»Versprich mir, daß du mich nie mehr verlassen wirst«, verlangte sie.

»Ich verspreche es«, gab Azzie zurück. Dann wurde ihm klar, daß er zu schnell klein beigegeben hatte, und er fügte hinzu: »Das heißt, unter normalen Umständen.«

»Was meinst du mit normalen Umständen?«

»Umstände, die nicht anormal sind.«

»Und die wären?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Oh, Azzie!«

»Du mußt mich so nehmen, wie ich bin, Ylith«, sagte Azzie. »Ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Hast du irgendeine Idee wegen dieser Augen?«

»Ja, ich habe tatsächlich die eine oder andere.«

»Dann sei ein Schatz, mach dich auf den Weg und hol sie«, bat Azzie. »Mir geht allmählich die Jauche aus, und ich wage es nicht, meine beiden Geschöpfe aufzuwecken, bevor ich Augen für sie habe. Das könnte ihre gesamte Entwicklung verändern.«

»Dann werden sie eben warten müssen«, erwiderte Ylith. »Zwei besondere Augenpaare lassen sich nicht einfach im Handumdrehen auf treiben.«

»Wir alle werden auf deine Rückkehr warten, meine Königin!« versicherte Azzie.

Ylith stieß ein rauhes Lachen aus, aber Azzie konnte heraushören, daß sie es genoß, wenn er solche Dinge sagte. Er winkte ihr zu. Ylith wirbelte auf der Stelle herum, löste sich in eine rotierende violette Rauchsäule auf und verschwand dann gänzlich.

KAPITEL 6

Viele Jahre lang war sie damit zufrieden gewesen, in Athen herumzufaulenzen, es sich gutgehen zu lassen, sich auf Parties zu amüsieren, viele Liebhaber zu haben und ihr Haus neu einzurichten. Mit der Zeit werden Hexen träge und neigen dazu, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Die Sünden, zu denen sie die Menschen zu verführen versuchen, schlagen später auf sie selbst zurück. Schritt um Schritt verlieren sie ihr Wissen und vergessen, was sie in den großen Hexenschulen gelernt haben. Bevor sie von Azzie herbeigerufen worden war, hatte Ylith lange Zeit nur so vor sich hinvegetiert.

Jetzt staunte sie selbst über ihre Bereitschaft, Augen für das junge Paar zu suchen. War es wirklich das, was sie tun wollte? Liebte sie Azzie so sehr? Oder lag es eher daran, daß sie sich nach einer Aufgabe sehnte, danach, einem höheren Zweck als nur ihrem eigenen Wohlbefinden zu dienen? Was auch immer der Grund sein mochte, sie verspürte das Bedürfnis, sich Rat zu holen, als es darum ging, das zweite Augenpaar zu besorgen.

Und der weiseste Ratgeber, den sie kannte, war Skander…

Drachen sind langlebige Geschöpfe, und schlaue Drachen leben nicht nur besonders lange, sie wechseln auch von Zeit zu Zeit den Namen, damit die Menschen nicht herausfinden, wie alt sie werden, und ihnen voller Eifersucht nachstellen. Es gibt nichts, was ein Held lieber töten würde, als einen wirklich alten Drachen. Das Alter eines erlegten Drachen ist vergleichbar mit der Anzahl der Geweihenden eines Hirsches.

Skander und die anderen Drachen hatten erkannt, wie viele Helden ihnen nachstellten, und so waren sie immer vorsichtiger geworden. Die alten Zeiten, als sie herumgelümmelt, Schätze bewacht und sich auf jeden gestürzt hatten, der des Weges kam, waren längst vorbei. Zwar hört man immer nur von den Siegen der Helden im Kampf Mann gegen Drache, aber auch die Drachen hatten sich auf dieses Spiel gut verstanden. Es gab eine Menge Siege auf Seiten der Drachen, doch ihre Zahl war vergleichsweise klein, während es einen endlosen Nachschub an Helden gab. Die Helden griffen unablässig an, bis die Drachen des ganzen Spiels endlich überdrüssig geworden waren.

Sie hielten eine große Zusammenkunft ab, auf der viele Meinungen zur Sprache kamen. Damals stellten die chinesischen Drachen die größte Bevölkerungsgruppe, aber sie hüteten ihre Weisheit so eifersüchtig vor den anderen Drachen, daß sie, um ihren Rat gefragt, nur solche Sprüche von sich gaben wie: ›Fördernd ist es, den weisen Mann aufzusuchen‹, oder ›Man soll das Wasser überqueren‹, oder ›Der Edle ist wie der Sand‹. Und die chinesischen Philosophen, die eine Vorliebe für das Undurchsichtige hatten, sammelten diese Ratschläge in Büchern und verkauften sie westlichen Weisheitssuchern.

Der Beschluß, der am Ende der Konferenz getroffen wurde, lautete, sich den Zwängen der Notwendigkeit zu beugen, einige der aggressiveren Taktiken aufzugeben, die zu dem schlechten Image der Drachen geführt hatten, und sich unauffällig zu verhalten. Die Drachen beschlossen einstimmig, die uralten Disziplinen des Jagens und Bewachens durch die des Versteckens und Ausweichens zu ersetzen. Steht nicht einfach in der Gegend herum und bewacht Schätze, rieten sie einander. Verschmelzt mit der Landschaft, lebt auf dem Grund von Flüssen – denn viele Drachen konnten unter Wasser leben, die sogenannten Kiemendrachen, die sich von Haien, Killerwalen und Mahimahi ernährten. Die Landdrachen mußten sich eine andere Strategie zulegen. Sie versteckten sich in kleinen Bergen, Hügeln und sogar in Baumstämmen, gaben ihre ursprüngliche Wildheit auf und begnügten sich damit, hin und wieder einen Jäger zu erlegen, der in ihr Revier eindrang. Ab und zu kehrte ein Drache zu seinem früheren Verhalten zurück, woraufhin er unweigerlich gejagt und schließlich getötet wurde. Dann wurde sein Name in der Heldenhalle der Drachen verzeichnet, und den anderen wurde anhand seines Beispiels empfohlen, sich nicht wie er zu benehmen.

Skander war selbst nach Drachenmaßstäben alt. Deshalb war er auch besonders gerissen und hielt sich von jeglichem Ärger fern. Er lebte in Zentralasien, irgendwo in der Nähe von Samarkand, und er war schon vor dem Entstehen der Stadt dort gewesen. Wenn er nicht gefunden werden wollte, hätte man ihn jahrhundertelang suchen können, ohne ihn jemals zu Gesicht zu bekommen. Wer ihn jedoch aufspürte, fand einen meistens hilfreichen Drachen von großer Weisheit. Allerdings war er auch launisch und neigte zu Stimmungsumschwüngen.

Das alles war Ylith bekannt, aber sie mußte es trotzdem auf einen Versuch ankommen lassen. Sie suchte ein Bündel Hochleistungsbesen von der Sorte zusammen, mit der man fliegen konnte. Diese Besen waren die größte Errungenschaft der Hexen. Sie wurden mit Zaubersprüchen betrieben, die von der in Byzanz ansässigen Schwesternschaft der Hexen zusammengestellt wurden. Die Kraft der Zaubersprüche verlief allerdings in Zyklen, wodurch sie im einen Jahr sehr mächtig, im nächsten dagegen nicht so mächtig waren. Zaubersprüche unterlagen den Naturgesetzen, aber da diese nicht genau verstanden wurden, kam es gelegentlich zu Ausfällen.

Der logischste Ausgangspunkt ihrer Suche schien Ylith der Ort zu sein, an dem sie Skander das letzten Mal gesehen hatte: der Drachenfels. Drachen sind klug genug, um zu wissen, daß die Menschen sie nie an einem Ort namens Drachenfels suchen würden.

Viele Helden waren durch diese Gegend geritten, die meisten mit den dort gebräuchlichen leichten Krummschwertern bewaffnet, die sowieso nichts gegen einen Drachen hätten ausrichten können. Aber Skander hätte trotzdem nicht versucht, sich mit diesen Leichtgewichten anzulegen. Seine sich überlappenden Schuppen konnten selbst der Gewalt einer Lawine standhalten, und er machte sich keine Sorgen wegen Schwertern, solange sie nicht durch wirklich starke Zauber verstärkt wurden. Aber die Menschen waren hinterlistige Geschöpfe: Einen Moment lang sah es so aus, als würden sie einem auf die Schulter zielen, und – zack – im nächsten Moment hatte man einen Pfeil im Auge. Trotz ihrer außerordentlich hohen Intelligenz und ihrer jahrhundertelangen Erfahrung neigten Drachen ständig dazu, Pfeile in die Augen zu bekommen. Sie hatten den Trick der Menschen, scheinbar in die eine Richtung zu zielen und dann doch eine andere zu wählen, nie vollkommen durchschaut. Dieses Verhalten widersprach ganz einfach der Kampfpraxis der Drachen und ihrer Vorstellung von der Ethik eines Kriegers.

Aus irgendeinem Grund hatte Ylith Skander am Drachenfels getroffen, als sie bei Verwandten zu Besuch gewesen war, die erst kürzlich von Skythien dorthin gezogen waren. Damals hatte sich Skander eines seltenen Gestaltwandelzaubers bedient, auf den er gestoßen war. Drachen sind immer auf der Suche nach Gestaltwandelzaubern, denn als intelligente Geschöpfe sehnen sie sich danach, sich unter die Menschen zu mischen. Auch wenn die Menschen davon nichts wissen, haben sich Drachen in menschlicher Gestalt an vielen herrschaftlichen Höfen der Erde aufgehalten, weil sie dort ihrer Leidenschaft frönen können, mit Philosophen zu diskutieren. Noch häufiger aber liegt der Grund für ihre Ausflüge in die Menschenwelt einfach daran, daß sie der jahrelangen Einsamkeit überdrüssig sind. Was sie so einsam macht, ist ihr Mißtrauen dem jeweils anderen Geschlecht gegenüber. Das, und nicht etwa mangelnde Gelegenheiten oder fehlende Lüsternheit, ist auch die Erklärung dafür, warum sich Drachen so selten paaren und noch seltener Junge bekommen. Bei Drachen gibt es keine festgelegten Regeln, welches Elternteil für die Erziehung der Kinder verantwortlich ist. Es besteht nicht einmal eine Übereinkunft darüber, wer sie gebären soll. Die Drachen haben diese instinktiven Verhaltensformen schon vor Jahrhunderten überwunden. Als vernunftbegabte Geschöpfe, die sie mittlerweile geworden waren, stritten sie sich ständig über solche Fragen. Es wird behauptet, daß im Zuge der Klärung dieser Streitfragen ein großer Teil der Drachenpopulation ausgelöscht wurde.

Und durch diese Verwirrung hatten die Helden leichtes Spiel mit den Drachen. Die Vorstellung, daß Ritter – Fleischklöße in Metallrüstungen – sie töten könnten, verblüffte die Drachen, denn die Menschen waren so offensichtlich geistig beschränkt und funktionierten nur auf Grund ihrer höfischen Rituale. Die Menschen siegten jedoch, weil sie sich nur auf das Töten konzentrierten, während kein Drache sich nur auf eine bestimmte Sache beschränkte.

Ylith flog in die Gegend von Samarkand und zog in Yar Digi, das dem Drachenfels am nächsten lag, Erkundigungen ein. Es war ein heruntergekommenes schäbiges Dorf, dessen einzige Straße nichts außer Souvenirläden vorzuweisen hatte. Diese Geschäfte quollen geradezu über vor Drachenweisheiten, aber es gab keine Kundschaft. Ylith erkundigte sich nach dem Grund.

»Das liegt daran, daß der lang erwartete Boom für Drachenweisheiten noch nicht eingetreten ist«, erklärte Achmed, der Besitzer eines Buchladens. »Andere Gegenden ziehen die ganze Aufmerksamkeit auf sich. In Britannien beispielsweise, wo sich seit Jahrhunderten keine Drachen mehr geregt haben, finden Führungen mit Reiseleitern an Orten statt, wo es früher einmal Drachen gegeben hat, und dort wird hundertmal mehr Umsatz als bei uns gemacht. Ihr wollt wissen, wo der Drache steckt? Irgendwo dort drüben in seiner Höhle im Drachenfels, zu dem dieser Pfad führt. Aber solange der Drache keinen Besuch wünscht, ist er anscheinend unauffindbar. Und man weiß nie, was passieren könnte, wenn man ihn doch finden sollte. Er ist sehr launisch.«

Ylith ging in die angegebene Richtung und durfte den Pfad betreten, nachdem sie eine Eintrittsgebühr entrichtet hatte. Sie folgte dem Weg, der mehrere Biegungen beschrieb, kam an einem kleinen Erfrischungsstand vorbei und erreichte dann den Drachenfels selbst. Nirgendwo konnte sie irgend etwas entdecken, das einer Höhle ähnelte.

Sie blieb erst stehen, als sie ein dumpfes, hallendes Kichern vernahm.

»Skander?« rief sie.

Das Geräusch wiederholte sich.

»Ich bin’s, Ylith!«

Plötzlich bemerkte sie eine schattige Stelle zwischen zwei Felsblöcken, die vielleicht mehr als nur ein Schatten war. Sie näherte sich ihm und sah, daß der Schatten in die Tiefe führte und dunkler wurde. Ylith ging weiter.

Sie wußte nicht mit Sicherheit, an welchem Punkt sie die Grenze überschritten und die Finsternis im Inneren des Hügels betreten hatte, aber nach einer Weile überzeugte sie das Echo ihrer Schritte davon, daß sie sich wirklich im Drachenfels selbst befand.

»Skander?« rief sie erneut.

Noch immer erfolgte keine Antwort, doch nun bemerkte Ylith einen schwachen Lichtschimmer schräg rechts vor sich. Sie folgte ihm um eine Biegung, betrat einen Höhlenabschnitt, in dem das Gestein über ihr und zu beiden Seiten aus sich heraus zu leuchten schien, und beschleunigte ihre Schritte. Der Gang verzweigte sich mehrmals, und jedesmal folgte sie dem helleren Pfad.

Nach geraumer Zeit erreichte sie ein Gewölbe, in der die dunkle schuppige Gestalt, die sie gesucht hatte, auf dem Boden lag und sie anstarrte. Wären Skanders Augen nicht gewesen, hätte sie ihn in seiner Reglosigkeit vielleicht übersehen. Direkt unter dem Eingang des Gewölbes blieb sie nervös stehen.

»Skander, ich bin’s, Ylith«, sagte sie.

Er legte den Kopf schief und kniff die Augen ein wenig zusammen.

»Ja, du bist es tatsächlich«, stellte er dann fest. »Wie lange ist es her?«

»Ziemlich lange. Was tust du?«

»Ich habe von der Renaissance geträumt.«

»Was ist eine Renaissance?«

»Entschuldige, ich bringe wohl die Jahrhunderte durcheinander«, erwiderte Skander. »Die Renaissance kommt erst später. Das ist das Problem mit dem Wissen um die Zukunft. Man kann nicht mehr heute von morgen unterscheiden.«

»Skander, ich brauche Hilfe«, sagte Ylith.

»Das habe ich mir gedacht«, gab der Drache zurück. »Was sollte dich sonst an diesen abgelegenen Ort führen? Was willst du, meine Liebe? Mein altes Feuer ist noch ganz schön heiß. Möchtest du, daß ich irgend jemanden für dich röste?«

»Ich brauche Augen«, antwortete Ylith und berichtete von Azzie, seinem Märchenprinzen und seiner Prinzessin Rosenrot.

»Augen«, murmelte Skander, und seine Haut, die normalerweise rötlichbraun war, nahm einen kalkweißen Farbton an. Ylith hatte ihn gerade an eine alte Prophezeiung erinnert.

»Warum bleibst du in dieser Höhle?« wollte Ylith wissen.

»Es ist das Verlangen nach Ruhm«, sagte Skander. »Die Einheimischen werden mich berühmt machen. Ich habe versprochen, dafür zu sorgen, daß dieser Ort auf den Landkarten verzeichnet wird. Es ist noch nicht passiert, aber es wird geschehen.«

»Wo kann ich ein paar wirklich gute Augen bekommen?« fragte Ylith.

»Augen«, sinnierte Skander. »Nun, Augen gibt es überall. Wieso machst du dir die Mühe, mich danach zu fragen?«

»Du weißt, wo es die besten gibt. Alle Drachen wissen das.«

»Ja, natürlich«, bestätigte Skander. »Aber ich würde es wirklich vorziehen, nicht über Augen zu sprechen, falls es dir nichts ausmacht.«

»Du möchtest nicht über Augen sprechen?«

»Nur so ein Aberglaube, schätze ich. Tut mir leid.«

»Möchtest du mir nicht davon erzählen?«

»Na schön«, sagte der Drache. »Vor langer Zeit in China war mir aufgefallen, daß der Hofmaler bei allen seinen Drachenbildern die Augen immer erst ganz zum Schluß gemalt hat. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir, daß diese Maltechnik den Bildern ein ganz besonderes Leben verleihen würde und es keinen Sinn hätte, dieses Leben herbeizurufen, bevor alles andere erledigt wäre. Ein weiser Mann hätte ihm erzählt, daß die Augen meinesgleichen der Brennpunkt des Geistes seien. Sie enthalten das Leben, und sie sind das letzte, das stirbt. Später habe ich diesen weisen Mann aufgesucht, einen alten taoistischen Mönch, und er hat mir versichert, daß es stimmt. Er hat mir außerdem prophezeit, daß eine Hexe, die sich bei mir nach Augen erkundigt, die völlige Umkehrung von Yin und Yang bedeuten würde.«

»Was bedeutet das?«

»Rosebud…«, erwiderte Skander und schloß die Augen.

Ylith wartete, aber er sprach nicht weiter. Nach einer Weile räusperte sie sich. »Äh, Skander? Was dann?«

Sie erhielt keine Antwort.

»Schläfst du, Skander?«

Schweigen.

Schließlich trat sie an ihn heran und hielt ihm eine Hand vor die Nüstern. Sie konnte keinen Atem spüren. Sie kam noch näher und schob die Hand zwischen seine Brustschuppen. Kein Herzschlag.

»O nein!« stieß sie hervor. »Was nun?«

Aber sie wußte bereits, was zu tun war.

Als sie es erledigt hatte, streichelte sie die Nase des toten Drachen, eine Berührung, die er zu Lebzeiten gern gehabt hatte. Armer alter Drache! dachte sie. So alt und weise und nun doch nicht mehr als ein Haufen erkaltenden Fleisches in einer Berghöhle.

Sie wußte, daß bald die Nacht hereinbrechen würde, und das war keine gute Zeit, wenn man sich in einem fremden Land befand. Die einheimischen Dämonen würden unterwegs sein, und sie könnten erheblichen Ärger machen, wenn ihnen der Sinn danach stand. In diesen Tagen herrschte kein gutes Verhältnis zwischen den europäischen und den asiatischen Dämonen, und die Kriege zwischen ihnen warten noch immer auf ihren Chronisten.

Ylith wickelte die Augen in ein kleines Seidentaschentuch und verstaute sie in einem Rosenholzkästchen, das sie stets für den Transport von zerbrechlichen oder kostbaren Gegenständen mit sich trug. Dann drehte sie sich um und verließ die Höhle.

Draußen angekommen, stand sie hochaufgerichtet da, während das Licht der untergehenden Sonne von den vereisten Gipfeln der höchsten Berge reflektiert wurde. Sie warf die Mähne ihres herrlichen schwarzen Haars zurück, bestieg ihren Hochleistungsbesen und flog nach Westen davon. Unter ihr schrumpfte das Land des Drachen zusammen.

KAPITEL 7

Als Ylith Augsburg erreichte, herrschte noch immer Tageslicht, denn mit Hilfe eines günstigen Rückenwindes war es ihr gelungen, der Sonne selbst ein Schnippchen zu schlagen. Sie landete vor dem Haupteingang von Azzies Anwesen und schlug heftig mit dem Messingklopfer gegen die Tür. »Azzie! Ich bin zurück! Ich habe sie!«

Totenstille antwortete ihr. Obwohl es ein Sommernachmittag war, lag Kälte in der Luft. Ylith verspürte eine leichte Nervosität. Ihre Hexensinne verrieten ihr, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Sie berührte das Schutzamulett aus Bernstein, das sie um den Hals trug, und klopfte erneut.

Endlich wurde die Tür geöffnet. Vor ihr stand Frike, das magere Gesicht zu einer kummervollen Miene verzerrt.

»Frike! Was ist los?«

»Ach, Gebieterin! Es ist etwas Schreckliches passiert!«

»Wo ist Azzie?«

»Das, Herrin, ist ja das Schreckliche. Er ist nicht hier.«

»Nicht hier? Wo ist er dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Frike, »aber es war nicht meine Schuld.«

»Erzähl mir, was passiert ist.«

»Vor ein paar Stunden«, begann Frike, »hat der Meister eine Lösung zubereitet, um das Haar von Prinzessin Rosenrot zu waschen, weil es schmutzig und verfilzt war. Als er damit fertig war, habe ich ihr Haar getrocknet. Ich erinnere mich, daß es kurz nach Mittag war, denn die Sonne stand hoch und heiß am Himmel, als ich hinausgegangen bin, um Feuerholz zu holen…«

»Erzähl weiter«, ermunterte Ylith ihn. »Was ist dann passiert?«

»Als ich mit dem Feuerholz zurückkam, summte der Gebieter eine fröhliche Melodie, während er dem Märchenprinzen die Fingernägel schnitt – Ihr wißt ja, daß er sich immer sehr viel Mühe mit den Details macht. Plötzlich hörte er auf zu summen und blickte sich um. Ich blickte mich ebenfalls um, obwohl ich nichts gehört hatte. Der Meister drehte sich einmal im Kreis herum, und ich könnte schwören, daß er nicht mehr der gleiche Dämon war, als er mich wieder ansah. Sein Haar hatte etwas von seinem Glanz verloren, und er war blaß geworden. Ich fragte ihn: ›Habt Ihr etwas gehört, Herr?‹, und er sagte: ›Ja, ein scharfes Geräusch, und das wird mir nichts Gutes bringen. Schnell, hol mir das Große Buch der Zaubersprüche!‹ Und während er das sagte, sank er auch schon in die Knie. Ich rannte los, um seinen Befehl auszuführen. Er hatte nicht mehr die Kraft, das Buch zu öffnen – es ist das sehr große in Messing gebundene Buch, das dort vor Euren Füßen liegt. ›Frike, hilf mir, die Seiten umzublättern‹, sagte er. ›Irgendein heimtückischer Schwächezauber entdämonisiert mich.‹ Ich half ihm, und er drängte: ›Schneller, Frike, schneller, bevor mich die Kraft völlig verläßt. ‹ Also schlug ich die Seiten noch schneller um, jetzt ganz allein, da die Hand des Meisters herabgefallen war und er nur noch die Augen, aus denen das vertraute Feuer gewichen war, auf die Seiten gerichtet halten konnte. Und dann sagte er plötzlich: ›Halt, genau hier. Jetzt laß mich sehen…‹ Und das war alles.«

»Alles?« fragte Ylith. »Was meinst du mit alles?«

»Alles, was er gesagt hat, Herrin.«

»Das habe ich sehr gut verstanden. Aber was ist dann passiert?«

»Er ist verschwunden, Herrin.«

»Verschwunden?«

»Er hat sich direkt vor meinen Augen aufgelöst. Ich war völlig außer mir, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte. Er hatte mir keine Anweisungen hinterlassen. Also bin ich eine Weile hysterisch geworden und habe dann beschlossen, einfach auf Eure Rückkehr zu warten.«

»Beschreib mir die Art seines Verschwindens«, verlangte Ylith.

»Die Art?« fragte Frike.

»War es ein Rauchabgang, bei dem er sich in Nichts auflöst hat? Oder ein Feuerabgang, bei dem er vielleicht mit einem leisen Donnerschlag verschwunden ist? Oder ist er zuerst zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpft?«

»Ich weiß es nicht Herrin. Ich habe mir die Augen zugehalten.«

»Du hast dir die Augen zugehalten? Du bist ein Idiot, Frike!«

»Ah, Herrin, aber ich habe zwischen den Fingern durchgelugt.«

»Und was hast du dabei gesehen?«

»Ich habe gesehen, wie der Gebieter sehr dünn geworden und dann seitlich davongeglitten ist.«

»Nach welcher Seite?«

»Nach rechts, Herrin.«

»Ist er gleichmäßig oder mit einer Art Aufundabbewegung weggeglitten?«

»Mit so einer Bewegung.«

»Das ist jetzt sehr wichtig, Frike. Hat er irgendwann die Farbe gewechselt, bevor er vollständig verschwunden ist?«

»Das ist es, Herrin! Kurz bevor er ins Nichts davongeglitten ist, hat er tatsächlich die Farbe gewechselt!«

»Welche Farbe hat er angenommen?«

»Blau, Gebieterin.«

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Ylith. »Laß uns jetzt einen Blick in sein Beschwörungsbuch werfen.«

Frike hob das schwere Buch auf und legte es auf ein Lesepult, wo Ylith es leichter lesen konnte. Es war noch immer an der Seite aufgeschlagen, die Azzie direkt vor seinem Verschwinden betrachtet hatte. Ylith beugte sich über die Seite und übersetzte die Runen schnell.

»Was steht da?« wollte Frike wissen.

»Es ist ein Allgemeiner Lösungszauber, Frike. Das ist der Zauberspruch, den Dämonen benutzen, wenn irgend etwas oder irgend jemand versucht, sie zu beschwören. Er wird die Große Gegenverschleierung genannt.«

»War er nicht schnell genug?«

»Offensichtlich nicht.«

»Beschworen!« rief Frike. »Aber der Meister ist doch selbst ein Beschwörer!«

»Natürlich ist er das«, bestätigte Ylith, »und sogar ein sehr guter. Aber jeder, der beschwört, Frike, kann ebenfalls beschworen werden. Das ist eins der grundlegenden Gesetze des Unsichtbaren Reiches.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Frike. »Aber wer könnte den Meister auf diese Art beschworen haben?«

»Da gibt es eine Menge Möglichkeiten«, erwiderte Ylith. »Aber der Reihenfolge der Ereignisse nach zu schließen, war es wahrscheinlich ein Sterblicher – vielleicht eine Hexe oder ein Alchemist – oder ein anderer Dämon, der eine Art Anspruch gegenüber Azzie hatte und ihn deshalb ohne sein Einverständnis herbeirufen konnte.«

»Aber wann werden wir ihn wiedersehen?« wollte Frike wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Ylith. »Das hängt davon ab, wer die Beschwörung durchgeführt hat, welcher Zauberspruch verwendet wurde und was für eine Verpflichtung Azzie eingegangen ist.«

»Wird er bald zurückkommen?«

Ylith zuckte die Achseln. »Er könnte jeden Moment wiederkommen oder aber für Stunden, Tage, Monate, Jahre oder sogar für immer verschwunden bleiben. Es ist immer schwer, diese Dinge hinterher festzustellen.«

»Ich würde mit Freuden meinen Hintern opfern, wenn ich ihn damit zurückbringen könnte!« rief Frike. Er rang voller Kummer und Hilflosigkeit die Hände. Dann zuckte ein Gedanke durch seinen benebelten Verstand. »O nein!« schrie er.

»Was ist?« erkundigte sich Ylith.

»Die Körper!«

»Was ist mit ihnen?«

»Sie laufen Gefahr zu verwesen, Herrin! Heute morgen erst haben wir den letzten Rest Eis verbraucht, und wir haben kaum noch Jauche. Ich habe den Gebieter darauf hingewiesen, gleich nachdem er aufgestanden war, aber er hat nur gesagt: ›Mach dir deswegen keine Sorgen, Frike. Ich werde bei der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör Nachschub bestellen, sobald ich mein Nickerchen gehalten habe.‹«

»Nickerchen? Aber du hast gesagt, daß er gerade erst aufgestanden war.«

»Er hält gern direkt nach dem Aufstehen ein Nickerchen, Herrin.«

»Jetzt, wo du es erwähnst, erinnere ich mich auch wieder daran«, murmelte Ylith.

Sie ging in den Teil des Labors, in dem die Körper in ihren sargförmigen offenen Behältern Seite an Seite ruhten und auf ihre Wiedererweckung warteten. Das Eis aus den Hochalpen war geschmolzen. Auf den Böden beider Behälter befanden sich nur noch kleine Jauchepfützen.

»Dein Gebieter ist sehr nachlässig gewesen«, stellte Ylith fest.

»Er hatte nicht damit gerechnet, beschworen zu werden«, verteidigte Frike sein Herrn und Meister.

»Das nehme ich auch nicht an. Gut, eins nach dem anderen und das Wichtigste zuerst. Wir müssen diese Körper wieder einfrieren, Frike.«

»Wie bitte?«

»Wir müssen eine Möglichkeit finden, ihre Temperatur zu senken.«

»Könnt Ihr Gletschereis herbeizaubern, Herrin?«

»Nein«, sagte Ylith. »Die Beschwörungskräfte von Hexen erstrecken sich nicht auf solche Dinge. Gegenstände herbeizuzaubern ist Sache der Dämonen. Aber unser Dämon ist entführt worden. Das ist eine verfahrene Situation.« Sie ging zum Sofa und setzte sich. »Hör auf zu jammern, Frike, und laß mich nachdenken.«

Nach einer Weile kehrte sie zu den Behältern zurück, beugte sich zu den Körpern hinab und berührte sie. Sie fühlten sich noch immer einigermaßen kalt an, aber Ylith wußte, daß sie schon wärmer waren, als sie es eigentlich sein durften. In ein oder zwei Stunden würden Azzies kostbare Exemplare nur noch verwestes Fleisch sein, das wahrscheinlich von Maden wimmelte. Und dann würde es auch keine Rolle mehr spielen, ob er wieder zurückkehrte. Der Wettbewerb würde für ihn vorbei sein, noch bevor er begonnen hatte.

»Ich werde etwas wegen dieser Körper unternehmen, Frike«, sagte sie. »Ich werde mit ein paar Leuten sprechen. Du solltest besser nicht zusehen, wie ich abreise. Das ist Frauenmagie und nicht für männliche Augen gedacht.«

»Ich bin im Wohnzimmer, wenn Ihr mich braucht«, erwiderte Frike und schlich sich davon.

Ylith machte sich an die Arbeit.

KAPITEL 8

Ylith wählte einen frisch aufgeladenen Besenstiel aus, vergewisserte sich, daß ihre Schutzamulette dort saßen, wo sie hingehörten, flog dann zum Fenster hinaus und immer höher empor in das reine Blau der obersten Atmosphärenschichten. Während des Fluges murmelte sie einen persönlichen Schutzzauber, denn ihr behagte überhaupt nicht, was sie zu tun im Begriff war. Aber um die Körper kalt zu halten, war ihr erster Gedanke gewesen, die Harpyien um Hilfe zu bitten.

Harpyien und Hexen gingen freundschaftlich miteinander um. Die Harpyien waren weibliche Dämonen, die sich nach dem Zusammenbruch der klassischen Mythologie den Mächten der Finsternis angeschlossen hatten. Nicht nur, daß sie Böses taten, allein ihre Gegenwart war schon beängstigend. Ihr Atem stank, und ihre Tischmanieren waren abstoßend. Trotzdem hatte Ylith beschlossen, sie aufzusuchen, denn wenn sie auch widerlich waren, verfügten sie doch über einen wachen Verstand. Es gab viele andere dämonische Gottheiten, an die sie sich hätte wenden können, aber nur den Harpyien und deren Schwestern, den Sirenen, war zuzutrauen, daß sie sofort verstehen würden, was Ylith wollte, und darüber hinaus besaßen sie genug Ehrgefühl, um ein einmal gegebenes Versprechen auch einzuhalten.

Nach einem schnellen Flug passierte Ylith schon bald den Riß, der das Reich der Menschen von dem der Nicht- oder Übermenschen trennt.

Im selben Moment fand sie sich in einer gewaltigen Wolkenlandschaft voller verschneiter Hügel und Berge wieder. Flüsse durchzogen das Land, an deren Ufern sich kleine Tempel erhoben, die alle aus Wolken bestanden. Während Ylith langsam herabsank, erblickte sie Furien und Chimären und in einem nur ihm vorbehaltenen Tal Behemoth, der schnaubte und mit einer riesigen Klaue nach ihr schlug. Sie entging dem Ungeheuer mit Leichtigkeit und flog weiter in eine Gegend voller blauer Wolken, unter denen alles bläulich und golden gefärbt war wie in den Schleiern eines verschwommenen Traums. Am Ufer eines verschlafenen Flusses entdeckte sie die winzigen Gestalten wunderschöner Frauen und in der Nähe einen Wasserfall, der zu Spiel und Spaß einlud.

Im Landeanflug näherte sich Ylith einer der Regionen, in denen Harpyien und Sirenen zusammenlebten. Sie wurde langsamer und setzte am linken Flußufer auf. Es war der Styx, der große Fluß, der aus der tiefsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft fließt. An seinen Ufern wuchs eine Vielzahl unbekannter Bäume, die auf der Erde noch nicht erschienen waren. Unter diesen Bäumen räkelte sich eine Gruppe junger Frauen entspannt im Gras. Es waren acht, Sirenen und mehrere Harpyien. Die Sirenen waren dafür berühmt, Menschen – vornehmlich Seefahrer – mit ihren süßen Gesängen in den Untergang zu locken. Die Harpyien waren die Weiterentwicklung der Sirenen, schöne Frauen mit goldenem Haar, festen, wohlgeformten Brüsten, aber auch mit Tischmanieren, die eine Hyäne vor Scham hätten erröten lassen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Seelen der Verdammten auf die klassische Art zu foltern, indem sie ihnen das Essen aus dem Mund rissen und sie von Kopf bis Fuß mit feurigen Exkrementen besudelten.

Zwar gab sich Ylith selbstbewußt, aber sie verspürte mehr als nur ein bißchen Furcht, denn diese uralten Dämoninnen frönten merkwürdigen Perversionen, hegten seltsame Gedanken und waren stets nur sehr schwer berechenbar. Trotzdem trat Ylith kühn vor und sagte: »Schwestern, ich entbiete euch Grüße aus der Welt der Menschen.«

Eine der Sirenen regte sich. Sie war groß, aschblond und hatte einen süßen Rosenknospenmund. Kaum zu glauben, daß dies Poldarge war, eine der unheilvollsten chthonischen Wesenheiten.

»Was schert uns die Menschenwelt?« fragte sie. »Unsere Heimat sind die Ufer dieses herrlichen Flusses. Hier unterhalten wir einander durch Lieder und Erzählungen über großartige vergangene Heldentaten. Und von Zeit zu Zeit fällt uns ein Mann in die Hände, der aus Charons Fährboot geflohen ist. Die Flußgottheiten übergeben ihn uns, und wir spielen mit ihm, bis er den Verstand verliert. Dann essen wir ihn. Jede von uns reißt sich ihren Anteil aus ihm heraus.«

»Ich dachte mir, daß ihr vielleicht Lust auf ein bißchen Zerstreuung haben könntet, solange es einem nützlichen Zweck dient«, sagte Ylith. »Denn wie herrlich dieses Flußufer auch sein mag, so müßt ihr doch manchmal die Menschenwelt vermissen, wo großartige Taten vollbracht werden können.«

»Was kümmern uns menschliche Taten?« fragte Poldarge. »Aber sprich weiter, Schwester. Sag uns, weshalb du gekommen bist.«

Und so erzählte Ylith vom großen Jahrtausendwettkampf, von Azzies Plan, gegen die Mächte des Lichtes anzutreten, indem er zwei wiederbelebte Menschen benutzen wollte, um sie ein Märchen mit umgekehrten Vorzeichen und unheilvollem Ausgang spielen zu lassen. Die Sirenen und Harpyien klatschten Beifall. Allein der Gedanke, daß die nächsten tausend Jahre dem Bösen geweiht sein sollten, ließ sie wollüstig erschaudern.

»Es freut mich, daß euch die Sache gefällt«, sagte Ylith. »Aber es gibt da ein Problem. Azzie ist verschwunden. Irgend jemand hat ihn beschworen.«

»Also, Schwester, du weißt, daß wir nichts dagegen unternehmen können«, erwiderte Poldarge. »Es ist uns verboten, uns in die Angelegenheiten von Menschen oder Dämonen einzumischen, es sei denn, es liegen ganz besondere Umstände vor, was hier aber nicht der Fall ist.«

»Ich bitte euch nicht, Azzie zu suchen«, stellte Ylith klar. »Das werde ich selbst tun. Aber es könnte lange dauern, und in der Zwischenzeit liegen seine Schauspieler für die Rollen des Märchenprinzen und der Prinzessin Rosenrot unbelebt in ihren Särgen. Und da das Gletschereis aufgebraucht, kaum noch Jauche vorhanden und Azzie nicht da ist, um Nachschub zu besorgen, laufen die Körper Gefahr, in der sommerlichen Wärme zu verwesen, was Azzies großartiges Possenspiel undurchführbar machen würde.«

»Das ist ohne Zweifel sehr schade«, sagte Poldarge. »Aber warum erzählst du uns das alles? Wir haben hier kein Gletschereis.«

»Natürlich nicht«, gab Ylith zurück, »aber ihr seid Geschöpfe der Luft und sehr geübt darin, hilflose Kreaturen aus ihrer Welt zu reißen und ihrer Verdammnis zuzuführen.«

»Das ist wahr. Aber was hat das mit eurem Prinzen und eurer Prinzessin zu tun?«

»Ich dachte, ihr könntet mir vielleicht helfen, ihre Körper zu konservieren«, erklärte Ylith. »Was wir brauchen, ist Kälte, die Kälte der höchsten Luftschichten.«

Die Harpyien konferierten eine Weile. »Nun gut, Schwester«, sagte Poldarge schließlich, »wir werden uns für dich um die Körper kümmern. Wo befinden sie sich?«

»Im Anwesen des Dämons in Augsburg. Um es zu finden…«

»Keine Sorge«, fiel ihr Poldarge ins Wort. »Die Harpyien können jeden Ort auf der Erde finden. Kommt, Schwestern, folgt mir!«

Sie breitete ihre dunklen Schwingen aus und schoß in die Höhe. Zwei Harpyien schlössen sich ihr an.

Ylith sah ihnen hinterher. Es war allgemein bekannt, daß sich Harpyien sehr schnell langweilten. Ylith hatte keine Garantie, daß sie nicht schon bald der Sache überdrüssig werden und zum Fluß und ihrem endlosen Mah-Jongg zurückkehren würden. Andererseits aber besaßen sie einen traditionellen Ehrenkodex im Umgang mit Gleichgestellten. Ylith konnte nur hoffen, daß die Harpyien sie zu diesem Kreis zählten.

Sie schwang sich ebenfalls in die Luft. Sie hatte eine Ahnung, wo Azzie sein könnte.

KAPITEL 9

Niemand hatte daran gedacht, Frike Bescheid zu sagen, daß die Harpyien die Körper wegschaffen würden. Das erste, was er von der getroffenen Vereinbarung mitbekam, waren zwei der Kreaturen, die durch das Fenster schossen. Er hockte gerade auf einem niedrigen Schemel in Azzies Labor, lauschte dem Tröpfeln des schmelzenden Eises und wartete auf Yliths Rückkehr. Plötzlich klang ein lautes Flattern auf, und Gestank erfüllte die Luft.

Um besser fliegen zu können, hatten die Harpyien ihre Beine eingezogen, so daß ihre weiten bronzenen Schwingen nur einen Rumpf mit hervorstehenden Brüsten und einem Kopf trugen. Sie krächzten mit lauten rauhen Stimmen und entleerten sich über der gesamten Einrichtung.

Frike heulte auf und kroch eilig unter den Tisch. Die Harpyien kreisten schnatternd und quietschend durch den Raum. Sie entdeckten die Särge und flatterten auf sie zu.

»Weg da, ihr Ungeheuer!« schrie Frike. Er stürzte sich mit einer Feuerzange auf sie. Die Harpyien fuhren herum, griffen ihn an und trieben ihn mit ihren stahlbesetzten Flügelspitzen und ihren grünen scharfen Klauen aus dem Raum. Frike hastete davon, um Pfeil und Bogen zu suchen. Als er sie endlich fand und ins Labor zurückgeeilt war, hatten die Harpyen bereits den Prinzen und die Prinzessin ergriffen und waren verschwunden, in den Himmel aufgestiegen und durch den Riß zwischen der wirklichen und der unwirklichen Welt geschlüpft. Frike schüttelte ihnen hilflos die Fäuste hinterher und sank auf seinen Schemel. Er hoffte, daß Azzie nicht allzu viele Erklärungen von ihm verlangen würde, denn er hatte keine Ahnung, was hier eigentlich geschehen war.

Und überhaupt, wo steckte der Gebieter?

KAPITEL 10

Azzie war in seinem Labor beschäftigt gewesen, als er das vertraute Zupfen bemerkt hatte, daß man immer verspürt, wenn man beschworen wird. Es ist ein Ziehen, das in der Magengegend beginnt, kein unangenehmes Gefühl, aber die unerfreuliche Ankündigung dessen, was einem bevorsteht. Es mochte noch in Ordnung gehen, beschworen zu werden, wenn man nur so herumsaß und sowieso nicht wußte, was man tun sollte, aber die Menschen neigten dazu, einen immer gerade dann herbeizurufen, wenn man sich voll auf eine komplizierte Aufgabe konzentrierte.

»Tod und Verdammnis!« stieß er hervor. Der Zeitplan war jetzt schon überschritten, und Azzie hatte keine Ahnung, wie lange das Schloß noch stehen würde, wenn sich niemand darum kümmerte und seine altmodischen Zauber ihre Wirkung verloren. Außerdem mußten sein Prinz und seine Prinzessin so schnell wie möglich wiederbelebt werden, bevor sie irreparable Schäden erleiden konnten.

Und hier flog er nun durch die Luft, ohne rechtzeitig seinen Gegenzauberspruch aufsagen zu können, um das zu verhindern, was mit ihm geschah. Nicht, daß es ihm mit Sicherheit gelungen wäre. Diese allgemeinen Zaubersprüche versagten häufig unter ganz speziellen Umständen.

Während des Übergangs verlor Azzie das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, hatte er Kopfschmerzen. Er versuchte, sich aufzurichten, schien aber auf einem schlüpfrigen Untergrund zu liegen. Jedesmal, wenn er aufstand, fiel er sofort wieder hin. Außerdem verspürte er ein mulmiges Gefühl im Magen.

Er befand sich in einem Pentagramm. Gründlicher konnte man nicht herbeibeschworen werden.

Es war natürlich nicht das erste Mal, daß er beschworen worden war. Jeder Dämon, der den Wunsch verspürt, ein aktives Leben unter den Menschen zu führen, muß sich daran gewöhnen, daß ihm so etwas häufig zustößt, da die Menschen Dämonen ebenso hereinlegen, wie es auch umgekehrt der Fall ist. Es hat nie eine Zeit gegeben, in der Männer und Frauen nicht Dämonen heraufbeschworen haben. Viele Geschichten erzählen von solchen Vorfällen, von den Siegen und Niederlagen derjenigen, die beschlossen haben, diesen gefährlich Pfad zu beschreiten. Was dagegen nicht berichtet wird, ist, wie häufig vernünftige Abmachungen zwischen beiden Parteien getroffen werden, denn auch Seelen sind letztendlich Handelsgüter, die rechtmäßig im gegenseitigen Einverständnis erworben werden können. Es ist eine uralte Obereinkunft, daß ein Dämon verschiedene Dienstleistungen im Austausch für eine Seele erbringt. Könige sind dankbare Kandidaten für derartige Geschäfte, und etliche von ihnen hatten Dämonen als Diener. Aber das ist keine einseitige Beziehung; viele Dämonen hatten auch schon Könige als Diener.

»Siehst du, Vater, ich hab’ dir doch gesagt, daß er kommt!«

Es war Brigittes Stimme, und sie klang triumphierend. Da stand sie nun vor ihm, ein kleines Mädchen mit schmutzigem Gesicht, das das ihm abgerungene Versprechen benutzt hatte, um ihn ausgerechnet jetzt herbeizurufen.

»Sieht tatsächlich so aus, als hättest du es geschafft«, vernahm Azzie die sonore Stimme eines Mannes. Sie gehörte ihrem Vater, Thomas Scrivener. Anscheinend hatte sich der Bursche wieder vollständig erholt. Aber natürlich konnte er sich weder an seine Zeit in der Höllengrube noch an seine Begegnung mit Azzie erinnern, wofür dieser dankbar war. Menschen wurden gefährlich, sobald sie zuviel wußten.

»Oh, du bist es«, sagte Azzie und erinnerte sich daran, wie sie ihn mit einem Geistfänger mattgesetzt hatte, als er sich um ihren Vater hatte kümmern müssen. »Was willst du?«

»Mein Versprechen!« rief Brigitte.

Ja, es stimmte, Azzie schuldete ihr ein Versprechen. Er hätte es nur zu gern vergessen, aber in der Welt der Magie werden Versprechen zwischen Menschen und übernatürlichen Kreaturen als besonders gewichtige Tatsachen betrachtet. Es war ihm unmöglich, sich nicht darauf einzulassen.

»Also gut«, sagte er, »öffne eine Seite des Pentagramms und laß mich raus. Dann können wir darüber reden.«

Brigitte beugte sich vor, um eine der Linien wegzuwischen, aber ihr Vater packte sie und riß sie hastig zurück. »Laß ihn nicht frei! Sonst verlierst du deine Macht über ihn!«

Azzie zuckte die Achseln. Es war zumindest einen Versuch wert gewesen. »Meister Scrivener«, wandte er sich an den Mann. »Sag deinem kleinen Mädchen, daß es vernünftig sein soll. Wir können diese Sache schnell erledigen, und dann werde ich sofort verschwinden.«

»Hör nicht auf ihn!« beschwor Scrivener seine Tochter. »Dämonen sind reich. Du kannst alles von ihm verlangen, was du willst! Wirklich alles!«

»Ich sollte das vielleicht lieber erklären«, sagte Azzie. »Es ist zwar ein weitverbreiteter Aberglaube, daß Dämonen reich sind, aber ich kann euch versichern, daß er nicht zutrifft. Dämonen können nur Wünsche innerhalb ihrer persönlichen Möglichkeiten erfüllen. So könnte euch beispielsweise nur ein mächtiger Dämon großen Reichtum gewähren. Ich dagegen bin nur ein armer Dämon, der nach dem Regierungstarif besoldet wird.«

»Ich möchte eine neue Puppe«, sagte Brigitte zu ihrem Vater. Azzie spannte sich an und beugte sich vor. Da Brigitte nicht zu ihm gesprochen hatte, waren die Voraussetzungen für einen korrekt geäußerten Wunsch nicht ganz erfüllt. Wenn sie es aber noch einmal wiederholte –

»Eine Puppe, Brigitte?« fragte er. »Ich kann dir die schönste Puppe der ganzen Welt besorgen. Du hast doch bestimmt schon von der Königin des Nordens gehört, nicht wahr? Sie hat ein ganz besonderes kleines Puppenhaus mit winzigen Figuren, die die Hausarbeit machen, mit Kuschelmäusen, die hin und her laufen, und noch viele andere Sachen, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere. Soll ich es für dich holen?«

»Warte!« schrie Scrivener, der Brigitte noch immer festhielt. »Er versucht, uns zu überlisten, Tochter. Dieser Dämon kann Wunder vollbringen. Er kann dich reich oder zu einer Prinzessin machen…«

»Nichts dergleichen«, unterbrach Azzie.

»Verlange irgend etwas Großes!« befahl Scrivener. »Oder, noch besser, gib mir deinen Wunsch. Dann werde ich mir genug wünschen, damit wir beide reich sind, und ich werde dir mehr Puppenhäuser kaufen, als du dir im Traum vorstellen kannst.«

»Muß ich dann immer noch nach dem Essen abwaschen?« wollte Brigitte wissen.

»Nein, dafür werden wir einen Diener anstellen«, sagte Scrivener.

»Und muß ich dann nicht mehr die Kühe melken, die Hühner füttern und all die anderen Hausarbeiten machen?«

»Natürlich nicht!« versicherte Scrivener.

»Glaub ihm nicht, Brigitte!« warnte Azzie. »Ich sage dir, was das Beste wäre. Bitte mich einfach, dir etwas Hübsches zu bringen, und laß dich überraschen. Was meinst du dazu, hm?«

»Hör nicht auf ihn«, drängte Scrivener. »Du mußt dir wenigstens ein großes Landgut wünschen.«

»Hör nicht auf ihn«, sagte Azzie. »Er schimpft immer herum und ist grob zu dir, stimmt’s? Aber ich erinnere mich an eine Zeit, da war er sehr froh, Hilfe von mir zu bekommen.«

»Was erzählst du da?« wollte Scrivener wissen. »Ich habe dich noch nie zuvor gesehen.«

»Das glaubst du«, erwiderte Azzie. »Brigitte, welche Farbe soll dein Puppenhaus haben?«

»Wo sollen wir uns begegnet sein?« fragte Scrivener.

»Was ich wirklich will«, begann Brigitte, »ist…«

»Warte!« schrie Scrivener. »Wenn du irgend etwas Lächerliches verlangst, gerbe ich dir das Fell, kleines Fräulein.«

»Ich wünschte, du würdest aufhören, mich anzuschreien!« heulte Brigitte.

»Das kann ich für dich erledigen«, sagte Azzie und vollführte eine Geste.

Thomas Scrivener öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort hervor. Er mühte sich ab, seine Zunge bewegte sich hektisch, seine Wangen blähten sich auf und erschlafften wieder, doch er konnte keinen Laut von sich geben.

»Was hast du gemacht?« fragte Brigitte.

»Deinen Wunsch erfüllt«, antwortete Azzie. »Er wird dich jetzt nicht mehr anschreien. Weder dich noch sonst jemanden.«

»Das ist unfair!« protestierte Brigitte. »Ich habe mit meinem Papa und nicht mit dir gesprochen! Du schuldest mir immer noch einen Wunsch!«

»Komm schon, Brigitte«, sagte Azzie. »Also gut, dann nenn mir endlich deinen Wunsch. Ich muß von hier verschwinden.«

Thomas Scrivener versuchte zu sprechen. Sein Gesicht war purpurrot angelaufen, seine Augen traten wie hartgekochte Eier aus ihren Höhlen. Er bot einen spektakulären Anblick, und Brigitte brach in Gelächter aus, verstummte dann aber urplötzlich wieder. Irgend etwas tauchte in der Luft auf.

Es nahm feste Gestalt an, und da stand Ylith. Sie wirkte zerzaust. Rauchfäden kräuselten sich vom Ende ihres Besens hervor.

»Azzie!« rief sie. »Nur gut, daß du mir von dieser Wunschgeschichte erzählt hast und ich mich daran erinnert habe. Gibt es Probleme?«

»Das ist doch offensichtlich, oder?« fragte Azzie zurück. »Ich versuche schon ziemlich lange, die Kleine dazu zu bringen, mir ihren Wunsch zu nennen, damit ich ihn erfüllen und wieder verschwinden kann. Aber sie und ihr Vater streiten sich die ganze Zeit darüber, was für ein Wunsch das sein sollte.«

Thomas Scrivener machte eine flehende Geste in Yliths Richtung.

»Was hast du mit ihm angestellt?« wollte Ylith wissen.

»Tja, Brigitte wollte, daß er den Mund hält, und das habe ich für sie erledigt.«

»O Azzie, laß diesen Unfug. Kleines Mädchen, was möchtest du werden, wenn du groß bist?«

Brigitte überlegte. »Als ich klein war, wollte ich eine Prinzessin werden.«

»Ich weiß nicht, ob Azzie das bewerkstelligen kann«, sagte Ylith.

»Aber das will ich jetzt nicht mehr«, fuhr Brigitte fort. »Jetzt möchte ich eine Hexe werden!«

»Warum willst du das?«

»Weil du eine Hexe bist«, erklärte Brigitte. »Ich möchte so wie du sein, auf einem Besenstiel reiten und Leute verzaubern.«

Ylith lächelte. »Was meinst du, Azzie?«

»Eine Hexe mehr, was für eine Rolle spielt das schon?« fragte Azzie. »Ist das dein Wunsch, Kleine? Du möchtest eine Hexe werden?«

»Ja!« erwiderte Brigitte fest.

Azzie sah Ylith an. »Und was meinst du?«

»Nun, ich nehme tatsächlich hin und wieder eine Schülerin an. Brigitte ist zwar noch etwas zu jung, aber in einigen Jahren…«

»O ja, bitte!« bettelte Brigitte.

»Also gut«, gab Ylith nach.

»Na schön«, sagte Azzie. »Du sollst deinen Wunsch haben, Kleines. Und jetzt laß mich hier raus.«

»Gib meinem Vater zuerst die Stimme zurück.«

Azzie kam ihrer Aufforderung nach. Thomas Scrivener holte aus, um seiner Tochter eine saftige Ohrfeige zu verpassen, mußte aber die unerfreuliche Erfahrung machen, daß sein Arm von einer unsichtbaren Kraft festgehalten wurde.

»Was hast du mit ihm gemacht?« wollte Brigitte von Ylith wissen.

»Das war ganz einfache Magie«, erwiderte Ylith. Sie drehte sich zu Scrivener um und sagte: »Behandle dein kleines Mädchen anständig. In ein paar Jahren wird sie in der Lage sein, dich in Mäusepastete zu verwandeln. Und du wirst auch mit mir rechnen müssen.«

TERZ

KAPITEL 1

Nachdem Brigitte Azzie aus seiner Gefangenschaft erlöst hatte, band Ylith zwei Besenstiele mit einem kräftigen Hanfseil zusammen und flog mit Azzie, der hinter ihr saß und sich an ihr festklammerte, zurück nach Augsburg. Es war ein herrliches Gefühl, die Arme des jungen virilen Dämons um ihren Körper zu spüren. Als seine Klauen versehentlich ihre Brüste streiften, überlief sie ein wohliger Schauder. Was für eine Wonne es war, mit dem Geliebten hoch über den Wolken dahinzufliegen! Für eine Weile vergaß sie alle Gedanken an Sünde und Sünder, an Gut und Böse, während sie ausgelassen durch das klare Blau des Himmels schoß und über violettgetönte Wolken hinwegsetzte, die sich vor ihren Augen auflösten und erneut formten. Auch Azzie genoß die Kapriolen, drängte Ylith aber, sich zu beeilen. Sie mußten das Pärchen von den Harpyien abholen.

In Azzies Anwesen zurückgekehrt, blieb Ylith gerade Zeit genug, ihr Haar zu waschen und es festzustecken. Dann war sie reisefertig.

Sie schwang sich auf einem frisch aufgeladenen Besenstiel in die Höhe und jagte allein dahin – eilig, aber aufmerksam. Die Erde schrumpfte unter ihr zusammen, und schon bald befand sie sich im funkelnden Reich des Himmels, wo sie sich auf die Suche nach den Harpyien machte, ohne allerdings die geringste Spur von ihnen entdecken zu können. Sie umkreiste den äußersten Rand der Welt und fand nichts. Doch dann näherte sich ihr ein Pelikan im langsamen Flug und fragte: »Sucht Ihr die Harpyien mit den beiden Leichen? Sie haben mir aufgetragen, Euch zu sagen, daß ihnen langweilig geworden ist und sie die Körper an einem sicheren Platz abgestellt haben. Sie selbst sind zu ihren Schwestern zurückgekehrt.«

»Haben sie sonst noch irgend etwas gesagt?« erkundigte sich Ylith und führte eine Reihe spiralförmiger Wenden aus, um ihre Geschwindigkeit der des langsam fliegenden Pelikans anzupassen.

»Nur irgend etwas von einem Mah-Jongg-Spiel«, erwiderte der Vogel.

»Haben sie gesagt, wo dieser sichere Ort ist?«

»Nicht ein Wort«, sagte der Pelikan. »Ich wollte sie noch danach fragen, aber da waren sie schon weg, und man kann sie unmöglich einholen. Ihr wißt ja, wie schnell sie mit diesen neumodischen Bronzeflügeln fliegen können.«

»Aus welcher Richtung sind sie gekommen?« wollte Ylith wissen.

»Aus Norden«, antwortete der Pelikan und deutete mit einer Flügelspitze in die entsprechende Richtung.

»Geografischer oder magnetischer Norden?«

»Geografischer Norden.«

»Ich glaube, dann weiß ich, wo sie hergekommen sind«, sagte Ylith.

Sie schwenkte nach Norden und beschleunigte, obwohl sie wußte, daß der Wind ihre Augen röten würde, was ihrem Aussehen nicht gerade zuträglich war. In kürzester Zeit hatte sie das Land der Franken hinter sich gelassen und passierte die von tiefen Fjorden zerklüftete Küste, wo die Nordmänner noch immer ihren alten Göttern huldigten und mit Hämmern, Äxten und anderen landwirtschaftlichen Werkzeugen kämpften. Ihr Flug führte sie weiter über das Land der Lappen, die ihre Rentierherden durch den Schnee trieben und Yliths Anwesenheit spürten, auch wenn sie so taten, als würden sie sie nicht bemerken, denn das beste, was man tun kann, wenn man mit unerklärlichen Phänomenen konfrontiert wird, ist, sie einfach zu ignorieren.

Schließlich erreichte Ylith den Nordpol, und zwar den richtigen, der an dem imaginären Punkt liegt, an dem sich der wahre und der absolute Norden treffen: der Nordpol, den kein Sterblicher jemals finden wird. Nachdem sie durch die Realitätsfalte geschlüpft war, hinter der er lag, erblickte sie unter sich das Dorf des Weihnachtsmanns.

Es war auf der kompakten Eiskappe errichtet worden, die den Nordpol bedeckte. Die Gebäude waren sehr ordentlich zum Teil aus Baumstämmen, zum Teil aus Brettern gezimmert. Auf einer Seite entdeckte Ylith die Werkstätten, wo die Gnome des Weihnachtsmanns alle möglichen Geschenke für die Sterblichen anfertigten. Diese Werkstätten sind allgemein bekannt. Weniger bekannt dagegen ist, daß es ein Hinterzimmer gibt, in dem die Essenz von Gut und Böse aus den geheimen Lagerstätten der Erde angeliefert wird. Jedem Geschenk wurde eine Prise Glück oder Unglück hinzugefügt. Nach welchen Kriterien Glück und Unglück verteilt wurden, konnte niemand erklären. Als Ylith nun zwischen den Fertigungsstätten hindurchschlenderte und die kleinen Gesellen mit ihren Hämmern und Schraubenziehern beobachtete, schien es ihr, als würde die Verteilung rein zufällig ablaufen. In der Mitte des großen Arbeitstisches stand ein Trichter, in den kleine glitzernde Bruchstück von Glück und Unglück hinabregneten, die wie kleine Kräutersträuße aussahen. Vor dem trichterförmigen Behälter saß ein Zwerg, der die Schicksalsbringer herausnahm, ohne sie auch nur eines flüchtigen Blickes zu würdigen, und sie in die Weihnachtsgeschenke stopfte.

Ylith fragte die Zwerge, ob erst kürzlich ein paar Harpyien mit zwei tiefgefrorenen Menschen vorbeigekommen wären. Die Zwerge schüttelten gereizt die Köpfe. Weihnachtsgeschenke herzustellen und zu verpacken ist Präzisionsarbeit, und wenn man dabei angesprochen wird, gerät man schnell aus dem Rhythmus. Ein Zwerg deutete mit einer ruckhaften Kopfbewegung in den hinteren Bereich der Werkstatt. Ylith ging in die angegebene Richtung und erblickte am Ende des langgestreckten Raumes eine Tür mit der Aufschrift: Büro des Nikolauses. Sie klopfte an und trat ein.

Der Nikolaus war ein großer dicker Mann mit einem Gesicht, das zum Lächeln geschaffen war. Aber das Aussehen verrät nicht immer die Wahrheit. Im Augenblick wirkte seine Miene mürrisch und verkniffen, während er in eine magische Seemuschel sprach.

»Hallo, ist dort die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör? Ich muß mit einem der Verantwortlichen sprechen.«

Die Antwort kam aus einem ausgestopften Paviankopf an der Wand.

»Sie haben richtig gewählt. Wer spricht dort?«

»Hier ist der Nikolaus.«

»Ja, Herr Nikolaus. Sind Sie autorisiert, sich mit der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör in Verbindung zu setzen?«

»Ich nehme an, Sie haben noch nicht von mir gehört«, erwiderte der Nikolaus. »Ich bin derjenige, der an jedem vierundzwanzigsten Dezember nach dem neuen Kalender die Geschenke bringt.«

»Oh, der Nikolaus! Wann werden Sie denn endlich auch den Dämonen Geschenke bringen?«

»Ich habe schon mehr als genug damit zu tun, den Menschen Geschenke zu bringen«, antwortete der Nikolaus. »Ich habe ein Problem…«

»Warten Sie einen Moment«, sagte die Stimme. »Ich verbinde Sie mit der Beschwerdeabteilung.«

Der Nikolaus seufzte. Wieder wurde er hingehalten. Dann entdeckte er Ylith, die gerade das Büro betreten hatte.

Er blinzelte dreimal schnell hinter den rechteckigen Gläsern seiner Brille. »Du liebe Güte! Sie sind kein Zwerg, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Ylith, »und ich bin auch kein Rentier. Aber ich gebe Ihnen einen Hinweis. Ich bin auf einem Besenstiel hergekommen.«

»Dann müssen Sie eine Hexe sein!«

»Sie haben es erfaßt.«

»Werden Sie mich verhexen?« fragte der Weihnachtsmann und sabberte ein wenig, als er Yliths Reize bemerkte, die durch ihre windzerzauste Kleidung besonders deutlich zur Geltung kamen. »Wissen Sie, ich hätte nichts dagegen, verhext zu werden. Niemand denkt jemals daran, den Nikolaus zu verhexen. Als ob ich nicht auch von Zeit zu Zeit etwas Aufmunterung gebrauchen könnte. Wer bringt denn dem Weihnachtsmann Geschenke, häh? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Immer heißt es: Geben, geben, geben. Aber was bekomme ich dafür?«

»Befriedigung. Sie können sich daran erfreuen, daß alle Sie lieben.«

»Was sie lieben, sind meine Geschenke, nicht mich.«

»Der Geber ist immer ein Teil dessen, was gegeben wird«, sagte Ylith.

Der Nikolaus schwieg einen Moment lang und dachte darüber nach. »Glauben Sie das wirklich?«

»Wie sollte es denn anders sein?«

»Schön, das klingt schon besser. Dürfte ich erfahren, was Sie hier tun? Normalerweise gibt es hier nur Zwerge und Rentiere. Und natürlich mich.«

»Ich bin gekommen, um zwei Pakete abzuholen, die hier für mich abgegeben worden sind«, erklärte Ylith.

»Pakete? Was für Pakete?«

»Eins mit männlichem, das andere mit weiblichem Inhalt. Beide menschlich und tiefgefroren. Sie sind von Harpyien geliefert worden.«

»Oh, diese gräßlichen Harpyien!« rief der Nikolaus. »Sie haben den Schnee im Umkreis von mehreren Meilen gelb besudelt!«

»Was ist mit den gefrorenen Menschen?«

»Sie liegen draußen. Dahinten im Holzschuppen.«

»Ich werde sie wieder mitnehmen«, sagte Ylith. »Ach, noch etwas. Es gibt da ein kleines Mädchen names Brigitte Scrivener auf der Erde.«

»Eine kleine aufsässige Göre mit schmutzigem Gesicht?« Der Nikolaus vergaß kein Kind.

»Das ist sie. Ich möchte, daß Sie ihr dieses Jahr ein Puppenhaus bringen. Eins von der Sorte, die Sie normalerweise nur Prinzessinnen schenken. Mit beweglichen Figuren, Tapeten, Radios und dem ganzen anderen magischen Brimborium.«

»Die Kleine war wohl wirklich brav, was?«

»Ihr Verhalten hat nichts damit zu tun«, entgegnete Ylith. »Ein Dämon hat ihr ein Versprechen gegeben, und das Puppenhaus ist ein Teil davon.«

»Warum ist der Dämon dann nicht selbst gekommen, um es abzuholen?«

»Er ist anderweitig beschäftigt. Sie wissen ja, wie Dämonen sind.«

Der Nikolaus nickte. »In Ordnung, sie wird ihr Geschenk bekommen. Soll ich dafür sorgen, daß außerdem etwas Glück dazu hineingepackt wird?«

Ylith überlegte sorgfältig. »Nein, bringen Sie es ihr so, wie es verpackt wird. Das Puppenhaus reicht völlig aus. Sie soll die gleiche Chance wie jedes andere Kind haben, ob es ihr Glück oder Unglück bringt.«

»Eine weise Entscheidung«, versicherte der Nikolaus. »Aber lassen Sie mich auch Ihnen ein Geschenk geben, bevor Sie gehen.«

»Woran haben Sie gedacht?«

»Daran!« rief der Nikolaus und riß sich die Kleider vom Leib.

»Sehr freundlich«, sagte Ylith und wehrte ihn mit Leichtigkeit ab, »aber ich kann Ihr Geschenk jetzt wirklich nicht gebrauchen. Heben Sie es sich für eine andere glückliche Frau auf.«

»Aber keine kommt jemals hierher!« jammerte der Weihnachtsmann. »Nur Elfen und Rentiere!«

»Das ist hart«, kommentierte Ylith zweideutig, ging zu dem Holzschuppen und zerrte den Prinzen und die Prinzessin hervor. Beide waren beinhart gefroren und schwer wie die Sünde. Ylith mußte ihre gesamten Hexenkräfte mobilisieren, um sie hochzuheben.

»Schicken Sie mir eine Ihrer Hexenfreundinnen vorbei!« rief ihr der Nikolaus hinterher. »Sagen Sie ihnen, daß ich Geschenke verteile!«

»Ich werde es ihnen ausrichten«, versprach Ylith. »Hexen lieben Geschenke.« Mit diesen Worten erhob sie sich – das Prinzenpaar im Schlepptau – in die Luft und nahm Kurs auf Azzies Anwesen in Augsburg. Sie flog so schnell, wie sie konnte.

KAPITEL 2

Azzie wanderte nervös im Hinterhof auf und ab, als Frike meldete: »Ich glaube, sie kommt, Gebieter!« Er deutete auf den östlichen Horizont.

Der Dämon sah Ylith herankommen. Sie flog langsam auf vier Besenstielen, von denen die beiden gefrorenen Körper an Seilen herabbaumelten.

»Paß auf, wenn du sie absetzt!« rief Azzie, als Ylith in den Landeanflug überging.

»Gib du einer Hexe nur keine Ratschläge, wie man einen Besenstiel fliegt«, erwiderte Ylith und setzte die beiden Körper elegant vor der Tür zum alchemistischen Labor ab.

»Endlich!« stieß Azzie hervor. Er eilte zu dem gefrorenen Pärchen. »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen.«

»Herzlichen Dank!« fauchte Ylith. »Beim nächsten Mal kannst du dir deine Körper ja selbst holen. Und die Augen ebenfalls!«

»Entschuldige, Ylith«, beschwichtigte Azzie sie sofort, »aber ich muß mich wirklich beeilen, oder ich werde die beiden nicht mehr rechtzeitig zum Wettkampf fertig machen können. Ich habe noch etwas Jauche bekommen. Laß uns den Märchenprinzen vorerst einlagern, während wir Prinzessin Rosenrot in ihr Schloß schaffen und zum Leben erwecken.«

»Wie du willst«, sagte Ylith.

»Großartig«, stellte Azzie fest, als sie den Prinzen versorgt hatten. »Jetzt hoffe ich nur, daß mit dem Schloß alles in Ordnung ist. Wir brechen sofort auf.«

Sie machten sich auf den Weg. Ylith trug Prinzessin Rosenrot, die immer noch steif vor Kälte war, gefolgt von Azzie, der mit seinen beachtlichen Kräften Frike und einen mit Vorräten und den vermutlichen erforderlichen Zaubersprüchen gefüllten Sack schleppte.

»Bring endlich das Feuer in Gang!« verlangte Azzie, nachdem sie sich in dem verzauberten Schloß eingerichtet hatten. Sie befanden sich in einem der oberen Stockwerke, wo ein Gemach für Prinzessin Rosenrot vorbereitet worden war. Natürlich mußten sie ihr erst noch Leben einhauchen.

»Hast du die Augen?« wandte er sich an Ylith.

»Hier«, sagte die Hexe. »Ich habe sie von Chodlos, dem Künstler, der Miranda als Magdalena gemalt hat.«

»Und die Augen für den Prinzen?«

»Haben dem Drachen Skander gehört.«

»Wunderbar«, sagte Azzie. »Warum ist es hier immer noch so kalt?«

Frike hatte den großen Kamin im Schlafzimmer schon über eine Stunde lang angeheizt, aber es wollte einfach nicht warm werden. Die Steinmauern schienen die Wärme aufzusaugen. Bei diesem Tempo würden sie Prinzessin Rosenrot nie auftauen können. Durch die bläuliche Eisschicht sah sie ein wenig verzerrt aus. Ihre Züge wirkten entspannt. Frikes Nähte waren kaum noch zu erkennen. Dort, wo er die Beine der Tänzerin an den Rumpf der Magdalena angenäht hatte, schien der Saum eines Strumpfbandes die Oberschenkel zu umschließen. Frike verfügte über erstaunliche Fähigkeiten.

Aber warum dauerte es so lange, bis die Prinzessin auftaute? Lag vielleicht ein magischer Bann auf dem Eis? Azzie stocherte mit seinen Klauen darin herum und mußte feststellen, daß es kaum weicher geworden war.

Das Feuer war einfach nicht heiß genug. Schon vor einiger Zeit hatte Azzie Wärmezauber für geschlossene Räume von der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör angefordert, die noch immer nicht eingetroffen waren. Er erneuerte seine Bestellung, wobei er den unbegrenzten Kredit seiner Karte ausnutzte, um für eine unverzügliche Lieferung zu sorgen. Kurz darauf erfolgte ein leiser Knall, und ein brandneuer Wärmezauber materialisierte, säuberlich in einer undurchsichtigen Schale verpackt.

»Endlich!« rief Azzie und brach die Schale auf. Der Zauber drang lautlos hervor. Fast augenblicklich erwärmte sich der Raum um zehn Grad.

»Und jetzt zur Erweckungsprozedur«, sagte Azzie. »Schnell, Frike, die Jauche!«

Der Diener beugte sich über die reglose Prinzessin und spritze ihr Jauche ins Gesicht.

»Nun der Belebungszauberspruch«, verkündete Azzie und rezitierte ihn.

Zuerst lag die zusammengeflickte Kreatur, die sie Prinzessin Rosenrot nannten, starr und bleich wie der Tod vor ihnen, doch dann lief ein kaum wahrnehmbares Zittern über ihre Wangen. Ihre fein geschwungenen Lippen bewegten und öffneten sich, ihre kleine Zunge kam hervor und kostete die Jauche. Die zarten Nasenflügel weiteten sich, der Körper erschauderte und erschlaffte wieder.

»Schnell, setz ihr die Augen ein!« befahl Azzie.

Sie paßten problemlos in die Höhlen. Jetzt wurde ein weiterer Zauber erforderlich, um das Augenlicht zu aktivieren. Es war ein seltener Zauber, aber der Abteilung war es trotzdem gelungen, einen auf zutreiben. Während Azzie ihn sang, zuckten Prinzessin Rosenrots Lider, flatterten und öffneten sich schließlich. Ihre neuen Augen, die wie die dunkelsten Saphire waren, blickten in die Welt hinaus. Ihr Gesicht erwachte zum Leben. Sie sah sich um und stöhnte leise.

»Wer seid ihr alle?« fragte sie. Ihre Stimme war laut und ungehalten und hatte einen nörgelnden Unterton. Sie gefiel Azzie nicht, aber glücklicherweise mußte er sich ja auch nicht in sie verlieben. Das war die Aufgabe des Märchenprinzen.

Als neuerschaffenes Geschöpf besaß die Prinzessin keinerlei Erinnerungen. Was es erforderlich machte, ihr ein paar Dinge zu erklären.

»Wer bist du?« fragte Rosenrot erneut.

»Ich bin dein Onkel Azzie«, erwiderte Azzie. »Du erinnerst dich doch bestimmt an mich, oder?«

»Oh, sicher«, sagte Rosenrot, obwohl sie es natürlich nicht konnte. Der Tod hatte ihr alle Erinnerungen genommen, die guten wie die schlechten, und sie war als Tabula rasa in die Welt zurückgekehrt.

»Was geht hier vor, Onkel Azzie? Wo ist Mama?«

Diese Frage war zu erwarten gewesen. Alle Geschöpfe setzen voraus, eine Mutter zu haben, und kommen nie auf den Gedanken, daß irgend jemand sie aus einem Haufen Körperteile zusammengeflickt haben könnte.

»Mama und Papa, das heißt Ihre Königlichen Hoheiten, sind verzaubert worden«, erklärte Azzie.

»Hast du ›Königliche Hoheiten‹ gesagt?«

»Ja, Liebes. Und du bist natürlich eine Prinzessin. Prinzessin Rosenrot. Du möchtest deine Eltern doch bestimmt aus ihrem Zauberbann erlösen, nicht wahr?«

»Was? Oh, sicher«, antwortete Prinzessin Rosenrot. »Ich bin also eine Prinzessin!«

»Sie können aber erst gerettet werden, nachdem du selbst aus deinem Zauberbann befreit worden bist.«

»Ich bin verzaubert?«

»Genau, Liebes.«

»Gut, dann beseitige den Zauber!«

»Ich fürchte, das kann ich nicht«, sagte Azzie. »Dafür bin ich nicht die richtige Person.«

»Oh! Was für eine Art von Zauber liegt denn auf mir?«

»Ein Schlafzauber. Du schläfst oder schlummerst den ganzen Tag. Deshalb nennt man dich auch die Schlummernde Prinzessin. Nur ein Mann kann den Zauberbann brechen, und das ist der Märchenprinz.«

»Der Märchenprinz? Wer ist das?«

»Niemand, den du kennst, Liebes. Es ist ein netter junger Mann von adliger Herkunft, der erst kürzlich von deiner mißlichen Lage erfahren hat. Er ist schon auf dem Weg, um dich mit einem Kuß aufzuwecken und dich in ein Leben voller Glückseligkeit zu führen.«

Rosenrot dachte darüber nach. »Das hört sich gut an. Aber bist du dir ganz sicher, daß ich das alles nicht bloß träume?«

»Das ist kein Traum, sieht man einmal davon ab, daß wahrscheinlich alle Erfahrungen, die wir im Schlaf und im Wachen, im Leben und im Tod machen, nur Träume sind. Aber wenn wir diese metaphysischen Betrachtungen beiseite lassen, ist das hier die Realität, und du bist durch Zauberei in einen fortwährenden Schlaf versetzt worden. Glaube mir, vertrau mir. Im Moment schläfst du nur deshalb nicht, weil ich mit dir sprechen und dir ein paar Dinge erklären muß.«

»Vielleicht funktioniert der Bann gar nicht«, meinte Rosenrot.

»Ich fürchte, er funktioniert doch«, sagte Azzie, zog verstohlen den Schlafzauber aus der Tasche und drückte auf den kleinen Knopf, der ihn aktivierte.

Rosenrot gähnte. »Du hast recht. Ich bin müde. Aber ich habe noch nicht einmal zu Abend gegessen!«

»Wir werden das Abendessen für dich bereit halten, wenn du wieder aufwachst«, versprach Azzie.

Die Augen der Prinzessin fielen zu, und kurz darauf schlief sie tief und fest. Azzie trug sie unter Yliths wachsamen Blicken in ihr Schlafzimmer und steckte sie ins Bett.

Während der nächsten Tage zeigte sich, daß es Schwierigkeiten mit Prinzessin Rosenrot geben würde. Sie wollte einfach nicht auf Azzie hören. Selbst Ylith konnte trotz ihrer ruhigen und klugen Art nicht zu dem Mädchen durchdringen, nicht einmal in der Rolle ihrer Tante. An Rosenrots Schönheit bestand kein Zweifel. Ihre Reize lagen nicht zuletzt darin, daß ihre langen Tänzerinnenbeine, samtbraun und unglaublich ebenmäßig, einen alabaster weißen Körper trugen, auf dem ein blondhaariger Kopf saß. Die dunklen Beine erweckten den Anschein, als steckten sie in Seidenstrümpfen, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tat.

Aber diese langen Beine brachten auch ein Problem mit sich. Sie schienen ihr eigenes Karma zu besitzen. Die Prinzessin unterlag dem Zwang, ständig tanzen zu müssen. Azzie mußte mehrere Zaubersprüche ausprobieren, bevor es ihm gelang, diesen Trieb wenigstens einigermaßen zu unterdrücken.

Doch selbst in ihrem Schlummerbann schlafwandelte Prinzessin Rosenrot noch. Ihre langen Beine führten sie von selbst in den großen Ballsaal im Erdgeschoß, wo sie zu einer Musik, die außer ihr niemand hören konnte, Flamenco tanzte. Azzie mußte Vorsorge gegen das Schlafwandeln treffen.

»Ylith, würdest du im Schloß bleiben und auf sie aufpassen?« fragte er. »Ich fürchte, sie ist etwas labil. Sie könnte stürzen und sich dabei verletzen. Aber sie hat Verstand, und ich bin überzeugt, daß sie tun wird, was wir von ihr erwarten.«

»Das glaube ich auch«, erwiderte Ylith. »Übrigens, ich habe den Nikolaus gebeten, Brigitte dieses Weihnachten ein schickes Puppenhaus zu bringen.«

»Oh… danke.«

»Ich erwähne das nur für den Fall, daß du dein Versprechen vergessen haben könntest.«

»Ich habe es nicht vergessen«, log Azzie. »Trotzdem, vielen Dank. Paß gut auf sie auf, ja?«

»Ich tue das nur für dich, Azzie«, sagte Ylith mit schmelzender Stimme.

»Darüber bin ich wirklich sehr froh«, sagte Azzie in einem Tonfall, der seine Worte Lügen strafte. »Aber jetzt muß ich den Märchenprinzen aufwecken und auf den Weg bringen. Wir sehen uns später, okay?«

Ylith schüttelte den Kopf, als ihr dämonischer Liebhaber mit einem spektakulären Feuerwerkeffekt verschwand. Warum hatte sie sich nur in einen Dämon verlieben müssen? Und wenn schon in einen Dämon, warum dann ausgerechnet in diesen? Sie wußte es nicht. Die Wege des Schicksals sind unergründlich – vorsichtig ausgedrückt.

KAPITEL 3

»Ich hoffe nur, daß uns dieses Exemplar keine Schwierigkeiten bereitet«, sagte Azzie. »Hast du die Drachenaugen zur Hand, Frike?«

»Ja, Meister«, erwiderte Frike. Er öffnete den Wildlederbeutel, in dem die Drachenaugen in einem Gemisch aus Jauche, Salzlake und Essig lagen. Bevor er sie herausnahm, wischte er sich die Hände an seinem Kittel ab, denn in dieser Situation schien Hygiene – wie oberflächlich sie damals auch praktiziert wurde – besonders wichtig zu sein.

»Sind sie nicht wunderschön?« fragte Azzie, als er sie in die Augenhöhlen des Märchenprinzen schob und die Ränder mit Jauche benetzte.

Und es waren wirklich schöne Augen, gefärbt wie ein rauchiger Topas, in dessen Tiefen es funkelte.

»Diese Augen machen mir Sorgen«, sagte Frike. »Ich glaube, daß Drachenaugen Falschheit durchschauen können.«

»Genau das, was ein Held braucht.«

»Aber wird er dann nicht auch diese Falschheit durchschauen?« fragte Frike mit einer ausholenden Geste, die das Haus, Azzie und ihn selbst einschloß.

»Nein, mein armer Frike«, entgegnete Azzie. »Drachenaugen können nicht die Falschheit ihrer eigenen Situation erkennen. Sie bemerken die Makel anderer, aber nicht die eigenen. Unser Märchenprinz wird nicht leicht in die Irre zu leiten sein, aber er ist auch nicht klug oder weitsichtig genug, um seine eigene Lage zu erkennen.«

»Da! Er regt sich!« rief Frike.

Azzie war schon vorsorglich in die Maske des freundlichen Onkels geschlüpft. »Ruhig, Junge, ruhig«, sagte er und strich dem Jüngling das goldene Haar aus der Stirn.

»Wo bin ich?« fragte der Märchenprinz.

»Du solltest eher fragen, wer du bist«, erwiderte Azzie. »Und dann solltest du wissen wollen, wer ich bin. Wo du bist, steht erst an dritter Stelle der wichtigen Fragen.«

»Na schön… wer bin ich?«

»Du bist ein edler Prinz, dessen ursprünglicher Name vergessen worden ist, den aber alle nur den ›Märchenprinzen‹ nennen.«

»Märchenprinz«, murmelte der Jüngling nachdenklich. Er setzte sich auf. »Ich nehme an, das bedeutet, ich bin von adligem Geblüt.«

»Ja, das wird wohl so sein«, sagte Azzie. »Du bist der Märchenprinz, und ich bin dein Onkel Azzie.«

Der Märchenprinz akzeptierte diese Auskunft bereitwillig. »Hallo, Onkel Azzie. Ich kann mich zwar nicht an dich erinnern, aber wenn du sagst, daß du mein Onkel bist, soll mir das recht sein. Nachdem ich das jetzt weiß, darf ich auch erfahren, wo ich bin?«

»Natürlich«, erwiderte Azzie. »In Augsburg.«

»Das ist schön«, murmelte der Märchenprinz etwas undeutlich. »Ich habe so ein Gefühl, als wollte ich Augsburg schon immer einmal sehen.«

»Und das wirst du auch«, versprach Azzie und lächelte bei dem Gedanken daran, was für eine fügsame Kreatur er hier erschaffen hatte. »Du wirst es dir während deiner Ausbildung und dann später wieder genau ansehen können, wenn du es verläßt, um zu deiner gefahrvollen Mission aufzubrechen.«

»Meine gefahrvolle Mission, Onkel?«

»Ja, Junge. Vor diesem Unfall, der dein Gedächtnis ausgelöscht hat, warst du ein berühmter Krieger.«

»Wie ist mir dieser Unfall zugestoßen, Onkel?«

»Während du tapfer gegen viele Feinde gekämpft hast. Du hast eine Menge von ihnen erschlagen – du kannst sehr gut mit einem Schwert umgehen, mußt du wissen –, aber einer der niederträchtigen Schurken hat sich von hinten an dich angeschlichen und dich heimtückisch mit einem Breitschwert auf den Kopf geschlagen.«

»Das scheint mir kaum ein faires Verhalten gewesen zu sein!«

»Die Menschen sind oft unfair«, erklärte Azzie. »Auch wenn du zu unschuldig bist, um das zu erkennen. Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Dein reines Herz und dein edler Geist werden dir stets den Weg ebnen.«

»Das ist schön«, sagte der Märchenprinz. »Ich möchte, daß die Leute eine hohe Meinung von mir haben.«

»Und das werden sie auch, mein Junge, nachdem du die großen Taten vollbracht hast, zu deren Ruhm das Schicksal dich auserkoren hat.«

»Was für Taten sind das, Onkel?«

»Siegreich die mannigfaltigen Gefahren zu überwinden, die zwischen dir und Prinzessin Rosenrot liegen, der Schlummernden Prinzessin.«

»Prinzessin… wer? Wovon sprichst du?«

»Ich spreche von den großartigen Taten, die dich weltberühmt machen und dir mehr Glück bescheren werden, als es sich die menschliche Phantasie ausmalen kann.«

»Oh… das klingt gut. Erzähl mir mehr, Onkel. Du hast eine schlafende Prinzessin erwähnt…?«

»Schlummernd, nicht schlafend. Aber es ist trotzdem ein ernsthaftes Problem. Es steht geschrieben, mein Junge, daß nur ein Kuß deiner Lippen sie aus diesem Bann erlösen kann. Sobald sie erwacht und dich erblickt, wird sie sich unsterblich in dich verlieben. Du wirst dich ebenfalls in sie verlieben, und ihr werdet beide sehr glücklich sein.«

»Ist sie hübsch, diese Prinzessin?« erkundigte sich der Prinz.

»Das kannst du wohl glauben«, versicherte Azzie. »Du wirst sie wachküssen, sie wird die Augen öffnen und dich ansehen. Dann wird sie die Arme sanft um deinen Hals schlingen, ihr Gesicht dem deinen nähern, und dann wirst du Wonnen erleben, wie sie kaum ein Sterblicher jemals erfahren hat.«

»Es wird Spaß machen, was?« fragte der Prinz. »Ist es das, was du meinst, Onkel?«

»Für das, was du empfinden wirst, ist die Bezeichnung Spaß noch viel zu harmlos.«

»Hört sich großartig an«, stellte der Märchenprinz fest. Er stand auf und machte ein paar vorsichtige Schritte. »Dann laß uns das gleich erledigen, einverstanden? Ich werde sie küssen, und dann können wir beide anfangen, uns miteinander zu amüsieren.«

»Ganz so schnell geht das nicht«, bremste ihn Azzie.

»Warum nicht?«

»Es ist nicht so einfach, die Prinzessin zu erreichen. Du mußt dir vorher deinen Weg durch allerlei Hindernisse freikämpfen.«

»Was für Hindernisse? Gefährliche?«

»So ist es, fürchte ich«, bestätigte Azzie. »Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Du wirst sie alle überwinden, nachdem Frike und ich dich im Waffenkampf geschult haben.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, ich könne bereits gut mit Waffen umgehen.«

»Nun, eine kleine Auffrischung kann nicht schaden«, meinte Azzie.

»Offengestanden, die ganze Angelegenheit hört sich ziemlich gefährlich an«, sagte der Märchenprinz.

»Natürlich ist es gefährlich«, erwiderte Azzie. »Das haben riskante Unternehmungen nun mal so an sich. Aber das macht nichts, du wirst alle Herausforderungen bestehen. Frike und ich werden dir zeigen, wie man mit Waffen umgeht, und dann wirst du losziehen.«

»Waffen sind gefährlich. Man kann durch sie getötet werden. Daran erinnere ich mich noch.«

Das liegt daran, daß das Herz eines Feiglings in deiner Brust schlägt, dachte Azzie. Laut sagte er: »Du wirst überlegene Waffen besitzen, gegen die niemand bestehen kann. Und Schutzzauber. Und, das Wichtigste überhaupt, ein magisches Schwert.«

»Schwerter!« rief der Märchenprinz aus und verzog das Gesicht voller Abscheu. »Jetzt erinnere ich mich an Schwerter! Furchtbar scharfe Dinger, die die Leute benutzen, um sich gegenseitig tiefe Schnittwunden zuzufügen!«

»Aber denk an das Ziel deiner Mission«, sagte Azzie. »Denk an die Prinzessin! Natürlich wirst du kämpfen müssen, aber ich verspreche dir, daß du siegen wirst.«

»Das könnte ich nicht«, behauptete der Prinz. »Nein, tut mir leid, aber das könnte ich einfach nicht.«

»Warum nicht?« wollte Azzie wissen.

»Weil ich mich erinnere, daß ich Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen bin«, erklärte der Märchenprinz.

»So ein Quatsch! Du bist gerade erst wiedergeboren worden! Das heißt, aus dem tiefen Schlaf erwacht, in den du durch deine Verletzungen gesunken bist. Wie kannst du da plötzlich Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen sein?«

»Weil ich ganz genau weiß«, antwortete der Märchenprinz, »daß ich in einer Situation, in der Gewalttätigkeiten drohen, auf der Stelle ohnmächtig werden würde.«

Azzie warf einen Blick zu Frike hinüber, der mit regloser Miene auf einen imaginären Punkt an der Wand starrte. Aber selbst sein scheinbar unschuldiger Gesichtsausdruck verriet Azzie, daß sein Diener sich heimlich über die Anstrengungen seines Gebieters lustig machte, der keine Mühe gescheut hatte, einen Märchenprinzen zu erschaffen, und der trotzdem so kurzsichtig gewesen war, ihm das Herz eines Feiglings einzupflanzen.

»Um das ein für allemal klarzustellen«, sagte Azzie zu seinem Geschöpf, »du wirst üben. Danach werde ich dir ein Zauberschwert besorgen, mit dem du jeden Gegner schlagen kannst. Und dann wirst du dich auf dieses Unternehmen begeben.«

»Und was, wenn ich dabei verletzt werde?«

»Prinz, du solltest deine Angst besser in den Griff bekommen«, erwiderte Azzie streng. »Ich versichere dir, daß du mit einem magischen Schwert von hier aufbrechen und herausfinden wirst, was du damit alles anstellen kannst, oder aber ich knöpfe mir dich persönlich vor. Und da unter meinen Freunden einige Dämonen sind, wäre das schmerzhafter als alles, was du dir vorstellen kannst. Geh jetzt auf dein Zimmer und wasch dich. Es ist gleich Zeit für das Abendessen.«

»Was gibt es denn?« erkundigte sich der Märchenprinz. »Hoffentlich doch etwas Französisches mit viel Soße.«

»Rinderbraten mit Kartoffeln«, sagte Azzie. »Wir ziehen hier Kämpfer und keine Tänzer heran.«

»Ja, Onkel«, murmelte der Märchenprinz und schlich mit hängenden Schultern aus dem Zimmer. Azzie warnte Frike mit einem finsteren Blick davor, eine bissige Bemerkung zu machen. Sein Diener schlurfte kommentarlos davon.

Azzie setzte sich in einen Sessel vor den Kamin und starrte nachdenklich ins Feuer. Er mußte sich irgend etwas einfallen lassen. Der Märchenprinz würde garantiert bei der ersten gefährlichen Situation stiften gehen. Und das würde Azzie zum Gespött in allen drei Welten machen. Aber er hatte nicht vor, es dazu kommen zu lassen.

KAPITEL 4

Am nächsten Morgen begann Azzie mit der Ausbildung des Märchenprinzen. Zuerst stand die Unterweisung im Schwertkampf auf dem Programm. Für einen jungen Mann, der im Begriff steht, gefährlichem Zauberwerk gegenüberzutreten, ist das Schwert eine bewährte Allzweckwaffe. Bei ordentlicher Handhabung kann man mit einem Schwert praktisch alles töten.

Der Märchenprinz zeigte ein beachtliches Talent im Umgang mit der Klinge. Sein Rumpf und der rechte Arm hatten einem äußerst begabten Schwertkämpfer gehört. Diese Begabung wurde deutlich, wenn der Prinz attackierte und parierte oder sich mit wirbelnder und blitzender Klinge zurückzog. Selbst Azzie, der beileibe kein schlechter Fechter war, geriet durch die ungestümen Angriffe und die klugen Finten seines Schützlings manchmal in arge Bedrängnis.

Aber der Prinz schien von seinem Wesen her einfach nicht fähig zu sein, einen einmal errungenen Vorteil auszunutzen und nachzusetzen. Azzie, der eine alte Übungstunika trug und lediglich seinen Oberköper durch einen schwachen Schwertabwehrzauber geschützt hatte, ging immer wieder die grundlegenden Manöver mit dem Märchenprinzen durch.

»Komm schon!« keuchte er, während sie sich auf dem schattigen Übungsplatz hinter dem Anwesen gegenüberstanden. »Ein bißchen mehr Eifer! Greif mich an!«

»Ich möchte dich nicht verletzen, Onkel«, sagte der Prinz.

»Du wirst mich nicht erwischen, glaub mir. Los jetzt, greif mich an!«

Der Prinz versuchte es, aber seine angeborene Feigheit stand ihm dabei im Weg. Jedesmal, wenn er nahe genug an Azzie herangerückt war, um einen tödlichen Hieb anbringen zu können, zögerte er, und der gewandte Dämon konnte die Deckung seines Gegners durchbrechen und einen Treffer landen.

Noch schlimmer aber war, daß die Geschicklichkeit des Märchenprinzen sich jedesmal in Luft auflöste, wenn Azzie mit wildem Geschrei und stampfenden Füßen angriff. Dann wirbelte der Prinz herum und floh.

Frike schüttelte den Kopf, während er die Übungen verfolgte. Wer hätte gedacht, daß ein einziges kleines Körperteil, das Herz eines Feiglings, den gesamten Körper des Märchenprinzen würde beherrschen können?

Azzie probierte die verschiedensten ihm zur Verfügung stehenden Zaubersprüche aus, um den Prinzen mit Mut zu erfüllen, aber irgend etwas Hartnäckiges in dem Jüngling schien sowohl gegen Ermahnungen als auch gegen Zaubersprüche immun zu sein.

Wenn sie nicht gerade kämpften oder Sport trieben, zog sich der Märchenprinz in ein Erkertürmchen am äußersten Ende von Azzies Anwesen zurück. Trotz seines vielversprechenden männlichen Aussehens spielte er liebend gern mit Puppen, die er ankleidete und an einer kostbar gedeckten Tafel Tee trinken ließ. Azzie dachte daran, ihm die Puppen wegzunehmen, aber Frike riet ihm davon ab.

»Junge Männer zerbrechen oftmals daran, wenn man ihnen ihr kindliches Vergnügen verwehrt«, warnte er. »Der Prinz ist jetzt schon unsicher genug, ohne daß Ihr ihm seine Puppen fortnehmt.«

Azzie sah sich gezwungen, dem zuzustimmen. Ihm war klar, daß hier etwas geschehen mußte. Vorher aber brauchte er unbedingt ein Zauberschwert.

Die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör hatte vor scheinbar einer Ewigkeit versprochen, eins zu besorgen, die richtige Waffe bisher aber nicht auftreiben können. Natürlich verfügte sie über eine Menge Schwerter mit gewissen positiven Eigenschaften, aber keins davon besaß ausreichende Zauberkräfte, um jeden Wächter durchbohren, einen Drachenpanzer durchdringen und den Weg tief ins Herz des Feindes finden zu können. Alle bekannten Zauberschwerter befanden sich bereits im Besitz anderer Helden, da Azzies Inszenierung nicht die einzige war, die zur Zeit stattfand. Er wies in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung seines Falls hin, dessen Ausgang über nicht weniger als das Schicksal des Bösen während der nächsten tausend Jahre entscheiden würde.

»Na klar«, lautete die Antwort aus der Abteilung, »das sagen sie alle. ›Schrecklich wichtig, äußerster Vorrang, glauben Sie mir‹, das haben wir alles schon tausendmal gehört.«

»Aber in diesem Fall ist es wirklich die Wahrheit!«

Der Angestellte der Abteilung lächelte freudlos. »Natürlich ist es die Wahrheit, genau wie bei allen anderen auch.«

Azzie beschloß, die Ausbildung an Frike zu übergeben, vor dem der Märchenprinz etwas weniger Angst zu haben schien. In der Zwischenzeit würde er dem Schloß der Prinzessin Rosenrot einen Besuch abstatten und sich vom Stand der Vorbereitungen überzeugen.

Er landete am Rand des verzauberten Waldes. In diesen Teil seines Plans hatte er viel Zeit und Mühe investiert, und die Versorgungsabteilung hatte seine Vorstellungen einigermaßen befriedigend umgesetzt.

Azzie spähte von draußen in den Wald hinein, der grün und voller Unterholz war, so wie ein Wald eben auszusehen hat. Kaum hatte er ihn betreten, begannen die Bäume sich zu bewegen. Ihre Äste sanken langsam herab, um ihn zu packen und festzuhalten. Es fiel ihm nicht schwer, ihnen zu entgehen. Eigentlich enthielt der Wald nicht die angemessene Ausstattung mit Fabeltieren und anderen seltsamen Kreaturen, und die Äste bewegten sich so langsam, daß ihnen selbst ein Einfaltspinsel wie der Märchenprinz problemlos würde ausweichen können. Verdammt noch mal, dachte Azzie. Warum machte ihm die Abteilung nur solche Schwierigkeiten?

Voller Wut flog er nach Augsburg zurück, um nachzusehen, welche Fortschritte Frike mit der Ausbildung machte.

Er fand seinen Diener auf der Treppe zum Vordereingang, wo der Bucklige einen Apfel aß.

»Was ist los?« erkundigte sich Azzie. »Warum übst du nicht mit ihm?«

Frike zuckte die Achseln. »Er hat gesagt, er hätte die Nase voll, und er hätte geschworen, kein Lebewesen zu töten. Wenn man seinen Worten Glauben schenken darf, ist er Vegetarier geworden und trägt sich mit dem Gedanken, einem Mönchsorden beizutreten.«

»Das ist jetzt endgültig zuviel«, stöhnte Azzie.

»Ganz Eurer Meinung«, stimmte Frike ihm zu. »Aber was könnt Ihr dagegen tun?«

»Ich brauche sofort den Rat eines Experten«, sagte Azzie. »Lauf und hol mir mein Zauberpulver und mein Reiseamulett. Es wird Zeit, daß ich eine Beschwörung durchführe.«

KAPITEL 5

Am Anfang funktionierten Azzies Zauber Sprüche nicht. Was er auch versuchte, Hermes wollte einfach nicht erscheinen. Dann probierte er es mit Hilfe der großen Kerzen, die aus dem Talg von Toten bestanden und die er sich für wirklich schwierige Situationen aufbewahrt hatte. Und diesmal spürte er, daß seine Beschwörung funktionierte. Er verstärkte sie. Die Kraft jagte durch den Äther, wirbelte durch den Riß zwischen den Welten und schnüffelte herum wie ein Spürhund. Schließlich hörte Azzie eine brummende Stimme sagen: »Schon gut, ich bin ja schon wach«, und kurz darauf tauchte die heroische marmorweiße Gestalt von Hermes vor ihm auf. Der Gott kämmte noch immer sein langes braunes Haar und wirkte mehr als nur ein bißchen ungehalten.

»Mein lieber Azzie, du solltest es eigentlich besser wissen, als einen solchen Dringlichkeitszauber zu benutzen, um mich herbeizurufen. Wie du weißt, haben auch wir Geistberater unser privates Leben. Es ist nicht angenehm, alles fallen und liegen lassen zu müssen, um dem Ruf eines jungen Dämons wie dir zu folgen.«

»Es tut mir leid«, versicherte Azzie. »Aber du hast dich in der Vergangenheit mir gegenüber immer so großzügig gezeigt… und jetzt stehe ich vor einem sehr schwierigen Problem.«

»Na schön, dann laß mal hören«, sagte Hermes. »Ich nehme nicht an, daß du zufällig irgendwo ein Glas Jauche auf treiben kannst.«

»Aber sicher«, erwiderte Azzie. Er schenkte einen Pokal voll, der aus einem kompakten Amethyst herausgeschnitzt war, und berichtete über seine Probleme mit dem Märchenprinzen, während Hermes an seiner Jauche nippte.

»Mal sehen…«, murmelte der Gott. »Ja, ich erinnere mich an einige alte Schriften zu diesem Thema. Was dein Märchenprinz tut, wird als das klassische ›Held-verweigert-Heldentat-Syndrom‹ bezeichnet.«

»Ich wußte gar nicht, daß Helden so etwas tun können«, bekannte Azzie.

»Oh, doch. Dieses Verhalten ist sogar recht weit verbreitet. Weißt du irgend etwas über die Familie deines Helden?«

»Er hat keine Familie!« protestierte Azzie. »Ich habe ihn ganz allein erschaffen.«

»Ja, das weiß ich«, entgegnete Hermes. »Aber erinnere dich, was wir über seine Beine in Erfahrung gebracht haben. In allen Körperteilen schlummern Erinnerungen, besonders in Herzen.«

»Er hat das Herz eines Feiglings«, räumte Azzie ein. »Den Rest der Familie habe ich mir nie genauer angesehen.«

»Ich werde das für dich erledigen«, sagte Hermes. Er verschwand, nicht etwa in einer Rauchwolke, wie es gewöhnliche Dämonen taten, sondern in einem hellen Auflodern von Flammen. Azzie bewunderte seinen Abgang. Da war etwas, das er wirklich gern lernen würde.

Kurz darauf kehrte Hermes auch schon wieder zurück. »Es ist, wie ich vermutet habe. Dein Kadaver mit dem Herzen eines Feiglings war der mittlere von drei Söhnen.«

»Und? Was hat das zu bedeuten?«

»Gemäß den Alten Lehren ist der mittlere Sohn gewöhnlich der wertloseste. Der älteste Sohn erbt das Königreich. Wenn alles seinen geregelten Gang geht, zieht der jüngste Sohn in ein gefahrvolles Abenteuer und erringt dabei ein anderes Königreich. Der mittlere Sohn ist einfach nur faul und unternimmt kaum etwas. So sorgt die Natur dafür, das alles im Gleichgewicht bleibt.«

»Beim Höllenfeuer!« rief Azzie aus. »Ich habe es mit einem mittleren Sohn zu tun, der auch noch ein Feigling ist! Was soll ich machen?«

»Da er noch unfertig ist, besteht Hoffnung, seine Einstellung zu verändern. Vielleicht könntest du ihn davon überzeugen, daß er ein jüngerer Sohn ist. Dann wäre er für seine Aufgabe besser geeignet.«

»Wird ihn das davon abhalten, ein Feigling zu sein?«

»Ich fürchte, nein«, bekannte Hermes. »Natürlich wäre es hilfreich, wenn du ihm Geschichten über die Kühnheit seiner Vorfahren erzählst. Aber seine Feigheit ist ein ihm innewohnender Charakterzug, den man nicht durch Ermahnungen beseitigen kann.«

»Was schlägst du also vor?« fragte Azzie.

»Das einzige bekannte Heilmittel gegen Feigheit«, sagte Hermes, »ist ein Kraut, das Mutia sempervirens genannt wird.«

»Wo wächst es?« wollte Azzie wissen. »Und wirkt es wirklich?«

»Seine Wirkung steht außer Frage. Mutia, oder Nervenkraut, wie man es auch nennt, erfüllt einen Mann mit Draufgängertum und Zielstrebigkeit. Aber man muß es in kleinen Dosen verabreichen, sonst verwandelt es Tapferkeit in Tollkühnheit, und der Held wird getötet, noch bevor er richtig losgelegt hat.«

»Es fällt mir schwer, mir den Prinzen als tollkühn vorzustellen.«

»Verabreiche ihm eine Dosis von der Größe eines kleinen Fingernagels, und du wirst ein überraschendes Ergebnis erzielen. Aber denk auch daran, es ist immer ratsam, es mit einem Gegenmittel wie zum Beispiel Ruhium zu kombinieren, dem Kraut für vorausschauende Aufmerksamkeit.«

»Ich werde daran denken«, versicherte Azzie. »Wo kann ich dieses Mutia finden?«

»Das ist das eigentliche Problem«, gestand Hermes. »Im Goldenen Zeitalter gab es eine ganze Menge davon, und niemand machte sich die Mühe, es zu essen, denn damals war kein Mut erforderlich, sondern nur die Fähigkeit, sich zu vergnügen. Dann kam das Bronzene Zeitalter, in dem die Menschen einander bekämpften, gefolgt vom Eisernen Zeitalter, in dem sie nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen alles andere kämpften. Damals nahmen sie das Kraut in großen Mengen zu sich, was einer der Gründe dafür ist, warum die Menschen dieser Zeit so draufgängerisch waren. Allerdings hätten diese viel zu wild geführten Kriege die Menschheit beinahe ausgelöscht. Mit dem Klimawechsel, den das neue Zeitalter mit sich brachte, starb die Mutiapflanze aus. Und heute findet man sie nur noch an einem Ort.«

»Sag mir, wo der ist«, bat Azzie.

»In einem verstaubten Regal der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör«, sagte Hermes. »Die letzten Pflanzen wurden getrocknet und dann zur ewigen Aufbewahrung in eine Jauchetinktur eingelegt.«

»Aber ich habe mich bereits nach so etwas bei der Abteilung erkundigt! Dort hat man mir gesagt, daß man noch nie von so etwas gehört hätte!«

»Das sieht ihnen ähnlich«, erwiderte Hermes. »Du mußt sie irgendwie dazu bringen, eine gründliche Suche in die Wege zu leiten. Es tut mir leid, Azzie, aber das ist das einzige, das dir weiterhelfen kann.«

Das war ein Problem, denn die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör verhielt sich zunehmend unkooperativ. Azzie hegte sogar den Verdacht, daß die Leute dort sein Projekt schon längst abgeschrieben hatten, vor sich hin dösten und darauf warteten, daß jemand mit einer neuen Idee kam. Er wußte, daß er in Schwierigkeiten steckte. Azzie redete mit dem Prinzen, berichtete ihm von den heroischen Taten erfundener Ahnen und drängte ihn, es ihnen in jeder Beziehung gleichzutun. Aber der Prinz zeigte keinerlei Interesse. Selbst als er ihm kleine Porträts von Rosenrot brachte, angefertigt von Dämonenkünstlern, die garantiert jeden körperlichen Reiz der Prinzessin festgehalten hatten, zeigte sich der junge Mann völlig gleichgültig und sprach statt dessen davon, eine Modeboutique zu eröffnen, sobald er etwas älter geworden wäre.

KAPITEL 6

Es war früh am Abend. Die Augustsonne hatte den ganzen Tag lang auf das Anwesen in Augsburg herabgebrannt. Azzie saß in seinem grobgezimmerten bequemen Sessel und las in einem der Rundschreiben, die hin und wieder vom Amt für Interne Angelegenheiten verschickt wurden. Es enthielt das übliche Zeug: einen allgemeinen Aufruf an sämtliche Mitarbeiter, im öffentlichen Interesse Böses zu tun, und eine Auflistung der laufenden höllischen Aktivitäten. Unter anderem war ein Kalender mit den Geburtstagen der Wechselbälger abgedruckt, die in die Wiegen der Menschen gelegt worden waren, während man die echten Kinder entfernt und verändert hatte, um sie den Azteken in der Neuen Welt zu schicken und ihre Bevölkerung zu vergrößern, deren Blutopfer allgemeine Bewunderung erregt hatten. Es gab Berichte über Feierlichkeiten angesichts von Feuersbrünsten und Verkaufsveranstaltungen in Höllengruben, eben das übliche Zeug, hier und da mit Kurznachrichten aufgelockert. Azzie las das Rundschreiben, obwohl es ihn nicht sonderlich interessierte. Manchmal entdeckte man etwas Nützliches in den lieblos verfaßten Artikeln, meistens jedoch nicht.

Doch dann, als ihm die Augen zuzufallen drohten und er vor dem Kamin zu dösen begann, ertönte ein gewaltiges Klopfen an der hohen Haupteingangstür des Anwesens. Es dröhnte so laut, daß Azzie beinahe aus seinem Sessel aufsprang. Der Märchenprinz, der gerade das Schnittmuster eines griechischen Gewandes von einer Tontafel auf ein Stück Pergament übertrug, verschwand wie der Blitz, noch bevor das Echo des letzten Klopfens verklungen war. Nur der alte Frike war reglos sitzen geblieben, was allerdings nicht an seinem Mut lag; der plötzliche Lärm hatte ihn vor Angst erstarren lassen, so wie angeblich ein Kaninchen beim Anblick eines Falken erstarrt, der mit drohend gespreizten Schwingen und ausgestreckten Krallen auf es herabstößt.

»Ziemlich spät für einen Besucher«, murmelte Azzie nachdenklich.

»Aye, Sire, und außerdem ziemlich laut«, sagte Frike, der sich weit genug aus seiner Erstarrung gelöst hatte, um am ganzen Leib zittern zu können.

»Reiß dich zusammen, Mann!« befahl Azzie. »Wahrscheinlich ist es nur ein Reisender, der sich verirrt hat. Setz einen großen Kessel Wasser auf, während ich nachsehe, wer es ist.«

Er ging zur Tür und schob die schweren Riegel zurück, die aus vulkanischem Stahl geschmiedet worden waren.

Vor ihm stand eine hochgewachsene weißgekleidete Gestalt. Der Mann trug einen schlichten Goldhelm mit Taubenflügeln auf beiden Seiten, eine schneeweiße Rüstung und einen weißen Umhang aus Hermelinpelz um die Schultern. Er war auf eine seltsam langweilige Art attraktiv, hatte ein kräftiges ebenmäßiges Gesicht und große blaue Augen.

»Hallo«, sagte er. »Ich hoffe, ich bin an der richtigen Adresse. Das ist doch die Residenz des Dämons Azzie Elbub, nicht wahr?«

»Stimmt«, bestätigte Azzie, »aber was auch immer Ihr verkauft, ich habe kein Interesse. Wie könnt Ihr es überhaupt wagen, mich zu dieser späten Stunde noch zu belästigen?«

»Die Störung tut mir schrecklich leid, aber man hat mich beauftragt, so schnell wie möglich hier zu erscheinen.«

»Man?«

»Das leitende Komitee der Mächte des Lichtes für den Jahrtausendwettkampf.«

»Sie gehören den Mächten des Lichtes an?«

»Ja. Hier ist mein Beglaubigungsschreiben.« Der Fremde zog eine mit einem scharlachroten Band versiegelte Pergamentrolle hervor und reichte sie Azzie, der sie entrollte und las. Dort stand in der klobigen gotischen Druckschrift, die der Rat benutzte, daß der Inhaber des Dokuments, Babriel, ein Engel zweiten Grades im Dienst der Mächte des Lichtes, berechtigt war, sich überall frei zu bewegen und sich alles anzusehen, was sein Interesse erregte. Diese allgemeine Erlaubnis schloß auch ausdrücklich den Dämon Azzie Elbub ein, dem Babriel als Beobachter zugeteilt worden war.

Azzie starrte ihn finster an. »Mit welchem Recht haben die Mächte des Lichtes Sie hergeschickt? Dies ist einzig und allein eine Produktion der Mächte der Finsternis, und die andere Seite hat kein Recht, sich darin einzumischen.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht die Absicht habe, mich in irgendeiner Form in Ihre Arbeit einzumischen. Dürfte ich hereinkommen und die Angelegenheit näher erläutern?«

Azzie war derart fassungslos über die Dreistigkeit des Vertreters des Guten, daß er keine Einwände erhob, als der große Engel mit dem goldenen Haar eintrat und sich umsah.

»Was für ein hübsches Haus Sie haben! Besonders gut gefallen mir die Symbole dort an der Wand.« Er deutete auf die Nischen in der Westwand, die eine Reihe von Dämonenköpfen aus schwarzem Onyx enthielten. Die Dämonen waren in den verschiedensten Erscheinungsformen dargestellt, unter anderem als Affen, Falken und Nattern. Aus der neuen Welt war ein Vielfraß vertreten.

»Das sind keine Symbole, Sie Trottel«, schnaubte Azzie. »Das sind Büsten meiner Ahnen.«

»Was ist mit dem hier?« erkundigte sich der Engel und zeigte auf den Vielfraßkopf.

»Das ist mein Onkel Zanzibar. Er ist nach Grönland ausgewandert, wo er zusammen mit Erik dem Roten angekommen und geblieben ist.«

»Was für eine weitgereiste Familie Sie haben!« staunte der Engel beeindruckt. »Ich bewundere die Energie und den Eifer des Bösen. Es ist natürlich schlecht, aber trotzdem faszinierend. Übrigens, ich heiße Babriel.«

»Wenn Ihr ein Engel seid«, meldete sich Frike zu Wort, »wo sind dann Eure Flügel?«

Babriel schnallte seine Rüstung ab, unter der ein zusammengequetschtes Paar Flügel zum Vorschein kam, die sich jetzt entfalteten. Sie hatten einen wunderschönen beigen Farbton.

»Was wollen Sie?« fragte Azzie. »Ich habe eine wichtige Arbeit zu erledigen und keine Zeit, herumzutrödeln und zu quatschen.«

»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, haben mich die Mächte des Lichtes gesandt. Der Hohe Rat ist zu der Überzeugung gelangt, daß Ihr Beitrag zum Jahrtausendwettkampf von großer Bedeutung für uns ist. Und weil es ein so wichtiges Ereignis ist, schien es uns nur angemessen, einen Beobachter zu entsenden, der sich davon überzeugen soll, daß Sie nicht schummeln. Was wir Ihnen natürlich keineswegs unterstellen. Wir waren nur der Ansicht, daß es den üblichen Gepflogenheiten entspricht, Ihr Unternehmen im Auge zu behalten, womit wir Sie nicht beleidigen wollen.«

»Als ob ich nicht schon Ärger genug hätte«, knurrte Azzie. »Jetzt habe ich auch noch einen Engel am Hals, der mir ständig über die Schulter guckt.«

»Ich möchte Sie nur beobachten«, erklärte Babriel. »Wo ich herkomme, hören wir eine Menge über das Böse, aber ich habe es noch nie aus der Nähe gesehen.«

»Wo Sie herkommen, muß es ziemlich langweilig sein«, meinte Azzie.

»Das ist schon richtig. Aber es ist gut, und deshalb gefällt es uns dort natürlich. Andererseits, die Gelegenheit, einen richtigen Dämon bei der Arbeit zu beobachten, wie er Böses tut… Nun, ich muß zugeben, daß ich die Idee des Bösen aufregend finde.«

»Es gefällt Ihnen, was?« fragte Azzie.

»O nein! So weit würde ich nicht gehen. Aber es interessiert mich. Und vielleicht könnte ich Ihnen sogar ein bißchen helfen.«

»Mir? Soll das ein Witz sein?«

»Ich weiß, daß muß Ihnen seltsam vorkommen. Aber das Gute neigt von seiner Natur her dazu, hilfreich zu sein, selbst bei einem schlechten Unternehmen. Das wahre Gute hat keine Vorurteile gegen das Böse.«

»Mehr möchte ich nicht mehr über das Gute hören«, sagte Azzie. »Ich hoffe, Sie sind nicht einer von diesen Missionarstypen, der gekommen ist, um mich zur anderen Seite zu bekehren. Das wäre völlig sinnlos. Haben Sie das kapiert?«

»Ich bin davon überzeugt, Ihnen keinen Ärger zu bereiten«, erwiderte Babriel. »Und Ihre eigenen Leute waren einverstanden.«

»Ihre Schriftrolle sieht offiziell genug für mich aus«, bestätigte Azzie. »Schön, ich habe nichts dagegen. Beobachten Sie, was Sie wollen. Aber versuchen Sie ja nicht, mir einen meiner Zauber zu stehlen.«

»Ich würde mir eher den rechten Arm abhacken, als Sie zu bestehlen!« versicherte Babriel.

»Ich glaube Ihnen«, sagte Azzie. »Sie sind wirklich ein Trottel, nicht wahr? Schon gut«, fügte er schnell hinzu, als er Babriels niedergeschlagenen Gesichtsausdruck bemerkte, »das ist nun mal so meine Art, mich auszudrücken. Wir haben eine Menge Proviant in der Speisekammer. Nein, wenn ich genauer darüber nachdenke, Sie würden die Sachen wahrscheinlich nicht mögen. Frike, besorg ein paar Hühner aus dem Dorf für unseren Gast.«

»Aber ich wäre völlig damit zufrieden, mich mit allem zu begnügen, was Sie essen«, sagte Babriel.

»Nein, das wären Sie nicht«, widersprach Azzie. »Vertrauen Sie mir in diesem Punkt. Und wie kommt das Gute so voran?«

»Unser Beitrag macht gute Fortschritte«, antwortete Babriel. »Die Fundamente sind schon fertig. Quer schiff, Hauptschiff und Altarraum sind im Bau…«

»Beitrag? Was meinen Sie damit?«

»Der Beitrag des Guten zum Jahrtausendwettkampf.«

»Sie bauen irgend etwas?«

»Ja. Wir haben einen Baumeister inspiriert und ein ganzes Dorf zur Arbeit an einem gewaltigen architektonischen Projekt ermutigt. Es wird ein herrliches Gebäude werden, das der Menschheit die hohen Tugenden näher bringen wird – Wahrheit, Schönheit, Gütigkeit…«

»Wie nennen Sie das Ding?«

»Uns gefällt die Bezeichnung ›gotische Kathedrale‹.«

»Hmm. Schön, schön. Haben Ihre Leute ebenfalls einen Beobachter am Hals?«

»Ja. Bestialial kümmert sich darum.«

Azzie schnaubte abfällig. »Nicht gerade ein Mann für den Außendienst. Eher ein typischer Schreibtischhengst. Aber trotzdem ganz brauchbar, denke ich, wenn er aufpaßt. Sie glauben also, es wäre ein guter Beitrag?«

»O ja, wir sind damit sehr glücklich«, versicherte Babriel. »Und Glück zu bringen, ist schließlich die Aufgabe des Guten. Aber Sie kennen ja das Sprichwort: ›Es ist gut, aber es könnte noch besser werden.‹«

»Genauso ist es mit dem Bösen«, gab Azzie zurück. »Kommen Sie mit ins Arbeitszimmer. Ich spendiere Ihnen einen Schluck Jauche.«

»Ich habe schon davon gehört, es aber noch nie probiert«, sagte Babriel. »Hat es eine berauschende Wirkung?«

»Es erfüllt seinen Zweck«, erklärte Azzie. »Wie das Leben eben so ist, meine ich.«

Babriel fand diese letzte Bemerkung ziemlich unverständlich – vorsichtig ausgedrückt. Aber wann hat das Gute schon jemals das Böse verstanden? Er folgte Azzie in das Arbeitszimmer.

»Also schön«, sagte Azzie, »wenn Sie bleiben müssen, dann bleiben Sie. Ich nehme an, Sie wollen hier in meinem Haus wohnen?«

»Es würde mir meine Aufgabe erleichtern«, erwiderte Babriel. »Ich könnte Miete zahlen…«

»Halten Sie mich für eine Krämerseele?« unterbrach ihn Azzie beleidigt, obwohl ihm der Gedanke, eine Miete zu verlangen, tatsächlich durch den Kopf gegangen war. »Sie sind mein Gast. Wo ich herkomme, ist die Gastfreundschaft heilig.«

»So ist es auch dort, wo ich herkomme«, sagte Babriel.

»Kunststück!« schnaubte Azzie geringschätzig. »Für eine Kreatur des Lichtes ist es selbstverständlich, das Gastrecht heilig zu halten, für eine Kreatur der Finsternis hingegen ist so etwas sehr bemerkenswert.«

»Genau das wollte ich gerade selbst sagen«, meinte Babriel.

»Versuchen Sie nicht, sich bei mir einzuschmeicheln«, warnte Azzie. »Ich kenne die Tricks. Und ich verabscheue Sie und alles, wofür Sie eintreten.«

»Genau so sollte es auch sein«, versicherte Babriel lächelnd.

»Sie verabscheuen mich also ebenfalls?«

»Aber ganz und gar nicht! Ich meinte bloß, daß es so für Sie sein sollte. Sie sind das, was unsere Erzengel ein Original nennen. Es ist ein Privileg für mich, Sie in ihrem natürlichen Verhalten beobachten zu dürfen.«

»Schmeichelein werden Ihnen nichts einbringen«, sagte Azzie, mußte jedoch zu seinem Ärger feststellen, daß er Babriel irgendwie mochte. Er würde etwas dagegen unternehmen müssen! »Zeig ihm das kleine Zimmer im Dachgeschoß«, wies er Frike an.

Frike ergriff eine alte Öllampe und ging tief gebeugt voran. Sein Stock klapperte über den Boden, und sein Buckel ragte wie ein Wal in die Höhe, der aus dem Wasser auftaucht. Gefolgt von Babriel, kletterte er die Stufen hinauf.

Die Treppe zog sich endlos dahin, an gebohnerten Fluren und den Räumen der unteren Geschosse entlang. Je höher sie stiegen, desto steiler und schmaler wurde die Treppe. Hier und da fehlte die eine oder andere Trittstufe. Frike humpelte unablässig gebückt weiter, während Babriel, der groß war und sich aufrecht hielt, den Kopf einziehen mußte, um nicht gegen die niedrig angebrachten Deckenbalken zu stoßen. Sein weißer Umhang schimmerte schwach im Licht der Öllampe.

Schließlich erreichten sie den letzten Treppenabsatz dicht unter dem Dach des hohen Hauses. Am Ende eines kurzen düsteren Flurs war eine Tür. Frike öffnete sie und trat mit der Lampe ein. Im flackernden gelblichen Licht erkannte Babriel eine kleine Stube mit einer so niedrigen Decke, daß er nicht aufrecht stehen konnte. An einer der schrägen Deckenwände war ein winziges vergittertes Fenster angebracht. Das Zimmer enthielt ein eisernes Bettgestell und ein kleines Nachtschränkchen. Der gesamte Raum war kaum länger als das Bettgestell, der Boden mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Es roch nach läufigen Katzen und uralten Motten.

»Sehr hübsch«, stellte Babriel fest.

»Vielleicht ein wenig klein«, meinte Frike. »Vielleicht solltet Ihr den Gebieter bitten, Euch ein Zimmer im dritten Stock zu geben.«

»Nicht nötig«, erwiderte Babriel. »Das wird vollkommen ausreichen.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.

»Wer ist da?« fragte Frike.

»Übernatürlicher Lieferdienst. Eine Zustellung für den Engel Babriel.«

»Ah, vielen Dank«, sagte Babriel. Er öffnete die Tür. Vor ihm stand ein Mann mittlerer Größe, der eine Botenmütze trug. Er reichte Babriel ein Blatt Papier und einen Stift. Der Engel unterschrieb den Lieferschein und gab ihn zurück, worauf der Lieferant an einer Haarsträhne zupfte und verschwand.

»Mein Gepäck«, erklärte Babriel. »Wo soll ich es abstellen?«

Frike sah sich skeptisch um. »Vielleicht auf Eurem Bett. Aber dann hättet Ihr keine Schlafstelle mehr.«

»Das wird sich schon finden«, sagte Babriel und zog seinen Koffer in das Zimmer. Es war ein ziemlich großer Koffer, und der einzige Stauraum war tatsächlich das Bett, da Babriel und Frike den größten Teil des restlichen Zimmers einnahmen.

Babriel musterte den Verschlag und fragte: »Denkt Ihr, der Koffer paßt in diese Ecke?«

Frike betrachtete den spitzen Winkel, wo sich die Wände trafen. »Ihr könntet nicht einmal eine tote Maus in diese Ecke quetschen, geschweige denn einen solch großen Koffer.«

»Probieren wir es trotzdem«, schlug Babriel vor. Er nahm den Koffer vom Bett und schob ihn in die Ecke. Obwohl zwischen dem Bettende und der Zimmerecke nur eine Handbreit Platz war, rutschte der Koffer immer weiter. Statt ihn aufzuhalten, beulte sich die Wand nach außen aus, und die anderen Wände wichen im gleichen Maß zurück. Auch die Decke hob sich, und schon bald befand sich Frike nicht mehr in der winzigen Kammer, die er gerade erst betreten hatte, sondern in einem relativ geräumigen Zimmer.

»Wie habt Ihr das gemacht?« wollte er wissen.

»Nur so ein kleiner Trick, wie man ihn aufschnappt, wenn man viel in der Welt herumkommt«, erwiderte Babriel bescheiden.

Der Raum war nicht nur größer, sondern aus einem nicht sofort ersichtlichen Grund auch heller geworden. Frikes Augen weiteten sich, als er ein merkwürdiges raschelndes Geräusch zu seinen Füßen hörte. Als er die Quelle ausfindig machen wollte, sah er irgend etwas Kleines, ungefähr so groß wie eine Ratte, aus seinem Blickfeld huschen. Er blinzelte und erkannte, daß der Fußboden, der fingertief mit Staub und Katzendreck bedeckt gewesen war, jetzt wie frisch gewischt und poliert glänzte. Ihn überkam ein Anflug von Panik.

»Ich werde dem Gebieter ausrichten, daß Ihr Euch gut eingerichtet habt«, sagte er und eilte davon.

Fünf Minuten später erschien Azzie in Babriels Zimmer. Er fand es doppelt so groß wie beim letzten Mal vor, von hellem Licht durchflutet, hübsch eingerichtet und nach Weihrauch und Myrrhe duftend. In einer der Seitenwände entdeckte er eine neue Tür, die in ein schön gekacheltes Badezimmer führte, von dem er verdammt genau wußte, daß es vorher noch nicht dort gewesen war.

Darüber hinaus enthielt das Zimmer jetzt einen Kleiderschrank, dessen Türen offenstanden. Darin hingen Dutzende von Babriels Uniformen in den unterschiedlichsten Schnitten und Ausführungen, einige mit Medaillen, die meisten mit übergroßen Kragen und weiten Ärmeln. Babriel war in eine dieser in Weiß und Silber gehaltenen Uniformen geschlüpft, zu denen eine spitze Kappe gehörte. Azzie fand, daß der Engel darin so lächerlich aussah, daß er beinahe schon wieder ehrfurchtgebietend erschien.

»Es freut mich zu sehen, daß Sie sich häuslich eingerichtet haben«, sagte er.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, das Zimmer ein wenig herzurichten. Aber vor meiner Abreise werde ich es gern wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen.«

»Machen Sie sich deswegen keinen Umstände«, erwiderte Azzie. »Hätte ich gewußt, daß Sie etwas Schickes wollen, hätten Sie etwas Schickes bekommen. Was ist das?« Er deutete auf ein rechteckiges perlmutt- und goldfarbenes Gebilde, das an Babriels Gürtel baumelte.

»Ach, das. Das ist mein Telefon«, erklärte der Engel. »Damit ich mit dem Hauptquartier in Verbindung bleiben kann.«

Azzie starrte das Ding finster an. »Unsere sind noch nicht einmal ausgeliefert worden«, beschwerte er sich.

»Es wird Ihnen gefallen, sobald Sie eins bekommen«, versicherte Babriel.

KAPITEL 7

Das Septemberwetter war ruhig und schön. Azzie gewöhnte sich immer mehr daran, Babriel in seinem Haus zu beherbergen. Das Zimmer des Engels dehnte sich ständig weiter aus, bis Azzie ihn bitten mußte, das Wachstum einzugrenzen, weil es durch sein Gewicht und seine Hebelwirkung drohte, das gesamte Haus umkippen zu lassen.

Auch die Ausbildung des Märchenprinzen ging weiter. Der junge Mann schien an Selbstbewußtsein zu gewinnen. Azzie hatte ihm eine Auswahl der verschiedensten Kräuterextrakte und andere exotische Mittel verabreicht, wie zum Beispiel das pulverisierte Horn eines Einhorns, getrocknete Todesfeenscheiße und destillierten Leichenschweiß. Mittlerweile war der Prinz in der Lage, mit den Holzschwertern gegen Frike zu bestehen, auch wenn der Diener mit seinem lahmen linken Arm focht, um die Kämpfe ausgeglichener zu gestalten. Der Jüngling machte eindeutige Fortschritte. Trotzdem war es schwer vorherzusagen, wann er bereit sein würde, einem echten Feind gegenüberzutreten.

Es waren ruhige Tage und Nächte. Azzie bedauerte nur, daß Ylith nicht da war. Es hatte sich jedoch als notwendig erwiesen, sie im verzauberten Schloß zurückzulassen, um auf Prinzessin Rosenrot aufzupassen, deren rebellische Art noch immer ein gewisses Problem darstellte.

Eines Abends, als Azzie im Wohnzimmer saß, seine Pfeife rauchte und einen kleinen Imbiß aus Vielfraßherzen in Jakhaarsoße verzehrte, klang ein gewaltiger Lärm über ihm auf. Babriel, der in einem seiner endlosen Ratgeber zum Thema »Wie man Gutes tut« las, hob verblüfft den Kopf, als er das Geräusch von Hufen auf dem Dach vernahm. Dann folgte ein schleifender Laut, in den sich Flüche mischten. Der Lärm setzte sich durch den Schornstein fort. Jetzt konnte Azzie ein lautes Stöhnen und Ächzen hören, und schließlich arbeitete sich irgend etwas Großes zum Kamin vor.

Zum Glück herrschte mildes Septemberwetter, so daß kein Feuer im Kamin brannte. Der Weihnachtsmann quetschte sich ins Freie. Seine rote Kleidung wies einige schwarze Flecken auf, die Quastenmütze saß ihm schief auf dem Kopf, und auf seinem rußverschmierten Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck.

»Warum haben Sie die Belüftungsklappen geschlossen?« wollte er wissen. »Das erschwert den Weg ganz erheblich. Außerdem ist der Schornstein schon seit Jahren nicht mehr gereinigt worden.«

»Tut mir leid, Nikolaus«, erwiderte Azzie. »Ich habe Sie zu dieser Jahreszeit nicht erwartet. Nicht, daß Sie uns Dämonen überhaupt öfters besuchen würden.«

»Das liegt daran, daß unsere Satzung uns vorschreibt, in erster Linie den Menschen Geschenke zu bringen. Und es werden täglich mehr.«

»Das kann ich verstehen«, versicherte Azzie. »Wir Dämonen haben sowieso unsere eigenen Sitten, was Geben und Nehmen angeht. Aber warum sind Sie gekommen? Wenn dies ein Höflichkeitsbesuch ist, hätten Sie auch die Vordertür benutzen können.«

»Dies ist kein privater, sondern ein geschäftlicher Besuch«, stellte der Weihnachtsmann klar. »Ich habe eine Eilzustellung für eine junge Dame, die diese Adresse angegeben hat. Sie heißt Ylith. Ist sie da?«

»Sie befindet sich in meinem Schloß«, sagte Azzie. »Könnte ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

»Sie können diese Lieferung für sie entgegennehmen.« Der Nikolaus zog ein großes, in farbenfrohes Papier eingeschlagenes Paket aus seinem Sack hervor.

»Sicher, ist mir ein Vergnügen.«

»Sorgen Sie auch bestimmt dafür, daß sie es bekommt?« vergewisserte sich der Nikolaus. »Es ist für ein kleines Mädchen namens Brigitte. Ylith hat es ihm versprochen.«

»Ich kümmere mich darum.«

»Vielen Dank«, sagte der Weihnachtsmann. »Ich habe Ylith gegenüber erwähnt, wie einsam es am Nordpol ist. Sie hatte zugesagt, mir ein paar Hexen vorbeizuschicken, denen ich Geschenke geben und ein paar vergnügliche Stunden bereiten wollte.«

»Hexen werden immer überschätzt. Sie würden Ihnen nicht gefallen.«

»So, meinen Sie? Bevor Sie eine Hexe zurückweisen, sollten Sie sich mal über einen längeren Zeitraum hinweg ausschließlich auf Elfen beschränken. Also dann, ich muß weiter.«

Azzie begleitete den Weihnachtsmann zur Vordertür. Er sah zu, wie der Nikolaus am Blumenspalier zum Dach hinaufkletterte, wobei er sich ziemlich gewandt für einen Mann mit seiner Körperfülle bewegte. Kurz darauf klang das Klappern von Hufen auf. Dann herrschte wieder Stille.

Der Dämon kehrte ins Haus zurück und öffnete das Paket.

Es enthielt ein winziges Gutshaus mit einem Bauernhof. Alles war hübsch mit kleinen Menschen- und Tierpuppen bevölkert und mit winzigen Fenstern, Spiegeln, Tischen und Stühlen versehen.

»Irgendwie scheint mir nur noch eine kleine Guillotine zu fehlen«, überlegte Azzie laut. »Mal sehen, ich hatte doch noch irgendwo eine rumliegen…«

PSYCHOLOGIE

KAPITEL 1

Während der nächsten Tage machte der Märchenprinz weitere Fortschritte in der Kunst des Fechtens, allerdings nur, solange alles nach Plan verlief. Schon die kleinste Abweichung überraschte ihn und störte seine Koordination. Er war wirklich sehr leicht abzulenken. Bei jedem Vogelruf oder dem Geräusch einer zuschlagenden Tür ruckte sein Kopf herum. Unebenheiten des Bodens bedrohten sein Gleichgewicht. Jeder Schritt nach vorn, den er machte, erweckte den Eindruck, als wiche er in Wirklichkeit zurück. Jeder plötzliche Windstoß ließ ihn die Augen zusammenkneifen.

Doch es war in erster Linie seine Feigheit, die Azzie Sorgen machte, denn er wußte, daß sie der eigentliche Grund für alle anderen Zeichen von Unfähigkeit war.

Babriel sah sich die Sache lange Zeit kommentarlos an, auch wenn er jedes Mal über die Ungeschicklichkeit des jungen Mannes oder die Art, wie der Prinz erschrak, sobald Frike sein Schwert hob, zusammenzuckte.

»Wo genau liegt sein Problem?« erkundigte er sich schließlich.

»Es ist das Herz eines Feiglings, das ich ihm gegeben habe. Anstatt ihm die nötige Vorsicht zu verleihen, wie es meine Absicht war, erfüllt es seinen gesamten Körper mit Angst.«

»Aber wenn er so ängstlich ist, wie soll er dann in sein Abenteuer ziehen?«

»Mittlerweile bezweifle ich, daß er überhaupt losziehen wird«, sagte Azzie. »Ich versuche, ihn zu motivieren, aber nichts funktioniert. Es scheint, als wäre ich gescheitert, noch bevor ich überhaupt begonnen habe.«

»Du liebe Güte«, seufzte Babriel.

»Ja, das kann man wohl sagen, und noch einiges mehr.«

»Aber Ihr Wettbewerbsbeitrag, das Märchen, das Sie aufführen wollen…«

»Aus und vorbei, Schluß, in den Sand gesetzt, connsumatus est und so weiter.«

»Das scheint mir ziemlich ungerecht«, stellte Babriel fest, »Aber warum die Flinte so schnell ins Korn werfen? Ich meine, Mist, zum Teufel damit, können Sie denn gar nichts dagegen tun?«

»Ich brauchte etwas Mutia für ihn, aber meine Leute aus der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör scheinen es nicht finden zu können.«

»Das können sie nicht? Muß ein ziemlich lahmer Haufen sein, wenn ich mich nicht irre. Mal sehen, was meine Leute tun können.«

Azzie starrte ihn an. »Sie würden mir Mutia besorgen?«

»Das habe ich Ihnen gerade vorgeschlagen«, bestätigte Babriel.

»Aber das wäre nicht gut für Sie!«

»Lassen Sie das meine Sorge sein«, erwiderte Babriel. »Sie sind so ein netter Gastgeber, und ich denke, ich bin Ihnen etwas schuldig. Und außerdem, das Spiel muß weitergehen, was?«

Er stand auf, wobei er den Kopf einziehen mußte, weil sie unter einem niedrigen, mit Weinranken bewachsenen Bogengang gesessen hatten. Babriel griff in eine Tasche und kramte eine Kreditkarte aus Plastik hervor. Sie sah Azzies Karte sehr ähnlich, nur war sie weiß statt pechschwarz. Auf einer Seite war die Sternenkonstellation abgebildet, die zum Ende des Jahrtausends eintreten würde. Babriel blickte sich nach einer geeigneten Stelle um, um seine Karte einzuführen, konnte aber keine entdecken.

»Machen wir einen kleinen Spaziergang«, schlug er vor. »Vielleicht gibt es dort draußen… Ah, da ist ja schon ein Lorbeerbaum. Die sind immer gut.« Er fand einen Riß in der Rinde und schob seine Karte hinein.

»Und was soll jetzt passieren?« fragte Azzie.

»Geben Sie ihnen einen Moment Zeit.«, sagte Babriel, »Dies ist ein ungewöhnlicher Ort für einen Engel des Lichtes, um Kontakt aufzunehmen.«

»Wie geht es mit der gotischen Kathedrale voran?« erkundigte sich Azzie.

»Die Mauern sind schon sehr viel höher«, erwiderte Babriel.

Plötzlich ertönte ein leiser Knall, gefolgt von einem Glockenspiel und Trompetenfanfaren, und vor ihnen erschien eine Angestellte der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör von der Fraktion der Mächte des Lichtes, eine junge blonde Frau. Sie trug ein schlichtes weißes Gewand, aber Azzie entging trotzdem nicht, daß sie ziemlich hübsch war. Es würde bestimmt Spaß machen, sich mit ihr zu vergnügen. Er schob sich an sie heran und begann, eine uralte Melodie mit dem Titel »Die Nacht, als ein Sünder einen Engel traf« zu summen.

Der weibliche Engel versetzte ihm einen kräftigen Schlag mit einem kleinen Auftragsbuch. »Benehmen Sie sich gefälligst«, wies sie ihn mit einer wohlklingenden Stimme zurecht, die Azzie verriet, daß sie es zwar ernst meinte, ihm sein Verhalten aber nicht übelnahm. Dann wandte sie sich Babriel zu und fragte: »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Azzie wollte ihr gerade erklären, wie sie ihm helfen könnte, aber Babriel legte warnend die Stirn in Falten und sagte: »Was ich brauche, liebe Person, ist eine Dosis Mutia, das von den Sterblichen für die Steigerung ihrer Tapferkeit benutzt wird.«

»Ich wußte, daß Sie es für einen Sterblichen brauchen«, stellte die Abteilungsangestellte fest. »Mir hat schon der erste Blick genügt, um zu sehen, daß es Ihnen nicht an Mut mangelt.«

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen«, erwiderte Babriel. »Gelobt sei der Herr!«

»Gelobt sei Sie!« gab die Angestellte zurück.

»Was?« fragte Azzie. »Man hat mich bisher immer in dem Glauben gelassen…«

»Wir benutzen abwechselnd die Bezeichnungen ›Er‹ und ›Sie‹, wenn wir von dem Allmächtigen Prinzip des Guten sprechen«, erklärte Babriel.

»Manchmal sagen wir auch ›Es‹«, fügte die Angestellte hinzu. »Nicht, daß wir glauben, Sie wäre ein Es, aber wir bemühen uns, keine Vorurteile zu zeigen.«

»Können Sie sich nicht für eine Version entscheiden?« wollte Azzie wissen.

»Es macht keinen Unterschied«, sagte die junge Frau. »Das Allmächtige Gute steht jenseits jeder Sexualität.«

»Das entspricht nicht dem, was wir gelehrt werden«, entgegnete Azzie. »Nach Ansicht unserer Experten ist die Sexualität die höchste Ausdrucksform des Bösen, besonders wenn sie gut ist. Genau so, wie es zwischen uns beiden sein könnte, Baby.« Bei den letzten Worten wurde seine Stimme heiser, und er verströmte einen intensiven Mochusgeruch.

Die Angestellte verzog das Gesicht, strich sich über das Haar und wandte sich an Babriel. »Könnten Sie diesen abstoßenden Geist des Bösen, der mich mit unverhüllter Lüsternheit anstarrt, nicht in seine Schranken verweisen?«

»Oh, ähm, so ist Azzie nun einmal«, erwiderte Babriel. »Er ist ein Dämon, Sie verstehen. Von Dämonen wird erwartet, daß sie sich so verhalten: unverschämt und lüstern. Arme Seele, er kennt es nicht anders. Aber selbst für Dämonen ist die Erlösung nicht völlig unmöglich.«

»Gelobt sei der Herr!« rief die Angestellte.

»Gelobt sei Er!« schloß sich Babriel ihr an.

»Hört mal, ihr zwei, könnten wir vielleicht auf das ganze Hosianna verzichten und uns jetzt um das Zeug kümmern, das ich brauche?« warf Azzie ein. »Sie können ja später in Ihrer freien Zeit rumturteln.«

»Was für schreckliche Dinge Sie da sagen!« stieß die Angestellte errötend hervor und wandte den Blick ab. »Ich werde nach dem Mutia sehen. Warten Sie hier.« Sie verschwand auf bezaubernde Weise.

»Sie haben nettere Angestellte als wir«, stellte Azzie fest.

»Das liegt daran, daß unter der Herrschaft des Guten alle Geschöpfe gleich sind. Da wir sowieso warten müssen, gönnte ich Ihnen vielleicht einige der grundlegenden Punkte unserer Doktrin erläutern.«

»Sparen Sie sich die Mühe«, wehrte Azzie ab. »Ich werde ein kleines Nickerchen machen.«

»Fällt Ihnen das so leicht?«

»Das Böse ist dafür bekannt, stets wachsam zu sein«, antwortete Azzie. »Es sei denn, es langweilt sich.«

Er schloß die Augen. Kurz darauf verrieten seine gleichmäßigen Atemzüge, daß er entweder eingeschlafen war oder es zumindest überzeugend vortäuschte.

Babriel, der sich selbst überlassen blieb, sprach ein ellenlanges Gebet, in dem er um die Bekehrung und Erlösung sämtlicher Geschöpfe bat, einschließlich der Dämonen. Als er es beendete hatte, kehrte die Angestellte zurück.

»Ich habe ein Extrakt von Mutia«, verkündete sie und überreichte Babriel ein kleines Fläschchen, in dem verschiedene Farben schwach funkelten – rot, violett, gelb und blau.

»Großartig«, sagte Babriel. »Wir danken Ihnen. Sie waren äußerst höflich, hilfreich, freundlich…«

»Lassen Sie uns loslegen«, unterbrach Azzie. »Herzlichen Dank, Baby. Sollten Sie es sich jemals anders überlegen…«

Die Abteilungsangestellte verschwand in einer Wolke der Empörung.

Azzie begab sich in die Küche, um Frike zu erklären, wie er das Mutia unter die Lauchcremesuppe des Märchenprinzen mischen sollte. Auch wenn er Babriel dafür dankbar war, ihm die Substanz besorgt zu haben, blieb er doch zutiefst mißtrauisch. Warum war der Engel so hilfsbereit gewesen? Reine Großzügigkeit schien ihm kein ausreichender Grund zu sein. Waren Engel fähig, ein doppeltes Spiel zu spielen? Was hatte Babriel vor?

KAPITEL 2

An diesem Abend verabreichte Azzie dem Märchenprinzen eine Dosis Mutia, und sein Schützling zeigte bemerkenswerte Fortschritte. Im Lauf der nächsten Tage nahmen seine Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert und seine Angriffslust ständig zu, während sein Interesse an den Puppen erlosch.

Azzie schien der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, die Sprache wieder auf die bevorstehende Mission des Prinzen zu bringen.

»Ich möchte mich noch einmal mit dir über deine Zukunft unterhalten«, sagte er eines ruhigen Nachmittags, als er zusammen mit dem Märchenprinzen im großen Wohnzimmer seines Anwesens saß.

»Ja, Onkel?«

»Erinnerst du dich noch daran, was ich dir von der Schlummernden Prinzessin erzählt habe?« fragte Azzie. »Es wird allmählich Zeit, daß du dich auf den Weg zu ihr machst.«

»Ich hätte nichts dagegen, mich an einem königlichen Hof herumzutreiben«, sagte der Märchenprinz.

»Schlag dir das aus dem Kopf. Was vor dir liegt, ist ein großes Abenteuer.«

»Das ist schön, Onkel. Aber weißt du, ich habe mich gefragt, warum ich sie überhaupt finden, küssen und all das tun soll.«

Azzie schlug einen äußerst bedeutsamen Tonfall an. »Mein Junge, vor langer Zeit wurde niedergeschrieben, daß nur ein Kuß auf den Mund von ihrem wahren Geliebten die Prinzessin aus ihrem Schlaf befreien kann.«

»Hoffentlich klappt das auch«, murmelte der Prinz.

»Natürlich wird es das! Du, mein Märchenprinz, bist der vom Schicksal auserkorene Geliebte und spätere Ehemann dieser holden Maid.«

»Bist du dir wirklich sicher, daß ich damit gemeint bin, Onkel? Ich meine, woher weißt du, daß das nicht das Abenteuer irgendeines anderen Burschen ist?«

»Weil es so geschrieben steht.«

»Wo?«

»Das braucht dich nicht zu interessieren«, sagte Azzie. »Nimm einfach mein Wort darauf. Wenn ich sage, daß es so geschrieben steht, dann steht es auch so geschrieben. Mein Junge, du bist ein sehr glücklicher Jüngling. Prinzessin Rosenrot ist das schönste aller Mädchen, und sie bringt eine stattliche Mitgift mit. Es wird sich schwierig und gefährlich gestalten, zu ihr zu gelangen, aber ich weiß, daß du es schaffen wir st.«

»Wie schwierig? Wie gefährlich?«

»Es gibt da einen verzauberten Wald, den du durchqueren mußt«, erklärte Azzie. »Du mußt gegen verschiedene Wesen kämpfen, die in diesem Wald hausen. Dann ist da ein gläserner Berg, den du irgendwie besteigen mußt.«

»Das hört sich außerordentlich schwierig an«, meinte der Märchenprinz. »Ein gläserner Berg, was? Vielleicht könnte ich es schaffen, aber ich weiß es nicht.«

»Ich werde dafür sorgen, daß dir nichts zustößt«, versprach Azzie. »Vertrau deinem alten Onkel Azzie. Habe ich dich jemals in Schwierigkeiten gebracht?«

»Und dazu wirst du auch diesmal keine Gelegenheit bekommen«, erwiderte der Prinz. »Ich werde die Reise nämlich nicht antreten.«

»Sieh dir wenigstens mal ihr Bild an«, bat Azzie und zeigte dem Märchenprinzen das Miniaturgemälde. »Na, was meinst du?«

»Sie sieht ganz passabel aus«, sagte der Prinz in einem völlig gleichgültigen Tonfall.

»Hübsch, was?« hakte Azzie nach.

»Auf eine gewöhnliche Art.«

»Schöne strahlende Augen, oder?«

»Zweifellos astigmatisch.«

»Und erst der Mund!«

»Ein normaler Mund«, sagte der Prinz.

»Winzig und zart!«

»Ziemlich klein«, räumte der Jüngling ein.

»Sie ist bezaubernd, nicht wahr?«

»Sie ist ganz in Ordnung, nehme ich an«, entgegnete der Märchenprinz. »Aber ich bin noch zu jung, um jetzt schon für den Rest meines Lebens eine Prinzessin am Hals zu haben. Ich hatte ja noch nicht mal eine Verabredung.«

Sein fehlendes Interesse war erschreckend. Damit hatte Azzie nicht gerechnet. Als ein einigermaßen typischer Dämon befand er sich gewöhnlich in einer lüsternen Stimmung. Die bloße Vorstellung, daß sich der Prinz so blasiert gegenüber der wunderschönen Prinzessin verhalten konnte, erstaunte ihn. Außerdem ärgerte es ihn, und wenn er genauer darüber nachdachte, machte er sich Sorgen.

Vergeblich versuchte er, auf die Reize der Prinzessin hinzuweisen. Der Märchenprinz begegnete ihnen mit einer verheerenden Gleichgültigkeit, die Azzies Gefühle verletzte, denn schließlich war Prinzessin Rosenrot seine Schöpfung. Anderseits aber konnte er dem Prinzen deswegen nicht allzu böse sein, da er ihn ebenfalls erschaffen hatte und deshalb mehr oder weniger selbst für dessen Einstellung verantwortlich war.

Die Dinge nahmen einen Verlauf, den Azzie nicht erwartet hatte. Ihm war nie in den Sinn gekommen, daß sein Prinz sich nicht augenblicklich in Prinzessin Rosenrot verlieben könnte. Nachdem seine Feigheit jetzt einigermaßen unter Kontrolle war, schien er sich als Romantikmuffel zu erweisen.

»Verdammt!« stieß Azzie hervor und knirschte mit den Zähnen. »Oh, verdammt! Noch ein Konstruktionsfehler!«

Es war eine höllische Situation.

KAPITEL 3

An diesem Abend schaffte er sich den Märchenprinzen durch einen magischen Schlaf vom Hals. Dann eilte er in sein Beschwörungszimmer, wo Frike summend damit beschäftigt war, Phiolen mit Agius regae, Blutwurz, Stinkender Nieswurz und anderen Kräutern und Substanzen abzustauben, die für zauberkundige Dämonen von Nutzen sind.

»Stell den Mist zur Seite«, befahl Azzie. »Ich muß eine Beschwörung machen. Bring mir einen Zehntelliter Fledermausblut, ein paar Dämonenwarzen und eine Achtelpinte Schwarze Nieswurz.«

»Wir haben keine Schwarze Nieswurz mehr«, sagte Frike. »Geht es auch mit Krötenwarzen oder irgend etwas anderem?«

»Ich dachte, ich hätte dir aufgetragen, für ausreichende Vorräte zu sorgen.«

»Es tut mir leid, Gebieter. Ich habe Geschmack daran gefunden.«

Azzie schnaubte. »Das Zeug hemmt dein Wachstum und läßt dir Haare aus den Handflächen sprießen«, behauptete er. »Dann bring mir etwas von den Heliogabuluswurzeln. Das muß dann eben reichen.«

Frike holte die Wurzeln und legte sie nach Azzies Anweisungen um ein Pentagramm aus Perlmutt, das in den Steinfußboden eingelassen war. Er zündete die schwarzen Kerzen an, worauf Azzie einen Beschwörungsgesang anstimmte. Die Wörter enthielten eine Menge doppelter abgehackter Kehllaute, die für die uralte Sprache des Bösen typisch sind. Bald darauf stiegen graue und purpurrote Rauchfäden aus dem Kreis auf. Sie dehnten sich aus, wurden dichter und höher und verfestigten sich schließlich zu der hochgewachsenen Gestalt von Hermes Trismegistus.

»Heil dir, du Großer«, sagte Azzie.

»Hallo, Kleiner«, erwiderte Hermes. »Was hast du für ein Problem?«

Azzie berichtete von seinen Schwierigkeiten mit dem Märchenprinzen.

»Es war ein Fehler, ihm von der Prinzessin zu erzählen, Azzie«, erklärte Hermes. »Du hast irrtümlicherweise angenommen, daß die Dinge im richtigen Leben genauso wie im Märchen ablaufen, daß der Märchenprinz sich nach einem Blick auf das Miniaturgemälde unsterblich in Prinzessin Rosenrot verlieben würde.«

»Passiert es denn nicht auf diese Weise?«

»Nur im Märchen.«

»Aber das ist ein Märchen!«

»Nein, noch ist es das nicht«, stellte Hermes klar. »Wenn alles vorbei ist und die Geschichte von einem Barden nacherzählt wird, dann ist es ein Märchen. Im Augenblick treffen diese Voraussetzungen noch nicht zu. Du kannst nicht einfach einem jungen Mann ein Bild zeigen und erwarten, daß er sich in die Abbildung verliebt. Du mußt Psychologie einsetzen.«

»Ist das ein besonderer Zauber?« fragte Azzie.

Hermes schüttelte den rauchumwölkten Kopf. »Es ist etwas, das wir eine Wissenschaft nennen, die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten. Noch gibt es nichts Vergleichbares auf der Welt, was auch der Grund ist, warum alle Menschen so wankelmütig sind. Sie wissen nicht, warum sie was tun, eben weil es keine Psychologie gibt.«

»Gut, und was soll ich jetzt tun?«

»Zuerst mußt du alle Erinnerungen des Märchenprinzen an das löschen, was du ihm über Rosenrot erzählt hast. Das kannst du mit einer kleinen Dosis Lethewasser erreichen. Nimm nicht zuviel, gerade genug, daß er seine letzten Gespräche mit dir vergißt.«

»Und dann?«

»Das erzähle ich dir danach.«

Es bereitete keine Schwierigkeiten, Lethewasser zu beschaffen. Hermes brachte es in einem kleinen Kristallfläschchen, und Azzie verabreichte es dem Märchenprinzen. An diesem Abend aßen Azzie und sein Zögling gemeinsam im großen walnußholzgetäfelten Speisesaal. Frike servierte, wobei er wie üblich durch seinen hinkenden Gang etwas Suppe verschüttete.

»Übrigens, Prinz, ich werde für eine Weile verreisen«, sagte Azzie, nachdem der dampfende Braten abgeräumt war und sie den Nachtisch in Form von Cremekuchen verspeist hatten.

»Wohin, Onkel?«

»Ich habe einige Geschäfte zu erledigen.«

»Was für Geschäfte, Onkel?«

»Meine Geschäfte brauchen dich nicht zu interessieren. Frike! Bring mir die Schlüssel!«

Frike humpelte davon und schlurfte mit einem großen Schlüsselbund zurück, der an einem Eisenring befestigt war.

»Paß jetzt genau auf, Prinz«, sagte Azzie. »Ich vertraue die Schlüssel des Anwesens deiner Obhut an. Der große hier ist für die Vordertür. Der kleine öffnet die Hintertür und der andere kleine die Stalltür. Das ist der Schlüssel für den Keller, wo wir den Wein, das Bier und das Pökelfleisch aufbewahren. Dieser hier mit den Schnörkeln ist für meine Truhe mit den Zaubermitteln. Wenn du willst, kannst du mit ihnen spielen, sie sind zur Zeit nicht geladen.«

»Ja, Onkel.« Der Märchenprinz nahm den Bund entgegen. Ein kleiner Silber Schlüssel mit feinen Verzierungen auf dem Schaft erregte seine Aufmerksamkeit. »Was ist mit dem da?« wollte er wissen.

»Ach, der«, sagte Azzie. »Habe ich ihn am Schlüsselring gelassen?«

»Ja, Onkel.«

»Nun, benutz ihn nicht.«

»Aber wofür ist er?«

»Für die kleine Tür am Ende meines Schlafzimmers. Und mit dem anderen Ende kann man eine kleine Eichenholzkiste mit Bronzeverschlägen im Raum dahinter öffnen. Aber du darfst nicht durch diese Tür gehen, und du darfst die Truhe nicht öffnen.«

»Warum nicht, Onkel?«

»Es würde zu lange dauern, es dir zu erklären«, erwiderte Azzie.

»Ich habe viel Zeit«, sagte der Märchenprinz.

»Die hast du allerdings, und es ist auch alles, was du hast, nicht wahr? Aber ich habe keine Zeit. Ich muß sofort aufbrechen. Glaub mir einfach, es hätte keine guten Auswirkungen, wenn du diese Tür öffnen würdest. Tu es also nicht.«

»Ja, Onkel.«

»Pfadfinderehrenwort?«

Der Märchenprinz hob die rechte Hand zum Gruß der Pfadfinder der Ritterschaft, einer neuen Organisation für junge Ritter in der Ausbildung. »Ich schwöre, Onkel.«

»Guter Junge. Und jetzt muß ich los. Leb wohl, Bursche.«

»Leb wohl, Onkel.«

Der Prinz begleitete Azzie zum Stall, wo dieser einen feurigen Araberhengst bestieg.

»Ganz ruhig, Belshazzar!« rief Azzie. »Nochmals, leb wohl, Neffe. Ich bin in ein paar Tagen zurück, spätestens in einer Woche.«

Der Märchenprinz und Frike winkten ihm hinterher, bis er außer Sicht verschwunden war.

Eine Stunde später (eine kurze Stunde später, da die Sanduhr ziemlich schnell lief) sagte der Prinz zu Frike: »Mir ist langweilig.«

»Noch eine Runde Rheumie?« fragte Frike und mischte die Karten.

»Nein, ich habe keine Lust mehr auf Kartenspiele.«

»Was möchtet Ihr denn dann tun, junger Herr? Rasentennis? Wurfringspiel? Ringen?«

»Ich habe alle diese Larifarizeitvertreibe satt«, sagte der Märchenprinz. »Fällt dir nichts Interessantes ein?«

»Sollen wir auf die Jagd gehen?« schlug Frike vor. »Angeln? Drachen steigen lassen?«

»Nein, nein…« Der Märchenprinz kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah dann auf. Sein Gesicht wurde lebendig. »Ich weiß was!«

»Ich stehe Euch zu Diensten, Sire.«

»Laß uns einen Blick in den Raum werfen, den ich nicht betreten soll.«

Frike war gut vorbereitet. Er unterdrückte das Lächeln, das in ihm aufstieg, und sagte: »Das sollten wir lieber nicht tun!«

»Wirklich nicht?«

»Ganz bestimmt nicht, Sire. Der Meister würde furchtbar wütend werden.«

»Aber er brauchte doch nichts davon zu erfahren, oder?«

Frikes Gesichtsausdruck verriet, daß ihm dieser Gedanke noch gar nicht in den Sinn gekommen war. »Ihr meint… ihm nichts davon erzählen?«

»Genau das meine ich.«

»Aber wir verschweigen dem Gebieter doch nie etwas!«

»Laß uns diesmal eine Ausnahme machen.«

»Und warum?«

»Weil es ein Spiel ist, Frike, deshalb.«

»Oh… ein Spiel.« Frike schien zu überlegen. »Ich schätze, das wäre in Ordnung, solange es nur ein Spiel ist. Seid Ihr Euch sicher, daß es ein Spiel ist?«

»Frike, ich schwöre, es ist nur ein Spiel.«

»Also schön«, gab Frike nach, »wenn es nur ein Spiel ist…«

»Dann los!« rief der Märchenprinz und sprang die Treppe hinauf, wobei er mit jedem Satz vier Stufen auf einmal nahm. Die Schlüssel klirrten in seiner Hand.

Azzie hatte sein Pferd im Wald untergestellt und war zu Fuß zurückgekehrt – oder besser gesagt, er war zurückgeflogen, da er ein voll funktionstüchtiges Paar Schwingen unter seiner prächtigen Tunika trug. Jetzt schwebte er draußen vor dem Anwesen in Höhe des Schlafzimmerfensters und lächelte in sich hinein. Er hatte noch nie zuvor von diesem Psychologiezeug gehört, das Hermes ihm erklärt hatte, aber bisher schien alles glattzugehen.

KAPITEL 4

Ylith war gerade dabei, eine Decke über Prinzessin Rosenrot auszubreiten, die während einer Unterhaltung unvermittelt eingeschlummert war, als ein Klopfen am Tor des Schlosses aufklang. Es war nicht Azzies Art zu klopfen, und Ylith konnte sich nicht vorstellen, wer sie sonst auf dem Gipfel des gläsernen Berges besuchen sollte. Sie ließ das Mädchen zwischen den Armlehnen des riesigen Sessels im Salon zurück und eilte durch die große Vorhalle des Schlosses. Das Klopfen wiederholte sich, als sie den Marmorraum mit der hohen Decke durchquerte.

Sie entriegelte die normalgroße Seitentür neben dem gewaltigen Tor, öffnete sie und sah hinaus. Vor ihr stand ein hochgewachsener, nicht unattraktiver Mann. Er trug weiße und goldene Kleidung und erwiderte lächelnd ihren Blick.

»Ja?« fragte Ylith.

»Gehe ich fehl in der Annahme, daß dies das Schloß der Schlummernden Schönheit, Prinzessin Rosenrot, ist?« erkundigte er sich.

»Nein, Ihr geht nicht fehl«, erwiderte sie. »Aber Ihr könnt nicht der Märchenprinz sein, oder? Es ist noch etwas zu früh, und Ihr habt auch nicht die richtigen Augen… nicht, daß ich etwas gegen große blaue Augen einzuwenden hätte.«

»O nein«, entgegnete der Fremde. »Mein Name ist Babriel. Ich bin der Beobachter von den Mächten des Lichtes. Ich bin bei Azzie zu Gast, und ich dachte mir, ich schaue einfach mal vorbei und sehe mir das andere Ende des Unternehmens an. Läuft alles reibungslos?«

»Aber ja«, sagte Ylith. »Wollt Ihr nicht eintreten?«

»Sehr gern, danke.«

»Ich bin Azzies… Partnerin in dieser Angelegenheit. Meine Name ist Ylith. Sehr erfreut, Euch kennenzulernen.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Babriel ergriff sie und hob sie an seine Lippen.

»Oh…«, machte Ylith und starrte ihre Hand an, die in der seinen lag. »Äh… folgt mir bitte hier entlang. Ich bringe Euch zur Prinzessin. Im Augenblick schlummert sie natürlich.«

»Natürlich«, erwiderte Babriel, der erst jetzt zu bemerken schien, daß er noch immer ihre Hand hielt. Er ließ sie schnell los. »Wenn es Euch genehm ist.«

»Gewiß, gewiß.«

Sie drehte sich um und führte ihn durch die Halle.

»Eine schöne Halle«, stellte er fest.

»Danke.«

»Seid Ihr und Azzie schon lange zusammen?«

»Also, wir kennen uns seit Ewigkeiten. Aber wir sind im Augenblick nicht direkt… zusammen. Von diesem Projekt einmal abgesehen, meine ich.«

»Ihr habt Euch einen klugen Beitrag ausgedacht.«

»Vermutlich. Das alles war Azzies Idee. Ich helfe ihm nur. Den alten Zeiten zuliebe.«

»Ich verstehe«, sagte Babriel. »Die Bruderschaft des Bösen und so. Und natürlich auch die Schwesternschaft«, verbesserte er sich hastig.

»So ähnlich. Hier entlang«, bat sie und führte ihn aus der Vorhalle in den Salon. »Da ist sie, die Schlummernde Schönheit. Hübsch, nicht wahr?«

»Bezaubernd«, stellte er fest.

Ylith errötete, als sie bemerkte, daß er dabei sie ansah. Gleich darauf wurde er von einem magischen Husten geschüttelt.

»Dürfte ich Euch etwas zu trinken anbieten?« erkundigte sie sich. »Vielleicht eine kleine Jauche?«

»Sehr gern.«

»Nehmt bitte Platz. Macht es Euch bequem.«

Sie eilte davon und kehrte kurz darauf mit zwei Gläsern zurück.

»Bitte sehr«, sagte sie. »Ich dachte, ich leiste Euch Gesellschaft.«

»Vielen Dank.« Er trank einen kleinen Schluck. Ylith setzte sich neben ihn.

»Ich vermute, das Projekt kommt gut voran«, wiederholte sich Babriel.

»Also, soweit ich weiß, hat Azzie gewisse Probleme«, erwiderte Ylith.

»Ihr müßt ihm eine große Hilfe und ein großer Halt sein.«

»Ich habe keine Ahnung. Er war in letzter Zeit nicht gerade sehr gesprächig.«

»Ich verstehe nicht…«

»Als wir das letzte Mal gesprochen haben, war er etwas… unterkühlt. Es könnte sein, daß er größere Probleme hat, als mir klar ist, es könnte aber auch sein…«

»Was?«

»Daß er nun einmal ganz einfach so ist – mir gegenüber.«

Eine Weile tranken sie schweigend. »Ich schätze, es ist die Natur des Bösen, gemein zu sein«, bemerkte Babriel schließlich. »Sogar Freunden und Verbündeten gegenüber.«

Ylith wich seinem Blick aus. »Er war nicht immer so zu mir.«

»Oh!«

»Eure Seite ist in dieser Beziehung netter, nehme ich an.«

»Das hoffe ich doch sehr.«

»Aber das müßt Ihr ja auch… Die Natur der Dinge und so.«

»Vermutlich. Aber ich denke gern, daß wir netter sind, weil wir es wirklich so wollen. Dann fühlen wir uns einfach gut.«

»Hmm.« Ylith drehte sich zu Prinzessin Rosenrot um. »geht sie Euch an«, sagte sie. »Das arme Ding hat keine Ahnung, daß sie nur eine Schachfigur in einem Spiel ist.«

»Aber wenn sie das nicht wäre, würde es sie nicht einmal geben.«

»Trotzdem, vielleicht wäre es besser, gar nicht zu leben, als nur benutzt zu werden.«

»Ein interessantes theologisches Argument.«

»Theologisch, zur Hölle! Entschuldigt, aber Menschen sind keine Gegenstände, die derart manipuliert werden dürfen.«

»Nein, sie haben einen freien Willen. Also ist die Prinzessin trotz allem immer noch ihre eigene Herrin. Das ist es ja, was die ganze Angelegenheit so interessant macht.«

»Frei? Selbst wenn die Wahlmöglichkeiten künstlich eingeschränkt sind?«

»Das ist ein weiterer interessanter theologischer Punkt… das heißt, nein, ich denke, es ist nicht sehr nett. Aber trotzdem, was kann man dagegen tun? Sie ist wirklich so etwas wie eine Spielfigur.«

»Das denke ich auch. Aber trotzdem kann ich nicht umhin, ein bißchen Mitleid mit ihr zu haben.«

»Oh, ich auch. Wir sind Experten in Sachen Mitgefühl.«

»Ist das alles? Ich meine, das hilft ihr auch nicht viel weiter.«

»Aber es ist uns nicht gestattet, ihr in dieser Angelegenheit zu helfen. Allerdings, nachdem Ihr es jetzt erwähnt, denke ich, daß ich sie für etwas Gnade empfehlen könnte.«

»Wäre das nicht Betrug, würde das nicht bedeuten, ihr zu helfen?«

»Nicht unbedingt. Gnade hilft, ohne direkt zu helfen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Sie hilft den Menschen dabei, sich selbst zu helfen. Ich kann das nicht als Betrug betrachten. Ja, vielleicht sollte ich…« Er trank einen weiteren Schluck.

»Seid Ihr schon immer so gewesen?« wollte Ylith wissen.

»Wie meint Ihr das?«

»Nett.«

»Das nehme ich an.«

»Wie erfrischend. Das erleichtert es, sich mit Euch als Beobachter abzufinden.«

»Seid Ihr schon immer eine Hexe gewesen?«

»Ich habe mich vor langer Zeit für diese Laufbahn entschieden.«

»Zu Eurer Zufriedenheit?«

»Meistens. Welche Art von Beitrag steuern die Mächte des Lichtes bei?«

»Oh, wir nennen es eine gotische Kathedrale, ein völlig neues Konzept in der Architektur, die der Anbetung und der Förderung des Guten gewidmet ist.«

»Wie unterscheidet sich diese gotische Kathedrale von den bisher üblichen Gebäuden? Übrigens, laßt mich Euch nachschenken.«

»Danke.«

Als Ylith mit frischen Getränken zurückkam, begann Babriel, ihr die Konstruktion gotischer Kathedralen zu erklären. Sie lächelte und nickte fasziniert in regelmäßigen Abständen.

KAPITEL 5

Rosenrot schritt vor Ylith auf und ab und blieb dann kurz stehen.

»Ich bin es leid, immer nur zu schlummern«, beschwerte sie sich und nahm ihre ruhelose Wanderung wieder auf.

»Nie scheine ich richtig wach zu sein«, fuhr sie fort, »und trotzdem kann ich keine Nacht fest durchschlafen. Ich muß irgend etwas anderes tun, außer einfach in diesem doofen Schloß herumzusitzen und darauf zu warten, daß mich irgendein Kerl aufweckt. Ich will hier raus! Ich will mit irgend jemandem sprechen!«

»Du kannst mit mir sprechen«, erwiderte Ylith.

»Ach, Tante Ylith, du bist sehr nett, und ich würde endgültig den Verstand verlieren, wenn du nicht hier wärst. Aber ich würde mich gern mit jemand anderem unterhalten. Du weißt schon… mit einem Mann.«

»Ich wollte, ich könnte dir helfen«, versicherte Ylith. »Aber du weiß, daß du keine Gesellschaft haben sollst. Du sollst einfach nur schlafen, bis der Märchenprinz hier auftaucht.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Rosenrot. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber es ist so langweilig, die ganze Zeit nur zu schlafen. Und dann noch nicht einmal richtig. Schlummern! Ach, bitte, Tante Ylith, kannst du mir denn nicht irgendwie helfen?«

Ylith überlegte. Ihre Verärgerung über Azzie wuchs. Sie hätte es besser wissen müssen, als ihm wieder zu vertrauen. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern.

Am nächsten Tag klopfte es am Tor. Es geschah während einer der seltenen Momente, in denen Rosenrot wach war, und sie eilte hinunter, um selbst zu öffnen.

Vor der Tür stand ein knapp zwei Meter großer Frosch in einer Dienerlivree. Eine weiße Perücke saß etwas schief auf seinem warzigen grünen Kopf.

»Hallo«, sagte Rosenrot ruhig. Allmählich gewöhnte sie sich an magische Besuche. Es konnte sie kaum noch etwas überraschen nach ihren Gesprächen mit Azzie – der sehr seltsam war und immer in plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Rauchwolken erschien und wieder verschwand und Ylith, die viel Zeit vor einem magischen Spiegel verbrachte, in dem sie die Leute aus der Stadt am Fuß des Berges und viele andere Ort beobachtete (einschließlich der Unterwelt und der niedrigen astralen Reiche). »Seid Ihr der Prinz, der mich aufwecken soll?«

»Um Himmels willen, nein!« entgegnete der Frosch. »Ich bin nur ein Bote.«

»Aber unter Eurer Frosch Verkleidung seid Ihr in Wirklichkeit ein stattlicher junger Mann, nicht wahr?«

»Ich fürchte, nein«, sagte der Frosch. »Man hat mich durch Zauberei zwei Meter groß gemacht und mich in die Lage versetzt, die Menschensprache zu beherrschen.«

»Wie seht Ihr aus, wenn Ihr nicht verzaubert seid?«

»Dann bin ich eine Handspanne groß und quake.«

»Was willst du?« fragte Prinzessin Rosenrot enttäuscht.

»Ich überbringe Euch eine Einladung.« Er hielt ein rechteckiges Stück Pappe hoch, in das folgende Mitteilung eingeprägt war:

IHR SEID ZU EINEM FEST EINGELADEN EIN MASKENBALL ZU EHREN VON ASCHENBRÖDEL UND IHREM PRINZEN MUSIK VON ORLANDO UND DIE WILDEN GIORDANO BRUNO UND DIE TRADITION DES LUFTLEERENRAUMS SPARTAKUS UND DIE REVOLTIERENDEN SKLAVEN SCHARADEN, GROSSE TOMBOLA GESCHMACKVOLLE ORGIE

»Oh, vielen Dank!« rief Rosenrot. »Aber warum hat Prinzessin Aschenbrödel mich eingeladen? Ich kenne sie ja nicht einmal.«

»Sie hat gehört, daß Ihr hier seid, und Eure mißliche Lage tut ihr leid. Sie hatte früher selbst so ihre Probleme, müßt Ihr wissen.«

»Ich würde liebend gern kommen! Aber ich habe kein Ballkleid.«

»Ihr könnt Euch bestimmt eins besorgen.«

»Und die Fahrt… Wie soll ich dort hinkommen?«

»Setzt Euch einfach mit dem Zauberballdienst in Verbindung, und man wird mich zur rechten Zeit mit einer Kutsche zu Euch schicken, die aus einem Kürbis gemacht wurde.«

»Oh… aber werde ich dann nicht mein Kleid mit Kürbissaft beschmutzen?«

»Auf keinen Fall. Das Innere ist mit kostbarster gewässerter Seide ausgekleidet.«

»Gewässert?«

»Sie ist trocken, macht Euch deswegen keine Sorgen.«

»Vielen Dank! Vielen Dank!« Rosenrot hastete davon, um Ylith von der wunderbaren Einladung zu erzählen.

»Gemach, Kind, Azzie hat das gesamte Schloß mit einem Zauberbann belegt«, gab Ylith zu bedenken. »Es wäre eine Generalvollmacht erforderlich, um dich hier rauszubringen. Und die kann nur von den Mächten der Finsternis ausgestellt werden.«

»Was kann ich denn tun?«

»Nichts, mein armer Liebling«, erwiderte Ylith. »Wenn du allerdings Azzies unbegrenzte Kreditkarte hättest«, überlegte sie laut, »wäre einiges möglich. Und er trägt sie ganz sorglos in seiner Westentasche. Du mußt nur hoffen, daß er sie bei seinem nächsten Besuch ablegt. Dann kannst du sie dir nehmen, bevor er sie vermißt.«

»Aber was, wenn er sie nicht ablegt?«

»Deine eigenen Hände könnten dir helfen«, sagte Ylith. »Besonders deine linke.«

Rosenrot betrachtete ihre Hände. Die linke, diejenige der Taschendiebin, war ein wenig kleiner als die rechte und sah irgendwie – Prinzessin Rosenrot wußte nicht, wie sie es bezeichnen sollte – gerissener als die andere aus.

»Was ist mit meiner linken Hand? Ich kann sehen, daß sie klein und wahrscheinlich auch feinfühlig ist. Aber was hat es mit ihr auf sich?«

»Diese Hand hat eine besondere Begabung, dir zu besorgen, was du brauchst.«

»Und wenn ich die Karte hätte?«

»Nun, dann könntest du dir ein Ballkleid bestellen und dich mit dem Zauberballdienst in Verbindung setzen. Dann könntest du auf den Ball gehen, vorausgesetzt, du kommst gleich danach zurück.«

»Warum erzählst du mir das alles?«

Ylith wandte den Blick ab. »Aus Zorn und Mitleid, Liebes«, erwiderte sie schließlich. »Das erste ist eine Stärke, das zweite eine Schwäche. Nimm also an, daß es sich hauptsächlich um ersteres handelt. Außerdem wird es Zeit, daß du etwas über Bälle lernst. Und über den freien Willen.«

Sie tätschelte Prinzessin Rosenrots linke Hand, der es dabei fast gelang, ihr einen Diamantring vom Finger zu streifen. »Ja«, fuhr sie fort, »zur Hölle mit Azzie.« Und dann lächelte Ylith. »Das ist ein Akt der Gnade für dich.«

KAPITEL 6

Als Azzie das nächste Mal zu Besuch kam, lächelte Prinzessin Rosenrot über das ganze Gesicht. Sie plauderte über ihre Träume, die das einzige Interessante in ihrem täglichen Leben waren. Dann zeigte sie Azzie einige Tanzschritte, an die sie sich aus der Zeit vor ihrem Tod erinnern konnte. Sie tanzte wie entfesselt einen Seguidilla, ihre kleinen Füße trommelten über den Boden, drehten Pirouetten und ließen sie durch den Raum wirbeln und in Azzies Armen landen.

»Laß mich dich umarmen, Onkel!« rief sie. »Du hast so viel für mich getan!«

Azzie spürte den Druck ihrer kleinen spitzen Brüste, und die Berührung lenkte ihn von dem ab, was ihre geschickten schlanken Finger taten.

»Hast du sie?« erkundigte sich Ylith, nachdem sie mit Rosenrot allein war.

Die Prinzessin lächelte, wobei sie ihre ebenmäßigen kleinen Zähne und die Grübchen in ihren Wangen zeigte. Triumphierend hielt sie die Schwarze Kreditkarte hoch. »Hier ist sie!«

»Gut gemacht«, lobte Ylith. »Jetzt mußt du sie nur noch benutzen.«

»Ja«, sagte Rosenrot und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Aber was soll ich gegen diesen verdammten Schlummerzauber tun?«

»Trink einen guten kräftigen Schluck Jauche«, erwiderte Ylith. »Ich werde noch einen Zauber hinzufügen. Dann wirst du drei oder vier Stunden länger als sonst schlafen und dafür hinterher drei oder vier Stunden länger wach bleiben.«

Rosenrot strahlte. »Mach schnell«, sagte sie.

KAPITEL 7

Die Kürbiskutsche rollte lautlos auf ihren aus Rettichen geschnitzten Rädern zu dem überdachten Empfangsbereich. Der Froschlakai hüpfte vom Kutschbock und öffnete die Tür für Rosenrot. Sie trat hinaus, sorgsam darauf bedacht, ihr Festgewand nicht in Unordnung zu bringen. Es war ein wunderschönes Kleid aus rosarotem Tüll mit einem Hyazinthenmuster, von Michael von Perugia exklusiv für sie entworfen und mit Azzies Kreditkarte bezahlt. Uniformierte Pagen hießen sie willkommen und führten sie ins Schloß. Der Ballsaal erstrahlte in Licht und leuchten, den Farben. Das Orchester befand sich am anderen Ende. Prinzessin Rosenrot war wie geblendet. Niemals zuvor hatte sie etwas derart Aufregendes gesehen. Es war wie eine Szene aus einem Märchen, und der Umstand, daß sie selbst einem Märchen entsprungen war, machte es nicht weniger wunderbar.

»Ihr müßt Prinzessin Rosenrot sein!« wurde sie von einer strahlend schönen jungen Frau angesprochen, die ungefähr in ihrem Alter war.

»Seid Ihr Prinzessin Aschenbrödel?« fragte Rosenrot.

»Woran habt Ihr mich erkannt? Habe ich Ruß an der Nase?«

»Oh, nein… ich habe nur angenommen… da ich Eure Einladung bekommen habe…« Rosenrot war völlig verwirrt, aber Aschenbrödel nahm ihr mit einem Lachen die Unsicherheit. »Das war nur ein kleiner Scherz! Ich bin so froh, daß Ihr kommen konntet. Wie ich gehört habe, steht Ihr unter einem Schlafzauber.«

»Genaugenommen ist es ein Schlummerzauber. Aber wie habt Ihr davon erfahren?«

»Nachrichten verbreiten sich schnell im Reich der Märchen«, erklärte Aschenbrödel. »In den oberen Stockwerken gibt es viele Ruheräume, solltet Ihr einen brauchen, und wir haben eine Menge stimulierender Mittel, falls der Bann, unter dem Ihr steht, auf chemische Substanzen reagiert.«

»Nicht nötig«, wehrte Rosenrot ab. »Ich konnte eine vorübergehende Aufhebung des Banns erreichen.«

»Wie auch immer Ihr das geschafft habt, ich bin sehr froh, daß Ihr kommen konntet. Das ist der diesjährige Debütantinnenball, müßt Ihr wissen. Wir haben viele ansprechende Junggesellen unter unseren Gästen, hauptsächlich Angehörige des Adels, aber auch ein paar Unternehmer und berühmte Bürger wie Hans von der Bohnenstange und Peer Gynt. Kommt mit, ich werde Euch ein Glas Champagner besorgen und Euch einigen Leuten vorstellen.«

Aschenbrödel gab Rosenrot ein Glas mit perlendem Champagner, nahm sie an der Hand und führte sie von einer Gruppe prächtig gekleideter Gäste zur nächsten. Rosenrot schwirrte bald der Kopf, und die Musik – laut und rhythmisch – ließ ihre Tänzerinnenbeine zucken. Sie war sehr erfreut, als ein hochgewachsener, dunkelhäutiger attraktiver Mann, der einen Anzug aus goldenem Lame und einen karmesinroten Turban trug, sie um einen Tanz bat.

Sie wirbelten durch den Tanzsaal. Der Mann mit dem Turban stellte sich ihr als Achmed Ali vor. Er war ein begnadeter Tänzer, der die neusten Schritte beherrschte. Rosenrot besaß den Instinkt und die schnelle Auffassungsgabe der geborenen Tänzerin für die richtigen Schritte, und so beherrschte sie schon bald den Gespreizten Ententanz, den Wippenden Ellbogen, den Pygmäenhüpfer, das Rasende Knickbein und den Doppelten Vielfraß, eben die aktuellen Tanzerrungenschaften dieses ereignisreichen Jahres der Jahrtausendwende. Achmed schien geradezu über den Boden zu schweben und war Rosenrots erstaunlicher Begabung durch sein kaum minder ausgeprägtes Talent ebenbürtig. Die anderen Tänzer wichen zurück, um ihnen Platz zu machen, so augenscheinlich war das junge Paar den anderen überlegen. Das Orchester wechselte in den Schwanensee über, weil der Tanz der beiden wie ein Ballett anmutete. Achmed und Rosenrot wirbelten unermüdlich im Kreis herum, während die Trompeten schmetterten und die Stahlsaiten der Gitarren weinten, drehten immer kühnere Pas de deux, kreisten, trippelten und stampften unter ständig lauter werdendem Applaus. Zum Abschluß tanzte Achmed mit Rosenrot aus dem Ballsaal auf einen kleinen Balkon hinaus.

Unter dem Balkon lag ein Teich. Der Mond war gerade aufgegangen, und kleine silberne Wellen liefen über das Wasser dem dunklen Ufer entgegen. Prinzessin Rosenrot wedelte sich mit einem chinesischen Fächer, den sie von der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör bekommen hatte, Kühlung zu und sagte an Achmed gewandt in der formellen höfischen Wortwahl: »Fürwahr, edler Herr, nie habe ich einen Tänzer auf einem Ball gesehen, der Euch gleichkäme.«

»Und ich keine Tänzerin wie Euresgleichen«, erwiderte Achmed galant das Kompliment. Er hatte eine kühn geschwungene Nase, ebenmäßige Züge und ausdrucksstarke blaßrosafarbene Lippen, die perlmuttweiße Zähne zeigten, wenn er sie zu einem Lächeln verzog. Er erzählte Rosenrot, daß er ein Prinz vom Hofe des Großen Herrschers über alle Türken sei, dessen Reich sich von den nebligen Grenzen des östlichen Turkistans bis zu den wogenumbrandeten Küsten Kleinasiens erstreckte. Er beschrieb die Pracht des herrschaftlichen Palastes, der so viele Zimmer umfaßte, daß sie für jeden unzählbar waren, der nicht die mathematische Zauberlehre beherrschte. Er schilderte ihr die bedeutendsten Merkmale des Palastes, die Karpfenteiche, die Heilwasserquellen, die große Bibliothek, in der man Schriften aus der ganzen Welt finden konnte. Er erwähnte die Küchen, in denen jeden Tag die außergewöhnlichsten und herrlichsten Köstlichkeiten zur Ergötzung der glücklichen und begabten jungen Leute zubereitet wurden, die den Palast bevölkerten. Er sagte ihr, wie sehr sie all die anderen Schönheiten am Hof durch die nie zuvor gesehene Lieblichkeit ihrer zarten und ebenmäßigen Züge überstrahlen würde. Er erklärte ihr, daß er ihr trotz ihrer erst kurzen Bekanntschaft hoffnungslos verfallen sei, und bat sie, ihn zu begleiten, damit er ihr die Pracht des Reiches des Großen Herrschers über alle Türken zeigen könnte, und wenn sie wollte, könnte sie eine Weile dort bleiben. Er malte ihr die kostbaren Geschenke aus, mit denen er sie überhäufen würde, und so fuhr er noch lange Zeit mit seinen Schilderungen und verführerischen Versprechungen fort, bis sich im Kopf der Prinzessin alles im Kreis drehte.

»Ich würde gern mit Euch kommen und all diese Dinge sehen«, sagte sie, »aber ich habe meiner Tante versprochen, sofort nach dem Ball nach Hause zurückzukehren.«

»Kein Problem«, erwiderte Achmed. Er schnippte mit den Fingern. Ein schnalzender Laut erfüllte die Luft, und dann erblickte Prinzessin Rosenrot einen herrlichen großen Perserteppich, der anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht war und jetzt in Höhe des Balkons schwebte.

»Das ist ein Fliegender Teppich«, erklärte Achmed. »Es ist ein allgemein gebräuchliches Transportmittel in meinem Land, mit dessen Hilfe ich Euch zum Hof des Großen Herrschers über alle Türken mitnehmen kann, um Euch alles zu zeigen und Euch wieder hierher zurückzubringen, bevor der Abend vorbei ist.«

»Das klingt sehr verlockend«, erwiderte Rosenrot, »aber ich sollte wirklich nicht…«

Achmed Ali ließ ein unglaublich hinreißendes Lächeln aufblitzen und trat vom Balkon auf den Teppich. Er drehte sich zu Rosenrot um und streckte ihr die Hand entgegen.

»Kommt mit mir, wunderschöne Prinzessin«, sagte er. »Ich bin verrückt nach Euch. Ich werde Euch viel Vergnügen bereiten, Euch in jeder Beziehung respektieren und Euch rechtzeitig wieder hier abliefern, so daß Ihr wie ursprünglich geplant zu Eurer hochgeschätzten Tante zurückkehren könnt.«

Prinzessin Rosenrot wußte, daß sie es nicht tun sollte. Aber die unerwartete Freiheit, die vorübergehende Erlösung aus dem Schlummerbann, die Gegenwart des geheimnisvollen und verführerischen Achmed Ali, das ungewohnte Glas Champagner und der Duft der Mater-Delirium-Pflanze, die unter dem Balkon wuchs, das alles wühlte ihre Sinne auf und ließ sie kühn werden. Ohne richtig zu wissen, was sie tat, ergriff sie Achmeds dargebotene Hand und trat auf den Teppich.

KAPITEL 8

Aschenbrödel wollte gerade zum reichhaltigen Büfett gehen, um sich noch ein Glas Champagner und vielleicht auch eine Schale Sorbet zu holen, als sich ihr ein Lakai näherte, sich verbeugte und sagte: »Da ist jemand, Prinzessin, der Euch sprechen möchte.«

»Ein Mann?«

»Ein Dämon, nehme ich an, obwohl er die Gestalt eines Mannes hat.«

»Ein Dämon«, überlegte Aschenbrödel. »Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwelche Dämonen eingeladen zu haben.«

»Ich glaube, daß er sich selbst eingeladen hat, Prinzessin«, sagte der Lakai und versuchte, eine passende Gelegenheit zu finden, um zu erwähnen, daß er selbst ein verkleideter Prinz wäre.

»Was will er?«

»Ich weiß es nicht«, bekannte der Lakai und strich sich mit dem Handrücken über seinen buschigen Schnurrbart. »Er behauptet, daß es sich um eine äußerst wichtige Angelegenheit handelt.«

Das Wortgeplänkel hätte noch ewig so weitergehen können, wäre Azzie nicht in diesem Augenblick aufgetaucht. Er durchquerte zügig den Saal, obwohl sich zwei Türsteher an seinen Rockschößen festklammerten und ihn aufzuhalten versuchten, in den Händen zwei Besenstiele.

Azzie schüttelte sich kurz, worauf die Männer zu Boden geschleudert wurden, und fragte: »Seid Ihr Prinzessin Aschenbrödel?«

»Die bin ich.«

»Und das ist Euer Fest?«

»So ist es. Und solltet Ihr vorhaben, es zu ruinieren, möchte ich Euch darauf hinweisen, daß ich meine eigenen Dämonen zur Verfügung habe, die ich jederzeit rufen kann.«

»Wie es scheint, habt Ihr meine Nichte, Prinzessin Rosenrot, auf Euren Ball eingeladen.«

Aschenbrödel sah sich um. Einige der Gäste schienen das Gespräch aufmerksam zu verfolgen, und der Lakai war immer noch da. Er zwirbelte seinen lächerlichen Schnurrbart, während er versuchte, sich und seine zweifelhaften Referenzen an den Mann zu bringen.

»Kommt mit mir ins Separee«, bat Aschenbrödel. »Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«

»Ihr könnt Eure Besenstiele in die Ecke stellen«, sagte sie, nachdem sie den Raum betreten hatten.

»Ich ziehe es vor, sie in der Hand zu behalten«, erwiderte Azzie. »Genug der belanglosen Plauderei. Wo ist Rosenrot?«

»Seid Ihr wirklich ihr Onkel? Ihr hättet das Kind nicht so lange allein in dem verwunschenen Schloß lassen sollen. Ich dachte nicht, daß es irgendwelche Probleme verursachen würde, sie auf mein Fest einzuladen.«

»Wo ist sie in diesem Augenblick?« fragte Azzie und klopfte unheilverkündend mit dem Fuß auf den Boden.

Aschenbrödel ließ den Blick durch den Saal wandern, konnte Rosenrot jedoch nicht entdecken. Sie rief einen Lakaien herbei – nicht den mit dem Schnäuzer, dieser hier trug einen kleinen Spitzbart – und beauftragte ihn damit, Prinzessin Rosenrot zu suchen.

Kurz darauf kam der Lakai auch schon wieder zurückgeeilt. »Wie ich erfahren habe, hat sie das Schloß in Begleitung des Herrn mit dem Turban, Achmed Ali, verlassen.«

»Wie haben sie das Schloß verlassen?« fragte Azzie den Diener.

»Mit einem Fliegenden Teppich, Exzellenz.«

Azzie rieb sich nachdenklich das Kinn. »Und in welche Richtung sind sie geflogen?«

»Genau nach Osten, Exzellenz.«

»Wißt Ihr, wer dieser Mann ist?« wandte sich Azzie an Aschenbrödel.

»Er ist ein Edelmann vom Hof des Großen Herrscher über ganz Turkistan.«

»Ist das alles, was Ihr über ihn wißt?«

»Wißt Ihr denn irgend etwas al contrario?«

»Hat er Euch gesagt, welche Stellung er am Hof bekleidet?«

»Nein, nicht direkt.«

»Er ist der Oberste Beschaffer für das Serail des Großen Herrschers über alle Türken.«

»Woher wißt Ihr das?«

»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, solche Dinge zu wissen«, sagte Azzie.

»Ein Kuppler! Ihr meint doch bestimmt nicht…«

»Ich meine«, fiel ihr Azzie ins Wort, »daß Prinzessin Rosenrot genau in diesem Augenblick zum Zweck des Mädchenhandels und der hochherrschaftlichen Prostitution über internationale Grenzen verschleppt wird.«

»Ich hatte ja keine Ahnung!« rief Prinzessin Aschenbrödel. »Wo ist mein Großwesir? Streicht Achmed Ali von der Gästeliste! Tilgt seinen Namen mit einem doppelten Strich aus! Mein lieber Dämon, ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mir leid…«

Aber da sprach sie schon mit sich selbst. Azzie war bereits auf den Balkon gesprungen, hielt nur einen kurzen Moment inne, um den Antrieb der Besen zu aktivieren, schwang sich in die Luft und flog genau nach Osten.

Fliegende Teppiche sind schnell, denn sie werden von den stärksten Zaubersprüchen mächtiger Dschinne angetrieben. Ihre aerodynamischen Flugeigenschaften aber lassen zu wünschen übrig, und sie neigen zu einer gewissen Instabilität. Die Vorderkante stellte sich während des Fluges unweigerlich wie bei einem Rodelschlitten auf, was für den nötigen Auftrieb sorgt und gleichzeitig die Geschwindigkeit reduziert.

Trotzdem lag Achmed gut in der Zeit. Rosenrot dagegen hatte begonnen, über ihre Situation nachzudenken, und fand sie längst nicht mehr so aufregend wie zu Beginn der Reise. Als sie Achmed betrachtete, der im Schneidersitz vor den Bedienungsinstrumenten des Teppichs saß, bemerkte sie die grausamen Züge, die sich in sein Gesicht gegraben hatten und ihr vorher irgendwie entgangen waren, sowie die brutale Form seines schwarzen Schnurrbarts, der sich zuerst nach unten, an den Enden wieder nach oben bog und in nadeldünnen gewachsten Spitzen auslief. Ihr kam der Gedanke, daß es vielleicht ein wenig voreilig von ihr gewesen war, seine Einladung anzunehmen. Und in diesem Moment fiel ihr auch wieder der Märchenprinz ein, ihr zukünftiger Gemahl. Vielleicht würde er das verwunschene Schloß gerade jetzt betreten. Was, wenn er sie nicht vorfand, wieder verschwand und sich eine andere Prinzessin suchte? Wäre sie dann dazu verdammt, bis zu ihrem Tod allein zu bleiben, ohne jemals aus ihrem Schlummerbann erlöst zu werden? Gab es irgendeine Rettung für Schlummernde Schönheiten, die das Pech gehabt hatten, nicht von ihren Märchenprinzen gefunden zu werden? Und überhaupt, auf was hatte sie sich nur eingelassen, und war dieser Achmed wirklich vertrauenswürdig?

»Achmed«, sagte sie, »ich habe es mir anders überlegt.«

»Tatsächlich?« fragte Achmed beiläufig.

»Ich möchte jetzt gleich auf Aschenbrödels Fest zurückkehren.«

»Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Hof des Großen Herrschers über alle Türken«, erwiderte Achmed.

»Das ist mir egal! Ich möchte sofort umkehren!«

Achmed drehte sich zu ihr um, und jetzt ließen Frauenfeindlichkeit, Verachtung, Selbstgefälligkeit und Heimtücke gepaart mit Kleinmütigkeit sein Gesicht häßlich aussehen. »Kleine Prinzessin, du hast dich für dieses Abenteuer entschieden, und jetzt gibt es kein Zurück mehr.«

»Warum tut Ihr das?« wollte sie wissen. Irgendwann kommt für jeden einmal der Zeitpunkt, an dem nur noch die Wahrheit helfen kann.

»Weil es mein Job ist«, erklärte er, »und weil mein Herr der Große Herrscher über alle Türken, mich reich dafür belohnen wird, sein Serail durch dich zu vergrößern. Muß ich mich noch klarer ausdrücken?«

»Ich werde in kein Serail gehen!« schrie Rosenrot. »Lieber sterbe ich!« Sie schob sich zum Rand des Teppichs vor und lugte hinunter. Tief unter ihr erblickte sie die griechischen Inseln, dunkle Flecken in einer milchigweißen See. Sie kam zu dem Schluß, daß es nicht so schlimm um sie stand, um einen Selbstmord zu rechtfertigen. Zumindest jetzt noch nicht.

Prinzessin Rosenrot kroch in die Mitte des Teppichs zurück und trauerte dem stattlichen jungen Prinzen nach, dem sie jetzt wohl nie begegnen würde. Sie strich sich das lange Haar zurück, das allmählich durch den Wind verfilzte, und als sie den Kopf zur Seite drehte, um eine Verkrampfung in ihrem Hals zu lockern, entdeckte sie einen winzigen Punkt am Himmel, der direkt auf sie zuhielt. Der Punkt wurde größer, und in ihrem Herzen keimte ein Hoffnungsfunke auf. Schnell drehte sie sich um, damit ihr Gesicht Achmed nicht ihre Gefühle und ihre Entdeckung verraten konnte.

Azzie, der die Besenstiele mit Vollgas flog, sah den Fliegenden Teppich als phantastische Silhouette vor dem Vollmond. Er schloß auf, die Augen gegen den Fahrtwind zusammengekniffen. Seine Wut schien die Geschwindigkeit der Besenstiele noch zu steigern. Die Entfernung schrumpfte schnell zusammen, und als er den Teppich eingeholt hatte und über ihm schwebte, drückte er die Besenstiele nach unten und schoß im rasenden Sturzflug hinab.

Achmed merkte erst, wie ihm geschah, als er das laute Geräusch hörte, das sogar das Dröhnen des Luftstroms übertönte. Er fuhr herum und erblickte einen fuchsgesichtigen Dämon auf zwei Besenstielen, der von oben auf ihn herabstieß. Achmed Ali riß den Teppich in eine Schrägkurve und hielt Rosenrot mit einer Hand fest, während das Fluggefährt durch den Himmel stürzte. Rosenrot kreischte auf, denn ein Absturz schien unvermeidlich, aber Achmed fing den Teppich nur wenige Meter über der glitzernden See wieder ab. Dann wendete er ihn, um die zaubergetriebenen Blitzstrahler ins Spiel zu bringen. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, über die neuen Superblitze zu verfügen, aber der Große Herrscher, der ziemlich verschwenderisch war, wenn es um sein Serail ging, zeigte sich knausrig, was die Modernisierung der Bewaffnung seiner Fliegenden Teppiche betraf.

Bevor Achmed Ali seine Waffen in serienmäßiger Standardausführung einsetzen konnte, wurde er bereits von Azzie mit gezackten Blitzstrahlen der kleinen, explosiven und schmerzhaften Version beschossen. Er tauchte ab und scherte seitlich aus, aber die Lichtblitze kamen immer näher, versengten die Ränder des Teppichs und beeinträchtigten seine ohnehin dürftigen aerodynamischen Werte noch mehr. Wie kräftig er auch an den Längs- und Querseilen riß, er konnte sein Fluggerät nicht mehr unter Kontrolle bringen. Der Teppich neigte sich bedrohlich, und Achmed mußte sich mit beiden Händen an einem Rand festklammern. Als er seinen Griff von Prinzessin Rosenrots Handgelenk löste, rutschte sie auf die Kante des Teppichs zu, der jetzt beinahe senkrecht stand, rutschte über sie hinweg – und wirbelte haltlos durch die Luft.

Ihr Entsetzen war so groß, daß nicht einmal ein Schrei über ihre gelähmten Lippen kam. Das Meer näherte sich ihr mit rasender Geschwindigkeit, und direkt unter ihr lag eine kleine steile Insel, die unglaublich schnell zu ihr emporschoß.

Der Tod schien unausweichlich, doch im letztmöglichen Moment, als die nadelspitzen Felsklippen bereits mit ihren harten Granitfingern nach ihr griffen, schoß Azzie unter ihr hindurch, fing sie auf und legte sie wie einen nassen Mehlsack über die Besenstiele. Rosenrot spürte den heftigen Beschleunigungsdruck, als Azzie eine Schleife um die schroffe Erhebung zog und gleichzeitig darum kämpfte, den Sturzflug abzufangen, der sie direkt in die weiß schäumende See zu führen drohte. Und dann hatte er es geschafft, und sie gewannen wieder an Höhe. Gerettet!

»Oh, Onkel Azzie!« stieß Rosenrot hervor. »Ich bin ja so froh, dich zu sehen! Ich hatte solche Angst!«

»Du warst sehr ungezogen«, knurrte Azzie. »Wäre das Spiel nicht schon so weit vorangeschritten, hätte ich dich in das Serail des Großen Herrschers über alle Türken gehen lassen und mir eine neue Prinzessin Rosenrot gemacht. Mein junger Prinz verdient ein treues Herz!«

»Ich werde nie wieder davonlaufen«, plapperte Rosenrot, »das verspreche ich. Ich werde ruhig in meinem Zimmer schlummern und warten, bis er kommt.«

»Wenigstens hat diese ganze Angelegenheit zu einer Moral und einer Lektion in Sachen Gehorsam geführt«, sagte Azzie und nahm Kurs auf das verzauberte Schloß.

KAPITEL 9

Nachdem er sich seine Kreditkarte zurückgeholt und Prinzessin Rosenrot wieder dort abgeliefert hatte, wo sie hingehörte, flog Azzie weiter nach Paris, das schon immer eine seiner Lieblingsstädte gewesen war. Er hatte beschlossen, sich ein paar Tage lang von Augsburg fernzuhalten, um dem Märchenprinzen Zeit zu geben, über dem Miniaturgemälde von Prinzessin Rosenrot zu schmachten, das zu berühren ihm verboten worden war, und sich so gemäß den Gesetzen der Psychologie in sie zu verlieben.

Wo konnte man sich die Zeit besser vertreiben als in einem der zügellosen satanischen Clubs, für die Paris schon damals berühmt war?

Der Club Heliogabulus, für den sich Azzie entschied, lag in einer Höhle unterhalb von Paris. Nachdem er eine endlos lange Steintreppe hinabgestiegen war, kam er in einer mit Totenköpfen und Skeletten ausgestatteten Grotte heraus. An den Wänden brannten Fackeln in eisernen Fackelhaltern und warfen hier und da düstere Schatten. Die Tische bestanden aus Sarkophagen, die ein einfallsreicher Unternehmer aus Ägypten importiert hatte, wo es sie in unermeßlichen Mengen gab. Särge gewöhnlicherer Bauart dienten als Stühle. Die Getränke wurden von Hilfsteufeln serviert, die Priestersoutanen und Nonnengewänder trugen. Darüber hinaus fungierten sie als willfährige Partner bei den Orgien, in denen die meisten Abende gipfelten. Sex und Tod, es war eine der ersten Themenbars Europas.

»Ihr wünscht?« fragte ein untersetzter Mann im Gewand eines Priesters.

»Bring mir ein teures Importbier«, verlangte Azzie. »Und gibt es etwas zu essen?«

»Nachos«, erwiderte der Kellner.

»Was ist das?«

»Etwas, das Franqois der Entdecker aus der Neuen Welt mitgebracht hat.«

Also bestellte Azzie Nachos, die sich als mit stinkendem Camenbert und Tomatensoße bestrichene Plätzchen aus Hafermehl entpuppten. Er spülte sie mit einem Krug dunklem Bier aus England hinunter und fühlte sich sogleich besser.

Während er aß, kam es ihm so vor, als würde er beobachtet. Er blickte sich um. Am anderen Ende des Raumes stand ein Tisch, der in völliger Dunkelheit lag und nicht einmal von einer Kerzenflamme erhellt wurde. Azzie konnte eine Bewegung in der Finsternis ausmachen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, schien von dort auszugehen.

Azzie beschloß, es vorerst zu ignorieren. Er bestellte eine weitere Portion Nachos und wechselte zu Wein über. Nach einer Weile wurde er beschwipst und im Verlauf des Abends schließlich betrunken. Nicht einfach sturzbetrunken, sondern dämonisch besoffen, und das will wirklich etwas heißen. Er begann, ein kleines Lied anzustimmen, das Dämonen aus Kanaan singen, wenn sie sich amüsieren. Der Text lautete:

Oh, ich fühle keine Pein und kein Name fällt mir ein für die ururalte Freud’ die sich einstellt heut, ihr Leut’ wenn ich saufe viel, viel Wein und ich fühle keine Pein.

Das Lied hatte noch eine Menge Strophen mehr, aber es bereitete Azzie Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern. Es fiel ihm sogar schwer, sich überhaupt an irgend etwas zu erinnern. Es war sehr spät. Er hatte das Gefühl, schon ziemlich lange hier zu sein. Als er sich umsah, bemerkte er, daß die anderen Gäste bereits verschwunden waren. Was hatte man ihm in den Wein getan? Ihm war schwindlig, er war nicht nur betrunken, sondern stinkbesoffen. Sein Magen fühlte sich seltsam an, und er war sich nicht sicher, ob er aufstehen konnte. Schließlich kämpfte er sich unter großen Anstrengungen auf die Beine.

»Wer hat mir das angetan?« wollte er fragen, aber er brachte nur ein Lallen hervor.

»Hallo, Azzie«, erklang eine Stimme irgendwo hinter ihm.

Azzie meinte, die Stimme schon einmal gehört zu haben. Er versuchte, sich umzudrehen, doch genau in diesem Moment traf ihn irgend etwas Schweres auf den Hinterkopf in der Nähe seines linken Ohrs, eine ziemlich empfindliche Stelle für alle Dämonen. Normalerweise hätte er die Wirkung eines solchen Schlages abschütteln können. Es ist nicht leicht, einen Dämon zu Boden zu schlagen. Aber durch den starken Alkohol in Verbindung mit der unbekannten Substanz, die man ihm beigemischt hatte, war Azzies Widerstandskraft gleich Null. Tod und Verdammnis! Er hatte sich in die Falle locken lassen. Und das war alles, was ihm im Moment dazu einfiel, denn er verlor so schnell das Bewußtsein, daß ihm erst sehr viel später klarwerden sollte, überhaupt ohnmächtig geworden zu sein.

KAPITEL 10

Eine unbestimmbare Zeitspanne später wachte Azzie wieder auf, benommen und nicht gerade guter Laune. Er hatte einen gewaltigen Kater. Azzie versuchte, sich auf die Seite zu drehen, um die Schmerzen in seinem Kopf zu lindern, und stellte fest, daß er sich kaum bewegen konnte. Seine Arme schienen gefesselt zu sein, seine Beine ebenfalls. Und der Rest seines Körpers war an einen großen Stuhl geschnallt.

Er öffnete zwei- oder dreimal versuchsweise kurz die Augen, ließ sie dann endgültig offen und sah sich um. Anscheinend befand er sich in einer unterirdischen Kammer. Er sah die Höhlenwände, die mit Glimmer durchsetzt waren und phosphoreszierend schimmerten.

»Hallo!« rief er. »Ist da irgend jemand?«

»O ja«, antwortete ihm eine Stimme. »Ich bin genau hier.«

Azzie strengte sich an, und nach einer Weile konnte er eine Gestalt im düsteren Licht ausmachen. Es war eine kleine Gestalt, und sie trug einen Bart. Er erkannte das Gesicht wieder, zumindest das, was davon unter dem Bartwuchs zu sehen war.

»Rognir!« Es war tatsächlich der Zwerg, den er hatte überreden können, ihm das Felixit und seinen Schatz zu überlassen.

»Ich grüße dich, Azzie.« Die Schadenfreude in Rognirs Stimme war unüberhörbar. »Geht es dir vielleicht nicht allzu gut?«

»Nicht gerade gut, nein«, erwiderte Azzie. »Aber das macht nichts, ich verfüge über große Regenerationskräfte. Ich scheine mich in irgend etwas verfangen zu haben, das mich an diesen Stuhl fesselt. Wenn du mich freundlicherweise losmachen und mir einen Schluck Wasser geben könntest, werde ich bestimmt einigermaßen in Ordnung sein.«

»Dich losmachen?« fragte Rognir. Er lachte höhnisch, wie es Zwerge so oft tun. Andere Stimmen fielen mit ein, gefolgt von einem Flüstern.

»Mit wem sprichst du?« erkundigte sich Azzie. Nachdem sich seine Augen allmählich auf die Lichtverhältnisse einstellten, konnte er sehen, daß sich außer ihm und Rognir noch andere Gestalten in der Höhle befanden. Es waren kleine Männer, alles Zwerge. Sie standen im Kreis um ihn herum und starrten ihn mit glitzernden Augen an.

»Das sind Zwerge aus meinem Stamm«, sagte Rognir. »Ich könnte sie dir vorstellen, aber wozu sich die Mühe machen? Du wirst nicht lange genug für belanglose Plaudereien und unterhaltsame Gespräche hier sein.«

»Aber was hat das alles zu bedeuten?« fragte Azzie, obwohl er es sich recht gut vorstellen konnte.

»Du schuldest mir etwas, darum geht es«, erwiderte Rognir.

»Das weiß ich. Aber ist das eine vernünftige Art, darüber zu diskutieren?«

»Dein Diener wollte uns nicht ins Haus lassen, als wir gekommen sind, um mit dir darüber zu sprechen.«

»Dieser Frike«, schmunzelte Azzie. »Er ist so fürsorglich.«

»Vielleicht ist er das. Aber ich will mein Geld, und ich bin hier, um es einzutreiben. Sofort. Auf der Stelle.«

Azzie zuckte die Achseln. »Du hast vermutlich bereits meine Taschen durchwühlt und weißt deshalb, daß ich außer Kleingeld und ein oder zwei Ersatzzaubern nichts bei mir habe.«

»Und selbst das hast du jetzt nicht mehr«, gab Rognir zurück. »Wir habe es dir abgenommen.«

»Was willst du dann noch von mir?«

»Die Rückzahlung! Ich möchte nicht nur den Gewinn, den du mir für meinen Schatz versprochen hast, sondern auch den Schatz selbst.«

Azzie gab ein leises belustigtes Lachen von sich. »Mein lieber Freund, das wäre doch alles gar nicht nötig gewesen. Tatsächlich bin ich sogar nach Paris gekommen, um dich aufzusuchen und dir mitzuteilen, wie gut sich deine Investition entwickelt.«

»Hah!« machte Rognir, eine Bemerkung, die alles mögliche bedeuten konnte, in diesem Fall wohl aber seine Ungläubigkeit ausdrücken sollte.

»Komm schon, Rognir, diese Maßnahmen sind wirklich überflüssig. Laß mich frei, und wir sprechen wie Ehrenmänner über alles.«

»Du bist kein Ehrenmann«, stellte Rognir fest. »Du bist ein Dämon.«

»Und du bist ein Zwerg«, konterte Azzie. »Aber du weißt, was ich meine.«

»Ich möchte mein Geld.«

»Du scheinst vergessen zu haben, daß die Vereinbarung für ein Jahr gilt«, sagte Azzie. »Die Frist ist noch nicht abgelaufen. Du machst gute Profite. Wenn die Zeit gekommen ist, erhältst du dein Kapital zurück.«

»Ich habe mir diese Sache überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß mir die Vorstellung, sein Kapital für sich arbeiten zu lassen, nicht behagt. Ich habe den Verdacht, es könnte der Arbeiterklasse – wie uns Zwergen – etwas Furchtbares antun. Du weißt schon, ein Juwel im Sack ist besser als zwei oder drei auf irgendeinem ausländischen Kapitalmarkt, der zusammenbrechen könnte.«

»Ein Handel ist ein Handel«, erwiderte Azzie, »und du warst einverstanden, mir dein Kapital für ein Jahr zu überlassen.«

»Na schön, dann ziehe ich meine Zusage jetzt eben zurück. Ich will meinen Einsatz wiederhaben.«

»Solange ich gefesselt bin, kann ich nichts für dich tun«, sagte Azzie.

»Aber wenn wir dich freilassen, ziehst du irgendeinen Zauber aus dem Ärmel, und das war es dann für uns und unser Geld.«

Genau das war Azzies Plan gewesen. Um die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken, fragte er: »Was hat es mit diesem ›uns‹ und ›wir‹ auf sich? Warum mischen sich diese anderen Zwerge ein?«

»Sie sind meine Partner in diesem Unternehmen«, erklärte Rognir. »Vielleicht kannst du mich zu irgendeiner Dummheit überreden, aber sie wirst du nicht so einfach hereinlegen können.«

Einer der anderen Zwerge trat vor. Er war selbst nach Zwergenmaßstäben klein und hatte einen weißen Bart, der nur um den Mund herum gelbe Flecken aufwies, die von Kautabak herrührten.

»Ich bin Elgar«, stellte er sich vor. »Du hast diesen naiven Zwerg übertölpelt, aber damit wirst du bei uns nicht durchkommen. Gib uns auf der Stelle unser Geld oder einen entsprechenden Gegenwert zurück.«

»Wie ich bereits gesagt habe, kann ich nichts tun, solange ich an beiden Armen gefesselt bin«, sagte Azzie. »Ich kann mir nicht einmal die Nase putzen.«

»Wozu willst du dir die Nase putzen?« wollte Elgar wissen. »Sie läuft ja gar nicht.«

»Das war nur eine bildliche Redewendung«, gab Azzie zurück. »Was ich meine…«

»Wir wissen, was du meinst«, unterbrach ihn Elgar. »Du wirst nichts mit uns anstellen. Wir haben Pläne mit dir, mein Freund, wenn du nicht bezahlen kannst.«

»Ich kann bezahlen, aber nicht, wenn ich an diesem Stuhl festgebunden bleibe.« Azzie brachte ein gewinnendes Lächeln zustande. »Bindet mich los und gebt mir die Gelegenheit, ein paar meiner Kapitalrücklagen anzugreifen. Ich werde sofort zurückkommen, und ich bin bereit, darauf jeden Eid zu schwören, den ihr von mir verlangt.«

»Du wirst nirgendwo hingehen«, stellte Elgar fest. »Wenn wir dir auch nur den kleinsten Spielraum lassen, wirst du dich mit deinen verfluchten Zauberkräften auf uns stürzen. Du hast Zeit, Rognir alles zurückzugeben, was du ihm schuldest, bis ich bis drei gezählt habe. Eins, zwei, drei. Kein Geld? Gut, dann war es das für dich.«

»Was meinst du damit?« fragte Azzie. »Was war was für mich?«

»Du hast es dir selbst eingebrockt, das war es.«

»Was eingebrockt?«

Elgar drehte sich zu den anderen um. »In Ordnung, Jungs, schaffen wir ihn zum Laufrad.«

Das war etwas, wovon Azzie noch nie zuvor gehört hatte, aber wie es schien, würde er schon bald herausfinden, worum es sich dabei handelte. Eine Menge kleiner schwieliger Hände packte den Stuhl, auf dem er saß, und schleppte ihn tiefer in die Höhle hinein.

KAPITEL 11

Die Zwerge sangen, während sie dem Tunnel folgten und immer tiefer in die Eingeweide der Erde vordrangen. Sie marschierten um Kehren herum, über Buckel hinweg, wichen Sackgassen und Schluchten aus und wateten durch eiskalte Bäche. Es war so dunkel, daß Azzies Augen zu schmerzen begannen, so angestrengt bemühte er sich, irgend etwas zu erkennen. Die Zwerge zogen weiter und stimmten andere Lieder in einer Sprache an, die Azzie unbekannt war. Schließlich erreichten sie einen Durchgang, der auf eine riesige unterirdische Ebene führte.

»Wo sind wir hier?« wollte Azzie wissen. Die Zwerge antworteten nicht. Viele kleine Hände hielten ihn fest umklammert, während sie ihn von seinem Stuhl losbanden und an irgend etwas anderes fesselten. Der Berührung nach hielt Azzie es für eine Art Gestell, das aus Metall und Holzstücken bestand. Als er versuchte, einen Schritt zu machen, bewegte sich etwas unter seinen Füßen. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, daß man ihn in einem großen Rad festgeschnallt hatte, ähnlich dem Wasserrad einer Mühle. Seine Beine waren frei, aber man hatte ihm die Hände an Griffen rechts und links des Rades gefesselt.

»Das ist ein Arbeitsrad«, erklärte Rognir. »Wenn du läufst, dreht es sich und treibt über eine Reihe von Übersetzungen ein zweites Rad an, das wiederum verschiedene Wellen dreht, die ihrerseits Maschinen in einer der höher gelegenen Kammern antreiben.«

»Interessant«, erwiderte Azzie. »Na und?«

»Wir erwarten von dir, in dem Rad zu laufen und es dadurch zu drehen. Auf diese Weise wirst du uns bei der Arbeit helfen und damit deine Schulden abzahlen. Das dürfte nur ein paar hundert Jahre dauern.«

»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte Azzie.

»Wie du willst«, gab Rognir zurück. »In Ordnung, Jungs, öffnet das Schleusentor.«

Ein knirschendes Geräusch klang über ihm auf, und dann begann, irgend etwas auf ihn herabzufallen. Es war ein Regen aus Exkrementen, wie ihm seine Nase schnell verriet, aber es handelte sich weder um normale menschliche noch um dämonische Exkremente – und Azzie mußte es wissen, schließlich hatte er eine Menge Zeit mit dem Zeug zu tun gehabt. Diese Exkremente jedoch stanken derart bestialisch, daß seine Geruchsnerven versuchten, Harakiri zu begehen.

»Was ist das für ein Zeug?« brüllte er.

»Alte fermentierte Drachenscheiße«, sagte Rognir. »Wir sind hier ganz in der Nähe einer Drachenhöhle, und wir haben den Mist als kleinen Arbeitsanreiz für dich vom Boden gekratzt.«

Azzies Beine begannen, sich wie von selbst zu bewegen. Das Rad drehte sich. Kurz darauf versiegte der Regen aus Drachenscheiße.

»Die Sache funktioniert folgendermaßen«, erklärte Rognir. »Wenn du aufhörst zu laufen, regnet es so lange Drachenscheiße, bis du wieder damit anfängst.«

»Aber wie steht es mit Ruhepausen?« fragte Azzie.

»Wir werden dir schon sagen, wann du dich ausruhen kannst«, sagte Elgar, und die anderen Zwerge lachten.

»Hört mir doch zu!« rief Azzie. »Ich habe wichtige Dinge zu erledigen! Ihr müßt mich hier rauslassen, damit ich mich darum kümmern kann! Ich zahle euch meine Schulden zurück…«

»Das wirst du allerdings tun«, bestätigte Rognir. »Entweder in bar oder in Form von Arbeit. Dann also bis später, Dämon.«

Und damit verschwanden die Zwerge. Azzie blieb allein zurück, drehte das Rad und dachte verzweifelt nach.

KAPITEL 12

Azzrie lief vor sich hin, trieb das Rad an und verfluchte sich dafür, Frike nicht mitgeteilt zu haben, wohin er gehen würde. Er hatte ganz einfach das Haus verlassen, ohne seinem Diener irgendwelche Anweisungen zu geben. Und aus, gerechnet jetzt, da der Zeitpunkt, den Märchenprinzen in sein Abenteuer ziehen zu lassen, schon mehr als überfällig war, steckte er in der Dunkelheit irgendwo unter Paris fest und war dazu verdammt, ein Rad für einen Haufen dämlicher Zwerge zu drehen.

»Hallo, du da«, meldete sich eine Stimme. »Bist du ein Dämon?«

»Wer spricht da mit mir?«

»Wenn du den Kopf senkst, kannst du mich ein Stückchen neben deinem rechten Fuß sehen.«

Azzie blickte in die angegebene Richtung und entdeckte einen etwa fünfzehn Zentimeter langen Wurm.

»Du bist ein Wurm?«

»Ja, ich bin ein Wurm. Bist du ein Dämon?«

»Richtig. Und wenn du mir helfen kannst, mache ich dir ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst.«

»Was wäre das?« wollte der Wurm wissen.

»Wenn du mir hier raushilfst, mache ich dich zum König aller Würmer.«

»Eigentlich haben wir Würmer gar keine Könige. Wir haben Bezirksleiter und einen Hohen Rat.«

»Ich mache dich zum Vorsitzenden des Rates.«

»Um für diesen Posten in Frage zu kommen, muß ich erst Bezirksleiter werden.«

»Auch gut. Dann werde ich dich zum Bezirksleiter machen. Wie heißt du?«

»Elton Wurmbrut. Aber meine Freunde nennen mich Tom.«

»In Ordnung, Tom, wie sieht es aus? Wirst du mir helfen?«

»Ich könnte es tun. In letzter Zeit ist es hier unten ziemlich ruhig gewesen. Ich könnte dir vielleicht helfen, um etwas gegen die Langeweile zu tun. Andererseits aber könnte ich es auch bleibenlassen.«

»Also, wofür wirst du dich entscheiden?«

»Ich bin mir nicht sicher. Dräng mich nicht. Wir Würmer sind etwas träge im Denken.«

»Entschuldige. Nimm dir Zeit… Hast du jetzt genug Zeit gehabt?«

»Nein, ich habe noch nicht mal angefangen, darüber nachzudenken.«

Azzie zügelte seine Ungeduld. »In Ordnung, nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Sag mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast.«

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