Alle Eroberungskriege haben denselben Vater, lautete ein Sprichwort bei dem Wüstenstamm der Bengard. Es ist der Hunger. Er und seine Enkel – Lust, Gier, Wut, Rache – sind alle aus demselben Sand geformt.
Wenn jemand die Abstammung des Krieges kannte, dann waren es die Bengard. Sie waren große, ölhäutige, kriegerische Männer und Frauen von gewaltiger Größe und beachtlichem Umfang, deren Eroberungskriege in der bekannten Welt ohnegleichen waren, und sie hegten den festen und tiefen Glauben, dass Krieg nicht, nur unvermeidlich, sondern auch nötig und nützlich war. In ihrer andauernden Alarmbereitschaft und dem Willen, aus fast jedem Grund zu kämpfen, lag etwas beinahe Heiliges, das von dieser Kultur mit ihren begrenzten Rohstoffen und dem kargen Land über alles andere geschätzt und bewundert wurde. Es war nicht Kampf um des Kampfes willen, sondern eher Kriegsbereitschaft, sei es zum Angriff oder zur Verteidigung, was sie bei einem Ausbruch von Frieden in die Gladiatorenarena trieb.
Und die Tatsache, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod als ziemlich spaßig ansahen.
Doch eines hatten die Bengard nie begriffen: Während der Vater des Krieges der Hunger war, so war dessen Mutter zuweilen die Angst.
Mehr als alles andere fürchtete Beliac, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. In wachem Zustand verbannte er diese Angst in die Tiefen seines Unterbewusstseins.
In einer anderen Situation und bei einem anderen Mann hätte man diese Angst für noch irrationaler als viele andere halten können. Während Angst ein Kobold war, der sich in den schwarzen Schlünden des Geistes aufhielt und im hellen Tageslicht keine Existenzberechtigung mehr hatte, war die Furcht, lebendig verspeist zu werden, eher seltsam angesichts der üblichen Ängste – der Angst vor der Dunkelheit oder dem Eingeschlossensein, vor Reptilien oder Spinnen, vor der Höhe oder dem Scheintod. Wenn es jemand anderes als Beliac gewesen wäre, hätte man die Angst davor, dass ihm bei lebendigem Leibe das Fleisch abgenagt und vor seinen Augen heruntergeschluckt werde, durchaus als verrückt bezeichnen können.
Doch Beliac hatte einen besseren Grund als die meisten, sich vor einer solchen Möglichkeit zu fürchten.
Beliac war der König von Golgarn, der ans Meer grenzenden Nation im Südosten hinter den Manteiden, den Bergen, die auch als Zahnfelsen bekannt waren.
Und seine Nachbarn im Norden waren die Firbolg.
Im Vergleich zu den anderen Monarchen auf dem Kontinent war Beliac schon lange König von Golgarn. Er hatte den Thron seiner friedfertigen Nation vor mehr als einem Vierteljahrhundert bestiegen, und seine Regentschaft war angenehm gewesen. Sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum war von der Bevölkerung mit einem großen Fest gefeiert worden. Die Berge, die für den Handel nach Norden ein großes Hindernis darstellten, waren zugleich sein größter Schutz, und in Anbetracht der Legenden über das Volk, das auf der anderen Seite der Berge lebte, war er für diese Barriere sehr dankbar.
Dennoch erinnerte er sich genau an all die Geschichten des Grauens, die ihm in seiner Kindheit von seinen Kindermädchen und Spielgefährten erzählt worden waren. Es waren Geschichten von plündernden und mordenden Ungeheuern, welche wie Ziegen auf Händen und Füßen durch das Gebirge huschten und nach Beute in Form von menschlichen Kindern suchten. Als er älter geworden war und die Geschichte des Kontinents studiert hatte, war ihm bewusst geworden, dass diese Schreckensgeschichten einen wahren Kern besaßen und die Firbolg in der Tat eine kannibalische Rasse waren, gehärtet durch die Eroberungen aller Länder, in denen sie je gewohnt hatten. Sie hatten von jeder Kultur etwas aufgenommen, mit der sie in Berührung gekommen waren. Sie waren halbmenschliche Ratten, und wie die Ratten taten sie alles, was für ihr Überleben erforderlich war – einschließlich des Verspeisens ihrer Feinde.
Es spielte keine Rolle, dass Beliac noch nie einen Firbolg gesehen hatte. Es war gleichermaßen egal, dass bisher keiner seiner Ratgeber oder Verbündeten einem begegnet war. Die Firbolg hatten die Bergstadt Canrif in den nördlichen Manteiden eingenommen, was gegen Ende des Cymrischen Krieges etwa dreihundert Jahre vor der Regentschaft von Beliacs Vater geschehen war, und seitdem lebten sie dort, jagten gelegentlich Bergziegen, verirrtes Wild und sich selbst. Die Bewohner von Golgarn hatten von ihnen bisher keine Überfälle und Gewalttätigkeiten erdulden müssen.
Aber das war gleichgültig.
Beliac hatte wie jeder andere Junge in seinem Königreich als Kind die Geschichten über heimliche Angriffe zur Nachtzeit gehört, wenn die Bolg durch die Fenster der Kinder kletterten, Neugeborene aus den Wiegen stahlen und sie unter dem Geräusch mahlender Kiefer und schmatzender Lippen in die Nacht hinaustrugen. Den Legenden zufolge wurden die Kinder stückweise verspeist. Es hieß, die Bolg drückten ihnen ein Kissen auf das Gesicht, um sicherzustellen, dass sie keinen Laut von sich gaben, während die Ungeheuer die Kleinen aus Golgarn von den Füßen an nach oben hin verschlangen. Beliac hatte im Alter von acht Sommern die Angewohnheit seiner Freunde angenommen und es vermieden, auf einem Kissen oder ohne Schuhe zu schlafen.
Als er zum Mann herangereift war, hatte er allmählich erkannt, dass diese Geschichten Lügen waren, Legenden wie jene von den Gespenstern und Ungeheuern, welche sich die Kinder gern gegenseitig erzählten, um einander zu erschrecken. Dennoch war etwas tief in ihn gepflanzt worden, irgendwo zwischen Verstand und Unvernunft. Im Gegensatz zu den anderen Kindern war er im Bewusstsein der Verantwortung für ein ganzes Reich erzogen worden, das er einmal würde beschützen müssen, und diese Verantwortung hatte er nie abschütteln können. Es war ihm nicht gelungen, dieses Grauen zu überwinden, auch wenn er nervös darüber lachte und versuchte, es aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.
Es war eine persönliche Schwäche, die er vor vielen Jahren einmal unbedachterweise während eines Essens, das von den Weingeistern Argauts begleitet worden war, einem seiner Freunde gegenüber erwähnt hatte.
Einem Kaufmann namens Talquist.
Die Rabengilde von Yarim hatte schon immer einen weiblichen Gildenmeister gehabt.
Niemand wusste genau, warum das so war. Die meisten Gilden in der Unterwelt der organisierten Diebe und Mörder wurden von einem Meister geführt, dessen Stärke und Unbarmherzigkeit immer wieder auf die Probe gestellt wurde, bis er endlich unumschränkt herrschen konnte. Unterstützt wurde er dabei von einer ganzen Kohorte ähnlich starker Handlanger und Lakaien. Es war dasselbe System wie in den Palästen, Kasernen und Handelshäusern der ganzen Welt, doch oft fiel man sich nicht so sehr in den Rücken wie dort. Diebe und Mörder wussten im Gegensatz zu Königen, Soldaten und Händlern, wann sie sich zurückziehen mussten.
Aber in der Rabengilde von Yarim war es anders. Im Gegensatz zu allen Brudergilden auf der ganzen Welt befand sie sich von Anfang an im stählernen Griff einer Reihe von Frauen. Daher war sie nicht nur die am besten organisierte aller bekannten Gilden und hielt die gesamte Macht der Hauptstadt Yarim Paar unter strenger Kontrolle, sondern sie war auch die gnadenloseste, und rachsüchtigste.
Die Mütter der Gilde hatten seit jeher die Notwendigkeit erkannt, sich einen großen Teil der Industrie in der Stadt anzueignen – in Yarim Paar handelte es sich hierbei um eine gewaltige Ziegelbrennerei –, sodass die schändlicheren Aspekte der Gildengeschäfte nur Nebenerwerb und Mittel waren, die Oberherrschaft zu behalten. Die Gilde arbeitete öffentlich, und sogar der Herzog der Provinz wagte es nicht, sie in ihren Tätigkeiten zu behindern. Einer seiner Vorfahren war so dumm gewesen, dies zu versuchen, und daraufhin wäre die dynastische Linie fast untergegangen.
Daher zeigten die Mitglieder der Rabengilde eine beinahe religiöse Hingabe an ihre Gildenmeisterin. Esten die gegenwärtige Meisterin, wurde wie eine Göttin verehrt, seit Dranth, der Kronprinz der Gilde, mit angesehen hatte, wie sie im Alter von acht Sommern einen Soldaten in einer Hintergasse ausgeweidet hatte. Sie war schnell zu einer alles beherrschenden Frau geworden und hatte während ihres gesamten Erwachsenenlebens die Gilde, die Stadt und einen großen Teil der Provinz Yarim in ihrem gnadenlosen Griff gehalten. Die Rabengilde herrschte unangefochten auf dem Schwarzmarkt, bei Diebstahl, Mord und einer Reihe noch grausamerer Verbrechen und erhob ihre Schrecklichkeiten zur reinen Kunstform.
Doch die Gildenmeisterin war erst kürzlich und völlig unerwartet vom General des Bolg-Königs ermordet worden.
Die Gilde litt noch immer unter dem Schock, den sie erfahren hatte, als man ihr in einer Lederkiste den vom Rumpf abgetrennten und nachlässig in Pergament eingewickelten Kopf der Meisterin übersandt hatte. Der ewig währende Bluteid, den alle Mitglieder daraufhin gegen die Männer geschworen hatten, die nun ihre Feinde waren – Achmed die Schlange, der König von Ylorc, und sein Militärkommandant, Estens Mörder –, war das dunkelste Racheversprechen, das je erklärt worden war. Wenn die Gilde auf ihrem Geheimtreffen zur Planung schändlicher Verbrechen gewusst hätte, dass dieser König, sein Sergeant und die cymrische Herrscherin verstohlen über den roten Lehm und Sand der offenen Wüste dieser Provinz liefen, dann hätte sich die Gildenhalle wie ein platzendes Herz plötzlich entleert, und Blut wäre auf den Wüstensand geflossen, bis er schwarz geworden wäre.
Doch die Gilde wusste nichts vom Weg der drei durch ihr Gebiet.
Und die Anführer der Gilde befanden sich nicht in Yarim. Sie waren in Golgarn. Keiner von ihnen hatte je zuvor diese Nation bereist, doch sie suchten dort ihre Brudergilde in den dunkleren Straßen der Hafenstadt auf.
Dranth, der Kronprinz der Gilde, blieb angeekelt vor einer schmutzigen Taverne in einer Seitenstraße des Seemannsviertels stehen und wandte sich an Yabrith, einen der führenden Gildenmänner, einen Dieb, Mörder und Schläger. Der Ausdruck der Verärgerung machte Dranths hohlwangiges Gesicht noch beängstigender.
»Was für ein Geschäft betreibt dieser so genannte Spinnenhaufen?«, fragte er verächtlich. »Das hier ist schon der dritte Ort, und alle sind verlassen. Proletarier! Diese Gilde besitzt nicht einmal eine richtige Halle. Ich kann einfach nicht glauben, dass Esten mit ihnen etwas zu tun hatte. Sie sind nichts anderes als Straßenratten, die von einem Loch ins nächste huschen, wenn sie wieder einmal aufgescheucht wurden. Es beschämt mich, dass wir entfernt denselben Beruf haben.«
Yabrith schaute sich nervös in der Gasse um. »Man kann sich nie sicher sein, Herr. Vielleicht sollten wir erst den letzten der Orte überprüfen, die man uns genannt hat, oder?«
»Uns bleibt wohl nichts anderes übrig«, stimmte Dranth ihm zu. Er zog sich die Kapuze seines Mantels enger um den Kopf, ging die Gasse hinauf zum Kai und suchte nach dem Zeichen eines Schmieds, dem Fass mit dem roten Reifen darum.
Der Wind, der vom Meer her blies, war frisch und salzig, ganz anders als die heißen Brisen voller Sand und der Rauch aus der Ziegelei, an die sie gewöhnt waren. Als die beiden Männer die Straßenecke umrundeten stemmten sie sich gegen den Wind, der nun nach fauligen Fässern und Fisch sowie nach Pech und verrottendem Holz stank.
Der Hafen von Golgarn war für eine so kleine Nation von beeindruckender Größe; seine siebenhundert Kais und Docks waren zu jeder Jahreszeit voll besetzt. Golgarns Marine hatte ihren eigenen Außenhafen, durch den alle Handels- und Kriegsschiffe fahren mussten und der die Docks davor bewahrte, zu einem Zufluchtsort für illegalen Handel zu werden. Der Haupterwerb des Landes war der Handel, denn es besaß einen der östlichsten geschützten Häfen der bekannten Welt, der zu weit von Sorbolds Skelettküste entfernt war, um in Konkurrenz zu ihr zu treten. Der zweitgrößte Erwerbszweig war die diesen Handel unterstützende Gastfreundschaft. Tavernen, Herbergen und Wirtschaften jeder Art säumten die Straßen, die vom Wasser wegführten, und kümmerten sich um alle möglichen Bedürfnisse ihrer seefahrenden Kundschaft.
Der östlichste Teil der Stadt, der unter dem Namen Juwelenstraßen bekannt war, war der eleganteste; er hatte wunderschöne Wirtshäuser, teure Speiselokale und gut ausgestattete Läden, die mit allen möglich Waren aus der bekannten Welt sowie mit den Erzeugnissen der berühmtesten Weber und Goldschmiede Golgarns handelten, welche die außergewöhnlich weiche Wolle der heimischen Bergschafe und die Saphire, Rubine und Turmaline aus den Minen in den Bergen verarbeiteten.
Je weiter man von den Juwelenstraßen wegging, desto schlichter wurden die Angebote. Der Mittelpunkt der Stadt, der um ein riesiges Wohnheim mit dem Namen Seemannsrast herumgebaut war, war ein sauberes, freundliches Gebiet mit vielen Gaststätten und Läden für die Arbeiter und Arbeiterinnen der Stadt und für all jene, welche zur See fuhren und eine ruhige, friedliche Nacht verbringen wollten, bevor sie wieder ausliefen.
Weiter im Westen, bei den weniger besuchten Piers und den Fischerdörfern, waren die Läden und Bierhäuser heruntergekommener. Hier zogen die ärmeren Söhne Golgarns schon seit unvordenklichen Zeiten den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien aus dem Wasser. In diesen Stadtteilen war das Leben rauer, die Polizei weniger sichtbar, doch die Marinesoldaten und die bewaffnete Küstenwache waren niemals allzu weit entfernt. Der Handel übers Meer zog auch unangenehme Elemente an, und so hatte Golgarn eine der am besten ausgerüsteten Seestreitkräfte der bekannten Welt, nicht um einen Seekrieg zu führen oder mit ihren Armadas andere Hafenstädte zu bedrohen, sondern um Piraten und anderen Abschaum des Meeres fernzuhalten, der die Küstennationen als Beute ansah.
Als Dranth und Yabrith im verdämmernden Nachmittagslicht über die Kaianlagen gingen, suchten sie über ihren Köpfen nach dem Zeichen eines Schmieds. Bald wurde es deutlich, dass die Luft über den Fischräucherbuden eine andere Farbe hatte als über den Geschäften, die dauerhaftere Güter verkauften; also verließen sie die Straßen in unmittelbarer Hafennähe und begaben sich tiefer in den westlichen Distrikt hinein, wo schmale Gassen zwischen geschwärzten Steingebäuden verliefen, deren Läden und Treppen zum größten Teil zerfallen oder in der salzigen Luft verrottet waren.
Vor einem solchen Haus, dessen Ladenfront wie ein gähnendes Maul geöffnet war, befand sich ein Fass mit einem roten Metallreifen darum. Beißender schwarzer Rauch stieg aus dem breiten Kamin und quoll auch aus der Front des kleinen Hauses, wodurch die Öffnung zur Straße hin noch mehr wie ein dämonischer Mund aussah. Ein harsches, tiefes Rasseln drang aus dem Laden.
»Das ist die letzte Adresse«, flüsterte Yabrith.
Dranth schlenderte zur Tür, fächelte den Rauch beiseite und schaute hinein.
Ein schwerer Mann mit muskulösen Armen und einem vorstehenden Bauch schlug mit einem enormen Vorschlaghammer auf einen Amboss und brachte einen rot glühenden eisernen Reif in Form. Sein beinahe haarloser Kopf wurde von einem schneeweißen Kranz gekrönt, dem einzigen Teil von ihm, der zumindest annähernd hell war, so sehr war er mit Ruß bedeckt. Sein Gesicht glänzte rot in der Hitze des Schmelzfeuers, und er grunzte bei jedem Hammerschlag auf. Drei dürre Jungen wechselten sich an einem alten, zerknitterten Blasebalg ab.
Dranth unterdrückte sein Missfallen und trat durch den Rauch.
»Jan Burgett?«
Der Mann am Amboss schaute auf. Er schlug noch zweimal kurz auf den Reif ein und legte dann den Hammer neben den Amboss.
»Wer will das wissen?«
»Ich überbringe dir Grüße von meiner Kusine in den Bergen«, antwortete Dranth. Das war eine Parole, die nur jene kannten, die mit den dunkelsten Geheimnissen der Gilde vertraut waren.
Der schwere Mann atmete tief ein und dämpfte das Feuer. Er drehte sich um und brüllte über seine Schulter: »Taffi! Komm her und kümmere dich um den Amboss. Ihr Lehrlinge, macht weiter mit dem Blasebalg.«
Ein dicker, schwarzhaariger Mann mit wieselartigem Gesicht tauchte aus dem hinteren Bereich des Raumes auf. Der schwere Mann nahm seine Lederschürze ab und warf sie ihm zu, dann wischte er sich die Hände an der Hose ab und kam herüber zu Dranth und Yabrith.
»Hat deine Kusine auch einen Namen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Dranth. »Sie heißt Esten.«
»Hmmm«, meinte der Mann. »Dann glaube ich, dass ich Jan Bürgert bin. Was wollt ihr Herren von mir?«
»Ich will dir ein Geschäft vorschlagen«, sagte Dranth.
Der Mann grinste breit. »Hat dein Pferd ein Hufeisen verloren?«
»Ja«, sagte Dranth mit beißender Schärfe. »Genau das.«
Der breite Mann kicherte, nickte Taffi zu und bedeutete den beiden Männern, ihm zu folgen.
Er führte sie schweigend aus der von Rauch erfüllten Schmiede und durch die schmale Gasse zurück zum Kai. Dranth und Yabrith waren solches Schweigen gewöhnt.
Sie folgten ihm an baufälligen Hütten und Rasthäusern vorbei, an Tavernen und Herbergen, bis sie schließlich zum Wasser kamen. Der Mann, der sich Jan Burgett nannte, pfiff fröhlich, während sie sich dem Kai näherten, und ging geradewegs auf ein langes Dock am westlichen Ende der Stadt zu, das bereits mitten im Fischerdorf lag.
Die Nacht brach herein, und niemand schenkte ihnen Aufmerksamkeit. Dutzende Fischer kamen, entluden ihren zweiten Fang des Tages, leerten die Ausbeute ihrer Muschelfallen und Hummertöpfe in Wagen und Pferdekarren, die entlang des Kais standen, und begossen die Schalentiere mit Meerwasser. Was um sie herum vor sich ging, beachteten sie nicht. Die Unruhe dieser abendlichen Tätigkeiten war so ansteckend, dass niemand bemerkte, wie die drei Männer vorübergingen.
Dranth und Yabrith wechselten einen raschen Blick, als der Schmied auf die lange Pier stieg und auf deren Ende zuging. Keiner von beiden war je auf dem Wasser gewesen, keiner hatte je zuvor das Meer gesehen, doch Dranth hatte Eis in den Adern, und Yabrith hatte so viel Angst vor Dranth, dass er ihm nichts verweigern konnte. Nach ganz kurzem Zögern betraten beide behutsam die schwankende Pier und folgten dem schweren Mann bis ans Ende.
Während sie dahingingen, beobachteten sie beunruhigt, wie der Mann sich umdrehte und über das Wasser schritt – so schien es jedenfalls. Doch als sie das Ende der Pier erreicht hatten, sahen sie, dass er in einem kleinen Boot stand und soeben ein zusammengerolltes Seil von den rauen Planken warf, die als Sitze dienten. Der Mann schaute zu ihnen hoch und grinste.
»Kommt an Bord, meine Herren«, sagte er.
»Wohin fahren wir?«, wollte Dranth wissen, dessen dunkle Augen nervös Pier und Wasser absuchten.
Der Schmied zuckte die Schultern. »Ich dachte, ihr wollt Jan Burgett sehen«, meinte er fröhlich. »Mein Fehler – ich wünsche euch noch einen schönen Tag.«
Dranth stieß laut die Luft aus und sah in Richtung des offenen Meeres. In der Ferne erkannte er einige Boote mittlerer Größe, die zwar weit draußen, aber noch innerhalb des Hafengeländes vor Anker lagen. Er musste zugeben, dass ein solcher Ort ein ausgezeichneter Schlupfwinkel für ein Unternehmen wie den Spinnenhaufen darstellte. Es war ein bewegliches Versteck, das an allen Seiten von Wasser umgeben war, und es bestand kaum die Gefahr, dass man belauscht wurde.
Die beiden Wüstenbewohner rissen sich zusammen und stiegen in das Ruderboot. Yabrith stolperte und fiel auf die Knie, als das Boot unter ihm schaukelte, was den Schmied sehr erheiterte. Er bot Dranth seine Hand an, doch der Gildenprinz schüttelte den Kopf und kletterte vorsichtig hinunter. Dabei verursachte er nur ein sehr geringes Schwanken. Er setzte sich auf die glitschige Planke, schluckte seinen Ekel herunter und versuchte sich nicht von dem Geruch überwältigen zu lassen.
Der Schmied nahm am anderen Ende des kleinen Bootes Platz, steckte die Ruder in die Riemendollen und ruderte auf die anderen Boote zu.
Während der ganzen Fahrt versuchten Dranth und Yabrith, den Inhalt ihrer Mägen bei sich zu behalten. Wasser war ein wertvolles und seltenes Gut in Yarim; daher waren der Anblick des endlosen Meeres und der dazu gehörige Geruch sowie die Bewegungen überwältigend. Als das kleine Boot die anderen erreicht hatte, waren beide Männer zur offensichtlichen Freude des Schmieds grün im Gesicht. Der Mann ruderte weiter, bis sie den Rand der Ansammlung von Schiffen erreicht hatten, wo Kabinenkutter und muschelverkrustete Schleppnetzfischer anmutig auf den Wellen schaukelten.
Als sie näher kamen, pfiff der Schmied eine fröhliche Melodie, die durch das Geräusch der plätschernden Wellen drang, welche gegen die Bootsrümpfe schlugen. Allmählich sank die Sonne hinter den Rand der Welt und tauchte das Meer in ein rotes Licht, das nun einem gekräuselten Teich aus Blut ähnelte.
Kurz darauf erschien ein kleiner runder Mann mit einer dunkelblauen Kappe und Jacke an Deck des nächstgelegenen Schiffes. Mit den Händen in den Hosentaschen stand er da und beobachtete das herannahende Ruderboot.
Als es schließlich längsseits gekommen war, sicherte der Schmied die Ruder und stand auf. Er ergriff das Seil und warf es dem runden Mann zu, der es mit einer so raschen Bewegung auffing, dass Dranth nicht einmal gesehen hatte, wie er die Hände aus den Hosentaschen genommen hatte. Die beiden Männer aus Golgarn vertäuten das Boot an den Halterungen des anderen Schiffes; dann stieg der Schmied mit leichten Bewegungen aus und kam an Deck. Er drehte sich um und bedeutete Dranth und Yabrith, ihm zu folgen.
Die beiden yarimesischen Mörder schauten einander an.
»Kommt ihr?«, fragte der Schmied geduldig.
Dranth erhob sich langsam und trat vorsichtig über das Dollbord, wobei er versuchte, nicht hinunter auf das grüne Meer zu schauen, das zwischen den beiden Booten lauerte. Er trat an Deck und glitt auf der salzigen Gischt aus, doch es gelang ihm, das Gleichgewicht wieder zu finden. Rasch drehte er sich um und zog Yabrith hinüber, dann deutete er ungeduldig auf den Schmied, der kichernd hinter dem Bug des Schiffes verschwand.
Die beiden Männer aus Yarim folgten ihm rasch. Als sie ebenfalls den Bug umrundet hatten, stellten sie fest, dass sie auf einen ganzen Korridor aus Booten starrten, die Nase an Nase lagen und sanft auf den Wellen schaukelten. Während einige dieser Boote offene Skiffe waren, handelte es sich bei den meisten um Schleppnetzfischer und Hausboote mit dunklen Kajüten, in denen Lichter unheilverkündend flackerten.
Der Schmied erschien wieder, sechs Boote entfernt.
»Kommt ihr Herren zurecht?«, fragte er fürsorglich. »Oder habt ihr vor, zurückzuschwimmen?« Er lachte laut auf und verschwand in der Schwärze des Hausbootes.
Dranth und Yabrith holten gleichzeitig tief Luft und bahnten sich langsam und vorsichtig einen Weg zwischen den Vertäuungen entlang, während das rote Licht auf dem Meer allmählich zum Grau der herannahenden Nacht verblasste.
In der dunklen Kajüte vor ihnen brannte eine Kerze.
Dranth spähte in das Innere.
»Kommt doch bitte herein. Es ist unhöflich, in der Tür stehen zu bleiben.«
Die Stimme war volltönend und tief, aber sie hatte etwas Messerscharfes an sich. Körperlos drang sie aus der Schwärze der Kajüte. Dranth suchte nach ihrem Ursprung, doch die Schatten waren zu dicht und bewegten sich andauernd unter dem Schaukeln des Bootes. Er riss sich zusammen und trat durch die Öffnung.
In dem kleinen, offenen Raum flammten weitere Kerzen auf. Dranth, dem solche Versammlungstaktiken nicht fremd waren, blieb ruhig und wartete darauf, dass die Beleuchtung die Schatten vertrieb. Er sah Schemen in den Ecken; sie waren so weit von den Kerzen entfernt, dass er sie nicht genau erkennen konnte, doch sie waren nahe genug, um ihre Anzahl deutlich werden zu lassen. Den Umrissen zufolge war einer von ihnen der Schmied. Dranth schätzte, dass sich zusätzlich zu ihm und Yabrith, der noch in der Tür stand, acht Personen im Raum befanden. Er schnippte mit den Fingern, und sein Handlanger trat ein.
Die flackernde Kerze, die schon die ganze Zeit über gebrannt hatte, erglühte heller, als weitere Dochte an ihr entzündet wurden. Dranth sah, dass ein schmaler Mann mit roten Haaren und dünnen, scharfen Gesichtszügen dies erledigte. Seine Augen waren riesig und eulenhaft, sie glommen wie Leuchtfeuer in der Finsternis. Als sich das Licht im Raum ausbreitete, erkannte er, dass der Mann drahtig und nicht sonderlich groß war. Seine blasse Haut war von der Sonne gegerbt und faltig vor Alter und vielleicht auch vor übermäßig genossenem Alkohol.
»Und wer besucht uns an diesem schönen Abend?«, fragte der rothaarige Mann.
»Dranth von der Rabengilde«, antwortete der Kronprinz. »Ich komme unter der Schutzherrschaft des Goldenen Maßes.«
Einige der dunklen Gestalten im Raum tauschten Blicke aus, doch der Rothaarige nickte bloß. Diese Parole war nur den Gildenhierarchen bekannt, seien es Kaufleute, Handwerker oder Diebe. Dranth hatte sie benutzt, um bestätigt zu bekommen, was er bereits vermutet hatte. Der Mann am Tisch war der Anführer des Spinnenhaufens.
»Ist das so, Dranth von der Rabengilde?«, fragte der Rothaarige beiläufig. »Und was willst du?«
»Ich suche Jan Burgett.«
»Du hast ihn gefunden«, meinte der Mann. »Und welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen deines Besuchs? Das ist das erste Mal, dass einer aus deiner Gilde persönlich herkommt. Für gewöhnlich haben wir uns mit eurer Herrin durch Brieftauben unterhalten.«
Dranths dunkle Augen nahmen in dem Zwielicht einen Ausdruck der Ungeduld an.
»Ich muss dir einen Vorschlag machen, der zu wichtig ist, um ihn einem Boten anzuvertrauen.«
»Ach, wirklich?«, meinte der Mann, der sich Jan Bürgert nannte, belustigt. »Wir fühlen uns natürlich geehrt. Was ist das denn für ein bedeutsamer Vorschlag? Und warum ist eure Herrin nicht persönlich hergekommen, wenn er so wichtig ist?« Er deutete auf zwei Stühle vor dem Tisch. »Bitte setzt euch. Ihr seht etwas grün im Gesicht aus.«
Dranth wusste nicht, ob der Gildenmeister ihn auf die Probe stellen wollte oder ob die Nachricht die fernen Ufer Golgarns noch nicht erreicht hatte, doch er entschied, dass angesichts der Entfernung kaum ein Risiko bestand, wenn er die Wahrheit sagte. Und angesichts der Flaschen mit Gift, die er an seinem Körper versteckt hatte und gegen das er und Yabrith immun waren, das aber bei einem Angriff auf ihn sofort zum Einsatz kommen würde.
Er setzte sich und bedeutete Yabrith durch ein Nicken, dasselbe zu tun.
»Esten ist tot. Sie wurde ermordet«, sagte er nur. Die Worte waren hart für ihn. Beim Gedanken an das, was geschehen war, fraß immer noch der Schmerz in seinen Eingeweiden. »Ich spreche jetzt für die Gilde.«
Die Schatten im Raum tauschten erneut Blicke aus. Aus einer Ecke drang sogar ein Laut des Erstaunens, wie Dranth mit Befriedigung feststellte. Der Ruf seiner Herrin war allgemein bekannt.
Und das zu Recht.
Nur der Rothaarige schien unbeeindruckt zu sein.
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Burgett. »Wie lautet dein Vorschlag?«
Dranth verschränkte die Hände auf dem Tisch vor sich. »Ich brauche deine Hilfe dabei, einige Informationen zu säen, die für einen Freund von mir wichtig sind«, sagte er geradeheraus. »Es ist eine einfache Aufgabe, und sie ist leicht zu erledigen, besonders wenn man die Neigung des Spinnenhaufens in Betracht zieht, andauernd sein Hauptquartier zu verlagern.«
Bürgert grinste breit und enthüllte dabei bemerkenswert weiße Zähne.
»Ja, so sind wir wirklich«, sagte er. »Wie unsere Namensvettern. Ich vermute, du hast schon einmal Dockspinnen oder vielleicht ihre in der Wüste wohnenden Vettern gesehen, die mit einzigartiger Kunstfertigkeit ihre Netze in Traufen oder zwischen Zaunpfählen oder um Pylone spinnen. Dann kommt jemand mit einem Besen oder einem Stück Stoff und zerstört diese wundervolle Schöpfung mit einem einzigen Wisch, aber am nächsten Morgen ist das Netz wieder da, entweder an derselben Stelle oder an einer anderen, aber genauso großartig.«
»Ich glaube, das habe ich schon gesehen«, sagte Dranth nur.
»So ist es auch mit unserer Gilde. Im Gegensatz zu deiner, die, wie ich höre, dank eures schwachen Provinzfürsten ganz offen operiert, sind wir eine arme Bande, die unter dem Druck der Krone steht. Wegen all dem Handel im Hafen von Golgarn ist jede zweite verdammte Person auf der Straße ein Soldat oder ein Marineinfanterist, der dazu ausgebildet ist, gegen Piraten und andere Verbrecher des Meeres zu kämpfen. Um es kurz zu machen, Dranth, Golgarn wimmelt vor Gesetzeshütern. Da bleibt einer Gilde, die etwas auf sich hält, nichts anderes übrig, als im Schatten zu operieren und sich anzupassen.«
»Das verstehe ich«, sagte Dranth. »Und wenn ihr einverstanden seid, mir zu helfen, kann ich euch vielleicht dabei helfen, diese Lage zu ändern.«
Die schattenhaften Gestalten sahen einander an.
»Tatsächlich?«, fragte Jan Burgett. »Das ist ein großes Wort. Teile uns die Einzelheiten deines Vorschlags mit.«
Dranth lehnte sich zurück. Er griff in seinen Umhang und zog ein in Leder eingewickeltes Päckchen heraus.
»Ihr werdet euch wieder bei einem eurer früheren Pfosten oder Pylone treffen – an einem Ort, der früher schon einmal durchsucht wurde und als euer Treffpunkt bekannt ist und wo euer sprichwörtliches Spinnennetz weggewischt worden ist. Es ist egal, wo das ist, solange die Krone diesen Ort kennt. Ihr werdet dafür sorgen, dass sie davon erfährt – und sie wird ihn abermals stürmen. Wenn sie das tut, habt ihr euch natürlich schon in alle Winde zerstreut, aber sie werden verschiedene Beutestücke, vielleicht auch Waffen, Schmuggelwaren und vor allem diese Dokumente hier finden.«
»Und wenn ich diese Dokumente lesen könnte, was würde ich aus ihnen erfahren?«
Das Boot schwankte stärker, und Dranth drehte es den Magen um. Die Männer des Spinnenhaufens schienen es nicht zu bemerken.
»Es sind Karten«, sagte er. »Karten von Tunneln fünf Meilen hinter Golgarns nordwestlicher Grenze, wo die Firbolg lagern und sich zum Angriff sammeln.«
Der einzige Laut im Raum waren das Knirschen des Schiffes und das Plätschern der Wellen.
Dann lachten die Schatten wie ein Mann auf.
»Die Firbolg?«, meinte Jan Burgett ungläubig. »Bist du sicher, dass sie sich nicht auch noch mit den Kobolden und den Trollen verbündet haben?«
Dranth erwiderte das Lachen nicht.
»Ich versichere dir, Burgett, dass euer König ein solches Lager in den Bergen finden wird, wenn er seine Späher losschickt, um den Wahrheitsgehalt dieser Dokumente zu überprüfen – und das wird er tun.«
»Wird er das?«
»Ja, das wird er. Schlechte sanitäre Einrichtungen, Knochen vor den Höhleneingängen, das ganze Albtraumszenario – auch wenn ihr und ich wissen, dass das Ganze lächerlich ist. Es hat mich einiges gekostet, das alles aufzubauen, aber es ist beeindruckend realistisch.«
Der Rothaarige lächelte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Dann verschränkte er die Finger ineinander und legte die Hände auf seinen Bauch.
»Also gut, ich bin beeindruckt. Aber was für ein Gewinn liegt für dich – und für mich – darin, Beliac davon zu überzeugen, dass die Bolg sich in den Bergen vor Langswerth sammeln?«
»Es ist ein Ablenkungsmanöver«, erklärte Dranth. »Beliac wird über die Vorstellung, dass Golgarn ein Fressen für die Firbolg wird, in Panik geraten. Und da er nicht die Landstreitkräfte hat, um etwas dagegen zu unternehmen, wird er sich an einen Verbündeten wenden, der diese Heere besitzt. Im Gegenzug wird er seine Seestreitkräfte und das traurige kleine Heer, das er hat, jenem Verbündeten zur Verfügung stellen, wenn er nur vor den großen, bösen Firbolg gerettet wird – die sich überhaupt nicht dafür interessieren, ob ihr oder wir leben oder sterben. Für euch bedeutet das, dass die Allgegenwart des Militärs vorbei ist. Sobald die Männer von Golgarn in den kommenden Krieg ziehen, könnt ihr aus den Schatten ans Licht kriechen und werdet auf viele ungeschützte Zivilisten und Besucher eures schönen Landes treffen, die nicht länger den gewohnten Schutz genießen. Die Schiffe will ich dabei erst gar nicht erwähnen. Ihr könnt eure Tätigkeit aus der Schattenzone herausholen und tun, was immer euch beliebt. Und mein vorhin genannter Freund der zufällig der Verbündete ist, an den sich Beliac wenden wird, wird die Unterstützung erhalten, die er für seinen Krieg unbedingt braucht.«
Burgett stieß verwundert die Luft aus. »Und was springt für dich dabei heraus?«
Ein feines Lächeln durchbrach schließlich Dranths steinerne Miene.
»Die Rabengilde wird das erhalten, was sie am meisten begehrt – Rache an denjenigen, deren Taten mir zu meiner Stellung verholfen haben.«
Die eulenartigen Augen funkelten vor Neugier.
»Sehr gut«, sagte der Rothaarige; seine tiefe Stimme klang sanft und volltönend. »Ich nehme deinen Vorschlag an, Dranth von der Rabengilde. Geh zurück zum Kai – folge dem Mann, mit dem du hergekommen bist – und geh allein in der Nacht zu einer Herberge im Windschatten des nördlichen Stadttores. Du wirst den Ort an den Brandmalen draußen und an dem weißen Stroh seines Dachs erkennen. Nimm die Seitentür und bitte die Frau hinter dem Tresen, sie möge ihren Mann herausschicken, weil du mit ihm reden willst. Sag ihm, du willst einen Karrengaul kaufen, und gib ihm deine Papiere. Du kannst sicher sein, dass man sie so auffinden wird, wie du es dir erhoffst.«
»Und wie lautet der Name des Mannes, den ich suche?«, fragte Dranth, während er vom Tisch aufstand und fest mit beiden Beinen auftrat. »Nur für den Fall, dass es am Tresen der Herberge mehr als eine Frau mit einem Mann gibt.«
Die perlenartigen Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit der Kajüte.
»Nun, sein Name lautet natürlich Jan Burgett.«
Nachdem die Herberge durchsucht worden war, landeten die Papiere in Windeseile auf Beliacs Schreibtisch.
Der König befand sich beim Frühstück und süßte gerade seinen Haferbrei mit Zuckersirup, als der Bote eintraf, den der überaus tüchtige Kommandant der Stadtpolizeibrigade losgeschickt hatte.
Der König öffnete das Päckchen des Kommandanten, las den Inhalt und spuckte das Frühstück über die ganze Länge des Tisches aus. Die Königin von Golgarn, die ihm gegenüber saß, stand angeekelt von ihrem Stuhl auf, während seine erwachsenen Kinder ein Lachen unterdrückten.
Sofort wurden Späher losgeschickt, wie Dranth vorhergesagt hatte. Als sie die Bergpässe im Nordwesten der Präfektur Langswerth betraten, bot sich ihnen ein Anblick, der schon seit tausend oder mehr Jahren in den Bereich des Albtraums verbannt war.
Vom Beginn des ersten Passes bis zum Gipfel des Hügels, hinter dem das Reich der Berge begann, erstreckte sich ein aus menschlichen Knochen gebildeter Pfad, der von sorgfältig eingerammten Pflöcken flankiert wurde.
Auf jedem dieser Pflöcke steckte ein menschlicher Kopf in den verschiedensten Stadien der Verwesung.
Der Gestank des Lagerplatzes, der von unterschiedlichen ekelhaften Quellen herrührte, war so überwältigend, dass zwei der vier Späher sofort umdrehten und sich übergaben. Die beiden unerschrockeneren, die etwas stärkere Mägen hatten, wagten sich in den Schutz der Bäume neben dem Pfad und gingen weiter, bis sie eine Stelle erreichten, wo sie durch ein Fernglas das Lager selbst beobachten konnten.
Eine Reihe von Höhlen, die von unten aus nicht sichtbar gewesen waren, wurden von großen, menschenähnlichen Kreaturen bewacht. Sie waren zottig und mit Schmutz überzogen und waren damit beschäftigt, grausam aussehende Waffen zu schärfen und Katapulte mit Armen aufzustellen, die mit Leichtigkeit Gewichte von zweihundert Steinen oder mehr heben konnten. Sie schienen mit ihren Waffen auf den Bergpässen den Abwehrkampf zu üben, doch es gab auch Anzeichen dafür, dass sie weiter oben in den Bergen ähnliche Lager errichtet hatten, von denen aus die Stadt nicht nur sichtbar, sondern auch in Reichweite war.
Dranth und Yabrith blieben in Golgarn und bezogen Zimmer in der wunderbaren Herberge Zur Seeherzogin im Herzen der Juwelenstraßen. Sie genossen die gute Küche der Hafenstadt, einschließlich der neuen Erfahrung der Meeresfrüchte, die ganz nach Dranths Geschmack waren, wie er feststellen konnte. Yabrith litt noch unter dem Geruch der See und vermochte nichts Anspruchsvolleres als Fischeintopf herunterzubekommen.
Es war nur eine Sache von Tagen, bis die Nachricht den Palast erreicht hatte. Zwar waren beide Männer nicht an den Gesprächen des Königs mit seinen Spähern beteiligt, aber an deren Ausgang konnte kein Zweifel herrschen.
Sie saßen eines schönen Morgens auf der Terrasse der Seeherzogin, als eine Kutsche der königlichen Post durch die gut gepflasterten Straßen klapperte. Der Fahrer trieb die Pferde unbarmherzig an, damit er die ablaufende Flut nicht verpasste.
»Was wird die Botschaft, die er bei sich hat, wohl sagen?«, fragte Yabrith müßig und pulte sich mit einem Elfenbeinstocher die Wurstreste aus den Zähnen, während sie zusahen, wie der Fahrer einem Soldaten bei den Docks ein versiegeltes Päckchen übergab.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, meinte Dranth und faltete seine Serviette zusammen. »Aber irgendetwas sagt mir, dass es für uns an der Zeit sein könnte, nach Hause zurückzukehren. Ich habe die Gastfreundschaft des Jan Burgett jetzt lange genug ertragen.«
Tief im alten cymrischen Land, hinter der weißen Heide jenseits des Tales und geschützt durch einen hohen inneren Kreis aus Felsformationen, lag Kraldurge, das Reich der Geister. Es war der einzige Ort, den kein Bolg betrat. Seinem äußeren Anschein nach war er abstoßend und trostlos.
Welche schreckliche Tragödie sich hier abgespielt hatte, war aus den Legenden nicht mehr deutlich zu ersehen, doch sie war so verheerend gewesen, dass sie eine dauernde Narbe im Andenken der Firbolg hinterlassen hatte, die in diesen Bergen lebten. Nur in widerstrebendem Flüstern sprachen sie von Knochenfeldern und wandelnden Dämonen, die jede Kreatur verzehrten, welche das Unglück hatte, ihre Wege zu kreuzen; und sie erzählten von Blut, das aus dem Boden aufstieg, und von Winden, die jeden entzündeten, den sie auf der Ebene erwischten.
Es war auch der Ort, der den Anfang der Länder bezeichnete, welche der Ersten Frau ihres Königs gehörten, wie die Firbolg Rhapsody nannten. Das war ein noch besserer Grund, sich dieser Gegend nicht einmal zu nähern.
In einem Kreis von Wächtersteinen, die sich hoch in die Berge um sie herum reckten, lag eine mit Blumen übersäte Wiese, welche Rhapsody bei ihrem ersten Besuch an diesem Ort gepflanzt und um die sich während ihrer Abwesenheit niemand mehr gekümmert hatte. Im Mittelpunkt der Wiese befand sich eine hügelähnliche Erhebung, der Rhapsody damals wegen der außerordentlichen Schwingungen, die sie dort vorgefunden hatte, besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Es war etwas zutiefst Trauriges und überwältigend Beunruhigendes an dem verborgenen Tal, doch besonders traf das auf die Spitze des Hügels zu. Aus diesem Grund hatte Rhapsody sie mit wilden Stiefmütterchen bepflanzt, welche die Lirin in der alten Welt auf Gräbern und Schlachtfeldern ausgesät hatten. Sie waren ein Zeichen der Trauer und Versöhnung, vor allem aber des Beileids. Damals hatte sie nicht gewusst – und sie wusste es auch heute noch nicht –, wofür sie sich mit dieser Geste zu entschuldigen versucht hatte und was in der fernen Geschichte des traurigen, windgepeitschten Ortes geschehen war, weswegen der Boden noch immer in Schmerzen schrie, doch es musste so entsetzlich und so unendlich falsch gewesen sein, dass nichts anderes mehr getan werden konnte außer der sanften Gabe von Blumen und einem tröstenden Lied in der Hoffnung, die Erde könnte dadurch wenigstens ein bisschen zur Ruhe kommen.
Der Ruf Kraldurges, ein Spielplatz der Dämonen und anderer Vorboten des Bösen zu sein, rührte teilweise von seiner geologischen Beschaffenheit her. Jeder, der durch den Kreis der Wächterfelsen schritt, fand sich in einer tiefen Schlucht wieder, die von hoch aufragenden Klippen umgeben wurde. Es war unmöglich, dort herumzugehen, ohne dass die Schritte von den Schluchtwänden widerhallten und gewaltig verstärkt wurden. Auf diese Weise wurde alles, was sich innerhalb der Felsen befand, frühzeitig gewarnt, was in den Bolglanden immer sehr gefährlich war, die schon seit vielen Jahren von hungrigen halbmenschlichen Wesen auf der Suche nach Beute durchstreift wurden.
Die Schlucht, welche die Wiese verbarg, war so tief, dass der Wind kaum je bis auf ihren Grund hinabreichte. Er heulte um die hoch aufragenden Felsspitzen und erschuf ein trauervolles Jammern. Selbst der tapferste Bolg oder der gelehrteste Mensch konnten diesen Lärm zuweilen für das Kreischen der Dämonen halten. Trotz der natürlichen Erklärung des Lautes lag über dem Ort ein Gefühl tiefster Traurigkeit, überwältigenden Kummers und größter Wut.
In ihrer Zeit als Herzogin dieser Ländereien hatte sich Rhapsody gefragt, ob Kraldurge nicht vielleicht ein vergessener Begräbnisplatz aus den frühesten Tagen des Cymrischen Krieges war. Er wurde nicht in den Manuskripten in Gwylliams riesiger und beeindruckender Bibliothek erwähnt, deren Schriftrollen und Bücher einen großen Teil der Weisheit der Welt enthielten und die sie bei der Entdeckung dieses Ortes vor vier Jahren gefunden hatten. Die Gabe der Friedensblumen schien etwas bewirkt zu haben. Obwohl der Wind weiterhin um die Bergspitzen heulte und schrie und die Schlucht mit unheimlichen, beunruhigenden Lauten erfüllte, erweckte der Boden den Anschein, als schlafe er friedlich, auch wenn er nicht wirklich Frieden gefunden hatte.
Oder er hatte Frieden gefunden, bevor die Drachin gekommen war.
Der Wind jammerte hoch über der Schlucht und war noch beladen mit den Eiskristallen des weichenden Winters, als sich die letzte Tür ihrer Reise öffnete. Rath trat hinaus in das Tal und machte dann Platz, damit die anderen drei Reisenden die Brise verlassen konnten.
Rhapsody kam als Letzte heraus. Die Rückkehr des Kindes in ihren Bauch hatte viele der Symptome zurückgeholt, die sie während ihrer Schwangerschaft erfahren hatte: Die Übelkeit und Benommenheit und vor allem der verschwimmende Blick verschafften ihr ein Gefühl der Unsicherheit, das viel stärker war als bei den beiden Bolg während ihrer Reise im Wind. Sie spürte ein plötzliches, ungewöhnliches Schweigen der drei Männer. Niemand wollte der Erste sein, der etwas sagte. Sie erkannte den Grund dafür nicht.
»Was ist los?«, fragte sie. »Ist alles in Ordnung?«
»Das kommt darauf an, was du unter ›alles in Ordnung‹ verstehst«, erwiderte Achmed, drehte sich langsam um und betrachtete die Zerstörungen vor sich.
Die Felswände waren bis beinahe in die Spitzen versengt. Der Boden, von dem Rhapsody geglaubt hatte, er enthalte die Gebeine der Soldaten, die im Cymrischen Krieg gekämpft hatten und gestorben waren, oder vielleicht die noch älteren Körper jener Seelen, die nach der Ankunft der Dritten Flotte in Canrif verhungert oder krank geworden waren, war von einer Seite der Wiese bis zur anderen aufgerissen.
»Sieht nicht so aus wie beim letzten Mal, als du hier warst, Rhapsody«, meinte Grunthor. »Der neue Mieter ist ’n bisschen unordentlicher als du.«
»Der neue Mieter«, fragte Rhapsody heiter und versuchte, einen klaren Blick zu bekommen. »Was für ein neuer Mieter? Wem hast du denn mein Land vermietet, Achmed? Ich dachte, du würdest es für mich bis in alle Ewigkeit bereithalten. Das habe ich schließlich verdient.«
»Nun, ich würde sagen, es ist eher ein unrechtmäßiger Siedler als ein Mieter«, antwortete Achmed und suchte nach dem Weg hinunter in die verborgene Grotte, die als Elysian bekannt war. Er fand ihn einen Augenblick später in einem Haufen von Felsen und Rasenstücken, welche die Drachin auf ihrem Weg umgestürzt und herausgerissen hatte. Ursprünglich war der Zugang in einer Nische versteckt gewesen, die immer im Schatten lag und so gut geschützt war, dass Achmed beim ersten Mal lange gebraucht hatte, um sie zu finden. »Ich weiß nicht, ob du in die Grotte hinuntersteigen kannst, Rhapsody. Vielleicht ist es das Beste, wenn du in die Stadt mitkommst und dich im Berg einquartierst.«
Rhapsody erkannte seinen Tonfall. »Was ist es, das du mir nicht sagen willst, Achmed?«, fragte sie scharf, drehte sich wieder um und versuchte, ihre Umgebung deutlicher zu erkennen.
»Wie immer hörst du auf das, was ich dir nicht sage, anstatt auf das, was ich sage.«
»Das liegt daran, dass das, was du nicht sagst, immer das Wichtigere ist. Berichte mir, was ist hier passiert?«
Der Bolg-König seufzte. »Bevor Anwyn uns im Wald beim Nest ihrer Mutter gefunden hat, hat sie offensichtlich hier nach dir gesucht«, sagte er. »Grunthor und ich haben keine Ahnung, ob sie sich an diesen Ort aus der Schlacht am Gerichtshof erinnert oder ob etwas aus der Vergangenheit sie hierher gerufen hat. Ich wusste erst, dass sie in die Bolglande gekommen war, nachdem wir unsere Reise wieder aufgenommen hatten. Anscheinend hat es ihr nicht gefallen, dass dein Duft nun an ihrer Hütte klebte, oder vielleicht hat ihr die Art und Weise nicht gefallen, wie du sie umdekoriert hast. Wie dem auch sei, ich nehme an, dass sie die Grotte oder zumindest das Haus auf der Insel inmitten des Sees zerstört hat. Es hat keinen Sinn, jetzt dorthin zu gehen, Rhapsody. Die Höhlendecke ist möglicherweise instabil geworden. Es ist nicht sicher da unten, und ich habe deinem höllischen Gemahl versprochen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dich zu beschützen. Dieser Ort war wegen des starken Windes ein gutes Ziel, aber wir haben keinen Grund, hier zu bleiben.«
Die Männer sahen zu, wie sich die cymrische Herrscherin umdrehte und noch immer darum kämpfte, ein klares Bild von dem Ort zu bekommen, den sie als ersten betreten hatten, als sie damals in die Bolglande gekommen waren. Sie streckte die Arme vor und ging dorthin, wo der Zugang gewesen war, dann tastete sie auf den Felsen herum. Schließlich drehte sie sich wieder um; ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
»Die Öffnung ist noch da, Achmed«, sagte sie. »Bitte, ich will die Grotte sehen. Ich muss wissen, was mit meinem Haus passiert ist.«
»Ich glaube nicht, dass das ’ne gute Idee ist, Rhapsody«, sagte Grunthor sanft.
»Bist du auch der Meinung, dass die Höhle einsturzgefährdet ist?«
»Nein«, sagte der Sergeant-Major, der sie nicht anlügen wollte. »Nichts außer einem Erdbeben kann sie zerstören. Die Höhle ist ziemlich solide, und der See ist noch da. Aber von deinem Haus ist nichts übrig, zumindest nichts, was der Erwähnung wert wäre.«
»Bist du sicher?«, bedrängte Rhapsody ihn und betastete wieder die Felsen. »Meine Instrumente, meine Kleider? Hat nichts überlebt?«
»Nichts, was ich gesehen hätte«, sagte der riesige Bolg. »Ich bin natürlich nicht zur Insel rausgerudert weil ich Teile vom Haus überall im See hab rumschwimmen sehen. Wenn du irgendwann mal zurückkommen und sehen willst, was man vielleicht noch retten könnte, dann geh ich gern mit dir. Aber jetzt sollten wir dich sicher in den Bergen abliefern. Es ist schön, dich wieder bei uns zu haben, Rhapsody.«
»Willst du da unten nach etwas Besonderem suchen?«, fragte Achmed ungeduldig. »Was immer du haben willst, kannst du auch innerhalb der Mauern von Canrif bekommen.«
Rhapsody seufzte und ging zurück zu ihnen, wobei sie ihre Hand gegen den geschwollenen Bauch drückte.
»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Aber wir können gehen, wenn du willst. Es gab da ein Benenner-Kleid, das von den drei Brüdern, von Meridions Großvater und seinem Großonkel getragen wurde. Es war ein Familienerbstück, und ich dachte, es wäre vielleicht schön für ihn, es zu tragen, wenn wir die Zeit für eine richtige Benennungsfeier finden.«
Achmed schnaubte und schritt zum Rand der Wiese.
»Vielleicht solltest du erst einmal abwarten, ob er überhaupt noch einmal geboren werden will«, sagte er und folgte dem Pfad von Kraldurge fort. »Wenn ich die Prophezeiung richtig verstanden habe, unterliegt er nicht den Launen der Zeit. Du könntest ihn also in dir herumtragen, bis er seinen achtzehnten Geburtstag erreicht hat oder sogar noch älter ist.«
»In Ordnung«, meinte Rhapsody brüsk und beachtete ihn nicht weiter. »Wir gehen nach Canrif. Nun, da ich wieder schwanger bin, brauche ich unbedingt eine Privatsphäre.«
Rath war von Canrif höchst überrascht.
Seit Jahrhunderten hatte er nicht mehr die Gelegenheit gehabt, in den Bergen umherzugehen. Das war selbst für jemanden von seinem hohen Alter eine lange Zeitspanne. Damals war er einem Dämon namens Vrrinax auf der Spur gewesen, einem F’dor mit übermäßiger Geduld, der Zuflucht in dem letzten der Schiffe aus der Dritten Cymrischen Flotte gesucht hatte und so schwach gewesen war, dass er keinen anderen Wirt als einen kränklichen Kabinenjungen hatte finden können. Der Dämon hatte abgewartet, war allmählich stärker geworden und in immer kräftigere Wirte geschlüpft, bis er gelernt hatte, sich so gut zu verbergen, dass Rath gebeten worden war, auf die Jagd nach ihm zu gehen.
Rath war bescheiden und hatte Achmed nicht mitgeteilt, dass er der beste Jäger unter den Brüdern war.
Kurz: er war selbst ein Mörderkönig.
Er konnte noch immer das Wesen des Dämons riechen, als er durch die Hallen der unterirdischen Stadt schritt, welche die Cymrer Canrif genannt hatten, was in ihrer inzwischen ausgestorbenen Sprache »Jahrhundert« bedeutete. Es war schon sehr lange her, doch ein paar Spuren des Bösen verblieben immer in den Steinen, dem Wasser und dem Holz, wenn großes Unrecht oder schreckliche Untaten begangen worden waren.
So etwas war hier geschehen. Selbst der Firbolg-König bemerkte es nicht, als er durch die Flure des Palasts ging, doch Rath machte es beinahe krank vor Ekel. Nur die cymrische Herrin vermied den Ort, an dem das Böse seinen Ausgang genommen hatte, als ob sie dort eine Vision gehabt oder von den Spuren der Erinnerung heimgesucht worden wäre.
Was Rath die größten Sorgen bereitete, war der Mangel an Achmeds artgebundener Erinnerung. Während die cymrische Herrscherin und der Sergeant eine solche kaum haben konnten, trugen diejenigen von dhrakischem Geblüt den Geruch des Blutes von jeder Bestie in sich, die sie getötet hatten.
Und Achmed hatte zwei in relativ kurzer Zeit abgeschlachtet.
Es verhieß nichts Gutes, dass der Mörderkönig innerhalb der Mauern eines solchen Ortes ruhig schlafen konnte – eines Ortes, an dem das Blut eines F’dor, der unter seinen Händen gestorben war, noch in den Wänden und dem Boden vibrierte.
Er folgte seinen Gastgebern still, während diese ihren Tätigkeiten nachgingen, von dem Korridor, an dem seine Gemächer lagen, zur Halle außerhalb des Gipfels des Gurgus, wo der Lichtfänger neu erbaut wurde, und sogar bis zu dem Aussichtspunkt, von dem aus man einen Überblick über die unterirdische Stadt hatte, die noch immer im Wiederaufbau begriffen war. Überall sah er Handwerker und Soldaten, Archonten, Lehrer und Steinmetzen, die allesamt daran arbeiteten, das wiederzuerrichten, was einmal die Vision eines Königs gewesen war. Es war für Rath deutlich zu sehen, dass die Bolg die Vision eines anderen Königs waren, eines Königs, der sich als Baumeister eines Volkes ansah und nicht als der einer Bergfestung. Das war ein edles Ziel in den Augen eines Menschen, aber nichts als eine Ablenkung für jemanden, der ein noch größerer Jäger als Rath sein könnte.
Er würde ihn aufmerksam beobachten.
Als die beiden Bolg zusammen mit Rhapsody und Rath den Raum am Fuß des Gurgus betraten, kam sofort ein großer junger Mann mit einem Vollbart und dunklem Haupthaar auf die cymrische Herrscherin zu und grinste sie breit an.
»Hallo, Rhapsody«, sagte er. »Willkommen; es ist sehr schön, dich zu sehen.«
Rhapsody sah ihn verwirrt an. »Entschuldigung«, sagte sie, »aber kenne ich dich?«
Die beiden Bolg und der bärtige junge Mann lachten.
»Erinnerst du dich nicht mehr an Omet?«, fragte Achmed spöttisch. »Du warst doch diejenige, die darauf bestanden hat, ihn aus den Brennöfen der Rabengilde zu retten.«
Rhapsodys hellgrüne Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. »Omet?«, fragte sie verdutzt. »Du bist doppelt so groß wie damals, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Warst du da nicht kahlköpfig?«
»Allerdings«, antwortete der junge Mann freundlich. »Aber es war heiß in Estens Ziegelei, und hier im Berg ist es kalt.«
»Omet hat die Oberaufsicht über die Härtung des Glases und den Bau des Lichtfängers«, sagte Achmed. »Er ist einer der wenigen Handwerker, dem ich erlaube, allein in diesem Raum zu sein.« Er verstummte. Omet war bei der Explosion, die den Gipfel des Gurgus erschüttert hatte, schwer verwundet worden, und es war das rote Spektrum des Lichtfängers gewesen, das ihm das Leben gerettet hatte.
Rhapsody umarmte den jungen Mann warmherzig. »Ich freue mich so sehr, dich wieder zu sehen«, sagte sie.
»Nun, du warst es, die mir gesagt hat, ich solle meinen Namen in den Berg einmeißeln, damit die Geschichte ihn sehen kann«, sagte Omet lächelnd. »Ich tue nur, was du mir geraten hast.«
Rhapsody schaute sich um. Von der Explosion war nichts mehr zu sehen; der Raum war wiederhergerichtet worden, als wäre nichts geschehen. Eine hölzerne Kuppel bildete die Decke des Turms, unter der sie farbiges Glas aller Schattierungen erkennen konnte.
»Ich freue mich darauf, dass du mir zeigst, was du vollbracht hast«, sagte sie.
Sie schaute hinter sich und sah, wie Rath unter der Kuppeldecke stand und hoch zu dem Kreis aus Glas starrte. »Alles in Ordnung?«
Der Dhrakier nickte. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, sagte er, während er weiterhin die Decke anstarrte. »Es war an einem Ort, an dem ich die Prophezeiung des Kartenspiels kennen gelernt habe.«
Der Bolg-König neigte den Kopf.
»Würdest du das bitte weiter ausführen?«
Schließlich wandte der Dhrakier den schwarzen Blick ab und sah Achmed an.
»Kennst du nicht die Prophezeiung des Kartenspiels?«
»Nein.«
»Sie lautet so: ›Das, was gestohlen ward, wird freiwillig gegeben werden. Das, was freiwillig gegeben ward, wird gestohlen werden.«
»Das hat für mich keine Bedeutung«, sagte Achmed mürrisch.
Rath atmete tief ein.
»Ich werde dir die Geschichte erzählen. Dann weißt du, wogegen du kämpfst.«
»In der Vorzeit wurde von den vier verbliebenen uranfänglichen Rassen, die aus den Elementen geboren waren, ein großer Kampf gegen die F’dor geführt«, begann Rath. »Unsere Rasse, die Brüder, die unter den Menschen als die Blutsverwandten bekannt ist, tat sich zusammen mit den Serenel, den Mythlinus und den Wyrmril, welche die Menschen Drachen nennen. Es wurde befürchtet, dass die ungebändigte Zerstörungskraft der F’dor die Welt vernichten würde, wenn sich diese vier Rassen, die in Abgeschiedenheit lebten und einander nicht vertrauten, nicht zusammenschlossen und etwas opferten, was ihnen höchst wertvoll war.
Bevor die Schlacht begann, gelang es den F’dor, eines der ersten sechs Eier zu stehlen, die von der Stammmutter der Drachen gelegt worden waren, die gleichzeitig der Stammvater der Rasse war. Dieses Ei versteckten sie in den Eingeweiden der Erde jenseits des Feuerkerns, wo niemand es finden konnte. Der Wyrmling, der diesem Ei entsprang, war bei dem Drachenvolk als das Erste Kind bekannt. Die F’dor nahmen diesem Wyrmling die Wärme, ließen es ungeboren wachsen, pervertierten es und fütterten es mit der Erde selbst, bis seine Masse zu einem wesentlichen Teil der Welt geworden war.«
»Wir haben es gesehen«, sagte Achmed. »Es schläft noch immer. Rhapsody hat ein Lied endlosen Wechsels um es herum gewoben, ein Muster aus Verwirrung, von dem sie hofft, dass es jede Nennung seines Namens unhörbar macht.«
Die flüssige Schwärze in Raths Augen glitzerte. »Hoffen wir, dass ihr recht habt. Von diesem Schlafenden Kind ernteten die F’dor sieben wertvolle Schuppen und nahmen auch die beiden, die seine blinden Augen schützten. Weil die Drachen die Kräfte aller anderen Elemente besitzen, stecken in diesen Schuppen die Macht des gesamten Farbspektrums sowie die Lichtschwingungen und Töne, aus denen die Magie des Universums zusammengesetzt ist. Jede einzelne Farbe der sieben Schuppen hat eine bestimmte Macht, die an ihre Wellenlänge gebunden ist, und einen bestimmten Ton; diese beiden Eigenschaften sind die sichtbaren und hörbaren Manifestationen jener Schwingungen. Wie deine Benennerin dir sagen kann, gibt es viele weitere Manifestationen, die weder sichtbar noch hörbar sind. Das weißt du auch selbst, Bolg-König – du kannst sie jeden langen Tag in deinem Hautgewebe spüren.
Daher waren die F’dor in der Lage, mit diesen Drachenschuppen die materielle Welt zu beeinflussen, von der sie sonst kein Teil gewesen wären, denn sie besitzen keine Gestalt und sind unkörperlich. So aber haben sie die Kontrolle über das komplette Spektrum der sieben Farben sowie über die zwei mächtigsten Gegensätze, die sie aus den Augen des Wyrmlings geholt haben: Schwarz, das die Leere darstellt, und Weiß, welches das Leben bedeutet. Sie haben diese Kräfte zur Vernichtung, zum Wahrsagen, zu Vulkanausbrüchen, Blutvergießen, Wärmediebstahl und anderen Missetaten in der materiellen Welt eingesetzt.
Aus diesem Grund haben sich die übrigen uranfänglichen Völker im Kampf gegen die F’dor zusammengetan. Die Geschichte stellt es so dar, als wäre es ein offensichtlicher Konflikt gewesen, doch ich kann euch versichern, dass das nicht der Fall war. Zwar mag es für euch so erscheinen, als ob sich die Elemente des Sternenlichts, der Erde, des Wassers und des Windes im Gegensatz zum Feuer befänden, doch in Wirklichkeit waren sie ursprünglich nicht getrennt, sondern sind alle miteinander verwandt. Diese Entscheidung zum Kampf wurde daher unter Schmerzen und nicht im Triumph oder mit der Absicht der Unterwerfung getroffen. Der Pakt, durch den all das, was der Erde Wärme und Licht brachte, aus ihr entfernt werden sollte, verdammte diese Rasse dazu, weniger zu sein, als sie dem Willen des Schöpfers nach hätte sein können. Doch es blieb nichts anderes übrig, und am Ende waren wir alle ärmer. Dies sind vergessene Überlieferungen, welche die Geschichte und sogar einige, die sie durchlebt haben, inzwischen vergessen haben.
Als die Entscheidung endlich getroffen war, bedeutete dies, dass von den vier verbleibenden Rassen schreckliche Opfer abverlangt werden würden. Du weißt, was unsere Rasse dafür geopfert hat, Bolg-König. Die Söhne des Windes besaßen die einzigartige Fähigkeit, die Bewegungen alles Unkörperlichen aufzuspüren, und so wurde entschieden, dass der Stamm der Blutsverwandten, der auch als die Dhrakier bekannt war, als Gefängniswärter dienen sollte. Dazu musste er sein Band mit dem Wind lösen und die Fähigkeit aufgeben, die Oberwelt zu durchstreifen. Stattdessen war es seine Aufgabe, die Tiefe Kammer zu bewachen. Die Dhrakier verließen den Wind, der ihr Vater war, und begaben sich für immer in das schwarze und luftlose Innere der Erde, in einen seelenlosen, leblosen Bereich der Welt, um diese vor denen zu schützen, die sie in Flammen setzen konnte.
Die Drachen gaben den größten Teil des verbliebenen Lebendigen Steines der Erde, ihren wertvollsten Schatz, für die Errichtung der Kammer, in welche die F’dor eingeschlossen werden sollten. Im Verlauf der Schlacht und der anschließenden Einkerkerung der F’dor wurden den Dämonen die Schuppen abgenommen. Der Stammwyrm war entsetzt über die Entweihung seines Kindes und zog sich sieben ähnliche Schuppen aus der Haut, damit sie den ersten sieben beigegeben und ihre zerstörerische Macht mit den positiven Eigenschaften derselben Schwingungen verbunden wurden, also der höhere Halbton zum niedrigeren kam. Im Verlauf der Schlacht opferte der Stammwyrm sein Leben, indem er das zerbrechliche Gefängnis mit seinem Leib umgab und dabei an sein Ende kam. Dadurch wurde er zur Ummantelung der Kammer, wurde leblos und verlor alles Wissen, das die Dämonen für sich hätten nutzen können. Die sieben farbigen Schuppen wurden von den Seren, die in diesem Kampf den Oberbefehl führten, im Feuerkern der Erde mit jenen verschmolzen, die der Stammwyrm gegeben hatte. Diese Reihe von Schuppen mitsamt der weißen und schwarzen wurden später das Gestohlene Kartenspiel genannt.
Die verbliebenen Eier wurden ausgebrütet und brachten die Fünf Töchter hervor, die bei den Wyrmril als die Wächterinnen bekannt sind, die weiblichen Drachen, von denen jede einen der Weltenbäume beschützte, die an den Orten wuchsen, wo die fünf Elemente zum ersten Mal auf der Welt erschienen waren. Damit die Macht des Gestohlenen Kartenspiels gebrochen würde, erhielt jede dieser Drachinnen eine der Schuppen, die einst Teil sowohl ihrer Schwester als auch ihres Stammwyrms gewesen waren. Die anderen vier Schuppen wurden in die Obhut anderer Wesen in verschiedenen Teilen der Welt gegeben, damit sie so weit wie möglich voneinander entfernt waren. Das ist das, worauf sich die Prophezeiung des Kartenspiels bezieht: Das, was gestohlen ward, wird freiwillig gegeben werden.«
Die drei tauschten einen raschen Blick aus.
»Glaubst du, dass Elynsynos noch eine solche Schuppe besessen hat, als sie … bis jetzt?«, fragte Rhapsody nervös.
»Das hoffe ich doch«, meinte Rath. »Ansonsten wäre sie in anderen Händen, und nur eine einzige Schuppe aus dem Gestohlenen Spiel im Besitz eines bösen Wesens könnte bereits das Ende der Welt herbeiführen.«
»Klasse«, murmelte Grunthor. »Echt klasse.«
»Alles ging gut während des Endes der Vorzeit und bis in das Erste Zeitalter hinein«, fuhr Rath fort, »bis zu dem Tag, an dem ein Stern auf die Erde fiel und die Tiefe Kammer zerschmetterte. Einige F’dor entkamen und stiegen in die Oberwelt auf, gejagt von ihren dhrakischen Bewachern, während andere Mitglieder der vier uranfänglichen Rassen die übrigen F’dor in Gefangenschaft zu halten und die Kammer wieder zu schließen versuchten. Viele Drachen gaben eine Schuppe als eine Art Sicherung, als die Kammer wieder versiegelt wurde. Diese Schuppen besaßen auch die Macht des Farbspektrums, und obwohl sie nicht so kraftvoll wie die Schuppen des Ersten Kindes waren, so waren sie doch stark genug, die verbliebenen F’dor im Zaum zu halten, während ihr Gefängnis wiedererrichtet wurde. Ich weiß nicht genau, wie viele Drachen eine Schuppe abgaben, aber es waren mindestens dreiundvierzig, welche die Reparatur unbeschädigt überstanden hatten. Diese Schuppen wurden wieder eingesammelt, und die Drachen ließen sie in der Obhut der serenischen Anführer, die den Kampf befehligt hatten, falls die Kammer irgendwann noch einmal gesichert werden müsste.
Die F’dor, die in die Oberwelt entkommen waren, suchten nach dem Gestohlenen Spiel und hofften, alle Karten zusammenzubekommen, weil die Reihe von Tönen, die es hervorbrachte, der Wahre Name des Ersten Kindes war und die Bestie zum Erwachen bringen würde, wenn er laut ›ausgesprochen‹ wird. Außerdem suchten sie verzweifelt die schwarze Schuppe, da sie der Schlüssel zur Öffnung der Kammer ist und ihre Kameraden befreien könnte. Wegen der Jagd, die die Dhrakier auf sie machten, konnten sie jedoch nur an eine einzige Schuppe herankommen, die ein F’dor, der sich einen menschlichen Wirt genommen hatte, entdeckt hatte.
Ich habe das Flüstern deines alten Namens gehört, Ysk, als ich nach einem F’dor des jüngeren Pantheons suchte. Ich war auf der Jagd nach einem Dämon namens Krisaar, einem frechen und anmaßenden F’dor, der noch mehr als die übrigen Angehörigen seiner Art der Beherrschung bedurfte, für die diese Wesen nicht gerade berühmt sind. Er überlebte die Vernichtung der Insel Serendair, indem er einen Pakt mit einem ihm ähnlichen Soldaten einging und ihm ewiges Leben für seine Wirtstätigkeit schenkte. Meines Wissens ist dies das einzige Mal in der Geschichte der bekannten Welt, wo ein menschliches Wesen freiwillig einen F’dor in sich aufgenommen hat.«
»Der Atemverschwender«, sagte Grunthor.
»Michael«, flüsterte Rhapsody; es war, als hinterlasse bereits der Name allein einen schlechten Geschmack in ihrem Mund.
»Die anderen Schuppen, die von den Drachen zur Versiegelung der Tiefen Kammer gespendet worden waren, wurden als das Geschenkte Kartenspiel bekannt. Es wurde von den Seren viele Generationen hindurch aufbewahrt; die Macht der Schuppen wurde von den serenischen Sehern und Benennern beschrieben, die sie lesen konnten. Unglücklicherweise kamen sie irgendwann im zweiten Zeitalter in den Besitz einer serenischen Benennerin, die sie katalogisierte. Diese Frau – sie hieß Ave – wurde ein Opfer der einzelnen silbernen Schuppe, des Gefallenen Mondes, der ein Spiegel mit endlosen Reflexionen war und ihren Blick auf die Welt vollkommen verzerrte. Sie behandelte die Schuppen auf eine Weise, die aus ihnen Wahrsagekarten und Karten der Kraft machte, und versteckte sie in ihrem Stamm, wo sie. immer nur in der Hand eines einzigen Lesers blieben. Dieselbe Prophezeiung bezeichnet dies so: Das, was freiwillig gegeben ward, wird gestohlen werden.«
»Daran erinnere ich mich undeutlich aus der alten Welt«, sagte Achmed. »In der Verschlossenen Stadt Kingsten gab es auf dem Diebsmarkt, der seinesgleichen sucht, eine solche Seren-Frau. Es war fast unmöglich, sie zu finden, wenn man sie suchte, aber wenn man sie nicht suchte, traf man vielleicht zufällig in einer Bude oder hinter einem Zelt auf sie. Dann bot sie einem gegen Gold ihre Wahrsagekünste aus einem Kartenspiel an.«
»Hast du dir je die Zukunft voraussagen lassen?«, fragte Rhapsody.
Achmed deutete ungeduldig auf Rath. »Erzähle weiter«, sagte er und beachtete Rhapsody nicht.
»Nach vielen Jahrhunderten traf ein Forscher und Historiker der Nain Sharra, die letzte der großen Leserinnen, die ihm alles über das Spiel sagte. Es wurde für ihn zur Besessenheit, die Schuppen in seine Hand zu bekommen und den Drachen zurückzugeben, die sie gespendet hatten; dafür wollte er von jedem eine Geschichte für das Buch erhalten, das er schrieb. Andere Schuppen aber blieben über die ganze Welt verstreut und waren versteckt, benutzt oder zerstört worden oder in die Hände von Leuten gefallen, die einige von ihnen wieder zusammenführten – zu schrecklichen Zwecken. Eine solche Person war der Dämonenwirt, von dem ich euch vorhin erzählt habe und den ihr Michael nennt. Das Kind, das er mit einer Seren hatte, erbte angeblich die Macht ihres Stammes, die Schuppen zu lesen. Falls dieses Kind noch lebt, könnten jene Teile des Spiels, die sich noch in der Welt befinden, zu unvorstellbaren Schreckenstaten missbraucht werden.«
»Vermutlich ruhen sie auf dem Grund des Meeres«, sagte Achmed.
»Das wäre schön«, meinte Rath dunkel. »Aber nach meiner Erfahrung verschwinden diese Schuppen niemals still und leise. Sie scheinen die bemerkenswerte Fähigkeit zu haben, dort zu bleiben, wo sie den meisten Schaden und die größte Zerstörung anrichten können, als ob der Makel der F’dor noch an ihnen haftete.«
»Wie sehen sie denn aus?«, fragte Grunthor. »Damit wir sie erkennen, wenn sie uns über’n Weg laufen.«
»Die Schuppen sind unterschiedlich groß«, sagte Rath. »Alle sind oval und die meisten an den Rändern leicht ausgefranst. Sie scheinen grau oder farblos zu sein, bis man sie dreht oder ans Licht hält; dann kann man ihre Farbe erkennen. Oft erscheinen sie wie ein Prisma und zeigen so all das Wissen, das in ihnen steckt.
Ich habe nie eine der Karten des Gestohlenen Spiels gesehen. Sie galten als zu heilig und schrecklich, um von anderen als denjenigen gesehen werden zu dürfen, welche die F’dor bewachten. Man hat mir und den anderen Brüdern allerdings die Symbolik jeder einzelnen Schuppe erklärt, damit wir sie erkennen können, wenn wir bei einer unserer Reisen auf sie stoßen sollten. Die weiße Schuppe, eine der beiden mächtigsten und furchtbarsten des Gestohlenen Spiels, trägt angeblich kein in sie eingeritztes Bild. Sie stellt das Leben oder die Schöpfung dar und wird von vielen als Abbild von Gottes Antlitz angesehen. Ihr Gegenpart, die schwarze Schuppe, ist mit dem Bild eines Schlüssels geschmückt, dem entsetzlichen Symbol ihrer Macht, die Kammer selbst zu öffnen. Sie bedeutet die Leere oder Vernichtung. Wie ihr euch vorstellen könnt, hat sie die Macht, beides in unvorstellbarem Ausmaß herbeizurufen.
Der Rest der Schuppen folgt dem Muster der Lichtpalette und bezieht sich auf die Mächte, die ihr bereits kennt. Die rote Schuppe hat einen Tropfen Blut in sich, die orangefarbene Flammen, die gelbe das Bild der aufgehenden oder sinkenden Sonne, je nachdem ob es die konkave Schuppe ist, die aus der Haut des Ersten Kindes stammt, oder die konvexe, die der Welt von ihrem Ahn geschenkt wurde. Die grüne Schuppe zeigt ein Abbild der Erde, entweder klar oder vernebelt, so wie die blaue Schuppe, die das Bild eines Auges trägt, welches von Wolken umgeben oder von ihnen verdeckt ist. Die indigoblaue Schuppe, von der am wenigsten bekannt ist birgt angeblich das Bild eines Kometen, der in den alten Überlieferungen eine überaus wichtige Veränderung bedeutet. Daher rührt ihre Bezeichnung als Nachtabwehrer oder Nachtbringer, was ihre Fähigkeit andeutet, ungeheuerliche Veränderungen entweder zu bringen oder zu verhindern.«
»Ich glaube, genau diese hätte ich jetzt gern«, meinte Rhapsody.
»Wohl kaum«, erwiderte Rath trocken. »Die Macht, die in diesen Schuppen existiert, kann auch jene verletzen, denen es darum geht, die Erde zu retten. Die Geschichte ist voll von Berichten über Leute mit guten Absichten, die durch die Macht dieser Schuppen in die Irre geführt wurden.
Und schließlich ist da noch die violette Schuppe. Auf ihr ist angeblich das Abbild des Throns zu sehen, und sie ist die einzige Schuppe, die nur eine Seite hat. Obwohl der Stammwyrm sieben Schuppen spendete, hat jene letzte Note im Spektrum aus unbekannten Gründen nur einen Ton, ist also weder ein hoher noch ein tiefer Halbton. Sie ist bekannt als ›der Neuanfang‹. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich vermute, dass jeder, der entweder unerwartet oder auf unerklärliche Weise an die Macht gelangt, die Kontrolle über diese Schuppe besitzt oder wenigstens ihre Macht zu seinen Zwecken einsetzen konnte.«
Die drei stießen gleichzeitig die Luft aus.
»Talquist vielleicht«, sagte Achmed.
»Hoffentlich nicht«, meinte Rath.
»Und das Geschenkte Spiel?«, fragte Rhapsody. »Bist du je auf eine Schuppe gestoßen, die daraus stammt?«
Der Dhrakier schüttelte den Kopf. »Ich habe einige von ihnen gesehen«, sagte er, »aber das war, bevor die serenischen Leser sie missbraucht haben. Die einzige silberne war die des Gefallenen Mondes, deren falsche Anwendung es Ave erlaubte, sie überhaupt erst zu entweihen. Ich glaube, es gab je eine Schuppe für jeden der fünf Bäume, die am Geburtsort der Zeit wuchsen: Sagia, der Baum der Sterne, der nun aus der Welt verschwunden ist; Ashra, der Baum des reinen elementaren Feuers; Eucos, auch bekannt als Wolkenfänger, der Baum der lebenden Luft; Frothta, der Baum des Wassers, der unter dem Meer wächst; und natürlich der Große Weiße Baum. Vielleicht existiert sogar eine für Blutdorn, den bösen, rankenartigen Dornbaum, dessen Wurzeln von der Tiefen Kammer ausgehen. Es gibt noch andere, aber ich kenne nur wenige davon: die Vergessene Stadt, die Endlosen Berge, das Goldene Maß, der Geschmolzene Fluss, die Zerbrochene Tafel, die Diebskönigin, das Kind, der Atem, das Sendschreiben, die Zeitenscheren. Diese kenne ich nur, weil ich einmal Abschnitte aus dem Buch allen menschlichen Wissens gelesen habe, das von dem Historiker der Nain stammt, den ich vorhin erwähnte. Ich glaube, es ging vor Jahrhunderten auf dem Meer verloren. Es war mit der Dritten Cymrischen Flotte an das Ufer dieser Welt gelangt, wurde aber beim Schiffbruch vernichtet.
Dieses neue Wesen, das ihr Michael nennt«, fuhr Rath fort, »dieser Mensch und Dämon stieg zu großer weltlicher Macht auf, während die Jahrhunderte vergingen, und er wurde schließlich zum Baron von Argaut, einer der mächtigsten Persönlichkeiten im Schiffshandel auf der anderen Seite des großen Zentralmeeres. Er war es, dem ich gefolgt bin, wodurch ich an diesen Ort hier kam.
Es ist ihm immer wieder gelungen, mir zu entkommen, indem er sich in der Nähe des Wassers aufhielt, was, wie jeder Dhrakier euch sagen kann, der Fluch unserer Existenz ist, wenn wir auf der Jagd sind. Seine Strategie war erfolgreich. Während er im hellen Tageslicht und vor dem Angesicht der ganzen Welt arbeitete, schützte ihn seine dauernde Nähe zum Wasser vor meinem Kimi.
An diesem besonderen Mitglied des Jüngeren Pantheons ist bemerkenswert, dass er schwach ist und Kontrolle braucht, die er über sich selbst nicht ausüben kann. Ob das seine menschliche oder seine dämonische Schwäche ist, kann ich nicht sagen, denn der Mann, den er sich zum Wirt ausgesucht hat, leidet an derselben Schwäche.« Rhapsody erschauerte, denn sie war das Opfer dieser Schwäche gewesen.
»Seine Unzulänglichkeiten nahmen gelegentlich die Gestalt von Fleischeslust an und gipfelten im schrecklichsten all seiner Eroberungsfeldzüge, nämlich bei einer serenischen Frau von uraltem Geblüt, die von der Insel an das Ufer Argauts geflohen war, um der Sintflut zu entgehen. Während sich die meisten F’dor niemals fortpflanzen, weil es sie ihrer Kraft beraubt und ihre Seelen bricht – oder was immer sie an Stelle von Seelen haben –, konnte der Wirt dieses Dämons der Gelegenheit nicht widerstehen, die Frau zu schänden und sie zu schwängern, wobei er vermutlich auch noch großen Gefallen daran fand, die einzige Weisheit zu beflecken, die älter war als seine eigene des schwarzen Feuers, nämlich den Äther. Das Ergebnis war eine unglaubliche Missgeburt, ein Wesen, das unter dem Namen Faorina bekannt war – ein denaturierter F’dor. Von ihnen gibt es nur sehr wenige auf der Welt, nicht nur weil die Dämonen auf ihre Macht eifersüchtig sind, sondern auch weil diese Wesen üblicherweise nicht lange leben. Unangenehmerweise war die Frau, die dieses Kind zur Welt brachte und dabei starb, eine Leserin, eine aus dem Stamm der serenischen Priesterinnen, die mit dem Schutz und der Deutung der Schuppen beauftragt waren. Falls sie einige davon aus der alten Welt mitgebracht hatte, bevor diese in den Wellen versank, dann sind diese Schuppen in die Hände des Mannes gefallen, der sie vergewaltigt hat. Und von ihrem Kind nimmt man an, dass es die Fähigkeit geerbt hat, sie zu lesen.
Ich glaube, dieser Mann hat eine blaue Schuppe benutzt, vielleicht sogar die des Gestohlenen Spiels, um sich vor den Jägern des Windes zu verstecken. Einen Moment lang hatte ich sein Zeichen, seine Schwingung geschmeckt; sie kam von diesem Ort hier. Es war, als hätte er die Schuppe für kurze Zeit verloren. Doch nun bemerke ich nichts mehr von ihm. Eines solltest du wissen, Bolg-König. Als ich auf der Suche nach ihm hergekommen bin, musste ich mir einen Weg durch eine Armada von Schiffen aller Typen bahnen: Piratenschiffe, Kaufmannsschiffe, sogar Kriegsschiffe, die sich zu einer großen Blockade außer Sichtweite der Küste vor dem Westufer deines Kontinents zusammengefunden haben. Ich habe den verdammten Ozean in kaum mehr als einem Ruderboot überqueren müssen, damit ich ihnen nicht auffalle. Aber sie versammelt sich eindeutig. Der Baron von Argaut hat eine beeindruckende Flotte von Handelsschiffen, die er nur erhalten konnte, indem er mit den Piraten gemeinsame Sache macht.« Er hielt inne; der Ausdruck des Entsetzens auf Rhapsodys Gesicht hatte ihn kurz zum Verstummen gebracht.
»Falls also tatsächlich derjenige, den ihr Michael, den Wind des Todes, nennt, einige der Schuppen mit in dieses Land hier gebracht hat und falls sie die Welle überlebt haben, die ihn von der Oberwelt in die Tiefen des Meeres gerissen hat, falls sie sich also jetzt durch eine verrückte Laune des Schicksals in den Händen eurer Feinde befinden sollten, kämpft ihr nicht nur gegen Gier und Machtlust an, die seit Anbeginn der Zeit in allen Menschen stecken, sondern auch gegen einen viel tieferen, bösartigeren, gierigeren und tödlicheren Hass und eine zerstörerische uranfängliche Kraft, die zum Beginn der Zeiten geboren wurde und gegen die es keinerlei Gegenmittel und nichts gibt, womit man sie beschwichtigen könnte.
Und wenn das so ist, dann würde ich sagen, dass diese Aufgabe wie für euch geschaffen ist.«
Trug war der Archont, der als ›die Stimme‹ bekannt war.
Die Bolg waren eine neu entstandene Art, halbmenschlich und sowohl primitiv als auch unverwüstlich. In der Zeit, seit der Achmed ihr König war, hatten sie sich von Aasfressern und Kannibalen, die in den zerklüfteten Felsgipfeln ihrer Heimat ein karges Leben führten, zu einer aufstrebenden Nation von Waffenschmieden, Bauern, Zimmerleuten, Handwerkern und Webern dehnbarer Schiffsnetze und feiner Damenunterwäsche entwickelt. Es war ein seltsames Gemisch aus Handelsgütern – ein Handel, der auf vernünftige Weise die Schätze ihres Königreichs aus Bergen, Schluchten und Wäldern mit einzigartigem bläulichem Holz ausbeutete sowie uralten Weingärten, die in der cymrischen Ära angepflanzt und erst vor kurzer Zeit wiederhergestellt worden waren und nun feinsten Wein hervorbrachten.
Achmeds Vision erforderte mehr Unterstützung in der Führung des Landes, als er und Grunthor allein leisten konnten, besonders jetzt, da Rhapsody hergekommen war und einerseits zwar mehr Schutz für die Bolg und das schlafende Erdenkind forderte, andererseits aber den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachte, sich um das lirinische Königreich sowie ihre Pflichten als Herrscherin der Cymrer zu kümmern. Daher hatten die drei gewisse Bolg-Kinder ausgewählt, die als besonders klug oder begabt galten – die meisten von ihnen waren Waisen –, die nun auf bestimmten Gebieten ausgebildet wurden, damit sie das Wachstum des Königreiches unterstützten.
Trug war ein solcher Junge. Wie die meisten seiner Art sprach er seine innersten Gedanken nur selten aus. Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern bestand Trugs Ausbildung darin, zum Sprechen befähigt zu sein. Was er jedoch sagte, waren die Gedanken des Bolg-Königs, sowohl innerhalb des Berges als auch außerhalb. Es war seine Bestimmung, als Stimme ausgebildet zu werden, als Archont, von dem König Achmed erwartete, dass er das Reden für die Bolglande besorgte, sowohl offiziell als auch insgeheim. Ihm oblag überdies der Unterhalt der vielen Meilen von Sprachröhren, die durch die Berge liefen und noch aus dem cymrischen Zeitalter stammten. Seine Ausbildung hatte in seiner Kindheit begonnen, vor sieben Jahren. Sehr jung war er von Rhapsody ausgewählt worden, weil er die für seine Aufgabe nötigen Eigenschaften besaß, und systematisch hatte man ihn mit Sprachwissenschaft, der Kunde der Geheimschriften, Anatomie und tausend anderen Studienfächern der mündlichen und sonstigen Mitteilungskunde vertraut gemacht. Vor mehr als einem Jahr war er als würdig erachtet worden, die Aufsicht über den Briefvogelschlag mit seiner großen Anzahl von Botentieren zu erhalten und auch den berittenen Boten vorzustehen, die mit den Postkarawanen ritten. Kurz danach hatte er die Verantwortung für König Achmeds Netzwerk von Botschaftern und Spionen übertragen bekommen.
Nun war er einer von Achmeds geschätztesten Archonten. Wenn daher seine Stimme durch die Sprechröhre in das Planungszimmer des Bolg-Königs innerhalb des Thronssaales vom Canrif drang, wurde sie fast immer sofort in dem rauen Ton beantwortet, den die Bolg so gut kannten und so sehr fürchteten.
»Euer Majestät?«
Achmed, Grunthor und Rhapsody sahen einander überrascht an. Trug hatte eine formelle Anrede gewählt, die normalerweise andeutete, dass jemand von außerhalb der Berge eingetroffen war.
»Was ist los?«, wollte Achmed wissen.
»Hier ist ein Besucher für Euch, Herr«, antwortete die dünne, unangenehme Stimme.
»Wer immer es ist, sag ihm, er soll sich fortscheren«, gab Achmed zurück;. Seit sie nach Canrif zurückgekehrt waren, hatten sie in der Abgeschiedenheit des Hinterzimmers über Plänen gebrütet, und die Stimmung des Königs war inzwischen überaus schlecht.
»Er ist schon seit einiger Zeit hier, Herr.« Trugs Stimme hallte durch das Rohr, und kurz darauf folgte ihr eine andere Stimme.
»Sag dem Bastard, dass ich ihn sofort sprechen muss«, ertönte es. Die Stimme klang zwar bekannt, war aber nicht sofort zuzuordnen. »Ich warte jetzt schon mehr als zwei Wochen an diesem verdammten Ort und werde keinen Moment länger hier bleiben.«
Achmed schloss das Sprachrohr. »Was glaubt ihr, wer ist das?«, fragte er.
Rhapsody hatte mit gerunzelter Stirn gelauscht. »Das klingt ein wenig nach Faedryth, dem Nain-König«, meinte sie unsicher. »Aber was sollte der hier zu suchen haben?«
Achmed öffnete das Rohr wieder. »Sag diesem ekelhaften Warzenschwein, dass er von mir aus noch mal zwei Wochen warten kann«, meinte er mürrisch. »Oder auch den ganzen Rest seines unnatürlich langen Lebens. Ich bin beschäftigt.«
Eine Reihe hässlicher Worte, gesprochen mit gutturaler Stimme und in einer unbekannten Sprache, rumpelte zur Antwort durch das Rohr.
Rhapsody nickte. »Ja, das sind Nain-Flüche«, sagte sie. »Vermutlich ist es Faedryth.«
»Was will der hier?«, fragte Grunthor. »Sein Königreich liegt doch mehr als zwei Wochen weg und ist auf dem normalen Landweg nich’ erreichbar. Ich erinner’ mich an nichts, weswegen er Grund hätte, in dieser Gegend zu sein.«
»Ich schätze diese Nain gar nicht«, sagte Achmed und studierte die Pergamentrolle vor ihm. »Als sie zum Konzil im Gerichtshof hier waren, haben sie viermal so viel wie die anderen Völker verspeist. Ich bin nun endlich nach Hause gekommen und habe keine Lust, jetzt gleich einen schleimigen Tölpel wie Faedryth zu bewirten.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, meinte Rhapsody. »Faedryth ist dein und mein Verbündeter. Jetzt ist nicht die Zeit, unfreundlich zu Mitgliedern des Bündnisses zu sein, besonders nicht zu denjenigen, die dir keinen Schaden zufügen und dich nicht beleidigen. Wenn übrigens Höflichkeit ein Erfordernis bei Staatsbesuchen in unserem Reich wäre, dann hätte dich noch niemand empfangen.« Sie drückte ihn vom Sprachrohr fort. »Schick Seine Majestät sofort herauf, Trug.«
Achmed sah sie böse an und kehrte zum Plan des Lichtfängers zurück, den Rhapsody gezeichnet hatte.
Nach erstaunlich langer Zeit erschien der Archont mit dem Nain-König im Schlepptau. Die beiden Bolg beachteten ihn nicht, doch Rhapsody stand sofort auf und ging quer durch den Thronsaal, der vor mehr als tausend Jahren in der Blüte des Kunsthandwerks in Gwylliams Reich entstanden war. Er war reich mit Mosaiken geschmückt und mit den feinsten Marmorplatten aus den Manteiden verkleidet.
»Euer Majestät«, sagte sie freundlich, »welch eine Freude, Euch zu sehen! Welchem Umstand verdanken wir die Ehre Eures Besuchs?«
Die gewaltige Wut, die sich in die Stirn des Nain-Königs eingegraben hatte, wich ein wenig in Rhapsodys Gegenwart.
»Ich hatte nicht erwartet, Euch hier anzutreffen, Herrin«, sagte Faedryth. Er trug lederne Kleidung und Stiefel, die von höchstem handwerklichem Können zeugten, hatte aber keine Insignien seines Rangs angelegt. Sein wunderbarer Bart zeigte Anzeichen von Vernachlässigung und weiter Reise, und in seinen Händen hielt er in festem Griff einen samtenen Sack. »Ich war der Meinung, Ihr wäret sicherlich in dem neuen Heim, von dem Euer Gemahl mir geschrieben hat. Wisst Ihr, er suchte meinen Rat im Hinblick auf das Festungswerk.«
»Ja, in der Tat. Er beharrte darauf, dass die Fallen und Verteidigungsanlagen der Nain es sehr sicher machen würden.«
»Zweifellos«, stimmte Faedryth. »Und dennoch finde ich Euch hier, im Land eines Mannes von zweifelhafter Weisheit, anstatt in der Sicherheit des Heims Eures Gemahls.« Er warf einen Blick auf ihren vorgewölbten Bauch. »Ich entbiete Euch sowohl meine Glückwünsche als auch mein Mitgefühl, da ich selbst Vater bin, Herrin. Ich hatte nicht gehört, dass Ihr guter Hoffnung seid.«
Rhapsody räusperte sich. »Ja«, sagte sie.
»Nun denn, ich schlage vor, dass Ihr Euch sofort zur Hohen Warte begebt. Zu dieser Zeit ist hier kein Kind und auch niemand sonst sicher, der von irgendeinem Wert ist.«
»Was schwatzt Ihr da für einen Mist?«, meinte Achmed verärgert. »Ich habe Euch nicht eingeladen. Ihr seid ohne einen guten Grund für Eure Gegenwart nicht willkommen, und doch seid Ihr hier und beleidigt mich. Was wollt Ihr?«
Faedryth beäugte den Archonten. »Schickt Euren Diener weg«, sagte er ruhig.
Achmed schaute nicht einmal auf, sondern gab Trug mit dem Kopf das Zeichen, zu gehorchen. Trug hüstelte höflich und verließ den Raum, wobei er sehr erleichtert aussah.
»In Ordnung, was also wollt Ihr?«, fragte der Bolg-König erneut. »Oder braucht Ihr zuerst ein heißes Bad und ein paar Kekse?«
Faedryth blähte die Nüstern und runzelte erneut die Stirn.
»Eure Anmaßung ist genau der Grund dafür, dass ich hier bin«, sagte er. »Noch einmal, Ihr geht mit Kräften um, die Ihr nicht versteht, doch das hält Euch nicht auf, ja es veranlasst Euch nicht einmal dazu, Eure Pläne zu überdenken. Ich muss allerdings sagen, dass mich das nicht überrascht, jedenfalls nicht in Eurem Fall.« Er drehte sich um und sah Rhapsody an. »In Anbetracht Eurer Ausbildung und Berufung, Herrin, muss ich jedoch gestehen, dass ich entsetzt bin, Euch an einem so gefährlichen und unratsamen Vorhaben beteiligt zu sehen.«
Achmed rollte die Augen. »Nicht das schon wieder«, sagte er. »Habe ich nicht Euren Botschafter vor ein paar Monaten hinausgeworfen, als er mir genau diese Forderung von Euch überbrachte? Ich glaube, ich war in meiner Antwort ziemlich eindeutig. Ich habe ihm befohlen, sie Euch in deutlichen Worten zu überbringen, und wenn ich mich recht erinnere, war sie ziemlich klar ausgedrückt. Dennoch seid Ihr nun hier, in meinem Land und ohne meine Einladung. Geht, Faedryth. Ich finde Eure Sorge bestenfalls unaufrichtig und schlimmstenfalls scheinheilig, wenn man bedenkt, dass Ihr denselben Apparat gebaut habt, den ich Eurer Meinung nach nicht zusammensetzen darf.«
»Ihr seid ein überheblicher Pferdearsch«, gab Faedryth wütend zurück. »Ja, ich habe das ursprüngliche Gerät gebaut, von dem Ihr sprecht. Es wurde von einem Mann entworfen, der mehr Genie in seinen abgeschnittenen Zehennägeln hatte, als Ihr in Eurem ganzen Königreich finden könnt, selbst wenn die cymrische Herrscherin gerade hier ist. Dennoch war es eine unkluge Sache. Ihr begreift nicht die Risiken, die Ihr eingeht. Wenn nur Euer verdammtes Königreich auf dem Spiel stünde, könntet Ihr es meinetwegen in die Luft blasen, zusammen mit Eurer ganzen elenden Bevölkerung. Aber leider kann Eure Dummheit und Unvernunft den Untergang für uns alle bedeuten – für uns alle! Und ich habe nicht vor, das mit anzusehen.«
»Er lebe hoch!«, erwiderte der Bolg-König. »Im Gegenteil zu dem, was Ihr glaubt, Faedryth, habe ich ebenfalls nicht vor, das mit anzusehen.«
»Es ist genau dieser Glaube, zu wissen, was Ihr tut, der Euch so gefährlich macht, Achmed«, sagte Faedryth. »Das überrascht mich eigentlich nicht.« Er wandte sich an Rhapsody. »Und was Euch angeht, Herrin, so bin ich enttäuscht, feststellen zu müssen, dass Ihr an dieser Sache beteiligt seid. Ich hatte geglaubt, Ihr wüsstet es besser.«
»Ich bin hier, um diesem Projekt mein Wissen zur Verfügung zu stellen, und hoffe, damit seinen Erfolg zu garantieren«, meinte Rhapsody. »Und, ehrlich gesagt, Euer Majestät, fühle ich mich von Euren Vermutungen über den Bolg-König und mich beleidigt. Wir mögen zwar alle grob zueinander sein, aber wir sind immer noch Verbündete.«
Faedryth seufzte und sah plötzlich älter aus, als er in Wirklichkeit war.
»Bitte denkt noch einmal darüber nach«, sagte er mit sanfterer Stimme. »Ihr wisst nicht, welches Risiko Ihr eingeht.«
Endlich schaute Achmed auf. Er warf den Federkiel, mit dem er Bemerkungen neben Rhapsodys Zeichnungen geschrieben hatte, auf den Tisch und ging hinüber zu dem viel kleineren Mann. Er schaute hinunter auf das breite Gesicht des Nain-Königs, betrachtete es für einen Augenblick und senkte dann den Schleier, der seine Nase und seinen Mund vor den stechenden Schwingungen der Welt abschirmte.
»Hör mir zu«, sagte er abfällig. »Du wüsstest nicht einmal, dass ich den Lichtfänger erneuere, wenn du nicht selbst einen hättest, mit dem du unser Land ausspionierst. Ich weiß zwei Dinge viel besser als du, Faedryth. Erstens ist mir im Gegensatz zu dir klar, wie diese Magie funktioniert, oder wenigstens hat Rhapsody eine Ahnung davon. Mir ist bewusst, dass das Gerät, welches du besitzt, das Schlafende Kind, das in der Erde liegt, aufzuwecken droht.« Er lächelte schwach, als er den Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht des Nain-Königs sah. »Ja, Majestät, im Gegensatz zu dem, was du glaubst, gibt es andere auf dieser Welt, die die Überlieferungen genauso gut wie du kennen, wenn nicht gar besser. Wenn ich nicht die Notwendigkeit verspüren würde, die Macht dieses Apparates zu meiner Verfügung zu haben, damit ich etwas ansonsten Unumkehrbares verhindern kann, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, damit meine Zeit zu verschwenden. Schließlich gibt es noch viele unschuldige Menschendörfer zu überfallen und so viele fette, entzückende Kinder zu fressen.
Zweitens habe ich tatsächlich das gesehen, was du zu wecken befürchtest, Faedryth – mit meinen eigenen Augen habe ich es gesehen. Und wenn du glaubst, dass dein kümmerlicher Umgang mit Mächten, die du nicht verstehst, gerechtfertigt ist, dann erlaube mir, dich zu korrigieren. Die Nain wären die ersten, die verschlungen werden, falls das Schlafende Kind erwachen sollte: Es wird aus den Tiefen der Erde unter den Bergen aufsteigen, der Hitze des Feuerflusses folgen und dabei zuerst jedermann in deinem Königreich verschlucken, bevor es den Rest der Welt verzehrt. Du kannst mir vertrauen, wenn ich sage, dass ich in dieser Angelegenheit nicht auf deine Weisheit, sondern auf meine eigene höre. Und nun verschwinde aus meinen Bergen und geh zurück in deine eigenen. Wir brauchen deinen Rat hier nicht.«
Der Nain-König starrte ihn mit unverhülltem Erstaunen an, das einen Augenblick später zu schwarzer Wut zerschmolz. Er ging hinüber zu Rhapsody und drückte ihr den samtenen Sack in die Hände.
»Ich muss sagen, Herrin, dass die abscheuliche Grobheit Eures Freundes mich nicht im Geringsten schockiert, wohl aber bin ich entsetzt über Euch. Wenn irgendjemand die Gefahren kennt, die sich beim Spiel mit dem uranfänglichen Wissen ergeben, dann doch wohl eine lirinische Benennerin.«
»Noch einmal: Niemand spielt hier mit etwas, Euer Majestät«, sagte Rhapsody. »Ich entschuldige mich für Achmeds Unhöflichkeit. Aber angesichts dessen, was sich gerade ereignet, gibt es keine Grenzen der gewöhnlichen Diskretion mehr. Wir brauchen jedes Mittel, das uns zur Verfügung steht, um die Berge und jene zu schützen, die in ihnen leben, sowie auch alle anderen Mitglieder des Bündnisses. Sorbold giert nach Krieg, und die heilige Stadt Sepulvarta scheint bereits in seinen Klauen zu sein. Ich hoffe, Ihr werdet uns beistehen, wenn die Zeit gekommen ist und Ihr gebraucht werdet.«
»Ich vermute, heute habt Ihr mich zum letzten Mal gesehen, Herrin«, sagte der Nain-König verbittert. »Wir haben uns wegen der Selbstsucht und Dummheit eines männlichen und eines weiblichen Herrschers, die an diesem Ort hier regiert haben, schon einmal in unser Land zurückgezogen. Ich hatte gehofft, dass eine solche Situation nie wieder eintreten würde, doch leider scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Möget Ihr durch Euren Versuch, die Vernichtung abzuwenden, nicht dieselbe herbeiführen.«
Er drehte sich auf dem Absatz um, schritt aus dem Thronsaal und schlug die große Tür hinter sich zu.
Der Lärm hallte durch den Raum und löste den Staub von den Säulen, welche die Decke trugen.
»Was ist in dem Sack?«, fragte Grunthor, nachdem es wieder still geworden war.
Rhapsody löste den Riemen und öffnete den Sack. Darin befand sich ein kleines Kästchen aus purem Gold. Sie hob den Deckel und stellte fest, dass es mit schwarzem Elfenbein ausgekleidet war, einer toten Gesteinsformation, die angeblich allen Methoden des Hellsehens widerstand.
Darin lag ein einzelnes Stück aus brüchigem, hauchdünnem und durchscheinendem Material. Sanft nahm sie es in die Hand und fühlte sich plötzlich, als wäre die Welt um sie herum an ihr Ende gekommen.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie.
Der letzte Ort, an den Achmed den Dhrakier mitnahm, waren die Ruinen des Loritoriums, des unvollendeten Ortes, an dem Gwylliam die Artefakte des uralten Wissens aus seiner Sammlung hatte aufbewahren wollen. Es war tief im Bauch der Berge am Ende eines Tunnels erbaut worden, dessen einziger Zugang sich in den Gemächern des Bolg-Königs befand.
Der Grund dafür bestand in dem Altar aus Lebendigem Stein in der Mitte des unvollendeten Raumes, auf dem das Schlafende Kind lag, das mittlere Kind aus der Prophezeiung.
Er und Rath standen über seinem Katafalk und schauten auf es hinunter. Das Wesen war so groß wie ein erwachsener Mensch, hatte das Gesicht eines Kindes und eine kalte, graue, wie poliert wirkende Haut, als wäre es aus Stein gemeißelt. Wenn da nicht sein langsamer Atem gewesen wäre, hätte man wirklich glauben können, es wäre eine Statue.
Unter der Oberfläche der hauchdünnen Haut war das Fleisch dunkler und zeigte matte Schattierungen aus Braun und Grün, aus Purpur und Dunkelrot, die wie dünne Fäden aus farbigem Ton ineinander verschlungen waren. Seine Züge waren sowohl grob als auch glatt, als ob das Gesicht zuerst mit stumpfen Werkzeugen gemeißelt und dann sorgfältig ein ganzes Leben lang poliert worden wäre. Unter der derben Stirn befanden sich Brauen und Wimpern, die wie aus trockenen Grashalmen gewirkt zu sein schienen und zu dem langen, körnigen Haar passten. Im schwachen Licht glichen die Locken Weizen oder gebleichtem Steppengras; sie waren zu einer gleichmäßigen Länge geschnitten und zu zarten Zöpfen geflochten worden. Die Haarwurzeln an der Kopfhaut waren grün wie das Gras im Vorfrühling.
Achmed erinnerte sich daran, wie er dieses Kind zum ersten Mal gesehen hatte und was die Frau, die sich um es gekümmert hatte – die letzte Überlebende einer nahen dhrakischen Kolonie, die Großmutter genannt worden war –, ihm über es berichtet hatte.
Sie ist ein Kind der Erde, geformt aus Lebendigem Stein. Bei Tage und bei Nacht, zu allen Jahreszeiten schläft sie. Sie war schon vor meiner Geburt hier. Ich bin verpflichtet, sie zu bewachen, bis der Tod mich holt. So muss es auch bei dir sein.
Er hatte sich diese Worte zu Herzen genommen, vermutlich mehr als alles andere in seinem Leben.
»Sie ist viel kleiner und sieht kränker aus als bei meinem letzten Besuch hier«, sagte Rath.
»Der Herrscherbastard, den es nach Krieg gelüstet, hat den letzten verbliebenen Lebendigen Stein in einer Basilika in Sorbold namens Terreanfor geerntet.« Rath nickte; er kannte den Ort gut. »Vielleicht fordert das einen Tribut von ihr.«
Rath nickte erneut und schwieg weiter. Er folgte dem Bolg-König zurück in den oberen Berg zu einem hochgelegenen Tunnel, der die gewaltige Schlucht überblickte, welche den Hauptteil Canrifs von der verdorrten Heide trennte.
Der Wind heulte durch den Tunnel und sang ein Klagelied. Der Bolg-König und Rath setzten sich auf den Boden bei der Öffnung des Schachtes, schauten nach Westen und beobachteten, wie die Sonne ihr Licht blutgleich über das Vorgebirge, die Steppe und die weiten Krevensfelder ergoss.
Schweigend saßen sie da und erwarteten den Sonnenuntergang, bis Achmed schließlich sprach.
»Erzähle mir von den F’dor und denjenigen, die sie bewachen«, sagte er. »Ich weiß nur das, was Pater Halphasion mir beigebracht hat. Aber da er nicht an der Jagd teilnahm, konnte er mir nur sehr wenig sagen, also habe ich den Blutdurst in meinen Adern mein ganzes Leben lang verständnislos mit mir herumgeschleppt.«
Rath schaute hinunter in die zerklüftete Schlucht, in der tiefe Spalten die Reste des Sonnenlichts eingefangen hatten.
»Es gibt zwei Gruppen von Bestien: das Ältere Pantheon und das Jüngere. Sie sind nichts gesichtslos, sondern haben jeder eine einzigartige Persönlichkeit. Jeder hat Stärken, gegen die man sich wappnen muss, und Schwächen, die man sich zunutze machen kann. Wir kennen jeden Einzelnen, denn sie alle leben schon seit der Dämmerung der Schöpfung – und sie haben sich nicht fortgepflanzt, zumindest zum größten Teil nicht.
Die Dämonen des Älteren Pantheons wurden aus dem Feuer geboren, das während der Schöpfung auf der Oberfläche der Erde brannte. Die des Jüngeren Pantheons stammen aus den Flammen, die kurz danach in den Erdkern herabgesunken sind. Die Jüngeren sind bösartiger, denn sie kennen nur das befleckte Feuer, das Element, welches zerstört und verzehrt. Die Älteren hingegen hatten Zugang zu einem anderen Weg, den sie jedoch nicht gewählt haben. Bei ihrer Zeugung sahen sie den Himmel, die Sterne, das Universum und seine Unendlichkeit, aber sie zogen es vor, das reiche Leben um sie herum zu verachten, und warfen sich stattdessen auf die Leere. Sie wussten um die schöpferische und positive Kraft des Feuers – um die Wärme, das Licht, das Schmelzen von Stahl, das Kochen von Nahrung und das Ausbrennen von Krankheiten –, doch sie schenkten all dem keine Beachtung und benutzen es nur, um zu quälen und zu zerstören. Diese freiwillige Wahl ist der Grund dafür, dass das Ältere Pantheon als so viel schlimmer angesehen wird.
Das Ältere Pantheon hat das Ei des Stammwyrms gestohlen, das Jüngere die Schuppen. Beide sind böse, habgierig und wollen Vernichtung um jeden Preis; so steht es um jene, welche die Leere anbeten. Es ist ihnen egal, dass ihre Taten auch den Untergang ihrer eigenen Rasse herbeiführen werden. Unsere Hoffnung ist lediglich, dass wir ihnen dabei helfen, ohne dass sie uns und den Rest der Welt mit sich reißen.«
Achmed nickte und schwieg für lange Zeit. Als er schließlich sprach, lag in seiner Stimme weder die übliche Anmaßung noch die gewöhnliche Schärfe.
»In den Ruinen von Kurimah Milani hast du gesagt, ein Mann könnte jedes lebende Exemplar des Bienenschwarms vernichten, wenn er mit einem Feuer in ihre Höhle geht. Dann hast du darauf angespielt, dass es sich mit einer anderen Höhle genauso verhielte. Ich sagte dir, dass ich Rätsel verabscheue. Sag es offen heraus: Was willst du von mir?«
Rath sah ihn an und schaute dann wieder über die tiefe Schlucht zu der Stelle, wo das Licht der untergehenden Sonne die verdorrte Heide in den Farben des Feuers badete.
»Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass du für die Bolg ein verdorbenes und unsauberes Halbblut unter Bastarden warst, das in ihren Augen nur wenig wert war. Wegen der Wunden aus deiner Vergangenheit hast du angenommen, dass das Blut deines unbekannten Vaters dich auch der Wertschätzung der Blutsverwandten beraubt hätte, aber ich sage dir – und der Wind ist mein Zeuge –, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Für die Wächter und all die Brüder, die dich seit deiner Zeugung gesucht haben, bist du ein ganz besonderes Wesen und ein wertvolles Geschenk für unsere Art. Du bist es, der schließlich die Waage zu unseren Gunsten ausschlagen lassen könnte. Wir haben nicht nach dir gesucht, um dich zu foltern oder zu missbrauchen oder gar die Art von deinem Blut zu reinigen, sondern weil wir dich brauchen. Du bist im wahrsten Sinne des Wortes unsere letzte Hoffnung.« Rath lächelte, als er den Ausdruck völligen Unglaubens auf Achmeds Gesicht sah.
»Du allein bist geboren von Wind und Erde, Bolg-König«, fuhr er fort. »Während wir bei unserer endlosen Wache die Tunnel und Schluchten der Unterwelt durchschreiten, sind wir doch Fremde dort – und das wissen die Dämonen genau. Sie begreifen, was unser Opfer uns kostet und wie sehr der Wind in unserem Blut es hasst, in der Erde gefangen zu sein, für immer getrennt vom Element der Luft. Selbst in ihrem Gefängnis lachen sie uns noch aus, denn wir sind in jeder Hinsicht genauso Gefangene wie sie.
Doch in deinem Blut ist die Erde so stark wie der Wind. Du besitzt ein uranfängliches Band zu ihr, das weder die Blutsverwandten noch die Unausgesprochenen haben. Du hast dort Macht und eine körperliche Gestalt, die vom Element der Erde beschützt wird, das dir von deinem Vater geschenkt wurde. Du würdest vom Lebendigen Stein der Tiefen Kammer geleitet, falls du dich entscheiden solltest, sie zu betreten.«
Achmed spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Tief in seinem Blut reizten die Worte ihn; sie nährten den dunklen Hass seines Volkes, den er auf sich trug. Doch noch behielt Unsicherheit die Oberhand.
»Ich bin kein Wächter«, sagte er. »Ich bin nur zur Hälfte vom Blut der Brüder – und was die andere Hälfte in mir ausmacht, hat mich erzogen, wenn man das, was ich genossen habe, überhaupt so nennen kann. Ich kenne eure Überlieferungen und Prophezeiungen nicht und nicht eure Geschichte. Meine Fähigkeiten sind begrenzt und schwach. Wenn ich eine Blutgabe erhalten habe, die es mir erlaubt, den Herzschlag jedes Wesens aufzuspüren, das von derselben Erde stammt wie ich, dann ist das nur eine Gabe der Oberwelt. Jedes Mal, wenn ich einem aus dem Pantheon gegenüberstand, brauchte ich Hilfe, um meine Aufgabe zu vollenden. Ohne diesen Beistand wäre ich jetzt entweder tot oder selbst besessen.«
Die silbernen Pupillen von Raths Augen dehnten sich, als das Licht über der Steppe verblasste. Er richtete den Blick auf Achmed, als wolle er seinen Worten zusätzliches Gewicht verleihen, und sagte:
»Was du nicht weißt, ist dieses: Du könntest allein durch die Tiefe Kammer gehen, und wenn du an ihr Ende kämest, würde in der Stille nur dein geflüsterter Name hallen.«
»Ich glaube, du überschätzt meine Fähigkeiten als Mörder«, erwiderte Achmed. »Die Antwort auf die Frage, die du mir in der Höhle gestellt hast, lautet so: Obwohl es nicht immer so war, bin ich jetzt eher König als Mörder. Meine ursprüngliche Aufgabe ist es, das Erdenkind und die Erde zu beschützen, nicht um der alten Feindschaft mit den F’dor, sondern um ihrer selbst und um derer willen, die auf ihr leben. Und auch um meiner eigenen selbstsüchtigen Ziele willen. Es ist, wie du vorhin gesagt hast, ein oberweltlicher Ruf. Also bin ich ein König, obwohl du mich nicht als solchen ansähest, wenn du mich besser kennen würdest.«
Der dhrakische Jäger schüttelte den Kopf.
»Es steht mir nicht zu, dich zu beurteilen. Du bewachst das Schlafende Kind. Ein König mit Voraussicht, aber ohne Mut und Gnade hätte es zerschmettert, ihm die Rippen gebrochen und alle möglichen Schlüssel zerstört. Dann würde niemand mehr die Tür durchschreiten können. Nein, welchen Ruf du auch immer haben möchtest, ich weiß, was für ein König du bist.«
»Erzähle mir vom Älteren Pantheon«, bat Achmed, den inzwischen die Neugier gepackt hatte. »Was weißt du über die ältesten F’dor? Wie lauten die Namen derer, die du jagst?«
Rath zog einen kleinen Dolch aus der Kalbslederscheide und fuhr mit ihm nachlässig über die Tunnelwand. »Den ganzen Namen zu sagen, ist selten möglich. Es wäre, als ob man einen Wasserfall bezeichnen möchte, indem man seinen Rhythmus nachahmt, bis man diesen von jedem anderen Wasserfall unterscheiden kann. Wie lange würde das dauern? Den ganzen Frühling? Ein Jahr? Diese Rasse ist nicht durch die Bewegung der Zunge gebunden und auch nicht durch den Ablauf der Zeit. Sie wurde sozusagen ganz geboren. Ihr Wachstum hängt nicht von den Jahren, sondern vom Brennstoff ab; ihre Erfahrung und Stärke bemisst sich nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Seelen.
Dennoch müssen wir sie benennen, um sie zu rufen, zu fangen und zu zählen. Es gibt nur wenige von uns, die allmählich mit der Liste zurechtkommen. Ich werde dir so viel von den Namen verraten, dass es in deine Ohren dringt, aber für den Wind wird es nicht reichen. Hrarfa ist einer derjenigen, die ich suche. Sie ist eine wispernde Flamme, wie Weihrauch, manchmal schwelt sie, ist mehr Geruch als Flamme, wie ein Leuchtfeuer oder bisweilen auch ein Irrlicht, das mit falschen Versprechungen lockt. Sie ist die Lügnerin aller Lügner.
Dann ist da Hnaf, der Spuckende, beinahe Nasse, der sich in der Nähe des Wassers heimisch fühlt, sich bei ihm versteckt und vorgibt, fast erloschen zu sein. Dem geringen Wissen zufolge, das wir über die Insassen der Tiefen Kammer haben, misstraut ihm sogar seine eigene Art, denn er ist von einer niedrigen Boshaftigkeit besessen. Der Ausgestoßene der Ausgestoßenen.
Einige verfolgen wir anhand der menschlichen Hüllen, die sie zurücklassen. Der gierige Ricken lauert am Rande des Waldes ahnungslosen kleinen Leuten auf, klein sowohl an Gestalt als auch an Geist. Dieses Wesen – wir kennen sein Geschlecht nicht – zieht es vor, so viele Menschen wie möglich zu verzehren: Bauern, Hausmütterchen, beschränkte Arbeiter. Es nimmt sich keine wertvollen Opfer und mästet sich nicht an Ehrgeiz und Angst. Es ist der Vielfraß.
Einige sind keck, sogar tapfer und haben das Bannritual überlebt. Die Jäger des Gefängnisses gewinnen nicht immer. Wie die Bolg oder die Menschen reden die F’dor in der Stunde ihres Untergangs. Manche knurren, manche betteln, manche versuchen zu handeln, einige weinen sogar. Doch man darf sich von ihnen nicht täuschen lassen. Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass sie so denken und fühlen wie du. Jeder Einzelne ist anders, wie ein Dorf aus Kerzen oder ein Hang aus Feuerzungen. Das ist alles, was sie mit uns gemein haben: Sie betteln, sie handeln, sie weinen, weil sie uns schon so lange jagen, weil sie uns gesehen haben – weil sie in uns gewesen sind. Sie kennen diese Schlüssel zur menschlichen Seele und manipulieren sie, doch sie selbst sind immun gegen solche Gnadenersuche. Und manchmal waren ihre Täuschungen erfolgreich, sogar bei den Wächtern.
Außer ihnen haben nur wenige die Gabe, die F’dor zu sehen, denn ihre Natur ist die des Versteckens, wie bei uns. Der Nain-König hat Linsen geschliffen, um das zu sehen, was verborgen ist, doch keine hat sich als wirksam dabei erwiesen, etwas zu entdecken oder vorherzusagen. Ich glaube, es wird nicht lange dauern, dass er sich wünscht, einen F’dor einzufangen, damit er ihn studieren kann. Der Nain-König ist groß und gelehrt und sehr alt, und er wird auf dieses Wesen starren, dass nicht eigentlich ein Wesen ist, sondern nur ein Ding, und er wird nicht erkennen, dass es ihn ebenfalls anstarrt.«
»Er ist ein Narr«, sagte Achmed. »Und er wird den Wyrm eher wecken als ich.«
Rath schüttelte den Kopf. »Er ist ein Verbündeter, und in dieser Schlacht wirst du jeden Verbündeten aus der Oberwelt brauchen, den du bekommen kannst. Es war ein Fehler, ihn zurückzuweisen, Bolg-König. Du erträgst ihn besser als deinen närrischen Verbündeten denn als deinen weisen Feind.«
»Er würde den Bolg in Zeiten der Not nie beistehen. Es sähe den Nain ähnlich, sich einfach in ihre Berge zurückzuziehen und dort auszuharren, selbst wenn der Rest der Welt auseinander fällt. So war es am Ende des Cymrischen Krieges, und so wird es auch jetzt wieder sein. Es ist also egal, ob er mein Verbündeter oder mein Feind ist. Er wird auf dieselbe eigensüchtige, sich abgrenzende Art und Weise wie immer handeln. Er ist halt so eine Art König. Und wenn er der Meinung ist, dass er sein Volk so am besten schützt, dann kann ich es ihm nicht verdenken – aber ich muss nicht auch noch seine dämlichen Forderungen erfüllen.«
Rath zuckte die Schultern. »Entweder du bist ein Mörder, oder du bist ein König«, sagte er, schloss die Augen und genoss es, wie der Wind über sein Gesicht fuhr. »Ein König muss solche Dinge erdulden, ein Mörder nicht.« Achmed schwieg darauf.
Als die Brise auffrischte, öffnete der Dhrakier aus Gewohnheit den Mund und sang seine Liste heraus.
Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.
Der Wind drehte sich und blies nun von Norden.
Raths Mund war von Feuer erfüllt, in seiner Kehle brannte ätzendes Blut.
Er hatte die Spur eines F’dor aus dem Älteren Pantheon aufgeschnappt.
Hrarfa, flüsterte er. Das Wort sank ihm bis ins Herz und verankerte sich in seinen Blutgefäßen.
Nun schlug es im Rhythmus eines anderen Herzen, das weit entfernt war.
Rath taumelte auf die Beine; sein Gesicht war vor Erregung und Schmerz verzerrt.
»Hast du eine Spur gefunden?«
Der Dhrakier nickte.
»Ich werde mit dir gehen.«
Rath schüttelte den Kopf. »Bleib hier«, sagte er unter großen Mühen. »Bewache das … Erdenkind. Es könnte ein Ablenkungsmanöver sein. Es ist meine Aufgabe, dieser Spur zu folgen.«
Die Nadeln trieben bereits heiß durch Achmeds Adern und flüsterten dabei Worte des Hasses. Widerstrebend nickte er.
»Das Glück sei mit dir«, sagte er, als Rath den Tunnel hinunterging.
Rath blieb stehen und blickte über die Schulter.
»Ich werde dir die Geschichte dieser Jagd mitbringen, falls ich noch lange genug leben sollte, um sie erzählen zu können«, sagte er.
Dann verschwand er im Wind.
Der Tag war lang und fruchtlos gewesen. Ashe hatte Kopfschmerzen von den Berichten über die Zerstörungen in Sepulvarta, dem Zusammenprall der Soldaten im Verlauf der Evakuierung der Krevensfelder und von dem Streit der Herzöge über die Zuteilung von Reserven für die Verteidigung der verschiedenen Provinzen. Die erneute Zusammenkunft der Herzöge in dieser Festung hatte nichts dazu beigetragen, ihre Streitsucht zu mildern, wie Ashe es eigentlich gehofft hatte. Er war so lange wie möglich so geduldig wie möglich gewesen, bis er schließlich das Gefühl hatte, dass der dumpfe Schmerz in seinem Kopf diesen bald spalten würde.
»Wir werden morgen früh wieder zusammenkommen«, hatte er hinter einem gewaltigen Papierstapel auf seinem Schreibtisch zu dem Konzil der Herzöge gesagt. Sein Tonfall hatte bewirkt, dass sie sich rasch zurückgezogen hatten – alle außer Tristan Steward, der in der großen Bibliothek zurückgeblieben war.
»Du könntest ein Glas Branntwein vertragen, mein Freund«, sagte Tristan, »und auch etwas zu essen. Wenn ein Heer nur mit vollem Magen marschiert, dann sollte gerade der Kommandant den seinen nicht vernachlässigen. Ich werde dir etwas heraufbringen lassen.«
Er ging zur Anrichte und holte ein schweres Kristallglas heraus, in das er drei Fingerbreit einer klaren, bernsteinfarbenen Flüssigkeit eingoss, einen Honigbranntwein aus der Provinz Canderre, die in der ganzen Welt für ihre ausgezeichneten Getränke und anderen Luxusgüter bekannt war. Er goss auch sich selbst ein Glas ein und gab das erste dem cymrischen Herrscher.
Ashe winkte ihn fort.
»Nein, vielen Dank«, sagte er. »Ich bin nicht hungrig.«
»Aber du musst durstig sein«, bedrängte Tristan Steward ihn. »Du hast fast den ganzen Tag alberne Fragen beantwortet, Gwydion. Sogar der cymrische Herrscher hat eine Unterbrechung von den andauernden Kriegsvorbereitungen verdient.« Er stellte das Glas auf den Tisch vor Ashe, der den Kopf auf den Unterarm gelegt hatte. »Ich überlasse dich jetzt deinen Gedanken. Sorge dafür, dass du etwas Schlaf bekommst. Gute Nacht.«
»Vielen Dank«, murmelte Ashe, als sich die Tür hinter ihm schloss. Er starrte in den Feuerschein, der in seinem bauchigen Glas tanzte. Es lag etwas Beeindruckendes darin, wie die goldene Flüssigkeit das Licht einfing und es in den warmen Farben des Feuers brach. Alles, was mit Feuer zu tun hatte, erinnerte ihn wie immer schmerzhaft an Rhapsody.
Gegen sein besseres Wissen nahm er das Glas in die Hand und erlaubte es den Alkoholdämpfen, ihm in die Nase zu steigen. Sie stachen ihm in die Nebenhöhlen und wärmten sie sogleich. Er trank einen Schluck. Die Flüssigkeit war weich wie Seide und warm; sie erfüllte seinen Mund mit einem herrlichen Geschmack und seine Nase mit einem reichen Duft. Er hatte es Tristan Steward zu verdanken, dass er dieses Getränk kannte.
Abermals wurde leise die Tür geöffnet. Ashe drehte sich um und warf einen Blick über die Schulter.
Rhapsody war wieder da. Diesmal trug sie nicht ihre Reisekleidung, sondern ein hauchdünnes Gewand aus weißer Seide. Er erkannte die vom Feuer erleuchteten Umrisse ihrer schlanken Beine; die reizvollen Kurven ihres Körpers waren schattenhaft durch den dünnen Stoff zu sehen und liefen auf die schwellenden Brüste zu, über denen die nackte Haut ihrer Kehle schimmerte.
Ich vermisse dich, sagte sie mit zugleich sanfter und rauchiger Stimme.
Ashe nahm noch einen Schluck von der brennenden Flüssigkeit.
»Geh weg«, murmelte er. »Du bist ein Trugbild meiner Einbildung. Oder ein Zeichen für meinen beginnenden Wahnsinn. Geh weg.«
Lächelnd kam sie auf ihn zu; das Seidenkleid wisperte um ihre nackten Füße.
Ich bin kein Trugbild, sagte sie, beugte sich zu ihm herunter und erfüllte seine Nase mit der Wärme ihres Duftes. Nicht, solange ich in deinem Herzen bin.
Ashe war erschöpft davon, den einsamen und erschöpften Drachen in sich im Zaum zu halten. Er streckte die Hand aus, eine Soldatenhand, schwielig und faltig von der Schlacht und dem Schwertgriff, und legte sie zitternd auf die glatte Wölbung ihres Nackens. Ihre Haut war warm und weich, ihr Atem ging schneller unter seiner Berührung.
»Du bist nicht wirklich«, sagte er leise. »Auch wenn der All-Gott weiß, dass ich wollte, du wärest es.«
Ich kann es sein, antwortete sie flüsternd.
Ashe schaute weg. Er schloss die Augen, legte wieder die Stirn auf den Unterarm und erlaubte es den Dünsten des Branntweins, in sein Hirn zu dringen, während der Drachensinn in ihm die Gestalt des Traumes, der neben ihm wartete, deutlich wahrnahm.
Er spürte die Wärme von Lippen auf seinem Hals, das Kitzeln und den süßen Duft von frisch gewaschenem Haar, die schmerzhafte Verfügbarkeit, die Willigkeit, das Verlangen.
Dann drehte er rasch den Kopf um und öffnete die Augen.
Das Kammermädchen war wieder da und schaute ihn mit demselben Lächeln an, das vor einem Moment noch auf dem Gesicht seiner Frau gewesen war.
»Warum bist du hier, Portia?«, fragte er stoßweise. »Was willst du von mir?«
»Dasselbe, was Ihr von mir wollt.« Der Ton ihrer Stimme war beinahe magisch einladend und brachte alle Nerven in seinem Körper zum Schwingen.
Ashe schob ruckartig seinen Stuhl zurück und schlug mit den Händen auf den Tisch vor ihm.
»Was machst du da?«, rief er. »Warum bist du immer da, wenn mein Verstand in Trümmern liegt? Oder liegt er in Trümmern, weil du da bist?« Der cymrische Herrscher packte seine eigenen Haare und riss daran. »Was für ein heimtückisches Spiel spielst du mit mir, Portia?«
Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen.
»Herr, ich …«
Der Drache in seinem Blut explodierte vor Wut.
»Genug! Genug!«, brüllte Ashe. Wütend schleuderte er die Papiere vor sich vom Tisch und verspritzte dabei den Inhalt des Tintenfasses auf dem dicken Teppich. »Geh weg von hier! Geh zurück nach Bethania – oder woher du auch immer gekommen sein magst. Wende deine bösen Listen bei Tristan Steward an, klettere doch in sein Bett. Vielleicht wird er deinen Verführungskünsten erliegen – ich jedenfalls werde es nicht. Glaubst du, ich könnte dich nicht von meiner Frau unterscheiden? Glaubst du, du könntest mich in meinem Elend verführen und all das betrügen, was ich für heilig halte? Du verdammtes Biest!« Der Drache in seinem Blut tobte, und die Worte sowie die Stimme, die sie aussprach, klangen in seinen Ohren wie die eines Wahnsinnigen.
Die Kammermaid brach in Tränen aus und erbebte unter ihren Schluchzern.
»Herr, ich wollte nie …«
Doch der Drache in Ashes Seele raste so in seinem Blut, dass es ihm in den Adern brannte.
»Sei still!«, knurrte er mit einer Stimme, die eher das Brüllen eines Tieres war. »Sei still! Verlass mein Haus. Ich will, dass du noch heute Nacht gehst – sofort! Nimm mit, was dir gehört, und geh. Lass mich allein und kehre niemals zurück. Ich will dich nie wieder sehen. Ich weiß nicht, welche Kniffe du anwendest, aber wenn du nicht sofort gehst, kann ich für deine Sicherheit hier nicht mehr garantieren. Pack all das zusammen, was du mitgebracht hast – deine Essenzen und alles andere, was dir gehört. Geh. Geh mir aus den Augen. Geh weg von hier!« Er taumelte blindlings zu den Sprachrohren und rief nach dem Kammerherrn.
»Gerald! Gerald Owen! Komm sofort her und befreie mich von diesem Ungeheuer!«
Das Kammermädchen starrte ihn noch einen Moment lang verblüfft an, vergrub dann das Gesicht in den Händen und rannte laut heulend aus dem Zimmer.
Als sie fort war, schien etwas in der Luft um Ashe herum zu zerspringen. Der cymrische Herrscher wusste nicht, ob es ein Zauber war, eine Falle wie ein unsichtbares Spinnennetz, das von bösen Mächten gewoben worden war, um ihn seiner geistigen Gesundheit zu berauben.
Oder es war das Zerspringen gerade dieser geistigen Gesundheit.
Ashe spürte jeden klappernden Schritt, als Portia die Treppe hinunterlief; und die Nerven seiner Haut nahmen das Schlagen jeder Tür auf ihrem Weg nach draußen wahr. Er war seltsam dankbar dafür, dass ihr Jammer so schnell vergangen zu sein schien. Ihre Ruhe war fast sofort zurückgekehrt, denn ihr Herz schlug wieder in normalem Rhythmus, ihr Atem ging langsamer, und besonnen packte sie rasch ihre Sachen und schoss dann durch die Hintertür in die Nacht hinaus, ohne darauf zu warten, dass ihr der Kammerherr den Weg nach draußen zeigte. Er schloss die Augen und hoffte, dass dieselbe Ruhe nun auch wieder zu ihm zurückkehren würde. Er beobachtete Portias Fortgang, bis er ihre Gegenwart auf seinen Ländereien nicht mehr spürte und nicht länger den Duft von Vanille und süßer Seife, von Holzrauch und Wiesenblumen in den oberen Bereichen seiner Nebenhöhlen roch. Er bemerkte nicht, wie stark seine Hände zitterten oder wie schnell sein Herz schlug. Als der Kammerherr in einem ruhigeren Augenblick zu ihm kam, bereute Ashe bereits seinen Wutanfall und wurde von Reue sowie dem Verlangen gequält, seine Tat wieder gutzumachen.
Er erkannte, dass er beinahe einen Fehler begangen hätte, der ihn mehr als die ganze Welt gekostet hätte.
Portia rannte hinaus in die Nacht. Zwar klopfte ihr Herz wild, doch sie besaß die Ruhe von jemandem, der schon viele solcher Vertreibungen überlebt hatte.
Sie wanderte unter dem Mond die kalten Pfade des Waldes entlang, bis sie zu einem schattigen Tal kam, in dem die knospenden Blätter in all dem geisterhaften Leuchten um sie herum schwarze, spitzenartige Schatten auf den Boden warfen.
Sie bebte unter der Kälte; ihr Körper war nie gut gepolstert gewesen, und die Kühle der Nachtluft sank in ihre Haut ein und ließ sie erzittern.
Er wird mir nachlaufen, dachte sie. Er bereut schon, was er getan hat, und wenn die Gewissensbisse ihn überwältigen, wird er in die Nacht hinauslaufen und mich suchen.
Und wird mich wieder in sein Haus bringen.
Heute Nacht wird es endlich vollzogen werden, dachte sie freudig und rieb sich frierend die Arme. Heute Nacht wird er mich in seine Arme nehmen und zu seinem Bett tragen. Ich werde ihn ganz besitzen. Ich werde ihn bis auf die höchsten Klippen der Lust reiten, und während er sich in mich bohrt, werde ich mich in seine Seele bohren. Ich bin vielleicht nicht in der Lage, den Schatten seiner Frau zu vertreiben, aber sie wird mich in ihm finden, wenn sie zurückkehrt.
Und dann wird alles beginnen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis ihn Gewissensbisse beschlichen und sich in ihm festsetzten.
Ashe stand vom Tisch auf und ging wieder zum Sprachrohr.
»Komm, Owen«, rief er seinen Kammerherrn. »Ich bin ein Esel gewesen. Ich wollte sie nicht allein und ohne Schutz in die Nacht hinausschicken. Sattle mein Pferd. Wir müssen sie finden und herbringen. Und dann soll Tristan dafür sorgen, dass er sie mitnimmt, wenn er morgen nach Bethania zurückkehrt.«
Wie Ashe vorhergesagt hatte, kehrten die Albträume tatsächlich zurück.
Während der Reise hatte Rhapsody sie kaum wahrgenommen. Zu vieles hatte sie beschäftigt, während sie, Achmed und Grunthor in großer Eile nach Westen und in die Wüste hinausgeritten waren. Als sie mit ihrem Kind im Schlepptau die schützenden Arme ihres Mannes verlassen hatte, war die Angst vor den Augen, die über und unter der Erde nach ihrem Kind suchten, für sie albtraumhaft genug gewesen. Schlechte Träume hatte sie in dieser Zeit kaum bemerkt; die Wirklichkeit war noch schlimmer gewesen.
Als sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, hatten Rhapsody und Meridion an Grunthors massiger Brust geschlafen, genau wie damals, als sie entlang der Wurzel durch den Bauch der Erde gereist waren. In jener Zeit waren die schlechten Träume besonders lebhaft gewesen, doch wenn auch Grunthor nicht in der Lage gewesen war, sie wie Ashe oder Elynsynos völlig zu verscheuchen, so hatte er doch wenigstens eine breite, raue Oberfläche abgegeben, auf der sie erstaunlich warm und bequem hatte schlafen können. Auch war er recht gut darin gewesen, sie von ihren Träumen abzulenken und während des Grauens der Nacht mit ihr zu reden, wenn er der Meinung gewesen war, dass er sie wecken musste. Dieses Geschick hatte er auch heute noch nicht verloren, und besonders hatte er es genossen, das winzige Kind zu wiegen und sich mit ihm einzurollen.
Doch nun war das Kind fort, und sie waren zurück in Ylorc bei den Firbolg, die sie misstrauisch wie jemanden beäugten, der weggegangen war und sie allein zurückgelassen hatte, oder wie eine Königshure oder einfach nur wie ein leckeres Essen.
Rhapsody war wieder allein.
Sie regte sich zwischen den Leinenlaken, die das große Bett in ihrer stillen Kammer in den inneren Hallen Canrifs bedeckten. Es hatte ihr nie besonders gefallen, in den kalten Bergen zu sein, und in der Zeit, die sie damals im Bolgland verbracht hatte, war sie meistens in Elysian gewesen, in dem kleinen Haus, das einst Gwylliam für Anwyn erbaut hatte, als sie noch ineinander verliebt gewesen waren oder dies zumindest vorgegeben hatten.
Rhapsody rollte sich im Schlaf auf die andere Seite und seufzte stoßweise. Sie vermisste das kleine Haus auf der Insel mitten im unterirdischen See. Es war ein Ort verborgener Magie, an dem sie sich zum ersten Mal sicher gefühlt hatte, seit sie in die neue Welt gekommen war. Dort hatten sie und Ashe sich ineinander verliebt, oder zumindest hatten sie sich zum ersten Mal ihre Gefühle füreinander eingestanden. Sie hatten einen kurzen, aber wundervollen Frühling dort verbracht, die purpurfarbenen kristallinen Höhlen erforscht, und sie waren im dunklen Wasser geschwommen, unter dessen Oberfläche fadenartige Steinformationen und Unterwasserstalagmiten traumhafte Kathedralen aus gedämpften Farben gebildet hatten. In das Firmament der Höhle waren sorgfältig Dutzende Löcher gebohrt, durch welche die Strahlen des Sonnenlichts hindurchfielen und das Anlegen von Gärten möglich machten. Rhapsody hatte viele glückliche Stunden damit verbracht, sich um die jungen Bäume zu kümmern, Blumen und Kräuter zu pflanzen und ihre Kindheit erneut zu durchleben, die sie in einer einfacheren Zeit auf einem Gehöft inmitten der Weiten Marschen von Serendair verbracht hatte.
Nun, da sie wieder einmal allein und verängstigt in der Dunkelheit von Ylorc steckte, war sie wehrlos gegen die Dämonen der Nacht, die in ihrem Kopf hausten. So lange sie sich erinnern konnte, war sie hellsichtig gewesen und hatte die Zukunft und manchmal auch die Vergangenheit in ihren Träumen gesehen, und deshalb betäubte sie sich nicht oder nahm Kräuter, die ihren Schlaf so tief gemacht hätten, dass ihr Verstand nicht verarbeiten konnte, was sie im Traum sah, denn sie wollte nichts Wichtiges verpassen und unbedingt wissen, ob diejenigen, die sie liebte, in Sicherheit waren.
Also gab sie sich den Träumen hin – den schrecklichen Anblicken brennender Schiffe in einem Hafen, der in Flammen stand; den Bildern von entsetzten Einwohnern, die vor Soldaten davonliefen, welche vom Pferd aus mit Schwertern angriffen; den großen geflügelten Umrissen, die durch den Nachthimmel schossen und feurigen Tod auf die Riedgrasdächer der Häuser unter ihnen regnen ließen.
Doch hauptsächlich träumte sie von Ashe.
Die meisten dieser Träume waren erschreckend, es sei denn, sie setzte ihre Fähigkeiten als Sängerin ein und griff durch die Wellen der Zeit mit der Musik nach ihm, die sie studiert hatte. Nacht für Nacht sah sie ihn in ihrem Schlaf, frierend und wandernd, manchmal in den Wellen des Meeres treibend, verloren ohne die Familie, die so wichtig für ihn war und die der Drache in ihm als sein Eigentum ansah. Selbst Hunderte von Meilen entfernt spürte sie die Entwicklung im Geist ihres Gemahls, als der Drache in seiner Seele an die Oberfläche stieg, während der gebrochene Mensch in die Schatten zurückwich.
Jede Nacht weinte sie, lag oft lange in erschöpfter Betäubung wach, bis schließlich der Morgen kam und es Zeit wurde, wieder zu ihrer Arbeit am Lichtfänger zurückzukehren.
In einer besonders grausamen Nacht träumte sie von ihrem alten Zuhause in Myrfeld in den Weiten Marschen, wo sie und der Junge, den sie Sam genannt hatte, sich unter dem Sternenhimmel, unter einem Weidenbaum und an einem Wiesenbach ineinander verliebt hatten. Die Weide, der Bach und der Baum waren in ihrem Traum noch da, doch im serenischen Krieg zu schwarzer Asche verbrannt. Die Knochen derer, die sie liebte, lagen verstreut auf dem Feld umher, und zu ihren Füßen sah sie ein winziges Skelett, dessen Schädel mit den Überresten flachsfarbener Locken geschmückt war.
Rhapsody weinte so sehr, als wollte sie sich von allen Tränen leeren.
Und dann, als sich ihr Hirn mit Anblicken des Grauens und der Verwüstung vollsog, spürte sie eine leise musikalische Schwingung um sich herum, die ihre Ohren mit sanften Tönen erfüllte und ihre Träume in die dunkelsten Ecken ihres Kopfes zurückscheuchte. Es war, als hätte sich in ihrer Seele ein Fenster geöffnet, welches den Sonnenschein hereinließ. Sie erkannte die Schwingung.
Sie ging von den beiden Drachen aus, die sie in ihrem Leben geliebt hatte – von ihrem Gemahl und von Elynsynos.
Obwohl sie sehr erschöpft war, bemühte sich Rhapsody aufzuwachen. Es kann nicht Ashe sein, dachte sie benommen und kämpfte gegen die dunklen Spinnweben des Schlafes an. Ich weiß, dass er nicht hier ist, aber ich spüre das Lied, mit dem er immer wieder meine Träume verscheucht und mich in traumlosen, erholsamen Schlaf zurückversetzt hat. Es muss Elynsynos sein; sie ist hier irgendwo, und sie lebt.
Sie kämpfte gegen die Schwere ihrer Lider an, versuchte die Schwingung zu finden, öffnete die Augen und sah sich nach der Drachin um, die ihre Albträume fortgejagt hatte.
Auf der Bettdecke neben ihr bemerkte sie zwei winzige, blinzelnde blaue Augen, deren senkrechte Pupillen sich in der Dunkelheit ausdehnten und sie eingehend ansahen. Porzellanhände und -füße fuhren durch die Luft, und ein leises Gurren drang aus einem Kopf, der von flachsblondem Haar bekrönt wurde.
Ihr Kind.
Rhapsodys Hände wanderten sofort zu ihrem Bauch, der sich unter ihren Handflächen wieder flach anfühlte. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, als sie sanft die Hände ausstreckte und die weiche Haut von Meridions Wange streichelte. Sie schob die Hände vorsichtig unter ihn, legte die Lippen auf die Biegung seines Halses und küsste ihn dankbar wieder und wieder.
Meridion lag auf dem Laken, starrte sie in der Dunkelheit an und blinzelte.
»Ich hätte es wissen sollen«, murmelte Rhapsody und lächelte ihren Sohn an. »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest. Ich wusste nur nicht, dass du schon die Macht der Drachen besitzt, Träume zu verscheuchen. Meine Güte, du bist vielleicht ein besonderer Junge.«
Das Kind gluckste.
Wenn Melisande nicht zweihundert Waldläufer aufsitzen und in den Wald um sie herum reiten gesehen hätte, und wenn sie nicht beobachtet hätte, wie weitere fünfhundert zu Fuß in dem dichten Wald hinter ihnen verschwanden, dann wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, dass sie und Gavin nicht mutterseelenallein auf ihrer Reise waren.
Die berittenen Männer, die sie in den letzten Wochen vom Kreis aus begleitet hatten, waren kurz nach der Durchquerung des Tar’afel in zwei Hauptrichtungen aufgebrochen. Nun ritten sie nach Norden und Westen mit der aufgehenden Sonne im Rücken zum äußersten Rand des Drachenlandes. Der Fürbitter hatte ihr erklärt, dass nur diejenigen Späher, die den weitesten Weg hatten, weiterhin reiten würden. Die Waldläufer waren viel schneller und leiser, wenn sie zu Fuß durch die Schluchten mit unberührtem Wald reisten, die Elynsynos’ Land umgaben. Auf seinem Gesicht hatte sich nicht das schwächste Lächeln abgezeichnet, als er weiterhin erklärt hatte, dass die Waldläufer einen Drachen nicht mit Pferdefleisch in Versuchung führen wollten, es sei denn, die Entfernung machte es unumgänglich. Die junge Herrin von Navarne hatte von ihrem Pferd aus, einer stämmigen, grau gescheckten Waldstute, seinen Erklärungen gelauscht.
»Warum reiten wir dann, wenn der Weg zu Fuß leichter ist?«, hatte sie gefragt.
Nun hatte der bärtige Führer der Filiden gelächelt. »Haltet Ihr Euch neben all Euren anderen Fertigkeiten auch noch für eine Waldläuferin, Herrin Melisande von Navarne?« Er hatte sich rasch abgewandt, als ihr Gesicht die Farbe gewechselt hatte, doch die Sanftheit seiner Stimme hatte ihre Eitelkeit nicht vernichtet, auch wenn sie beinahe an ihrer eigenen Dummheit erstickt wäre.
Sobald Gavins Truppe außer Sichtweite war, stieg der Fürbitter auf sein eigenes Pferd, einen lirinischen Rotschimmel, der ihm als Tributleistung von den tyrianischen Grenzwachen gegeben worden war. Er ergriff die Zügel von Melisandes Stute und ritt langsam in den Wald hinein. Zuerst hielt sich Melisande am Zaumzeug ihres Reittieres fest, doch bald erkannte sie, dass die ruhigen Leittöne des Fürbitters die Pferde um Reisighaufen und tiefere Löcher im moosigen Waldboden herum führten und für einen leidlich gleichmäßigen Ritt sorgten.
Schweigend reisten sie nach Nordwesten und folgten dem Pfad der Sonne, die durch die knospenden Blätter des uralten Waldes schien und zarte Schatten auf den Grund vor ihnen warf. Melisande bemühte sich, im Sattel wach zu bleiben. Zu der Erschöpfung infolge ihrer Mission kam ein traumhaftes, einlullendes Gefühl hinzu, dass sie umso fester umhüllte, je tiefer sie in den Wald eindrangen. Ihre Augenlider wurden schwer, als die Sonne im Himmelsgewölbe niederstieg, und beim Einsetzen der Dämmerung war sie eingeschlafen und wurde nur noch von den härtesten Stößen für kurze Zeit wieder wach. Sie ergab sich ganz der Empfindung, die gesamte umhertaumelnde Welt zu reiten, war wehrlos gegen die Macht dieser Bewegung und legte schließlich das Kinn auf die Brust. Den größten Teil der Strecke döste sie vor sich hin, während Gavins geschickte Hand und das sanfte Pferd sie leiteten.
Sie träumte gerade von ihrer Mutter, oder wenigstens von einer Frau, die wie das Gemälde ihrer Mutter über dem Kamin in der Bibliothek ihres Vaters aussah, als sie spürte, dass sich die Welt nicht mehr drehte. Ruckartig erwachte Melisande. Das Licht war aus dem Himmel verschwunden und hinterließ nur eine Andeutung von Aquamarinblau, das durch die Blätter im Westen spähte, während Wolken über das dunkle Firmament hoch über ihr zogen.
Sie sah sich nach dem Fürbitter um und erkannte sein Pferd einige Fuß hinter ihrem eigenen, doch der Sattel des Rotschimmels war leer.
»Gavin?«, rief sie gedämpft; ihre Stimme zitterte ein wenig.
Ein leiser Vogelruf, der sich mit den übrigen Nachtlauten im Wald vermischte, antwortete ihr. Melisande wusste sofort, dass der Fürbitter diesen Laut ausgestoßen hatte, und war beruhigt, doch sie beugte sich noch immer im Sattel vor und spähte in dem Versuch, ihn auszumachen, in die dichter werdenden Waldschatten.
Der Fürbitter trat aus der Finsternis hinter dem Pferd.
»Ihr habt wirklich einen schrecklichen Richtungssinn, Melisande«, sagte er freundlich. Er streckte die Hand aus, um ihr vom Pferd zu helfen.
»Machen wir hier Pause?«, fragte Melisande.
»Nicht hier, sondern etwas weiter nördlich, noch ungefähr zweihundert Schritte. Dort gibt es einen von einer Quelle gespeisten Elfenteich, aus dem die Pferde trinken können.«
Melisande nickte, ergriff die Zügel ihres Pferdes und machte sich bereit, Gavin zu Fuß zu folgen.
Aus der Ferne drang ein trauriges Jammern durch den Wind. Es war ein hoher, dunkler Ton, der für einen Moment unverändert blieb und dann die Tonleiter hinabfiel, bis er verstummte.
Das Haar im Nacken des Mädchens war plötzlich feucht, und ein kaltes Zittern durchlief seinen Körper. Es versteifte sich, genau wie das Pferd, das es am Zügel führte.
Gavin drehte sich nicht um. »Habt keine Angst«, sagte er leise. »Geht einfach weiter und bleibt dicht hinter mir.«
Ein Chor wie von Tierstimmen flog auf dem Wind herbei und jammerte eine misstönende Antwort. Sie schienen näher als die erste Stimme zu sein – oder lauter.
»Wölfe?«, flüsterte Melisande. Von ihrem Kindermädchen hatte sie düstere Geschichten über diese Tiere gehört, und sie hatte zugehört, wie sich die Dienerschaft mit gedämpften Stimmen über sie unterhalten hatte, obwohl Melisande da schon längst im Bett hätte sein sollen.
Sie hörte den Fürbitter vor ihr leise lachen.
»Es ist nichts so Dramatisches«, erwiderte er mit noch immer leiser Stimme, doch sie war nun stärker geworden. »Das sind Kojoten. Vielleicht auch wilde Hunde oder Halbblute.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Keineswegs. Ein einzelner Wolf belästigt nur selten einen Menschen, aber in Rudeln sind sie gefährlich, denn sie haben eine starke Rangordnung und einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn. Wenn man allein von Wölfen umringt wird, schwebt man in großer Gefahr. Kojoten sind zumeist Feiglinge; sie sind Aasfresser ohne Gruppenverhalten, und sie sind kleiner und schwächer als Wölfe und jagen höchstens Hasen und Maulwürfe oder fressen das, was andere Jäger übrig gelassen haben. Wenn Ihr einen Spazierstock habt – oder in Begleitung eines Erwachsenen seid, der einen hat, kann Euch nichts geschehen. Habt keine Angst, Herrin Melisande Navarne.« Der Fürbitter blieb vor einem schwarzen, tiefen Waldteich stehen, dessen Ränder von kleinen Wasserlilien gesäumt waren.
»Schnallt Eure Bettrolle ab, während ich Feuer mache«, befahl er, als die beiden Pferde vortraten, sich beugten und tranken. Melisande verspürte plötzlich ebenfalls Durst und wollte dem Beispiel der Tiere folgen. Sie tauchte die Hand in das Wasser, hob sie an die Lippen, doch Gavin schüttelte den Kopf. »Das würde ich Euch nicht raten, es sei denn, Ihr möchtet eine Hand voll Froschlaich oder, besser noch, Kaulquappen schlucken.« Er schnaubte erheitert, als das Mädchen angeekelt wegsprang, ausspuckte und sich die Hand abwischte.
»Warum heißt dieser Tümpel Elfenteich?«, fragte sie, während sie die dicke Matte auf dem moosigen Grund ausbreitete. Neugier hatte den Ekel abgelöst.
Der Fürbitter war gerade dabei, das Feuer aufzuschichten.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich glaube, so heißen alle kleinen, von einer Quelle gespeisten Teiche. Ich habe nie danach gefragt.«
Melisande setzte sich auf ihre ausgebreitete Bettrolle.
»Ihr wisst das nicht? Ihr seid der Fürbitter der Filiden, der oberste Naturpriester der ganzen Welt und Wächter aller heiligen Wälder, oder? Ich dachte, Ihr wisst alles über Elfen, Naturgeister und diese magischen Sachen. Wenn Ihr es wissen wolltet, wen würdet Ihr denn fragen?«
»Vingka«, sagte der Fürbitter zu dem kleinen Bündel aus Reisig und trockenem Gras. Das Holz entzündete sich, und Flammen leckten hoch. Gavin drehte sich zu dem Mädchen, dessen Augen weit aufgerissen waren, und betrachtete es nachdenklich. »Nun, das ist eine gute Frage«, gab er zu. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich vermute, ich hätte Llauron fragen können, wenn ich daran gedacht hätte, aber leider war keine Zeit dazu. Ich habe nicht als sein Tanist gedient und hatte daher nicht viel Zeit, alles von ihm zu lernen, was man für das Amt des Fürbitters wissen muss.«
Melisande öffnete ihren Wasserschlauch. »Habt Ihr je Elfen bei einem Elfenteich gesehen?«, fragte sie, bevor sie trank.
Der Fürbitter schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, ob es sie noch gibt, auch wenn alte Cymrer, die ich sehr respektiere, mir berichtet haben, dass sie vor langer Zeit da waren, bevor die Magie in der Welt gestorben ist.«
Melisande nahm noch einen Schluck, trocknete sich die Lippen und verschloss den Schlauch wieder. »Ich würde nicht sagen, dass die Magie tot ist, wenn man bedenkt, dass Ihr und Rhapsody mit einem einzigen Wort Holz in Brand setzen könnt.«
Erneut schüttelte Gavin den Kopf. »Einige Leute mögen das Magie nennen, aber eigentlich ist es nur elementares Wissen – eine Kraft, die aus den Tagen der Weltenschöpfung übrig geblieben ist«, sagte er ernsthaft. »Magie war verwickelter. Sie war aus elementarer Überlieferung gebildet, aber sie benötigte eine gewisse Atmosphäre, in der sie überleben konnte. Als die Schwester des Großen Weißen Baumes, die uralte Eiche, die unter dem Namen Sagia bekannt war, zusammen mit der Insel Serendair zerstört wurde, aus der unser beider Vorfahren kamen, hat dies viel Magie aus der Welt genommen, Herrin Melisande von Navarne. Jetzt ist die Welt ein dunklerer Ort als damals, und sie wird immer noch dunkler.« Er betrachtete das Kind in den Flammenschatten. »Aber angesichts dessen, was Ihr in Eurem Leben schon durchgemacht habt, muss ich Euch das wohl nicht sagen.«
Melisande atmete tief ein, stieß die Luft langsam wieder aus und dachte nach. »Mein Vater hat das nicht geglaubt«, sagte sie schließlich. »Er glaubte an Elfen und Magie, an Ehre und Ritterlichkeit und daran, dass man sich an die Ideale der glorreicheren Zeiten halten soll, denn wenn man das tut, kehren sie eines Tages zurück. Ich glaube, das war der Grund dafür, warum er sich so sehr um sein cymrisches Museum gekümmert hat. Ich habe ihm dabei geholfen, die Statuen zu polieren und die Ausstellungsstücke abzustauben, und dabei hat er mir von der großen Zeit der Luminaria erzählt, des Zeitalters der Vernunft, als die Cymrer gewaltige Städte und Kathedralen errichteten und große Fortschritte in Wissenschaft, Musik und Literatur erzielten. Er war stets der Meinung, dass wir diese Zeiten zurückholen können, wenn wir die Erinnerung an sie aufrechterhalten.«
Gavin lehnte sich gegen einen Baum, während die Pferde von dem Teich zurückwichen.
»Euer Vater war ein großer Mann, Melisande von Navarne«, sagte er leise und ohne eine Spur von Sarkasmus. »Möge er hinter dem Schleier in Frieden ruhen.«
Ein weiterer Chor aus unheimlichem Geheul durchbrach die Stille, nun war er viel näher als vorhin.
Als der Fürbitter aufstand, rutschte Melisande vom Feuer weg und erhob sich mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung.
»Steigt auf Euer Pferd«, sagte Gavin, ergriff die Zügel der Stute und hielt sie still. Melisande gehorchte, tastete nach dem Sattelknauf, und der Fürbitter schob sie rasch hoch. Dann gab er ihr seinen Stab. »Haltet ihn fest. Ihr werdet ihn nicht brauchen, aber Ihr werdet Euch besser mit ihm fühlen.«
Dann drehte er sich um und ging vom Feuer weg. Die Schatten schienen sich aufzutun und ihn zu verschlucken.
Melisande wartete auf ihrem Pferd und hielt den Stab nervös gepackt. Nun, dachte sie wehmütig, du wolltest doch Verantwortung übernehmen und Abenteuer erleben, du dumme Gans. Wie gefällt es dir? Sie schaute sich in dem Tal um, in dem Gavin das Lager aufgeschlagen hatte, und glaubte funkelnde Augen in der Dunkelheit hinter dem Rand des Feuerscheins zu sehen.
Ein weiteres Heulen brach plötzlich ab, und aus der Ferne hörte sie die gedämpften Laute knackender Zweige und ein Rascheln von Blättern, das nicht vom Wind herrührte. Der Mond brach durch die Wolken über dem Blätterdach und goss silbernes Licht über die Bäume. Sie erglänzten unheimlich, und ihre noch nackten Äste zuckten bedrohlich in der Düsternis.
Melisande unterdrückte ihren Drang, nach dem Fürbitter zu rufen, und wartete.
Der Wind wisperte durch das Tal, fuhr durch das Gras und die frisch aus der Knospe gekommenen Blätter; das Feuer zitterte und knisterte.
Endlich erschien der Fürbitter am Rande des Tales. Wie immer verursachte er keinen Laut auf seinem Weg, doch seine Miene war grimmig und sein Körper angespannter als vorhin.
»Was ist los?«, fragte Melisande. Ihre Stimme war kaum mehr als ein ersticktes Flüstern. »Wohin sind die Kojoten verschwunden?«
Der Fürbitter betrat wieder den Kreis des Feuerscheins.
»Ich habe sie vertrieben«, sagte er. »Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir aufbrechen sollten.«
»Warum? Wenn sie weg sind, können wir doch bis zum Morgen warten, oder?«
Gavin seufzte. »Das zweite Heulen, das Ihr gehört habt, kam von einer anderen Meute, die die erste vor unserer Gegenwart gewarnt hat«, sagte er ernst. »Das erste Heulen war ein Ruf, zur Nahrung zu kommen. Sie haben sich an etwas die Bäuche vollgeschlagen, das wie der Leichnam einer Frau aussieht; es ist schwer zu sagen. Sie ist unkenntlich.«
In Melisandes Ohren rauschte es plötzlich.
»Ihr habt doch gesagt, dass Kojoten Menschen normalerweise nichts tun, besonders nicht Erwachsenen.«
»Das tun sie auch nicht«, sagte der Fürbitter. »Ich glaube nicht, dass sie die Frau getötet haben. Seltsam – nicht einmal die Waldläufer, die den heiligen Gwynwald südlich von hier durchstreifen, würden dieses Land betreten. Ich frage mich, was die Frau hier gemacht hat, denn dieser Ort ist heilig seit Anbeginn der Zeit.«
»O nein«, flüsterte Melisande. »O nein.« Der Fürbitter senkte den Blick und sah sie an. »Ich … ich habe etwas vergessen, das ich Euch von Rhapsody sagen sollte.«
»Und worum handelt es sich?«
Melisande kämpfte gegen die Tränen. »Ich sollte Euch sagen, dass die Waldläufer die Wälder nach einer vermissten Firbolg-Hebamme namens Krinsel absuchen sollen, und falls sie auf sie treffen, soll sie mit Respekt behandelt und sicher zu einer Karawane nach Ylorc gebracht werden. Aber ich … ich habe das in all der Aufregung vergessen.« Sie zitterte so heftig, dass Gavin rasch die Arme ausstreckte und sie von ihrem Pferd hob, das inzwischen ungeduldig an Ort und Stelle tänzelte.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er besänftigend, oder zumindest sollte es der Versuch einer Besänftigung sein. »Jetzt habt Ihr es mir gesagt. Wir werden auf dem Weg zum Drachennest nach ihr Ausschau halten.«
»Aber was ist, wenn diejenigen Waldläufer, die als Erste aufgebrochen sind, ihr begegnet sind und sie umgebracht haben, weil sie nicht wussten, dass sie ihr nichts antun sollten?«, beharrte Melisande.
»Waldläufer sind dazu ausgebildet, Wanderer zu begleiten und zu beschützen und nicht, sie umzubringen, es sei denn, sie werden bedroht«, erklärte der Fürbitter. »Wenn sie auf eine Bolg-Frau gestoßen wären, die sich in den Wäldern verirrt hat, dann hätten sie mir darüber Bericht erstattet und sie zurück in den Kreis gebracht. Auf keinen Fall hätten sie einen Leichnam für die Aasfresser zurückgelassen; das widerspricht jeder filidischen Gewohnheit. Sie wäre verbrannt worden. Ich weiß nicht, was dieser Frau zugestoßen ist, falls es sich bei ihr tatsächlich um Eure vermisste Bolg-Hebamme handelt, aber ich weiß, dass ihr Schicksal kein anderes gewesen wäre, wenn Ihr früher von ihr berichtet hättet. Sucht nicht nach Gründen, um Euch Sorgen zu machen, Herrin Melisande von Navarne. Ihr werdet noch mehr als genug davon bekommen, wenn wir uns der Drachenhöhle nähern. Kommt jetzt. Da vorn ist ein Dickicht, in dem wir die Nacht in Sicherheit und annähernder Ruhe, wenn auch nicht in Frieden verbringen können.«
Das Mädchen nickte und erlaubte dem Waldläufer, es von dem Elfenteich wegzuführen, dessen dunkles Wasser die dahineilenden Wolken vor dem schimmernden Mond widerspiegelten.
Als Rath das Tal erreichte, brannte seine Kehle unter dem beißenden Geschmack ätzenden Blutes.
Vorsichtig glitt er durch die Schatten und folgte dem Summen in seiner Kehle und seinen Nebenhöhlen sowie dem Gefühl, als würden Nadeln durch seine Adern treiben. Rath bezwang seinen angeborenen Hass, unter dem er die Zähne zusammenbiss und sein Herz wie wild raste, und konzentrierte sich stattdessen auf das dämonische Flüstern des Namens, das im Wind knapp außerhalb seiner Sichtweite schwebte. Jeder Schritt, bei dem sein Herz zehn Schläge tat, brachte ihn seinem Ziel näher. Rath bemühte sich, ruhig zu bleiben. Nach einer so langen Reise und so vielen Jahrhunderten der Verfolgung wäre es eine Katastrophe, die Bestie in diesem Moment zu verlieren, wenn sie sich schon fast in seiner Reichweite befand.
Seine nachtsichtigen Augen erkannten etwas am Rande seines Blickfeldes. Etwas hing am Ende des dünnen Klangfadens, das böse im Mondlicht glitzerte und zwischen den Zweigen wie ein Spinnengewebe hing, flüchtig und tödlich. Selbst die Gefahr, zu der dieser Faden führte, hielt Rath nicht davon ab, einen Atemzug lang seine wunderbare Schönheit zu betrachten. Es war der sichtbar gewordene Kirai, die unzerreißbare Verbindung zwischen seinem ererbten Windwissen und dem schwarzen Feuer des F’dor.
Nur noch wenige Schritte, dachte er. Langsam.
Tausendjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, niemals den Wirt des Dämons, den er suchte, vorauszuahnen. Er hatte F’dor aufgespürt, die sich an ganz unterschiedliche Männer, Frauen und Kinder geklammert hatten. Rath hatte keine Angst vor der Gestalt, die das Ungeheuer angenommen hatte. Er hatte unbeteiligt zugesehen, wie die Köpfe der Kleinkinder, in denen sich die Bestien versteckt hatten, am Ende des Rituals explodierten, denn Rath ließ sich nicht beeinflussen. Doch er war neugierig. Er schloss die Augen und schmeckte den Wind auf seiner Zunge.
Hrarfa.
Der Name erklang klar wie eine Glocke in seinen Nebenhöhlen. Sein Herz und das des Dämonenwirtes schlugen in vollkommenem Gleichklang.
Rath war sich sicher, dass er seine Beute gefunden hatte. Er schlug die Augen wieder auf und näherte sich still dem kleinen Tal.
Im Mondlicht stand eine Frau mit dem Rücken zu ihm; ihr langes Haar glänzte in Wellen aus dunklem Silber. Sie reckte sich lässig im Mondschein, fuhr sich mit den Händen über die Schultern und durch die Haare. Es war ein langsamer, sinnlicher Tanz, als wolle sie das himmlische Licht in sich aufnehmen. Rath sog die Luft ein. Den wenigen Geschichten zufolge, die über die Wirte dieses Dämons bekannt waren, ließ sich Hrarfa selten in weiblicher Gestalt blicken, die eigentlich dem Wesen des körperlosen Dämons am nächsten kam.
Er sah es als glückliches Zeichen an, dass das Wesen angemessen sterben wollte.
Portia lächelte. Im bleichen Licht des zunehmenden Mondes hatte sie nichts gehört und nichts gesehen. Nichts als Schatten bewegten sich in dem dunklen Tal; dennoch spürte sie eine Gegenwart. Der Wind hatte aufgefrischt und umschmeichelte ihre menschliche Gestalt wie ein Geliebter, wisperte mit flüchtigen Küssen über ihre Haut und spielte in ihren Haaren.
Das frei werdende Feuer in ihrem giftigen Geist knisterte vor Freude sowohl über das erotische Gefühl, das der Wind auf ihrer Haut verursachte, als auch darüber, dass sie ihre Falle erfolgreich aufgestellt hatte. Im Gegensatz zu vielen ihrer Brüder, welche die menschliche Gestalt als eine widerliche Notwendigkeit für das Überleben in der Oberwelt ansahen, hatte sie die Gelüste, die ihre fleischliche Hülle ihr verschafften, als ein Wunder kennen gelernt, das sie sowohl genoss als auch begehrte. In der Beherrschung eines Wirtes, in der Verfolgung und Ergreifung eines neuen Körpers lag eine große Lust, und es war ein wunderbares Vergnügen, den ursprünglichen Eigentümer besonders schmerzhaft zu verschlingen, was sie wie nichts sonst erregte und ihr das Gefühl gab, lebendig zu sein. Außerdem verschafften ihr die Wirtskörper die beruhigende Empfindung, fest und wirklich zu sein, was der natürlichen Unsicherheit des Seins, die der Fluch eines jeden F’dor war, so sehr widersprach.
Sie war schon immer risikofreudig und wagemutiger als ihre Mitflüchtlinge aus der Tiefen Kammer gewesen. Viele der Unausgesprochenen, wie die Drachen ihre Art genannt hatten, hatten die Geduld entdeckt, als sie auf der Flucht aus ihrem ewigen Gefängnis in die Oberwelt gekommen waren. Sie war ein Wesenszug, der für die Kinder des dunklen Feuers neu war. So war es ihnen gelungen, während der Jahrtausende langsam ganze Reiche zu errichten, indem sie die Wirte benutzt hatten, wie die Menschen Schachfiguren benutzten. Dabei hatten sie gehofft, dass die Macht, die sie in der materiellen Welt ansammelten, es ihnen irgendwann ermöglichen würde, die Rippe des Erdenkindes oder einen anderen Weg zu finden, wie sie ihre Gefährten befreien konnten.
Aber sie war anders. Sie hatte berauschende Erregung in der Lockung, der Veränderung, der Täuschung gefunden und immer wieder arglose Menschen in ihre Fänge gelockt und ihre Eigenarten und Lebensweisen bis hin zu dem Muster ihrer Atemzüge untersucht, sie dann in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit gefangen, ihre Seelen verwüstet und ihre Körper übernommen.
Einmal hatte sie die Gestalt eines jungen Liringlas-Sternensängers angenommen. Das war vor mehreren Jahrtausenden und eine ganze Welt weit weg gewesen, und so hatte sie ein wenig von der Wissenschaft der Namen gelernt. Sie hatte sein Wissen gut eingesetzt, bevor sie seinen nutzlos gewordenen Körper gegen einen interessanteren ausgetauscht hatte. Daher wusste sie, wie sie ihre Schwingungen und das Bild, das ihre menschliche Gestalt vermittelte, nach ihrem Belieben verändern konnte.
Außerdem hatte sie viel über die verwickelte männliche Lust erfahren, was sie auf beiden Seiten des Bettes zu ihrem Vorteil hatte einsetzen können.
Dies hatte schließlich zur Eroberung einer jungen Frau in Manosse geführt, die zur Ersten Generation der Cymrer gehörte und deren Körper nicht den Verheerungen des Alters oder der mit dem Alter einhergehenden Krankheiten unterworfen war. Sie war scheinbar unsterblich, wie der Rest der Flüchtlinge von der Insel Serendair. Sie selbst hatte den Namen des Mädchens gemocht – Portia –, denn er klang ähnlich wie ihr eigener, und die zusätzliche Macht, die in dem geschmeidigen Körper und der Schönheit der jungen Frau lag, ermöglichte es ihr, dumme junge Männer allein durch die Kraft ihrer wollüstigen Sexualität zu betören. Außerdem steckte eine gewisse Ironie darin, eine Cymrerin zu verschlingen. Wie die F’dor, so waren auch die Cymrer eine Rasse von Verbannten, die endlos lange über die Vertreibung aus ihrer Heimat brüten konnten.
Es passte vollkommen.
Daher war es nicht mehr nötig gewesen, den Wirtskörper auszutauschen.
Doch manchmal tauchte einer auf, der sich als unwiderstehlich herausstellte.
Der cymrische Herrscher war eine solche Versuchung. Portia leckte sich die Lippen, die unter der Hitze der Vorfreude und dem Kuss des Windes plötzlich trocken geworden waren. Obwohl sie in einer weiblichen Gestalt steckte, verspürte sie nicht die körperlichen Bedürfnisse einer Frau und daher auch nicht das brennende Verlangen und die Anziehung des Fleisches, so wie eine menschliche Frau sie fühlen würde. Ihr gelüstete es nach der Macht, die sie im Liebesakt mit mächtigen Männern erhielt. Die Hingabe ihrer Partner im Rausch der Leidenschaft hatte die Essenz ihres Seins genährt, und die Verwundbarkeit der Männer sowie ihre Offenheit für Portias Herrschaft verursachten ihr orgiastische Gefühle. Wenn ein Mann in ihren Körper stieß, dann lag seine Seele offen und nackt da.
Nicht nur dann hatte sie Zugang zu den Seelen und konnte deren Innerstes schlürfen und all das, was an uranfänglicher, elementarer Macht darin steckte, in sich aufnehmen, sondern sie war auch in der Lage, diese verwundbaren Seelen an eine krumme Ranke des Blutdorns zu binden, des entarteten Schösslings von Ashra, dem Baum des elementaren Feuers, der im Innern der Tiefen Kammer wuchs.
Das war jedem Mitglied des Älteren Pantheons möglich.
Langsam fuhr sie sich mit den Händen durch die Haare, hob die Brüste in den Wind, der die Warzen durch den dünnen Stoff ihres Hemdes liebkoste, und seufzte glücklich. Sie hörte ihren Namen im Wind; sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der cymrische Herrscher sie gefunden hatte. Und nun war ihre Beute eingetroffen. Sie fühlte seine Gegenwart, auch wenn sie ihn noch nicht sah.
Der Baum des Blutes hatte schon einmal die Seele Gwydions von Manosse gekostet. Ein anderer ihrer Art aus dem Jüngeren Pantheon hatte vor einigen Jahrzehnten ein Stück davon herausreißen können und damit Experimente angestellt; er hatte einen Körper aus Eis und dem Blut geschändeter Kinder geformt und ihn zur Zeugung von Nachkommen benutzt, ohne dabei seine eigene Seele einsetzen zu müssen. Dies hatten bereits andere F’dor versucht, aber bisher war es niemandem gelungen. Der Blutdorn hatte im Geschmack von Gwydions Innerstem geschwelgt und wäre beinahe in der Lage gewesen, damit das Schlafende Kind zu finden und zu unterjochen.
Sobald sie diesen Körper als neuen Wirt genommen hatte, würde der Unheilige Baum wieder genährt werden.
Der Wind frischte ein wenig auf, fuhr ihr über Nacken und Arme und spielte mit ihren langen, dunklen Locken.
Portias Lächeln wurde im Licht des Mondes heller. Angesichts ihrer eigenen Unersättlichkeit konnte sie ein Kichern nicht unterdrücken. Das war einer der Züge, die der armselige Tristan Steward an ihr so geliebt hatte. Die meisten F’dor, deren Macht mit der ihren vergleichbar war, hätten Gwydion von Manosse als den größtmöglichen Gewinn angesehen, doch sie wollte mehr – wie immer.
Sie wollte seine Frau haben.
Es war etwas Verhexendes an der cymrischen Herrscherin, das Portia sowohl verwirrte als auch faszinierte. Den Grund dafür hatte sie sofort erkannt. Die erhabene Schönheit, welche das einfache Volk, das Rhapsody die Treue geschworen hatte, so begeisterte, war nichts anderes als ein innerer Kern aus elementarem Feuer, der in ihr brannte und den sie aus einer uralten Quelle aufgenommen haben musste. Im Gegensatz zum dunklen Feuer der Tiefen Kammer, aus dem die F’dor ihre Macht zogen, war das Element im Körper der cymrischen Herrin rein und unberührt von allem Bösen.
Und daher war es eine Herausforderung.
Bei diesem Gedanken erbebte das Fleisch zwischen Portias Schenkeln. Gewisse Akte der Schändung waren unübertrefflich in ihrer Großartigkeit, wie das Verderben eines Kindes oder die Vergewaltigung einer Jungfrau. Dieses Gefühl der Zerstörung von Unschuld entzog sich jeder Beschreibung und übertraf alles andere. Die Gelegenheit, eine Quelle reinen Feuers zu nehmen und sie zu verzerren, zu beschädigen und zu vergiften, bis auch sie derselben Leere diente wie die F’dor, war zu gut, um sie ungenutzt zu lassen. Sie versuchte tief einzuatmen, doch es gelang ihr nicht.
Ich werde dich bekommen, Herrin, dachte sie erregt. Ich werde dich im Körper deines Gemahls haben. Ich werde mich von deiner Leidenschaft und Hingabe nähren. Und wenn du offen für ihn bist, verwundbar in deiner krank machenden Liebe, dann werde ich dir die Seele nehmen und deinen Körper zu dem meinen machen. Aber vorher werde ich dir mit seiner Stimme sagen, was geschieht, sodass ich mich an deinem Entsetzen erfreuen kann – wenigstens für einen Augenblick.
Und während ich deine Seele esse, werde ich dir dein Feuer nehmen. Doch zuerst nehme ich dir deinen Gemahl.
Ihre Erregung erreichte den Höhepunkt. Sie durfte ihre nächste Eroberung nicht länger warten lassen.
Die Frau im dunklen Tal drehte sich langsam um; ihre Augen glitzerten im Mondlicht.
»Ich habe gewusst, dass du mir nachkommen wirst«, sagte sie sanft. »Ich wusste, dass du mich nicht einfach gehen lassen kannst.«
Der Wind wurde noch stärker und liebkoste ihre Haare. Zunächst war es still im Tal. Dann ertönte eine Stimme. Es war nicht der warme Bariton, den sie erwartet hatte, sondern eine matte, tonlose Stimme, die in ihren Ohren vibrierte, aber im Wind nicht hörbar war.
Alle von deiner Art sollten dasselbe Wissen haben, Hrarfa. So ist es seit dem Beginn der Zeit gewesen, und so wird es bleiben, bis jeder von euch ausgelöscht und wie eine Kerzenflamme unter Asche begraben ist.
Portia hörte diese Worte tief in ihrem Inneren widerhallen.
Eine alte, alles verzehrende Angst stieg in ihr auf und breitete sich aus wie Flammen auf einem Baum. Sie drehte sich um und wollte weglaufen, doch vor ihr bewegte sich die Dunkelheit so nah, als wäre es ihr eigener Schatten.
Eine Gestalt in diesem Schatten streckte ihr die Hand mit aufgerichteter Innenfläche entgegen.
Zhvet, sagte sie. Halt.
Plötzlich erstarb der Wind um Portia. Alle Laute, alle Luft schienen aus dem Tal zu weichen und ließen sie atemlos und keuchend zurück. Panik stieg in ihr auf und überrannte sie. Alle ihrer Art kannten diesen Augenblick und fürchteten ihn beinahe seit Anbeginn der Zeit. Wie viele der Flüchtlinge aus der Tiefen Kammer hatte auch sie nicht mehr an diese Möglichkeit geglaubt, besonders nicht nach den Ausschreitungen und Kämpfen gegen die Dhrakier, welche die Jäger fast vom Antlitz der Erde getilgt hätten.
Doch nun war die Zeit gekommen, und sie war von jemandem gefangen worden, der ihren Namen kannte.
Rath atmete erneut tief ein und erlaubte seinem Hautgewebe, sich zu entspannen. Er zog an dem erstbesten Faden des Windnetzes, das er aus der unsichtbaren Seide des Kirai gewoben hatte. Der Körper des Dämons zuckte zusammen, erzitterte und erstarrte, wie er mit Befriedigung feststellte.
Langsam spreizte er die Finger und begann mit seinem Gesang.
Bien, sang er mit der unhörbaren, summenden Stimme seiner ersten Kehle. Es war der Name des Nordwindes, des stärksten der vier und desjenigen, der am einfachsten zu finden war. Der Wind reagierte sofort, wie er es immer für Rath tat, und wickelte sich eng um dessen Zeigefinger; dann verankerte er sich in der ersten Kammer von Raths Herzen.
»Nein«, flüsterte die Frau, die noch immer stocksteif dastand. Rath sah, wie ihre Blicke hin und her schossen. »Nein.«
Er hatte nicht erwartet, dass ein F’dor aus dem Älteren Pantheon ihn anbetteln würde. Seiner Erfahrung nach waren die älteren und mächtigeren Dämonen gelassen oder wütend, aber für gewöhnlich schweigsam oder angesichts ihrer bevorstehenden Vernichtung eher drohend als unterwürfig.
Er erinnerte sich an ihre Neigung zur Täuschung, machte seinen Geist frei und kehrte in einen Zustand der inneren Ruhe zurück.
Jahne, flüsterte er durch die Öffnung in seiner zweiten Kehle. Das war der Ruf des Südwindes, des beständigsten und ausdauerndsten der Winde. Rath spürte seine Antwort sowohl an seinem Finger als auch in seiner Brust, wo sich der Wind in der zweiten Kammer seines Herzens verknotete.
Die Frau kreischte auf. Es war nicht das harsche, schrille Schreien eines wütenden F’dor, sondern das herzzerreißende Jammern menschlicher Verzweiflung, die allerdings auf Rath keinen Eindruck machte.
»Bitte«, flehte sie. Ihre Augen wurden vor Angst und vor dem Druck, der sich in ihrem Schädel aufbaute, immer größer. »Hab … Mitleid. Ich weiß vieles, was … wertvoll ist …«
Rath hörte nicht einmal ihre Worte. Sein ganzes Sein war nur auf das Ziel gerichtet, und jeder Laut und alle Wut verschwanden im schattenhaften Zwielicht am Rande seines Bewusstseins. Übrig blieben nur die reinen, klingenden Töne der Winde, die auf seinen Ruf antworteten. Er war zufrieden mit der Reinheit der ersten beiden und rief den dritten Wind herbei, den Wind der Gerechtigkeit, der aus Westen blies.
Lenk.
»Ich … ich weiß, wo … andere sind«, flüsterte die Frau. Unter der Anstrengung des Sprechens verzerrten sich die Adern an ihrem Hals auf groteske Weise. »Ich … werde es … dir sagen …«
Eingesponnen in die Finsternis seines Rituals, rief Rath den letzten Wind, den Ostwind, und wartete geduldig darauf, dass die spielerische Brise durch das Tal blies. Schließlich kam sie, wickelte sich um seinen Ringfinger und setzte sich in der letzten Kammer seines Herzens fest, das nun unregelmäßig unter den wechselhaften Winden schlug.
Thas. Der Wind des Morgens, der Wind des Todes.
Die Luftströmungen hingen wie Spinnwebfäden wartend an seinen Fingerspitzen und waren fest verankert in seinen Herzklappen. Wenn er das zweite Netz auswarf und an das Ende des Rituals kam, würde er verwundbar sein. Selbst wenn er es wollte, konnte er jedoch nicht aufhören, bis der Wirtskörper und der Geist des F’dor tot waren, denn sonst würde sein Herz in der Brust platzen.
Rath öffnete die Augen und sah der entsetzten Bestie in die Augen. Die Frau, die Hrarfas letzter Wirt gewesen war, war sehr schön gewesen; sie hatte große, dunkle Augen, die das Licht glitzernd widerspiegelten. Diese Augen waren nun mit Tränen gefüllt, und er hätte fast glauben können, dass sie von wirklichen Gefühlen herrührten.
Fast.
Rath ballte die Faust.
Die Frau zuckte erneut zusammen, stand aber immer noch starr an derselben Stelle.
Mit einer fließenden Bewegung warf er das an seiner Hand und in seinem Herzen verankerte Netz aus den miteinander verwobenen Winden über den Dämon und zog mit aller Kraft.
Der Dämon kreischte wieder auf, diesmal mit einer uralten Stimme, die an Raths Ohren kratzte wie Nägel auf Fleisch. Das liebliche Gesicht verzerrte sich zu etwas Dunklem und Scheußlichem; aus den schwarzen Augen blitzte Hass, der schon beinahe greifbar war. Rauch stieg um die Gestalt herum auf, während die Winde sie mit einem undurchdringlichen Käfig umgaben, ihr immer näher kamen und sich mit der Macht eines Wirbelsturms gegen sie drückten.
Rath atmete tief ein. Das Bannritual hatte seinen Höhepunkt erreicht.
Es war an der Zeit, das Netz zu kappen.
Er öffnete den Mund ein wenig weiter, sog die Luft durch alle vier Kehlenöffnungen ein und stieß durch sie je einen einzelnen, gleichmäßigen Ton aus. Mit einem Geschick, das von ungezählten Jagden herrührte, erzeugte Rath mit der Stimmritze tief in seiner Kehle ein klickendes Geräusch.
Ein harscher fünfter Ton durchschnitt die Gleichmäßigkeit der vier anderen.
Die Winde kreischten schrill um die Bestie; sie fuhren durch das Tal und brachten die Bäume zum Erzittern.
Rath spürte, wie die Windfäden an seinen Fingern schlaff wurden. Rasch schnalzte er mit der Zunge, schnitt mit dem Geräusch die Enden des Windkäfigs ab und erlaubte dem ersten Netz, sich aufzulösen. Dann spannte er den Daumen und zog das Windnetz fest um den tobenden Geist.
Das Herz klopfte ihm gegen den Brustkorb. Nun, da die Bestie gefesselt war und nicht mehr entkommen konnte, begann er mit dem letzten Gesang, der sich zu einem mächtigen Crescendo entwickeln und zusammen mit den Schwingungen der untereinander verbundenen Herzen dazu führen würde, dass der Blutfluss im Wirtskörper seine Richtung änderte und in den Kopf floss, bis dieser platzte.
Die Luft im Tal wurde in den Mahlstrom des Windgewebes gesaugt, das um das Ungeheuer aus der Vorzeit wirbelte.
Wut verzerrte das Gesicht der Frau zu einer Maske aus noch größerem Hass. Sie zog eine Grimasse des Schmerzes und versuchte Flüche auszustoßen, doch ihre Pupillen hatten sich bereits ausgedehnt und die Größe der Iris angenommen, und die Stirn zeigte tiefe Falten der Qual.
Rath hielt ihrem durchdringenden Blick stand. Er hörte im anschwellenden Lärm des kurz bevorstehenden Todes die uralten Rufe seiner lebenden und toten Brüder, die sich ungehindert von Raum und Zeit zu ihm gesellten und mit ihren Stimmen den Gesang verstärkten.
Auch wenn der Höhepunkt des Bannrituals den Jäger verwundbar machte, wenn sein Herz im Gleichklang mit dem reinen Bösen schlug, lag doch Trost in dem Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich aus der gemeinsamen Sache ergab, der sich seine Rasse seit Tausenden von Jahren verschworen hatte.
Er stand so sehr im Bann, dass er nicht hörte, wie die Zweige unter dem Schritt von jemandem knackten, der soeben das Tal betreten hatte.
Der Mond schimmerte silbern auf den offenen Feldern und erhellte den Pfad.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Owen?«, rief Ashe dem alten Kammerherrn zu, als sie die Pferde am Weg zurückgelassen hatten und sich einen Weg durch das Gras am Rande des Tals bahnten.
»Ja, Herr«, antwortete Gerald Owen schnaubend. »Ich meine nur, dass dieses Flittchen sich vermutlich in der Festung versteckt hat und jetzt für die Soldaten die Beine breit …«
»Hör auf damit.« Der cymrische Herrscher blieb gerade lange genug stehen, um eine Buche zu untersuchen, an der ein Zweig abgebrochen war; der Saft rann noch aus der frischen Bruchstelle. »Sie hat nichts getan, Owen; sie hat mich nur an Dinge erinnert, die über meinen Verstand gehen. Es war falsch, sie in einem solchen Zustand fortzuschicken. Bald wird noch genug Blut an meinen Händen kleben. Ich will diesen Krieg nicht mit dem Tod einer unschuldigen Dienerin beginnen.«
»Ihr Blut klebt … an Tristan Stewards … Händen«, erwiderte Owen, der sich keuchend bemühte, zu Ashe aufzuschließen. »Er hätte sie … mitnehmen sollen, als wir zur … Hohen Warte gegangen sind. Sie wurde nicht mehr … gebraucht.«
»Mit etwas Glück wird ihr Blut in den Adern bleiben, wenn wir sie schnell genug finden«, sagte Ashe. »Beeil dich, Owen. Ich muss bald zurückkehren.«
»Ich weiß, Herr, ich weiß.« Owen verdoppelte seine Geschwindigkeit und ließ den cymrischen Herrscher nicht aus den Augen, während dieser durch das Tal schritt. Sein Haar glänzte silbrig-rot und metallisch im Licht des blutigen Mondes.
Ashe blieb unvermittelt stehen; der Drache in seinem Blut war entflammt.
In nicht allzu weiter Ferne hörten sie Kampfeslärm. Ein zischendes Jammern kratzte und schlug wie Nägel über das Trommelfell. Die beiden Männer fassten sich mit der Hand an die Stirn, als der Druck im Kopf stieg und zu einem plötzlichen, scharfen Schmerz wurde. Ein Wirbelsturm aus alter und tödlicher Macht sog alle Energie aus der Luft in ihrer Nähe.
Der Herr der Cymrer zog sein Schwert und rannte durch das Tal. Der Wald erstrahlte in pulsierendem, blauem Licht.
Rath bemerkte den hinter ihm aufragenden Schatten erst, als dieser das Mondlicht verdunkelte, das eben noch seine Strahlen vor ihm auf den Boden des Tals geworfen hatte. Er war sich des Gesangs kaum mehr bewusst. Aus allen Enden der Erde wisperten die Stimmen der Wächter in uralten Melodien. Es war das raue Brummen des gemeinsamen Geistes, der seine Macht dem alten Ritual hinzufügte. Einen Augenblick lang schien sich die Welt nicht mehr zu drehen. So war es immer, wenn einer der Bewohner der Tiefen Kammer kurz vor seiner Auslöschung stand und nichts mehr hinterließ, was die Welt beflecken konnte.
Die Bestie vor ihm befand sich in ihrem Todeskampf. Er sah, wie die verzehrende Dunkelheit ihres Geistes vergeblich darum kämpfte, den Körper der Frau zu verlassen, den sie seit vielen Jahren bewohnt hatte. Obwohl sie nichts mehr gegen ihren drohenden Untergang tun konnte, war ihr Hass immer noch so brennend wie Säure, und sie zischte und gurgelte vor Wut, während sie sich am Boden wand und ihr das Blut aus den Augen floss, die sie mit boshaften Blick auf ihn gerichtet hatte.
Beißender Rauch, der den Gestank der Tiefen Kammer verströmte, drang aus der Brust des Dämons. Die Augen der Frau quollen hervor, als sich das Blut in ihrem Hirn sammelte, und ihr Rücken krümmte sich, als die Adern platzten.
Plötzlich wurde die Luft so trocken, dass sie beinahe knisterte, und die Hitze des bösartigen Wesens durchfuhr sie., als dieses von seinen irdischen Banden gelöst wurde. Der Rauch, der aus Portias zerrissener Brust aufgestiegen war, wirbelte nun wütend umher und zersetzte sich, als die Bestie zu ihrer verwundbaren, nicht-körperlichen Gestalt zurückkehrte und im Griff des dhrakischen Windnetzes keuchte und bebte.
Der Körper sank schlaff und leblos zu Boden.
Rath spürte, wie die Frau fiel; er spürte das Zerren und Zucken in seiner Hand und seinem Herzen, als die unsichtbaren Fäden, die ihr Herz mit dem seinen verbanden, mit jedem Atemzug schwächer wurden; es war, als wehre sich ein Fisch gegen eine Angelleine. Er wusste, dass die Bestie noch einige Augenblicke weiterkämpfen würde. Da Hrarfa aus dem Älteren Pantheon stammte, war sie viel stärker als die Dämonen, die er in letzter Zeit vernichtet hatte.
Unter jeder Zuckung und jedem Versuch, dem Tod zu entkommen, krampfte sich Raths Herz zusammen. Die unzerbrechlichen Bande des Windes, die sie beide vereinten, verliefen durch seine Adern, und jedes Zerren an ihnen war wie ein Messerstich in seine Brust. Doch Rath hatte schon Schlimmeres durchgemacht, und seltsamerweise stimmte der Schmerz ihn froh und tat seinem Herzen gut. Jedes neue Zusammenziehen war schwächer als das vorangegangene; das war ein sicheres Zeichen dafür, dass der Geist bald dem Körper in den Tod und die Auslöschung folgen würde.
Er war so versunken in den Bann des Augenblicks, in die Wichtigkeit dieses Ereignisses und die Freude über das Ende einer jahrtausendelangen Suche, dass er den Fremden im Tal nicht bemerkte.
Bis ihn der Schlag im Rücken mit der Wucht einer Lanze im vollen Flug traf und ihm die Hälfte seiner Rippen brach. Er wurde durch das Tal geschleudert und schlug mit dem Kopf gegen eine Buche.
Der Schock bewirkte, dass er bei Bewusstsein blieb – zumindest vorerst.
Faron stand einen Moment lang still da und beobachtete, wie der Mann in der Robe, den er soeben fortgestoßen hatte, gleich einem Kleiderhaufen zu Boden fiel.
Es war der Geruch, der ihn an diesen Ort geführt hatte – ein trockenes Brennen in der Luft, das ihn an seinen Vater erinnert hatte, der im Meer ertrunken war. Er war dem Geruch in dieses Tal gefolgt und hatte hier etwas gesehen, das er nicht verstand. Er hatte lediglich gespürt, dass ihn das, was hier vor sich ging, an den Verlust seines Vaters erinnerte.
Einen Verlust, den er noch immer nicht begreifen und auf keinen Fall akzeptieren konnte.
Der Mann war sehr schmächtig gewesen, und Faron hatte ihn mit kaum mehr als einer beiläufigen Bewegung fortgeschleudert. Nun sah er sich in dem Tal um, erkannte aber nichts.
Hilf mir! Bitte.
Die Stimmte kratzte in seinen Ohren. Der Steintitan bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen und erkannte den Klang wieder. Es war dasselbe verzweifelte Schmeicheln, das er manchmal in der Nähe des Barons von Argaut spüren, aber nicht hören konnte – jenes Mannes, den die Welt einst als Michael, den Wind des Todes, gekannt hatte.
Doch diese Stimme hier war eindeutig weiblich.
Farons Verstand war zu primitiv, zu sehr in Mitleidenschaft gezogen durch Geburt, Wiedergeburt und die gegenwärtigen Umstände, um begreifen zu können, was hier geschah. Etwas tief in seinem Innern riet ihm wegzulaufen; es war ein fast verschütteter Sinn für Selbstschutz, den ihm seine schon lange tote Mutter vererbt hatte, doch zugleich war an der Stimme etwas Vertrautes, etwas Verzauberndes, das bis in sein Innerstes drang.
Bitte … gewähre mir Unterschlupf. Ich sterbe.
Faron drehte sich um und wollte das Tal verlassen.
Bitte. Die Stimme verblasste, und ihr Tonfall wurde noch verzweifelter. Du und ich, wir sind miteinander verwandt. In dir ist dunkles Feuer. Wir sind verwandt. Ich werde dich nähren und dich lehren. Bitte lass mich nicht sterben. Gib mir Schutz, nimm mich auf.
Faron blieb stehen. Die Worte waren zwar die einer rasend Verzweifelten, aber es lag eine Wahrheit in ihnen, die er nicht verleugnen konnte. Die Vorstellung, mit irgendjemandem verwandt zu sein, hatte er schon seit langem aufgegeben, doch jetzt zögerte er bei dem Gedanken, dass er vielleicht doch zu jemandem gehörte, Teil einer Familie und nicht allein auf der Welt war. Er war wie ein Kind, das sich danach sehnt, das Feuer zu berühren, obwohl es weiß, dass es sich daran verbrennen wird.
Bitte.
Er hatte seinen Vater gegen den Dämon kämpfen sehen, den er vor langer Zeit aufgenommen hatte. Dieser Dämon war genauso Farons Erzeuger, wie es sein Vater war, auch wenn der eine den Körper und der andere den Geist geschaffen hatte.
Es war eine scheußliche Übereinkunft.
Und dennoch hatte sie den Mann, den er als Einzigen unter allen Menschen der Welt liebte, die ganze Zeit über am Leben erhalten.
Und ihm eine unvorstellbare Macht verliehen.
Gemeinsam wären wir unbesiegbar, flüsterte die Stimme, die in ihren letzten Momenten leicht wie die Luft war. Ich kenne so viele Winkel der Welt und so viele Geheimnisse. Bitte, bitte, vertrau mir. Beherberge mich.
Wenn Faron ein Mann aus Fleisch und Blut gewesen wäre, hätte er ihre Stimme vielleicht als verführerisch empfunden. Obwohl der Dämon gerade im Äther verschwand, war die Stimme rau und auf eine Weise verlockend, welche das tiefste Drängen in ihm ansprach: das Verlangen nach Gemeinschaft und Macht.
Nach einer Identität, die darüber hinausging, Michaels Kind und Werkzeug und Talquists Seher und Spielzeug zu sein.
Also nickte der Titan zustimmend und beantwortete die Bitte mit einer innerlichen Hingabe. Dabei wusste er genau, dass die Kreatur, die er in die Hülle seines Körpers einlassen wollte, ihn ohne zu zögern vollständig beherrschen würde.
Ja, stimmte er zu. Komm in mich.
Plötzlich wurde es in dem Tal wärmer. Im selben Augenblick gewann die Luft an Hitze und Macht.
Zum zweiten Mal in der Geschichte der Welt ergab sich ein Wesen freiwillig einem Unausgesprochenen.
Die Luft knisterte beinahe, als sich die uranfängliche Erde mit dem dunklen Feuer des Dämons und dem Äther verband, der im Blut von Farons serenischer Mutter gewesen war. All dies verschmolz nun in der Statue aus Lebendigem Stein.
Der Dämon kreischte freudig hinter Farons Ohren auf, als er seinesgleichen erkannte – die Saat des befleckten Feuers, die er von seinem Vater erhalten hatte. Mit deinen und meinen Kräften sind wir wahrhaft gottgleich, flüsterte das Wesen und erfreute sich dabei an der Festigkeit des steinernen Fleisches sowie an dem Funken der ätherischen Magie. Wir allein haben die Macht, das Schlafende Kind zu finden und an uns zu bringen – und dann wird die Tiefe Kammer geöffnet werden.
Die Stimme wurde zu einem beinahe mütterlichen Gurren.
Und die ganze Welt wird unter deinen Füßen brennen – mein Kind.
Die Veränderlichkeit des Dämons und seine angeborene Macht, Gestalt und Aussehen zu verändern, kreisten durch den titanischen Körper und verfeinerten seine Erscheinung. Die milchigen Augen, die früher in dem grob behauenen Gesicht fehl am Platz gewirkt hatten, wurden schärfer, lebendiger und klarer, und es wuchsen ihnen Lider, die es ihm erlaubten, zu blinzeln und den Staub abzuwehren. Die Hände wurden länger, die rauen Kanten glatter, genau wie die Stelle in der Handfläche, aus der das Steinschwert abgerissen worden war und die nun wie schwielige Haut aussah. In jedem Finger bildeten sich Knöchel, und jeder Knöchel wurde von einer Reihe winziger Furchen in der glatten irdenen Haut eingerahmt. Die Wirbel aus Lehm, die einmal das Haar angedeutet hatten, wurden länger und schwerer, und bald war jede einzelne Strähne deutlich zu erkennen. Die Muskeln an Schultern, Oberkörper, Genitalien und Beinen traten hervor und wurden länger, bis sie wie menschliches Gewebe erschienen und pulsierten, als wären sie lebendig.
Faron hob die Hand hoch zum Mond, badete im Licht, schwelgte in dem Gefühl des Windes, der über die feinen irdenen Haare auf der glatten Haut seiner Steinarme blies.
Ein abgerissenes Keuchen auf der anderen Seite des kleinen Tals erregte seine Aufmerksamkeit.
Der Riese drehte sich zu der Stelle um, an welcher der Mann, den er fortgestoßen hatte, aufgeschlagen war. Er lag noch auf der Seite, hielt sich die Brust fest und hob eine zitternde, sehnige Hand in die Brise, welche die frischen Blätter und die Büsche des Unterholzes zum Rascheln brachte.
Er hörte, wie sich jemand hinter ihm näherte.
Es kommt jemand, warnte ihn die Stimme des Dämons. Bring den Dhrakier um; danach sollten wir von hier verschwinden.
Faron eilte durch das Tal.
Rath lag reglos da und rang nach Atem. Im hinteren Teil seiner Kehle spürte er das Zischen der Luft, die aus seiner durchstochenen Lunge aufstieg. Er kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, und sang leise in den Wind einen Bericht an die Jäger über das, was er gesehen hatte. Er wusste, dass während der ganzen Zeit ihres Lebens in der Oberwelt noch nie dringendere Nachrichten abgesandt worden waren.
Eine günstige Brise fing die Worte auf und trug sie nach oben in den Himmel, wo sie die ganze weite Welt umkreisen und ihre Schreckensbotschaft jedem übermitteln würde, der sie hören konnte.
Die vulkanblauen Augen des Titanen sahen ihn an. Ein Licht der Bösartigkeit brannte nun in ihnen, und sie erstrahlten im Widerschein des Mondes. Sie hatten einen roten Blutrand, der gelegentlich die dämonische Besessenheit anzeigte.
Und dann kam er auf Rath zu.
Rath streckte die zitternde Hand hoch.
Seit seiner Ankunft in den Wyrmlanden hatten die Luftströmungen ihn verwirrt, doch nun blies ein wohlwollender Wind durch das Tal; es war ein starker, warmer Aufwind, der eine noch heftigere Bö mit sich brachte. Vielen Dank, dachte er, während sich der Titan zu ihm niederbeugte.
Als er Rath beinahe erreicht hatte, verschwand dieser plötzlich.
Das Geräusch brechender Zweige und das Pulsieren blauen Lichtes erfüllten nun das Tal im Wald unter dem Mond.
Ashe erstarrte. Die Trockenheit der Luft war unverkennbar; wie statische Energie steckte sie in jeder Luftströmung. Große Macht war hier ausgeübt worden, uranfängliche, elementare Macht. Der Drache in seinem Blut spürte sie und wich vor ihrer Stärke zurück.
Doch es gab hier nichts zu sehen, keinen verbrannten Boden, keine versengten Bäume, keine Erdbewegungen oder Anzeichen von Zerstörung. Eine Brise blies sanft durch das Tal und brachte die jungen Blätter zum Rascheln, die in diesen frühen Frühlingstagen gerade groß genug waren, um an den Zweigen zu flattern.
Ashe verlangsamte seine Schritte. Es schien ihm, als habe diese unschuldige Szenerie etwas Besudeltes an sich, einen Geruch der Bösartigkeit oder der tödlichen Absichten, doch schließlich roch für ihn allmählich die ganze Welt so.
Ein Prickeln lief ihm den Nacken herunter und über die ganze Haut. Sein Drachensinn trieb ihn voran und warnte ihn vor dem, was er gleich entdecken würde.
Tiefer im Tal lag der Körper einer Frau. Sie war zusammengerollt, als schlafe sie.
Der cymrische Herrscher stieß bedrückt die Luft aus und trat an ihre Seite.
»Portia«, sagte er stoßweise. Er kauerte sich nieder und legte die Hand auf ihren Hals, doch das war nur ein Versuch, das nicht wahrhaben zu wollen, was er bereits wusste. Da war kein Atem mehr, kein Herzschlag, kein Anzeichen von Leben. Es war sogar, als hätte sie nie gelebt. Ihre Haut war so kalt wie Marmor, ihr Körper war im Todeskrampf erstarrt.
Auf ihrer Wange befand sich eine erfrorene blutige Träne.
»Herr …«
»Sei still, Owen. Erspare mir dein Mitleid; ich habe es nicht verdient. Der Fluch meiner Familie war schon immer ihr hitziges Temperament, ihr Mangel an Selbstbeherrschung, und ich bin nur der jüngste Spross, der unsere gemeinschaftliche Seele mit der Vernichtung eines unschuldigen Lebens noch mehr besudelt hat.« Ashe zog seinen Mantel aus und legte ihn sanft über sie, als wäre er ein Laken. »Mein Vater würde das zweifellos als eine Ironie des Schicksals ansehen. All die Jahre, während denen ich unerkannt über die Erde gewandert bin, mich vor den Augen der Menschen versteckt und keinerlei Macht oder Autorität gehabt habe, habe ich ihn wegen seiner Entscheidungen verdammt, denn er hat absichtlich anderen Menschen Leid zugefügt, nur weil er seine Ziele erreichen wollte, die wiederum der großen, guten Sache dienen sollten. Und nun, da ich es bin, der die Verantwortung für das Bündnis übernommen hat, habe ich den bevorstehenden grausamen und verheerenden Krieg damit begonnen, dass ich das Blut einer unschuldigen Untertanin vergossen habe.«
»Unschuldige Untertanen sterben andauernd im Krieg, Herr«, sagte Gerald Owen barsch. »Vergebt mir meine Unverschämtheit, aber Ihr wart an so vielen Konflikten beteiligt, dass Ihr das sehr wohl wisst. Ihr habt genug Schlachten geschlagen, um daran gewöhnt zu sein. Ihr wart derjenige, der uns gesagt hat, dass das Kommende uns alle verändern wird. Glaubtet Ihr wirklich, dass Euch das nicht ebenfalls betrifft?«
Ashe starrte immer noch auf das Gesicht der toten Frau, als Wolken vor dem Mond vorbeizogen und Schatten darüber warfen.
Gerald Owen hockte sich auf den Boden. »Kommt, wir müssen zur Hohen Warte zurückkehren. Ich trage das Mädchen.«
»Nein«, sagte Ashe. »Das werde ich selbst tun.« Er nahm den Leichnam in seine Arme und trug ihn zurück zu den Pferden. Dann legte er ihn vor sich auf den Sattel, und sie ritten nach Hause.
Tief in seinem Inneren empfand er neben der Trauer und dem Schuldgefühl, die ihn zu verzehren drohten, ein unmissverständliches und unleugbares Gefühl der Erleichterung.
Das wilde Schellen der Glocken aus der fernen Kaserne, das von den Türmen Jierna Tals aufgenommen wurde, riss Talquist aus seinem Schlaf.
Die Glocken der Kasernen entlang der Grenze schlugen seit der Invasion regelmäßig tags und nachts bei jedem Wachwechsel oder kündeten ankommende und ausrückende Truppen und Divisionen an. Bisher hatte er sie kaum bemerkt. Doch dieses Geläut war anders; in ihm lag eine Dringlichkeit und Beharrlichkeit, die wie ein böses Vorzeichen wirkte und den zukünftigen Herrscher in Angst und Schrecken versetzte.
Talquist erhob sich von seinem dick mit Seidenlaken ausgelegten Bett und kleidete sich an. Dann trat er hinaus auf den Balkon und schaute über die dunklen Straßen von Jierna’sid, die im Laternenlicht und den unzähligen Fackeln der Patrouillen schimmerten. Der Rauch aus den Gießereien quoll auf der anderen Seite der Stadt in den Nachthimmel und schwebte wie tausend Gespenster in der Luft, bis ein Wind ihn in die Wüste trieb.
»Warum läuten die Glocken?«, wollte er von einer der Wachen wissen, die hier stationiert waren. »Geh und finde es heraus.« Der Soldat verneigte sich und eilte die innere Treppe hinunter.
Einige qualvoll lange Minuten später kam er zurück.
»Der Titan kehrt zurück, Herr«, sagte er.
Der Herrscher zog die Augenbrauen hoch und runzelte bestürzt die Stirn. Er schaute über die Balkonbrüstung auf die Hauptstraße tief unter ihm, wo sich allmählich ein Lärm wie damals erhob, als Faron erstmals an den Ort seiner Belebung auf der großen Schale der Waage zurückgekehrt war. Damals war es ein Lärm des Entsetzens und der Panik gewesen, als die titanische Statue die Straße entlanggetorkelt war, dabei Ochsenkarren zerschmettert und alles, was ihr im Weg gewesen war, vernichtet hatte, vor allem jene Soldaten, die versucht hatten, sie aufzuhalten, bevor sie Jierna Tal erreichen konnte.
Diesmal war der Lärm gedämpft und wirr, aber nicht so aufgeregt.
Die Kommandanten hatten anscheinend mehr Licht befohlen, denn plötzlich loderten die Signalfeuer am Ende der Straße empor und warfen Lichtteiche auf das Pflaster.
Tatsächlich näherte sich der Titan; er warf einen gewaltigen, verzerrten Schatten auf die Gebäude, während die Statue immer näher kam.
Irgendwie war Farons Schritt anders geworden. Im Gegensatz zu der torkelnden Statue, die sich gewaltsam einen Weg durch die Straßen gebahnt hatte, waren Farons Bewegungen nun abgemessen und gleichmäßig. Er ging langsam und aufrecht und verriet eine Körperbeherrschung, die Talquist früher nicht bei ihm wahrgenommen hatte. Er schlenderte mitten auf der Hauptstraße dahin, beachtete weder die Truppen noch die Wagen und näherte sich Jierna Tal auf eine Weise, die bei einem Wesen mit weniger Macht und Kraft nicht einmal bedrohlich erschienen wäre.
Talquist kniff die Augen zusammen. Der Kaufmann in ihm war misstrauisch. Schon oft hatte er Männer mit einem Dolch hinter dem Rücken gesehen, die dahergekommen waren, als wären sie vollkommen sorglos. Daher fand er es immer verdächtig, wenn Situationen, die eigentlich bedrohlich wirken sollten, so harmlos erschienen. Der Schatten des Riesen näherte sich weiter in der Dunkelheit und sprang sodann ins Licht der Flammen, während die Soldaten der Stadtwache in der Gosse standen und leise miteinander flüsterten.
Als die lebende Statue schließlich das Tor in der Palastmauer erreicht hatte, hielt sie inne und hob den Blick zum Balkon, auf dem Talquist stand.
Der Herrscher hielt den Atem an.
Mit der Unterwürfigkeit einer Küchenmagd verneigte sich die Statue; die Arme hatte sie an die Seiten gelegt.
Talquist stieß die Luft wieder aus. Er gab der Wache auf dem Balkon der Bibliothek unterhalb seiner Gemächer ein Zeichen.
»Erteile den Befehl, dass man ihn sofort hereinlässt«, sagte er.
Er wandte sich vom Fenster ab und lauschte dem Gemurmel, das bald erstarb, als das Fallgitter gehoben wurde, das Holz knirschte, die Ketten rasselten und das Gitter schließlich wieder gesenkt wurde.
Talquist zwang sich zur Ruhe, während die Minuten verstrichen. Er setzte sich in seinen großen Walnussstuhl, der einer der ersten Gegenstände war, welche er aus Manosse importiert hatte, nachdem er die Handelsflotte übernommen hatte, und beobachtete sich im Spiegel am anderen Ende des Zimmers.
Ich sehe königlich aus, entschied er. Und nervös.
Die schweren Schritte donnerten über den Stein der inneren Treppe. Talquist schluckte.
Er umfasste die Armlehnen des Stuhls, als die laut hallenden Schritte näher kamen, und zwang sich, ruhig zu atmen.
Schließlich erschien Faron auf der Schwelle am oberen Ende der Treppe. Er warf einen raschen Blick hinüber zu den Wachen auf dem Balkon und deutete dann die Treppe hinunter.
Der Herrscher überlegte kurz, ob er sie noch brauchte. Schließlich nickte er.
»Lasst uns allein«, sagte er.
Die Wachen gehorchten unverzüglich.
»Ich freue mich, dass du zurückgekehrt bist«, sagte er sanft. Die jahrelange Erfahrung mit geschäftlichen Verhandlungen in angespannten Situationen halfen ihm dabei, ruhig zu klingen. »Ich hatte schon befürchtet, du hättest dich verirrt oder wärest sogar gefangen genommen worden.«
Die Muskeln im Gesicht des steinernen Titanen verzogen sich zu etwas, das bei einem lebendigen Menschen ein trockenes Lächeln gewesen wäre.
Bitte, sagte er. Das Wort troff vor Ironie.
Die schwarzen Brauen des Herrschers hoben sich bis zu seinem Haaransatz. Rasch stand er auf und betrachtete den Riesen eingehender. Er bemerkte Einzelheiten, die er an der grob behauenen Statue des alten Soldaten, die er in der Basilika abgeerntet hatte, nicht wahrgenommen hatte. Jetzt erkannte er Augenbrauen, Lider und Wimpern, deutlich hervortretende Gelenke und Finger. Das früher so primitiv gewesene Abbild eines eingeborenen namenlosen Kriegers war zu einem gigantischen Mann geworden, einem Soldaten von titanischen Ausmaßen – beinahe zu einem belebten Gott.
Und obwohl er nicht den Mund bewegte, konnte er sprechen.
Die Stimme widersprach seiner Erscheinung. Es war nicht der tiefe Bass oder das donnernde Röhren, das man seinem äußeren Bild nach erwartet hätte, sondern Farons Stimme war harsch und hoch und hatte etwas Knisterndes an sich. In ihr war der Widerhall anderer Stimmen zu hören, von denen einige tief und sanft, andere wiederum kreischend waren, und sie alle brummten vor frei werdender, unheilverkündender Macht, unter der sich Talquists Nackenhaare vor Furcht aufstellten.
»Was … was hast du denn jetzt vor, Faron?«, fragte er. »Als ich hörte, dass du die Schlacht bei Sepulvarta verlassen hast, dachte ich, du hättest vielleicht keine Lust mehr, das Heer zu führen.«
Richtig.
»Warum bist du denn zurückgekommen?« Talquist biss die Zähne zusammen. Es gab keinen Ort, an den er fliehen konnte.
Ich wünsche unsere Verbindung fürs Erste weiterzuführen, sagte die Statue in ihrer harschen Stimme. Aber zu meinen eigenen Bedingungen.
Plötzlich entspannte sich Talquist. Seine langen Erfahrungen als Kaufmann sagten ihm, dass es nun um einen Handel ging, der für beide Seiten vorteilhaft sein würde.
»In Ordnung«, sagte er. »Was sind deine Bedingungen?«
Die Statue sah ihm in die Augen und schätzte ihn ab.
Ich werde dein Heer anführen. Wir werden den Mittleren Kontinent bis zu den nördlichen Bereichen der Zahnfelsen erobern. Das ganze Land wird dir gehören – aber ich verlange eine besondere Bezahlung.
»Natürlich«, sagte Talquist rasch. »Was soll das für eine Bezahlung sein?«
Wie du, so will auch ich ein Kind haben – ein Kind, das in den Bergen schläft. Dieses Kind will ich haben – und die Schuppen. Alle.
Die Kehle des Herrschers zog sich zusammen.
»Ich … ich habe dir nie den Zugang zu deinen Schuppen verwehrt, Faron«, sagte er schnell. »Oder zu meinen.«
Die blauen Augen des Titanen glänzten heller.
Sie werden alle mir gehören, Herrscher. Auf die eine oder andere Weise.
Talquist atmete tief ein. Die Drohung in der scharfen Stimme war unmissverständlich.
Der Gedanke daran, die violette Schuppe aufzugeben, der er seine Macht und den Thron zu verdanken hatte, war beinahe zu schmerzhaft für ihn. Auch der Umstand, dass der Titan ihm dafür die Erfüllung des wichtigsten Teils seines großen Planes anbot, war nur ein schwacher Trost. Dieses alte Bruchstück eines Drachenschildes hatte sich regelrecht in seiner Seele verankert und war ihm von dem Moment an, als er es im Sand und Nebel der Skelettküste unter den Schiffsüberresten aus der Dritten Cymrischen Flotte gefunden hatte, fast jede Nacht in seinen Träumen erschienen. Er hatte einen großen Teil seines Lebens damit verbracht herauszufinden, worum es sich bei diesem Gegenstand handelte und wozu er in der Lage war. Dafür war er bei Kapitänen und Minenarbeitern, bei Kaufleuten und Priestern in die Lehre gegangen. All diese untergeordneten Tätigkeiten hatten sich schließlich ausgezahlt.
Doch wenn er die Schuppe nun unbedingt behalten wollte, würde Faron ihn an Ort und Stelle zu Brei zertreten.
Es schien ein geringer Preis für die Erfüllung all seiner Wünsche zu sein.
Der Kaufmann schaute dem Riesen tief in die Augen, ging dann in seine Geheimkammer und kehrte einen Augenblick später mit der in Samt eingewickelten Schuppe zurück. Er ging zu Faron hinüber und streckte die Hand aus.
»Abgemacht«, sagte er.
Der Titan lächelte.
In diesem Augenblick glaubte Talquist, ein Rumpeln im Getriebe der sich unablässig drehenden Welt zu hören.
»Ihr müsst bedenken«, sagte Rhapsody, während sie das Pergamentblatt auf dem Tisch vor Achmed, Grunthor und Omet ausrollte, »dass das Spektrum der unteren Mitte, also die grünen und blauen Abschnitte Kurh-fa und Brige-sol, harmloser in ihrer Machtentfaltung sind. Sie ändern weniger an der Wirklichkeit der Welt, so wie sie ist. Das ist unter anderem so, weil sie wegen der Wellenlänge des Lichts ein Lied aussenden, das am längsten von allen anhält. Der Grund dafür liegt darin, dass viel von dem blauen Spektrum im Widerschein des Himmels gegenwärtig ist. Daher sind die Liringlas so sehr an diesen Teil der Überlieferungen gebunden und verehren den Himmel zutiefst. Sie wissen, dass das Blau der Schlüssel zum gesamten Rest des Spektrums ist. Da die ursprüngliche Macht des Lichtfängers im Wahrsagen und in der Verdunkelung lag, wäre es vielleicht am sichersten, diesen Teil zuerst auszuprobieren. Die Gefahr ist nicht so groß wie bei den anderen, zumindest was die uranfänglichen Kräfte angeht.«
»Allerdings«, stimmte Achmed ihr zu. »Aber die nachfolgenden Kräfte könnten sogar noch gefährlicher sein.«
»Ich bin noch nicht so weit, mit den Teilen der zweiten oder dritten Ordnung herumzuexperimentieren«, sagte Rhapsody ernst. »Die Konsequenzen eines falschen Gebrauchs sind unübersehbar. Wenn du aber sehen willst, wie das blaue Spektrum wirkt, und neugierige Augen besser als bisher aussperrst, könnte ich vielleicht einen Versuch wagen. Es ist nicht gefahrlos – das ist nichts bei diesem Apparat. Aber diese Farbe ist die sicherste, die wir besitzen. Es ist ein bisschen so, als ließe man statt des Kopfes nur die Hand ungeschützt, wenn man eine Löwenhöhle betritt.«
Bolg-König.
Achmed erstarrte. Die Stimme in seinem Ohr war leise und angespannt.
Ich bin im Durchgangstunnel. Der Wind schwieg für einen Augenblick, dann brauste er wieder in Achmeds Ohren; diesmal jedoch war die Stimme schwächer. Komm.
Achmed war aufgesprungen, noch bevor Rhapsody blinzeln konnte. Sie und Grunthor folgten ihm aus dem Berggipfel und über die äußeren Verteidigungsanlagen von Canrif, welche die Schlucht überblickten, die die Stadt von der verdorrten Heide trennte.
In dem Tunnel wartete Rath. Er kauerte auf dem Boden, hatte die Arme um sich geschlungen und rang mühsam nach Atem. Sein Köpf glänzte vor Schweiß; seine Haut wirkte fahl im schwachen Licht der Fackeln hinter dem Tunnel.
»Die … Nachrichten, die ich bringe … könnten nicht … schlechter sein«, sagte der Dhrakier und keuchte bei jedem Atemzug auf. »Die Wächter … wissen es schon … aber du … konntest mich … nicht hören …«
»Sag es mir«, befahl Achmed ihm, während sich Rhapsody neben Rath kniete und ihm das Hemd öffnete.
Der Dhrakier versuchte sie fortzuscheuchen. »Ich habe … den Wirt der Bestie … gefunden und hatte … sie im Bann, aber … ich wurde … unterbrochen …«
»Von wem?«, fragte der Bolg-König. »Wer hätte dieses Gebiet bei all der Macht in der Luft überhaupt betreten können?«
»Ein … Mann aus … Lebendigem Stein«, flüsterte Rath, während die cymrische Herrscherin langsam ein Lied der Heilung sang, das bei all jenen half, die auf dem Schlachtfeld dem Tode nahe waren. »Titanisch … und fähig … aus eigener Kraft … zu gehen. Der Dämon … ist entkommen … und hat einen neuen … Wirt in ihm gefunden. Und er ist … unverwundbar.«
Die beiden Bolg schauten sich an, während Rhapsody mit ihrem Lied fortfuhr.
»Wir müssen das Risiko wohl eher als geplant eingehen«, sagte Achmed schließlich. »Es ist unabdingbar, dass wir das blaue Spektrum ausprobieren. Morgen früh werden die ersten Sonnenstrahlen auf die Scheibe des Blutretters fallen. Ich nehme an, du bist damit einverstanden, Rhapsody?«
Sie sah die beiden an und nickte bedächtig.
»Grunthor, bring ihn zum Lichtfänger«, befahl Achmed. Er drehte sich um und wollte gehen, doch Rath packte den Saum seiner Robe und zerrte ihn wieder zurück.
»Hör mich an«, flüsterte der Dhrakier, in dessen Augen Feuer brannten. »Du hast … keine andere Wahl mehr. Jemand muss … diesen Riesen … umbringen. Das übersteigt … die Fähigkeiten … der Wächter. Sonst kannst du … nicht König bleiben …«
Achmed riss seine Robe aus dem schwächer werdenden Griff des Dhrakiers.
»Das siehst du falsch, Rath«, sagte er barsch. »Ich werde so lange König bleiben, wie es mir passt. Ich kann nur wenigem zustimmen, was Ashe je gesagt hat, doch er hat recht, wenn er der Meinung ist, dass ein König standhalten und sein Land verteidigen muss, bis es für ihn keine andere Möglichkeit mehr gibt, als zu gehen. Was auch immer draußen in der Welt geschieht, ich werde hier bleiben. Ich muss ein Kind bewachen, und auch wenn ich nichts anderes sein sollte, so bin ich doch die letzte Bastion in diesem Kampf.
Aber«, fuhr er fort, während der Sergeant-Major Rath vom Boden aufhob, »da nun der F’dor sich entschlossen hat, einen Wirt zu nehmen, der aus Lebendigem Stein, also aus elementarer Erde besteht, habe ich zufällig einen Mörder zur Hand, der für diese Aufgabe wie geschaffen ist.«
Grunthor grinste ungeheuer breit.
»Klasse! Dabei ist noch nich’ mal mein Geburtstag. Vielen Dank!«
Er ging den Tunnel hinunter und pfiff dabei eine fröhliche Melodie.