückschrak. Der Hagen, der sich von ihr hatte überzeugen lassen, mit ihnen gemeinsam zu reisen, schien ein anderer gewesen zu sein, einer, der es sich für einen winzigen Augenblick gestattet hatte, der Welt mit einem Lächeln zu begegnen. Dieser hier aber - finster, verschlossen und ganz unnahbar - war eine bedrohliche Erscheinung.

»Selbst ein Mann wie der Geweihte ist auf bare Münze angewiesen, um seine Männer im Zaum zu halten. Außerdem wollte er den Turm.«

Mütterchen war anzusehen, daß sie noch immer nicht verstand, auf was er hinaus wollte.

»Der Geweihte hat den Grafen aus seinem Gefängnis befreit, damit Ugo ihm den Turm überläßt«, fuhr Hagen fort. »Keine andere Festung liegt so nah bei der Drachenheide. Zugleich aber hat er Sklaven an Ugo verkauft.«

Löwenzahn bemühte sich eifrig, sein Interesse an den Worten des Ritters nicht einzugestehen. Er schaute gewichtig hinter jeden Baum und betonte seine Wachsamkeit, doch in Wahrheit hielt er sich immer nahe genug bei den anderen auf, um ihrem Gespräch zu folgen.

»Wieso hätte Ugo Sklaven von ihm kaufen sollen?« fragte Mütterchen. »Ich nahm an, die armen Menschen stünden unter der Aufsicht des Geweihten.«

»Er hat Ugo weisgemacht, der Felsenkamm, auf dem der Turm steht, sei der Rücken eines schlummernden Drachen. Im Volksmund wurde das lange schon behauptet, doch niemand glaubt wirklich daran. Ugo aber ließ sich mit leichter Hand davon überzeugen. Der Geweihte behauptete, wenn es gelänge, durch Bohrungen zur Feuerader des Drachen vorzustoßen, dann sei Ugo im Besitz einer ewigen Flamme, eines Feuers, das heißer und heller brennt als jedes andere auf der Welt. Um Schächte zu dieser angeblichen Feuerader zu treiben, mußten Menschen herbeigeschafft werden, immer mehr und mehr von ihnen, auch um die Arbeiter in der Tiefe vor der Hitze des schlummernden Drachen zu bewahren. Deshalb das Wasser, deshalb die Eimerkette.«

»In Wahrheit aber gab es gar keine Hitze.«

»Natürlich nicht. Ebensowenig wie eine Feuerader oder den schlafenden Drachen. Es war alles nur ein gigantisches Gaukelspiel, um Ugo dazu zu bewegen, seine Schatzkammer zu leeren im Austausch für die Sklaven, die die Männer des Geweihten ihm zuführten.«

»Warum hat der Geweihte die Schatzkammer nicht kurzerhand ausgeraubt? Warum so viel Mühe?«

»Um den Vorgängen den Anschein von Recht und Ordnung zu geben. König Dankrat wußte, was hier geschah, aber er konnte nicht einschreiten, solange der Geweihte nicht gegen die Gesetze verstieß. Und genaugenommen hat er das nicht getan. Ugos Befreiung war in gewisser Weise rechtmäßig - schließlich wurde er von der eigenen Familie gefangengehalten -, und seine Entscheidung, den Geweihten für seine Dienste zu bezahlen, blieb ihm freigestellt.«

»Und die Sklaven?«

»Flößer und Händler von außerhalb des Königreichs, die das Burgundenland auf dem Rhein passierten. Der Geweihte hat sich nicht an Bürgern des Reiches vergriffen.«

»Ich mag Räuberin sein«, erboste sich Mütterchen, »dennoch bin ich eine Bürgerin des Königreichs. Und der Geweihte hat sich an mir vergriffen.«

»Er hat Euch nicht versklavt. Außerdem, Ihr sagt es selbst - Ihr seid Räuberin. Eine Geächtete. Wieviel mag dem König wohl an jemandem wie Euch liegen?«

Sauertöpfisch verzichtete sie auf eine Erwiderung.

Da fragte Löwenzahn: »Was führt Euch hierher, Ritter?«

»Ich bin ein Berater des Königs.«

»Der König schickt seine Berater auf Räuberjagd? Allein?« fragte Mütterchen mißtrauisch. »Noch dazu, wo der Geweihte offenbar gegen kein Gesetz verstoßen hat, wie Ihr uns eben weismachen wolltet.«

Hagen schwieg eine Weile, und schon sah es aus, als würde er darauf keine Antwort geben, als er plötzlich sagte: »Ich bin auf eigenen Wunsch hier.«

»Ihr sucht Vergeltung?« Dieser Gedanke schien Löwenzahn versöhnlicher zu stimmen. Vergeltung und Rache waren Worte, die sein Kriegerherz höher schlagen ließen.

»Ihr mögt es so nennen«, gab Hagen unbestimmt zurück.

Löwenzahn grunzte zufrieden, während Mütterchen den Ritter ohne rechtes Vertrauen beobachtete. Es gefiel ihr nicht, daß Hagen es bei derart vagen Andeutungen beließ. Sie fragte sich, ob seine wahren Ziele den ihren nicht entgegenstanden.

Er hinkte, wenn auch nicht allzu offensichtlich, und sie wunderte sich, daß ihm die Verletzung keine Sorge bereitete. Der Geweihte war noch lange nicht besiegt, und das Schlimmste mochte ihnen noch bevorstehen. Mit einem lahmen Bein war selbst Hagen von Tronje dem Ansturm mehrere Drachenkrieger nicht gewachsen.

Wo mag nur Alberich stecken? dachte sie besorgt. Sie konnte nicht glauben, daß er den Kriegern zum Opfer gefallen war. Der Zwerg war zäh und kräftig, und trotz aller Wunderlichkeiten besaß er einen wachen Verstand.

Einen Augenblick lang erwog sie, Hagen von Alberich zu erzählen, verwarf den Gedanken aber wieder. Sie hätte kaum etwas Dümmeres tun können, als einem geheimnisvollen Fremden, der sich als Berater des Königs ausgab, von einem unermeßlichen Goldschatz zu berichten. Noch dazu, wo auch dem König ein solcher Hort kaum ungelegen käme.

Sie wandte sich abermals an den schweigsamen Ritter. »Ihr habt gesagt, der Geweihte habe Ugos Reichtümer benötigt, um damit seine Krieger zu entlohnen. Wofür aber braucht er all diese Männer?«

»Sie bewachen für ihn den Drachen.«

»Dann ist auch er hinter dem Blut her?«

Hagens eines Auge verengte sich zu einem Schlitz. »So wie Ihr?«

»Ich dachte dabei eher an Euch«, gab Mütterchen zurück.

Der Ritter sah sie mit aufrichtigem Erstaunen an. »Ihr glaubt, es ginge mir um das Blut?«

»Um was sonst?«

Er schnaubte verächtlich. »Ich werde Euch keinen Tropfen Eures kostbaren Drachenblutes streitig machen, Mütterchen Mitternacht.«

Löwenzahn grinste zufrieden. »Dann sind wir uns ja einig.«

Einig? dachte Mütterchen. Nie und nimmer. Aber sie wagte nicht, tiefer in den Ritter zu dringen. Sie wollte seine Begleitung nicht aufs Spiel setzen; selbst verwundet mochte er sich noch als brauchbarer Beschützer erweisen.

»Seht doch!« Löwenzahn blieb wie angewurzelt stehen.

Auch Mütterchen und Hagen verharrten. Das Pony beendete widerwillig seinen Trott und wieherte leise an Mütterchens Ohr.

Vor ihnen huschte etwas in wildem Zickzack auf sie zu, ein dunkler Schemen, der in rasender Eile näher kam.

»Ein Zauber des Geweihten!« rief Mütterchen aufgeregt.

Hagen sprang mit dem Schwert in der Hand vor, breitbeinig versperrte er den Weg. Er schien die Magie seines Feindes nicht zu fürchten.

Zehn Schritte vor ihnen verharrte der Schemen. Seine Form war die eines Menschen. Aber was war mit seiner Haut geschehen?

»Mütterchen! Löwenzahn!« rief eine helle Stimme. Sie gehörte einem jungen Mädchen. »Fürchtet Euch nicht vor mir!«

Hagen blieb ganz ruhig. »Ein Moosfräulein«, sagte er leise, als fürchtete er, es mit seiner Stimme zu verscheuchen.

Mütterchen atmete tief durch. »Ich habe seit Jahrzehnten keines mehr gesehen.«

Der Ritter nickte unmerklich. »Es hieß, sie seien ausgestorben.«

Das Mädchen kam langsam auf sie zu. Es hatte die Farbe des Waldes, ein schlieriges Grün und Braun, das sich laufend zu wandeln schien. Nur die Augen glänzten in beständigem Blau. Der nackte Chamäleonkörper war mager, fast knochig.

»Seht mich bitte nicht so an«, sagte das Moosfräulein scheu.

Mütterchen glaubte erst, es schäme sich seiner Nacktheit. Doch das Mädchen machte keine Anstalten, seine Hände schützend auf Brüste oder Scham zu legen, auch nicht, als es näherkam. Und da begriff sie: Es schämte sich nicht seiner Blößen, sondern dessen, was es war.

Das Mädchen räusperte sich verlegen. »Ich bringe schlimme Nachricht von Eurem Freund Alberich.«

Hagen fuhr herum und starrte Mütterchen in plötzlichem Begreifen an. »Alberich?« fragte er lauernd. »Der Horthüter?«



Die Melodie wurde klarer, erkennbarer. Sie schwebte durch Alberichs Kopf wie ein Seidenschleier, den der Wind durch ein Fenster in die Nacht hinausträgt. Ganz leicht, ganz locker. Es war keine Melodie wie die Sänger sie spielten, kein Klang von dieser Welt. Man hätte keine Worte dazu reimen können, und doch wußte Alberich, wenn man ihm jetzt ein Horn geben würde, dann hätte er ihm dieselben Töne entlocken können. Es war in ihm, in seinem Blut, im Erbe seiner Ahnen. Es war, und daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr, die reinste und herrlichste Albenmagie.

Je näher er dem Kadaver des Drachen kam, desto deutlicher wurde sie, desto größer wurde der Zwang, sie spielen zu müssen.

Alberich ging an der Seite des Geweihten, die Hände gebunden, ansonsten aber frei. Die Wächter, die vorher nicht von seiner Seite gewichen waren, hatte der Geweihte zurücktreten lassen. Ohnehin war die Heide von ihnen bevölkert, und ein Fluchtversuch war zum Scheitern verurteilt. Nur rund um den Drachen, in einem Umkreis von zwanzig Schritten, hielt sich keiner von ihnen auf. Die Versuche, dem Untier mit Spitzhacken beizukommen, waren eingestellt worden.

»Sie fürchten ihn von Tag zu Tag mehr«, erklärte der Geweihte mit tuschelnder Stimme. »Das ist gut so.« Er ließ offen, wie er die letzte Bemerkung meinte.

Alberich trug grimmigen Trotz zur Schau, aber insgeheim wunderte er sich, warum der Geweihte ihn am Leben ließ. Es hatte etwas mit der Magie seines Volkes zu tun, dem gleichen Zauber, den auch das Moosfräulein in sich trug. Wie auch der Drache, als er noch lebte. Und der Geweihte selbst?

»Die Totenstarre wird bald ihren Höhepunkt erreichen«, sagte der Geweihte, als sie den Kadaver fast erreicht hatten. »Sein Äußeres ist bereits versteinert, die Starre frißt sich durch seine Eingeweide zum Herz. Erst dann wird er aufhören, Botschaften auszusenden.«

»Botschaften?« fragte Alberich verwundert.

Der Geweihte blinzelte abschätzend auf den Zwerg herab, als hätte er ihn beleidigt. »Die Melodie. Ich weiß, daß Ihr sie hören könnt, gerade jetzt, in diesem Augenblick.«

»Dann hört Ihr sie auch?«

»Leiser als Ihr, schwächer und nicht vollständig. Deshalb brauche ich Eure Hilfe.«

»Meine... Hilfe?« wiederholte Alberich befremdet.

Der Geweihte nickte knapp. »Eure oder die des Moosfräuleins. Das ist einerlei. Und genaugenommen bin nicht ich es, dem Ihr helfen sollt, sondern er!« Er deutete auf den Drachen. Aus der Nähe wirkte das Untier noch größer, wie ein Hügel aus versteinerten Schuppen und Muskelsträngen, die dicker waren als die mächtigsten Eichen. Der verdrehte Leib, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken liegend, war so hoch wie ein Haus. Alberich sah, daß die Kruste des Blutsees mit weißgrauen Pilzen bedeckt war.

»Welche Art von Hilfe meint Ihr?« Er legte Schärfe in das Wort, um ihm den freundlichen Klang zu nehmen. Hilfe wurde freiwillig gegeben; er aber bezweifelte, daß man ihm eine Wahl lassen würde.

Die Mundwinkel des Geweihten zuckten unter den Hornsträngen seiner Maske. »Seht selbst...«

Er führte Alberich um den Leichnam herum, bis sie jene Seite des Tieres erreichten, die von der Höhle, den Kriegern und den Sklaven am Klippenrand abgewandt war. Dort, wo der Zwerg den Brustkorb des Drachen vermutete, klaffte ein Loch im Schuppenpanzer der Bestie. Dahinter führte zwischen freiliegenden Rippen ein enger schwarzer Tunnel mitten in den Kadaverberg.

»Ihr wollt doch nicht, daß ich dort hineingehe?«

»Später. Erst aber -«

Der Zwerg unterbrach ihn lautstark. »Ich denke nicht daran.«

Ruckartig beugte sich der Geweihte zu ihm herunter. Sein Blick bohrte sich stechend in Alberichs Augen. Seine Stimme bekam einen düstermelodiösen Klang. »Wenn ich es für richtig halte, werdet Ihr es tun

Zu seinem Erstaunen hielt der Zwerg der Beeinflussung stand. »Nein«, sagte er hart. »Werft mich von der Klippe oder erschlagt mich gleich, aber ich werde nicht für Euch in dieses... Ding klettern.«

Allein der Gestank, der ihm aus dem Inneren des Kadavers entgegenwehte, gab ihm den Mut, sich zu widersetzen. »Warum gebt Ihr nicht einem Eurer Männer den Befehl dazu, wenn es Euch so wichtig ist?«

»Was glaubt Ihr, wer den Tunnel durch das Fleisch des Drachen gegraben hat? Sklaven, Krieger, gewöhnliche Menschen. Nicht einer von ihnen ist wieder herausgekommen. Der Drachenleib hat sie verschlungen, sogar noch im Tode.«

»Das bestärkt mich nicht gerade in dem Wunsch, Euch behilflich zu sein.«

,»Ihr seid anders«, zischte der Geweihte zornig. »Ihr seid von seinem Blut. Ihr seid wie er.«

»Und Ihr? Was ist mit Euch? Habt Ihr etwa Angst, dort hineinzugehen?«

Einige Herzschläge lang wich die Finsternis aus dem Blick des Geweihten, und an ihre Stelle trat ein Hauch von Verletzlichkeit. »Mag sein, daß es mir gelingt, den Gang ins Innere zu überleben. Genausogut aber könnte er mich töten.«

Alberich bemerkte mit Genugtuung, daß er die wunde Stelle des Geweihten entdeckt hatte. Im Gegensatz zu Geist, die darunter litt, kein gewöhnlicher Mensch zu sein, so grämte den Geweihten das Bewußtsein, daß viel zuviel Menschliches in ihm steckte.

»Was wollt Ihr überhaupt dort drinnen?« fragte Alberich.

»Das werdet Ihr früh genug erfahren.«

»Dann geht es Euch gar nicht um das Blut?«

»Das Blut bedingt alles andere«, erwiderte der Geweihte geheimnisvoll. Als hätte ihm dieser Gedanke etwas in Erinnerung gerufen, ging plötzlich ein Ruck durch seinen Körper. Die Geweihenden schabten hörbar aneinander. Es klang, als kämpften zwei Hirsche auf einer Waldlichtung.

»Kommt jetzt! Es ist an der Zeit.«

Für was? wollte Alberich fragen, aber der Geweihte eilte bereits voraus zum Klippenrand. Einen Moment lang fragte er sich, was wohl geschähe, wenn er ihn angreifen würde. Offenbar war Alberich für ihn nur lebendig von Nutzen. War der Versuch den Einsatz wert?

Er entschied sich dagegen. Noch mochte er die Möglichkeit haben, lebend aus dieser ganzen Sache herauszukommen und zum Hohlen Berg zurückzukehren. Beinahe erschrocken wurde er sich bewußt, daß er seit Tagen nicht mehr an den Hort gedacht hatte. Lag er noch sicher im Berg? Oder waren bereits die ersten Räuberbanden eingetroffen, um die Schatzkammern zu plündern?

Unwillig folgte er dem Geweihten. Auf der anderen Seite des Kadavers, am Abgrund der Klippe, drängte sich im rotgoldenen Licht der Morgensonne eine Schar von Sklaven aneinander. Eine Handvoll Krieger hielt sie mit blitzenden Waffen in Schach. Weitere Vasallen des Geweihten standen rund um die Seilwinde am Felsrand. Sie traten ehrfürchtig zur Seite, als ihr Anführer sich näherte.

Als Alberich bei ihnen eintraf, überkam ihn abermals das Flüstern der Melodie. Jetzt klang sie verzweifelt wie ein Hilfeschrei.

Schlagartig drehte sich der Geweihte zu ihm um. »Habt Ihr es gehört? Er fleht Euch an, ihm zu helfen.«

»Der Drache?« flüsterte Alberich, und ein Raunen ging durch die Kriegerschar.

»Er hat Euch hierhergeführt«, sagte der Geweihte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne schmiegten sich wie Goldgeschmeide um seine Hornrüstung. »Euch und das Moosfräulein.« Leiser fügte er hinzu: »Genauso wie mich.«

Von jenseits der Klippe drang ein leises Plätschern herauf. Alberich hatte Mühe, es von der Melodie in seinem Kopf zu unterscheiden. Er spürte, wie ihn ein Schwindel überkam. Das mußte an der Höhe der Klippe liegen, an dem Ausblick über die weite Hügellandschaft am Westufer. Zwerge sind für die Tiefen der Erde geschaffen, nicht für die luftigen Bergeshöhen.

Die Gesichter und Gestalten um ihn herum begannen zu verschwimmen, sich zu vermischen wie unterschiedliche Farben in einem Tiegel. Die Melodie wurde lauter, mißtönender, bis er glaubte, er müsse die Hände in seinen Schädel graben und die fremden Klänge herausreißen.

Schlagartig verstummten sie und verschwanden in den Tiefen seines Bewußtseins.

Auch das Plätschern brach ab.

Alberich hatte angenommen, es sei vom Fluß heraufgedrungen. Doch als jetzt immer mehr Krieger mit sorgenvollen Blicken in den Abgrund schauten und ein Murren unter ihnen laut wurde, da begriff er, daß etwas Unerwartetes geschehen war.

Er blickte den Geweihten an und sah zu seinem Erstaunen, daß er lächelte. Nur einen Augenblick lang, dann war seine Miene wieder so starr und abweisend wie zuvor. Es war kein freundliches Lächeln gewesen.

»Das Blut ist versiegt«, rief einer der Männer und wandte sich beinahe vorwurfsvoll an den Geweihten.

Alberich erinnerte sich wieder an das hölzerne Auffangbecken in der Steilwand, von dem Geist ihm erzählt hatte. Also war es das Plätschern des Blutes gewesen, das in das Becken strömte.

Immer mehr Krieger begannen zu murren. »Wie sollen wir darin baden?« - »Das ist nicht mal ein halbes Faß voll!« - »Jemand muß es heraufholen!«

Alberich durchschaute allmählich, was vor sich ging. Der Geweihte hatte seinen Männern nicht nur Gold versprochen. Für Krieger wie sie war Unverwundbarkeit weit verlockender als feines Geschmeide.

Der Geweihte breitete in einer herrischen Geste die Arme aus. Sofort verstummten die Krieger und sahen ihn an.

»Jemand wird das Blut heraufholen«, rief er so laut, daß die Worte in der Tiefe widerhallten. »Ihr habt es Euch verdient. Vorher aber...« Er verstummte und deutete in weitem Bogen auf die verängstigten Sklaven am Rand der Klippe.

Ein neuer Blutdurst loderte in den Augen der Krieger auf und verdrängte für einen Augenblick Enttäuschung und Zorn. Und nun war es nicht mehr das Blut des Drachen, nach dem es ihnen gelüstete.



Mütterchen schauderte, als sie sich am Waldrand zwischen Hagen und Löwenzahn zwängte. Ihrer aller Augen waren auf das Geschehen gerichtet, das jenseits der Heide seinen unausweichlichen Verlauf nahm.

»Das können sie doch nicht wirklich tun«, flüsterte sogar Löwenzahn mit bebender Stimme.

Hagen runzelte die Stirn. »Natürlich könne sie.« Er klang ruhig, fast gleichgültig, doch seine Wangen zuckten, als gelänge es ihm nur mit Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Dann erkannte Mütterchen, daß es der Schmerz seiner Wunde war, der ihm zu schaffen machte, nicht die Unmenschlichkeit der Drachenkrieger. Die Verletzung schien sich zu entzünden.

Sie blickte ihn bösartig an. »Was macht es schon, daß noch ein paar Sklaven sterben - das ist es doch, was Ihr meint, nicht wahr?«

Ohne den Blick von den Sklaven zu wenden, die sich in einer langen Reihe an der Felskante aufstellen mußten, erwiderte Hagen: »Ohne die brennenden Seilwinden wäre es schlecht um Eure Flucht bestellt gewesen.«

»Macht Euch nicht lächerlich«, gab Mütterchen wütend zurück. »Wir haben in Eurem Feuer eine Freundin verloren. Und Ihr habt die Dreistigkeit, Euch -«

»Schaut doch nur!« fiel Löwenzahn ihr ins Wort.

Jäh verstummten alle drei.

Mütterchen hatte einundzwanzig Krieger gezählt. Ein Großteil von ihnen trat jetzt hinter die Reihe der Sklaven.

Jene, die um ihr Leben flehten, die weinten und auf die Knie fielen, wurden als erste gestoßen. Kreischend verschwanden sie im Abgrund. Ihnen folgten nach und nach die übrigen, einige sichtbar gleichgültig, weil sie längst mit dem Leben abgeschlossen hatten, andere mit Flüchen und Beleidigungen auf den Lippen. Ein paar von ihnen hatten vielleicht Glück und überlebten den Sturz in die Tiefe - obgleich die Wasseroberfläche aus dieser Höhe mit der Gewalt einer Felsplatte auf sie zuraste. Die meisten aber wurden beim Aufprall zerschmettert wie Figuren aus Lehm.

Mit tränenfeuchten Augen erkannte Mütterchen Alberich, der mit gebunden Händen an der Seite des Geweihten stand, gleich neben der hohen Seilwinde. Er verfolgte den Mord an den Sklaven mit wutverzerrten Zügen.

Nachdem sie sich selbst zur Ruhe gezwungen hatte, fragte sie sich, wohin das Moosfräulein verschwunden war. Geist hatte ihnen berichtet, was ihr und Alberich widerfahren war, hatte ihnen auf dem Weg hierher auch die Einzelheiten der Heide geschildert - den gigantischen Kadaver, die Höhle, den Seilzug, das Auffangbecken und den Stollen in der Felswand.

Kurz darauf war das seltsame Geschöpf verschwunden, hatte seine Haut dem Dunkel des Waldes angeglichen und war darin untergetaucht. Hagen hatte ihr mißtraut, aber Mütterchen hatte gespürt, daß sie die Wahrheit sagte. Welchen Grund hätte sie auch haben sollen, sie anzulügen? Mütterchen hatte sich beim besten Willen nicht vorstellen können, daß Geist auf der Seite des Geweihten stand.

Wohl hatte sie sich gefragt, was das Moosfräulein sich vom Blut des Drachen erhoffte. Die Antwort darauf hatte sie nach einer Weile selbst gefunden. Der Blutsee hatte in ihren Hirnen längst ein Eigenleben gewonnen, verhieß dem einen Unverwundbarkeit, dem anderen Heilung von Krankheit. Geist wünschte sich, das Zauberblut des Drachen würde einen Menschen aus ihr machen. War das weniger abwegig als Alberichs Hornhaut, Löwenzahns Streben nach Heldentum und ihr eigener Wunsch nach den Kräften der Jugend?

War die Hoffnung des Mädchens auf Menschlichkeit nicht gar der redlichste Wunsch von allen?

»Greifen wir an?« fragte Löwenzahn nach einem Augenblick beklemmenden Schweigens.

»Um zu sterben?« flüsterte Hagen verächtlich.

Der Riese funkelte ihn zornig an. »Was für ein Ritter seid Ihr eigentlich, Hagen von Tronje?«

»Einer, der des Heldentums müde ist. Aber wie könntet Ihr das verstehen...«

Löwenzahn wollte auffahren, doch Mütterchen legte ihm besänftigend eine Hand auf den Unterarm. »Ich glaube«, sagte sie dann und blickte dabei Hagen eingehend an, »dies ist der Augenblick, an dem wir uns entscheiden müssen, welches unsere Ziele sind. Falls es unterschiedliche sind, sollten wir uns trennen.«

»Trennen?« Hagen starrte hochmütig zurück. »Glaubt Ihr denn, es könnte Euch gelingen, allein gegen die Männer dort draußen zu bestehen?«

»Genausowenig wie Euch. Eure Wunde näßt und entzündet sich. Wie schnell könnt Ihr noch laufen, Ritter? Gegen wen wollte Ihr kämpfen, wenn es dazu kommt? Gegen den toten Drachen?«

Hagen seufzte leise. »Was also gedenkt Ihr zu tun, Frau Räuberin?«

Sie fragte sich, ob er ihr durch die Betonung ihrer Vergangenheit zu verstehen geben wollte, wie lange es her war, daß sie zuletzt eine solche Entscheidung getroffen hatte. Plötzlich fühlte sie wieder die Last der Verantwortung - wenigstens für Löwenzahn und sich selbst -, und Zweifel brachen über sie herein. Vielleicht war sie wirklich zu alt. Vielleicht sollte sie das tun, was Hagen wollte. Aber sie zweifelte nicht, daß Alberich dann den Tag nicht überleben würde.

Es sei denn, so kam es ihr in den Sinn, daß Hagen mehr an dem Horthüter lag, als er zugeben wollte. War es nur das Gold, auf das er aus war? Hatten ihn die Schätze des Geweihten hierhergeführt, ohne Wissen seines Königs? War es jetzt der Nibelungenhort selbst, der ihn lockte?

Mit einem scharfen Blick in die Augen des Ritters erklärte sie ihren Plan.


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