Tungdil war von der Handlung völlig vereinnahmt; er wusste nicht einmal mehr zu sagen, was ihm seine Einbildungskraft dazudichtete und was die Schauspieler auf dem Podest unter ihm wirklich zeigten.
Aber seine Aufmerksamkeit wurde durch eine flinke Hand abgelenkt, die sich von hinten durch den Logenvorhang schob, den Riemen des Rucksacks griff und ihn vorsichtig zu sich heranzog.
Das alles sah er natürlich nicht, doch er bemerkte das Schleifen in seinem Rücken, als der Dieb zu gierig an dem Lederstück riss. Als er sich umwandte, sah er gerade noch den Arm des Langfingers, der mitsamt seinem Gepäck durch den Vorhang verschwand.
»He! Halt!«, schrie der Zwerg erzürnt. »Diebe! Haltet ihn!« Er packte die Axt und rannte auf den Brettergang hinaus, dass die harten, genagelten Sohlen seiner Stiefel nur so rumpelten. »Dir schlage ich gleich Respekt vor dem Eigentum anderer Leute in den Schädel!«
Hätte seine drohende Stimme nicht ausgereicht, den Schleier der Illusion im Theater zu zerreißen, so schaffte es das Poltern. Empörte Rufe wurden laut, die sich weniger gegen den Dieb, sondern mehr gegen den Beraubten richteten.
Deren Sorgen möchte ich haben. Tungdil kümmerte es nicht, er verfolgte die dunkel gekleidete Gestalt. Seine kurzen Beine hoben und senkten sich rasch und entfachten ein anhaltendes Donnern.
»Würde sich der geschätzte Spectator bequemen, etwas leiser zu trampeln?«, rief der falsche Nôd’onn entrüstet von der Bühne. Die Albin verzog das Gesicht und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Im Gegensatz zum nachgemachten Magus wirkte sie in ihrer schwarzen Rüstung immer noch sehr echt, trotz des geplatzten Gaukelspiels. »Ich versuche hier, die anderen Spectatores zu unterhalten, wenn es recht ist.«
»Dieb!«, antwortete ihm der Zwerg, ohne anzuhalten. »In Eurem feinen Theater wird gestohlen.«
»Sicher. Und zwar von Euch, mein murkeliger Freund. Ihr stehlt nämlich meine kostbare Zeit«, gab der Mime bissig zurück, »und meine unbezahlbare Geduld. Da Ihr sie nun habt, schert Euch zusammen mit Eurer Beute hinaus und lasst mich für die Kenner der Kunst mein Stück zu einem glücklichen Ende bringen, wie es sich gehört.«
Die Besucher applaudierten ihm, Gelächter erklang, der Schauspieler verneigte sich.
Narr. Da war Tungdil schon auf der Gasse und blieb vor dem Eingang des Curiosums stehen, um nach dem dreisten Räuber Ausschau zu halten. Er entdeckte ihn, als er um die nächste Ecke bog. Den Sack hatte er sich auf den Rücken geschwungen, damit er die Hände frei hatte.
»Halt! Gib ihn her!«, verlangte er und heftete sich an die Fersen des Diebes.
Die Verfolgung gelang ihm über drei Straßenzüge hinweg, aber nach der vierten Gasse und dem wohl zehnten abrupten Richtungswechsel verlor Tungdil ihn aus den Augen und stand ratlos vor einem übervölkerten Marktplatz. Die Menschen bildeten einen Blickschutz, hinter dem sein Gepäck verschwand.
Das Stück Sigurdazienholz! Siedend heiß überlief es ihn. Genau das hätte niemals geschehen dürfen. Ich bin doch nicht so weit gekommen, um mich von einem einfachen Gauner beklauen zu lassen, spornte er sich selbst voller Grimm an.
Mit einer Hand fasste er die Axt, mit der anderen schubste und drückte er die Menschen zur Seite, bis er an einem hoch aufragenden Stand mit geflochtenen Weidekörben anhielt und den Stapel erklomm.
Doch von hier oben sah es nicht besser für ihn aus. Ohne die Hilfe der einheimischen Gardisten wäre es ihm unmöglich, sein Eigentum zurückzuerhalten. Aber angesichts der Orks, die vor den Toren lauerten, würde er mit seinem Anliegen sicherlich und sogar mit Recht auf taube Ohren stoßen. Wie könnte er sie auch von der Wichtigkeit überzeugen?
Entschuldigt, aber ich habe ein Stück Holz verloren, mit dem ich die Stadt und das Land vor dem Toten Land bewahren kann … Wer würde mir das glauben?
Als er hinabstieg, um zum Wirtshaus zurückzukehren, wo Bavragor und Boïndil hoffentlich auf ihn warteten, stellte er fest, dass er sich zu allem Überfluss auch noch in Mifurdania verlaufen hatte.
Tungdil kannte nicht einmal den Namen der Herberge, in die er die anderen beiden geschickt hatte. Das Tor bildete seinen einzigen Anhaltspunkt.
Sind wir durch das Nordtor gekommen oder durch ein anderes?
Brummelnd machte er sich auf die Suche und orientierte sich dabei an den nächstgelegenen Wachtürmen der Mauer, die gelegentlich zwischen den Dachgauben hindurchspitzten. Als er an einer dunklen Seitengasse vorbeischritt, hörte er plötzlich ein ersticktes Gurgeln.
Sofort blieb er stehen, nahm seine Waffe in beide Hände und betrat die Gasse. Vorsichtig schritt er um eine Biegung herum und sah eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt; die Kleidung wurde von einem dunkelgrauen Umhang verdeckt.
Zu ihren Stiefeln lag der Dieb, der ihn bestohlen hatte. Aus einem Dutzend Stichwunden sickerte sein Blut auf das Kopfsteinpflaster; der Mann, der den Gauner zur Strecke gebracht hatte, wühlte neugierig in dem Rucksack herum.
Der Zwerg fühlte sich gar nicht wohl. Die Statur passte nicht zu einem Menschen, wohl aber zu einem Alb. Vraccas, stehe mir in dieser Prüfung bei, bat er leise.
Der neue Besitzer des Rucksacks schloss die Lasche, fasste den Trageriemen mit der Linken und barg ihn unter seinem Umhang, um ihn mitzunehmen, während der Dieb sich ächzend auf den Rücken wälzte und sich vor Schmerzen krümmte. Die Gestalt schlenderte die Gasse entlang, als wäre sie nicht für das Leid des Mannes verantwortlich.
»Verzeiht, aber das ist mein Rucksack«, rief Tungdil.
Der Mann wirbelte herum, der Mantel flatterte auf, sodass er zunächst nichts von dessen Gesicht erkannte, dann spürte er zwei harte Schläge gegen seine Brust. Die geworfenen Messer prallten von seinem dicht gewobenen Kettenhemd ab und fielen klirrend auf das Pflaster.
Während Tungdil sich noch von seiner Überraschung erholte, rannte der heimtückische Angreifer schon die Straße hinunter und verschwand um die nächste Biegung. Gegen die langen Beine kam er nicht an, und als er um die Ecke bog, sah er weit und breit nichts von dem Mörder.
Keuchend lehnte er sich an eine Wand, die im Schatten lag, und rang nach Atem. Das Glück lässt mich allzu oft im Stich. Habe ich Vraccas verärgert?
Da legte sich ein Arm von hinten um seinen Hals. Ein dünnes Messer funkelte vor seinen Augen und berührte seine ungeschützte Kehle.
»Es ist dein Rucksack, Zwerg? So musst du Tungdil sein«, sagte eine gedämpfte Stimme zu ihm. »Wir haben dich an einem ganz anderen Ort vermutet. Mein Freund ist ganz versessen darauf, dich zu finden, seit du in Grünhain warst und seine Gefährtin umbrachtest.«
Tungdil versuchte, den Arm zu heben, doch die Klinge drückte sich fester in sein Fleisch.
»Nein, halt still. Du wirst mir ein paar Fragen beantworten«, verlangte der Unbekannte.
»Nein«, widersprach Tungdil trotzig und war sich sicher, auf einen Alb Nôd’onns gestoßen zu sein.
»Nein? Wir werden sehen.« Der Angreifer schleifte ihn rückwärts zu einem Torbogen, der zu einem Hauseingang führte und unter dem es stockdunkel war. »Wohin wolltest du mit dem Artefakt?«
Der Zwerg schwieg starrköpfig.
»Möchtest du sterben?«
»Du tötest mich sowieso, Alb. Warum sollte ich dir über meine Mission berichten?«, erwiderte er.
»Weil ich dir einen schnellen Tod und kein qualvolles Ende versprechen würde«, lachte er. »Versuchen wir es ein weiteres Mal. Bist du allein unterwegs?«
Schritte näherten sich ihnen, das Klirren von Kettenhemden erklang. Zwei Personen liefen die Gasse entlang, und der Alb verstummte.
Das Schicksal musste einen grausamen Sinn für Scherze haben, denn es brachte Goïmgar und Boëndal dazu, in genau diesem heiklen Augenblick an dem schattigen Versteck vorbeizugehen.
Boëndal redete beschwichtigend auf den Edelsteinschleifer ein und erklärte, dass weder Boïndil noch Bavragor es wirklich ernst mit ihren Drohungen meinten und er ihn notfalls vor ihrem Übermut schützen würde. Dann waren sie um die nächste Biegung verschwunden.
»Also fünf«, raunte der Alb ihm ins Ohr. »Fünf Zwerge auf dem Weg wohin?«
»Dich und deinesgleichen samt eurem Meister aufzuhalten«, sagte Tungdil laut und entschloss sich, den Alb abzuschütteln. Er packte den Arm mit dem Messer und warf sich mit Schwung nach hinten, um seinen Angreifer gegen die Mauer zu rammen, doch sein Gegner wich aus, Tungdil prallte gegen die Steine und musste schwer gegen die Kraft der Messerhand kämpfen.
Der Lärm genügte, um die beiden Zwerge aufmerksam werden zu lassen. Eilig rannten sie herbei.
»Gelehrter? Bist du das?« Der Krieger stand breitbeinig vor der Nische, den Krähenschnabel bereit haltend. Goïmgar hielt Abstand und verschmolz mit seinem Schild.
Das Knie des Albs traf den Nasenschutz von Tungdils Helm. Das Metallstück drückte sich schmerzhaft gegen sein Riechorgan, und die Tränen schossen ihm aus den Augen. Er bekam noch einen Stich in den linken, ungeschützten Unterarm, ehe der Gegner alles daran setzte zu entkommen.
Der bleibt hier. Geistesgegenwärtig griff Tungdil nach dem Rucksack und erwischte die Lasche. Knurrend klammerte er sich daran fest und hackte nach der Hand des Albs.
Seine Axt schlug ins Leere. Der Räuber war ausgewichen, aber dafür schlitzte die Klinge den Rucksack auf, die Lasche riss, und Tungdil fiel zu Boden.
»Ich habe, was ich wollte.« Die Lage wurde dem Alb zu brenzlig, und so zog er die Flucht vor. Er wollte an dem Zwilling vorbeihuschen, aber der erfahrene Kämpfer Boëndal ließ sich von der angetäuschten Bewegung nicht übertölpeln und schlug zu. Die Spitze der verheerenden Axt perforierte die Lederrüstung und drang tief in den Körper ein.
Der Getroffene stolperte, fluchte unverständlich und geriet in einen einzelnen Sonnenstrahl, der aus seinen eben noch dunkelblauen Augen zwei schwarze Löcher machte.
Und noch Unheimlicheres geschah mit dem Alb. Dünne, feine Linien zeichneten sich auf seinem blassen Gesicht ab. Mit einem Mal waren sein Gesicht und der Hals übersät mit zackigen Linien, die wie Risse aussahen. Er presste die Hand auf die Wunde und rannte die Gasse entlang; der Rucksack hüpfte auf seinem Rücken auf und nieder.
»Dich kriege dich.« Der Zwilling wollte sich an seine Fersen heften, aber Tungdil rief ihn zurück.
»Nein, lass. Wir wissen nicht, ob er uns nicht am Ende in eine Falle locken will.«
»Aber er hat den Rucksack!«
Tungdil wischte sich das Blut unter der Nase weg. Stolz hob er das Stück Sigurdazienholz. »Nur das ist wichtig. Und ich habe es wieder.«
»Wie hast du es verloren, Gelehrter?«, wunderte sich Boëndal.
»Das erzähle ich euch unterwegs.« Er nickte Goïmgar zu. »Sei unbesorgt. Die anderen beiden Griesgrame werden dir nichts anhaben.«
»Ich habe wirklich gesagt, dass sie erst nach euch die Tür schließen sollen«, sagte er leise.
»Lass es gut sein«, meinte Tungdil, obwohl er sich nicht sicher war, dass er dem Gehörten Glauben schenken sollte. Er vertraute ihm nicht mehr und beschloss, ihn zu keiner Zeit mehr allein zu lassen, bis Goïmgar verstanden hatte, um was es bei ihrer Reise ging.
»Wir sollten den Gardisten Bescheid sagen, dass wenigstens ein Alb in den Mauern Mifurdanias sein Unwesen treibt«, sagte Boëndal. »Er wird einen Verrat planen, um die Einnahme der Stadt für die Orkhorden zu erleichtern.«
»Und er weiß, dass wir hier sind«, fügte Goïmgar zaudernd hinzu. »Werden sie uns nun jagen?«
»Das haben sie wohl schon die ganze Zeit über getan«, antwortete Tungdil ehrlich, »aber leider haben sie herausgefunden, wo wir sind. Wir müssen so schnell wie möglich in die Tunnel. Solange sie davon nichts erfahren, sind wir vor den Albae sicher.«
Hastig durchquerten sie die Straßen, bis sie zum nahen Südtor gelangten, wo Tungdil dem Wachhabenden berichtete, dass er einen Alb gestellt habe. Dann machten sie sich auf den Weg zur Herberge, wo Bavragor und Boïndil hoffentlich ausharrten.
Als sie sich der Kaschemme näherten, hörten sie die wilden Schreie Ingrimmschs. Holz barst krachend, und darunter mischten sich laute, aufgeregte Rufe von Menschen.
»Bei Vraccas! Die Albae haben sie gefunden!«, rief Boëndal grimmig und rannte los, um seinem Bruder beizustehen.
Da flog ein Mann in hohem Bogen durch das kleine geschlossene Fenster und landete in einem Scherbenregen auf dem Pflaster. Der Nächste fiel mitsamt der aus den Angeln gerissenen Tür auf die Straße, rappelte sich auf und suchte blutend das Weite.
Die drei Zwerge stürmten in die Schenke, in der ein Wirbelsturm gehaust haben musste. Nichts befand sich mehr an seinem angestammten Platz, Tische und Bänke waren umgeworfen oder zu Bruch gegangen. Stöhnende Gäste lagen umher, manche arg, andere weniger verprügelt.
Mittendrin stand Boïndil wie ein kleiner Rachegott und rupfte einem Menschen den Schnauzbart Haar für Haar aus. Von Bavragor fehlte jede Spur.
»Was tust du da?«, fragte ihn sein Bruder und betrachtete fassungslos die Unordnung. »Warst du das?«
Ingrimmsch drehte sich um, sodass sie seinen verunstalteten Bart sehen konnten. »Ho, das will ich meinen«, lallte er. »Sie haben mich angezündet, und dafür haben sie mit meinen Fäusten Bekanntschaft gemacht.« Er kicherte und riss seinem Opfer ein weiteres Haar aus. »Der Lange hat angefangen, er hat meinen Bart angekokelt, und als ich ihn bestrafen wollte, kamen ihm die anderen zu Hilfe. Das fand ich sehr anständig von ihnen. Umso mehr gab’s für mich zu tun.«
»Bitte, sagt ihm, dass es mir Leid tut und er mich loslassen soll«, jammerte der Mann. »Es war ein Unfall, ich wollte ihm bloß einen glimmenden Span für seine Pfeife reichen!«
Boïndil packte ihn an den Ohren und blickte ihn aus trüben Augen an. »Wirst du auch nie mehr einem aus unserem Volk ein Loch in seinen bärtigen Stolz brennen?«, keuchte er.
»Nie mehr!«, wimmerte der Mann.
»Schwörst du es?« Er schwor artig, und der Krieger gab ihn frei. »Na, gut. Lauf, Langer.« Zum Abschied rupfte er ihm ein ganzes Büschel Haare aus und trat ihn in den Hintern. Lachend ließ er sich auf den Tisch plumpsen, langte nach seinem Humpen und schlürfte geräuschvoll. »So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr«, rülpste er. Seine Augen entdeckten Goïmgar. »Ah, da ist ja unsere zimperliche Maid!«
»Er ist sturzbetrunken«, meinte sein Bruder und kniff die Lippen zusammen.
»Wo ist Bavragor?«, fragte Tungdil mürrisch. Schlimmer, als eine Horde Flöhe zu hüten. »Müssen wir ihn auch suchen gehen?«
»Der? Ach, der kommt schon wieder. Das Einauge ist ein Pony kaufen, damit wir unsere Schätze …«
»Boïndil! Sei still!«, fuhr Boëndal ihn hart an, nahm ihm das Bier weg und zerrte ihn vom Tisch. »Was denkst du dir eigentlich dabei? Wir sind von Feinden umzingelt, und du tust so, als wärest du der Steinmetz!«
»Ach?! War er auch auf dem Markt, um Ponys zu erstehen?«, kam es beleidigt von der Tür. »Im Gegensatz zu ihm habe ich etwas geleistet, anstatt mich mit den Langen herumzuprügeln.«
»Da ist ja das Einauge!«, rief Ingrimmsch fröhlich, schnappte Boëndal den Humpen aus der Hand und leerte ihn rasch. »So. Das wirst du mir nicht mehr wegnehmen«, grinste er breit und rülpste.
»Orks!«, schallte es von draußen, dann rannte ein Gardist herein. »Die Orks sind in den Gassen! Alles zu den Waffen! Das Südtor ist geöffnet worden! Rettet Mifurdania! Eilt, ihr Bürger!« Sein Blick fiel auf die niedergeschlagenen Männer. »Was ist denn hier …«
»Zu den Waffen!«, stimmte Boïndil jauchzend ein. »Oink, oink, oink! Kommt, wir gehen Schweinchen schlachten!« Er riss die Beile aus dem Gürtel und torkelte zur Tür. Sein Bruder hielt ihn auf und redete beschwichtigend auf ihn ein.
»Verzeih ihm. Er meint es nicht so«, sagte Tungdil zu Bavragor, um den nächsten Streit zu verhindern.
»Er kann es ruhig so meinen, weil er meistens Recht hätte«, entgegnete er ruhig. »Draußen warten zwei Ponys, die ich billig bekommen habe. Sie werden uns einen guten Dienst erweisen.«
»Wir müssen sofort von hier verschwinden«, befahl Tungdil, der beschlossen hatte, seine Erlebnisse im Curiosum zu erzählen, sobald sie die Stadt heil hinter sich gelassen hatten. Aber wie? »Die Albae wissen, wo wir sind. Sie werden uns jagen.«
»Wie sollen wir das machen?«, wollte der Steinmetz wissen.
»Es geht, Gelehrter«, meinte Boëndal. »Vor den Toren wird es zu einer Schlacht kommen. Wir brauchen einen Seitenausgang in der Mauer. Durch den verschwinden wir und kämpfen uns am Rand des Getümmels durch.« Er warf einen Blick auf seinen plötzlich ruhig gewordenen Bruder, der sich an den Türrahmen gelehnt hatte und erste Schnarchlaute von sich gab. »Auch wenn es unter diesen Umständen nicht einfach wird«, fügte er mit einem Seufzen hinzu.
Goïmgar erbleichte. »Durch eine Schlacht?«, echote er. Schon sah er die Pfeilschwärme vor sich, zuckende Schwerter, Speere und Spieße, grunzende Orks, kreischende Bogglins und die unheimlichen leisen Albae, und alle rannten sie nur hinter ihm her. »Müssen wir?«
»Kannst du fliegen? Ich meine, ohne Katapult?«, wollte Bavragor wissen, und Goïmgar verneinte. »Also gibt es keine andere Möglichkeit.«
Es rumpelte laut, als Ingrimmsch steif wie ein Brett umfiel und sich nicht mehr rührte. Nur das Schnarchen bewies, dass er nicht von Vraccas’ Hammer getroffen worden war.
»Ein schöner Krieger ist das«, sagte Goïmgar vorwurfsvoll. »Jetzt, wo wir ihn brauchten und er unzählige Orks niedermetzeln dürfte, hat ihn das Bier umgehauen.«
»Ich verstehe das nicht«, stimmte Bavragor zu, packte den Zwerg zusammen mit Boëndal und legte ihn quer über einen Ponyrücken. »Das Bier der Langen taugt doch gar nichts. Wie kann man da nur so besoffen sein?«
»Hattest du denn auch fünf Humpen?«, staunte Goïmgar.
»Nein. Sieben. Und noch zwei auf dem Markt«, zwinkerte er dem schwächlichen Zwerg zu und drückte ihm die Zügel der Ponys in die Hand. »Da. Das ist die passende Aufgabe für dich.«
Mit seinem gewaltigen Kriegshammer in der Hand begab er sich nach hinten, um ihren Rücken zu decken. Tungdil und Boëndal übernahmen die Vorhut.
Vereinzelt hörten sie das Klirren von Waffen, doch sie bogen jedes Mal rechzeitig ab, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, was vor allem Goïmgar sehr schätzte.
Um sie herum rannten die Bürger Mifurdanias. Die einen eilten mit Waffen an ihnen vorbei, um sich am Gefecht um ihre Heimat zu beteiligen, die anderen hatten ihre Kinder, ihr Hab und Gut an sich gepresst und suchten Schutz im bislang sicheren Teil der Siedlung.
Und noch eine Stadt sieht ihrem Untergang entgegen. Tungdil hatte die Bilder vom vernichteten Gutenauen vor Augen, er wusste, was auf die Stadt zukam, und rang mit sich selbst, um nicht auf ihre Mission zu pfeifen und den Menschen beizustehen, die eine weitere scharfe Axt sicherlich benötigten. Er stand kurz davor, den entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.
Aber wenn einer von uns stirbt? Ohne die Feuerklinge wäre das ganze Geborgene Land verloren. Er rang mit sich selbst und entschied, dass er auf das Schicksal Mifurdanias keine Rücksicht nehmen durfte, so schwer es ihm auch fiel. Stumm senkte er den Kopf. Die Götter mögen euch beistehen.
Boëndal legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Blick verriet, dass ihn die gleichen Gedanken beschäftigten.
Sie gelangten an die Ostmauer und entdeckten eine Nebenpforte, an der zwei Wachen ihren Dienst verrichteten. Als ein Hornsignal ertönte, nahmen sie ihre Speere zur Hand und liefen zum Nordtor.
Der Kampflärm, der aus den Plätzen und Gassen drang, wurde lauter, die Orks drängten die Verteidiger zurück.
Die Tür, vor der sie standen, war mit vier Eisenriegeln gesichert; dicke Schlösser und Ketten verhinderten, dass Unbefugte sie entfernten.
»Was haben wir denn da? Fünf Kegel mit Beinen? Ts, ts, ts, und sie wollen flüchten?«, sagte eine Stimme missbilligend.
Ein Mann mit aristokratischen Gesichtszügen und einem Kinnbärtchen trat aus der Seitenstraße; seine bunten Gewänder sahen nicht billig aus. Hinter ihm folgte eine schlanke, hoch gewachsene Frau in einer Lederrüstung, die ihre langen schwarzen Haare zu einem Teil unter einem dunkelroten Kopftuch verbarg, sowie ein weiterer Mann mit graugrünen Augen, schwarzen Haaren und einem dünnen Schnurbart, der einfach gewandet war. Jeder von ihnen trug einen Seesack.
»Wisst ihr zu kurz geratenen Riesen nicht, dass es verboten ist, diese Pforte zu benutzen?«, fragte der Kinnbart.
»Seid ihr Diebe?«, knurrte Bavragor und legte die prankengleichen Hände um den Stiel seines Hammers.
Der Mann lachte übertrieben. »Kinder, hört ihr das? Drollig, die Kleinen«, rief er nach hinten. »Nun, mein bärtiger Freund mit dem verlorenen Augenlicht, wir sind nicht einmal zum gewöhnlichen Volk zu zählen, wie könnten wir demnach gewöhnliches Verbrecherpack sein?«
Die Orkrufe wurden lauter und klangen immer näher.
»Geht beiseite«, sagte die Schwarzhaarige kurz entschlossen und schritt durch den Pulk der überrumpelten Zwerge, ohne einen von ihnen zu berühren. Sie nahm einen Lederbeutel unter ihrem breiten Waffengürtel hervor und wählte fingerlange, spitze und gebogene Eisenstückchen, mit denen sie sich an den Schlössern zu schaffen machte. Nach kurzer Zeit klickte es.
»Also doch Diebe«, stellte der Steinmetz zufrieden fest.
»Mitnichten, Gutester«, widersprach das Kinnbärtchen. »Furgas stellt den besten Magister technicus seit …«, er wedelte in der Luft, weil ihm der passende Zeitraum nicht einfallen wollte, »Menschengedenken dar.« Er deutete auf die Frau. »Des weiteren habe ich das ausgesprochene Vergnügen, Euch die bezaubernde Narmora vorzustellen, wegen deren Schönheit die Rosen am Haus des Bürgermeisters vor Neid verdorren, und ich selbst bin …«
»Der Unglaubliche Rodario!«, rief Tungdil, der die Stimme des Schauspielers wieder erkannte.
Die Züge des Mimen wurden eine Spur freundlicher. »Ein Verehrer meiner Kunst? Wer hätte das gedacht. Ich unterstellte Euch …« Er stockte. »Da treffe mich doch eine volle Schale Abort! Ihr seid der Trampler, der Schänder meiner Szene, der Vernichter des kunstvoll gewirkten Traumgewebes, in dem ich die Spectatores gefangen hielt!« Seine braunen Augen richteten sich anklagend auf Tungdils Stiefel. »Ja, das sind sie, die Übeltäter! Dies Schuhwerk und dazu die vermaledeite Schreierei ruinierten mein Können!«
Wieder klickte es. Narmora öffnete die Schlösser und zog die Ketten aus den Ösen; klirrend fielen sie zu den Boden. »Geht!«
»Und du?«, fragte Furgas sie besorgt.
Sie lächelte ihn an und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund. »Ich sperre wieder ab und klettere über die Mauer. Ich möchte nicht, dass es heißt, wir hätten den Untergang der Stadt verschuldet, weil wir den Orks die Nebenpforte geöffnet haben.«
Die Zwerge machten den Anfang, danach folgten Rodario und Furgas.
Ein Blick verriet ihnen, dass die Pulks der Angreifer vor den Toren lagerten und sich gar nicht um die Seiten Mifurdanias kümmerten. Zwei Gardisten, die auf den Wehrgängen standen, riefen sie an, sie sollten stehen bleiben und sich zu erkennen geben, doch sie dachten nicht daran.
Lediglich der Schauspieler winkte ihnen zu. »Passt mir auf mein Theater auf! Wir kehren zurück, wenn ihr die Schlacht geschlagen habt. Ich wünsche euch alles Glück!«, rief er heiter.
»Das ist keine Szene aus einem Stück, Rodario«, sagte Furgas mahnend, weil er sich des Ernstes der Lage wohl nicht ganz bewusst war, und schob ihn weiter.
»Aber es erinnert mich alles daran«, gab der Mime zurück. »Ich könnte auch daraus ein Stück werden lassen, ein ausgezeichneter Gedanke, werter Furgas.« Er stellte sich in eine heldenhafte Pose, die Arme an die Hüften gelegt. »Ich als furchtloser, wackerer Wachmann, der entdeckt, wie die Orks nahen und einen Kampf gegen … na, sagen wir ein halbes Dutzend von ihnen gewinnt und die Stadt vor dem Untergang bewahrt.«
Ein Seil baumelte plötzlich über die Mauer. Narmora hangelte sich in Windeseile daran hinab und schloss zu ihnen auf, während die Gardisten laut rufend angerannt kamen und das Tau wieder nach oben zogen, ehe es die Orks bemerkten.
Tungdils Gruppe beeilte sich, in den Schutz des nahen Waldrandes zu kommen, und die drei Schauspieler folgten ihnen hartnäckig.
»Auf ein Wort, Ihr Freunde von Gold und Schätzen. Ihr hättet doch nichts dagegen, wenn wir Euch ein wenig bei Eurem oberirdischen Ausflug verfolgen?«, meldete sich der Unglaubliche Rodario mit einem einnehmenden Strahlen im gebräunten Gesicht, als müsste er schlechte Fische verkaufen und viel Geld damit machen. »Die Zeiten sind unsicher, und Ihr seht mit Verlaub so aus, als könntet Ihr jede grüne Gefahr aus dem Weg räumen. Wir dagegen sind nichts als schwächliche Bühnenkünstler.« Er blickte an sich hinab und zeigte ihm die dünnen Oberarme, die wie Besenstiele aus den teuren Gewändern schauten. »Schaut, zwei Männer, so breit wie einjährige Birken, und eine hübsche, aber nicht eben wehrhafte Frau, die ihre Rüstung nur zur Schau trägt. Sollte sie in die Klauen der Orks geraten, so mögen allein die Götter wissen, was die Bestien mit ihr …«
»Ihr könnt uns begleiten, dagegen ist nichts einzuwenden«, gewährte Tungdil ihnen die Bitte. Da Boïndil an den Auswirkungen seines Bierdurstes litt und seine Beile in einem möglichen Kampf ausfielen, brauchte man den Schwätzer und seine beiden Gefährten womöglich, um einer Rotte Orks eine Ablenkung zu liefern, während er und seine Freunde die Ungeheuer attackierten.
»Sagte der nicht eben ›auf ein Wort‹?«, staunte Goïmgar über den nicht enden wollenden Redefluss.
»Menschen reden viel, wenn sie Angst haben«, gab Bavragor seinen Kommentar dazu ab. »Und der muss den Gehrock gehörig voll haben. Habt ihr ihre Kinderbärtchen gesehen? So wenig Haare hatte ich nicht mal in meinen Säuglingstagen«, frotzelte er.
Tungdil schlug den Weg durch den Hain zum Berg ein, wo sie ihre kostbaren Schätze aufladen mussten. Er war froh, dass sie sich in der Zwergensprache unterhielten und die Menschen die Beleidigungen nicht verstanden.
Es wird lange dauern, bis wir die einzelnen Barren die Treppen nach oben und hinter dem Wasserfall hervor bis zu den Ponys getragen haben. Diese Verzögerung würde Zeit kosten, zumal es eine Verzögerung war, die jemand seiner Ansicht nach mit Absicht herbeigeführt hatte, um sie aufzuhalten.
Er wagte nicht einmal daran zu denken, wie weit Gandogar und seine Begleiter bereits gekommen sein mussten – und fluchte, weil er nun doch daran gedachte hatte. Energisch zwang er sich, sich auf den Weg und die Geräusche des Forstes zu konzentrieren.
»Ho, kleiner Mann, der Ihr der Anführer des kleinen Haufens zu sein scheinet«, sprach ihn Rodario an und tauchte an seiner Seite auf; dass er dabei auf trockene Äste trat, diese knackend brachen, und seine Stimme laut durch den Wald hallte, störte ihn nicht. »Unterirdische …«
»Zwerge«, verbesserte Tungdil automatisch.
»Na schön, Zwerge wie Ihr vermag das Auge nicht jeden Tag zu erblicken, und so wunderte ich mich, was Ihr fünf wohl außerhalb der Unterwelt zu suchen habt. Seid Ihr von Euren Leuten vertrieben worden?«
»Es geht Euch nichts an, Herr Rodario.«
»Wohl gesprochen, es geht mich wahrhaftig nichts an. Aber hättet Ihr dann vielleicht ein wenig Muße, um mit mir und meinen Freuden zu wandern und bei einem Theaterstück mitzuwirken?«, lächelte er. »Wolltet Ihr einwilligen, schriebe ich ein Stück, das sich um fünf Zwerge dreht. Wir wären eine solche Besonderheit, dass uns alle Menschen im Geborgenen Land sehen wollten und uns ihre Münzen nur so zuwerfen würden.«
»Nein, Herr Rodario. Wir haben anderes zu tun.«
»Anderes? Was mag das sein?« Er legte die Stirn in Falten. »Ihr suchet Schätze?«
»Nein, die Feuerklinge!«, juchzte Ingrimmsch undeutlich vom Ponyrücken in der Gemeinsprache. »Wir gehen ins Graue Gebirge und schmieden die Waffe gegen Nôd’onn, und damit schlitzen wir seinen fetten Wanst …«
»Sei still, du besoffenes Stück!«, befahl Boëndal ruppig. »Rede in unserer Sprache, wenn du schon alles verraten musst.«
»Hört nicht auf ihn«, wandte sich Tungdil zum Schauspieler, dessen Gesichts gefährliche Neugier widerspiegelte, und er bemühte sich, gelassen zu wirken, um den Verdacht nicht noch mehr aufkommen zu lassen, in den Äußerungen könnte ein Körnchen Wahrheit sein. »Er ist betrunken und phantasiert.«
»Lasst ihn phantasieren, ich bin ein aufmerksamer Zuhörer. Künstlern kommt eine jede Inspiration recht«, entgegnete Rodario leichthin. »Und die Sache hört sich gut an, das gestehe ich frei heraus. So etwas auf die Bühne gebracht, will das Volk doch hören und sehen. Nur … wo finde ich so kleine Menschen? Kinder? Gnome oder Kobolde mit falschen Bärten?« Er warf die Arme in die Luft. »Ach, das wäre alles nichts! Ich brauche kräftige Burschen, Unterirdische wie Ihr es seid, damit es echt aussieht. Wollt Ihr nicht doch lieber mit uns kommen?«
»Wir sind Zwerge, keine Unterirdischen. Merk es dir.« Boëndal schaute den Mimen böse an. »Schweig endlich, oder willst du dich von den Schwertern der Orks in deinem Bauch inspirieren lassen?«
Der Mann schüttelte die langen braunen Haare und kehrte zu seinen beiden Freunden zurück, wo sich eine leise Unterhaltung entspann.
»Schauspieler«, raunte Boëndal seufzend. »Ich sehe schon, wie der Lange unsere Geschichte auf jedem Dorfplatz ausbreitet, noch bevor wir im Grauen Gebirge angekommen sind. Wenn Nôd’onn auf diese Weise von unserer Absicht erfährt …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Bis er ein Stück zu Ende geschrieben hat, haben wir Nôd’onn schon lange niedergeworfen.« Tungdil klopfte Boëndal beruhigend auf die Schulter. Als er sah, dass der Unglaubliche Rodario ein Reiseschreibbrett vor dem Hals trug und die ersten Blätter mit Notizen voll kritzelte, war er sich nicht mehr ganz so sicher. »Wir nehmen sie mit«, verkündete er nach einer Weile des Überlegens.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Wir nehmen sie mit ins Reich der Ersten. Der Schauspieler wird sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Dort setzen wir sie fest, bis unser Vorsprung groß genug ist oder wir unsere Mission erfüllt haben«, weihte er den Zwerg in seinen Plan ein. »Die Ersten haben sicherlich bequeme, aber ausbruchssichere Kammern, in denen die drei für viele Sonnenumläufe die Gastfreundschaft unseres Volkes genießen dürfen.«
»Falls sie uns begleiten möchten.«
Tungdil zwinkerte ihm zu und freute sich mehr und mehr über seinen Einfall. »Sie werden. Ich schwindele ihm die unmöglichsten Dinge über das Zwergenreich vor, dass er es mit eigenen Augen sehen muss.« Boëndal brummelte etwas in seinen Bart. »Ich sage den anderen Bescheid, damit sie sich nicht wundern.«
Unter dem fadenscheinigen Vorwand, den Sitz der Rüstungen nachzuprüfen, gesellte Tungdil sich zuerst zu Goïmgar und danach zu Bavragor, um sie leise in seinen Plan einzuweihen.
Sie durchquerten den Wald und kamen wieder an den abgeschlachteten Einhörnern vorüber, wo Rodario auf der Stelle Notizen und Skizzen von den einst wunderschönen und friedfertigen Lebewesen machte.
War unsere Flucht richtig? Tungdil plagte beim Anblick der Kreaturen erneut das schlechte Gewissen, Mifurdania und somit die letzten beiden bekannten Einhörner des Geborgenen Landes im Stich gelassen zu haben. Ihr Götter wisst, dass uns keine andere Wahl blieb.
Die Gruppe erreichte den Fuß des Plateaus, an dem der kleine, versteckte Weg auf die Aussichtsplattform führte.
»Achtung!« Boëndals Körper spannte sich und hob den Krähenschnabel kampfbereit. Der Steinmetz fasste den Kriegshammer, und Goïmgar verstand es als Aufforderung, sich hinter seinem Schild zu verstecken.
»Achtung? Wieso Achtung? Gute Leute, was habt Ihr denn vor?«, wunderte sich Rodario, während die Frau ebenfalls ihre Waffen zog. Eine sah aus, als hätte der Erschaffer zwei gebogene Sichelenden genommen und sie rechts und links an ein kurzes Mittelstück angesetzt; die andere verfügte über gerade Klingen. So, wie die Schneiden schimmerten, waren sie auf den Innen- und Außenseiten geschliffen. Ihre Finger wurden von einem Metallkorb vor gegnerischen Attacken geschützt.
Der Schauspieler wandte sich zu ihr um. »Was hast du denn vor, schönste Blüte des Geborgenen Landes?«
Wenn Tungdil eines in den letzten Wochen gelernt hatte, dann war es, auf die Instinkte seiner Freunde zu vertrauen; also hielt auch er sich bereit, einer Bedrohung zu begegnen.
Kurz darauf roch er die noch verborgenen Gegner. Ihre Ausdünstungen waren strenger, süßlicher als die der Orks, und dennoch nahm er ranziges Fett in dem sachten Wind wahr.
Und schon brachen sie aus dem Unterholz.
Eine Horde Bogglins stürmte lärmend auf sie ein. Hinter ihnen traten zwei Orks aus den Büschen, die mit eisenspänengespickten Peitschen auf sie eindroschen und sie gegen die Menschen und Zwerge hetzten.
Die an sich feigen Bogglins schwangen schartige Kurzschwerter, an denen das getrocknete Blut ihrer letzten Opfer haftete. Sie hopsten und hüpften wie die Affen heran, schrien vor Angst und Hass gleichzeitig, stachen und schlugen ohne Können nach den Gegnern. Meist vernichteten sie ihre Feinde allein durch ihre Übermacht und nicht wegen ihrer Tapferkeit. Wo ein Bogglin fiel, eilten drei an dessen Stelle, schlugen zu, bissen und kratzten oder sprangen ihre Gegner an und rissen sie von den Beinen.
»Kreis!«, befahl Boëndal knapp. Bavragor eilte zu ihm und zerrte Goïmgar hinter sich her, dem nichts anderes übrig blieb, dieses Mal mit an der Front zu stehen. Rodario war plötzlich verschwunden, Furgas und Narmora reihten sich dagegen ein.
Die Waffen der Zwerge stießen unaufhörlich nieder und zerschmetterten Schädel und Knochen. Dennoch mussten sie Acht geben, dass ihnen keiner der flinken Angreifer in den Arm fiel. Goïmgar verschanzte sich hinter seinem Schild, sein Kurzschwert stieß wie ein kleiner, silberner Blitz hervor und durchbohrte die Leiber, die nur dürftig von den Lederrüstungen geschützt wurden. Eiterfarbenes Blut spritzte gegen seine Schützung und lief daran herab.
Die Frau kämpfte dreifach so schnell wie die Zwerge; ihre leichten, aber unsagbar scharfen Waffen machte sie den Bogglins überlegen. Bald entwickelte sich das Gefecht zu Gunsten der Menschen und Zwerge, bis die Orks so hart auf ihre kleineren Verwandten einprügelten, dass sie sich voller Todesfurcht gegen die Gruppe warfen.
Ihr Massenansturm drückte den Kreis der Verteidiger zusammen. Die Zwerge behinderten sich bei ihren Ausholbewegungen gegenseitig, die lange Spitze des Krähenschnabels und der Stiel des Hammers verhedderten sich, Bavragor verlor seine Waffe. Sofort sprangen zwei, drei der Kreaturen den Einäugigen an und warfen ihn um; durch die Lücke drängten weitere nach und brachten Tungdil in arge Bedrängnis.
Da ertönte ein lautes Zischen, und eine giftgrüne Rauchwolke stob zwischen zwei Bäumen auf, die laut heulte und knatterte. Ein gewaltiges Ungeheuer mit zwei Köpfen wurde in dem Nebel schemenhaft sichtbar. Es stieß ein dröhnendes Gebrüll aus und spie helle Flammen gegen die Bogglins aus seinem zahnbewehrten Maul. Zwei der Bestien wurden Opfer des Feuers, die anderen standen starr vor Schreck.
Die Ablenkung reichte den Zwergen aus, damit Bavragor seinen Hammer aufheben und die wenigen Bogglins in ihrem Kreis zu Brei schlagen konnte. Auch Tungdil und Boëndal gingen zum Angriff über.
»Ich knöpfe mir das neue Biest vor, wenn es in unsere Richtung kommt«, sagte der Krieger. »Solange es sich um die Bogglins kümmert, lassen wir es gewähren.«
Narmora scherte aus dem Kreis aus, verschwand in den nächsten Büschen und tauchte kurz darauf hinter einem der Einpeitscher auf. Die gekrümmten Klingen durchtrennten den kräftigen Nacken des ersten Orks; zuckend stürzte er auf den Waldboden. Der Peitsche des Zweiten wich sie behände aus. Sie drückte sich von der Erde ab, kam geduckt vor ihm auf und rammte ihm die Waffe mit den geraden Schneiden waagrecht in den Bauch. Die schmalen Spitzen fuhren durch die Kettenringe und die Haut geradewegs in die Innereien und töteten das Ungeheuer.
Eingeschüchtert von dem unbekannten Ungeheuer und der Niederlage ihrer großen Begleiter, verfielen die Bogglins in eine wilde Flucht, die sie in alle Richtungen verstreute; zurück blieben dreißig Erschlagene.
»Jetzt zu dir, widerliche Tionbrut«, knurrte Boëndal, senkte den Kopf und attackierte den Feuerspeier, der sich hastig in den schwächer werdenden Nebel zurückzog.
»Halt«, rief Furgas den Kämpfer zurück. »Das ist Rodario!«
»Was?!«, blinzelte Bavragor, der gerade mit seinem Hammer ausgeholt hatte und den Schlagschwung mit einem Kreiseln um die eigene Achse abfing.
Es raschelte laut, dann erklang ein lautes Lachen. »Die sind vielleicht gelaufen«, hörten sie den Mimen rufen, ehe er in seiner viel zu langen Lederkleidung aus den Schwaden trat. In der Rechten hielt er die riesigen Köpfe, in der Linken zwei Klappstelzen, mit denen er sich größer gemacht hatte.
»Ich dachte mir schon, dass ich Euch als Ungeheuer einen besseren Dienst erweise denn als Kämpfer. Meine Fechtkenntnisse taugen allenthalben auf der Bühne etwas oder zur Belustigung meiner Gegner. Daher griff ich in aller Eile zu ein paar Utensilien, um den Miniaturbestien einmal etwas zu zeigen, vor dem sie Respekt haben sollten. Alchimie ist etwas Wunderbares.«
»Ich hätte dich beinahe getötet!«, sagte Bavragor fassungslos.
»Demnach sah ich also echt aus?«, schnarrte Rodario und verstand es als Kompliment. Er verbeugte sich tief. »Was denn, verehrte Spectatores? Kein Handgeklapper?«, meinte er enttäuscht, als sich die Zwerge weiterhin darauf beschränkten, ihn verständnislos anzustarren.
»Menschen sind wahnsinnig«, stellte Bavragor trocken fest. »Ich dachte immer, Boïndil wäre durch nichts zu übertreffen, aber der hier schlägt alles, was ich an Verrücktheit gesehen habe.«
»Aber seine Verrücktheit hat uns einen sehr großen Dienst erwiesen«, hielt ihm Tungdil vor Augen. »Ohne sie wärst du vermutlich tot, Bavragor. Eine Bestie aus Papier und Stoff, und wir fallen darauf herein …« Er musste lachen, und die anderen Zwerge stimmten nach anfänglichem Zögern ein.
Der Schauspieler verneigte sich wieder, dieses Mal breit grinsend. »Danke, danke. Auch das ist mir Recht, denn ich höre am Klang der Heiterkeit, dass Euch die Vorstellung gefiel.«
Tungdil hielt den Zeitpunkt für passend und rief die drei Menschen zusammen. »Ich habe mich mit meinen Freunden beraten«, eröffnete er ihnen mit geheimnistuerischer Miene. »Ihr habt Euch als vertrauenswürdig erwiesen, und so sollt Ihr die Wahrheit über uns erfahren. Wir sind auf dem Weg ins Zwergenreich der Ersten, zu den Clans, welche die Westpassage gegen die Eindringlinge beschützen.«
»Ich verstehe. Ihr sammelt Euch, um Euch gegen Nôd’onn zu stellen?«, nahm Rodario voller Eifer an. »War das Gefasel von der Feuerklinge demnach keine Phantasie?« Schon suchte er nach seiner Feder.
»Was wir Euch vorschlagen möchten, ist, dass Ihr uns zu den Ersten begleitet, damit Ihr seht, welche Pracht dort herrscht. Das und die Goldmünzen werden die Belohnung für Euren Beistand sein.« Als Tungdil spürte, dass seine Worte bislang nur den geckenhaften Schauspieler in Beschlag nahmen, schwärmte er über die Pracht, die er selbst noch nie gesehen hatte, erfand für den Techniker Furgas die wunderlichsten Konstruktionen, welche die Zwerge angeblich bauten, und berichtete von Rüstungen und Schmuck, dabei hoffend, die Frau damit locken zu können. Am Ende seiner langen Rede angelangt, wartete er ungeduldig auf die Antwort.
Voller Schrecken bemerkte er, dass Bavragor die Hände am Stiel seines blutigen Hammers hatte und sich offenbar bereit hielt, die drei Menschen anzugreifen, sollten sie den Vorschlag ablehnen. Boëndal wirkte nicht weniger kampfbereit.
»Ich könnte damit ein neues Theater eröffnen«, sinnierte Rodario, an seinem Kinnbärtchen rubbelnd. »Furgas, stell dir vor, was wir an Technik auffahren könnten! Wir werden Dinge sehen, wie sie kein Mensch vor uns sah.«
»Meinetwegen«, stimmte Furgas zu, und nur Narmora wirkte alles andere als glücklich. Rodario gab der Frau einen Kuss und strich ihr liebkosend über den Kopf, doch sie verzog den Mund. »Und sie wird auch einwilligen, stimmt’s?!«
Tungdil betrachtete sie ganz genau. Sie war diejenige, welche die Albin im Curiosum darstellte. Aber ihr Gesicht ist nicht elbenhaft genug. Sie ist eine Frau, die durch einen glücklichen Umstand mehr Schönheit als andere Frauen ihrer Rasse abbekam.
»Darf ich fragen, wo Ihr gelernt habt, auf diese Weise zu kämpfen?«, fragte er sie unbekümmert. Er hob den Arm und deutete auf ihre Waffen, die in schmalen Lederhüllen am breiten Gürtel hingen. »Wie nennt man das? Ich habe dergleichen noch nie gesehen.«
»Sie heißen Halbmond und Sonnenstrahl. Ich habe sie mir ausgedacht.«
»Ihr?«
Furgas gab ihr einen neuerlichen Kuss. »Sie stellt die Albin in unserem Stück dar, und wir dachten uns, dass wir den Albae Waffen geben sollten, wie man sie seltener sieht«, erklärte er strahlend und stolz auf den Einfallsreichtum seiner Gefährtin. »Es dauerte lang, bis wir einen Schmied fanden, der sie anfertigen konnte.«
»Das glaube ich Euch gern«, meinte Tungdil und gab sich mit der ersten Auskunft zufrieden. Er deutete auf den Steilpfad. »Wir gehen da hinauf, ehe die Bogglins ihren Mut wieder finden.«
Doch Tungdil dachte sich seinen Teil. Solche Waffen denkt man sich nicht einfach aus, und schon gar nicht beherrscht man sie dann so gut wie Narmora.
In den Gesichtern von Boëndal und Bavragor las er, dass sie ebenso dachten wie er. Diese Frau, glaubten sie, war eine echte und herausragende Kämpferin, die sich aus irgendwelchen Gründen lieber auf einer Bühne als auf dem Schlachtfeld aufhielt.
Der Zwerg sah Zärtlichkeit in den Augen Furgas’, als er die Frau in die Arme schloss. Hat die Liebe zu dem Mann bewirkt, dass sie dem Krieg den Rücken kehrte?, grübelte er. Bei Gelegenheit würde er sie danach fragen. Sicherlich ist sie eine Söldnerin in Idoslân oder für Königin Umilante gewesen. Aber dafür sieht sie noch sehr jung aus.
Furgas und Narmora halfen dem Schauspieler, aus der überlangen Hose zu steigen. Goïmgar kümmerte sich um seine verschreckten Ponys, die während des Kampfes erstaunlicherweise nicht Reißaus genommen hatten; Boïndil lag noch immer schnarchend über dem Rücken des kleinen Pferdes und schlief seinen Rausch aus.
»Hört euch den an«, meinte Bavragor. »Er sägt den Hain nieder.«
»Ich freue mich schon auf sein Gesicht, wenn er hört, dass er ein Scharmützel verpasst hat«, sagte Boëndal voller Schadenfreude. »Er wird aus Gram kein Bier mehr anrühren.«
Wie in einer kleinen Prozession stiegen sie hinauf zum Plateau, von wo aus sie Mifurdania und die Umgebung sehen konnten. Dichter Rauch hing über der Stadt, kleine schwarze Punkte wimmelten um sie herum. Es sah nicht so aus, als könnten die Verteidiger einen Sieg gegen die Horden Nôd’onns erringen. Der bedrückende Anblick verdunkelte sogar das sonnige Gemüt des Schauspielers. Narmora stand unbeteiligt am Rand der Steinplattform und betrachtete aufmerksam den Wald unter ihnen, während Furgas zusammen mit den Zwergen zum Wasser ging, um sich das Blut der Bogglins von den Fingern zu waschen.
»Wohin gehen wir jetzt?«, erkundigte er sich, als er bemerkte, dass es hier oben keinen weiteren Weg mehr gab.
»Wieder hinunter, sobald wir etwas aufgeladen haben«, antwortete ihm Tungdil. »Ehe wir nach Mifurdania gingen, haben wir die Geschenke für die Ersten versteckt. Sie liegen in einer kleinen Höhle hinter dem Wasserfall.«
»Sollen wir Euch helfen?«, bot Furgas sich an.
»Nein, nicht nötig«, wehrte der Zwerg ab, um zu verhindern, dass sie das Geheimnis der Stollen erkundeten. »Rastet ein wenig, damit Ihr später Wache halten könnt, wenn wir uns ausruhen.« Er nickte ihm zu und kehrte zusammen mit Goïmgar, Bavragor und Boëndal in den Schacht zurück.
Es wurde eine elende Plackerei. Sie schufteten Stunde um Stunde, bis die Barren aus Gold, Silber, Palandium, Vraccassium und Tionium nach oben geschafft waren. Die Anstrengungen der Schlacht und der Schlepperei sorgten dafür, dass sie bei Einbruch der Dunkelheit müde gegen den Fels sanken und einschliefen.
Boïndil war kurz vor ihrer Nachtruhe aus seinem Rausch erwacht und schämte sich sehr – nicht, weil er so viel gesoffen hatte, sondern weil er so wenig vertrug, wie ihm Bavragor unmissverständlich klar machte.
Die Schauspielertruppe betrachtete er mit äußerstem Misstrauen und zog es vor, nur wenige Worte mit ihnen zu wechseln. Da er die Schlacht gegen die Bogglins verpasst hatte, konnte er ihren Kampfgeist nicht einschätzen, und bis sie ihn nicht ebenso überzeugten wie die anderen, behielt er es sich vor, unfreundlich zu sein. Rodarios Charme prallte wirkungslos an ihm ab.
»Dein Reich gehört uns, Gundrabur«, sagte der Alb, der neben dem Bett des Großkönigs stand. Schwärze umspielte ihn und machte ihn beinahe unsichtbar. »Wir nehmen es uns einfach – so wie wir uns schon das Reich der Fünften nahmen.«
»Und du wirst nichts dagegen tun können.« Ein zweites Albgesicht tauchte aus der Finsternis des Zimmers auf und schaute ihn an. Schwarz tätowierte Symbole, die seine fahle Haut noch mehr betonten, prangten in seinem Gesicht und verliehen ihm ein Furcht einflößendes Äußeres. »Du wirst tot sein und in der ewigen Schmiede bei deinem Gott Vraccas sitzen und jammern.«
»Man wird dich vergessen, du schwächlicher alter Zwerg«, prophezeite ihm ein Dritter, der lautlos aus der Dunkelheit erschienen war und nun zu seinen Füßen stand. »Du bist der Großkönig, der in seinen letzten Tagen vieles wollte und nichts davon erreichte.« Er lauschte, die violetten Augen zur Decke gerichtet. Ein helles Pochen ertönte, ein Meißel wurde in Fels getrieben. »Hörst du das, Gundrabur? Das sind die Clans der Zweiten. Sie entfernen deinen Namen, weil du ein schlechter Herrscher warst.« Aus einem Meißel wurden schlagartig tausende; das Klirren und Hämmern fraß sich in Gundraburs Schädel. »Nichts wird an dich erinnern, dein Zeitalter wird das Namenlose Zeitalter genannt werden, dem die Schmach der Niederlage folgte. Durch deine Schuld, Zwerg. Durch …«
»Gundrabur! Gundrabur!«
Die Albae drehten sich zur Tür um, die aufgestoßen wurde. Helles Licht fiel in den Raum.
»Wir sehen uns bald wieder«, verabschiedeten sie sich gleichzeitig und verschwanden in einer Schwärze, die nicht einmal seine Augen zu durchdringen vermochten.
»Gundrabur!«
Der Großkönig schreckte zitternd und mit klopfendem Herzen aus seinem Traum und brauchte lange, bis er sich in der Wirklichkeit zurechtfand. Ächzend fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht.
Auf seinem Bett saß Balendilín; er wischte ihm den kalten Schweiß von der Stirn und wrang ihn in die kleine Schale, die auf seinem Bauch stand und gefährlich ins Wanken geriet. »Du hattest einen Albtraum«, sagte sein Berater beruhigend und drückte seine Hand.
»Sie warten auf mich«, flüsterte Gundrabur erschrocken und sah noch älter aus als sonst – ein uralter Zwerg, der zwischen den Laken zu versinken drohte. »Und sie haben Recht.« Rasch, aber stockend berichtete er ihm von seinem Traum. »Ich werde dieses Bett nicht mehr lebend verlassen, Balendilín«, seufzte er. »Dabei wollte ich im Kampf gegen Nôd’onn sterben oder wenigstens noch einmal in meinem Leben einem Ork den Schädel spalten.« Er lachte und hustete gleichzeitig. »Die Dämonen wissen, woher diese Schwäche kommt.«
Auch Balendilín konnte sich die Ursache für Gundraburs Befinden sehr genau denken. Nach dem Genuss des Bieres, das sie im Anschluss an die Unterredung mit Bislipur getrunken hatten, hatte er sich drei Tage lang unwohl gefühlt, sein Magen hatte gegen jegliches Essen und Trinken aufbegehrt, und er hatte Fieber bekommen. Was er mit seiner gesunden Konstitution einigermaßen gut verkraftet hatte, richtete bei dem betagten Großkönig Verheerendes an.
Inzwischen hate er in Erfahrung gebracht, dass der Bedienstete, der das Essen gebracht hatte, unterwegs mit Bislipur zusammengestoßen war. Bislipur verstand sich auf das Ränkespiel, als wäre er bei den Kobolden in die Lehre gegangen, doch nachweisen ließ sich ihm nichts.
Mit diesem Giftanschlag hat er eine Stufe erreicht, die ihn zu einem Mörder werden ließ. Zu einem Mörder am höchsten Herrscher unseres Volkes. Insgeheim schwor sich Balendilín, ihn bei dem geringsten Beweis für seine verbrecherischen Taten anzuklagen, zu verurteilen und hinrichten zu lassen. Und wenn sein Gegner nicht bald einen Fehler beging, würde er dafür sorgen, dass ihm einer unterlief.
»Ich habe keine Nachkommen und deshalb dich zu meinem Nachfolger ernannt«, sagte Gundrabur schwach. »Du wirst die Clans der Zweiten führen und ihnen ein besserer König sein, als ich es war.«
Balendilín tupfte ihm die Schweißperlen von der hohen Stirn. »Du bist ein guter König gewesen«, widersprach er, »und du bist es immer noch.«
Gundraburs Augen wurden feucht. »Ich möchte zur Hohen Pforte, wo ich meine besten Schlachten focht.«
»Das ist kein guter Gedanke. Der Ausflug kann dich in deiner Verfassung umbringen.«
»Dann ist es Vraccas’ Wille, und der Platz wird frei für dich!« Er stellte die Schüssel zur Seite und richtete sich auf. »Meine Axt, meine Rüstung«, befahl er und erhielt mit jedem Stück der Rüstung, das er anlegte, mehr von seiner früheren Stattlichkeit zurück. Lederwams, ein leichtes, knielanges Kettenhemd, steinschmuckbesetzte Metallverstärkungen für den Hals, die Schultern und die Brust, dazu kamen der Helm und die Handschuhe, eisenverstärkte Stiefel und Lederhosen. Schließlich nahm er seine Axt, deren Stiel bis zur Hüfte reichte, und schritt zum Ausgang.
Die bittenden Worte seines Beraters bewirkten nichts, der Großkönig hatte sich zu seinem Vorhaben entschlossen und war durch die zwergische Beharrlichkeit nicht mehr davon abzubringen.
Gemeinsam marschierten sie durch die Gänge des Zwergenreiches. Balendilín stützte den Großkönig unterwegs und bei all den kleinen Pausen, die sie nach ein paar Treppenabsätzen einlegen mussten. Endlich gelangten sie an den Damm, den ihre Vorfahren gegen die Flut der Orks und anderen Bestien errichtet hatten, und stiegen auf den höchsten Wehrgang.
Aufstöhnend setzte sich Gundrabur auf das niedere Steinstück zwischen zwei Zinnen. Der Schweiß stand in seinem Gesicht, die Hände und Arme zitterten, aber er machte ein glückliches Gesicht. Als der Südwind mit seinen weißen Haaren spielte, die durchsichtig wie dünne Wolle waren, schloss er die Augen.
»Bislipur hat etwas in das Bier getan, was mich schwächt, das denkst du sicher«, sprach er. »Und ich denke, dass du damit Recht hast. Aber auch wenn er mit allen Mitteln kämpft, werde nicht wie er, Balendilín, um ihn zu besiegen, sonst wirst du ebenso schlecht und niederträchtig.«
Balendilín trat neben seinen Herrn und betrachtete ihn. »Was soll ich sonst gegen ihn tun? Bekämpft man Feuer nicht mit Feuer?«
»Er wird sich verraten, und dann musst du zur Stelle sein, um seine Falschheit allen vor Augen zu führen, damit selbst seine besten Freunde von ihm abfallen. Aber vorher bewahre Schweigen, sonst werden dich die Clans des Vierten einen Schreihals nennen. Wasser löscht das Feuer gründlicher und hinterlässt keine verbrannten Stellen, wie es ein Gegenfeuer tun würde.« Die trüben Augen Gundraburs richteten sich auf ihn. »Sei dieses Mal wie das Wasser, Balendilín, dem Wohl der Zwerge willen.« Sein Blick schweifte über den breiten Graben, in dem die verrotteten Gebeine zahlloser Bestien lagen. »Kein Ork kam während meiner Regentschaft auf diese Seite«, murmelte er, und ein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Wir haben das Geborgene Land vor den Ausgeburten Tions bewahrt. Nun retten wir es vor der Bedrohung von innen heraus.«
Er schwieg eine Weile, ließ den Anblick der majestätischen Felsen auf sich wirken und sog den Abendwind prüfend ein.
»Hast du sie mir geschickt, mein treuer Freund?«, raunte er dankbar. »Wolltest du mir die Gelegenheit geben, wie ein Krieger zu sterben?« Er hob die Axt und prüfte ihre Schärfe mit dem Daumen.
Im gleichen Moment schlugen die Wachen auf den Zinnen Alarm: Die sich nähernden Ungeheuer waren bemerkt worden. Dröhnende Hörner riefen die Zwerge zu den Waffen, die Türen der Festung flogen auf, die am Wall stationierten Krieger verließen ihre Unterkünfte und eilten die Treppen zu den Wehrgängen hinauf.
Balendilín betrachtete das immer jünger wirkende Gesicht seines Königs. Der Geruch der verhassten Orks trug das Feuer in seine Lebensesse zurück, machte die Hand um den Griff fest und die Augen klar. Ein Wunder!
»Lass die Brücke ausfahren«, befahl Gundrabur und sprang auf. Die Beine, die eben noch unter der Last des Kettenhemds gezittert hatten, trugen ihn mit Leichtigkeit, und er schien um einige Fingerlängen gewachsen zu sein. »Ich möchte sehen, ob die Orks immer noch so wenig taugen wie zu meinen großen Zeiten und ob sie ein alter Zwerg in die Flucht schlagen kann.«
Als das Tor sich hob, die Stützpfeiler aus dem Boden des Grabens fuhren und sich die ersten Steinplatten zu einem Weg verbanden, der über die Schlucht führte, formierten sich fünfhundert Zwerge zu einer Eskorte für ihren Großkönig.
Balendilín unternahm einen letzten Anlauf. »Du wirst dabei sterben, Gundrabur. Ich bitte dich …«
Der alte Zwerg legte ihm die Hand auf die Schulter, danach reichte er sie ihm und drückte sie kräftig. »Ich will sterben, mein treuer Freund, ehe ich am Gift dahinsieche. Bislipur wird nicht die Genugtuung bekommen, mich heimtückisch umgebracht zu haben«, raunte er ihm zu und umarmte ihn lange. »Mein Tod wird ruhmreich sein, wie es sich für einen unseres Volkes gebührt. Man wird sich mit Achtung daran erinnern.« Er löste sich von seinem Freund und Berater. »Die ersten zehn Orks, die durch mich fallen, sind für deinen verlorenen Arm. Lebewohl, Balendilín. In der Schmiede von Vraccas sehen wir uns wieder«, lachte er ihm zu und wandte sich um. »Ihr Krieger aus dem Stamm Beroïns!«, rief er laut. Die Wände der Festung warfen seine Stimme zurück und trugen sie noch weiter. »Kämpft mit mir und verteidigt unser Reich und das Geborgene Land!«
Die Zwerge brachen in Jubelrufe aus und freuten sich, dass der Großkönig an ihrer Seite gegen die Orks zog, denn sie ahnten nichts von seinem heimtückisch beigebrachten Leid.
Wir sehen uns wieder. Balendilín schnürte es die Kehle zu, als er seinem Freund hinterherschaute, wie er erhaben durch das Tor schritt, die Brücke entlang, gedeckt von dem Feuer der Armbrustschützen und Katapulte, bis er und seine Krieger auf die ersten Reihen der Bestien trafen, um den Nahkampf zu beginnen.
Es dauerte lange, bis der Schreckensruf erschallte, dass Gundrabur gefallen sei. Im gleichen Augenblick beschloss Balendilín entgegen des Ratschlags des Großkönigs, Feuer zu sein und Bislipur zu töten. Es lag nicht in unserer Natur, Wasser zu sein, dachte er grimmig. Wir lieben das Feuer.
Am fünften Tag nach dem Tod des Großkönigs ruhten die Geschäfte im Reich der Zweiten noch immer. Die Zwerge aller Clans versammelten sich zu tausenden in der riesigen Halle der Trauer, deren Säulen unendlich weit nach oben zu ragen schienen.
In der Mitte stand der Steinsarkophag, den die besten Steinmetzen des Stammes angefertigt und mit den schönsten Gravuren versehen hatten, welche die Taten Gundraburs rühmten und vor allem nicht die letzte, siegreiche Schlacht gegen die Orks an der Hohen Pforte vergaßen.
In den Deckel war das vollkommene, wenn auch jugendlichere Ebenbild des Zwergs eingemeißelt worden, ein Gundrabur aus Marmor, in seiner besten Rüstung, die Finger um den Stiel seiner Axt gelegt.
Er war erhöht aufgebahrt worden, damit man ihn auch in der letzten Reihe und aus weiter Entfernung erkennen konnte. Dünne Sonnenstrahlen fielen durch die Lichtöffnungen des Berges aus allen vier Himmelsrichtungen auf ihn und tauchten ihn in einen überirdischen Glanz.
Die Zeit des Abschieds. Ein ernster Balendilín schritt die Stufen zum Sarkophage hinauf, näherte sich dem Fußende und blieb davor stehen. Er kniete nieder, und seine Stirn senkte sich, um dem Gefallenen den schuldigen Respekt zu erweisen. Danach erhob er sich und schaute gefasst über die Menge der Zwerge, deren Oberhaupt er jetzt sein sollte.
»Er hat die Feinde an der Hohen Pforte gerochen, ehe die Wachen sie erspähten. Er hat unsere Feinde immer vor allen anderen erkannt und uns vor ihnen bewahrt«, rief er laut. Unwillkürlich schaute er zu Bislipur, der sich mit den Clans der Vierten am Rand der Versammlung aufhielt, es sich aber nicht erlauben konnte, bei der Bestattung Gundraburs abwesend zu sein. »Unser König geht, ehe er seinen Traum von einer erstarkten Gemeinschaft der Stämme unseres Volks in die Tat umsetzen konnte, aber er begann etwas Neues, etwas Großartiges. Ich schwöre bei Vraccas dem göttlichen Schmied, dass seine Ziele nun meine Ziele sind und ich nicht eher ruhen werde, bis ich sie erreiche.«
Die Versammelten bekundeten ihre Zustimmung, indem sie mit den Stielen ihrer Äxte gegen den Boden stießen. Ein unterirdisches Gewitter rollte durch den Berg.
Mehr Worte brachte er nicht heraus, denn die Trauer schnürte ihm die Kehle zu. So ging er zum Kopfende des Steinsargs, wo er die Stirn des Abbilds küsste, noch einmal sein Knie beugte und hinabstieg.
Fünfzig Träger eilten herbei, schoben lange Stangen in die unauffällig angebrachten Ösen des Sarkophags und hoben ihn auf ein Kommando hin an. Sie trugen ihre Last schweigend die Treppen hinab und schritten durch die Halle, sodass die Zwerge sich ein letztes Mal vor dem toten Herrscher verbeugen konnten, ehe er in die Halle der Könige gebracht wurde.
Hinter dem Sarg ging Balendilín, der eine Nacht lang allein Wache bei dem König halten würde. Wenn er am nächsten Morgen aus der Grabkammer zurückkehrte, würde er die Krone der Zweiten tragen und eines Tages neben Gundrabur seine Ruhe finden.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, dass sich Bislipur in die erste Reihe schob. Seine Augen musterten ihn, als wollte er seine Gedanken ergründen, um zu wissen, was ihm von ihm drohte. Fürchte dich vor mir, Bislipur. Du entkommst der gerechten Rache nicht. Balendilín schaute unverwandt nach vorn und tat so, als hätte er den kräftigen Zwerg gar nicht bemerkt.
Die Träger erreichten die Halle der Könige und platzierten den Sarkophag auf dem vorgesehenen Basaltpodest. Das neue Lichtloch hoch oben in der Haut des Berges war geschlagen worden, sodass die Sonne des Geborgenen Landes das steinerne Antlitz Gundraburs beleuchtete.
Die Zwerge verließen den weitläufigen Raum, in dem sich die sterblichen Überreste der Könige des Stammes befanden, sechsundzwanzig an der Zahl.
Balendilín begab sich an das untere Ende, stellte seine Axt mit dem Griff voran auf den Boden und legte seine Rechte auf den Kopf der Waffe. Seine Augen richteten sich auf die steinernen Züge seines Freundes und Herrschers. Lebewohl, Gundrabur. Er wurde selbst zu Stein, spürte die Zeit nicht mehr. Seine Gedanken verloren sich beim Anblick des Sarkophages im Nichts, sein Verstand leerte sich völlig und trieb auf den Wogen des Kummers dahin.
Gelegentlich bildete er sich ein, dass Stimmen zu ihm wisperten, die Geister der anderen, aber er verstand sie nicht.
Die Legenden der Zweiten wussten zu berichten, dass die Seelen der verstorbenen Könige aus der Schmiede von Vraccas kamen und ihre Nachfolger genau prüften, weil sie sich vorbehielten, künftige Könige auf ihre Art abzulehnen. Es hatte Thronanwärter gegeben, die hinter den Toren der Halle geblieben waren und nie mehr gesehen wurden.
Ihm blieb dieses Schicksal erspart.
Als er am nächsten Morgen wie gerädert, müde und erschöpft durch das Tor trat, wurde er von der gleichen Menge Zwerge mit einer Verbeugung und dem Trommeln der Axtstiele empfangen. Sie begrüßten ihren neuen König, man reichte ihm malziges Bier, Brot und Schinken zur raschen Stärkung.
Balendilín nahm kleine Bissen, spülte sie mit Bier hinunter und erklomm das Podest, auf dem zuvor der Sarg Gundraburs gestanden hatte.
»Ich wollte dieses Amt nicht«, sagte er laut und deutlich. »Gern hätte ich Gundrabur nochmals einhundert Zyklen oder mehr auf dem Thron gesehen und ihm treu gedient, aber es ist anders gekommen. Der Hammer Vraccas’ traf unseren König, nachdem er vierzehn Orks abschlachtete und von vier Pfeilen getroffen wurde.« Er schaute über die Menge. »Doch er hat mich als seinen Nachfolger ernannt, und so frage ich euch: Möchtet ihr mich als neuen König?«
Ein lautes »Ja« schallte ihm von allen Seiten entgegen, wieder pochte Holz auf Stein, dann riefen sie seinen Namen, und ihm lief vor Ergriffenheit ein Schauder über den Rücken.
»Ihr habt gewählt. Lasst uns Gundrabur niemals vergessen und seinen Traum in die Tat umsetzen«, rief er ihnen zu. »Der Schutz des Geborgenen Landes ist unsere gemeinsame Aufgabe, gleich welcher Stamm und Clan.« Er suchte Bislipur in der Menge und fand ihn dort, wo er gestern schon gestanden hatte. »Komm zu mir!«, bat er und streckte die Hand einladend aus.
Verdutzt machte der Zwerg sich auf, erklomm hinkend das Podest und grüßte den neuen König mit einem Kopfnicken. Die kalten braunen Augen schauten verunsichert.
»Unsere Stämme haben keinen Großkönig mehr, und die beiden Zwerge, von denen einer das Amt bekleiden wird, befinden sich auf ihrer letzten Prüfung. Es ist kein Geheimnis, dass Bislipur und ich Gegner in unseren Anliegen sind. Bis einer der beiden Anwärter zurückkehrt, gelobe ich, unseren Streit zu beenden, damit das Verhältnis zwischen unseren Stämmen nicht vergiftet wird und es vielleicht sogar zu einer Feindschaft kommen kann.« Er reckte sich. »Bedenkt: Jeder Zwist zwischen uns Zwergen stärkt das Böse. Was immer auch der nächste Großkönig befehlen wird, wir werden ihm gehorchen und ihm folgen.« Balendilín hielt seinem Gegenüber die offene Hand hin. »Teilst du meine Ansicht?«
Bislipur konnte nicht anders, er musste einschlagen, aber wirkte dabei keinesfalls gedemütigt oder wütend, und das wiederum machte den König stutzig.
»Ich schwöre, dass ich wie du meine Überzeugungsreden im Rat der Stämme einstelle, bis einer von den beiden Anwärtern zurückkehrt«, wiederholte er die Worte deutlich. »Wir wollen Verschiedenes, aber wir haben denselben Feind: das Böse. Es zu vernichten, gleich in welcher Gestalt es daherkommt, war und wird die Aufgabe unseres Volkes sein.«
Die Zwerge jubelten den beiden zu, die sich die Hände schüttelten und fest in die Augen schauten. Keiner sah, dass sich ihre Blicke einen ewig währenden Eid der Feindschaft leisteten.
»Damit ihr seht, wie ernst es mit meinem Eid ist, schlage ich vor, dass wir den Kampf gegen das Böse gleich beginnen«, sprach Bislipur. »Können wir zulassen, dass die Orks vor den Toren von Ogertod morden und brandschatzen?« Er wandte sich den Zwergen zu. »Ich sage nein!«
Die lauten Rufe gaben ihm Recht und die Gewissheit, dass sie genauso empfanden wie er.
»Ich habe eine Gesandtschaft durch die Tunnel zu den Clans der Vierten in den Norden geschickt, damit sie mit fünftausend unserer besten Krieger zurückkehren«, eröffnete er dem überrumpelten Balendilín und der Versammlung. »Die Clans der Vierten und der Zweiten werden die Gegend von Orks befreien. Gemeinsam!« Er hob die Arme und riss seine Doppelkopfaxt in die Höhe; gleißend reflektierte sie das Sonnenlicht. »Geben wir Gundrabur ein Stück seines Traumes von einem Geeinten Zwergenheer!«
Sie jubelten ihm zu und trommelten ihre Begeisterung heraus, dass der Granit erbebte.
Du Bastard. Balendilín machte gute Miene zum bösen Spiel. Ich weiß, was du in Wirklichkeit beabsichtigst, dachte er, während er das harte Gesicht Bislipurs musterte. Du holst dir dein Heer, um dich gegen mich abzusichern. Oder strebst du nun selbst nach dem Thron des Großkönigs, um deinen Elbenkrieg durchzusetzen?
Bislipur wandte sich ihm zu, seine Augen blickten eisig, erbarmungslos. »Die Jagd wird bald eröffnet, König Balendilín«, versprach er ihm und schritt die Stufen hinab. Er ließ offen, wer das Opfer seiner Hatz sein würde.
Nach einer kalten, vorwinterlichen Nacht beluden sie am nächsten Morgen die Ponys mit den Barren und brachen in Richtung Westen auf. Von der Stadt stiegen keine Qualmwolken mehr gen Himmel; die Häuser waren verlassen, die dunklen Punkte lagen ruhig vor den Mauern und regten sich nicht mehr. Jeder Fleck bedeutete eine Leiche, und die Ebene um Mifurdania hatte sich schwarz gefärbt.
Tungdil hasste die Orks und Nôd’onn mehr denn je. Gutenauen, Mifurdania, unzählige Dörfer, Gehöfte und Weiler, das halbe Geborgene Land steht in Flammen. In der Ferne, in Richtung Nordwesten, stieg eine Staubwolke auf; dort musste das Orkheer ziehen. Ich gebe niemals auf.
Unterwegs aßen sie getrocknetes Obst und Brot, was die Zwerge nur mit Widerwillen hinabwürgten, aber es gab nichts anderes mehr. In ihrer Eile hatten sie versäumt, in Mifurdania neuen Proviant zu beschaffen, und zurück wollte keiner mehr. Immerhin fand Goïmgar unterwegs ein paar Pilze, die sich die Zwerge roh gönnten.
»Sollen wir sie tatsächlich mit in die Röhren nehmen?« Boïndil warf einen Blick über die Schulter nach hinten, wo die drei Menschen liefen.
»Warten wir ab, was wir nach achtzig Meilen vorfinden«, sagte Tungdil. »Vielleicht gibt es den Eingang nicht, und wir müssen weiterhin laufen.«
»Dann bin ich dafür, dass wir Ponys für alle kaufen«, meldete sich Goïmgar.
»Es schadet deinen dünnen Beinchen gar nichts, wenn du sie gebrauchst«, sagte Ingrimmsch geringschätzig. »Selbst das Menschenweib ist stärker als du. Streng dich an und benimm dich wie ein Kind des Schmieds.«
Nach zwei Sonnenumläufen in strömendem Regen gelangten sie in eine Ebene, die nördlich von Bergen umsäumt wurde. Tungdils Karte nannte die Erhebungen »Königssteine«, und zu ihren Füßen lag die Stadt Königsstein. Der Zwerg erinnerte sich, dass er von dem Protz der Stadt in Lot-Ionans Bücher gelesen hatte. Hier unterhielten die meisten niederen Adligen des Königreichs Weyurn kostspielige Häuser und kleine Paläste. Nicht, weil die Luft besonders gut war, sondern des Prestiges und der Bälle wegen.
»Wir kaufen Ponys und reisen weiter«, verkündete er, während sie auf die Tore von Königsstein zumarschierten. »Aber wir gehen nicht bis zum Kern der Stadt, wo die Reichen ihre Behausungen errichtet haben. Unseren Proviant und die Tiere sollten wir auch in den einfacheren Vierteln bekommen.«
»Äußerst bedauerlich«, meinte Rodario näselnd und ahmte den blasierten Tonfall eines Adligen nach. »Da lebte man in Nachbarschaft zu den Reichen und hatte doch niemals die Gelegenheit, einen Abstecher nach Königsstein zu tätigen.« Es beruhigte ihn, die massiven Mauern und zahlreichen Soldaten zu sehen. Diese Wälle boten ausreichend Schutz vor den Grün- und Schwarzhäuten. »Wir könnten ein kleines improvisiertes Gastspiel geben«, richtete er sich mit blitzenden Augen an seine beiden Begleiter. »Ein Stegreiftheater, wie wäre es? Mit dem bescheidenen Lohn füllen wir unsere leeren Beutel, damit wir nicht länger Hunger darben.«
»Kannst du auch normal sprechen?«, knurrte Ingrimmsch und fuhr sich über die stoppeligen Kopfseiten; eine Rasur wurde dringend notwendig.
»Ich spreche, wie mir es passt, Herr Zwerg«, gab der Schauspieler gekränkt zurück. »Es gibt Wesen, die beherrschen mehr Ausdrucksmöglichkeiten als Grummeln, Knurren und Rülpsen. Warum sollte ich meine Bildung verhehlen, wenn Ihr das Fehlen nicht hinterm Berg haltet?«
»Ich bin gespannt, was dir das Geschwätz gegen eine Schweineschnauze einbringt«, murmelte der Zwergenkrieger gehässig.
Boëndal dagegen wollte wissen, wie er den Flammenstrahl gegen die Bogglins zum Einsatz bringen konnte.
Rodario strahlte. »Das hat sich Furgas ausgedacht, es ist ein Röhrchen voller leicht brennbarer Bärlappsamen, die ich über einen glimmenden Docht aus dem falschen Bestienkopf blase, und schon speit es Feuer.« Er wickelte seinen Ärmel auf. »Für meine Auftritte als Magus gibt es das auch noch in der kleineren Variante. Ich habe ein Röhrchen am Unterarm befestigt. Das eine Ende mit dem kleinen Feuerstein zeigt nach vorn, am anderen Ende ist ein kleiner Lederbeutel, der mit Luft und Bärlappsamen gefüllt ist.« Er gestikulierte wild, um seine Beschreibung anschaulicher zu machen. »Wenn ich auf den Beutel drücke, schießen die Samen vorne heraus. Gleichzeitig wird durch das Drücken ein Schnürchen betätigt, der Feuerstein wird nach hinten gezogen, ein Funken sprüht und entzündet die herausfliegenden Samen.« Seine Hände täuschten die Bewegungen eines Feuerballs nach. »Fertig ist die Zaubermacht und mit ihr das magische Feuer.«
Boëndal hatte aufmerksam zugehört, dann schenkte er Furgas einen anerkennenden Blick. »Eine pfiffige Erfindung.« Der Magister technicus bedankte sich mit einem Kopfnicken.
Vor dem Tor stauten sich die Karren und Wagen von Händlern und Flüchtlingen, die dem Inferno von Mifurdania entkommen waren.
Die Gardisten untersuchten die Ladungen und hielten genau fest, was die Kaufleute und Bauern nach Königstein brachten; danach zogen sie Zoll von ihnen ein. Das blieb auch den Zwergen nicht erspart, und sie verloren etliche Münzen an die Beamten. Darüber hinaus durften sie als Fremde nur in die einfachen Stadtgebiete vordringen und erhielten genaue Anweisungen, wo sie übernachten sollten.
So marschierten sie eine steile, enge Straße hinauf und bogen in eine Gasse ein, durch die gerade einmal ein Mensch passte. Die oberen Stockwerke der Fachwerkhäuser rückten so dicht zusammen, dass ihre Wände einander fast berührten. Das Tageslicht fiel nur spärlich auf das unebene Pflaster. Die Zwerge fühlten sich sogleich an einen Stollen erinnert, nur stank es unter der Erde nicht nach Abwasser und Fäkalien. Ein Schild ragte von der Wand mitten ins Gässchen, auf das ein tanzendes Pony gemalt worden war; sie hatten die Kneipe gefunden.
Angewidert kramte Rodario in seinem nassen Mantel und holte ein Tuch hervor, das er sich vor Mund und Nase hielt.
»Bei allem Respekt, aber hier residiere ich gewiss nicht«, bekundete er, und auch Furgas und Narmora stand Abscheu ins Gesicht geschrieben. »Ich sage Euch, was wir machen: Wir suchen uns eine für uns angenehmere Bleibe und treffen uns morgen früh wieder am Tor, einverstanden? Bis dahin kann ein jeder von uns seiner Wege gehen. Meine Truppe und ich geben in einer Kneipe eine Vorstellung. Ist das ein akzeptabler Vorschlag?«
Ingrimmsch nickte sofort, weil er froh war, den Schwätzer loszusein.
Der Mime machte auf dem Absatz kehrt. Seine leuchtend bunten Gewänder flatterten im Wind, und wenn er seinen Seesack nicht geschleppt hätte, wäre er dem Bild eines Adligen wirklich sehr nahe gekommen. Narmora und Furgas folgten ihm; schmatzend lösten sich ihre Stiefel aus dem stinkenden Schlamm der Straße.
»Um ehrlich zu sein, ich finde es auch nicht besonders einladend«, meldete sich Goïmgar und spähte in das Sträßchen.
»Du hast die Garde gehört. Wir sollen hier absteigen.« Boëndal nahm die Ponys und führte sie in den Stall, während die vier auf den Eingang zusteuerten. »Ich passe auf sie und unsere Barren auf. Im Stall sind sie sicherer als im Zimmer, nehme ich an. Wenn ihr mein Horn hört, kommt mir zu Hilfe.«
»Einverstanden. Wir lassen dir Essen bringen.« Tungdil drückte die Tür auf und fand sich in einer Kaschemme wieder, in der die Rauchschwaden vom Kamin und den Pfeifen einen beinahe undurchdringlichen Dunstvorhang bildeten; der Schlot zog offensichtlich nicht so, wie er sollte. Sie schritten an den Gästen vorbei zu einem Tisch neben dem Kamin und reckten die nassen Schuhe hin zum Feuer.
»Wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf«, verkündete Goïmgar etwas versöhnter. »Ich hasse Regen.« Stumm stimmten ihm die Zwerge zu, denn nass wurden sie in ihren steinigen Reichen nur, wenn sie es wollten, und das war selten genug. »Nur … es hätte ein wenig angenehmer sein können.«
Tungdil war die Umgebung egal, solange kein Regen durchs Dach kam. Nach wenigen Lidschlägen spürte er die Wärme, die langsam in das Leder kroch, schloss die Augen und seufzte wohlig. Die Gespräche wurden undeutlicher, während die Müdigkeit seinen Verstand übermannte und ihn zum Dösen brachte. »Habt Ihr ein Zimmer für uns, das warm und trocken ist?«, fragte er den Wirt, als der ihnen auf Bavragors Wunsch hin Bier und Essen brachte.
»Sicher«, nickte er. »Folgt mir.« Der Mann ging voran, und die Zwerge schnappten sich ihre Sachen und das restliche Essen. Auf die Gesellschaft der wenig vertrauenswürdig aussehenden Menschen im Schankraum verzichteten sie gern.
Der Krüger lotste sie in eine Dachkammer, durch die der Schlot des Kamins führte. Der gemauerte Abzug strahlte enorme Wärme ab und heizte den Raum. »Noch ein Bier?« Bavragor nickte.
Sie hingen die nassen Kleider mithilfe eines Taus um den Kamin. Boïndil warf sich sein Kettenhemd über den blanken Oberkörper und stapfte nach draußen, um seinen Bruder als Stallwache abzulösen.
Nachdem Boëndal zu ihnen gestoßen war, stellte Tungdil die Stiefel zum Trocknen an das warme Mauerwerk, kletterte in das schlichte Bett und deckte sich zu. »Ich werde nach dem Mittagsschläfchen die Stadt erkunden und mich nach den Clans der Ersten umhören«, sagte er. »Wir brauchen jeden Hinweis auf sie, damit wir wissen, was uns dort erwartet.«
»Die Zeit des langen Schweigens kann alles Mögliche bedeuten«, befand Bavragor, während er den Humpen schwenkte und dem Bier beim Tanz zusah. »Ob es sie überhaupt noch gibt?«
»Es werden solche Griesgrame sein wie du«, zog ihn Boëndal mit einem Augenzwinkern auf und legte sich in Unterwäsche und Kettenhemd in die Kissen.
Der Steinmetz trank das Bier, rülpste und leerte die Platte vom letzten Krümel, den der Zwilling ihm gelassen hatte. »Ich bin sehr neugierig auf die Ersten«, gestand er und stopfte sich die Pfeife. »Ich bete zu Vraccas, dass mit ihnen alles in bester Ordnung ist.«
Tungdil schaute zu den rissigen Deckenbalken auf. Die feinen Linien erinnerten ihn an die Begegnung mit dem Alb und den Sprüngen, die sein Antlitz erhalten hatte. »Er kannte meinen Namen.«
»Was, Gelehrter?«, machte Boëndal im Halbschlaf.
»Der Alb kannte meinen Namen«, wiederholte Tungdil bedrückt. Unwillkürlich tastete er nach dem Halstuch Fralas, es gab ihm Halt und bedeutete Gutes, Vertrautes. »Ich bin bekannter als ich annahm.«
»Das Böse fürchtet sich vor einem Zwerg«, lachte Bavragor leise und steckte die Pfeife an. Bald roch es im Zimmer nach Tabak, der mit einer Spur Branntwein verfeinert worden war, und es roch nicht einmal schlecht. »In meinen Ohren klingt das gut.«
»Ich verstehe deine Sorge. Mir wäre auch nicht wohl, wenn ich wüsste, dass die Albae nach mir suchten und dabei genau wissen, wie ich aussehe«, meinte Goïmgar mitfühlend.
»Du bist ja auch ein Feigling«, kam es Bavragor schneller über die Lippen, als er wollte.
»Leg dich hin, ehe du noch mehr dummes Zeug von dir gibst«, wies ihn Tungdil zurecht. Sie geben keine Gelegenheit, Frieden entstehen zu lassen.
Goïmgar schaute ihn kurz an, ehe er Kurzschwert und Schild in die Hand nahm und sich so auf sein Bett setzte, dass er das Fenster und die Tür gleichzeitig im Auge behielt.
Der Thronanwärter dachte darüber nach, ob Goïmgar zum Schutz aller oder in erster Linie zu seinem eigenen Wohl die Augen offen hielt und die erste Wache übernahm, und während sein Verstand noch arbeitete, schlief er ein.
Es war bereits dunkel, als Tungdil erwachte.
Seine Kleidung und sein Schuhwerk waren trocken wie schon lange nicht mehr. Die anderen drei Zwerge schliefen, Goïmgar lehnte mit dem Kopf an der Wand und schnarchte mit. Der Schild verdeckte ihn bis zur Nasenspitze.
Er beschloss, sich um die Ponys und den Proviant zu kümmern, schlüpfte in die noch warmen Kleider und das trockene Leder, warf sich das Kettenhemd über und klemmte seine Axt in den Gürtel. Das wertvolle Stück Sigurdazienholz ließ er dieses Mal im Zimmer. Dann ging er die Stiegen zum Schankraum hinunter, gab dem Wirt rasch Bescheid, dass er seinen Freunden ausrichten sollte, er wäre in ein paar Stunden wieder zurück, und trat hinaus.
Es regnete immer noch. Kalt wehte der stinkende Wind durch die engen Gassen. Die schäbige Unterstadt ließ nichts von dem Prunk ahnen, der weiter oben herrschte. Ganz oben hocken die Reichen, unten leben die Ärmeren vor sich hin und bewundern und hassen die, die über ihnen thronen und sich alles leisten können.
Mehrmals musste er sich gegen aufdringliche Bettler wehren; zwei alte, verlebte Dirnen machten sich über ihn lustig und fragten, ob alles so klein und haarig an ihm wäre.
Tungdil ignorierte sie, denn sie zogen sein Bild von der romantischen Liebe, wie er es aus den Büchern oder von Frala und ihrem Mann kannte, in den Schmutz. Er berührte ihr Halstuch und dachte wiederum an sie. Dass er sie und seine Patenkinder nicht mehr wieder sehen würde, schmerzte mehr als der Tod Lot-Ionans. So gern hätte er auf Sunja und Ikana Acht gegeben.
Seine Stimmung sank, und der Regen und die grauen Wolken, die ganze Trostlosigkeit Königssteins machten es nicht besser. Weitab von ihrer zweifelhaften Herberge fand er einen Pferdehändler, der ihm die notwendige Anzahl von Ponys verkaufen wollte, doch dazu sollte er morgen noch einmal vorbeischauen. Bei einem Krämer bestellte er Proviant für die weitere Reise und erstand einen Kuchen, weil ihn der Anblick zu sehr lockte. Die Obstschnitze, die aus dem aufgegangenen braunen Teig hervorschauten, machten ihn hungrig. Hier und da hatten sich in der dünnen, goldgelben Schicht aus Zimtbutterstreuseln leckere Klümpchen gebildet, und die darunter gemischten Rumrosinen schauten als dunkle Punkte hervor. Tungdil musste schlucken und kaufte ihn ganz, um ihn mit in die Herberge zu nehmen. Vielleicht schaffte es der Kuchen, seine schlechten Gedanken zu vertreiben.
Als es in der Stadt stockdunkel geworden war, machte er sich zusammen mit seinem dick eingepackten Kuchen auf den Rückweg. Mit widerlichen Geräuschen hoben sich seine Stiefel aus dem Schlamm und Unrat; der Regen verwandelte den ungepflasterten Teil der Straße in eine schmierige Matschfläche.
Wie kann man nur freiwillig in so einer Stadt leben? Natürlich rutschte er aus. Sein rechter Fuß glitt in aufgeweichtem Pferdedung aus, er stolperte vorwärts und stützte sich mit einer Hand ab, um nicht ganz in den Dreck zu fallen. Der Kuchen entkam dem Schlammbad nur um Haaresbreite. Ein Stollen oder ein Gebirge sind mir tausendmal lieber.
Ein scharfer Wind zischte an seinem Kopf vorüber und streifte sein linkes Ohrläppchen. Ein brennender Stich ließ ihn vor Überraschung und Schmerz aufschreien. Er tastete nach seinem Ohr und fühlte warmes Blut an seinem Hals hinablaufen.
Tungdil wirbelte herum, die Axt flog in seine freie Hand. »Ihr werdet mir meine Börse und meinen Kuchen …« Er verstummte. Sie haben uns gefunden!
Am Ende der Gasse stand der Alb, der ihm in Mifurdania beinahe den Hals durchgeschnitten hätte; sein Umhang wehte im stinkenden Gossenwind. Ein zweiter Pfeil lag auf der Sehne seines großen Bogens, und die Finger gaben ihn in ebendiesem Augenblick frei.
Etwas Großes flog seitlich heran. Tungdil sah lilafarbenes Leuchten und eine glänzende Fratze aus Silber, dann erhielt er einen unglaublich harten Stoß, der ihn kopfüber in die nächste Seitenstraße schleuderte. Er fiel in den Matsch und rutschte vier Schritte weit, eine breite Spur hinter sich her ziehend.
Was … Benommen rollte er sich auf den Rücken, zog die Axt heran und rechnete damit, dass der Alb erschien, um ihn zu töten, doch es tat sich nichts. Stöhnend richtete er sich auf. Bräunlicher Schlamm hatte sich in den kleinsten Ring seines Kettenhemds gedrückt. Er sah aus wie ein Schwein, das sich gesuhlt hatte.
Vorsichtig pirschte er um die Ecke. Die Gasse war bis auf den Kuchen leer, die wenigen Spuren wurden vom starken Regen verwaschen. Alles, was er fand, war ein schwarzer Albaepfeil und eine seltsame grellgelbe Flüssigkeit, die sich mit dem Wasser mischte.
Wieso hat er mich verschont? Sein Ohrläppchen brannte. Und wer hat mich gerettet? Es fühlte sich an wie eine Wand, die mich fortgeschleudert hat. Er versuchte, sich genauer zu erinnern. Wenn ich nicht wüsste, dass Djerůn …
Eilig und um den leckeren Kuchen trauernd, lief er zurück zu ihrer Unterkunft. Dabei hatte er seine Augen überall, um nicht doch noch dem Anschlag eines Albs zum Opfer zu fallen. Er fegte in das Wirtshaus und rannte ins obere Stockwerk, wo sich Boëndal gerade anzog und zu einem Ausflug bereit machte.
»Was ist passiert, Gelehrter?«, wollte er sofort wissen. »Du hattest einen abwechslungsreichen Abend, wie ich sehe.«
»Auf den ich hätte verzichten können.« Rasch berichtete Tungdil von dem Zusammentreffen mit dem Alb und der rätselhaften Rettung.
»Wir müssen morgen sofort verschwinden.« Boëndal sah sehr besorgt aus. »Wie bist du auf den Gedanken gekommen, allein durch eine fremde Stadt zu gehen, Gelehrter? Denkst du, dein Wissen und deine Axt schützen dich ausreichend?« Er dachte nach. »Die Albae sind also nicht mehr hinter dem Stück Holz her. Nôd’onn hat sie auf uns angesetzt, um uns zu töten, weil wir sein Geheimnis kennen.« Er weckte Bavragor und Goïmgar, um sie zu unterrichten, danach ging er zu seinem Bruder, um gemeinsam Wache zu halten. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Und wenn es doch Djerůn war?, grübelte Tungdil und verwarf den Gedanken gleich wieder. Der Krieger befand sich zusammen mit seiner Herrin Andôkai im Jenseitigen Land.
Der Unglaubliche Rodario, Narmora und Furgas warteten wie vereinbart bei den ersten Sonnenstrahlen am Tor, wobei sich der Schauspieler nervös nach allen Seiten umblickte; seine Garderobe sah aus, als hätte er sie in großer Eile angelegt. Narmora trug einen Lederumhang um ihre Schultern, das rote Kopftuch schien sie niemals auszuziehen. Furgas schützte sich mit einem Kutschermantel gegen die Nässe, die von oben auf sie herabtrommelte.
Die Zwerge kamen mit Ponys und Proviant.
»Albae?«, fragte Boïndil sofort. »Habt ihr Albae gesehen?«
»Es sind Ehemänner, die mein Freund fürchtet«, sagte der Techniker mit einem Tonfall, als hätte sich das Spiel in der Vergangenheit bereits oft zugetragen. »Nach unserem kleinen Auftritt gab der Unglaubliche eine Sondervorstellung bei der Frau des Wirtes und ihrer Tochter.«
»Schweig! Soll es die ganze Stadt erfahren und mich hetzen?«, zischte Rodario, und sein Kopf ruckte hin und her, um in der Menge nach Gesichtern zu fahnden, vor denen er Reißaus nehmen musste. »Sie haben beide besagt, sie seien geschieden.«
»Ja, eine Ausrede hast du schnell«, grinste Narmora. »Nur zu dumm, dass es dir bei den beiden gehörnten Gatten nichts bringen wird.«
»Die Mutter und die Tochter?«, lachte Ingrimmsch.
»Vierundreißig und sechzehn Lenze. Sommer und Frühling in einem einzigen Bett, mit dem König der Jahreszeiten«, sagte der Mime prahlerisch.
»Es ist wohl eher ein brünstiger Bauer, der jede Furche beackert, die er sieht«, ruinierte Narmora seinen Vergleich. »Ich muss nicht hinzufügen, dass die meisten Furchen sehr dankbar für das Umgraben sind, weil sie von ihren eigenen Bauern selten gepflügt werden. Oder sie haben gar Mitleid mit dem kleinen Pflugblatt«, stichelte sie weiter.
Rodarios Aufmerksamkeit wurde durch ihre Bemerkungen abgelenkt; er wandte sich ihr zu, um das Rededuell anzunehmen. »Du hättest mein gewaltiges Ackergerät gewiss gern zu spüren bekommen, liebste Narmora, ich weiß, aber ich suche mir nur ausgewählte Felder. Dürre Wiesen, auf denen man sich blaue Flecken holt, wenn man darauf liegt, überlasse ich gern anderen.« Er lächelte Furgas an, um dann schlagartig ernst zu werden. »Albae? Sind sie in der Stadt? Wieso …«
»Da ist der Verführer!«, brüllte ein Mann. Eine Mistgabel wurde geschwenkt, und der Mime nahm die Beine in die Hand, rannte zum Tor hinaus und tauchte geschickt zwischen den wartenden Wagen ab. Kurz darauf eilten vier Leute an ihnen vorbei und nahmen die Verfolgung auf.
Bavragor und Boïndil bogen sich vor Lachen, Boëndal schüttelte nur den Kopf, Goïmgar klammerte sich an seinen Schild und hielt sich bereit, ihn notfalls schützend vor sich zu halten, sollten die Menschen ihre Wut an ihnen auslassen wollen.
Aber die Gehörnten und ihre Freunde dachten gar nicht daran, sondern richteten ihr Augenmerk allein auf die Ergreifung Rodarios, dem es gelang, sich ungesehen davonzustehlen und die Rächer im Regen stehen zu lassen.
Die Zwerge, Narmora und Furgas verließen Königsstein weniger überstürzt.
»Albae?«, nahm die Mimin den Faden auf. »Wo?«
»Gestern«, sagte Tungdil. »Es war einer. Aber Ihr habt keine gesehen?« Er fühlte eine leichte Abneigung gegen sie, vielleicht war es der leichte elbische Zug an ihr. Sie ist eine Schauspielerin, rief er sich in Erinnerung. Mehr nicht.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, man ließ uns in Ruhe. Aber gut, dass du uns gewarnt hast.« Ihre Rechte legte sich an die Halbmond-Waffe.
Nicht lange darauf trafen sie auf den Weiberheld, der gut eine Meile vom Tor entfernt zum Schutz vor dem Regen unter einer mächtigen Tanne stand und auf sie wartete.
»Waren sie die Aufregung wenigstens wert?«, konnte es sich Bavragor nicht verkneifen zu fragen.
Rodarios Gesicht bekam einen abwesenden, sehr genießerischen Ausdruck. »O ja. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass ich nicht der Erste war, der die Kunst des gemeinsamen Verwöhnens der beiden Frauenzimmer spüren durfte.« Er trottete neben den Ponys her. »Aber das ist nun Geschichte! Sodann lasst uns ins Reich der Ersten ziehen und die Pracht sehen, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekam.« Das Schmatzen des Schlamms unter seinen Sohlen beeinträchtigte die Wirkung seiner getragenen Worte ein wenig, aber als Entdecker gab er eine ganz passable Figur ab.
Tungdil verband mit der stolzen Menschenstadt Königsstein alles andere als gute Eindrücke. Er blickte auch nicht mehr zurück, sondern ging schneller, um Weyurns Stolz rasch hinter sich zu lassen. Die Banner konnten noch so herrlich im Wind flattern, die ziegelgedeckten Hausdächer und Kuppeln noch so schön leuchten, der Zwerg dachte nur an die mörderischen Augen des Albs.
Ich hoffe, der unbekannte Retter hat ihn getötet.
Bei der nächsten Gelegenheit erstanden die Reisenden einen kleinen Wagen für das Gepäck sowie zwei Pferde; eines davon mussten sich Narmora und Furgas teilen. Danach ging es wesentlich einfacher und schneller in Richtung Westen.
Vor allem Rodario drängte darauf, rasch vorwärtszukommen, da er sich noch immer vor der Rache der gehörnten Gatten fürchtete – was ihn unterwegs nicht an neuen Eroberungen hinderte, die er mithilfe seines Charmes und seiner Redegewandtheit machte.
Der Nordwind jagte die ersten Schneeschauer über das Land, die Flocken blieben auf dem gefrorenen Boden liegen und bildeten eine weiße Schicht. Dieser Winter schien schneller und härter als gewöhnlich über die Natur und die Bewohner hereinbrechen zu wollen. Die Gruppe suchte sich nur noch wettergeschützte Orte, wo sie ihr Lager errichtete, und rastete unter Bäumen, Felsvorsprüngen oder den Ruinen verlassener Häuser und Festungen.
Die riesigen Seen, von denen Weyurn zu mehr als drei Vierteln bedeckt wurde, glitzerten eisig. Die Wolken sorgten für erhabene Licht- und Schattenspiele auf ihren Oberflächen, welche die Zwillinge schauernd betrachteten. Die Gefahr, in die nasse Tiefe gezogen zu werden, war ihnen einfach zu groß, und sie wollten Furgas und Rodario nicht einmal beim Eisangeln begleiten.
»Eis und Wasser sind gleich heimtückisch«, belehrte sie Ingrimmsch, während er ein Feuer in der alten Tempelruine entzündete, in der sie Zuflucht gesucht hatten. »Sie locken dich, und ehe du dich versiehst, verschwindest du für immer darin.«
»Das ist wie mit der Ehe. Zuerst locken dich die Weiber, aber wenn du brav in ihren Armen bleibst, ist das Leben allzu bald vorüber«, übertrug Rodario den Vergleich. »Ein Mann wie ich ist dazu geschaffen …«
»Anderen Männern die Hörner aufzusetzen, verprügelt zu werden und eines Tages an einer schmerzhaften Geschlechtskrankheit zu sterben«, fügte Narmora lächelnd an.
»Dein Neid ist meine Freude.« Er bleckte die Zähne und folgte Furgas zum Ufer des nahe gelegenen Gewässers.
»Er erinnert mich an einen Geißbock, den wir mal hatten«, sagte Boïndil. »Das Vieh besprang alles, was bei drei nicht aus dem Weg war.«
»Und wie endete er?«
»Er hat eine Geiß bestiegen, die nahe am Abgrund stand. Im Übermut sind beide die Klippen runtergefallen.« Er machte sich daran, die Haarstoppeln zu rasieren, damit sein schwarzer Zopf besser zur Geltung käme.
»Das heißt, dass er bei einem seiner Abenteuer aus dem Bett fällt und sich den Hals bricht?«, grinste Tungdil.
»Oder aus dem Fenster«, fügte Boëndal lachend hinzu, weil er die Vorstellung zu komisch fand, welch unrühmliches Ende für den Mann damit verbunden wäre.
»Stellt euch vor, er landet nackt auf dem Kopfsteinpflaster, nur ein Tuch bedeckt seine Männlichkeit, und die ganze Stadt steht drum herum«, prustete Boïndil und erklomm das obere Ende eines schräg liegenden Trümmerstücks, von dem aus er die Umgebung bestens überblickte. Dort setzte er sich nieder und steckte sich eine Pfeife an. Sein Bruder warf ihm etwas zu essen hoch. »Irgendwie wäre das ein Ende, das zu dem Schwätzer passte«, lautete seine letzte Bemerkung, ehe er sich über den Käse hermachte.
Goïmgar beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, er schien zu schlafen und hatte sich in zwei Decken eingehüllt, den Schild wie eine dritte Decke über sich gelegt und die Augen geschlossen.
Schatten tanzten an den moosbewachsenen Wänden. Die Malereien waren im Lauf der Zyklen verblasst, und der abgesprungene Putz riss faustgroße Löcher in die Darstellungen von irgendwelchen Menschengöttern, die den Zwergen völlig fremd waren. Für sie gab es maßgeblich nur Vraccas, alles andere hätte nicht sein müssen.
Das große Feuer brachte rasch Wärme in den Raum, und das weiche Licht machte die von Rissen überzogenen Statuen lebendig.
Tungdil musste an die Aufführung im Curiosum denken, wo er vieles gesehen hatte und immer noch nicht wusste, ob es sich auf der Bühne ereignet oder ob ihm seine Vorstellungsgabe einen Streich gespielt hatte. Es sah so echt aus.
Bavragor kehrte zurück, nachdem er die eingefallenen Räume durchstreift hatte. Brummelnd begutachtete er die Steinmetzarbeiten. »Sie waren zwar gute Handwerker, aber nicht gut genug, um sich mit den Zwergen zu messen«, lautete sein Urteil.
Tungdil reichte ihm Brot und Schinken. »Darf ich dich etwas fragen?«
Bavragor nahm das Essen entgegen. »Das klingt nach einer ernsten Angelegenheit.«
»Es beschäftigt mich die ganze Zeit. Die Sache mit deiner Schwester …«
»Smeralda.« Bavragor legte sein karges Mahl auf den Stein nahe der Flammen, damit es wärmer wurde und sich der Geschmack des Fleisches besser entfaltete. »Er wird seine Schuld von mir niemals vergeben bekommen«, sagte er bitter, nachdem er sich einen langen Schluck aus seinem mit Branntwein gefüllten Trinkschlauch gegönnt hatte.
Tungdil drängte ihn nicht; er spürte, dass er die Geschichte an diesem Abend zu hören bekäme, und behielt Recht.
»Smeralda war ein junges Ding von gerade einmal vierzig Sonnenzyklen, als er seine wahnsinnigen Augen auf sie warf und beschloss, dass sie sein werden sollte. Sie war fast so kriegerisch wie er, sie übte den Umgang mit der Axt und träumte davon, ihm beizustehen«, begann Bavragor, und seine Fäuste ballten sich, während seine Erinnerung die Vergangenheit lebendig machte. »Wir haben ihr verboten, ihn zu sehen, weil wir Angst hatten, dass er ihr in seinem Wahn etwas antun könnte. Doch sie widersetzte sich unserem Vater, und sie trafen sich weiterhin. Eines Tages, als sie ihm an der Hohen Pforte im Kampf beistehen wollte …« Bavragor bedeckte das verbliebene Auge mit der Linken, die Rechte führte den Trinkschlauch an den Mund. »Er hat sie erschlagen. Sein vom Kampfrausch geblendeter Verstand erkannte sie nicht und hielt sie für eines der Ungeheuer.«
Tungdil schluckte, um den Kloß in seiner Kehle hinunterzuwürgen.
»Smeralda und ein Ungeheuer … Sie sprachen danach von einer Tragödie und einem schrecklichen Unglück, und er selbst sagte, er könne sich an nichts erinnern. Doch mir ist es gleich, Tungdil. Er hat meine Schwester getötet. Würdest du jemandem so etwas vergeben? Ich will es nicht.«
Tungdil wusste nicht, was er dem Steinmetzen antworten sollte.
Die Geschichte rührte ihn zutiefst. Mitfühlend legte er eine Hand auf Bavragors Arm. »Verzeih, dass ich dich so gequält habe«, sagte er und beließ es dabei.
Die eigenen Erinnerungen an den Verlust von Lot-Ionan und Frala, die er wie eine Schwester geliebt hatte, packten ihn. Ich kann ihn zu einem Teil verstehen.
»Sei’s drum.« Bavragor atmete tief ein und spülte die Erinnerungen mit Branntwein herunter; sein Essen rührte er an diesem Abend nicht mehr an.
Tungdil hob den Kopf und schaute zu Boïndil, der auf seinem Posten saß, die Pfeife zwischen den Lippen, und aufmerksam über ihre Sicherheit wachte. Die blauen Rauchkringel stiegen in den Himmel, und er glaubte das Zischen zu hören, wenn eine Schneeflocke auf den heißen Tabak traf.
»Seine heiße Lebensesse ist ein Fluch«, sagte Boëndal traurig. »Er weiß bis heute nicht, was damals auf der Brücke geschah, und erinnert sich nur daran, wie er Smeralda tot vor sich liegen sah. Er dachte, die Orks hätten ihm seine Liebe genommen, aber als er von Bavragor und den anderen hörte, dass er selbst es gewesen sein sollte …«
»Und wo warst du?«
»Ich war verwundet, und Vraccas weiß, wie sehr ich diesen Umstand bis heute verfluche. Ich bilde mir ein, dass sie noch leben könnte, wenn ich an seiner Seite gewesen wäre.« Er kratzte an einer rostigen Stelle seines Kettenhemds und behandelte sie mit Öl. »Manchmal ruft er ihren Namen in seinen Träumen. Er leidet mindestens so sehr wie Bavragor, das kann ich dir versichern, aber zugeben würde er es niemals, Gelehrter.«
Sie stopften eine zweite Pfeife und wechselten sich mit dem Rauchen ab, während jeder seinen Gedanken nachhing. Durch die zerstörten Fenster beobachtete Tungdil, dass sich der Schneefall verstärkte.
Als Furgas und Rodario zurückkehrten, sahen sie aus wie wandelnde Schneemänner. Der Techniker hatte zwei ausgewachsene Karpfen dazu gebracht, in den Haken zu beißen, während der Schauspieler missmutig eine kleine Schleie entschuppte.
»Ein Pflüger vor den Göttern, aber keine Ahnung vom Fischen haben«, zog ihn Bavragor auf, um sich von den bedrückenden Erinnerungen abzulenken.
»Ja, die Götter«, meinte Rodario nur und schaute über die verblichenen und von der Feuchtigkeit beschädigten Wandbemalungen. »Da, seht, was aus ihnen wird, wenn man sich nicht um sie kümmert. Sie verblassen und verschwinden, weil sie ohne die Sterblichen keinen Grund haben zu existieren.«
»Vraccas braucht keinen Grund«, erwiderte Boëndal voller Überzeugung. »Er erschuf sich auch, weil er wollte, und nicht, weil ihn jemand schuf.«
»Ich kenne die Entstehungslegenden, vielen Dank, und benötige deine Nachhilfe sicherlich nicht, mein Guter«, wehrte der Mime ab und beschäftigte sich weiter mit dem Fisch. »Früher haben wir sie auf der Bühne umgesetzt und Erfolge damit gefeiert. Ich sage es ja immer: Die alten Stoffe sind meistens die besten, auch wenn unsere Nôd’onn-Aufführung aus gegenwärtigem Anlass sehr gut aufgenommen wurde.«
Das erinnerte Tungdil daran, dass er die Mimen nun endlich nach den Kniffen fragen könnte, die sie im Curiosum anwendeten, um die Illusionen täuschend echt zu gestalten.
»Wie das geht?« Rodario wies mit dem schmutzigen Messer auf Furgas. »Da sitzt unser Magister technicus.«
Furgas nahm sich bereits den zweiten Karpfen vor, während sein Freund die Schleie mehr malträtierte als entschuppte. »Ich habe mich viel mit Alchimie beschäftigt. Damit schaffen wir den ganzen Rauch, den wir benötigen«, erklärte er. »Ich kann ihn schwer machen oder leicht, mal rot, mal schwarz. Die Lehre von den Elementen ist faszinierend.«
Tungdil wusste, dass Lot-Ionan Alchimie unterrichtet hatte, und er kannte verschiedene Zutaten vom Schleppen. »Aber wie ging es, dass die Kerzen alle auf einen Schlag verloschen?«
»Magie«, wisperte Rodario und zog eine Fratze. »Ich bin in Wahrheit der letzte noch lebende Magus des Geborgenen Landes.« Er näherte sich dem Zwerg, fummelte an seinem Ohr herum und hielt eine Goldmünze in der Hand. »Was sagst du nun?«
»Sie gehört mir«, antwortete Tungdil und schnappte sie sich, doch ein kurzer Biss darauf genügte, um den Schwindel auffliegen zu lassen. »Blei mit minderwertigem Blattgold«, lautete seine Einschätzung, und er warf die Scheibe zurück. »Dein Zauber taugt nichts.«
»Ein Taschenspielermagus, mehr ist er nicht«, lachte Boëndal und wies mit dem Mundstück der Pfeife auf ihn.
Rodario hob den Zeigefinger. »Aber das Entscheidende ist, dass die Zuschauer darauf hereinfallen. Und das taten selbst die kleinen, hässlichen Bogglins. Ich nenne so etwas einen Erfolg.«
»Also sind eure Kniffe Fingerfertigkeit, Geschwindigkeit und Alchimie?«, fasste Tungdil zusammen.
Furgas nickte und warf einen kurzen Blick zu der hoch gewachsenen Frau. »Und Schminke«, fügte er hinzu. »Sie macht viele Einbildungen wahr. Narmora verwandelt sich durch sie in eine Albin, vor der sich die jüngeren Spectatores auch schon mal fürchten und zu ihren Eltern flüchten.« Er lachte. »Und wir lieben es natürlich, wenn dergleichen geschieht.«
»Seid froh, dass der Wahnsinnige nicht in eurem Theater war«, meinte Bavragor finster. »Er hätte die Bühne gestürmt.«
»Sie sieht wirklich fast aus wie ein Spitzohr«, meinte Boëndal abwesend. »Die Natur hat es nicht gut mit ihr gemeint.«
Für diese Bemerkung erntete er böse Blicke von Narmora und ein breites Grinsen der Männer. Tungdil und Bavragor mussten so laut lachen, dass Goïmgar aufschreckte und hinter seinem Schild hervorschaute.
»Oh, verzeih, ich habe es nicht so gemeint«, entschuldigte sich Boëndal schnell, und man sah ihm die Verlegenheit an.
»Vielleicht bin ich ja eine Albin und bringe euch heute Nacht einen Albtraum?«, erwiderte Narmora mit einem erbosten Funkeln in den fast schwarzen Augen. »Wundert euch nicht, wenn ihr schreiend erwacht.« Sie stand auf, richtete ihr Kopftuch und verließ die schützende Ruine. Sogleich verschmolz sie mit der Dunkelheit.
»Ihr Götter, ist sie gut in ihrer Rolle!«, rief Rodario entzückt. »Sie glänzt ganz ausgezeichnet darin, findet ihr nicht auch? Aber sagen würde ich es ihr niemals. Am Ende verlangt sie noch mehr Lohn.« Begeistert wandte er sich den Zwergen zu, die seine Meinung stumm teilten. Boëndal machte sich ernsthaft Sorgen über das, was er in seinem Schlummer erleben würde.
Die Männer kümmerten sich weiter um ihren Fang, und bald roch es nach gebratenem Fisch. Hungrig langten die Reisenden zu.
»Eines muss ich noch wissen. Wie habt ihr das alles auf der Bühne entstehen lassen?«, erkundigte sich Tungdil bei Furgas. »Den Wald, den Palast … Es sah so echt aus.«
»Behältst du es für dich?«
»Ja.«
»Wirklich und ehrlich?«
»Sicher!«
»Schwörst du es bei deiner Axt?«
Tungdil schwor es. »Und?«
»Magie«, sagte Furgas, blinzelte ihm heiter zu und wischte sich über den Oberlippenbart.
»Ach«, machte der Zwerg enttäuscht und ärgerte sich, auf die vorgetäuschte Geheimnistuerei hereingefallen zu sein.
Als Boëndal aus seinem Traum aufschreckte, gab er sich alle Mühe, nicht aufzuschreien. Zugleich war er froh, seinen wirren nächtlichen Phantastereien entkommen zu sein.
Der nächste Schreck aber ließ nicht lange auf sich warten. Als er zur Sicherheit nach dem Krähenschnabel griff, war die Waffe verschwunden, und eine feingliedrige Hand schloss sich fest um seine.
Der Zwerg wandte sich um und schaute geradewegs in das schmale, grausame Gesicht einer Albin, die in voller Rüstung neben ihm hockte und ihn aus kalten schwarzen Augen anstarrte. Das kann nicht sein! Ich träume immer noch!
»Lass es dir eine Lehre sein«, raunte sie drohend, und schon fielen ihm die Lider zu, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.
Als er geraume Zeit später wieder aufwachte, sprang er keuchend auf die Füße und schaute sich um. Seinen Krähenschnabel fand er dieses Mal sofort und ergriff ihn hastig.
Narmora kuschelte sich in den Armen von Furgas, Rodario hatte sich am schwach brennenden Feuer zusammengerollt und lag mit dem Gesicht in den Schuppen der Schleie.
Boëndal betrachtete die drei ganz genau, fand aber keinen Hinweis darauf, dass sie einen Scherz mit ihm trieben. Sein wild pochendes Herz erholte sich langsam von dem Schrecken, und er schwor sich, nie mehr eine abfällige Bemerkung über die Frau zu machen.
Er schaute nach Goïmgar, der auf dem Bruchstück sitzen und Wache schieben sollte. Der erhöhte Platz war leer. Fußspuren führten nach draußen, doch die Ponys und Pferde standen noch dort, wo sie angebunden worden waren.
Er wird doch nicht so verrückt sein, im Schneesturm flüchten zu wollen? Der Zwerg machte ein paar Schritte ins Freie. Sogleich stürzte sich der Schnee auf ihn, die Flocken versuchten, ihn niederzuringen. Er entdeckte eine Gestalt auf dem verschneiten Boden.
»Goïmgar!«, rief er und eilte zu ihm, doch der schmächtige Zwerg rührte sich nicht. Blut sickerte aus einer schmalen Wunde an der Stirn. Boïndil trug ihn in die Ruine, legte ihn neben das Feuer und warf zwei Scheite nach.
»Ich …«, sagte er Zähne klappernd, »bin hingefallen.«
Der Krieger legte ihm zwei Decken um. Beim Pissen beinahe erfroren, dachte er und behielt die Worte lieber für sich, um ihn nicht vollends zu entwürdigen. Ihm war es rätselhaft, wieso Tungdil ausgerechnet dieses Gemmenschneiderlein mitgenommen hatte, wo die Auswahl doch so groß gewesen war. Vraccas wird sich etwas dabei gedacht haben, dachte er bei sich, während er das Häuflein Elend betrachtete, das nach und nach auftaute. Eis und Schnee schmolzen aus Bart, Haaren und Augenbrauen.
Er beugte sich vor. »Goïmgar, wolltest du etwa da draußen sterben?«
»Nein«, kam es langsam.
»Pass besser auf dich auf. Du bist wichtig für unsere Mission.«
»Wichtig für den Hochstapler, um auf den Thron zu kommen, der ihm nicht gebührt«, erwiderte der bibbernde Zwerge feindselig.
Boëndal sparte sich seinen Atem; Goïmgar hatte es noch immer nicht begriffen, dass es um mehr ging als um das Amt des Großkönigs, und das trotz aller gut gemeinten Predigten Tungdils. So etwas Uneinsichtiges. Er verschließt sich nur aus Trotz der Einsicht und dem Verständnis für die Verantwortung, die auf uns lastet.
Goïmgar hatte aufgehört zu zittern und schaute an ihm vorbei in den rückwärtigen Teil des Raumes, in dem die Statuen standen. Er schluckte. »Wie viele?«, raunte er.
»Was?«
»Wie viele Statuen standen bei unserer Ankunft hier?«
Der Kämpfer überlegte. »Sieben. Drei kleine und vier größere.«
Goïmgar schloss die Augen. »Es sind acht«, flüsterte er, »davon fünf größere. Was machen wir jetzt?«
»Welche ist die neue?« Boëndals Finger fassten den Griff des Krähenschnabels, und sein Körper spannte sich.
»Es müsste die dritte von rechts sein …«
»Ich schlage gleich zu und schreie dabei laut, damit die anderen erwachen. Du nimmst deinen Schild und stehst mir bei, bis Boïndil an meiner Seite ist.«
»Ich?«
»Wer sonst?«
Seine Arme rissen die schwere Waffe urplötzlich in die Höhe und beschrieben eine halbkreisförmige Bewegung. Die lange Spitze hielt genau auf den Punkt etwas oberhalb der Hüfte zu. An dieser Stelle gab es keine Knochen, welche den Krähenschnabel aufhalten konnten, die Wunde würde tief und tödlich. Wie eine kleine, dünne Fahne folgte der Zopf seiner Bewegung.
»Vraccas!«, dröhnte sein Kampfruf.
Klirrend barst die Statue unter der Wucht des Schlages. Wie eine Spitzhacke fuhr der Krähenschnabel in das porös gewordene Gestein und brachte es zum Splittern. Das Kunstwerk, das einst von einem Bildhauer zu Ehren eines Menschengottes geschaffen worden war, zersprang in viele kleine Stückchen.
»Nein, von mir aus rechts«, korrigierte Goïmgar unglücklich, doch da war es bereits zu spät.
Die riesige, bis dahin leblose Gestalt erwachte zum Leben. Hinter dem Visier glommen violette Augen auf.
»Du Idiot!«, beschimpfte Boëndal ihn, ehe er zu einem neuerlichen Schlag ansetzte.
Das aber ließ sein titanischer Gegner nicht zu. Schneller, als der Zwerg es ihm wegen der Größe zutraute, war er heran. Die Pranken schlossen sich um seine Oberarme, dann wurde er emporgehoben und befand sich mindestens zwei Schritte über dem Boden. Scheppernd prallte die Waffe auf die gerissenen Platten.
Sein Bruder stand schon auf seinem Lager und erfasste die Lage mit einem Blick. »Lass ihn los!« Er riss die Beile hoch und wollte sich eben auf den übermächtigen Gegner werfen, als ihn ein gleißendes Licht blendete und er sich abwenden musste.
»Zurück, Boïndil!«, befahl ihm eine Frauenstimme. Die grelle Helligkeit wandelte sich zu einem schwachen Schimmern, das ausreichte, den Innenraum zu erleuchten.
Eine Frau in einem scharlachroten Mantel, auf dem die letzten Schneeflocken schmolzen, trat aus dem Schutz einer Statue und stellte sich an die Seite des Giganten; in ihrer Hand schwebte eine Lichtkugel. »Du kannst ihn absetzen, Djerůn. Ich denke, sie haben verstanden, wer wir sind.«
»Andôkai!«, rief Tungdil überrascht und senkte seine Axt. »Also doch!«
Sie schlug die Kapuze zurück, um ihnen ihr Gesicht zu zeigen.
»Die Stürmische?«, hakte Rodario nach, der nicht bemerkte, dass Fischschuppen auf seiner Wange hingen und ihn nicht gut aussehen ließen. »Andôkai die Stürmische? Die Maga? Ich dachte, sie sei tot?« Er betrachtete sie schamlos von oben bis unten. »Nein, sie lebt. Sie lebt! Verdammt!« Er wandte sich zu Furgas und Narmora. »Wir müssen das Stück umschreiben.«
»Stück?« Andôkai begab sich ans Feuer, ließ die Sphäre aus Licht verschwinden und hielt die Hände gegen die Flammen, während ihr Begleiter den Zwerg absetzte. »Von was redet er? Wer ist er überhaupt?«
»Schauspieler«, meinte Tungdil entschuldigend und konnte sich kaum zurückhalten, sie mit Fragen zu überhäufen.
»Oh? Dann wurde ich schon Gegenstand einer Aufführung? Ich hoffe, es ist eine Ehre …«
Rodario setzte zu einer schmeichelnden Erklärung an, wurde aber rüde daran gehindert.
»Was sollte das mit deinem Ungeheuer?«, wollte Boëndal aufgeregt wissen. »Wieso hat er uns bespitzelt? Ich hätte ihn um ein Haar getötet!«
»Er hat euch nicht bespitzelt, er lauerte. Und getötet hättest du ihn sicherlich nicht«, stellte sie herablassend richtig und legte ihren Mantel ab, damit die Wärme des Feuers schneller zu ihr drang. Darunter trug sie ihre Rüstung, dicke Winterkleidung und ihr Schwert. Die Vielzahl der Sachen ließ sie noch breiter wirken, als sie ohnehin schon war. »Er eilte auf mein Geheiß voraus, um die Albae abzufangen, die euch seit Mifurdania verfolgen.«
»Ich wusste es«, stieß Goïmgar unglücklich hervor.
Ingrimmsch lachte. »Das hätte mir noch gefehlt, dass eine Bestie uns vor anderen Bestien rettet.« Seine Finger streichelten die kurzstieligen Beile. »Wir machen sie schon fertig.«
»Wenn ihr sie bis jetzt nicht bemerkt habt, hättet ihr sie auch nicht wahrgenommen, wenn sie in euer Lager gekommen wären«, meinte die Maga ernst. »Djerůn hat zwei von ihnen drei Meilen von hier getötet, zwei weitere entkamen. Weil ich annahm, sie würden sich nicht länger auf eure Verfolgung beschränken, sandte ich ihn voraus.«
»Ich wusste es! Er war es, der mich in Königsstein vor dem Pfeil gerettet hat«, sagte Tungdil.
Andôkai nickte. »Der Alb entkam ihm leider.«
»Ich hätte die Spitzohren nicht entkommen lassen«, grummelte Boïndil. »Mir entkommt kein Gegner, und wenn ich hinter ihm herlaufen muss.«
»Er wurde von ihm angeschossen.« Sie schenkte ihm einen mitleidigen Blick. »Wenn du jedem hinterherrennst, ist es leicht, dich in eine Falle zu locken.«
»Ich lasse mich in keine Falle locken«, widersprach der Zwerg bockig und erklomm den umgestürzten Pfeiler, um seine alte Wachposition einzunehmen.
Oben angekommen, befand er sich mit dem Kopf des Hünen auf einer Ebene. Neugierig spähte er in den Helm, wollte die Schwärze darin erkunden, aber selbst seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erkannten nichts. Es war, als befände sich ein bodenloser Abgrund unter dem Metall.
Die anderen nahmen rings um die Feuerstelle Platz.
Die Menschen waren hellwach, Rodario hielt sein Schreibpapier in der Hand, um dann festzustellen, dass die Tinte eingefroren war. Narmora hatte ihre wundersamen Waffen bereits wieder verstaut, Djerůn gesellte sich zurück ins Halbdunkel des hinteren Teiles der Ruine und wurde wieder zu einem Denkmal.
»Was hat Eure Meinung geändert, Maga?«, wollte Tungdil endlich wissen, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte. »Und wie habt Ihr uns gefunden?«
»Kann ich denn frei vor euren neuen Reisegefährten sprechen?«
»Sie haben uns geholfen, Ihr könnt ihnen vertrauen.«
»Na, na, na«, grummelte Ingrimmsch von oben.
»Und wie man uns vertrauen kann«, rief Rodario laut hinauf und übernahm in seiner unnachahmlichen Weise die Vorstellung seiner Truppe. »Wir wissen von der Feuerklinge und sprangen den angehenden Helden und Figuren künftiger Epen in höchster Not bei, um sie vor den Schwertern und Klauen der Bogglins zu erretten, ehrenwerte Maga«, schloss er gestenreich ab. »Wir sind treue Begleiter.«
Sein Lächeln brachte gewöhnlich das dickste Eis zum Schmelzen und Steine zum Erweichen, doch bei Andôkai versagte es, sie blieb unbeeindruckt.
»Du bist schuld.« Ihre blauen Augen fixierten Tungdil. »Deine Rede ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich hörte dich ständig über die Verantwortung meinem Reich gegenüber sprechen. Es gelang mir nicht, mein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Und den Tod hat Nôd’onn aus hunderten von Gründen verdient.«
Die zuckenden Flammen nahmen ihrem Antlitz einen Teil des Herben, zeichneten die Züge weicher, weiblicher. Rodario blickte sie unentwegt an und hing an ihren Lippen. Ihr strenger Charme und ihre Sprödigkeit schienen ihn als Verführer herauszufordern.
»Also kehrte ich zu den Zweiten zurück und nahm mir die Passage vor, die ich zunächst nicht übersetzen konnte. Du erinnerst dich, die letzte Unsicherheit in eurem Plan?«, sprach sie und schaute ins Feuer. Sie machte eine Handbewegung, und aus den wirbelnden Funken formten sich Buchstaben in der Gemeinsprache. Worte entstanden und verschwanden gleich darauf wieder.
»Die Feuerklinge, geschmiedet von den Untergründigen, wird ihre Wirkung gegen das Böse erst entfalten, wenn sie von dem Feind der Untergründigen geführt wird«, las Rodario laut mit. Er langte neben die Feuerstelle, wo ein verkohltes Stückchen Holz lag, und kritzelte sich Stichworte auf. »Ich muss es notieren. Ich würde mich ohrfeigen, vergäße ich das alles.«
»Ohrfeigen? Da helfe ich dir gern dabei«, bot sich Bavragor an.
»Die Götter mögen mich vor diesen Pranken bewahren«, lehnte er ab. »Das wird das beste Stück, das jemals im Geborgenen Land aufgeführt wurde«, schwelgte er vor sich hin und kratzte mit der Kohle auf dem Papier herum. »Die Häuser werden sich füllen …« Furgas versetzte ihm zum Zeichen, dass er still sein sollte, einen Stoß mit dem Ellenbogen.
»Der Feind der Untergründigen«, sagte Tungdil leise. Seine Enttäuschung in der Stimme konnte er nicht verbergen. Was kann damit gemeint sein?
»Feinde haben wir wahrlich genug«, meinte Boëndal ratlos. »Orks, Oger«, dabei schaute er kurz zu Djerůn, »Bogglins und alles, das Tion gegen uns und die Menschen und Elben schuf. Fällt dir nichts ein, Gelehrter? Dein Wissen wäre endlich von echtem Nutzen«, sagte er halb neckend.
Bavragor nahm seinen Lederschlauch mit Branntwein. »Das wird ein Spaß. Sollen wir uns einen Ork fangen und ihn abrichten, damit er sich auf den Magus stürzt? Oder müssen wir einen Oger bitten, Nôd’onn eins mit unserer Waffe überzubraten?«
»Das war es wohl für die Expedition«, fasste Goïmgar die Bedeutung der von Andôkai übersetzten Passage schwarzseherisch zusammen. Plötzlich wurde er bleich. »Mein König! Er weiß es nicht!«
Tungdil atmete laut aus. »Seid Ihr sicher, was die Übersetzung angeht?«, fragte er zögerlich.
Sie nickte. »Leider. Ich habe mich zu lange damit beschäftigt, um einen Fehler zu begehen.«
»Welchen Vorschlag könnt Ihr machen?« Er schaute zu Djerůn.
Sie lächelte. »Djerůn ist kein Ungeheuer, das versichere ich dir. Er kommt nicht infrage.«
Tungdil kratzte sich in seinem lang gewordenen Bart. »Dann stehen wir vor einer großen Schwierigkeit.« Er blickte in die Gesichter seiner Freunde und der Menschen. »Mir fällt nichts ein.« Er legte sich nieder und zog die Decke zu sich. »Vielleicht sendet mir Vraccas im Schlaf eine Eingebung. Ruht euch aus, wir brauchen unsere Kraft.«
Sie legten sich um das Feuer, Djerůn wachte über sie.
Mir muss eine Lösung einfallen, ich bin der Anführer. Unruhig wälzte er sich hin und her. Wenn ihm nichts in den Sinn kam, stand es für die Zukunft des Geborgenen Landes mehr als schlecht. Dieses Wissen erleichterte ihm das Einschlafen nicht.
Sie brachen am frühen Morgen auf, ohne dass Tungdil eine hilfreiche Eingebung von Vraccas erhalten hatte. Dennoch entschieden sie sich, ins Rote Gebirge zu reiten, vielleicht würde ihnen unterwegs oder zusammen mit den Ersten eine Lösung einfallen.
Es wird uns gelingen, dachte Tungdil fest, als er sich sein frisch entrostetes und mit Öl behandeltes Kettenhemd über das Lederwams warf.
Andôkai ritt bei Rodario mit. Hatte er sich gefreut, die Maga vor sich auf dem Sattel zu haben, damit er sie heldenhaft halten und berühren durfte, geschah das Umgekehrte. Sie nahm den Sattel ab, um mehr Platz zu haben, und verlangte von ihm, dass er vor ihr saß, während sie die Zügel in der Hand hielt, was ihm spöttische Bemerkungen von Furgas einbrachte.
In der Nacht war der Neuschnee anderthalb Ellen hoch gefallen, die Pferde mussten den Ponys einen Weg bahnen. In einer Linie trotteten sie hintereinander her, am Ende stapfte Djerůn und wirkte wie eine lebendig gewordene Statue aus der Ruine, die ihnen nachlief, weil es ihr in dem toten Gemäuer zu langweilig geworden war.
Die seltsam anzuschauende Truppe kam immer zäher voran. Der Winter machte es ihnen schwer, rasch an Meilen zu gewinnen, und zeigte Tungdil, wie wichtig die Tunnel mit den Schnellbahnen waren, um von den Ersten rasch hinüber ins Graue Gebirge zu gelangen. Zu Fuß oder selbst auf ihren Reittieren dauerte es viel zu lange. Die Strecke von zweihundert Meilen, für die sie eine Woche benötigten, hätten sie mit ihren Loren in ein oder zwei Sonnenumläufen bewältigt.
Als sie ihren Pferden nachmittags eine Rast gönnten, sprach er die Maga noch einmal darauf an, wie sie zu ihnen gefunden hatte.
»Es war nicht sonderlich schwierig«, berichtete sie. »Ich kehrte aus dem Jenseitigen Land zurück, verhandelte mit den Zwergen und benutzte den Tunnel, den ihr nahmt. Bei Mifurdania kam ich heraus, Djerůn fand eure Spuren, und alles andere ging leicht. Eine Gruppe von Zwergen fällt auf. Das macht es auch den Albae einfach, euch zu finden.«
Er schaute zu Narmora, die Furgas half, Schnee in einen Topf zu schaufeln, um ihn auf dem Feuer zu schmelzen.
Die Maga wandte den Blick zu Rodario. »Diese Schauspieler … wie seid ihr an sie geraten?« Tungdil erzählte es ihr. »Aha, Narmora ist demnach eine Frau mit vielen Talenten«, lachte sie leise, als sie hörte, dass sie Schlösser aufbrach. »Hast du das Theaterstück gesehen?«
»Oh, ja. Es nennt sich ›Die Wahrheit über Nudin den Wissbegierigen, der sich unter so grauenvollen Umständen zu Nôd’onn dem Zweifachen wandelte und das Geborgene Land ins Unglück stürzet‹. Das Curiosum war übrigens ausverkauft.«
»Ein sehr langer Titel«, grinste sie.
Tungdil sah zum ersten Mal, wie sich ihre Mundwinkel nach oben bewegten, und fand, dass ihr die Freundlichkeit viel besser stand als die strenge Mine, die sich sonst zur Schau trug. Rodario schaute ausgerechnet jetzt hinüber und lächelte zurück, in der Annahme, ihr Schmunzeln gelte ihm.
»Und das ist die Schauspielgröße schlechthin, der Unglaubliche Rodario. Er trägt seinen Titel zu Recht. In jeder Stadt hat er eine Liebschaft, nehme ich an«, erklärte er.
»Das passt. Wer stellte mich dar?«
»Das habe ich nicht mehr gesehen, ich musste einen Dieb verfolgen, ehrenwerte Maga.« Er winkte Rodario zu. »Wir können ihn fragen.«
Der Schauspieler eilte herbei und wurde von der Frau verhört. »Wir haben die besten Schauspieler des Geborgenen Theaters, ehrenwerte Maga, und so gab Narmora Eure Person, da ihre Kampfkünste gut genug sind, die Eurigen darzustellen.« Nach ihrer Aufforderung erzählte er ihr von dem Stück, bis sie ihn unterbrach.
»Wie bist du darauf gekommen, die Geschichte über den Vormarsch des Toten Landes und die Veränderung Nudins auf diese Weise darzustellen?«, wollte sie wissen.
»Ich habe viel darüber gehört, habe mir alte Legenden herausgesucht und das Ganze mit viel künstlerischer Freiheit gemischt«, erklärte er strahlend. »Findet es Euren Gefallen?«
»Es ist erstaunlich dicht an der Wahrheit, jedenfalls was die Veränderung Nudins angeht«, bemerkte Tungdil.
»Oh«, machte Rodario ehrlich verblüfft. »Dann hat die Kunst einmal wieder bewiesen, dass sie einen wahren Kern enthält, nicht wahr?!«
»Danke, du kannst wieder zu deinem Feuer gehen«, schickte ihn Andôkai unfreundlich weg. »Und vergiss nicht, das Stück umzuschreiben, da ich noch lebe.«
»Und wie Ihr lebt, ehrenwerte Maga«, sagte er zuckersüß und schaute in ihre blauen Augen, um ihr Herz zu erobern. »Ein Mann, der Eure …«
»Geh«, befahl sie ihm und schaute zu Tungdil.
Rodarios herrliches Lächeln erlosch abrupt. Fast hatte es den Anschein, das Kinnbärtchen hänge traurig zu Boden »Nur, weil Ihr darauf besteht«, sagte er ohne jeglichen Schmelz in der Stimme.
»Aha, der abgewiesene Pfau packt seine Federn ein und verschwindet«, lachte Bavragor, der die Szene beobachtet hatte. »An der wird er sich die Zähne ausbeißen, der Schauspieler.« Er suchte nach seinem Trinkschlauch, ein Lied vor sich hin summend.
»Wird er nicht«, meinte Furgas zuversichtlich, der sich nach hinten fallen ließ. »Rodario gibt selten auf, wenn er eine Frau haben möchte. Sie reizt ihn mit ihrer Spröde nur noch mehr.« Er gab Narmora einen Kuss und drückte sich eng an sie. »Eines Tages wird er aufhören, mit den Frauen zu spielen.«
»Wenn er nicht vorher von wütenden Ehemännern zu Tode geprügelt wurde«, fügte Boïndil johlend hinzu. »Er muss ein guter Läufer sein, denn kämpfen kann er nicht.«
Nach kurzer Rast bereiteten sie sich auf die Weiterreise vor. Auch Tungdil und die Maga unterbrachen ihr Gespräch. Djerůn trat zu ihr und beugte sich auf ein Knie, sie setzte sich in seine gefalteten Hände. Rodario sah es mit Missfallen, denn jetzt saß er wieder allein auf dem Pferd.
Die kommenden Tage ritten sie durch die Schneeverwehungen Weyurns und hatten Mühe, einen sicheren Weg zu finden. Wo die Pferde bis zum Bauch einsanken, kamen die Ponys gar nicht mehr durch; Djerůn trug seine Herrin, und ihr beider Gewicht zog ihn bis zu den Hüften ins kalte Weiß.
Mehr als einmal mussten sie umkehren und sich einen besseren Pfad suchen, aber das Rote Gebirge konnte ihnen nicht mehr entkommen. Deutlich sichtbar wies es ihnen mit seinen roten Hängen den Weg, und in den seltenen Augenblicken, in denen die Wintersonne durch das Wolkengrau drang, leuchteten sie auf, als stünden sie in Flammen.
Schließlich entdeckten sie den Eingang zu einem schmalen Tal, das sich auf einen tiefroten Berg zuschlängelte. Am Eingang und in allen fünf Biegungen des Tales ragten Mauern auf. Für Feinde gab es hier kein einfaches Durchkommen, die Zwerge vom Stamme Borengar waren vorsichtig.
»Wir haben es geschafft«, freute sich Tungdil. Erschöpft rieb er sich über den Bart, und das dünne Eis, das sich in den Haaren unter der Nase gebildet hatte, löste sich. Seine Haut fühlte sich kalt an, seine Füße spürte er fast nicht mehr, und wenn er sein Kettenhemd länger mit bloßer Hand berührt hätte, würde sie festfrieren. Ein gutes Bier wird die Kälte aus meinem Körper vertreiben. »Da vorne liegt der Eingang!«, rief er laut.
Die Kriegerzwillinge blickten skeptisch auf die sechs Hindernisse, die zu überwinden waren. »Ich frage mich, warum sie diese vielen Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben«, machte Boëndal sein Unbehagen angesichts der vielen Mauern deutlich. Er hatte seinen Zopf wie einen Schal um den Hals gewickelt, um sich vor der Kälte zu schützen. »Man könnte meinen, dass die Kreaturen Tions von dieser Seite und nicht von Westen gegen den Durchgang anrennen.«
»Können wir darüber nachdenken, wenn wir im Warmen angelangt sind?«, bat Rodario zähneklappernd. »Meine Zehen lassen sich nicht länger hinhalten und drohen zu erfrieren.« Auch bei ihm hingen kleine Eiszapfen unter der Nase.
»Schauspieler sind wie kleine Mädchen«, meinte Bavragor abschätzig, »oder wie Schimmerbart. Was überhaupt keinen Unterschied macht.«
»Trink doch noch etwas von deinem Branntwein, damit du besoffen in den Schnee fällst und stirbst«, zischte Goïmgar wütend.
»Du wirst mit deinen zittrigen Händen nicht einen einzigen Widerhaken für die Klinge passend fertigen, das spüre ich.«
»Was du spürst, das ist Drücken zwischen deinen Backen, weil du ständig die Hosen voll hast, mein Kleiner«, gab er zurück und würdigte ihn nicht mal eines Blickes.
Boëndal wies sie an, in einer kreisförmigen Formation zu reiten. Vorsichtig und mit gezückten Waffen bewegten sie sich durch das Tal und näherten sich schließlich dem ersten verwitterten Bollwerk, das vierzig Schritte vor ihnen in den Winterhimmel ragte. Ein eisernes, runenverziertes Tor versperrte ihnen das Weiterkommen. Die Ersten kümmerten sich nicht sonderlich um das Verzieren der Steine, sondern hatten einfache Quader aufeinander geschichtet.
Tungdil las die alten Zeichen laut vor, das Portal blitzte auf, die Flügel schwenkten zurück und erlaubten ihnen den Eintritt. »Wenn nur alles so einfach wäre wie Lesen und Schmieden.« Der Tross setzte sich in Bewegung.
»Für dich ist es einfach. Wissen lohnt sich zuweilen, Gelehrter«, meinte Boëndal lachend und deckte ihnen den Rücken. »Du beweist es mir immer wieder. Ohne dich …« Die Ringe seines Panzerhemds klingelten leise. Er verstummte abrupt, und seine Augen weiteten sich. »Was, bei Vraccas …«, stammelte er und langte hinter sich.
Ein schwarzer Pfeil ragte aus seinem Rücken, und schon zischte ein zweiter heran, durchbohrte seine Hand und die Rüstung und verschwand in seinem Leib. Das Geschoss flog mit solcher Wucht, dass die Spitze vorn wieder austrat. Ächzend rutschte Boëndal aus dem Sattel.
»Halt!«, rief Rodario voller Schreck, um die anderen aufmerksam zu machen, und zügelte sein Pferd. Er hörte, wie etwas gefährlich nahe an seinem Hals vorbeiflog und statt ihn das Tier in den Nacken traf. Wiehernd brach es zusammen, und der Schauspieler verschwand in einer weißen Schneestaubwolke.
Djerůn wandte sich um und erhielt ebenfalls einen Treffer. Mit einem seltsamen Geräusch durchschlug der lange Pfeil die Rüstung knapp neben Andôkais Brust, doch selbst jetzt hörte man hinter dem Helm keinen Laut hervordringen. Sofort drehte er sich um, damit seine Herrin nicht von einem der Geschosse getroffen wurde.
Die Maga fluchte laut und wirkte einen Zauber.
»Was ist?«, rief Furgas und wendete wie alle anderen der Gruppe.
»Da!«, machte Narmora sie auf die hoch gewachsene Gestalt mit den langen blonden Haaren am Eingang des Tales aufmerksam. Der Alb legte soeben den nächsten Pfeil auf die Sehne des langen Bogens. Das Geschoss flog heran und hielt geradewegs auf Tungdil zu.
Er wollte aus dem Sattel springen, um dem gefiederten Tod zu entkommen, verhedderte sich dabei aber in den Steigbügeln, sodass er nicht mehr rechzeitig ausweichen konnte. Leise sirrend flog der Pfeil heran, um eine Fingerlänge vor ihm regungslos in der Luft zu stehen, die Spitze genau auf sein Herz gerichtet. Er erschauderte.
»Schnell, nehmt Boëndal und lasst uns von hier wegreiten«, keuchte die Maga. »Ich kann den Zauber nicht mehr lange aufrecht halten.«
»Verfluchter Alb!«, schrie Boïndil, die Tobsucht in den Augen, und wollte sein Pony antreiben. »Da ist noch einer! Sie gehören mir!«
»Nein«, hielt ihn Tungdil auf und schaute nach vorn. Tatsächlich standen nun zwei Albae nebeneinander; sie warteten auf einen Hinweis, dass der Schutzzauber brach. »Du würdest Andôkais Schutz verlassen und von den Geschossen durchbohrt werden. Dein Bruder ist wichtiger als sinnlose Rache.« Er griff in die Zügel des Ponys.
»Weg!« Ingrimmsch starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen. Ein Beil hob sich zum Schlag.
Boëndal richtete sich blutend auf. »Bruder, nein! Lass es nicht noch einmal geschehen«, stöhnte er und versuchte, sich mithilfe seines Krähenschnabels auf die Beine zu stemmen, schaffte es aber nicht. Eine Hand war ihm durch den Pfeil auf den Rücken genagelt. Der Schmerz trieb ihm das Wasser in die Augen, dann verstummte er, und sein Körper entspannte sich.
»Nein! Vraccas, lass nicht zu, dass er stirbt!« Boïndil sprang aus dem Sattel und kniete neben ihm nieder. »Sein Herz schlägt noch.« Hastig schnitt er die Schäfte der Pfeile ab und hob seinen Bruder auf. »Wir müssen ihn in die Festung bringen.«
Schnell hievten sie den Leblosen auf das Pony und zerrten das vom Geschrei völlig verstörte Tier auf das nächste Tor zu.
Tungdil befiel das kalte Grausen, als er die Blutspur des Zwergs im pulvrigen Weiß sah. Selbst über die Krieger bringt die Expedition Verderben.
Er warf einen Blick zu den Albae hinüber. In dem Blonden glaubte er Sinthoras wieder zu erkennen. Verfluchte Bestie! Er muss den Angriff Djerůns in der Oase überstanden haben. Jetzt kehrte er zurück und nahm Rache für sich und seine Gefährtin, die sie in Grünhain getötet hatten.
Sinthoras riss sich ein Band vom Hals, wickelte es um sein nächstes Geschoss und zielte. Der Abstand bis zu ihnen betrug zweihundertfünfzig Schritt, aber Tungdil zweifelte nicht daran, dass der tödliche Pfeil bis zu ihnen gelangte. Die Sehne schnellte nach vorn, und kurz darauf schoss auch Sinthoras’ Begleiter.
»Gebt Acht!«, warnte Tungdil die anderen und verlor die Pfeile aus den Augen; sie waren zu schnell, um ihren Flug zu verfolgen.
Der magische Schild, den Andôkai errichtet hatte, flimmerte, als der erste Pfeil ihn brach. Der zweite schlug im Rücken Djerůns ein und bohrte sich durch das Metall.
Dieses Mal drang ein dumpfer Laut unter dem Kopfschutz des Kriegers hervor, und aus der Wunde sprühte eine grellgelbliche Flüssigkeit, als hätte die Spitze eine prall gefüllte Blase getroffen.
Tungdil hatte dieses Zeug in Königsstein gesehen, es schwamm in der Pfütze, kurz nachdem er gerettet worden war. Er wurde damals wirklich verletzt. Der Krieger schwankte, schüttelte benommen den Kopf und ging weiter, dieses Mal deutlich langsamer. »Nicht stehen bleiben!«
Sie rannten und ritten auf das zweite Tor zu. Tungdil öffnete es, und als das Portal sich hinter ihnen schloss, fühlten sie sich einigermaßen sicher.
»Schneller!« Boïndil trieb sie zur Eile an, während das Blut seines Bruders die Flanke des Ponys tränkte.
Aus der gelblichen Flüssigkeit, die aus Djerůns Wunde sickerte, war eine dunkelgraue geworden, und seine Geschwindigkeit verringerte sich beständig.
Die Beine der Zwerge, Menschen und Tiere sanken im tiefen Schnee ein, als sie sich den sanften Abhang hinunter auf das nächste Tor zukämpften.
Tungdil erinnerte sich bei dem Anblick an den sanften Abhang neben dem Stollen in Ionandar, auf dem er mit Frala und Sunja im Winter Schlitten gefahren war. Kurz entschlossen nahm er Goïmgar den Schild weg und drehte ihn um. »Legt Boëndal drauf. Wir rutschen hinunter, das geht schneller.«
Sie legten den Schwerverletzten darauf, Ingrimmsch kauerte sich über ihn, und so sausten sie über die weiße Fläche, direkt auf den dritten Durchgang zu, der sich überraschenderweise für die beiden öffnete.
Die glatte Unterseite des Schildes glitt immer schneller über den Schnee, und Boïndil konnte weder steuern noch bremsen. Dann raste er genau auf eine Gruppe von Zwergen zu, die hinter dem Portal Aufstellung genommen hatte und mit ihren Äxten auf die Neuankömmlinge wartete.
Tungdil legte die Hände an den Mund. »Bei Vraccas, wir sind Zwerge vom Stamm der Zweiten«, rief er den Verteidigern zu, und sein Atem stand als weiße Wolke in der kalten Luft. »Senkt die Waffen!«
Die Ersten erkannten die nahenden Freunde noch rechtzeitig und bildeten eine Gasse, um das seltsame Gefährt passieren zu lassen, das umgeben von glitzernder Gischt durch ihre Reihen rauschte. Wie durch ein Wunder geschah niemandem etwas.
Der Rest der Gefährten keuchte heran und wurde von den Wachen argwöhnisch betrachtet, von denen wegen der Rüstungen und Pelze zum Schutz gegen die Kälte nur die Augenpartien zu erkennen waren. Ein Wald aus langen Spießen, Äxten und Kriegshämmern reckte sich ihnen entgegen.
»Der Segen von Vraccas, der unser Schöpfer ist, sei mit euch! Möge das Feuer der Lebensesse niemals erlöschen. Mein Name ist Tungdil Goldhand«, stellte er sich nach Luft ringend vor und warf einen Blick über die Schulter, um nach den Albae Ausschau zu halten. »Das sind meine Freunde und Begleiter. Wir müssen mit eurem König sprechen, der Rat der Stämme hat uns gesandt, um mit euch die Rettung des Geborgenen Landes zu bereden.«
Der Wald aus Stahl und Eisen lichtete sich. Ein Zwerg in Kettenhemd, Lederhose und einem besonders schön gearbeiteten weißen Pelzumhang trat nach vorn. »Wir haben schon seit vielen Zyklen nichts mehr von den anderen Stämmen und Clans gehört, und nun, wo das Tote Land erwacht ist, taucht eine bunte Ansammlung aus Langen und Zwergen auf?« Die Stimme war ungewöhnlich für einen Mann.
»Wie sprichst du zu uns, Zwerg, der keinen Namen zu haben scheint?!«, grollte Bavragor und trat vor; er überragte den Sprecher um einen Kopf. »Ich bin Bavragor Hammerfaust aus dem Clan der Hammerfäuste, ein Kind des Schmiedes aus dem Stamm Beroïns und dir ebenbürtig. Sieht so die Gastfreundschaft der Ersten aus?«
»So kann nur ein Zwerg poltern«, meinte der andere und zog den Schal nach unten, damit man das Gesicht erkennen konnte.
Tungdil verschlug es die Sprache. Er schaute in das Antlitz einer Zwergin! Die weichen Züge waren unverkennbar, und anstelle eines Bartes trug sie zarten dunkelbraunen Flaum, der an den Seiten dichter und dunkler wurde.
»Mein Name ist Balyndis Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger. Ich beschütze die Hauptpforte der Ersten, und von daher ist es meine Pflicht, Gäste genau zu betrachten, ehe ich sie hereinbitte«, sagte sie keineswegs eingeschüchtert.
»Du bist ein Weib«, sagte Bavragor verblüfft.
»Gut gesehen, Bavragor Hammerfaust aus dem Clan der Hammerfäuste«, entgegnete sie lächelnd mit spöttelndem Unterton. »Dein Auge ist scharf.« Dann gab sie Anweisung, dass man sich um den verletzten Boëndal kümmern sollte. Vier Zwerge hoben ihn samt Schild auf und trugen ihn auf das vierte Tor zu. Sein Bruder wich nicht von seiner Seite, nachdem es ihm Tungdil mit einem knappen Kopfnicken erlaubte. »Wir bringen euch in die große Halle. Dort werdet ihr unsere Königin treffen.«
Die Wächterin musterte Tungdil neugierig, dann wandte sie sich um, und sie folgten ihr. Tungdil warnte sie vor dem Alb, worauf Balyndis die Krieger anwies, die Mauern des dritten Walles zu besetzen, auf dem große Speerkatapulte und Steinschleudern aufgebaut waren.
»Wozu braucht ihr die?«, wollte er wissen.
»Wir hatten vor vielen Zyklen mit Trollen zu kämpfen, die Tion in unserem Rücken aussetzte. Unsere Vorväter errichteten die Wälle, um ihre Angriffe zu behindern, und schließlich unterlagen die Bestien.« Sie schaute nach oben. Eine Wache signalisierte ihr, dass alles ruhig war. »Scheint, als hätten sich die Albae zurückgezogen. Was wollten sie von euch?«
»Verzeih, aber das berede ich mit deiner Königin«, wich er ihrem forschenden Blick aus.
»Das ist ja höchst aufschlussreich«, meinte Rodario ganz aufgeregt. »Scheint so, als hätten die Frauen hier die Hosen an. Ein Aufstand der Zwerginnen! Wenn meine verdammte Tinte nicht eingefroren wäre«, jammerte er. »Das kann ich mir niemals alles merken!«
»Ein Aufstand?« Balyndis lachte. »Nein, kein Aufstand. Ist es nicht üblich, dass sich Mann und Frau die Aufgaben teilen?«
Djerůn hatte Andôkai abgesetzt und schwankte hinter ihnen her, bis er im letzten Torbogen stehen blieb und sich an einen Pfeiler lehnte.
Es geht dem Krieger sehr schlecht, stellte Tungdil fest. Er fühlte sich mit verantwortlich, weil Djerůn seinetwegen bereits in Königsstein verletzt worden war.
»Er muss es nur noch ein paar Schritte weit schaffen«, sagte die Zwergin, »danach kümmern sich unsere Heiler um ihn.« Sie schien sich keine Gedanken darüber zu machen, dass seine Größe nicht zu der eines gewöhnlichen Menschen passte.
»Nein, das ist nicht notwendig. Ihr könnt vorgehen, ich muss mich selbst um ihn kümmern«, schickte Andôkai sie vor. Djerůn rutschte langsam an der Steinwand hinab und sank in den Schnee. »Wir folgen euch nach. Eure Kunst reicht nicht aus, um seine Verletzungen zu kurieren; nur meine Magie kann ihm helfen.« Ohne Rücksicht auf ihren eigenen geschwächten Zustand kniete sie sich neben ihn und zog ihre letzten innerlichen Reserven zusammen. »Geht!«, befahl sie hart, und die anderen wandten sich um, ohne zu widersprechen.
Das ist also die Heimat der Ersten. Tungdil schaute zu den roten Hängen des Berges. An seinem Fuß hatten die Ersten eine Festungsanlage mit neun Schwindel erregenden Türmen herausgeschlagen. Der Baustil sah anders aus als der der Zweiten, weniger hart und kantig, sondern geschwungener, aber nicht weniger beständig und solide. Auf aufwändige Ornamente hatten sie ganz verzichtet.
Die Gruppe ließ ihre Pferde zurück und stieg auf eine hölzerne Plattform am Ende eines Turms. »Bewegt euch nicht und bleibt ruhig stehen. Das erste Mal ist es sicherlich ungewohnt.« Balyndis legte einen Hebel um, und schon schossen sie nach oben, flogen an engen und steilen Wendeltreppen vorbei.
Tungdil hörte unterwegs das Rasseln von Ketten, die sich abspulten und aufwickelten. Ein Flaschenzug für Leute! »Ihr hattet das Treppensteigen satt?«, fragte er die Zwergin.
Balyndis schenkte ihm ein Lächeln, und ihre Züge wurden für ihn dadurch noch hübscher. »Es macht das Leben leichter.«
Sie gelangten an die Spitze des höchsten der neun Türme und zu einem Wehrgang. Auf ihm schritten sie entlang, bis sie über eine breite, frei tragende Bogenbrücke auf den Eingang zumarschierten.
Rechts und links von ihnen ging es zweihundert Schritt in die Tiefe. Krähen und Dolen kreisten um sie, und der Wind pfiff eisiger denn je. Narmora achtete darauf, dass das rote Kopftuch nicht davonflog.
Die großen, gut zehn Schritt breiten und fünfzehn Schritt hohen Portale blieben ihnen verschlossen; stattdessen öffnete Balyndis ihnen eine Tür, durch die sie in die große Halle gelangten.
Bavragor wirkte sehr zufrieden. »Wusste ich’s doch«, murmelte er und brauchte nichts weiter zu sagen, denn alle wussten, dass er soeben ein Qualitätsurteil über die Steinmetzarbeiten der Ersten abgegeben hatte.
Was ihn nicht sonderlich beeindruckte, sorgte bei Furgas, Rodario und Narmora indes für unverkennbares Staunen und Begeisterung.
»Ich habe immer davon gehört, aber niemals geglaubt, dass man solche Hallen in den Fels treiben kann«, sagte Furgas ehrfurchtsvoll und senkte seine Stimme.
»Wir brauchen unbedingt ein neues Theater«, beschloss der Schauspieler. »Es muss noch größer sein, damit wir den Spectatores den Eindruck dieser Herrlichkeit vermitteln können.« Er berührte den Stein mit den Fingern. »Tatsächlich, er ist echt. Keine Pappe. Sagenhaft, nein, es ist märchenhaft!«
Sie bewunderten die Statuen und Standbilder aus Bronze und Kupfer, an deren Detailreichtum sich vor allem die Zwerge erfreuten. Es waren Darstellungen von Schlachten gegen die Kreaturen Tions, aber auch einzelne Zwerge, wie der Stammvater der Fünften oder herausragende Krieger und Kriegerinnen der Ersten.
»Hier entlang«, wies sie ihre Führerin an, die einige Schritte vorausgeeilt war, und zeigte ihnen das nächste Wunder.
Dieses Mal musste Bavragor eingestehen, dass zumindest die Ingenieure der Ersten unerreicht waren. Dort, wo der Stein nicht ausgereicht hatte, um eine Brücke über die unendlich tiefen Schluchten zu schaffen, hatten sie glänzende Stahlplatten in die Lücken eingesetzt und sie mit wunderschönen schmiedeeisernen Geländern und Zierrat aus Silber versehen.
Bei der letzten Brücke erzeugten die genagelten Stiefel bezaubernde Töne, jede Platte klang anders. Der Schall drang durch die hohe Höhle, und die Töne mischten sich zu einem einfachen, doch herrlichen Konzert.
»Ich kapituliere«, meinte Rodario erschlagen von den Eindrücken des Zwergenreichs. »Wir lassen das Projekt fallen und führen irgendeine blödsinnige Posse auf. Nicht die beste Illusion vermag das hier nachzuahmen.«
»Doch, das bekommen wir schon hin«, meinte Furgas zuversichtlich. »Es wird nur sehr teuer.«
Das letzte Eis und der letzte Schnee schmolzen von ihrer Kleidung und den Rüstungen, sie fühlten sich wohler und sehr müde.
Balyndis blieb vor einer großen Pforte stehen und klopfte. Ein goldener Schimmer fiel durch den Spalt und gab ihnen einen Vorgeschmack auf die Pracht, die sie im Innern erwartete.
Der rechteckige Saal war ganz mit Blattgold ausgekleidet. Die Wände reflektierten das warme Licht der aufgestellten Kerzen und Leuchter; sämtliche Statuen bestanden aus Gold, Silber, Vraccassium und weiteren wertvollen Metallen, welche die Clans der Ersten aus dem Leib des Berges geschürft hatten. Die Skulpturen waren mit losen Schmuckstücken versehen, die man nach Belieben austauschen konnte.
Die Königin saß zwanzig Schritt von ihnen entfernt auf einem Thron, der offenbar aus purem Stahl bestand. Zwerginnen und Zwerge in vergoldeten Rüstungen wachten über sie. Kunstvolle Mosaikbilder aus gewalzten Silber-, Gold- und Vraccassiumplättchen hingen über ihren Köpfen und funkelten.
»Sagte ich teuer?«, raunte Furgas Rodario zu. »Ich meinte, sehr teuer.«
»Kommt näher und seid im Reich der Ersten willkommen«, erlaubte ihnen die Herrscherin den Eintritt.
Tungdil setzte sich an die Spitze des kleinen Zuges. Höflich verneigte er sich vor der Königin und sank auf ein Knie nieder. Die anderen Zwerge taten es ihm nach, und nur die Menschen begnügten sich mit einer tiefen Verbeugung. Dann stellte er sie der Reihe nach vor und vergaß auch nicht, die Zwillinge und die Maga zu erwähnen.
»Ich bin Tungdil Goldhand vom Stamm der Vierten«, beendete er seine kurze Rede und hoffte, dass er alles richtig gemacht hatte. »Ein wichtiges Anliegen führte uns quer durch das Geborgene Land bis zu dir.«
»Sehr schön, Tungdil Goldhand. Ich bin Königin Xamtys II. Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne und seit zweiunddreißig Zyklen Gebieterin über das Rote Gebirge. Euer Besuch macht mich neugierig, denn ich habe schon lange nichts mehr aus den Reichen meiner Brüder gehört.« Sie trug eine Rüstung aus goldenen Ringen und eine vierzackige Keule als Zepter, ihre braunen Augen blickten neugierig und freundlich zugleich.
Sie bekamen Getränke gereicht; heiß stieg der Dampf aus den Bechern auf. Rodario schlürfte mit wohligem Seufzen und freute sich über die Wärme, die sich seit langer Zeit wieder in ihm ausbreitete.
»Und welches wichtige Anliegen führt dich und deine Freunde in mein Reich?«, fragte die Königin.
»Es ist leider nichts Gutes.« Tungdil begann mit seinem Bericht, schilderte die Veränderungen im Geborgenen Land, den Tod der Magi und Magae und verheimlichte ihr auch nicht die Streitfrage um den nächsten Großkönig. Schließlich kam seine Sprache auf die Feuerklinge.
»Und dazu benötigten wir den besten Schmied, den dein Reich zu bieten hat. Er muss in der Lage sein, die Waffe gegen Nôd’onn zu schmieden«, sagte er beschwörend. »Hilf uns und rette damit auch dein Reich, Königin.«
Xamtys musterte ihn mit ihren dunkelbraunen Augen und spielte mit einer Strähne ihres dichten blonden Flaums. Abrupt ließ sie sie los. »Es klingt ernst, was du berichtest, Tungdil«, meinte sie gedankenvoll. »Der andere Bewerber, Gandogar, ist noch nicht bei uns erschienen. Das lässt mich das Schlimmste für ihn befürchten. Vielleicht hatte er gegen die Albae weniger Beistand von Vraccas als ihr.«
»Niemals!«, begehrte Goïmgar auf. »Vraccas schützt ihn! Er ist der einzige rechtmäßige Anwärter auf den Thron!«
»Das habe ich nicht zu befinden«, erwiderte sie freundlich und wandte sich an Tungdil. »Deinen Wunsch erfülle ich dir gern. Kann es einen besseren Zeitpunkt geben, die alte Gemeinsamkeit der Stämme aufleben zu lassen?« Sie wies mit ihrer Keule auf Balyndis. »Sie wird euch begleiten. Sie ist nicht nur meine beste Kämpferin, sondern auch die beste Schmiedin.«
»Verzeiht, o edle Königin, wenn ich mich einmische, aber wie kam es, dass eine Zwergin auf den Thron gelangte?«, erkundigte sich Rodario neugierig. »Ich dachte immer, die Männer …«
»Ein wissbegreriger Langer, wie es scheint? Nun, ich erkläre es dir. Es begann mit einem Streit. Mein Vater Boragil schätzte den Rat meiner Mutter, aber sprach ihr die Befähigung ab, das Reich führen zu können. Sie ärgerte sich und verlangte, dass sie den Gegenbeweis antreten dürfe. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie vierzehn Umläufe lang die Geschicke der Ersten lenken durfte. Genau in diese Zeit fiel der Angriff der Trolle, aber meine Mutter dachte gar nicht daran, das Amt deswegen aufzugeben. Sie trat den Ungeheuern an der Spitze eines Heeres entgegen und schlug sie mit Kraft und List in die Flucht. Damit war bewiesen, dass sie sogar besser herrschte als mein Vater. Als dieser den Thron nach vierzehn Umläufen zurückverlangte, widersetzte sie sich, und die Clans folgten ihr.« Sie stand auf. »Als meine Mutter vor zweiunddreißig Zyklen starb, folgte ich ihr auf den Thron.«
»Vielen Dank, o große Königin. Ihr werdet eine herausragende Rolle in meinen Stück erhalten.«
Eine Botin betrat den Saal und berichtete, dass es Boëndal sehr schlecht gehe; die Magierin sei bei ihm und versuche, ihm zu helfen. Die Besorgnis der Zwerge wuchs.
»Ich lasse euch ein Nachtlager zuteilen, wo ihr euch von den Strapazen erholen könnte. Danach lasse ich euch Kleider und Pelzmäntel gegen die Kälte anfertigen«, sagte Xamtys. »Ich nehme an, dass ihr morgen gleich Weiterreisen wollt? Die Eingänge zu den Tunneln lasse ich euch zeigen, wenn ihr ausgeruht seid.«
»Du kennst das Geheimnis?«, fragte sie Tungdil überrascht und musste ein Gähnen unterdrücken. »Und dennoch sind die Ersten niemals darin gefahren?«
»Meine Mutter sorgte sich, dass ihre Throneroberung von den anderen Stämmen schlecht aufgenommen werden könnte. Um Streitereien zu verhindern, verhielt sie sich still, und so hielt ich es auch.«
»Dann bitte ich dich im Namen des Rates der Stämme, dass du wenigstens eine Gesandtschaft deiner Clans ins Blaue Gebirge schickst, um an den Beratungen teilzuhaben.« Tungdil legte viel Nachdruck in seine Rede. »Du hast vorhin die Gemeinschaft der Stämme erwähnt. Hilf, dass sie wieder entsteht.«
»Er hat mit seinen Berichten über das Tote Land nicht übertrieben, große Königin«, unterstützte ihn Rodario. »Wir haben gesehen, was die Orks anrichten. Nôd’onn treibt sie voran, und nur Euer Volk kann sie aufhalten. Sprecht mit den Königen und Clanführern der Vierten und Zweiten und fürchtet Euch nicht vor dem, was sie zu Euch sagen könnten. Es ist keine Zeit zum Zaudern.«
Tungdil warf ihm einen dankbaren Blick zu. Wer hätte das gedacht?
Xamtys blickte sie gütig an. »Sobald ihr zur Reise ins Graue Gebirge aufbrecht, werden meine Clans und ich nach langen Zyklen unsere Brüder und Schwestern treffen.« Sie schaute entschlossen, die Keule schlug gegen den Thron. »Ihr habt Recht, die Sache duldet keinen Aufschub.«
»Das ist sehr freundlich von dir«, presste Boëndal unter Schmerzen stockend hervor, »doch ich will deine Hilfe nicht. Ich werde die Verwundung ohne deine Magie überstehen.«
Die Helfer hatten ihn in eine warme Kammer getragen, sein Kettenhemd abgenommen und seine Wunden freigelegt, damit sie behandelt werden konnten. Die ersten Verbände waren durchgeblutet, nun wartete er auf neue.
Andôkai, die nicht weniger blass war als er, saß neben seinem Bett, die Einschüsse betrachtend. Sein Körper rang mit den Auswirkungen der Albaepfeile: Einige innere Organe waren von der Spitze verletzt worden, und dazu kam der nicht unwesentliche Blutverlust. »Ich kenne mich mit Verwundungen aus, und das, was ich sehe, lässt mich an deinen Worten zweifeln«, meinte sie aufrichtig, und die blauen Augen spiegelten ihre Besorgnis wider. »Überwinde deinen Stolz und denke daran, dass wir weiter müssen.«
»Es geht nicht um Stolz«, sprang ihm sein Bruder aufgebracht bei, der auf der anderen Seite neben der Schlafstätte stand und sorgsam über alles wachte. Er hatte sich nicht einmal erlaubt, etwas zu essen, nur seinen Mantel hatte er abgelegt. »Wir wollen deine Magie nicht, es ist schlechte Magie. Du betest Samusin an und könntest das Böse in ihn hineinzaubern.«
»Unsinn«, wies sie den Vorwurf zurück.
Boëndal schloss die Augen, und seine Atmung wurde schneller. »Ich … will … nicht.«
»Ohne deine zwergische Robustheit und deinen Dickschädel wärst du schon lange tot«, sagte sie kühl. »Wie lange möchtest du mit deinem Leben spielen? Lass mich dir helfen, so lange ich es noch kann. Auch meine Kraft schwindet.«
Doch er antwortete nicht mehr; stattdessen nickte Boïndil zur Tür. »Sieh nach deinem eigenen Verletzten, Zauberin, und lass die Zwerge ihre Verwundeten selbst pflegen.«
Die Maga stand auf, eine Hand an ihren Schwertgriff gelegt, und schritt schweigend zur Tür.
»Er meint es nicht so«, raunte Boëndal. »Ich danke dir für dein Angebot, aber Vraccas wird dafür sorgen, dass ich überlebe.«
Andôkai warf sich den Mantel um die Schultern. »Ich wünsche dir, dass dein Gott dich erhört.« Laut fiel die Tür ins Schloss, und es wurde still in der Kammer.
»Ich bin mir nicht mehr so sicher …«, sagte Boëndal nach einer Weile.
»Sei ruhig, Bruder«, unterbrach Boïndil ihn. »Vraccas hat dich gesehen und wird dir ein langes Leben schenken. Wenn einer den Tod verdient, bin ich es. Sei also unbesorgt.« Er gab ihm noch einen Schluck Wasser zu trinken und verließ das Zimmer ebenfalls, um die Helfer mit den frischen Verbänden herbeizuscheuchen.
»Vraccas stehe ihm bei!« Seine Rüstung lastete tausendmal schwerer als sonst, die Beine fühlten sich an, als stemmten sie Tonnen, und seine Gedanken kreisten einzig um Boëndal. Sein wächsernes Gesicht machte ihm Angst, die Pfeilwunden trennten ihn um Haaresbreite vom Einzug in die Ewige Schmiede. Die Zauberin hatte mit ihrer Bemerkung über die Zähigkeit seines Volkes Recht. Ein Mensch überstand solche Verletzungen nicht, und ob sie ein Zwerg überstünde, das würden die kommenden Umläufe zeigen.
Im Gang stieß er auf Tungdil, der sich anschickte, den Verwundeten zu besuchen. »Wie geht es ihm?«, wollte er beunruhigt wissen.
»Er schläft. Die Verbände sind durchgeblutet, und er benötigt dringend neue«, sagte der Krieger fahrig. Das irre Funkeln in seinen Augen war unendlich großer Sorge gewichen.
»Ich dachte, Andôkai wolle nach ihm sehen? Hat ihre Magie nichts erreicht?«, wunderte er sich.
»Wir wollen nicht, dass sie uns hilft«, antwortete Ingrimmsch. »Magie ist nichts, taugt nichts. Mit Samusin wollen wir schon mal gar nichts zu tun haben.« Er ging an ihm vorbei und rief nach den Pflegern, die daraufhin angelaufen kamen und frische Verbände brachten.
Tungdil wusste, dass er sich einen Streit über Magie mit den Zwillingen sparen konnte. Überzeugung und Starrsinn lagen allzu dicht beieinander. Eher würde Boëndal sterben, als sich von der Maga heilen zu lassen.
Leise betrat er die Kammer und betrachtete den Zwerg, der wie tot in den Kissen lag, das Gesicht bleich, die Brust hob und senkte sich kaum. Die Pfleger wuschen das verkrustete Blut sorgsam ab und nähten die klaffenden Wunden wieder zusammen. Anschließend deckten sie eingeweichte Moose darüber, deren Saft die Qualen linderte.
»Wir werden ohne ihn Weiterreisen müssen«, meinte Tungdil halblaut zu Ingrimmsch. »In seiner Verfassung macht er keine hundert Schritt, ohne dass er uns stirbt.«
»Nein … Ich schaffe es, Gelehrter«, kam es leise, aber bestimmt aus Boëndals Mund. Er richtete seine Augen flehend auf ihn, fasste seine Hand. »Nach zwei Umläufen geht es wieder. Es ist nur ein Kratzer!«
Tungdil blickte fragend zu einem der Pfleger, der den Kopf schüttelte. »Nein, das wird nicht gehen. Die äußeren Wunden sind nicht die Schwierigkeit, sondern die inneren Verletzungen. Jede Bewegung sorgt für eine Verschlimmerung. Er würde qualvoll zu Grunde gehen. Er kann nicht reisen.«
»Bleib hier und genese, Boëndal. Wir treffen uns rechtzeitig zur großen Schlacht gegen Nôd’onn«, entschied Tungdil schweren Herzens. »Du hast deinen Anteil geleistet.«
»Ich gehe mit! Wo einer von uns beiden ist, da ist auch der andere. Es ist die größte Tat, die jemals von unserem Volk …«
Er wollte sich aufrichten, aber sobald er seinen Oberkörper ein wenig rührte, stöhnte er laut auf, und ein dunkelroter Fleck entstand auf den frisch angelegten Verbänden. »Es scheint, als ob du Recht hättest, Gelehrter«, knurrte er durch die zusammengebissenen Zähne hindurch und schaute zu seinem Bruder. »Du wirst ihn und die anderen allein beschützen müssen.«
Boïndil stand stocksteif neben dem Bett, er wusste nicht, was er sagen sollte. »Zum ersten Mal in unseren Leben werden wir getrennt sein«, sprach er mit belegter Stimme und fasste die Hand Boëndals. »Ich werde dich bei den Kämpfen vermissen. Die ersten einhundert Schweineschnauzen sind für dich.«
»Du hast Großes vor«, lächelte er schwach. »Aber übernimm dich nicht. Ich kann dir nicht den Rücken frei halten.« Sie umarmten sich, Tränen rannen über ihre bärtigen Wangen. Einen solchen Abschied hatten sie noch niemals begangen.
»Und zügle deine Tobsucht, Bruder. Du wirst deine Wut besser kontrollieren müssen als sonst, versprich es mir!«
»Ich verspreche es«, schwor Ingrimmsch feierlich. »Doch nun ruh dich aus.« Zusammen mit Tungdil verließ er die Kammer. »Wann brechen wir auf?«
»So früh wie möglich«, antwortete Tungdil. »Andôkai hat Djerůn auf magische Weise zusammengeflickt. Ihm es geht es so weit gut, dass er reisen kann, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie wir ihn in eine Lore bekommen.«
»Wir brauchen sowieso mehrere«, schätzte Boïndil. »Hammerfaust, Schimmerbart, die drei Schauspieler, unsere Metalle, die Maga und ihr Schoßkrieger, das passt niemals in einen Karren.«
»Und Balyndis«, fügte Tungdil hinzu.
»Wer?«
»Die Schmiedin.«
»Ein Weib also.«
»Du klingst ebenso begeistert wie Bavragor«, merkte er spitz an.
»Oh, ich bin der Letzte, der Frauen geringschätzt. Ich mag gut gebaute Zwerginnen, an denen man sich festhalten und wärmen kann, mit ordentlichen Brüsten und runden Gesichtern, aber …«
»Bei den Clans der Zweiten gibt es auch etliche Schmiedinnen. Und Smeralda konnte angeblich kämpfen wie …« Verflucht!
Boïndil versteinerte, als er den Namen seiner toten Liebe hörte. »Sie soll mitkommen. Ich bin müde.« Er stapfte den Gang entlang zu seiner Unterkunft.
Besorgt schaute Tungdil ihm hinterher. Das war dumm. Ein dämlicher Ausrutscher, ärgerte er sich.
»Glaube mir, ich kenne mich mit Hammer und Amboss sehr gut aus«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm. Erschrocken drehte Tungdil sich um. »Verzeih, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.« Balyndis stand vor ihm, sie trug noch immer ihr Kettenhemd, und ihr langes dunkelbraunes Haar umrahmte ihr rundliches Gesicht. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich darauf freue, mit euch zu ziehen.«
Sein Herz pochte ein wenig schneller, und der Gedanke daran, mit ihr die nächsten Umläufe gemeinsam durch das Geborgene Land zu ziehen, gefiel ihm so sehr, dass er die Sorge wegen Boëndal verdrängte. Gebannt schaute er in ihre dunkelbraunen Augen und brachte keinen Ton heraus.
»Ich führe die Axt so gut und sicher wie den Hammer.«
Tungdil lächelte, seine Stimme versagte weiterhin.
Balyndis wusste mit seinem Verhalten nichts anzufangen. »Glaubst du mir, oder willst du in einem Probekampf sehen …«
»Nein, bei Vraccas!«, rief und hob die Arme. »Ich glaube dir! Ich weiß, dass Zwerginnen kämpfen können.«
Auch wenn er es nicht so gemeint hatte, verübelte die Schmiedin ihm seine Worte. »Nun, Tungdil, jetzt bestehe ich auf einer Probe«, sagte sie und zog ihre Axt; dabei zuckten die Muskeln an den Oberarmen und ihrer Brust.
»Nein, ich habe es ehrlich gemeint«, versuchte er sich zu retten. »Ich habe nur Bedenken, dass ich … dich … verletzen könnte.«
»Ach? Meinst du, du könntest es schaffen, mich zu verletzen?«
Sie dreht mir aus allem einen Strick! »Höchstens aus Unachtsamkeit«, versuchte er weiter, die Situation zu retten, während sie den Stiel ihrer Axt streitlustig hin und her drehte. »Ich glaube dir, Balyndis …«
»Ich nicht«, sagte Bavragors tiefe Sängerstimme und trat an sie heran, die Rechte um den Hammer geschlossen. »Ich möchte sehen, ob sie uns bei Gefechten zur Last wird oder ob sie kämpft wie der kleine Goïmgar.«
Sie senkte den Kopf. »Du wirst gleich Sterne vor deinem verbliebenen Auge sehen«, prophezeite sie ihm, und gerade noch rechtzeitig sprang Tungdil nach hinten, um nicht zwischen Hammer und Axt zu kommen.
Klirrend trafen die Waffen aufeinander. Bavragor grunzte anerkennend und geriet bald in Bedrängnis, da er nicht damit gerechnet hatte, dass sie über solche Kraft und Schnelligkeit verfügte. Sie griff immer über seine blinde Seite an und zwang ihn, den Kopf zu drehen. Während er die Axt abwehrte, zuckte plötzlich das Ende ihres Stiels hoch und traf ihn genau an den Helm. Benommen taumelte er gegen die Wand und sackte auf den Hintern.
Verdutzt schaute er zu der grinsenden Balyndis auf, dann tastete er ungläubig nach seinem Schädel. Seine Schultern bebten, erst langsam, dann immer heftiger, bis das Lachen aus seiner Kehle stieg und laut durch den Gang hallte.
»Das geschieht mir recht«, amüsierte er sich immer noch, stemmte sich auf die Beine und reichte ihr die schwielige, raue Hand, die sie gern ergriff. »Da schau sich einer das Prachtweib an. Sie langt ordentlich zu.«
»Nachdem wir das geklärt haben und wissen, dass du sehr gut kämpfst, sollten wir zu Bett gehen, damit wir morgen für die Weiterreise ausgeruht sind.« Tungdil nickte ihr zu und freute sich, dass ihm der Kampf erspart geblieben war.
Balyndis lächelte und wollte sich umdrehen, als Bavragor ihren Arm ergriff. »Ich habe einen besseren Einfall. Wie wäre es, wenn du mir die beste Schenke im Roten Gebirge zeigst und ich vom Bier der Ersten koste? Dafür singe ich dir ein Ständchen.« Ohne zu zaudern willigte sie ein und ging mit ihm den Korridor in die andere Richtung.
»Kommst du mit, Tungdil?«, wollte sie kurz vor der Biegung wissen.
»Nein, er kommt nicht. Er ist unser Anführer, er muss sicherlich Karten wälzen und schauen, in welchem Zustand die Röhren sind«, meinte Bavragor halb im Ernst und halb im Spaß.
»Übertreib es nicht mit dem Bier«, riet er ihm. »Die Tunnel haben viele scharfe Kurven.« Er winkte ihnen, um in seine Unterkunft zu gelangen und über die Ereignisse nachzudenken. Eine Schwärmerei für Balyndis, so schön die Vorstellung auch sein mochte, kam nicht infrage. Es würde ihn lediglich ablenken.
In seinem Zimmer brannte ein einsames Öllicht und erhellte die Steinwände nur spärlich. Die Stimmung lud vor der großen Fahrt zum Entspannen ein.
»Tungdil?«
Erschrocken sprang er zurück, als er die Stimme in seinem Rücken hörte, und nahm die Axt zur Hand, um sich zu verteidigen. Misstrauisch spähte er in die dunkle Nische neben der Tür. »Narmora?!«
Sie trug ihre schwarze Lederrüstung und wirkte auf eine unbestimmte Weise gefährlich. Unwillkürlich dachte Tungdil an Sinthoras.
Er löste die Hand nicht von der Waffe, seine schlummernde Abneigung gegen die Frau wuchs. Das ist Unsinn. Sie ist eine Menschenfrau. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich habe nachgedacht«, begann sie zögernd. »Über die Zeilen, die Andôkai am Feuer sichtbar machte.«
»Dass die Feinde der Zwerge die Axt führen müssen?« Er horchte auf. »Du hast eine Lösung?«
»Albae«, sagte Narmora vorsichtig. »Zu euren Feinden zählen doch auch Albae, oder etwa nicht?«
»Echte«, schränkte Tungdil ein, »keine geschminkten. Dein Vorschlag ehrt dich.«
Sie zog ihr Kopftuch ab, darunter kamen spitze Ohren zum Vorschein.
Tungdil wich noch weiter zurück, die Finger umschlossen die Axt noch fester. »Du bist ein Alb? Das kann nicht sein«, fand er nach langem, entsetztem Schweigen seine Stimme wieder. »Aber deine Augen wurden tagsüber nicht schwarz.« Er lachte erleichtert. »Einen Moment lang habe ich dir geglaubt.«
Narmora richtete den Arm gegen die Lampe, die Handfläche nach oben gereckt, und murmelte unverständliche Worte. Sogleich schrumpfte die Flamme, bis nur noch der Docht glomm.
Wie hat sie das gemacht? Alchimie? Voller Überraschung schaute er auf das verlöschende Licht. Als er sich zu ihr umwandte, war sie verschwunden. »Wo …?«
Unvermittelt wuchs sie hinter ihm in die Höhe. »Halb Mensch, halb Alb«, flüsterte sie ihm rau ins Ohr. »Meine Mutter vermachte mir ihre Gaben und ihre Waffen. Von meinem Vater bekam ich wenig, aber seine Augen sind von Vorteil.« Innerhalb eines Lidschlags fiel das Bedrohliche von ihr, sie erhob sich und entfachte die Lampe durch sanftes Fächeln zu neuem Leben. »Verzeih mir, dass ich dich erschreckt habe. Glaubst du mir jetzt?«
Tungdil schüttelte seine Lähmung ab. Das erklärt meine Abneigung gegen sie. »Und wie ich dir glaube«, nickte er. »Damit hätten wir die Frage geklärt, wer die Feuerklinge führt.« Er bedachte Narmora mit einem anerkennenden Blick. »Es war mutig, dich mir zu offenbaren. Und darüber hinaus musst du Großes vollbringen.«
Sie schaute ihn an, die Wildheit und die Gefährlichkeit waren gewichen. »Wer käme sonst infrage? Orks und echte Albae wohl kaum.« Ihre Hände legten sich an die Griffe ihrer Waffen. »Einer von euch Zwergen wird mich allerdings unterweisen müssen, wie man eine Axt führt, sonst mache ich im Kampf gegen den Magus keine gute Figur.«
»Wir sollten es den anderen sagen.«
Narmora überlegte. »Ja, das müssen wir wohl. Ich bin neugierig, wie sie es aufnehmen.« Damit meinte sie vor allem Boïndil.
Tungdil lächelte ihr aufmunternd zu. »Es wird dir nichts geschehen, das schwöre ich.«
Sie grinste böse, und ein Anflug von Albischem legte sich auf ihre Züge.
Eilig riefen sie die Gefährten zusammen und trafen sich in seiner Unterkunft. Dort erzählte er ihnen von der neuen Wendung. »Wir schaffen es, Nôd’onn zu besiegen«, endete er und wartete gespannt auf eine Reaktion.
»Ich müsste sie eigentlich töten«, meinte Ingrimmsch nachdenklich, sah aber nicht danach aus, als wollte er seine Worte in die Tat umsetzen.
»Nein, eigentlich müsstest du die Hälfte von ihr töten. Und in welcher Hälfte steckt wohl das Albische? In der rechten oder in der linken? Oben oder unten? Vraccas wird es uns verzeihen, weil wir mit ihrer Hilfe die Reiche retten«, gab Tungdil zurück. »Es gibt keinen anderen Weg.«
Furgas hielt Narmora umschlungen und schaute besorgt, was der Zwerg sehr gut verstand. Seine Liebste würde sich gegen den Magus stellen, der als unbesiegbar galt.
»Ihr beiden«, er richtete sich an Rodario und Furgas, »könnt bei den Clans der Ersten bleiben und auf unsere Rückkehr …«
»Niemals ließe ich sie allein«, erklärte Furgas bestimmt. »Ihr werdet einen Techniker unterwegs sicherlich gebrauchen können.«
»Und einen einmaligen Schauspieler ebenso«, fügte Rodario eilends hinzu, bemerkte aber im selben Atemzug, dass er nicht richtig erklären konnte, wozu er auf dieser Reise taugte. Daher versuchte er es mit einem gewinnenden Lächeln auf dem fein geschnittenen Antlitz.
»Stimmt«, bekam er unerwartet Beistand von Boïndil. »Er wird die Gegner durch sein Geschwätz ablenken.«
Die Zwerge grinsten, nur Goïmgar blieb ernst, bis es aus ihm herausbrach. »Gandogar ist bestimmt schon im Grauen Gebirge«, zischte er aus der Ecke. »Er wird die Feuerklinge zuerst schmieden und Großkönig werden, und ihr werdet ihn nicht daran hindern.« Er blickte verächtlich zu Narmora. »Mit ihr wird es niemals gut gehen. Sie ist nur zur Hälfte ein Alb.« Mit diesen Worten stand er auf und ging hinaus.
»Dann schlägt sie Nôd’onn eben zur Hälfte tot«, brummte Bavragor in die Stille hinein und nahm einen Schluck aus seinem Humpen, den er sich mitgebracht hatte. »Den Rest übernehmen wir.«
Die Bemerkung löste die Spannung, und sie lachten erleichtert auf.
Am nächsten Morgen schritten sie zusammen mit Königin Xamtys und ihrer Clangesandtschaft über die schimmernden Brücken durch die Gänge des Roten Gebirges, die sich nur unwesentlich von denen der Zweiten unterschieden.
Bavragor konnte es nicht lassen, immer wieder mit seinen Fingern prüfend über die Wände zu streichen, hier zu stampfen und da zu pochen. »Nicht schlecht, aber auch nicht besser«, lauteten seine erstaunlich diplomatischen Äußerungen.
Bald standen sie vor einem massiven Tor aus Stahl, in dem zwergische Runen golden funkelten. Die Königin sprach die Worte, und es öffnete sich für sie. Die Halle dahinter glich jener, von der aus Tungdil und seine Begleiter aufgebrochen waren, bis in die kleinste Einzelheit; Dampfkessel und Zahnräder waren ebenso hier zu finden wie die acht Schienen. Die Ingenieure setzten die Maschinerie in Gang, und wenig später zischte, brodelte und ratterte es und roch nach heißem Metall und Schmiere.
»Die Ersten haben das Röhrensystem gut gewartet«, sagte Furgas bei dem Anblick. »Kein Rost, kein Staub. Sie hätten in der Vergangenheit jederzeit losfahren können, schätze ich.«
»Es war ein Fehler, genau das nicht zu tun«, bedauerte Xamtys und gab Anweisungen, die Loren für sich und die Expedition bereit zu machen und zu beladen.
Eine war für Djerůn bestimmt, dem man seine Verletzung nicht mehr anmerkte. Die schadhaften Stellen seiner Rüstung waren noch in der gleichen Nacht von den Schmieden ausgebessert worden; dem ungeübten Auge fiel es schwer, einen Unterschied zur sonstigen Rüstung zu entdecken. Für ihn bauten sie die Sitzreihen aus dem Karren aus, damit er sich hinlegen konnte. Sie fürchteten, dass er ansonsten wegen seiner Größe mit dem Kopf hängen bleiben und sich auf diese Weise selbst enthaupten könnte.
In einem anderen Gefährt fanden die Zwerge Platz, und im letzten die Schauspieler sowie Andôkai und das Material, das sie zur Schaffung der Feuerklinge benötigten.
Sie sieht müde aus. Tungdil trat an Andôkai heran. »Wie geht es Euch und Euren Kräften? Ihr sagtet, Ihr seid erschöpft?«
Die Maga fasste ihr blondes Haar mit einem Lederband zusammen, um zu verhindern, dass es bei der anstehenden Fahrt zu sehr umherwirbelte. »Möchtest du die Wahrheit hören, oder soll ich dich anlügen?«
»Die Wahrheit.«
Sie setzte sich auf den Rand eines Vehikels und schaute den Vorbereitungen zu. »Meine Zauber werden bald restlos erschöpft sein. Ich war schon zu lange nicht mehr in einem Gebiet mit Magiefeldern, aus denen ich neue Kraft schöpfen könnte.«
»Ist das der Grund, weshalb die Magi ihre Reiche niemals verlassen?«
Ihre Augen richteten sich auf Tungdils bärtiges Antlitz. »Ja, das ist das Geheimnis der Magi. Natürlich können wir auch Magie außerhalb der Felder benutzen, aber die Energien, die wir in uns tragen, gehen schnell verloren und sind noch schneller aufgebraucht. Stell es dir vor wie einen löchrigen Lederschlauch. Er verliert auch Wasser, ohne dass du davon trinkst. Ein paar mächtige Zauber, und die Kunst ist dahin.« Sie schaute zu Djerůn. »Deshalb habe ich gelernt zu kämpfen und habe ihn stets in meiner Nähe. Ich will ohne Zauber nicht wehrlos sein.«
Tungdil dachte nach. »Ist das ein Weg, um Nôd’onn zu besiegen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Das Wesen, das in ihm wohnt, hat ihm unbekannte Macht verliehen.«
Der Zwerg schaute zu Narmora und erinnerte sich, was sie mit der Lampe angestellt hatte. »Sie beherrscht Magie …«
»Nein, sicherlich nicht. Ich weiß zwar nicht viel über ihr Volk, aber es können keine sonderlich starken Fertigkeiten sein, die sie besitzt. Ich denke, es handelt sich um angeborene Dinge … Dunkelheit heraufbeschwören, Feuer löschen, Träume verändern. Kleinigkeiten, die Menschen in Furcht erstarren lassen und die für all die Legenden rund um die Albae sorgen.«
»Nicht mehr? Sinthoras hat Euren magischen Schutzschild durchbrochen.«
»Das war List, kein Zauber. Du erinnerst dich, dass wir bei den getöteten Albae Kristalle fanden?« Tungdil nickte. »Sie haben sie von Nôd’onn bekommen, um sich gegen Zauber der Magi zu schützen. Er band eines davon um den Pfeil und zerstörte damit meinen Spruch.« Andôkai erhob sich. »Es ist so weit. Wir können los.« Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, und auch die Lore der Königin wurde auf die Gleise gehievt. »Denke daran, Tungdil: Ich werde meine Kräfte schonen. Verlasst euch nicht darauf, dass ich ständig eingreifen kann.«
»Ich werde es den anderen sagen.« Es wird auch ohne Magie gehen.
Sie kehrten zu den Rampen zurück, wo Xamtys soeben die Karren inspizierte. »Ich bin gespannt, wie so eine Fahrt ist.« Sie strich sich über den hellen Flaum. »Und ich freue mich auf die Gesichter der Mannsbilder.« Sie sprang auf ihren Sitz und löste die Bremsvorrichtung. »Wir warten auf euch und die Feuerklinge. Vraccas sei mit euch.« Schon rollten sie los und verschwanden im Tunnel.
»Und mit dir«, rief Tungdil ihr nach und schritt zur nächsten Rampe, um sich in seinen Wagen zu setzen. Die Karte mit den Röhrenverbindungen, die ihm die Königin gegeben hatte, schob er unter sein Kettenhemd. Neben ihm saß Boïndil, hinter ihnen lachten Bavragor und Balyndis miteinander.
»Seid still«, zischte Ingrimmsch nach hinten. Seine Laune konnte man getrost als schlecht bezeichnen; ohne seinen Bruder fühlte er sich unwohl und gereizt.
Rodario schrieb hastig seine letzten Zeilen auf und verkorkte die wieder aufgetaute Tinte gut, damit unterwegs nichts herausschwappte und seine Kleider ruinierte. »Das wird ein Spaß!«, freute er sich. »Wir sollten auch so etwas bauen, Furgas. Die Kundschaft könnte eine Fahrt wie die Helden unseres Stückes erleben.«
»Nein, es wird kein Spaß«, widersprach Goïmgar säuerlich. »Der Magen wird dir zusammengedrückt, der Bart weht dir ins Gesicht, und du wirst das Verlangen spüren, dich zu übergeben.«
»Ach, was. So schlimm kann es nicht sein. Ich bin einiges gewöhnt«, meinte er und versuchte, sich das Sicherungsseil um den Bauch zu legen.
Nachdem ihre Lore die Beschleunigungsstrecke erreichte und fast senkrecht nach unten stürzte, schrie Rodario seine Angst laut heraus. Danach rang er mit dem heftigen Wunsch, sich zu übergeben. Seit langer Zeit sah man auf Goïmgars Gesicht wieder einmal ein breites Grinsen.
Balendilín stand in seinem Quartier, wog die Kriegsaxt abschätzend in seiner Hand und führte ein paar Probeschläge, bis er sich sicher war, die Klinge auch mit nur einem Arm schnell genug schwingen zu können.
»Es werden immer mehr, mein König«, schallte der besorgte Ruf von draußen. »Komm und sieh es dir an.«
Man könnte meinen, Bislipurs Rede habe sie angelockt. Er trat hinaus und schritt die nicht enden wollenden Reihen der schweigenden Krieger der Zweiten und Vierten entlang, bis er von der obersten Terrasse der Festung Ogertod aus auf das Land vor den Toren blickte.
Es wimmelte nur so von ihnen, tausende großer und kleiner Punkte bewegten sich hin und her. Die Luft stank nach saurem Fett und den Ausdünstungen der Orks, die sich in einer Meile Abstand niedergelassen hatten und sich für den Angriff vorbereiteten. Gedämpft drang ihr Brüllen bis zu ihm hinauf.
In der Ferne sah Balendilín gigantische hölzerne Sturmtürme, die unaufhaltsam zur Festung gerollt wurden; sie maßen vierzig Schritt und mehr in der Höhe. Damit ist es ihnen möglich, auf die Zinnen des ersten Walls zu gelangen.
Die hässlichen Konstruktionen aus Holz sahen windschief aus, was die Bestien nicht weiter störte, solange sie ihren Zweck erfüllten und ihnen über das erste Hindernis auf dem Weg ins Herz des Zweiten Zwergenreichs halfen. Die Türme waren zum Schutz gegen Brandgeschosse mit Menschenhäuten verkleidet worden; sobald der Angriff begänne, würden sie gewässert werden, damit das Holz nicht zu rasch Feuer fing.
»Ich hätte nicht geglaubt, dass sie so bald die Zwergenreiche angreifen«, sagte Bislipur, der neben ihn getreten war und die Ansammlung betrachtete. Er trug seine volle Rüstung und war das Abbild eines Kriegers, wie es wenige im Zwergenreich gab. »Es sind mindestens zehntausend. Wie gut, dass ich Verstärkung aus meiner Heimat kommen ließ.« Vergebens wartete er auf ein Lob des Königs.
»Orks, Bogglins, eine Hand voll Oger, Trolle und einige Albae«, schätzte Balendilín ihre Zahl. »Tungdil hat nicht gelogen, als er uns Nôd’onns Absichten voraussagte.« Er beobachtete, wie die Zwerge den ersten Verteidigungsring besetzten und sich auf den Ansturm der Bestien vorbereiteten. Der Zauberer kann seine Diener nur in solch großer Zahl zu uns senden, wenn er sich der Eroberung der Menschenreiche sicher ist. Das gefällt mir gar nicht.
»Wenn die Ringe gefallen sind, ziehen wir uns tief in die Gebirge zurück.«
»Und dann?«
»Folgen sie uns dahin, sind sie verloren. Wir kennen uns dort besser aus als sie.«
»Rechnest du damit, dass wir die Mauern nicht halten können?«, fragte Bislipur verwundert. »Deine und meine je fünftausend Krieger sollten ausreichen, die Festung bis in alle Ewigkeiten zu verteidigen.«
»Ich rechne mit allem, seit das Böse die Oberhand im Geborgenen Land gewann.« Der König wies seine besten Krieger an, die Wachen an den Tunneleingängen zu verstärken. Mit allem.
Dann begab er sich auf den Wehrgang, wo sich ihm das ganze Ausmaß der Meute erschloss: ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus den Niederungen von Tions Schöpfung, die begierig geifernd darauf warteten, die Zwerge auszulöschen und ihren Verwandten die Hohe Pforte zu öffnen.
Die Rüstungen der Bogglins und Orks gehörten bis vor kurzem den Söldnern von Königin Umilante. Sie konnten die Ungeheuer nicht bezwingen. Balendilín beobachtete, wie sich die Bestien zu ungeordneten Gruppen zusammenfanden, um sich am ersten Sturm zu beteiligen und zu sehen, womit die Zwerge gegen sie aufwarteten. »Zweitausend Kämpfer hinter das große Tor!«, befahl er mit fester Stimme. »Haltet euch bereit.«
Als die Orks grunzend und schnaubend herankamen, ließ er das Portal öffnen und seine Krieger einen Ausfall unternehmen.
Voller Zufriedenheit sah er, wie die Äxte seines Stammes unter den Orks wüteten, die mit einem derart heftigen Gegenangriff nicht gerechnet hatten und ihr Heil in der Flucht suchten, ehe sie von Trollen zurückgetrieben wurden.
Aber da befanden sich die Zwerge schon wieder hinter den schützenden Mauern von Ogertod und verzeichneten gerade einmal drei Dutzend leicht Verletzte. Dagegen lagen viele hundert Bestien verstümmelt oder tot auf der staubigen Erde vor den Toren. Der Jubel bei der vereinten Streitmacht des Zwergenvolkes war riesig.
»Seht ihr, zu was wir in der Lage sind, wenn wir gemeinsam kämpfen?!«, rief ihnen Balendilín voller Stolz von oben herab zu und schaute sich nach Bislipur um, ob er vielleicht auch etwas zu seinen Leuten sagen wollte.
Doch er entdeckte ihn nirgends.
Die Karren schossen durch die Röhren, rissen Spinnweben mit sich und wirbelten den Staub von Jahrhunderten auf. Gelegentlich flüchtete ein großer Schatten vor den ratternden, lärmenden Loren aus dem Schein ihrer Fackeln in die Dunkelheit der Seitengänge und zeigte ihnen, dass es durchaus Leben tief unter dem Geborgenen Land gab. Doch es musste harmloses, ängstliches Leben sein, denn ihre Fahrt verlief ohne Zwischenfälle.
Sie näherten sich dem Fünften Zwergenreich von Westen her. Tungdil zählte die Markierungen an den Wänden mit und errechnete am Ende ihres ersten Reisetages, dass sie mehr als zweihundertfünfzig Meilen gefahren waren.
»Damit sind wir in vier Umläufen bei den Fünften«, gab er den Freunden bei der Rast am Feuer freudig bekannt. »Es geht schnell voran.«
Sie hatten sich in einer großen Halle niedergelassen, durch die zwei Trassen führten und die als Knotenpunkt diente. Natürliche Steinsäulen und gemauerte Bögen trugen die Decke, Zwergenrunen an den Wänden und auf den Säulen ließen keinen Zweifel aufkommen, wer die Erbauer gewesen waren. Das Holz, das ihnen knackend Wärme gab, stammte von den Überresten nicht benutzter Stützbalken, die sie gefunden hatten.
»Ich glaube nicht, dass sich der Drache von uns überlisten lässt«, sagte Goïmgar verzagt. »Er wird uns mit seinem Atem verbrennen.«
»Ach, was. Wir stopfen ihm den Langen in den Hals, dann kommt nichts mehr aus seinem Schlund«, meinte Boïndil kauend. »Das schmeckt hervorragend, Balyndis. Die Ersten verstehen etwas vom Salzen und Räuchern«, lobte er. Neugierig zupfte er einzelne Kräuterstückchen ab, die eine Kruste über dem Schinken bildeten.
Bavragor stieß Tungdil in die Seite. »Schau sie dir an! Ist sie nicht ein Prachtkerl von Schmied … Schmiedin?« Sein rotbraunes Auge glänzte glücklich. »Das Kettenhemd, die einzelnen Eisenschienen, das sind die Arbeiten einer Meisterin.«
»Seit wann kennst du dich mit Schmiedearbeiten aus?« Tungdil grinste breit und gab ihm im Stillen Recht, was den Wert der Arbeiten anging. »Da habe ich schon ganz andere Töne von dir gehört.«
»Vor dem Kampf«, griente er. »Dann hat sie mitten in mein Herz getroffen.«
Es scheint so. Seit sie ihn beim Zweikampf besiegt hatte, schien sich stündlich mehr zwischen den beiden zu entwickeln. Er gönnte es dem Einäugigen. »Hat sie dich nicht am Kopf getroffen?«
»Redet nicht so schnell. Ich komme fast nicht mit.« Rodario saß dicht am Feuer, hatte ihren leisen Wortwechsel mit angehört und schrieb eifrig. »Ich möchte das Stück so echt wie möglich halten.«
Furgas untersuchte derweil die Trasse, und Narmora stand neben ihm und hielt Wache. Djerůn hockte abseits von ihnen am Boden, das Waffenarsenal um sich ausgelegt und unbeweglich wie immer.
»Sie hätte ihn ruhig härter treffen können«, murmelte Goïmgar leise, sodass nur Tungdil ihn hörte. »Wenn ich meinen König nicht so sehr liebte, müsste ich ihn hassen, weil er mich mit euch auf die Reise schickte.« Wie an den meisten Abenden war er der Erste, der sich unter seiner Decke verkroch und die Augen schloss.
Bavragor grinste und bemerkte, dass der Schauspieler sich wie immer nicht von seinem Sack mit den Kostümen trennte und ihn in Reichweite behielt. »Hätten wir den nicht bei den Ersten lassen können?«
Rodario schenkte ihm einen missbilligenden Blick. »Niemals! Der Inhalt ist zu wertvoll, und wer weiß, ob wir die Kostüme nicht doch benötigen.«
Ein lauter Schlag ließ sie aufhorchen. Er klang wie ein einzelner Hammerhieb gegen Stein, rollte durch die Gänge und verebbte.
Sie wandten die Köpfe und schauten zu Furgas, der die Metallschienen begutachtete. »Ich war es nicht«, sagte er sofort. »Es kam aus dem Tunnel vor uns.«
Goïmgar richtete seinen Oberkörper auf. »Das habe ich schon einmal gehört!« Ängstlich griff er nach seinem Schild. »Das sind die Geister der toten Arbeiter«, raunte er und schrumpfte unter seiner Deckung zusammen. »Vraccas, beschütze uns.«
Tungdil erinnerte sich ebenfalls. »Es war kurz vor Mifurdania«, sprach er leise, »und es klang genauso wie eben.« Ein Signal? Für wen und was?
»Seid leise.« Boïndils Kriegerinstinkte erwachten. Er stand auf und trabte zum Tunneleingang, während Narmora die andere Seite sicherte. Aufmerksam lauschte er in die Finsternis hinein. Die Zeit verrann, ohne dass einer von ihnen zu atmen wagte.
Nur Andôkai packte ungerührt ihre Pfeife aus, stopfte sie und entzündete sie mit einem Span. Balyndis grinste sie breit an und folgte ihrem Beispiel. Ungerührt packte sie ein Stückchen Glut mit ihrem Handschuh, um den Tabak anzubrennen. Die Gesichter der ungleichen Frauen verschwanden in einer Dunstwolke.
Schließlich kehrte Ingrimmsch ans Feuer zurück. »Da war nichts. Ich habe weder etwas gerochen noch etwas gehört.«
»Wir müssen aufpassen. Das letzte Mal, nachdem ich das Geräusch hörte, stürzte ein Teil der Decke ein«, warnte Tungdil und bereitete sich auf die Nachtruhe vor.
Furgas und die Halbalbin stießen zu ihnen. »Es kann sein, dass wir nicht die Einzigen sind, die die Röhren benutzen«, setzte Furgas den Zwerg in Kenntnis. »Die Schienen vor uns sind ohne Rost, ohne jegliche Patina.«
»Das spricht dafür, dass Loren in regelmäßigen Abständen darüber gleiten.«
»Ich wollte, dass du es weißt.«
»Danke, Furgas. Behalte es bitte für dich. Ich will nicht, dass uns Schimmerbart vor Angst wegstirbt«, bat er ihn.
»Kann ich dir helfen, Bislipur?«, fragte der rechte der beiden Wächter freundlich, als er den Hinkenden sah, der sich ihm und dem Tor zu den Tunnelbahnen näherte.
»Ja. Du könnest sterben, ohne einen Laut von dir zu geben«, antwortete er ebenso nett. Schon zuckte seine Axt hoch und traf den Zwerg schräg von oben in den ungeschützten Hals.
Gegen den beidhändig geführten Hieb gab es kein Gegenmittel, und der Wächter starb mit einem leisen Röcheln.
Der andere Krieger schaffte es noch, die rechte Hand ans Signalhorn und die linke an den Griff seines Streitkolbens zu legen, da schlitzte die blutige Schneide seinen Hals auf und fuhr ihm durch den Helm bis ins Hirn.
Das war leicht. Bislipur wischte sich das Blut aus dem Gesicht, wandte sich um und stieß einen kurzen Pfiff aus, worauf zweihundert seiner treuesten Krieger aus dem Gang traten.
»Ihr wisst, worauf es ankommt«, meinte er knapp und sprach die Formel, um den Zugang zu der dahinterliegenden Halle zu den Trassen zu öffnen. »Keine Gnade für die Betrüger an Gandogar, denn ihr würdet auch keine von ihnen erfahren.«
Es geschah, als sie die Markierung der dreihundertsten Meile erreichten, die Röhre verließen und auf eine schmale Brücke abbogen. Unter ihnen befand sich nichts als Luft und endlose Schwärze.
Die vordere Lore mit den Zwergen begann bei voller Geschwindigkeit zu hopsen, die Räder sprangen aus der Führung und verkanteten sich. Funken sprühend rutschte das Vehikel auf zwei Rädern, bis es trotz aller Versuche der Insassen umkippte und sich einmal überschlug.
Die nachfolgenden Karren bremsten gerade noch rechzeitig, um die Verunglückten nicht zu überrollen.
Tungdil, Balyndis und Boïndil hatten Glück, sie landeten auf der Brücke und wirbelten mehrmals um die eigene Achse, ehe sie ruhig zum Liegen kamen. Die Rüstungen und Handschuhe verhinderten, dass sie sich böse Abschürfungen zuzogen.
Tungdil landete letztlich auf der Schmiedin, was ihm sichtlich peinlich war. Die Röte stieg ihm ins Gesicht. Sie schaute in seine Augen und wollte etwas sagen, doch dann hielt sie inne und starrte ihn nur an.
Da drangen Goïmgars verzweifelte Schreie an sein Ohr. »Verzeih«, sagte er verlegen und stemmte sich auf, um nach ihm zu sehen.
Der schmächtige Zwerg pendelte wimmernd an der Mauerkrone. Die Hände suchten auf der glatten Oberfläche verzweifelt nach Halt, doch das Gewicht seines Rucksacks und der Rüstung zogen ihn unnachgiebig nach unten. »Tut doch was! Ich stürze ab!«
Tungdil rannte los. Bavragor lag wenige Schritte von Goïmgar entfernt auf der Brüstung, erhob sich brummend und hielt sich den Schädel. »Es muss ein Oger gewesen sein, der mir hinterrücks einen Tritt verpasst hat.« Erst jetzt bemerkte er den Kampf des Gefährten, warf sich nach vorn und griff nach dessen Arm.
Zu spät.
Goïmgars entsetztes Gesicht verschwand, sie hörten sein gellendes Aufschreien, das leiser und leiser wurde.
»Bei Vraccas!«, war alles, was der Steinmetz hervorbrachte. Boïndil, Tungdil und Balyndis erreichten die Stelle, nur um hilflos zusehen zu müssen, wie die Gestalt immer kleiner und von der Dunkelheit verschlungen wurde.
»Beiseite!« Plötzlich schnellte Andôkai an ihnen vorbei, sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Mauer und stieß sich kraftvoll ab, die Arme wie ein Klippenspringer ausgebreitet. Ihr scharlachroter Mantel wehte wie eine Standarte hinter ihr her, dann tauchte auch sie in die Dunkelheit ein.
Die Zwerge hörten den Stoff flattern und knattern, doch es gab nichts, was sie hätten tun können. Rodario entzündete eine Fackel, doch ihr Schein reichte nicht aus, um die Umgebung ein wenig zu erhellen.
Nach langer Zeit glomm ein winziges hellblaues Licht weit unter ihnen in der Schwärze auf.
»Ist sie aufgeschlagen und geplatzt?«, fragte Boïndil. »Ist das Leuchtende ihre Seele?«
Tungdil schaute zu Djerůn, der statuenhaft wie immer dastand. Seinem Verhalten nach zu urteilen sorgte er sich nicht um seine Herrin, was dem Zwerg wiederum Hoffnung machte. Sie wird wissen, was sie tut, denke ich.
»Das Licht kommt näher!«, rief Balyndis aufgeregt. »Es fliegt nach oben!«
Ein heftiger Wind schoss aus der Tiefe empor und trug zwei Gestalten mit sich. Andôkai und Goïmgar ritten auf der Böe, die sie sanft auf der Brücke absetzte und dann erstarb.
Die langen blonden Haare der Maga hingen ihr zerzaust ins Gesicht, der schimmernde Bart des Zwergs sah aus, als hätte ihn eine Schar Mäuse auf der Suche nach Futter durchwühlt. Sein Gesicht war leichenblass, aber sonst fehlte ihm nichts.
»Das war … unbeschreiblich«, staunte Rodario. »Ich fasse es nicht, ehrenwerte Maga! Wie selbstlos und mutig von Euch, dass Ihr Euer eigenes wertvolles Leben in die Waagschale werft, um ihn zu retten.« Er bedachte Goïmgar mit einem entschuldigenden Blick. »Das soll natürlich nicht bedeuten, dass dein Leben weniger wert ist als ihres.«
»Du solltest nach der Lore sehen«, wies Andôkai Furgas an, als wäre nichts geschehen, richtete ihren Mantel und flocht den Zopf neu. »Kannst du sie flicken?«
Der Mann ging zu dem Gefährt und schüttelte schon von weitem den Kopf. »Die Räder sind verbogen und laufen nicht mehr gerade.« Er bückte sich. »Die Trasse ist bearbeitet worden, wir hatten Glück, dass es uns nicht ebenfalls aus der Spur warf.«
»Das Gold und das Tionium!«, rief Ingrimmsch, der den Wagen umrundete, um nach der Ladung zu sehen. »Sie sind verschwunden!«
Missmutig blickte Bavragor in den Abgrund. »Ich kann dir sagen, wo sie abgeblieben sind. Sie werden irgendwo da unten sein und immer noch fallen, bis sie am Ende der Welt angekommen sind.« Er schaute die Zauberin an.
»Nein«, wehrte sie den stummen Vorschlag ab. »Wir werden eine andere Lösung finden müssen.«
Sie schwiegen. Nun fehlten ihnen zwei wesentliche Bestandteile, um die magische Waffe anfertigen zu können.
»Ich wusste es, dass wir scheitern«, meinte Goïmgar klagend, aber nicht ohne Genugtuung.
»Der kommt mir gerade Recht. Eigentlich können wir ihn wieder hinunterwerfen«, bemerkte Boïndil knurrend. »Jetzt, wo uns die Barren fehlen, brauchen wir auch keinen heulenden Gemmenschneider mehr.«
»Und wenn schon?!«, versuchte Tungdil die gedrückte Stimmung zu heben. »Niemand kann mir weismachen, dass wir in einem Zwergenreich nicht genug Gold und Tionium finden, um die Feuerklinge herzustellen.«
»Und schon haben wir eine Lösung«, nickte ihm Andôkai zu, die mit einem letzten Handgriff den Sitz ihrer Lederrüstung korrigierte.
»Sehr schön. Der Schreck ist überwunden, es geht weiter. Verteilt euch neu auf die Loren«, ordnete Tungdil an und fühlte sich in seiner Rolle als Anführer immer wohler. »Wir wechseln uns mit Schieben ab, bis wir zur nächsten abschüssigen Stelle kommen.«
»Nicht nötig«, sagte die Maga und deutete auf Djerůn.
Dieses Mal rückte das Heer Nôd’onns über die Seiten an. Als die Belagerungstürme vorwärts walzten, stanzten die Geschosse der Zwerge Löcher in die nassen Menschenhäute und das Holz dahinter oder rissen Balkenstücke heraus, ohne jedoch alle zum Einsturz bringen zu können.
Drei der Konstruktionen standen schließlich vor den Zinnen. Die Sturmrampen klappten auf, und die Orks preschten schreiend aus dem Bauch der Türme, doch gegen die grimmigen Zwerge gab es kein Durchkommen.
Balendilín dirigierte seine Verteidiger geschickt genug, dass es nicht einem einzigen Angreifer gelang, durch die Reihen zu kommen.
»In den Turm, und gießt Petroleum über das Holz«, befahl er, nachdem die erste Angriffswelle verebbt war und die nächsten Bestien in die Höhe stiegen.
Sein Plan gelang. Bald darauf loderten die Türme in hellen Flammen, das harzreiche Holz brannte wie Zunder, die Stricke rissen, und die Belagerungsgeräte stürzten polternd in sich zusammen. Quiekend zogen sich die Angreifer zurück.
Dieses Mal gab es allerdings Verluste. Vierzehn Zwerge waren von den Pfeilen eines Albaescharfschützen niedergestreckt worden, der sich auf der Plattform des letzten Sturmturmes versteckt hatte. Die züngelnden Flammen schreckten ihn nicht; selbst als sein Gewand schon brannte, sandte er seine Geschosse gegen die Verteidiger. Erst als die Sehne des Bogens durchgeschmort war, endete der Beschuss.
Trotz der Toten war die Stimmung unter den Zwergen gut. Nichts wies darauf hin, dass Ogertod fallen könnte.
»Ihr habt gut gekämpft«, lobte Balendilín sie. »Die gefallenen Brüder werden wir niemals vergessen, ihre Namen werden in Gold in die Wand der Ratshalle geschrieben werden.« Seine Augen schweiften über die Ansammlung der bärtigen Verteidiger, die verschwitzt, aber glücklich und noch lange nicht erschöpft zu ihm aufschauten. »Vraccas hat …«
»Orks!«, unterbrach ihn der Schrei eines Zwergs, der auf dem Beobachtungsturm stand und sich kurz umgewandt hatte. »Die Orks sind in unseren Mauern!«
Es waren hunderte, die sich brüllend gegen jeden Widerstand warfen. Bald hatten sie das erste Plateau vollständig besetzt. Sie schwenkten ihre Schilde, Äxte, Schwerter und Lanzen, um die Zwerge zu verhöhnen.
Die Tunnel! Sie sind durch die Tunnel gelangt! »Wir müssen sie vernichten, ehe sie die Hohe Pforte öffnen! Los, ihr Kinder des Schmieds!«, peitschte Balendilín seine Krieger an und riss sie aus ihrer Schreckensstarre. »Kein Ork soll diesen Tag überleben!«
Ein Ruck ging durch die Streitmacht der Zwerge. Sie stürmten den Hang hinauf und warfen sich gegen die Urfeinde ihres Volkes. Ihr einarmiger König stand mitten unter ihnen und war ihnen ein Beispiel an Tapferkeit.
Da trat ein Oger aus der Halle, die Lippen an ein riesiges Rufhorn gesetzt, und ein durchdringender Ton erschallte, der von der anderen Seite der Festung mit lautem Jubel beantwortet wurde. Der zweite Sturmangriff der Belagerer begann.
Wie konnte das geschehen? Die Tunnel waren gesichert. Balendilín hatte keine Zeit, um nach dem Eingang zu sehen, denn er führte seine Männer gegen eine Übermacht aus Ogern, Orks und Bogglins, deren Strom nicht versiegen wollte. Für einen erschlagenen Feind standen zwei neue vor dem König; er konnte mit seiner Axt blindlings nach vorn hacken und traf immer einen Gegner.
Aber er es gelang ihm und seinen Zwergen, die überraschend aufgetauchten Bestien zurück in die Stollen zu treiben. In einer blutigen Schlacht, in der zahlreiche Zwerge ihr Leben verloren, drängten sie die Angreifer bis zur Vorhalle der Tunnel zurück. Weiter ging es nicht mehr.
Es sind zu viele! Balendilín erschrak, als er die Zahl der wartenden Feinde sah, die sie zwar eingefangen hatten, aber nicht bezwingen konnten. Aus den Röhren kletterten immer neue Orks.
Von hinten näherte sich ein Bote, der ihnen eine neue Schreckensmeldung überbrachte. »Die Biester haben dich umgangen«, keuchte er. »Wir wurden hinterrücks von ihnen angegriffen, die Tore Ogertods stehen offen, der erste und der zweite Ring sind gefallen.«
Balendilín witterte Verrat. »Flutet die Ebenen mit siedendem Öl. Das wird …«
»Es geht nicht. Sie haben die Vorrichtungen zerstört.«
Zerstört? Seine Zuversicht, das Gefecht siegreich beenden zu können, geriet ins Wanken. Das ist nur möglich, wenn ihnen jemand gesagt hat, wo sich die Anlagen befinden. »Richte den unsrigen aus, sie sollen sich zurückziehen und den Eingang schließen. Die äußere Festung wird aufgegeben, wir verteidigen unser Reich von innen.« Er schlug ihm anfeuernd auf die Schulter. »Rasch!«
Der Bote nickte und rannte davon.
Die Geschehnisse hatten nichts mit unglücklichen Zufällen zu tun, da war sich der König sicher. Zuerst kamen die Orks durch die Tunnel, von denen sie seit hunderten von Zyklen nichts wussten, dann setzten die Bestien die Verteidigungsmechanismen für die Außenterrassen der Festung außer Kraft, und schließlich umgingen sie die Zwerge.
Sie kennen sich bestens aus. Jemand hatte sie auf das Unternehmen vorbereitet und ihnen alles über die Zweiten verraten. Welcher Zwerg würde so eine schändliche Tat begehen? Er konnte sich niemanden vorstellen, der sich freiwillig mit den Orks verbündete. Nôd’onn! Er kann einen von uns mit seinem Zauber verhext haben! Schnell fasste er einen Entschluss, denn jeder Augenblick zählte.
»Zweihundert kommen mit mir, der Rest hält die Bestien hier in Schach«, befahl er und trabte den Gang entlang.
Sein Ziel war die Hohe Pforte. Er beabsichtigte, die Brücke über den Graben zu zerstören, bevor die Orks dorthin gelangten und sie ausfuhren, um den Geschöpfen des Jenseitigen Landes den Zutritt zu ermöglichen. Seine Wut und sein Hass auf Nôd’onn wuchsen mit jedem Schritt, den er tat.
»Braucht er denn keine Pause?«, erkundigte sich Rodario neugierig bei Andôkai. »Er schiebt die beiden Karren nun schon so lange.«
»Djerůn ist Arbeit gewohnt, im Gegensatz zu dir«, entgegnete sie unfreundlich.
Der Mime blickte empört drein und reckte sein Kinn. »Was habe ich denn der ehrenwerten Maga getan, dass Ihr mich ständig …«
Sie wandte sich nach hinten. »Steig ein, Djerůn, da vorn kommt ein abschüssiges Stück.«
Gehorsam schwang sich der gepanzerte Krieger in die hintere Lore und machte sich so klein wie es ging, um niemanden zu verletzen und keinesfalls mit dem Kopf an der Decke hängen zu bleiben.
»Ihr könnt gern versuchen, mich zu ignorieren«, fuhr der Schauspieler beharrlich fort, »doch es wird Euch nichts nutzen. Bedenkt, dass es vielleicht einen schlechten Eindruck auf mich macht, und ich schreibe immerhin das Stück, in dem Ihr auftreten werdet. Versteht Ihr?«
Die Augen der Maga bohrten sich in seine. »Ich werde Djerůn in die Vorstellung schicken. Du wirst an seinem Verhalten erkennen, ob ich mit dem Stück einverstanden bin oder nicht. Sollte er die Axt ziehen, dann lauf.« Rodario hielt ihrem Blick vergebens stand. »Ich habe nichts gegen dich, aber ich kann deine Art nicht ausstehen. Du gibst dich zu affig, das missfällt mir.«
Er verzog die Mundwinkel, seine gute Laune schwand. »Sagt es ruhig, dass Ihr mich nicht als einen echten Mann betrachtet. In Euren Augen muss ein Mann ein Schwert schwingen können, Muskeln haben und zaubern können.«
»Ich entschuldige mich bei dir«, sagte sie spöttisch. »Du verstehst mich besser, als ich annahm. Wie du siehst, erfüllst du keine der drei Kriterien, und daher kannst du auf deine Werberei um meine Gunst verzichten. Sie ist störend, für mich wie für die anderen.«
Wie immer hielt es die Maga nicht für nötig, ihre klare Stimme zu senken. Rodario wurde dunkelrot und setzte zu einer Entgegnung an, als sich die Lore abrupt nach vorn neigte und an Fahrt gewann. Der Inhalt seines Tintenfasses schwappte heraus, lief über das Blatt und seine Kleider. Er schwieg beleidigt.
Tungdil hatte seine Hand um den Bremshebel gelegt und spähte in die Dunkelheit, damit er ein mögliches Hindernis erkannte und das Vehikel notfalls rechzeitig bremste – auch wenn er sich keine Illusionen darüber machte, dass er eine verbogene Schiene sehen könnte. Boïndil, der neben ihm saß, starrte ebenso angespannt nach vorn.
Die Loren fuhren mit großzügigem Abstand zueinander und erreichten bald ihre Höchstgeschwindigkeit. Die Kühle um sie herum wich, und der Fahrtwind trug ihnen den beißenden Gestank von faulen Eiern zu.
»Da vorn ist Licht!«, rief Ingrimmsch plötzlich. »Orangefarbenes Licht.«
Sie schossen aus dem Tunnel und fuhren über eine neuerliche Brücke, die auf Basaltstützen stand und sie über einen riesigen See führte, dessen Grund intensiv leuchtete. Lava kroch am Boden entlang, das kristallklare Wasser kochte und schlug Blasen, der aufsteigende Dampf erhitzte die Luft und verbreitete eine drückende Schwüle, die ihnen den Schweiß aus den Poren trieb; das Atmen fiel ihnen schwer, und der Gestank nach Schwefel machte es nicht leichter.
Die glühende Lava beleuchtete die Wände der unregelmäßig geformten Höhle, deren Durchmesser gut zwei Meilen betrug und die vom See bis zur Decke gewiss fünfhundert Schritt hoch war.
Sie rollten über die lange Brücke. So schön es von oben aussieht, ich bin froh, in den Tunnel zurückzukehren, dachte Tungdil.
Dann hörten sie das Hämmern wieder.
Es begann mit einem einzigen Klopfen, ein durchdringender Laut, der das leise Blubbern und Brodeln übertönte.
Goïmgars Kopf ruckte aufgeregt hin und her, angestrengt versuchte er, die Ursache zu entdecken. »Es sind die Geister unserer Ahnen«, wisperte er. »Ich kenne die Geschichten, die mir meine Urgroßmutter erzählte, von Zwergen, die sich den Gesetzen Vraccas’ nicht beugten und deshalb nach ihrem Tod keinen Eingang in die Schmiede fanden. Sie sind dazu verdammt, in den Stollen zu leben, und lauern den Lebenden auf, um sich an ihnen für ihre Qualen zu rächen.«
»Hast du auch die Geschichten über die Menschen fressenden Orks geglaubt?«, lachte Bavragor ihn aus.
»Ich kann dir sagen, dass sie stimmen«, brummte Boïndil von vorn, und Goïmgar wurde noch kleiner, bis seine Augen knapp über den Rand der Lore schauten. »Vielleicht hatte sie mit dem Spuk auch Recht.«
»Hört auf«, befahl ihnen Tungdil, und da dröhnte das zweite Klopfen durch die natürliche, in rötliches Licht getauchte Halle.
Aber dabei blieb es nicht.
Das Pochen verstärkte sich, wurde schneller, das klirrende Hämmern schwoll zu einem klangvollen Stakkato an. Der Schall reichte aus, die lockeren Steine aus der Decke zu lösen. Kleinere Brocken stürzten nieder, verfehlten die Brücke um wenige Schritt und klatschten in den heißen See.
»Da!«, schrie Goïmgar außer sich vor Furcht. »Bei Vraccas! Die Geister! Sie kommen, uns zu holen und ins Verderben zu reißen!«
Sie folgten seinem Fingerzeig und entdeckten die Wesen, die wie aus dem Nichts hinter Felsen hervorgekommen waren und von oben auf sie herunterschauten. Bei mehr als dreihundert hörte Tungdil auf, sie zu zählen.
Es wurden immer mehr. Kein Zweifel, sie sahen aus wie Zwerge und Zwerginnen, mal trugen sie Rüstungen, mal gewöhnliche Kleider, mal fast nichts außer einer Lederschürze. Krieger, Schmiede, Handwerker, die bleichen Gesichter blickten anklagend zu ihnen herab, und das Klopfen wollte nicht nachlassen. Gleichzeitig hoben sie die Arme und deuteten in die entgegengesetzte Fahrtrichtung der Gefährten.
»Sie wollen, dass wir gehen«, wisperte Goïmgar. »Lasst uns umkehren, bitte. Ich schwöre, ich laufe freiwillig quer durchs Tote Land und kämpfe gegen die Orks.«
Geister. Tungdil spürte einen eisigen Schauer über den Rücken laufen, als er die hohlen Blicke der Gestalten sah. Das rötliche Licht der Lava tauchte die weißen Gesichter in blutigen Schein. Lot-Ionans Bücher berichteten von Spukgestalten, und nun sah er sie leibhaftig vor sich. Ihr werdet mich dennoch nicht abhalten.
Der Spuk endete schlagartig, sie rauschten in den nächsten Tunnel und ließen die Halle mit dem See und den Gespenstern hinter sich. Schließlich verebbte auch das Hämmern.
Balendilín hatte mit seinen schlimmsten Befürchtungen Recht behalten.
Als er und seine Krieger das Bollwerk an der Hohen Pforte erreichten, fanden sie die ersten erschlagenen Zwerge auf den Steinplatten liegen; ihr Blut lief über den grauen Stein. Sie hatten nicht einmal die Zeit gehabt, die Waffen zu ziehen und sich zur Wehr zu setzen, was dafür sprach, dass sie von einem Freund getötet wurden. Einem Freund, den Nôd’onn verhexte und zum Verräter machte! Verfluchte Magie!
Der Wind trug ihnen den Gestank von Orks entgegen, sie hörten das Rattern der Zahnräder und das Rumpeln der Steinplatten, die Stück für Stück aneinander gefügt wurden. Der Verräter war schneller als sie gewesen.
»Lauft!«, rief Balendilín. Mehr musste er nicht sagen, denn jeder seiner Begleiter wusste, worum es ging.
Sie rannten die Treppen der Befestigung entlang, um in den Raum zu kommen, von dem aus die Brückenmechanik in Gang gesetzt wurde. Das erwartungsvolle Geschrei der Kreaturen, die auf der anderen Seite der Schlucht standen und zusahen, wie der Überweg für sie zusammengebaut wurde, gellte in ihren Ohren.
Plötzlich standen sie vor einhundert Orks, große, kräftige Bestien und bis an die Zähne bewaffnet, mit denen sie sich ein heftiges Gefecht liefern mussten, um bis zu der entscheidenden Kammer vorzudringen.
Beide Verbände fochten mit enormer Verbissenheit, jeder wollte den Tod des anderen mehr denn je. Rotes und grünes Blut spritzte, Gliedmaßen und Zähne flogen durch die Luft, und zu dem brachialen Kampf lärm mischte sich das Heulen der wartenden Horden jenseits des Grabens, deren Gier wuchs und wuchs.
Balendilíns Arm wurde immer schwerer, das ständige Zuschlagen erschöpfte ihn mehr und mehr, doch noch siegte sein Trotz über das müde Fleisch. »Macht sie nieder!«, schrie er. »Wir müssen die Brücke zerstören, oder alles ist verloren!«
»Es ist bereits alles verloren, Balendilín«, hörte er die Stimme Bislipurs von den Wänden widerhallen, und sie klang nicht so, als bedauerte er das Gesagte. »Die Clans der Zweiten werden zusammen mit den Besten der Vierten untergehen. Ein Kinderspiel, nachdem die Orks von den Tunneln erfahren haben.«
»Du warst es?« Der König schlug einem Angreifer die Axt in die widerliche Fratze, Knochen brachen, das Gesicht wurde zu einer blutenden Masse, und der Ork stürzte. Der Eingang war frei, und die Zwerge stürmten hinein, wo ein letztes Dutzend Feinde auf sie wartete und die Mechanik verbissen verteidigte. Balendilín blieb keuchend zurück. »Warum?«
»Ich hatte es anders vorgesehen, aber deine Posse um den falschen Anwärter verdarb mir meine Pläne. Du und der Großkönig zwangen mich zu improvisieren. Nun, so wird es auch gehen. Was die Elben im Krieg gegen euch geschafft hätten, übernehmen nun die Orks. Wahrscheinlich sogar viel besser.«
Balendilín versuchte zu erkennen, wo Bislipur stand, doch das Echo war trügerisch. »Ich werde dich für deinen Verrat eigenhändig umbringen!«, schwor er voller Hass.
Als Antwort erhielt er ein gehässiges Lachen. »Das habe ich schon so oft gehört, aber keiner konnte seine Drohung wahr machen. Auch du wirst es nicht schaffen, König Balendilín, der bald ohne Reich und Volk sein wird.«
Er kümmerte sich nicht weiter um den Verräter, sondern stürmte in den Festungsraum, um seinen verbliebenen Kämpfern beizustehen. Schließlich wagte er es, einen raschen Blick aus der Schießscharte zu werfen und nach der Brücke zu sehen.
Sie hatte sich bereits zu zwei Dritteln ausgefahren, und die ersten ungeduldigen Bestien versuchten, sie mit einem Sprung zu erreichen. Einige stürzten bei ihrem Unterfangen in die Schlucht, andere gelangten bis zur Kante und klammerten sich daran fest, um dann in die Tiefe zu gleiten.
Nein! Es darf ihnen nicht gelingen. Mit einem Schrei warf sich Balendilín gegen den letzten Ork und trieb ihm die Axt mit all seiner Kraft in die Seite. Die Schneide fraß sich durch die eingefettete Rüstung, dunkelgrünes Blut schoss in hohem Bogen heraus. Er riss die Waffe aus der Wunde, wehrte den Schwerthieb seines Gegners ab und hackte ihm nochmals in dieselbe Stelle. Der Feind taumelte in seinen dritten Schlag und starb.
Erst jetzt sah Balendilín die vielen verbogenen Hebel und abgeschlagenen Griffe, die in ihrer intakten Form dazu dienten, die Brücke zu steuern.
»Sie ist ausgefahren«, erstattete ihm ein Zwerg Bericht. »Die Bestien stürmen das Land, mein König.«
Balendilín schaute gelähmt auf die zerstörte Apparatur, die über das Schicksal seines Stammes und des Geborgenen Landes entschied. Alles Rütteln half nichts, der passende Hebel saß fest.
»Vraccas, das darf nicht sein!«, schrie er seine Verzweiflung laut hinaus und stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Schließlich schlug er den Hebel ab, rammte seine Axt mit Wucht in den Schlitz und gebrauchte sie als Ersatz. Dann schaute er hinaus.
Es gelang! Die Stützpfeiler fuhren zurück, die Brücke gab in der Mitte nach. Das Knacken und Krachen der berstenden Steinplatten drang bis zu ihnen, und dazu mischte sich das ängstliche Aufkreischen der Kreaturen, die sich auf dem Überweg befanden und verstanden, dass sie in den Abgrund stürzen sollten. Dann brach die Brücke endgültig und riss die Bestien in den Tod. Zurück blieben hunderte von wartenden Orks, die am Graben der Hohen Pforte standen und ihre Enttäuschung laut herausschrien.
»Du bist verletzt, König«, machte ihn ein Krieger aufmerksam, und Balendilín sah, wie Blut aus seiner linken Seite sickerte. Das Kettenhemd wies einen klaffenden Schnitt auf, der vom Schlag eines Orks stammte.
»Es ist nichts«, knurrte er und riss seine Axt aus der Apparatur. »Lasst uns die Scheusale vernichten, die es bis über die Brücke schafften, und zu den anderen zurückkehren«, erteilte er neue Befehle. »Danach machen wir uns auf die Suche nach dem Verräter Bislipur.«
Auf dem Rückweg stellten sie fest, dass es keinen sicheren Fleck mehr im Blauen Gebirge gab. In jedem Korridor, in jedem Gang, in jeder Halle trafen sie auf kleinere und größere Gruppen Orks und Bogglins, die sich Scharmützel mit den Zwergen lieferten.
Wie lange werden wir uns noch gegen sie halten können?, dachte er. Vraccas, sende uns Beistand!
Als sie sich der Vorhalle zu den Schnelltunneln näherten, hörte Balendilín die animalischen Schreie und das Aufbrüllen von Orks, die in großer Zahl niedergemacht wurden.
»Verflucht, ich sagte, dass sie aufpassen, aber nicht angreifen sollen! Es sind zu viele für einen offenen Kampf.« Er hastete mit seinen Leuten vorwärts, um den zurückgelassenen Wachen beizustehen, und entdeckte etwas völlig Unerklärliches.
Eine Zwergentruppe mähte sich von der anderen Seite durch die Reihen der Orks, die von den unerwartet aufgetauchten Gegnern überrascht wurden. Seine eigenen Krieger hatten daraufhin einen Angriff unternommen, um die Orks zwischen den Fronten aufzureiben.
Balendilín befahl seinen Begleitern den Angriff und stürzte sich ins Getümmel. Bald trafen sich die beiden Zwergengruppen in der Mitte, und die letzten Feinde wurden von den blitzenden Äxten in Hälften getrennt.
»Ich komme gern pünktlich zu einer Schlacht«, grüßte ihn ein Zwerg in einem wunderschön gearbeiteten Kettenhemd. Die Stimme war ein wenig hoch, der Bart sehr fein, und die Rüstung schlug an zwei Stellen des Oberkörpers Beulen, wie sie für einen Mann nicht passen wollten. In der Rechten hielt er einen vergoldeten Streitkolben, an dem das Blut der Orks klebte.
»Ich bin Xamtys II. Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne, Königin der Ersten des Stammes Borengar.« Sie drehte einen Kadaver mit dem Stiefel herum. »Ich wollte zu einer Ratsversammlung, und was sehe ich? Orks. Waren sie auch eingeladen, um für ein wenig Auflockerung zwischen den Disputen zu sorgen?«
Balendilín überwand seine Überraschung schnell. »Ich bin froh, dass die Ersten sich in dieser heiklen Stunde an die Gemeinschaft unserer Stämme erinnern und uns dringend benötigte Hilfe bringen. Ich bin Balendilín Einarm vom Clan der Starkfinger, König der Zweiten. Wer hat euch erreicht? Tungdil oder Gandogar?« Stumm bat er, dass sie Tungdil sagen würde.
»Ich sprach mit Tungdil, und er half mir, mich zu entschließen, das Schweigen zu beenden.« Sie reichte ihm die Hand, er schlug ein. »Und was geschah hier?«
In aller Eile berichtete er ihr von den Ereignissen in Ogertod und dem Verrat eines Zwerges an seinem eigenen Volk. Während er noch erzählte, erhielten sie die Nachricht, dass das große Tor kurz davor stand, von den äußeren Angreifern eingenommen zu werden.
»Ihr müsst das Gebirge verlassen«, riet Xamtys. »Wenn ihr verraten wurdet, kennen sie jeden noch so kleinen Gang, in dem ihr Widerstand leisten könnt.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kommt mit zu uns, wir gewähren euch Gastfreundschaft, bis wir Nôd’onn besiegt und die Ungeheuer aus eurer Heimat geworfen haben.«
»Nein«, widersprach er sofort.
»König Balendilín, jetzt ist nicht die Zeit für Trotz. Du wirst mit deinem Stamm gegen die Übermacht untergehen, und dann? Dann haben ich und meine Ersten doppelt so viel Arbeit, das Geborgene Land zu retten«, sagte sie in freundschaftlichem Tonfall. »Wir nehmen die Röhren und kehren zu uns zurück. Boten werden Tungdil und Gandogar über die neue Lage unterrichten.« Erleichtert bemerkte sie, dass er ihren Vorschlag innerlich bereits angenommen hatte.
»Sie sollen die Frauen und Kinder hierher bringen und so viele wie möglich in die Loren setzen«, gab er Anweisungen. »Diejenigen, die wir nicht mehr erreichen, müssen ausharren, bis wir zu ihrer Befreiung zurückkehren. Die Minen sind weitläufig genug, um als Verstecke für Einzelne zu dienen. Sie sollen auch die wichtigsten Brücken zum Einsturz bringen. Die Orks werden sie nicht so schnell finden.«
Balendilín empfand es als bittere Niederlage, dass sie den Rückzug antraten, wusste aber keine andere Lösung, um dem drohenden Untergang zu entgehen. Ohne Bislipur wäre es niemals so weit gekommen, dachte er voller Hass.
Entschlossen organisierte er ihren Abzug, wählte die Freiwilligen aus, die in die abgelegeneren Regionen des Zwergenreiches laufen sollten, um die Familien der Clans zu warnen und aufs Schlimmste vorzubereiten. »Sagt ihnen, dass sie nur kurze Zeit ausharren müssen«, schärfte er ihnen ein. »Wir kehren in wenigen Wochen zurück und töten die Orks. Das ist ein Versprechen.«
Danach begab er sich in die Ratshalle, um den Zeremonienhammer zu holen und ihn vor Schändungen zu bewahren. Den Hort seines Stammes würden sie niemals finden, nur Gundrabur und er kannten die Runen, die den Weg dorthin freigaben.
Er nahm den verzierten Hammer, der neben dem verlassenen Thron stand, und hörte das Dröhnen der Rammböcke, mit denen die Angreifer das große Tor bearbeiteten. Das Rumpeln ging ihm durch Mark und Bein, es verkündete das nahende Unheil für das Reich der Zweiten, gerade so als klopfte das Unheil selbst mit Macht gegen die Pforte.
Wehmütig betrachtete er den Thron, die Steintribünen, die Stelen mit den Gesetzen seines Stammes, die Säulen der Halle und die kunstvoll gehauenen Szenen an den Wänden, von den goldenen Sonnenstrahlen, die durch die Löcher fielen, in freundliches Licht getaucht. Ob sie noch da sein werden, wenn ich zurückkomme?
»Ein König wird doch nicht weichen wollen?«
»Bislipur!« Balendilín wirbelte herum und schaute zu den Steintafeln. Hinter einer von ihnen hatte der Verräter sich verborgen, die Steinspangen in seinen Bartsträhnen stießen leise klirrend aneinander.
»Ich wartete darauf, dich allein anzutreffen, ohne deine eifrigen Helfer. Du hast mir an der Brücke einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich fand es sehr schade, dass es dir gelang, sie zum Einsturz zu bringen.« Er nahm seine Streitaxt und hieb damit gegen die Gesetzestafel, die daraufhin Risse bekam und in große Teile zersprang. »Aber ich bin ein geduldiger Zwerg. So wie ich diese Gesetze der Zweiten vernichte, so werdet ihr gegen die Orks fallen.«
Der König ging die Stufen hinab. »Alles, was du zerstörst, ist Stein, auf dem Worte geschrieben stehen. Wir können sie neu meißeln. Du wirst scheitern! Die Zwerge fanden zu neuer Gemeinschaft zurück. Die Clans der Ersten sind angekommen und haben einen Großteil deiner Verbündeten vernichtet. Weißt du das?«
»Sie sind nicht meine Verbündeten, sie sind Handlanger, Werkzeuge meiner Rache«, stellte er ruhig fest und zertrümmerte die Tafel vollständig. »Feiert nur euren kleinen Erfolg! Aber gegen Nôd’onn werdet ihr auf Dauer nicht bestehen. Er ist zu mächtig und zu wahnsinnig.« Schon zerbarst die zweite Tafel unter seinen Schlägen; der polierte Granit polterte auf die Steinplatten und verteilte sich.
»Genug!« Balendilín stand am Fuß der Throntreppe und näherte sich dem Verräter. Unterwegs stellte er den Zeremonienhammer ab und nahm seine Axt aus dem Gürtel, wohl wissend, dass ihm der Hinkende an Kraft überlegen war; dafür fehlte es ihm glücklicherweise an Wendigkeit. »Sag mir, warum du das getan hast!«
»Das wird ein Kampf«, lachte Bislipur. »Zwei Krüppel messen sich.«
»Dieses Mal jedoch nicht mit Worten«, fügte der König grimmig hinzu.
Bislipur grinste. »Und schon wieder werden die Clans der Zweiten einen neuen König wählen müssen.« Ansatzlos schlug er zu, doch der Herrscher tauchte unter der Axt hinweg und nutzte den Schwung, um seinerseits einen Hieb zu führen.
Bislipur sprang fluchend nach hinten, aber der Dorn am Ende des Stiels erwischte ihn am ungeschützten Unterschenkel. Leder und Stoff rissen, Blut quoll aus dem Schnitt hervor.
»Warum hast du uns verraten?«, wollte Balendilín erneut wissen. »Weil dein Schützling nicht Großkönig wurde und es keinen Krieg gegen die Elben gab, deshalb? Warst du so versessen darauf?«
Bislipur sprang vor und attackierte ihn mit einer Serie von Ausfällen, doch Balendilín durchschaute die Finten, wich zurück und wartete aufmerksam darauf, dass der echte Angriffsschlag erfolgte. Sie hatten die breite Halle durchquert und kämpften sich einen Gang entlang, der sie auf eine Brücke führte. Darunter gähnte ein Abgrund von zwanzig Schritt Tiefe.
»Es ist mir gleich, wer auf dem Thron sitzt«, antwortete Bislipur. »Ich wollte einzig und allein, dass es zum Krieg kommt. Die Elben hätten euch vernichtet.«
Sein Schlag kam mit einer Heftigkeit, die unmöglich zu parieren war. Balendilín gelang es gerade noch, die Schneide aus der Bahn zu lenken, doch beinahe verlor er dabei seine eigene Axt.
»Ich verstehe es noch immer nicht, Bislipur. Hat Nôd’onn dich verhext, oder weshalb stellst du dich gegen deinen eigenen Stamm?«
»Meinen eigenen Stamm? Nein, die Vierten sind gewiss nicht mein Stamm. Du warst einmal so dicht dran, dass ich dachte, ich sei verraten.« Wieder durchschnitt seine Axt pfeifend die Luft. Balendilín blockte sie mit einem Gegenschlag, doch der Aufprall und die Erschütterung ließen seine Hand kraftlos werden.
»Du hast es selbst gesagt, Einarm. Ich bin zu stark und ein zu guter Krieger, als dass ich einer von den schwächlichen Vierten sein könnte.« Er schlug nochmals zu, die Finger des Königs öffneten sich, die Axt klirrte auf die Brücke. »Ich bin vom Stamm Lorimbur und werde als derjenige in die Geschichte eingehen, der den Niedergang der anderen Stämme einläutete«, grollte er finster. »Mir gelang, was keinem anderen zuvor glückte.«
Balendilín fiel ihm in den Schlagarm und fing den nächsten Hieb ab, dafür rammte ihm der Verräter mit einem Kopfstoß den Helm ins Gesicht. Mit rotem Nebel und tanzenden Sternen vor den Augen schwankte er nach hinten, das siegessichere Lachen Bislipurs in den Ohren.
»Schade, dass Tungdil ein Dritter ist, sonst könnte er sich nach seiner Rückkehr um deinen Posten bewerben. Oh, er wird weinen, wenn er die Trümmer von Ogertod sieht. Vielleicht verberge ich mich in der Nähe, um ihn und die anderen aus dem Hinterhalt zu töten. Das wäre ein Spaß.«
»Tungdil einer aus dem Stamm Lorimbur? Niemals.« Mit Mühe hielt Balendilín sich auf den Beinen.
»Ich erkenne einen der unsrigen, wenn ich ihn sehe, wir haben ein Gespür für einander. Und glaube mir, dein Thronfavorit ist einer von meinem Stamm, ein Zwergentöter, so wahr wie ich dich erschlage und zusehen werde, wie die Orks deine warmen Innereien fressen.«
»Du lügst!« Der König lehnte sich an das Geländer, seine Beine gaben nach.
Bislipur grinste bösartig und schlug zu. »Mag sein. Es kann dir egal sein.«
Die niederstoßende Axt nahm Balendilín nur mehr als huschenden Schatten wahr.
Das Rumpeln des Felsens warnte sie, sodass Tungdil rechtzeitig die Bremse betätigen konnte. Der Aufprall der Lore gegen die aufgetürmten Felsbrocken war immer noch heftig genug, dass sie durchgeschüttelt wurden und das Fahrzeug aus der Trasse sprang.
»Die Geister haben sich knapp verrechnet«, meinte Bavragor und wischte sich den Staub aus dem Gesicht. Danach half er Balyndis, die ihn gewähren ließ. »Wir hätten bestimmt unter dem Schutt begraben werden sollen.« Er suchte nach seinem Schlauch mit Branntwein und nahm einen Schluck.
»Ach, nur ein kleiner Einsturz«, meinte Rodario und hüpfte vom Vehikel aus auf den Boden. »Der gute Djerůn wird einige Stunden schuften, und wir können unsere Fahrt fortsetzen. Oder hat die ehrenwerte Maga vielleicht noch etwas Wind in der Tasche, um die Röhre freizupusten?« Sein Tonfall war merklich schnippischer geworden, die Abfuhr der Frau vor aller Augen und Ohren hatte ihn gekränkt, was er ihr zu zeigen gedachte.
Der vor Furcht bleiche Goïmgar blieb, wo er war, und zog es vor, die Decke argwöhnisch zu betrachten. Andôkai näherte sich der Stelle und wies ihren Begleiter an, Trümmer aus dem Weg zu räumen, doch bald wurde klar, dass zu viel Gestein im Weg lag.
»Ich vermute, dass die gesamte Röhre eingestürzt ist«, sagte Bavragor, der auf den Blöcken herumkletterte und die Wände besah. »Es sieht so aus, als wären Vorarbeiten vorgenommen worden.«
Furgas eilte zu ihm, betrachtete das Gestein aus der Nähe und tastete daran herum, bis er dem Zwerg zunickte. »Das sehe ich ebenso. Da hat jemand mit einer Picke kleine Löcher in den Stein gehauen, sodass der Gang einstürzen musste, sobald die Stützbalken entfernt wurden.«
»Die Geister haben das Holz zerbrochen«, wisperte Goïmgar mit Beben in der Stimme. »Sie wollten uns vernichten, nachdem wir ihre Warnung missachteten.«
»Ich hätte niemals gedacht, das zu sagen, aber die Singerei des Säufers ist mir tausendmal lieber als dein ständiges Herumgegreine!«, herrschte ihn Ingrimmsch grob an. Sein heißes Blut, das schon lange keine Gelegenheit mehr erhalten hatte, sich nach Lust und Laune auszutoben, meldete sich.
»Boïndil, zähme deine Wut«, sagte Tungdil beschwörend. »Ich weiß, dass es dir immer schwerer fällt, doch du musst sie im Zaum halten.« Er nahm seinen Rucksack, um nach der Karte zu suchen, die ihnen Xamtys mitgegeben hatte, und studierte sie. »Wir gehen zurück. Eine Meile von hier ist ein Ausstieg.« Er schaute zu Goïmgar. »Es sieht so aus, als würden die Gespenster dir deinen Wunsch erfüllen und dir zu einem Spaziergang an der Oberfläche verhelfen.«
»Wo sind wir?«, wollte Andôkai wissen.
»Nach meiner Berechnung befinden wir uns im Südosten des Königreiches Tabaîn«, meinte er. »Ein Marsch bis zum nächsten Eingang sollte uns leicht fallen. Es wird auch das Flache Land genannt, weil es wie eine einzige Ebene daliegt.«
»Hervorragend«, grummelte Bavragor wenig begeistert. »Kaum wünscht sich der Schmalzwerg etwas, geht es in Erfüllung. Ich bin nicht zum Laufen an der Oberfläche gemacht und mag auch die Sonne nicht sonderlich. Die Reiterei hat mir gelangt.«
»Man gewöhnt sich dran«, erwiderte Boïndil. »Hättest du öfter Wachdienst an der Hohen Pforte geschoben, wüsstest du, dass ihre Wärme auf der Haut auch angenehm sein kann.«
»Es war mir zu gefährlich, in deiner Nähe zu stehen«, gab er ätzend zurück. »Ich hatte nicht vor, wie meine Schwester zu enden.«
Balyndis horchte auf. Die unvermittelt entstandene Spannung zwischen den beiden brachte sie dazu, sich vor Bavragor zu schieben, um eine handfeste Auseinandersetzung zu verhindern, doch er packte ihren Arm und schob sie zur Seite.
»Pass auf. Dreh ihm niemals den Rücken zu, wenn er den Hass und die Wut in sich trägt«, warnte er sie vor Ingrimmsch. »Er tötet schnell und ohne nachzudenken.«
Die Muskeln des Zwillings spannten sich, die Hände legten sich an die Griffe seiner Beile. »So, tue ich das, Einauge?!«, grollte er und senkte angriffslustig das Haupt.
»Schluss! Ihr seid beide still«, untersagte Tungdil ihnen jedes weitere Wort. »Damit ihr eure Kraft loswerdet, tragt ihr die Metallbarren, bis ihr nicht mehr könnt und Djerůn es für euch übernimmt.« Widerstrebend kamen sie seinem Befehl nach.
»Bei dem einen verhindert der Schmerz, bei dem anderen die Wut, dass die Einsicht siegt«, erklärte er Balyndis, nachdem er an ihre Seite getreten war. Rasch erzählte er ihr den Hintergrund der schwelenden Feindschaft zwischen den beiden Zwergen.
»Das ist sehr traurig«, bedauerte sie, und ihr rundes Gesicht zeigte Mitgefühl. »Traurig für beide.«
»Auch wenn ich es mir nicht wirklich wünsche, wäre es wohl das Beste, auf Gegner zu treffen, an denen sich Boïndil austoben kann«, sagte er leise zu ihr, und dabei geriet ihr Geruch in seine Nase. Sie duftete himmlisch wie frisches Öl und sauberer Stahl.
»Kommst du?«, rief Goïmgar, der aus der Lore kletterte und den anderen folgte. »Anführer sollten doch immer vorn gehen, oder irre ich mich?«
»Nein, du irrst dich nicht.« Er eilte an ihm vorbei und schloss zu Boïndil und Bavragor auf, die schweigend ihre Last schleppten. Keiner wollte vor dem anderen als schwächer dastehen und dem Krieger das Tragen überlassen.
Plötzlich ratterte es laut vor ihnen. Eine Lore rauschte die Trasse entlang, und sie schafften es im letzten Augenblick, dem herrenlosen Karren auszuweichen.
Djerůn sprang auf die Seite, zog seine Axt und schlug aus der Bewegung zu, woraufhin sie entgleiste und gegen die Felswand prallte. Sofort war der Krieger dort, hob das Gefährt an und schaute hinein, um einen Passagier ausfindig zu machen. Sie war leer.
»Sie kann in einem Seitengang gestanden und sich gelöst haben«, meinte Rodario. »Welch ein Glück, dass ich die Reflexe eines Katers besitze, sonst hätte es mich glatt erwischt.« Furgas warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
»Es waren die Geister«, beharrte Goïmgar leise. »Sie wollten uns damit töten.«
»Sicher.« Boïndil legte die Barren ab, ging näher heran und schnupperte prüfend. »Orks saßen mit Sicherheit nicht drin, das Fett ihrer Rüstung würde ich sehen und riechen.« Er kroch in der Lore herum und gab nicht eher Ruhe, bis er auf etwas gestoßen war. »Die Schnalle eines Schuhs«, verkündete er und hob sie in die Höhe. »Billiges gestrecktes Silber. Sie ist jedenfalls nicht alt, aber sie sieht sehr mitgenommen aus. Kratzer, Dreck.« Er steckte sie ein.
Ich kenne sie von irgendwoher. »Das Rätsel lässt sich auf diese Weise nicht lüften«, entschied Tungdil. »Wir gehen weiter.«
Sogleich bückte sich Ingrimmsch nach seiner Last, und die Gruppe setzte sich in Bewegung.
Im letzten Augenblick ließ sich Balendilín fallen. Die Schneide zischte über ihn hinweg und prallte klingend gegen die Steinbrüstung der Brücke. Er trat Bislipur von unten ins Gemächt, zog seinen Dolch und rammte ihn in die Stiefelspitze. Aus dem Stöhnen des Verräters wurde augenblicklich ein lauter Aufschrei.
Der Schleier vor seinen Augen lichtete sich, er sah Bislipur wieder klar vor sich – rechtzeitig genug, um dem mit viel Wut ausgeführten Hieb zu entkommen. Er rollte sich nach rechts, und die Axt schlug wirkungslos auf die Brücke.
Dieses Mal hatte Bislipur mit der Bewegung des Königs gerechnet und schwang die Waffe wie eine Keule von unten nach oben hinter ihm her. Die Klinge durchtrennte Kettenglieder und drang schmerzhaft in seine verletzte Seite; die Spitze verhakte sich im Ringgeflecht.
»Hab ich dich! Flieg, Einarmiger«, lachte er, packte den Stiel mit beiden Händen, zerrte seinen Gegner an der Waffe hinter sich und schleuderte ihn hart gegen die Brüstung. Balendilín rutschte über die Steine und sah plötzlich den Abgrund unter sich. »Oh, ich habe vergessen, dass dir das Wedeln mit den Armen schwer fallen dürfte.«
»Zeig mir, ob ein Dritter ebenso gut fliegt wie ein Zweiter«, rief der König, streckte sich, um mit seinem Dolch zuzustoßen, und jagte diesen durch den Unterarm des Verräters. Dann spürte er, wie er über die Kante rollte.
Balendilín klammerte sich an den Griff des Dolches und zog den schreienden Bislipur mit sich in die Tiefe. Für deinen Verrat stirbst du mit mir!
Zu seinem eigenen Erstaunen endete sein Flug nach zwei Schritt auf festem Untergrund. Der Dolch glitt aus dem Arm seines Feindes. Balendilín war auf den Resten eines Steinbogens gelandet, der sich einst zur Zierde unter die Brücke gespannt hatte und wegen seiner Instabilität abgerissen worden war.
Bislipur schoss an ihm vorbei; instinktiv gab er den Griff der Axt frei, um sich an der vorderen Kante des Bogens festzuhalten, was ihm auch gelang. Doch ihm blieb nur die Rechte, weil der Dolch ihm den anderen Arm vom Ellbogen bis zum Handgelenk aufgeschlitzt hatte.
»Es ist noch nicht vorbei«, keuchte er vor Schmerz und Anstrengung, während er sich mit einer Hand nach oben zog. Seine Augen loderten vor Hass. »Mir reichen fünf Finger aus, um dich zu erwürgen, Balendilín.« Langsam schob er sich über den Vorsprung.
Mit einem lauten Schrei riss sich der König die Axt aus dem Kettenhemd. »Doch, es ist vorbei«, rief er und schlug dem Verräter die Schneide durch den Helm in den Schädel. Es knirschte und knackte, dann lief Bislipur das Blut in die Stirn. »Ich versprach, dass ich dich töte, und meine Versprechen halte ich.«
Er ließ den Griff los, trat dem Sterbenden ins Gesicht und schob ihn über die Kante zurück. Der Körper stürzte in die Tiefe; es knallte dumpf, als er nach mehr als zwanzig Schritt auf dem Stein aufschlug und zerschmetterte.
Vraccas, verbrenne seine Seele in deiner Esse. Balendilín schloss die Augen und lehnte sich an den Steinbogen. Die Schmerzen raubten ihm das Bewusstsein.
Gerade als er halb ohnmächtig von seinem schmalen Sitz rutschen drohte, fanden sie ihn und trugen ihn zu den Schnelltunneln. Seine Lore setzte sich als Letzte in Bewegung.
Die Sonne versank am ebenen Horizont und brachte den Schnee ein letztes Mal zum Glitzern, ehe die Dämmerung hereinbrach. Tausende kleiner Diamanten blinkten auf der weißen Ebene.
Mitten in der unberührten Fläche geriet ein einzelner Steinbrocken in Bewegung. Der Schnee rieselte von ihm herab, dann schob er sich zur Seite, und eine Frauengestalt schwang sich aus dem Loch darunter ins Freie. Ihre Fußspuren zerstörten die Makellosigkeit.
»Bei Samusin!«, entfuhr es Andôkai, als sie sich aufrichtete und über die tellerflache Ebene blickte. Überall dort, wo kleine Punkte in weiter Entfernung Siedlungen markierten, stiegen Rauchsäulen in den Himmel. Sie kniete sich hin, um sich kleiner zu machen, und zog den Mantel zum Schutz gegen die beißende Kälte enger um sich. »Die Orks sind schon hier. Sie müssen aus dem Norden gekommen sein.« Die saubere, klirrend kalte Winterluft fuhr in ihre Lungen, und sie musste husten.
Vereinzelt erkannte sie große dunkle Flecken, die sich langsam vorwärtsbewegten und dorthin zogen, wo sich die nächste, noch nicht brennende Stadt, ein unverwüstetes Gehöft oder ein unversehrtes Dorf befanden.
Andôkai schloss die Augen und konzentrierte sich. Sogleich spürte sie die Ausläufer eines schwachen Energiefeldes im Boden, das sich jedoch unter dem Einfluss Nôd’onns zum Schlechten hin gewandelt hatte.
»Wir stehen auf den Resten des Zauberreichs Turguria«, sprach sie langsam. »Das Land unter unseren Füßen war einst reich an Magie. Jetzt kann ich sie kaum nutzen.« Dennoch nutzte sie die Gelegenheit, ihren inneren Vorrat aufzustocken, doch dabei verzerrte sich ihr Antlitz vor Schmerzen.
Ein Zwergenhelm erschien in der Öffnung, ein paar wachsame braune Augen folgten, die umherspähten. »Dann nichts wie weg von hier«, verlangte Boïndil mürrisch und stemmte sich ins Freie; die anderen folgten ihm die letzten Stufen der Treppe hinauf. »Jetzt weiß ich, warum ich mich die ganze Zeit über so unwohl fühle. Hokuspokus, pah. Ist nichts, taugt nichts.« Er schüttelte sich und schob den Stein, der den Zugang zu den Röhren verbarg, wieder an seinen alten Platz. »Gehen wir.«
»Warte.« Tungdil folgte Andôkais Blick. Er fröstelte; sein Atem wurde wieder zu weißen Wölkchen und die Barthaare überzogen sich mit einem Eisfilm. »Ich gebe Euch Recht. Sie müssen aus dem Gebiet des Toten Landes stammen, die Rotten aus Toboribor wären niemals so schnell hierher gelangt.«
»Umso schlimmer für uns«, meinte Goïmgar in seiner gewohnt nörgelnden Art. »Ich …«
»Sei still, oder du erlebst was«, grollte Boïndil drohend. »Wir denken nach.«
»Du? Nur weil …«
Ingrimmsch wirbelte herum und stürmte schreiend auf ihn zu. Schnell riss Goïmgar seinen Schild in die Höhe und schrie um Hilfe.
»Nein, Boïndil!« Doch der Zwerg hörte nicht. Er wird ihn in Stücke reißen! Tungdil warf sich ohne zu zögern gegen Boïndil, Bavragor folgte ihm, und die drei verschwanden in einer Schneewolke, aus der Fluchen, das Klatschen von Schlägen und Keuchen drangen.
Mit Djerůns Hilfe gelang es, sie wieder zu trennen. Wie durch ein göttliches Wunder hatte Ingrimmsch darauf verzichtet, seine Waffen zu ziehen, die sicherlich verheerende Folgen für die anderen gehabt hätten. Die blauen Flecken am Kopf und das Blut unter ihren Nasen bewiesen, welche Kräfte der Krieger besaß.
»Es tut mir Leid«, schnaubte Boïndil. »Es ist mein heißes Blut«, suchte er nach einer Entschuldigung, während er seinen Helm im Schnee suchte. »Er hat mich gereizt und …«
»Schon gut.« Tungdil sparte sich eine Standpauke, seine rechte Gesichtshälfte pochte und fühlte sich heiß an. »Wir werden bald auf Orks stoßen, gegen die du ganz allein kämpfen darfst.«
Balyndis kümmerte sich um ihre Verletzungen; sie formte Schneebälle, mit denen sie die getroffenen Stellen kühlten. Schweigend setzten sich die Gefährten in Bewegung, um nach Nordosten zu marschieren.
Andôkai gesellte sich an die Seite Tungdils. »Vor uns sind keine Rauchsäulen zu sehen. Die Orks haben wohl auf Geheiß Nôd’onns zuerst den letzten Rest an Widerstand in den Zauberreichen erstickt, ehe sie sich an die Eroberung der weltlichen Königtümer machen.« Sie deutete nach Osten. »Da drüben, auf der Gemarkung Tabaîns, liegt eine befestigte Stadt, dort sollten wir die Nacht verbringen. Es wird eisig kalt werden, und wir sind nicht darauf eingerichtet, im Freien zu schlafen. Sie werden über jede Hand froh sein, die ein Schwert halten kann.«
Tungdil stimmte ihr zu, und so kam es, dass sie lange nach Einbruch in die Stadt einzogen, die sich auf der Karte Grüschacker nannte.
Unterwegs stellte sich den Zwergen eine neue Schwierigkeit: Die Truppen Nôd’onns hatten damit begonnen, die Tunnel zu besetzen und die Schienenverbindungen zu unterbrechen.
Die erste Sperre überrollten sie noch, doch bei der nächsten warteten außer Orks auch Oger und Trolle, die sie mit Gesteinsbrocken bewarfen.
Auf diese Weise verloren sie vier Loren. Glücklicherweise gelang es ihnen, an einer Weichenstelle abzubiegen; dafür ratterten sie nordwärts anstatt nach Westen.
Xamtys gab vor der nächsten Schwungstelle das Zeichen zum Anhalten, um sich mit Balendilín zu beraten. »Der Weg in mein Reich ist uns versperrt«, sagte sie zähneknirschend, während sie sich zur Lore des Königs begab. »Es ist zu gefährlich, die Tunnel weiterhin zu nutzen. Die nächste Trasse könnte von Orks verbogen worden sein und uns geradewegs in einen Abgrund lenken.«
»Bislipur muss ihnen schon vor längerer Zeit von den Röhren verraten haben«, meinte Balendilín, während seine Begleiter die Unterbrechung nutzten, um ihm einen neuen Verband anzulegen. Es ist grausam. Die Erfindung unseres Volkes, die zum Schutz des Landes gedacht war, wird nun von den Kreaturen Tions dazu benutzt, es schneller zu erobern. Er dachte nach. »Wir schicken Späher an die Oberfläche.«
»Wir können nicht laufen, Balendilín.« Xamtys betrachtete seine Wunden und schüttelte den Kopf. »Es ist Winter, und unterwegs wird es kaum genügend zu essen geben, geschweige denn, dass wir auf einen Marsch durch Schnee und Eis vorbereitet wären. Die Hälfte von uns würde verhungern und erfrieren.« Sie nahm den Helm ab, die beiden Zöpfe fielen auf ihre Schultern. »Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Das Rote Gebirge …«
»Nein, Xamtys.« Er hielt die Luft an, als seine Wunde schmerzte. Seine breite Hand umklammerte den Rand der Lore, bis der Verband gewechselt war. »Ich habe nicht vor, ins Rote Gebirge zu gehen.« Balendilín zog die Landkarte hervor und deutete auf eine Stelle fast mitten im Geborgenen Land. »Dahin gehen wir, auch wenn es mir nicht gefällt. Es ist ein verfluchter Ort mit zweifelhafter Vergangenheit, aber das einzig sichere Refugium.«
»Wieso?« Sie fuhr sich durchs Gesicht, als könnte sie die schweren Gedanken und die Müdigkeit wegwischen.
»Weil er nicht mit den Tunneln oder sonst irgendeinem Stollen in Verbindung steht. Wir müssen nur wenige Meilen oberirdisch gehen, dafür wären die Kinder und Frauen in Sicherheit. Das Gelände der Umgebung ist flach und überschaubar, wir sind sicher und harren aus, bis Tungdil oder Gandogar uns finden.« Er verfluchte Bislipur nachträglich für die beigebrachte Verletzung, die seine Bewegungsfähigkeit so stark einschränkte und ihn noch mehr schwächte.
»Das Geborgene Land ist groß, und ihnen Boten zu schicken ist eine unsichere Sache.« Xamtys betrachtete den Ort, auf den der Zeigefinger des Königs der Zweiten deutete. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Wir brauchen keine Boten. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder weiß, wohin sich die Zwergenstreitmacht zurückgezogen hat, dann erfahren es die beiden unterwegs von selbst. Sie merken sicherlich bald, dass die Orks die Tunnel besetzt halten, und werden Nachforschungen anstellen.«
»Hm«. Die Zwergin wirkte nicht recht überzeugt. »Damit locken wir die Bestien ebenfalls dorthin. Ist das gut?«
»Es ist viel mehr als das. Es ist meine Absicht«, nickte er, und seine braunen Augen blickten sie ernst an. »Ich will, dass Nôd’onn selbst sein Heer zu uns führt.«
Xamtys blickte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Ich glaube nicht, dass er das tun wird. Und wenn er es tut, sind wir tot, Balendilín. Möchtest du einen schnellen Untergang? Dann hätten wir im Blauen Gebirge bleiben können, und unsere Flucht wäre sinnlos.«
»Nein, Xamtys. Er muss zu uns kommen. Wenn er glaubt, wir besäßen die Artefakte und die Bücher, die er so verzweifelt in seinen Besitz bringen möchte, wird er alle Horden in Bewegung setzen.«
»Den Grund, Balendilín«, sagte sie beschwörend und stützte sich auf die Lore. »Nenne mir den Grund, warum ich meine Krieger in den sicheren Untergang führen soll.«
Er hielt ihrem besorgten Blick stand. »Nôd’onn muss sich in unserer Nähe aufhalten. Nur auf diese Weise bekommen Gandogar und Tungdil die Gelegenheit, die Feuerklingen gegen ihn einzusetzen. Ansonsten wird er irgendwo im Geborgenen Land sitzen, unauffindbar und unnahbar.«
Die Königin verstand seinen Plan. »Wir sind der Köder. Das hat allerdings den Haken, dass wir nicht wissen, wann einer von ihnen auftaucht.«
»Oder ob«, fügte er ehrlicherweise hinzu und schloss für einen Moment die Augen. Ihm war schwindelig, der Blutverlust laugte ihn aus. »Und dennoch ist es die einzige Möglichkeit.«
»Gut.« Xamtys löste die Hände von der Lore. »Aber zuerst muss ich die Clans der Ersten warnen.«
»Dafür wird es zu spät sein. Die Orks kennen die Tunnel, sie werden sicherlich schon bei ihnen eingefallen sein. Ich hätte es an ihrer Stelle so gemacht.« Er fasste ihre Hand. »Geh davon aus, dass wir die letzte Streitmacht unseres Volkes bilden, Königin. Umso wichtiger ist es, Nôd’onn zu vernichten.«
Sie atmete tief durch und betrachtete seine rissige Hand. »Es ist grausam zu ahnen, was im Roten Gebirge geschieht, und nichts daran ändern zu können.« Eine Träne rann in ihren flaumigen Bart. »Wir rächen unsere Toten tausendfach, Balendilín. Die Felder des Geborgenen Landes werden mit dem Blut der Bestien getränkt werden, und mein Streitkolben wird nicht eher ruhen, bis er an einem Ogerschädel birst.« Er wusste, dass diese Waffe niemals zerbrechen würde. Ihr Blick wurde unsicher. »Was ist, wenn Nôd’onn uns überwindet, bevor einer der beiden mit der Feuerklinge zurückkehrt?«
Er lächelte sie an und versuchte, mehr Zuversicht auszustrahlen, als er wirklich in sich trug. »Bis dahin dürfen wir uns nicht überwinden lassen.«
Xamtys hob den Kopf, ihre braunen Augen schauten über die Vehikel, die bangenden und trotzigen Gesichter; kleine Kinder schrien, Kettenhemden und Waffen klirrten leise, weil sich ihre Träger unruhig hin und her bewegten. Die Luft im Tunnel roch verbraucht.
»Also gut, Balendilín. Ich folge dir.« Sie reichte ihm die Hand, dann kehrte sie zu ihrem Vehikel zurück.
Die Kunde über das neue Ziel verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bisher waren die Zwerge mit einem unguten Gefühl gereist, doch der Ort, an den sie Balendilín nun führen wollte, sorgte bei den meisten, die davon gehört hatten, für Unglaube, bei manchen für Entsetzen und bei einigen für blanke Angst.
Wieder geschah es, dass die Torwachen die mehr als merkwürdige Reisegruppe passieren ließen, ohne auch nur eine misstrauische Frage über Djerůns ungewöhnliche Größe zu stellen.
Die Stadt war gigantisch groß. Tungdil erinnerte sich, in Lot-Ionans Büchern einmal die Zahl siebzigtausend gelesen zu haben, und das Buch war damals schon älter.
»Ho, es wundert mich nicht, dass die Orks die Finger von ihr lassen«, sagte Boïndil. »Wenn die Bürger zu den Waffen greifen, stehen den Schweineschnauzen vorneweg dreißigtausend Gegner im Weg.«
»Es wird nicht lange dauern, bis sie eine entsprechend große Zahl zusammengerottet haben oder die Albae es mit List versuchen«, schätzte Andôkai. Mifurdania hatte gezeigt, dass keine Stadt mehr sicher war. »Nôd’onn kann notfalls einen seiner Famuli entsenden, der den Orks die Wände niederreißt. Sind sie erst einmal in der Siedlung, kann man sie nicht mehr aufhalten, dazu kämpfen sie zu stark.« Sie deutete auf ein Gasthaus, in dem noch Licht im Schankraum brannte. »Kehren wir ein?«
»Ich wollte in einer solchen Ebene nicht leben«, meinte Bavragor zu Balyndis. »Es gibt keinen Schatten, und das Schlimmste ist, dass die Sonne immer da ist. Es wird sicherlich so heiß wie in einem Backofen.«
»Ich habe nichts gegen Hitze, wenn sie von meiner Esse stammt«, sagte sie und ließ ihm den Vortritt ins Wirtshaus.
»Ja. Es gibt nichts Schöneres, als den Hammer auf dem glühenden Eisen tanzen und ihn immer neue Melodien singen zu lassen«, stimmte ihr Tungdil zu. »Ich vermisse meine Schmiede sehr.«
»Du? Ich dachte, du bist ein Vierter?«, wunderte sie sich. »Seid ihr eigentlich nicht die Gemmenschneider?«
»Ha«, machte Goïmgar rechthaberisch. »Eigentlich sind wir das. Er ist ja auch kein …«
»Ich bin ein Vierter, ja, aber ich fühle mich mehr zu dem Handwerk hingezogen, das unser Volk quer durch alle Stämme verbindet«, gestand er.
»Er ist kein Vierter«, vollendete Goïmgar herablassend seinen begonnenen Satz. »Er ist ein Findelzwerg und wuchs bei den Langen auf, bis man ihm den Floh ins Ohr setzte, dass er einer von uns wäre und er Gandogar seinen Titel streitig machen könnte.«
»Aha«, machte sie verwirrt. »Und bei den Menschen hast du das Schmieden für dich entdeckt?!«
»Ich kann mir fast nichts Schöneres vorstellen«, gestand Tungdil, »auch wenn der Schweiß in den Augen brennt, die Arme schwer wie Blei sind und die Funken die Haare versengen.«
Sie lachte, ihre Augen leuchteten. »Ja, das kenne ich.« Balyndis raffte ihr Kettenhemd am rechten Arm hoch und zeigte ihm ein Brandmal. »Schau, das habe ich mir zugezogen, als ich ein Schwert schmieden wollte. Vraccas hat es nicht gefallen, dass ich etwas anderes als eine Axt oder einen Streitkolben aus dem Erz mache, und da sandte er mir die Botschaft durch die Esse. Seitdem habe ich niemals wieder versucht, ein Schwert zu schmieden.«
Voller Begeisterung zog Tungdil seinen linken Handschuh aus und zeigte ihr einen dunkelroten Strich, der in seiner Handfläche verlief. »Hier, von einem Hufeisen«, sagte er. »Es wäre vom Amboss in den Dreck gefallen, und ich fing es auf, ohne lange nachzudenken. Es war das beste Eisen, das ich geschmiedet habe, und ich wollte meine Arbeit nicht ruinieren.«
Seine unvermutete Begeisterung riss die Zwergin mit, sie versanken im Fachsimpeln über die Schmiedekunst und vergaßen das Drumherum, bis Andôkai sich räusperte und sie aus dem Gespräch riss.
»Ihr könnt später weiter reden, zuerst sollten wir uns um die Zimmer kümmern«, schlug sie vor.
Tungdil bemerkte erst jetzt, dass sie in einem großzügig bemessenen Raum standen, der voller Menschen war, die sie neugierig anstarrten. Der riesige Djerůn wirkte wie ein falsch platziertes Standbild, das eher auf den Marktplatz als in die gute Stube eines Wirtshauses gehörte.
Der Wirt überließ ihnen den großen Gemeinschaftsschlafsaal, in dem üblicherweise fahrende Händler nächtigten. Wegen der unsicheren Lage im Geborgenen Land war der meiste Warenaustausch zum Erliegen gekommen, und somit konnten sie es sich für wenig Geld gemütlich machen. Sie bestellten ihr Mahl in ihre Unterkunft, weil keiner von ihnen sonderliche Lust empfand, sich mit den anderen Menschen zu unterhalten.
Bavragor erkannte, dass er bei dem Gespräch über die Kunst des Schmiedens rasch ins Abseits geriet, und daher versuchte er, Balyndis’ Neugier für die Bildhauerei zu wecken, was ihm nur leidlich gelang.
Als er gerade anfing, ein Clanlied der Hammerfäuste zu singen, packte Tungdil das Stück Sigurdazienholz aus, um es näher zu betrachten. Balyndis sah es und wandte sich ihm neugierig zu. Bavragor klappte den Mund zu und grummelte Unverständliches vor sich hin.
»Ist das ein Metall?« Die Zwergin runzelte die Stirn, ihre Augen glitten fasziniert über die Oberfläche. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Im Roten Gebirge gibt es dergleichen nicht.«
Tungdil erklärte ihr in Kürze, um was es sich bei dem Holz handelte, und reichte es ihr. »Und da es die Bäume nicht mehr gibt, ist dies das letzte Stück. Ohne es wird die Feuerklinge nicht entstehen. Nur Gandogar besitzt ein weiteres.«
Ehrfurchtsvoll befühlte sie es, um mehr von ihm zu erfahren. Bavragor blickte neidisch zu.
»Seht, dem Einäugigen fällt gleich sein letztes Auge raus.« Goïmgar lachte lauthals. »Verstehst du es nicht? Du bist für sie langweilig geworden. Du bist ein Steinschläger, du hast nichts mit der Esse zu tun«, wieherte er boshaft. »Du hast die falsche Gabe, um sie für dich gewinnen zu können.« Er stopfte sich eine Pfeife und schwenkte mit dem Mundstück auf Tungdil. »So ist das mit den Hochstaplern, sie bekommen oft, was ihnen nicht zusteht.«
Tungdil wurde rot, teils vor Scham, teils vor Wut. »Ich bin deine ewige Giftzunge leid, Goïmgar!«, sagte er nachdrücklich. »Spürst du nicht, dass sie dir nichts bringt als Verdruss?«
»Im Gegenteil, mir geht es glänzend«, giftete er. »Ihr hackt doch auch auf mir herum.«
»Du hast noch nicht verstanden, dass es um die Rettung des Geborgenen Landes geht und nicht um den Titel des Großkönigs«, unternahm er einen neuerlichen Anlauf, beschloss dann aber, ihm die Meinung zu sagen. »Nein, du willst es nicht verstehen! Deine Rolle gefällt dir!«
»Meine Ansichten sind meine Angelegenheit. Es war nicht mein freier Wille, euch zu begleiten, und daran erinnere ich euch immer wieder gern. Das ist mein Recht.«
»Nein, es ist genug, Goïmgar! Wenn ich noch eine Lästerei aus deinem Mund höre, noch ein einziges Wort, eine böse Bemerkung, dann nähe ich dir eigenhändig die Lippen mit glühendem Draht zusammen«, drohte Tungdil. »Auf deine Hände und deine Kunst sind wir angewiesen, auf deine Gemeinheiten nicht.« Er wandte sich mit blitzenden Augen an Bavragor und Boïndil. »Ihr werdet ihn in Ruhe lassen. Keine Sticheleien mehr, keine Bemerkungen.«
Goïmgar paffte schnell, die blauen Rauchwolken stiegen in die Höhe, dann stand er auf und ging zu Tür. »Keine Sorge, ich werde nicht noch einmal weglaufen«, sagte er herablassend, als er das besorgte Gesicht Tungdils sah. »Ich gehe die Straße auf und ab, um meine Lästereien, meine Gemeinheiten, meine bösen Bemerkungen aufzusagen, und keiner von euch wird mich daran hindern.«
Er ging hinaus und gab sich dabei keine Mühe, die Tür leise zu schließen.
»Möchte jemand das köstliche Stück Wurst?«, fragte Rodario vorsichtig in die gespannte Stille hinein. »Ich habe noch Hunger, wollte aber so höflich sein, erst die Meinungen der …« Er verstummte, weil ihm niemand antwortete, was er als Erlaubnis verstand, sich die Reste nehmen und genüsslich verspeisen zu dürfen. Danach wusch er sich mit dem warmen Wasser und der Seife, die ihnen der Wirt gebracht hatte.
Boïndil bedachte ihn mit einem fassungslosen Blick. Er seufzte leise und machte deutlich, was er von der Angelegenheit hielt. Dann schaute er an Djerůn hinauf, der sich auf den Boden gesetzt hatte, während Andôkai einen prüfenden Blick aus dem Fenster warf und die groben Vorhänge zuzog. Sie hatte ihren Mantel abgelegt. »Sag mal, Langer, hast du auch so Lust, ein Dutzend Schweineschnauzen zu töten?«, wollte er von dem Krieger wissen. »Sollten wir bald auf welche treffen, weißt du ja: Die ersten zehn gehören mir.«
Wie immer entgegnete der Krieger nichts.
Ingrimmsch zuckte mit den Achseln, öffnete ein Fenster und kletterte hinaus, um vom Dach aus nach Goïmgar zu sehen. »Er läuft wirklich in der Gasse auf und ab«, meldete er nach drinnen.
»Ruf ihn zurück«, bat ihn Tungdil, der über der Karte hockte.
Er traute der vermeintlichen Sicherheit der Stadtmauern nicht. Die Albae haben uns schon ein paarmal bewiesen, dass sie sich durch solche Dinge nicht aufhalten lassen. Wenn sie Späher in der Nähe oder sogar in der Stadt hatten, wüssten sie längst, dass eine merkwürdig anzusehende Gruppe in Grüschacker angelangt war. Sie werden kommen und nicht eher ruhen, bis sie ihren Auftrag erledigt haben.
»Er will nicht«, sagte der Zwilling laut durchs Fenster.
»Sag ihm, du hättest einen Alb gesehen, dann kommt er«, riet ihm Bavragor, der sich mit Balyndis ein Stück echten Zwergenkäse teilte. Andôkai roch den herben Duft und verzog angewidert das Gesicht, sagte aber nichts.
Nach wenigen Lidschlägen hörten sie den Gemmenschneider die Treppe hinauflaufen; er flog ins Zimmer und schlug die Tür zu, um sie sofort mit dem dicken Eichenbalken zu versperren.
Boïndil kehrte von seinem Aussichtspunkt zurück. Das Kettenhemd klirrte leise, als er auf den Boden sprang. »Du hattest Glück«, meinte er todernst und wickelte sich seinen langen Zopf zum Kissen. »Er war dicht hinter dir.«
Goïmgar wurde aschfahl.
Tungdil erwachte, weil er ein sanftes metallisches Schaben hörte, und öffnete die Augen.
Djerůn hatte sich erhoben und stand vor dem Eingang. Die Rechte hielt sein gewaltiges Schwert mit der Spitze waagrecht nach vorn, die Klinge zielte auf die Tür.
Andôkai lag in ihrem Bett. Sie war ebenfalls wach und schaute zu Tungdil, um ihm mit einem knappen Zeichen zu bedeuten, so zu tun, als schliefe er noch.
Ein dünnes Stück Holz wurde durch einen schmalen Türspalt geschoben, dann wanderte es nach oben, wobei es den Eichenbalken lautlos aus der Halterung schob und die Sicherung entfernte.
Stückchen für Stückchen wurde die Tür geöffnet. Ein schwacher Lichtschimmer fiel herein und zeichnete einen gedrungenen Schatten auf den Boden.
Die Gestalt war so groß wie ein Zwerg, sie trug einen Helm und hatte einen sehr krausen, buschigen Bart, wie Tungdil im Gegenlicht erkannte. In der Linken hielt sie ein Säckchen. Sie erschrak, als sie Djerůn erblickte, und Andôkai gab dem Krieger einen Befehl.
Seine freie Hand ruckte nach vorn, um den Eindringling zu fassen, doch dieses Mal reichte die übermenschliche Schnelligkeit nicht aus.
Der Zwerg bückte sich unter den Fingern weg und rannte ins Zimmer hinein anstatt hinaus.
»Nicht so eilig!« Tungdil sprang aus dem Bett und stellte sich dem unbekannten Zwerg in den Weg, um ihn aufzuhalten, aber auch er unterschätzte seine Wendigkeit. Alles, was ihm zu seinem Erstaunen in der Hand blieb, war eine kratzige Bartlocke.
Der unbekannte Zwerg hopste zum Fenster hinauf und warf das Säckchen nach ihm, ehe er übers Dach flüchtete. Der Behälter prallte gegen Tungdil. Klingelnd verteilte sich der Inhalt auf den grob behauenen Dielen.
Der Lärm reichte aus, um die anderen zu wecken, Boïndil lief mit gezückten Beilen im Raum umher und schrie nach den Orks, die ruhig kommen sollten, jeder langte nach den Waffen.
Balyndis stand in der Unterwäsche auf ihrem Bett, die Axt mit beiden Händen umklammert. Mondlicht fiel durch den Vorhangspalt und machte ihre Kleidung durchsichtig. Jedenfalls dachte Tungdil, dass er mehr von ihrem Körper erkennen konnte, als ihr vielleicht lieb war, aber die Rundungen, die er sah, gefielen ihm zu gut.
»Was war?«, verlangte Ingrimmsch streitlustig zu wissen.
»Wir hatten einen ungebetenen Besucher, einen Zwerg«, sagte Andôkai und schaute aus dem Fenster, um zu sehen, wo er abgeblieben war, »der erstaunlicherweise meinem Zauber trotzte. Er ist weg.«
»Gold«, meinte Tungdil überrascht, als er die gelben Scheiben am Boden sah. Er bückte sich und sammelte sie auf. Manche klebten aneinander, und seine Finger wurden feucht.
»Und ein Dolch«, machte Goïmgar sie aufmerksam, der sich in eine Ecke kauerte.
Boïndil hob ihn auf und betrachtete ihn abschätzend. »Das ist Zwergenarbeit«, meinte er und hielt ihn Balyndis hin. »Was sagst du dazu?«
Das Poltern von schweren Stiefeln, die die Stiegen hinauftrampelten, drang zu ihnen ins Zimmer. Gerüstete Stadtwachen stürmten in den Raum, die Hellebarden drohend nach vorn gerichtet.
»Licht!«, brüllte jemand. Lampen wurden herbeigeschafft, und noch mehr Bewaffnete drängten herein.
Nur weg damit. Tungdil wollte das Gold rasch aus dem Fenster werfen und Boïndil anweisen, die Waffe verschwinden zu lassen, doch es war zu hell und damit zu spät für ein verstecktes Manöver. Im Schein der Lampen sah er, dass sich seine Finger rot gefärbt hatten; an den Münzen und der Klinge haftete fremdes Blut.
»Bei Palandiell, das nenne ich dreist!«, wetterte der Hauptmann der Garde, ein kräftiger Mann von vierzig Zyklen mit einer kleinen Narbe auf der linken Wange. »Da sind die missratenen Spitzbuben und halten frech Rat, wie sie ihre Beute aufteilen sollen.« Sein Blick fiel auf den Dolch in der Hand des Zwillings. »Und hier haben wir die Waffe!« Er winkte seinen Gardisten zu. »Festnehmen. Alle. Auch den Großen und die anderen. Die Befragung wird ergeben, ob sie etwas mit der Sache zu haben.«
»Welche Sache denn, Hüter der städtischen Sicherheit?«, erkundigte sich Rodario in seinem zuvorkommend höflichen Tonfall, als plauderte er mit dem Gerüsteten über das Wetter. Er richtete seine Unterwäsche mit Bewegungen, wie sie einem Adligen würdig gewesen wären. »Wärt Ihr wohl so freundlich, ein wenig Licht in die Angelegenheit zu bringen?«
»Es geht um den Raubmord an Patrizier Darolan, gerade eben, nur drei Gassen weiter.« Er blickte auf Boïndil. »Pech für dich. Du wurdest von uns gesehen und verfolgt.« Er wandte sich an einen Unteroffizier. »Es scheint sich um eine ganze Bande zu handeln. Womöglich betreibt sie es als Handwerk.«
»Das ist ein großes Missverständnis«, begehrte Tungdil auf und erklärte, was sich vor dem Eintreffen der Stadtwache im Zimmer abgespielt hatte. Zum Beweis hielt er ihnen die Locke hin, die sich bei genauerem Hinsehen als ein Stück ungesponnene Wolle entpuppte.
Der Hauptmann lachte ihm ins Gesicht. »Sicher doch, Unterirdischer. Du denkst, ich falle auf diesen Schwachsinn herein?«
»Zugegeben, es klingt abenteuerlich …«
»Es klingt lächerlich. Du und deine Kumpane sind verhaftet, im Namen des Königs«, entschied er. »Wir finden heraus, wer von euch gemordet hat. Die Folter hat bisher jeden Mordbuben geständig gemacht.«
»Wie ich schon erwähnte, wir haben nichts mit den Zwergen zu tun«, sagte Rodario mit gewohnter Selbstverständlichkeit, wobei er Tungdil kurz zuzwinkerte. »Wir sind die Begleiter der Dame, ihr Gefolge, und trafen die …«
»Das klären wir in der Zitadelle«, unterbrach ihn der Hauptmann harsch. Sein eben noch mürrisches Gesicht wurde plötzlich freundlicher. »Andererseits … die Beweise eurer Unschuld liegen auf der Hand.« Er nahm die falsche Bartlocke, wandte sich um und deutete zur Tür. »Abmarsch. Wir wurden an der Nase herumgeführt. Der Mörder muss noch draußen unterwegs sein.«
»Hauptmann?!«, wunderte sich sein Unteroffizier unverhohlen. »Wir haben doch gesehen, wie der Zwerg in die Schenke …«
»Wir suchen draußen«, wiederholte er. »Wird’s bald? Sonst entkommt uns der wahre Mörder.« Da er sich von seiner Ansicht nicht mehr abbringen ließ, leisteten seine verdutzten Untergebenen seinen Anweisungen Folge und kehrten auf die Straße zurück. Nicht lange darauf tönte das Scheppern ihrer Rüstungen durch das geöffnete Fenster.
»Das war knapp. Wie gut, dass er zur Besinnung kam«, atmete Rodario auf. »Schlafen wir weiter?«
Andôkai packte ihre Sachen zusammen. »Wir müssen von hier verschwinden. Mein Zauber wird nicht ewig halten, sein Verstand kehrt bald zurück.«
Boïndil kratzte sich am Bart. »Meinst du den Schauspieler?«
»Nein, sie meint den Hauptmann«, erklärte Tungdil und musste grinsen. Nun wusste er auch, warum alle sich so wenig um Djerůn kümmerten. Die Maga schien die Gedanken beeinflussen zu können. »Sie hat ihn verhext, oder warum sollte er sonst so gehandelt haben?« Nachdenklich betrachtete er einen Fetzen der groben Wolle, die zwischen seinen Fingern geblieben war. Jemand wollte uns eine Falle stellen, die beinahe zugeschnappt wäre. »Eine verfluchte Falle.«
»Ho, und wie es uns beinahe erwischt hätte! Der Mörder hat sich als einer unseres Volkes getarnt«, ärgerte sich Ingrimmsch und begann zu packen. »Dafür werde ich ihn in kleine Scheibchen schlagen, wenn ich ihn in die Finger bekomme.«
»Ein Kind kann es unmöglich gewesen sein, dazu war er zu flink«, sagte Balyndis, während sie sich wie die anderen abreisebereit machte. »Ein Gnom oder ein Kobold …«
Tungdil klopfte sich gegen den Kopf »Swerd! Der Handlanger Bislipurs! Er ist ein Gnom!« Sie eilten zur Tür und die Treppe hinab, während er weitersprach. »Er muss uns gefolgt sein und auf eine Gelegenheit gewartet haben, uns auf Geheiß seines Herrn richtig in Schwierigkeiten zu bringen.«
»Ein zäher Scheißer«, zollte ihm Bavragor Respekt, den Rucksack fester verzurrend. »Seine Nase muss verdammt gut sein.«
»Unsinn, es war ein Leichtes, uns zu folgen«, hielt Boïndil dagegen und sicherte den Schankraum.
»So leicht auch wieder nicht. Immerhin muss er sich irgendwie bei den Ersten eingeschlichen haben und bis zu unseren Tunnels gelangt sein«, meinte Balyndis beeindruckt.
»Die leere Lore mit der Schuhschnalle, erinnert ihr euch?« Tungdil pirschte zur Tür, um einen vorsichtigen Blick hinauszuwerfen. »Die Schnalle kam mir gleich so bekannt vor.« Er huschte hinaus, Boïndil blieb an seiner Seite. »Ihr könnt kommen, sie suchen in einer anderen Gasse nach uns«, rief er.
»Und nicht rennen«, schärfte Ingrimmsch Goïmgar ein. »Wer nachts rennt, ist verdächtig.«
Sie schlenderten die Straßen von Grüschacker entlang, als hätten sie nichts Besseres zu tun, unterhielten sich leise und erweckten für einen zufälligen Beobachter nicht den Eindruck, etwas Verbotenes zu tun oder flüchtige Verdächtige zu sein; Djerůn hielt sich im Schatten, um so unsichtbar wie möglich zu sein.
Kurz vor dem Tor kam ihnen eine Abteilung Gardisten entgegen, die sich auf ihrer gewöhnlichen Patrouille befand.
»Nicht die Nerven verlieren«, raunte Boïndil.
»Je öfter du es sagst, umso nervöser machst du ihn«, zischte Balyndis, der das Zittern Goïmgars nicht entgangen war.
Die beiden Gruppen näherten sich und befanden sich auf gleicher Höhe, als eine dünne Stimme laut schrie: »Haltet sie! Sie sind gesuchte Mörder! Haltet sie! Wachen, kommt her! Da laufen sie!«
»Ich werde Swerd seinen kleinen Hals zudrücken«, grollte Ingrimmsch und zog seine Beile, um sich gegen die Gardisten zu verteidigen, die verunsichert zu ihrem Anführer blickten.
Da erschien der Hauptmann des ersten Suchkommandos und brüllte Befehle, alle festzusetzen. Kerzen flackerten hinter den Scheiben der Straße auf, Läden wurden geöffnet, die Stadt erwachte mitten in der Nacht.
»Wir haben keine Zeit, ihnen die Sache zu erklären«, stellte Andôkai fest und zog ihr Schwert. »Sie würden uns nicht glauben und in den Kerkern verrotten lassen.«
»Was sollen wir tun?«, wollte Bavragor wissen und hielt den Stiel seines Hammers umschlossen, bereit, sich den Weg durchs Tor freizukämpfen.
»Ich trenne mich von euch, um sie zu verwirren. Wir treffen uns auf der anderen Seite der Mauer«, verabschiedete sich Rodario hastig, nahm seinen wertvollen Seesack mit den Requisiten und Kostümen und enteilte in ein Gässchen, ehe sie von den Wachen vollständig umringt waren. »Ich stehe doch nur im Weg herum.«
»Schauspieler«, stöhnte Narmora grinsend und zückte ihre Waffen.
»Tötet nur, wenn es nicht anders geht«, gab Tungdil die Parole aus und hob seine Axt mit der stumpfen, abgeflachten Seite voran. »Wir verlassen Grüschacker. Mit oder ohne Erlaubnis.«
Tungdil merkte, dass die Gardisten wenig Kampferfahrung besaßen. Wer tagtäglich Diebe hetzte oder Betrunkene einsperrte, hatte keinerlei Vorstellung, was es bedeutete, sich gegen entschlossene Zwerge, eine Maga, eine Halbalbin und einen riesigen Krieger zu stellen.
Furgas als Kämpfer zu zählen wäre übertrieben gewesen, aber er bemühte sich redlich, wenigstens für Ablenkung zu sorgen, um Narmora einen ungehinderten Schlag zu ermöglichen. Goïmgar erhielt die verbliebenen Barren zur Aufsicht.
Nach einem eher kurzen Gefecht gelangten sie vor das Tor, wo Rodario stand und sich mit einem Wächter unterhielt. Der war auf diese Weise genügend abgelenkt, dass sich die Gruppe nähern konnte, ohne dass er Alarm schlug, und als die Maga neben ihm auftauchte, war es zu spät.
»Du wirst uns hinauslassen und niemandem sagen, dass du uns gesehen hast«, sprach Andôkai mit dunkler Stimme zu ihm, und tatsächlich machte sich der Gardist wie im Rausch daran, das Tor zu öffnen.
»Na, wie war ich? Habe ich seine Sinne nicht herrlich in meine Worte verstrickt und Euch die Gelegenheit gegeben, ungesehen heranzukommen? Die Magie ist schon eine sehr praktische Sache«, befand Rodario. »Wenn Ihr bei unserem Stück vielleicht hinter der Bühne ein wenig zaubern könntet, wäre die Aufführung nicht zu imitieren. Hättet Ihr Interesse an so …«
»Halt den Schnabel«, sagte Furgas kopfschüttelnd.
»Fragen wird man wohl noch dürfen. Ich mache mir lediglich Gedanken um die Zeit nach unserem großen Abenteuer.«
Bavragor lachte. »Wenn du es lebend überstehst.«
Die ratternden Geräusche, welche die Winde für das Gatter verursachte, weckte neuerliche Wächter, um die sich Boïndil mit Hingabe kümmerte. Zwar schlug er nur mit den stumpfen Seiten seiner Beile zu, dennoch hörte Tungdil es mehr als einmal krachen.
Er kann sich kaum zurückhalten. Beunruhigt betrachtete er das blutüberströmte und merkwürdig deformierte Gesicht eines Gardisten, der nach einem Hieb Ingrimmschs zuckend zusammenbrach. Damit gab es wenigstens einen Toten, und sie wurden wegen Mordes gesucht.
Währenddessen hob sich das Gatter, doch Swerd verfolgte im Verborgenen, was sie taten, und hielt sich bereit, um ihnen die Stadtwache ein weiteres Mal auf den Hals zu hetzen. »Hier, am Tor!
Da sind sie! Die Mörder flüchten!«, schrie er laut aus dem Schatten einer Seitengasse.
Sein Gezeter riss den Letzten aus dem Schlummer, er kreischte alles zusammen, was Beine hatte und eine Waffe halten konnte, sodass die ersten mutigen Angehörigen der Bürgerwehr mit hastig übergeworfenen Kleidern aus den Häusern liefen.
»Maga, tut etwas!«, rief Tungdil, der ein Blutvergießen sondergleichen fürchtete, sollte sich Boïndil in seinem Kampfrausch gegen die schlecht gerüsteten Bewohner Grüschackers wenden. »Es sind zu viele!«
Dieses Mal zauberte sie nicht. »Djerůn«, sagte Andôkai und fügte unverständliche Silben hinzu.
Der Krieger trat nach vorn. Die zuckenden Fackeln der Menschen beleuchteten seine Rüstung und hauchten der unheimlichen Fratze auf dem Visier Leben ein. Ein Laut drang hinter dem Helm hervor, den Tungdil noch niemals in seinem Leben gehört hatte. Es war eine Mischung aus einem reptilienhaften Fauchen und dem dumpfen, tiefen Grollen eines Erdbebens, voller Angriffslust, voller Gefahr und voller Warnung, nicht näher zu kommen. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und Angst kroch in seinen Körper; unwillkürlich wich er vor dem Wesen zurück.
Hinter dem Sehschlitz der Maske steigerte sich das violette Schimmern und wurde zu einem Leuchten, das sogar das Licht der Fackeln überdeckte. Die entsetzten Gesichter der Menschen badeten in heliotroper Helligkeit, die sich bis zur Schmerzgrenze steigerte.
Djerůn stieß den Ton erneut hervor, noch kräftiger und Furcht einflößender als beim ersten Mal, und die Bürger, sogar die Wachen, wandten sich voller Furcht zur Flucht und rannten in die schützenden Gassen und Straßen zurück.
Das Gatter hatte sich weit genug geöffnet. »Wir gehen«, befahl Tungdil stockend und noch immer beeindruckt von Djerůns Stimme. Falls es seine Stimme war.
Sie liefen hinaus in die Nacht, folgten dem verschneiten Weg und vergewisserten sich immer wieder, dass ihnen niemand folgte. Der Auftritt des riesigen Kriegers musste die Städter überzeugt haben, von einer Jagd abzusehen.
Tungdils Neugier, was sich in dem Kleid aus Eisen und Stahl verbarg, erhielt neue Nahrung, obwohl er sich nicht mehr ganz sicher war, es wirklich wissen zu wollen. Ein Mensch steckt jedenfalls nicht darin.
Schweigend eilten sie über die verschneite Straße. Bavragor, der hinter Goïmgar trabte, musterte irgendwann dessen Rücken. »Wo ist der Sack mit den Barren?«, schnaufte er und erhielt keine Antwort. »He, ich habe dich was gefragt!«
Der Edelsteinschleifer beschleunigte seine Schritte, um mehr Abstand zu gewinnen, ehe er antwortete. »Eine Wache hat ihn mir aus der Hand geschlagen, und in dem ganzen Getümmel kam ich nicht mehr an ihn heran. Es tut mir Leid«, gestand er klagend. »Ich habe es nicht mit Absicht getan.«
»Nicht mit …?! Was ich gleich machen werde, geschieht dagegen mit voller Absicht«, rief Bavragor, aber Tungdil hielt ihn mit eisernem Griff zurück.
»Lass es gut sein.«
Der Steinmetz konnte es nicht fassen, sein rotbraunes Auge sprühte vor Ärger. »Aber wir können nicht mehr zurück, um die Barren zu holen! Wie sollen wir die …«
»Wir gehen ins Reich der Fünften, dort wird sich etwas finden lassen«, unterband Tungdil den Disput; seine Stimme klang selbstsicher und fest wie die eines Anführers.
»Du hast damals selbst gesagt, dass du dich darauf nicht verlassen willst«, hielt ihm Bavragor störrisch vor. »Und nun …«
»… ist es nicht mehr zu ändern. Finde dich damit ab«, entgegnete Tungdil. Er ließ seinen Arm los und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Ganz gleich, was uns noch alles zustoßen wird, wir werden nicht verzagen, denn wir können es uns nicht erlauben! Wir sind die Retter des Geborgenen Landes, und wer sonst außer uns könnte das vollbringen, was wir tun müssen, Bavragor?«
»Er macht es schlimmer«, grummelte er in Richtung Goïmgar. »Ohne ihn wäre uns viel Ärger erspart geblieben.«
»Es wird seinen Sinn haben, dass Vraccas mich ihn auswählen ließ. Und nun sei still und achte auf deine Atmung, sonst bekommst du Seitenstechen. Goïmgar kann jedenfalls besser laufen als du.«
»Feiglinge können immer gut laufen«, war die letzte Bemerkung Bavragors, ehe ein Scheppern erklang und er plötzlich steif wie ein Brett wurde. Seine Beine knickten ein, und er stürzte, wo er stand, in den Schnee; eine glitzernde Wolke stob in die Höhe, die Kristalle legten sich wieder und überzogen ihn mit einer dünnen, pudrigen Schicht. Aus seinem Nacken ragte der Schaft eines Armbrustbolzens.
Augenblicklich warfen sie sich – außer Djerůn – zu Boden, um nicht von dem Schützen getroffen zu werden, Andôkai gab dem Krieger wiederum eine unverständliche Anweisung, woraufhin er seinen Blick über die Ebene schweifen ließ und unvermittelt davonpreschte.
Albae waren es nicht. Tungdil konnte den heimtückischen Angreifer im Gegensatz zu Djerůn nicht ausmachen. Gardisten? Aber ihre Fackeln müssten zu sehen sein.
Die Maga robbte durch den Schnee und kam an die Seite des Steinmetzen, um seine Verletzung zu prüfen, Balyndis näherte sich ebenfalls.
»Die Spitze hat sein Rückgrat knapp verfehlt«, erklärte sie nach einer ersten Begutachtung. »Sein Umhang und der eisenbeschlagene Ledernacken des Helms haben dem Geschoss die Wucht genommen.« Ohne zu zögern packte sie das herausragende Bolzenstück und zog es aus der Wunde. Dann legte sie die Rechte auf das Loch, aus dem Bavragors Blut schoss. »Ich schätze, er wird mir verzeihen, dass ich meine Samusinmagie einsetze, um sein Leben zu retten«, sagte sie und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. »Die Heilung von Zwergen gehört nicht zu den Disziplinen, die ich besonders gut beherrsche. Ich hoffe, es gelingt mir.«
Das hoffe ich auch. Etwas zischte knapp an Tungdils Kopf vorbei, ein drittes Geschoss prallte gegen den Schild Goïmgars, dann erscholl ein gellender, heller Schrei, der unvermittelt abriss. Djerůn hatte den Schützen gestellt.
Er kehrte mit seiner kleinen Beute zurück und warf sie ins Weiß. Dort, wo das Bündel auftraf, färbte sich der reine Untergrund gelbgrün; der Kopf mit den langen, spitzen Ohren fiel daneben.
Goïmgar verspürte Entsetzen. »Swerd!« Es war tatsächlich der Gehilfe Bislipurs. Schaudernd blickte er auf die Leiche, danach auf die Einschlagstelle auf seinem Schild, wo man deutlich den Abdruck des Bolzens sah. »Wieso hat er auch auf mich …« Hastig schwieg er.
»Geschossen?«, vollendete Tungdil den Satz. Er betrachtete die gebrochenen Augen des Gnoms. Auf diese Frage hätte auch er gern eine Antwort erhalten, aber die kompromisslose Art, mit welcher der Krieger für das Ende der Bedrohung gesorgt hatte, verhinderte das. »Du bist mit dem falschen Anwärter unterwegs, das wird er gedacht haben.«
Er bückte sich, um das dünne Kropfband an sich zu nehmen, das nun nutzlos geworden war. Die Zeit als Sklave endete für den Gnom anders, als er es sich erhofft hatte. Nachdenklich steckte er es ein, um es beim nächsten Zusammentreffen mit Bislipur als Beweisstück vorzulegen. Dabei fiel ihm ein buttergelber, glänzender Fleck am Hals auf. Gold! Es war wohl wirklich der Gnom gewesen, der ihm bei dem Wettlauf mit Gandogar ein Bein gestellt hatte.
»Dieser Hinkende ist Abschaum«, brachte Boïndil es wütend auf den Punkt und wischte sich den Schnee von der dicken Kleidung und aus dem Bart. »Hetzt seinen Lakai auf uns, um uns zu töten! Zwerge töten absichtlich keine Zwerge, das ist das schlimmste Verbrechen, dem man sich schuldig machen kann.«
»Er hätte uns ja auch nicht getötet«, meinte Tungdil noch immer sinnierend, »der Gnom macht die Drecksarbeit. Bislipur wäre sicherlich wieder eine Ausrede eingefallen.«
»Vraccas, ich bitte dich, lass uns Gandogar treffen, damit ich ihn windelweich prügeln kann«, flehte der Zwilling inbrünstig.
Goïmgar schüttelte abwesend den Kopf, noch immer rang er mit seiner Fassung. »Nein, niemals hätte Gandogar ein solches Spiel betrieben und Bislipur beauftragt, uns zu töten. Bislipur muss in seinem Wahn auf eigene Faust gehandelt haben. Er …« Der Zwerg verstummte hilflos, sein Vertrauen war erschüttert.
»Du willst doch auch, dass Gandogar auf den Thron kommt, oder etwa nicht?«, meinte Ingrimmsch lauernd.
»Sicher. Ich habe von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht. Aber einen unseres Volkes töten?« Er erschauderte. »Er ist wahnsinnig geworden«, wiederholte er leise und schaute auf den regungslos daliegenden Bavragor. »Bislipurs Verstand ist von dem Wunsch verblendet, Gandogar zum Großkönig zu machen, nur so kann es gewesen sein.«
Balyndis hielt die Hand des Steinmetzen und ließ ihn spüren, dass man sich um ihn kümmerte. Langsam verwuchs die offene Stelle im Nacken, bis nur noch eine kleine Narbe zu sehen war. Erschöpft sank Andôkai in den Schnee und kühlte ihr Gesicht.
»Ich habe die Verletzung geheilt«, erklärte sie schwach. »Er müsste gleich …«
»Samusinmagie«, murmelte Bavragor schläfrig, »ich habe es mir überlegt. Sie taugt doch was.« Etwas benommen, doch mit aller Ernsthaftigkeit nickte er der ausgelaugten Maga zu. Mehrer Worte bedurfte es nicht, seine Dankbarkeit auszudrücken.
»Eine Frage, Anführer unserer glorreichen Truppe.« Ein bibbernder Rodario erschien bei Sonnenaufgang an Tungdils Seite, den Sack mit Kostümen eisern schleppend, und deutete versteckt auf Djerůn. Das Ereignis der vergangenen Nacht hatte ihm wie auch allen anderen ins Gedächtnis gerufen, dass der Krieger wahrlich kein hoch gewachsener Mensch war. »Was ist das?« Er war kaum zu verstehen, weil er sich den Schal mehrfach um den Kopf gewickelt hatte.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Tungdil ihm ehrlich, ohne seinen Marsch zu unterbrechen.
Rodario ließ wie immer nicht locker. »Nein? Aber du bist doch schon so lange zusammen mit ihm unterwegs, wie ich hörte.«
»Sie hat uns gesagt, dass es kein Ungeheuer ist.« Unwillkürlich dachte er an die Nacht in der Oase, in der er einen Eindruck davon erhalten hatte, was sich hinter dem fratzenhaften Visier verbarg, und er schüttelte sich.
Der Schauspieler blies sich warme Luft auf die blau angelaufenen Finger. »So? Kein Ungeheuer? Was ist es dann? Ich kenne keinen Menschen, dessen Augen imstande sind, eine dunkle Gasse hell zu erleuchten. Wenn es ein Trick sein sollte, muss ich ihn unbedingt erfahren, um ihn bei unserem Theater zur Anwendung zu bringen.«
Tungdil sagte einfach nichts mehr und hoffte, dass Rodario verschwand; er stapfte energisch durch den Schnee und betrachtete die Karte, um sich zu orientieren.
»Schön, dann nehme ich einfach an, es ist eine Ausgeburt Tions.« Rodario sah sehr zufrieden aus und steckte die Hände wieder in die Taschen des Pelzmantels. »Das verleiht dem Stück zusätzliche Dramatik. Meine Güte, es wird brillant, unerreicht! Das ganze Geborgene Land wird kommen, um sich unsere Aufführung anzusehen.« Er fluchte laut. »Wenn es nur nicht so kalt wäre, dass die Tinte gefriert. Ich werde alles vergessen, bis wir wieder zu Hause sind.«
»Trage das Fass am Körper«, riet ihm der Zwerg. »Damit hältst du es warm und dürftest schreiben können.«
Rodario versetzte ihm einen freundschaftlichen Schubs. »Ein heller Verstand lebt unter deinen vielen Haaren, mein kleiner Freund. Nicht, dass ich nicht gerade eben selbst darauf gekommen wäre, dennoch meinen herzlichen Dank.«
Sie liefen über eine verschneite Straße, auf der sich kein einziger Fußabdruck fand. Der Winter und die Orks sorgten dafür, dass die Bewohner Tabaîns in ihren warmen Häusern blieben und sich verbarrikadierten.
In dem flachen Land sah man Angreifer auf riesige Entfernungen nahen. Die Spähtürme erreichten bei klarem Wetter Ausblicke von einhundert Meilen, aber die Vorwarnung brachte in diesem Fall nichts. Gegen die Orks aus dem Norden half nur ein gut geführtes Schwert, und daran mangelte es derzeit an allen Ecken und Enden.
Tungdil verglich ihre Position mit dem Standort auf der Landkarte. Sie kamen den alten Grenzen des Toten Landes immer näher. Es ist sicherlich weiter vorgedrungen. Der Winter macht es unmöglich herauszufinden, wie weit sein Einfluss reicht.
»Orks«, rief Boïndil nach hinten. »Etwa zwanzig Meilen westlich von uns. Sie … kehren um und ziehen nach Osten«, wunderte er sich. »Sie marschieren schnell. Aber wohin wollen sie nur? Suchen sie uns?«
Bavragor machte sie auf das Gehöft aufmerksam, das sich auf der ursprünglichen Route befunden hatte. Für gewöhnliche Augen wäre es nicht zu erkennen gewesen, aber seine Sehkraft ermöglichte es ihm. »Das wäre ihre nächste sichere Beute gewesen. Sie haben es nicht angerührt.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn; sein Gesicht hatte eine intensive rötliche Färbung angenommen.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, erkundigte sich Balyndis. »Du siehst aus, als hättest du Fieber.«
»Wundbrand«, verbesserte Ingrimmsch. »Kann es sein, dass der Hokuspokus doch nicht so wirkte, wie er sollte?«
Andôkai ließ es mit dem Vorwurf nicht auf sich beruhen. Sie ging zum Steinmetzen und bat ihn, den Nacken zu beugen, um die Wunde zu betrachten, Boïndil stand sofort daneben. Beide kamen zur gleichen Ansicht.
»Die Stelle ist sauber verheilt«, bescheinigte er ihr, »daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Es wird der Blutverlust sein«, versuchte Bavragor die allgemeine Sorge um ihn, die ihm sichtlich unangenehm war, zu zerstreuen, doch die resolute Schmiedin zog einen Handschuh aus und legte die Linke auf seine Stirn.
»Bei Vraccas! Darauf könnte ich ein Hufeisen schmieden, so heiß ist sie!«, entfuhr es ihr besorgt.
»Bei seinem Dickschädel müsste es auch gelingen«, neckte ihn Tungdil. »Unser Hammerfaust wird so leicht nicht umgeworfen.«
»Er hat Fieber. Hohes Fieber. Es kann auch eine Erkältung sein«, warnte sie. »Wir müssen uns eine Unterkunft suchen, um es zu senken, sonst kann es eine Gefahr für sein Leben werden.«
»Unsinn«, trotzte Bavragor dem Ratschlag der Zwergin. »Ich bin …« Er fing an zu husten und wollte sich fast nicht mehr beruhigen; der Anfall schüttelte ihn durch, dass er einknickte. Tungdil stützte ihn, damit er nicht in den Schnee fiel.
»Ha, eine Erkältung.« Balyndis schaute sich um. »Wir müssen uns einen warmen Platz für ihn suchen.«
Tungdil nickte. »Das nächste Gehöft wird uns aufnehmen. Tot nützt du uns nichts, alter Steinmetz.«
»Eine Erkältung«, gluckste Goïmgar schadenfroh. »Wer von uns beiden ist nun der Schwächere? Ich mag nicht so breit gebaut sein, aber ich verkrafte die Strapazen besser als du.« Man sah und hörte seine Genugtuung, endlich einmal nicht der Unterlegene zu sein. Hoch erhobenen Hauptes schritt er an dem Kranken vorüber, ein Lächeln auf den Lippen, wofür er von Furgas einen Schneeball ins Gesicht bekam.
Sie wurden enttäuscht; auf ihrem Weg zum Grauen Gebirge gab es weder einen Hof noch ein Dorf, und einen Umweg lehnte Bavragor ab. Daher unterbrachen sie ihre Wanderung nicht mehr, sondern liefen ohne längere Rast, um schnell an den nächsten Tunneleinstieg zu gelangen.
Als sie endlich die Stelle erreichten, erlebten sie eine böse Überraschung. Der Schacht war zu einem mit Eis gefüllten Tümpel geworden.
»Was soll’s. Laufen wir eben die restlichen Meilen«, verkündete Bavragor, der sich mühte, trotz seines angeschlagenen Zustandes frisch zu wirken und seine Schwäche zu überspielen. Aber sein hochrotes Antlitz und die dicken Schweißperlen, die trotz der Kälte unter seinem Helmrand hervorquollen, straften ihn Lügen. »Ich kann das Graue Gebirge schon sehen.«
»Wir sehen das Gebirge, seit wir in Tabaîn sind«, meinte Goïmgar wenig erfreut darüber, noch länger an der Oberfläche laufen zu müssen. »Wir werden noch alle schneeblind werden, wenn es so weitergeht.«
Schlecht gelaunt stapfte er voran, und die Gefährten folgten ihm, bis sie gegen Abend doch an eine verlassene Scheune kamen, in der ein Bauer Stroh eingelagert hatte.
Sie machten es sich darin gemütlich und entzündeten vorsichtig ein Feuer. Bavragor legten sie nahe an die Flammen und begruben ihn mit drei Decken, damit er das Fieber und die Erkältung ausschwitzte. Rodario rutschte ebenfalls nahe ans Feuer, nur Djerůn wachte am Eingang und erlaubte es den anderen, sich um den Erkrankten zu kümmern. Sie ließen sich um ihn herum nieder.
»Es ist nichts.« Er hustete und spie aus, und ein großer Brocken geronnenes Blut flog heraus. Sein Atem ging pfeifend, er ächzte mehr, als dass er Luft einsog, und sein Zustand verschlechterte sich rapide. Die Wärme machte es wohl nur schlimmer. »Gebt mir einen Schluck Branntwein, dann geht es wieder.«
»Das ist keine Erkältung«, sagte Boïndil überzeugt und stand auf. »Es muss Wundbrand sein. Er kann sich auch unter der Haut ausbreiten, obwohl die Verletzung schon lange verheilt ist.«
»Nein. Ich habe die Stelle sauber verwachsen lassen«, widersprach Andôkai gereizt.
Tungdil beschlich ein übler Verdacht. Er erhob sich ebenfalls, ging zu Goïmgar und nahm sich den Schild, um die Einschlagstelle des Bolzens genau zu betrachten. Ringsherum entdeckte er leichte Verfärbungen und eine gefrorene klare Flüssigkeit, die zuvor weder ihm noch Goïmgar aufgefallen war. Das konnte nur Schlechtes bedeuten. Was immer sich an der Spitze befunden hatte, es war am Metall haften geblieben und vereist.
Vraccas, beschütze ihn! »Vermag Eure Magie etwas gegen Gift auszurichten?«, fragte er Andôkai heiser. »Für mich sieht es danach aus, als hätte sich Swerd nicht allein auf seine Treffkünste verlassen.«
»Gift«, hustete Bavragor und musste grinsen. Dabei sahen sie alle, dass seine Zähne voller Blut waren, es lief am Zahnfleisch herab und färbte sie. »Seht ihr?! Keine Erkältung. Um was wetten wir, Goïmgar, dass du schon lange tot gewesen wärst? Der Branntwein und das Bier haben mich zäh gemacht.«
Die Maga schloss die Augen. »Nein, ich kann nichts gegen Gift ausrichten. Es ist nicht … meine Art von Zauberkunst«, sagte sie leise und entschuldigend zugleich. »Zumal mich seine Heilung stark geschwächt hat. Ich trage kaum mehr Magie in mir.«
Eine fürchterliche Stille senkte sich auf die Gruppe herab. Jeder ahnte, was es für den Zustand des einäugigen Zwerges bedeutete. Balyndis fasste die schwielige, rissige Hand und drückte sie aufmunternd, die Sorge schnürte ihre Kehle zu.
»Ihr könnt ruhig sagen, dass es nicht zum Besten um den alten, singenden Säufer steht«, krächzte Bavragor nach einer Weile. »Ich hatte eh nicht vor, ins Reich der Zweiten zurückzukehren.« Er schaute zu Tungdil. »Doch eigentlich wollte ich im Grauen Gebirge ankommen und meine Aufgabe erfüllen, um ruhmreich zu sterben. Nun ende ich hier, in einer armseligen Scheune, weit weg von meinen geliebten Bergen.«
Die ersten winzigen Blutstropfen drückten sich durch seine Haut. Aus den Tropfen formten sich Rinnsale, die aufs Stroh fielen und die Halme benetzten. Seine Kleidung sog sich voll.
»Du wirst nicht sterben«, presste Tungdil, und sein Lächeln, das eigentlich Zuversicht ausströmen sollte, geriet zu einer Grimasse. Er packte die andere Hand des Zwerges. »Du darfst nicht sterben«, setzte er verzweifelt hinterher. »Ohne dich können wir die Feuerklinge nicht fertig stellen! Du bist der Beste, den dein Stamm hat.«
Der Steinmetz schluckte sein Blut, um sprechen zu können. »Doch, ihr werdet sie erschaffen. Und ich werde bei euch sein.« Er blickte zur Tür. »Bringt mich dahin, wo das Tote Land herrscht. Nur auf diese Weise kann ich euch nach meinem Tod von Nutzen sein.«
»Du … würdest zu einem Untoten«, stieß Boïndil angewidert hervor. »Deine Seele …«
»Ich kann meine Aufgabe erfüllen, nur das zählt«, polterte Bavragor drauflos und bezahlte das Aufbegehren mit einem neuerlichen Hustenanfall.
»Aber wer sagt uns, dass du uns nicht hintergehen wirst und versuchst, uns zu töten oder zu fressen, wie es die anderen getan haben?« Ingrimmsch schaute sich um und blickte in die teils betretenen, teils ergriffenen Gesichter.
»Bindet mich gut fest und wartet«, empfahl er ihnen. »Mein Trotz wird stärker sein als das Verlangen, Böses zu tun. Das Zwergische ergibt sich niemals dem Bösen.« Die Lider flatterten. »Ich glaube, ihr müsst euch beeilen …«, keuchte er, dann schwappte der blutige Mageninhalt aus seinem Mund und sickerte in den kunstvoll rasierten Bart.
»Djerůn«, rief Andôkai und erteilte ihm Anweisungen. Er packte den sterbenden Zwerg vorsichtig und nahm ihn behutsam auf den Arm, wie eine Mutter ihr Kind in den Schlaf wiegt, dann verließ er den Schober, und sie hörten ihn davonlaufen.
Seine langen, unermüdlichen Beine trugen Bavragor gen Norden, dorthin, wo das Tote Land bereits seine volle Macht besaß und alles, was darauf starb, zu unheiligem Leben erweckte.
Der Rest der Gefährten packte zusammen und folgte dem Krieger, so schnell es der funkelnde Schnee und die kürzeren Beine der Zwerge erlaubten.
Tungdil blickte zu den Sternen und weinte stumme Tränen um Bavragor, der sein Wertvollstes opferte, um die Waffe entstehen zu lassen, mit der das Geborgene Land befreit werden konnte. Bei allem Poltern und den Eigenarten des Zwerges hatte er ihn doch in sein Herz geschlossen.
Er hörte Balyndis neben sich schniefen und wandte sich zu ihr. Sie lächelte ihn mit geröteten Augen an und reichte ihm die Hand. Es war eine Geste, die ihm den Mut zurückgab, den er in der Scheune beinahe verloren hätte.
Es war viel, im Grunde zu viel geschehen. Aus dem anfänglichen Abenteuer war Größeres und Schrecklicheres für die Beteiligten erwachsen, das verstand inzwischen sogar der einst wichtigtuerische Rodario, der sich mit Bemerkungen zurückhielt und stumm verarbeitete, was sich zugetragen hatte.
»Ich hoffe, dass die Bewohner des Geborgenen Landes das wert sind, Vraccas«, murmelte Tungdil hinauf zu dem funkelndem Firmament. »Wenn dies alles vorbei ist, werde ich dafür sorgen, dass unser Volk miteinander spricht und nicht länger abgeschottet voneinander in den Gebirgen lebt.«
Balyndis drückte einmal mehr seine Hand, doch seine Finger öffneten sich, und er eilte an die Spitze des Zuges zu Boïndil. Es war nicht die Zeit, um an etwas anderes als die Feuerklinge zu denken.
»Sie gefällt dir«, begrüßte ihn der Zwilling und blickte weiterhin geradeaus.
»Das fehlte mir noch, mich mit dir darüber zu unterhalten.«
»Gib es ruhig zu. Sie sieht auch sehr gut aus und für einen wie dich, der noch wenig mit Frauen zu schaffen hatte, wird sie einer Tochter Vraccas’ gleichen.«
»Ich wollte mir darüber eigentlich erst Gedanken machen, wenn wir Nôd’onn besiegt haben. Das Geborgene Land hat Vorrang.«
»Ah, der Gelehrte muss erst darüber nachdenken.« Noch immer wandte er sich Tungdil nicht zu, er redete scheinbar mit dem Schnee und den Fußspuren Djerůns. »Wenn du etwas gefunden hast, das dir etwas bedeutet, zögere nicht, dich darum zu bemühen, denn schneller, als die Axt einen Ork spaltet, ändern sich so manche Dinge, und du stehst mit leeren Händen da.«
»Warum sagst du mir das?«
»Nur so. Einfach nur so.« Er kniff die Lider zusammen. »Da vorn ist der Eisenmann.« Er zückte seine Beile. »Wir werden gleich sehen, ob sich der Verstand des singenden Säufers gegen die Macht des Toten Landes behauptet hat.« Sollte das nicht der Fall sein, sprachen die Beile in seinen Händen ihre eigene Sprache.
Die Maga rief Djerůn etwas zu. Als Antwort hob er seinen gepanzerten Arm und winkte sie näher. Bavragor stand neben ihm, die Arme hingen am Körper herab, seine Augen starrten ausdruckslos auf das Graue Gebirge.
»Bavragor?«, redete Tungdil ihn behutsam an, während er das bleiche Gesicht musterte, um eine Regung zu erkennen. Die Züge wirkten gealtert, wächsern, tot.
»Ich fühle … nichts«, sprach er behäbig, als kostete es ihn unendliche Mühe, den Mund zu öffnen und Worte hervorzubringen. »Ich spüre meinen Körper nicht, mein Kopf ist eigenartig leer.« Langsam wanderten die seelenlosen Augen umher und richteten sich auf ihn. »Alles, was ich spüre, ist … schlecht. Ich hasse Dinge, die ich vorher liebte. Und Dinge, die ich hasste«, er blickte an ihm vorbei auf Ingrimmsch, »würde ich am liebsten in Stücke reißen und verschlingen. Es ist besser, wenn ihr mir Fesseln um die Hände legt, weil ich nicht weiß, wie lange ich mich gegen diesen Drang erwehren kann«, presste er hervor. »Das Böse wohnt in mir.«
»Wenn du es wünschst, machen wir das.« Tungdil nahm den Lederriemen ab, mit dem Goïmgar sich den Schild auf den Rücken hängen konnte, und zurrte die Hände Bavragors auf dessen Rücken zusammen.
»Fester«, verlangte er knurrend. »Du kannst mir das Blut nicht abstellen, mein Herz schlägt nicht mehr und treibt es nicht mehr durch die Adern.« Erst als Tungdil seinem Wunsch nachgekommen war, wirkte er erleichtert, und die Anspannung fiel von ihm ab. »Weiter.« Er schaute Tungdil an. »Wenn ich meine Arbeit beendet habe, musst du mir den Kopf abschlagen. Ich will nicht als Diener des Toten Landes enden und auf ewig durch die verlassenen Stollen der Fünften irren oder Menschen töten, nur weil es mir der Schrecken aus dem Norden befiehlt.«
»Kein Zwerg soll der finsteren Macht dienen«, versprach ihm Tungdil. »Ich werde deinen Wunsch erfüllen.«
»Und du«, rief der Steinmetz Ingrimmsch zu, »kommst mir nicht zu nahe. Meine Zähne würden sich voller Freude in deine Kehle bohren und sie zerfetzen!« Er senkte den Kopf; das rotbraune Auge funkelte voller Grausamkeit, ehe er sich rasch wegdrehte und in den Schnee schaute. Dann setzte er einen Fuß vor den anderen. »Kommt. Ich möchte nicht länger als nötig ein Ding ohne Seele sein.«
Auf einen Wink Andôkais hin übernahm Djerůn die Aufgabe des Aufpassers. Er schritt hinter dem Verwandelten her und bildete eine eiserne Schutzwand, an der die Zähne Bavragors scheitern würden.
Sonnenumlauf für Sonnenumlauf stapften sie durch die endlosen Weiten von Tabaîn. Die Ährenebene, wie sie im Sommer genannt wurde, war so kalt, dass alles, was längere Zeit regungslos blieb, zu Eis erstarrte.
Tungdil erinnerte sich gelesen zu haben, dass die Helligkeit, die vom Schnee ausging, die Augen angriff und sogar dauerhaft verletzen konnte. Daher ordnete er an, Augenbinden mit winzigen Schlitzen zu tragen, um sich auf diese Weise vor der Blindheit zu schützen.
Es war ein mühsamer Marsch. Die Einzigen, denen es nichts auszumachen schien, waren Djerůn und der untote Bavragor, die ihnen einen Weg durch die Schneeverwehungen bahnten. Ihr Proviant gefror und musste abends am Feuer langwierig aufgetaut werden, ehe man ihn verzehren konnte. Ohne die wärmenden Kleider, die sie von Xamtys erhalten hatten, wären sie sicherlich erfroren.
Ingrimmsch wurde immer unruhiger, er wollte kämpfen, Bavragor dagegen hatte alles verloren, was ihn früher ausgemacht hatte. Er trank nicht mehr, er sang nicht mehr, er lachte nicht mehr und glotzte nur stur geradeaus. Seinen Hunger stillte er mithilfe eines gefangenen Schneehasen, den er bei lebendigem Leib verschlang; nur das Fell und die ausgesogenen Knochen blieben übrig. Sein gieriges Schmatzen und das Krachen der Knochen machten Goïmgar noch ängstlicher, dessen Hand nun stets am Griff seines Kurzschwertes lag.
Das Graue Gebirge schob sich näher und näher. Die Gipfel erweckten bald den Eindruck, zum Greifen nah zu sein, und dennoch dauerte es lange, bis sie sich durch Tabaîn gekämpft hatten, die Grenze zu Gauragar überschritten und nach weiteren anstrengenden Wandertagen in den Ausläufern des bleifarbenen Massivs standen.
Sie trafen weder auf Orks noch auf andere Scheusale, nur gelegentlich auf ihre Spuren. Gewaltige Heeresverbände mussten sich in den Süden aufgemacht haben, denen sie immer um Haaresbreite entgingen.
Schließlich näherten sie sich dem ersten Verteidigungsring der Festung der Fünften; schon von weitem erkannten sie, dass hier niemand stand, um Eindringlinge aus dem Geborgenen Land abzuwehren.
Die Wesen aus dem Norden hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen, Mauern waren eingerissen und Türme abgetragen worden, damit nichts mehr an die Macht der ehemaligen Bewohner erinnerte. Tungdil und die anderen konnten sich nicht einmal mehr vorstellen, wie es zu Lebzeiten Giselbart Eisenauges, dem Stammvater der Fünften, im Grauen Gebirge ausgesehen haben musste, denn das vollkommene Vernichtungswerk der Bestien ließ es nicht zu. Die Fragmente zeugten allerdings von großer Handwerkskunst der Erbauer. Nun waren aus den kunstfertig errichteten Verteidigungsanlagen traurige Ruinen geworden, deren Anblick die Zwerge schmerzte.
Dennoch trauten sie dem trügerischen Frieden nicht, als sie sich den steilen Pfad hinaufschleppten und dem Einlass näherten.
»Seid leise«, mahnte Ingrimmsch. »Narmora und ich sehen nach, ob sie tatsächlich keine Aufpasser aufgestellt haben.«
Die beiden huschten davon und bewegten sich im Schutz der grauen Felsen und Mauerfragmente, die aus dem Schnee herausragten, auf das geöffnete, haushohe Tor zu, das unmittelbar in den Berg hineinführte.
Tungdil schaute und hörte sich um. Der eisige Wind pfiff und säuselte an den zerklüfteten Wänden eine zufällige Melodie. Eiszapfen hingen wie gläserne Stalaktiten an den Bergvorsprüngen, und ein Wasserfall, fünfzig Schritt von ihnen entfernt zu ihrer Linken, war zu einer bizarren Skulptur gefroren.
Nichts, keine Orks, keine Oger, keine Albae oder sonstige Angreifer.
»Seid leise, hat er gesagt«, lachte Goïmgar bitter. »Der sollte sich selbst mal zusehen und zuhören.«
»Eine Ausgeburt an Grazie ist er jedenfalls nicht, auch wenn der Vergleich mit der reizenden Narmora ein wenig unlauter ist«, bestätigte Rodario.
Tungdil sah zu, wie sie sich anpirschten. Der Zwerg nutzte seine geringe Größe aus, während die Halbalbin elegant wie eine Tänzerin zwischen den Blöcken hin und her sprang. Das Weiß unter ihren Füßen gab keinen verräterischen Laut von sich, sie schien leicht wie eine Feder darüber zu schweben. Boïndils Kettenhemd dagegen lärmte regelrecht, obwohl er einen Pelz darüber trug.
Sie gelangte als Erste an den Eingang, presste sich an die Wand und lauschte in den nachtdunklen Stollen hinein, ehe sie sich hineinbegab. Ihre Silhouette verschmolz mit der Finsternis, und sie verschwand.
Furgas wollte gar nicht mehr damit aufhören, an seinen Handschuhen herumzunesteln. »Sie war schon immer zu wagemutig«, raunte er.
»Ach, Unsinn. Sie ist eine Frau, die um ihre Fähigkeiten weiß und sich darauf verlässt, alter Freund«, beruhigte ihn Rodario. »Du weißt, was sie alles vor unserer gemeinsamen Zeit am Theater gemacht hat. Da wird sie mit den paar Herausforderungen hier gewiss auch fertig werden.«
»Ich will nicht wissen, was sie gemacht hat«, sagte Goïmgar rasch. »Sie ist mir auch so unheimlich genug.«
Inzwischen erreichte auch Boïndil den Eingang ins Reich derer, die vor mehr als eintausend Zyklen gegen die Macht des Toten Landes unterlagen. Ein wenig ratlos stand er herum und spähte umher, ohne etwas Gefährliches entdecken zu können.
Plötzlich glitt Narmora aus dem Dunkel. Die Schwärze des gigantischen Tunnels haftete wie Spinnweben an ihr, umschmeichelte sie und gab sie nur zögerlich frei. Sie winkte ihnen, ihre gelöste Haltung verriet, dass es nichts gab, wovor sie sich fürchten mussten.
»Habt ihr das gesehen? Wie Tinte, die von ihr abperlt«, raunte Goïmgar verschreckt. »Das …«
»Halbmagie. Es ist eine angeborene Fertigkeit«, schätzte die Maga. »Die Albae sind Kinder der Dunkelheit.«
»Sie wird gewiss die Seiten wechseln, wenn wir auf Albae treffen«, prophezeite er bang. »Blut ist dicker als Wasser.«
»Aber nicht stärker als die Liebe, die uns verbindet«, widersprach Furgas energisch. »Eher stirbt sie, als dass sie mich hintergeht. Und ich würde eher sterben, als dass ich zulasse, dass ihr ein Leid geschieht.«
Der schmächtige Zwerg brummelte etwas vor sich hin und folgte der Gruppe zum Eingang. Den Schild hielt er abwehrbereit vor sich.
»Hier ist niemand«, sagte sie und hielt es nicht für notwendig, die Stimme zu senken. »Sie haben sich damit begnügt, die Mauern zu schleifen und die Tore so zu beschädigen, dass man sie nicht mehr schließen kann.«
»Aber wo sind die ganzen Viecher?« Boïndil wirbelte kampflustig mit den Beilen.
»Am Steinernen Torweg vermutlich«, schätzte Tungdil, der sich an die Karte in einem der vielen Bücher aus Lot-Ionans Bibliothek erinnerte. »Wir können froh sein, dass sie dort sind.« Er wandte sich dem Eingang zu. »Gehen wir die Esse Drachenbrodem entfachen.«
Seinen ersten Schritt machte er mit Bedacht, mit Ehrfurcht, Zaudern und einer gehörigen Portion Regung in seiner Brust. Das Reich der Fünften wurde zum ersten Mal wieder von einem lebendigen Zwerg betreten.
Rodario und Furgas entzündeten Lampen, und das rotgelbe Licht erweckte das Leben im Gebirge neu. Der Schein, den die Wände zurückwarfen, blendete sie, sodass sie schnell die Leuchtkraft verringerten.
Sie standen in einem Gang, dessen Wände mit poliertem und gehärtetem Palandium verkleidet worden war. Tausend Zyklen in Einsamkeit hatten dem weißen Metall nichts von seinem Glanz geraubt. In die Platten waren Bildnisse der Könige getrieben worden; die bärtigen Gesichter der Zwergenherrscher schauten freundlich auf sie herab und hoben ihre aus rotgelbem Vraccassium gegossenen Äxte zum Gruß.
»Welch ein Reichtum«, raunte Rodario.
Ergriffen sanken die Zwerge auf die Knie und beteten zu Vraccas. Selbst Bavragor konnte sich trotz seiner Veränderung der Wirkung nicht entziehen. Sein Gebet gelang ihm nur mit größter Konzentration, das Böse in ihm versuchte, seinen Willen, seine Gedanken, seine Überzeugung zu brechen und stattdessen die Kontrolle zu übernehmen, doch mit der Beharrlichkeit des zwergischen Verstands, der viel gerühmten Dickköpfigkeit, hatte es nicht gerechnet.
Die Menschen, Andôkai und Djerůn warteten geduldig.
Tungdil erhob sich und atmete ein. Der Gang roch alt, staubig, ehrwürdig, die Horden von Orks und anderen Bestien hatten ihm nichts nehmen können. »Wir müssen uns umsehen, um den Weg zum Feuersee zu finden«, erklärte er und setzte sich in Bewegung. Boïndil lief an seiner Seite.
Staub wirbelte zu ihren Füßen auf, gelegentlich huschte ein kleines Tier vor ihnen davon, hier und da lagen Knochenstücke, Reste von Kettenhemden und Schilden am Boden.
Schweigend legten sie die Strecke bis zu einem aus den Angeln geschlagenen Tor zurück, das sie in eine säulengetragene Halle führte. Sie war fünfeckig aus dem Stein getrieben worden und enorm groß; fünfzehn Ausgänge gingen von hier aus ab, und die Hinweistafeln lagen zerschlagen am Boden.
»Das nenne ich einmal eine Auswahl«, meinte Rodario unglücklich. »Leider haben wir es eilig und nicht den ganzen Tag, um wie die Mäuse herumzurennen und den richtigen Durchgang zu suchen.«
»Wir sollten den Gang wählen, in dem wir die wenigsten Fußspuren finden«, schlug Tungdil vor. »Die Orks werden kaum ständig zum Feuersee gehen. Da gibt es für sie nichts von Bedeutung.«
»Guter Einfall«, nickte Ingrimmsch und machte sich gleich daran, die vielen Gänge zu untersuchen. Narmora, Djerůn und Andôkai unterstützten ihn dabei. Währenddessen wagten es die anderen, sich einen geschützten Platz in der Halle zu suchen und sich auszuruhen.
Rodario schrieb sich einige Dinge auf, ehe er sich mit Furgas das Essen teilte. Bavragor stand einfach nur da, die Augen blickten teilnahmslos geradeaus. Goïmgar versteckte sich halb hinter seinem Schild, kaute auf getrocknetem Würzfleisch herum und achtete sorgsam auf die Umgebung. Die vielen Ausgänge, die in die Halle mündeten, waren ihm nicht geheuer.
»Ich möchte wetten, er macht sich Gedanken darüber, was mit Gandogar geschehen ist«, sagte Balyndis leise zu Tungdil.
»Da ist er nicht der Einzige«, gab er nachdenklich zurück. »Wir haben unterwegs nichts von einer zweiten Zwergengruppe gehört, und bei deinem Stamm ist er ebenfalls nicht aufgetaucht. Ich hoffe, dass ihm nichts zugestoßen ist.« Seine Besorgnis war echt; müde schloss er die Augen, nur um sie mit einem Ruck wieder zu öffnen. Er knöpfte den Pelzmantel auf. Im Stollen war es lange nicht so kalt wie im Freien, und die Wärme machte ihn noch müder.
»Nein, schlaf ruhig«, beruhigte ihn die Zwergin. »Ich halte Wache und wecke dich, falls sie etwas gefunden haben.«
»Ich bin der Anführer, ich dürfte nicht schlafen.«
»Unausgeschlafene Anführer begehen Fehler«, hielt sie energisch dagegen und drückte ihn an den Schultern nach hinten, bis er sich sträubend umsank. »So, nun liegst du. Schlaf und träume von der Rettung unserer Heimat.« Balyndis lächelte ihm zu, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich der Halle zu.
Sie saß dicht neben ihm, eine Hand auf den Griff ihrer Axt gestützt, und blickte wachsam umher. Sie war das Abbild einer Kriegerin.
»Der Weg muss es sein.« Boïndil hatte seine Wahl getroffen und war, was niemanden verwunderte, nicht mehr davon abzubringen.
»Fangen wir einfach mit ihm an«, sagte Tungdil und gab das Zeichen zum Aufbruch. »Solltest du falsch liegen, probieren wir den aus, den Andôkai vorschlug.«
Die Zeit der Ruhe war vorüber, sie hatten sich alle einen kurzen Schlaf gegönnt, um für den Kampf gegen das Drachenweibchen ausgeruht zu sein.
»Sie heißt Argamas und ist das Weib des großen Drachen Branbausíl, der im Grauen Gebirge lebte«, erklärte Tungdil Balyndis. »Die Fünften nahmen seine weißen Flammen und entzündeten damit ihre Esse, ehe sie ihn töteten und seinen Hort eroberten. Argamas flüchtete in den Feuersee …«
»… und kam nie wieder zum Vorschein«, ergänzte Goïmgar erleichtert. »Um ehrlich zu sein, ich wäre froh, wenn die Geschuppte in dem See bliebe. Unsere Strategie klingt mir nicht so, als könnten wir damit Erfolg haben. Drachenschuppen sind hart wie Stahl.«
»Alles, was wir benötigen, ist ihr Feuer, nicht ihr Leben«, sagte Andôkai, die sich wenig sorgte. »Gerade du müsstest dich darüber freuen.«
»Und ich bedauere es, dass wir dem Viech nicht den Garaus machen. Etwas Größeres zu erlegen wird im Geborgenen Land schwer möglich sein«, meinte Ingrimmsch beleidigt, weil ihn keiner verstehen wollte. »Drachen! Wo gibt es sie heute denn noch? Da müsste man doch jede Gelegenheit nutzen, die sich einem Beil bietet, oder?«
»Nein, die ehrenwerte Maga spricht wahr«, leistete Rodario ihr Beistand.
»Dass du nicht der Mutigste sein kannst, ist mir klar«, wehrte ihn Boïndil ab. »Aber, Balyndis, wie sieht es mit dir aus? Lass uns den Drachen …«
»Sei still«, verlangte Tungdil. Er roch Schwefel, die Luft im Gang erwärmte sich. Nach unzähligen Treppenstufen abwärts und zahlreichen Röhren näherten sie sich ihrem Ziel. »Keinen Ton mehr, bis wir uns umgeschaut haben. Ich will Argamas nicht früher als notwendig bei ihrem Bad in der Lava stören.«
Der schmächtige Goïmgar klammerte sich an den Griff seines Schildes. »Mir kam der Gedanke, dass wir sie bitten könnten, uns zu helfen. Drachen sind schlau, und vielleicht ist sie einsichtig.«
Ingrimmsch schaute ihn vorwurfsvoll an. »Du willst mir das letzte bisschen Spaß auch noch nehmen, indem du sie anbettelst, uns das Feuer freiwillig zu geben?«, schnaubte er. »Niemals, hörst du!?«
»Zwerge haben ihren Gatten getötet. Was glaubst du, wie ihre Hilfsbereitschaft aussehen würde?«, meinte Tungdil. »Wir möchten nicht, dass einer von uns stirbt, deshalb wird es vollkommen ausreichen, wenn wir sie nur zum Feuerspeien bringen, um uns etwas davon zu nehmen.« Er klopfte auf die mitgeführte Fackel.
»Schlimm genug«, grummelte Boïndil. »Nun vermiest man mir auch noch diese Herausforderung.«
Sie verließen den Gang und wurden in dunkles, gelbliches Licht getaucht. Es roch nach faulen Eiern, das Luftholen gelang nur mit Mühe und verursachte ein Stechen, doch der Anblick entschädigte sie für die Unannehmlichkeiten.
Eine Hitzewelle schlug ihnen vom Ufer des Sees entgegen, dessen flüssige Lava unaufhörlich brodelte, blubberte und Blasen an der Oberfläche warf. Mal blähten sie sich weit auf, ehe sie barsten und ihre glühenden Tropfen verspritzten, mal vergingen sie einfach und sanken in sich zusammen.
Die Ausmaße des Sees konnte Tungdil schwer schätzen, aber im Durchmesser betrug die kochende Fläche mindestens viertausend Schritt. Vereinzelt ragten Inseln aus der Lava, und von der Decke hingen bizarre Basaltzapfen, die sich im Lauf der Zyklen durch emporgeschleudertes und abgekühltes Magma gebildet hatten. Sie glommen im Schein des Sees honigfarben.
»Darin soll ein Drache leben können?«, staunte Goïmgar, der von dem Anblick ebenso überwältigt war wie die anderen. »Gut, dass wir nicht mit ihr kämpfen. Was können unsere Waffen gegen ein Wesen ausrichten, das in diesem Inferno herumschwimmt?« Heimlich hoffte er, dass sie einfach untertauchte und sich nicht zeigte.
Djerůn hob sein Schwert und deutete auf einen Punkt etwa eintausend Schritt von ihnen am Ufer entfernt, um Andôkai auf seine Entdeckung aufmerksam zu machen. »Wir müssen uns um Argamas keine Sorgen mehr machen«, sprach sie. »Schaut dorthin.«
Entsetzt erblickten sie die Überreste des gigantischen Gerippes, das der Form nach einem Drachen gehörte.
Ingrimmsch scharrte mit den Stiefeln in den gewaltigen Knochenüberresten herum. Dazwischen lagen gebrochene Pfeilstücke, Lanzen, Speere und kleinere Knochen. »Schweineschnauzen. Sie haben den Drachen getötet. Das muss schon ein paar Zyklen her sein, wenn ich mir das so ansehe.« Abschätzend begutachtete er das Gerippe, und seine Augen spiegelten Wehmut. »Es muss ein guter Kampf gewesen sein.«
Goïmgar zuckte mit den Schultern. »Es hat keinen Sinn! Lasst uns nach Hause gehen. Ich wäre gern bei meinem Stamm, wenn es losgeht und Nôd’onn vor den Toren unseres Reiches steht.«
»Du und kämpfen?«, höhnte Boïndil und prüfte die Festigkeit eines Drachenknochens. Die Rippe hielt seiner Kraft stand.
»Ich möchte bei meinem Volk sein, wenn es zu Ende geht, das ist alles. In der Gemeinschaft eines kampfgierigen Idioten wie dir, eines Hochstaplers und eines untoten Zwerges zu sterben, das will ich nicht.« Er nickte der Schmiedin zu. »Gegen dich habe ich nichts.«
»Und wenn wir die Esse mit einfachem Feuer in Gang setzen?«, meinte Furgas.
Tungdil schaute über die Lava. »Wir haben keine andere Möglichkeit. Wir müssen es versuchen«, sagte er. »Was bleibt uns denn sonst? Ich kehre nicht mit leeren Händen zurück und sehe Nôd’onn bei seinem Krieg einfach nur zu.« Er betrachtete die tänzelnden Flämmchen auf der Lava genauer und wischte sich den frischen Schweiß aus den Augen. Er kannte Feuer aus seiner Esse in allen Farben, doch dieses sah anders aus. »Täusche ich mich, oder brennen die Flammen heller?«, fragte er Balyndis, die sich wie er am besten von allen mit Feuer auskannte.
»Es sieht so aus«, gab sie ihm Recht und verstand, auf was er hinauswollte. Sie nahm eine Fackel, entzündete sie an einer der zuckenden Flammen, und tatsächlich spendete sie mehr Licht als gewöhnlich.
»Narmora, versuche, ob du sie mit deinen Fertigkeiten löschen kannst«, bat Andôkai die Halbalbin.
Die Schwarzhaarige nickte, schloss die Augen und sammelte ihre Konzentration, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. Die Fackel brannte noch immer. »Es geht nicht«, gestand sie voller Verwunderung. »Gewöhnliches Feuer …«
»Eben«, lachte die Maga erleichtert. »Tungdil hatte mit seiner Vermutung Recht. Argamas hat dem See etwas von ihrem Drachenbrodem hinterlassen.«
Balyndis gab Tungdil vor überschwänglicher Erleichterung einen Kuss auf die Wange, und er grinste sie verlegen an »Wir haben das, was wir brauchen«, sagte er fest. »Wir entzünden alle Fackeln und gehen zurück. Die Esse wartet darauf, zum Leben erweckt zu werden.« Er ging los und strebte auf den Tunnel zu, aus dem sie gekommen waren.
»Herzallerliebst«, kommentierte Rodario. »Ein Glück, dass es hier so warm ist. Meine Tinte läuft herrlich aus der Feder, und dieser Augenblick voller überwältigender Gefühle schreit danach, festgehalten zu werden.« Im Gehen schrieb er weiter. »Furgas, mein lieber Freund und Compagnon, die Dimensionen unseres Abenteuers drohen allmählich den Rahmen eines gewöhnlichen Theaterstückes zu sprengen. Wir könnten bereits vormittags anfangen«, grübelte er. »Doppelter Eintritt, mehr Statisten. Schaffen wir das?«
Furgas betrachtete den Feuersee noch einmal, bevor sie in den Stollen zurückkehrten und sich an den Aufstieg machten. »Den lassen wir weg«, entschied er. »Die Kohle, um die Hitze zu simulieren, wäre zu teuer.«
»Ja, das ist schon besser. Wir sollten sparsam vorgehen. Außerdem, bei dem Gestank würden sich die Spectatores reihenweise übergeben.«
»Es könnte auch an deiner Schauspielkunst liegen«, bemerkte Boïndil trocken und drückte ihm eine Fackel in die Hand. »Nimm das. Du wirst nicht kämpfen müssen und hast die Hand für diesen Ballast frei. Und wehe, du lässt sie verlöschen.«
»Ich schwöre bei allen Windrichtungen, den Göttern und sogar dem Bösen, dass, wenn mir dieses Missgeschick passieren sollte, was wiederum alle Gottheiten und Wesenheiten verhindern mögen, auf der Stelle und sofort, ganz gleich, wo ich mich befinde, der Blitz in dich fahren soll«, sagte er feierlich.
Der Zwerg nickte zufrieden, bis sich ihm der Sinn der gestelzten Worte erschloss. »Sehr lustig«, knurrte er und beließ es dabei, während sich Goïmgar und Rodario ausschütten wollten vor Lachen. »Das Lachen wird euch beiden noch vergehen«, drohte er.
Bavragor wurde zunehmend unheimlicher.
Seit dem Betreten des Zwergenreichs sprach er überhaupt nicht mehr, sondern rollte nur noch wild mit seinem Auge. Gelegentlich knurrte und stöhnte er ohne ersichtlichen Grund auf, die Fesseln um seine Handgelenke spannten sich und knirschten gefährlich. Djerůn wachte darüber, dass er niemandem zu nahe kam.
Ingrimmsch beschwerte sich unentwegt, dass sie mit den Fackeln noch leichter und früher von Feinden gesehen werden konnten, aber eine andere Möglichkeit wollte ihnen nicht einfallen.
Er hatte Recht. Die grellen Feuer erhellten die mit Vraccassium, Palandium, Gold- und Silberplatten vertäfelten Gänge, und so sahen sie zwar auf zwanzig Schritt jede kleine Einzelheit, aber ebenso wurden die Bestien auf sie aufmerksam.
Sie müssen geahnt haben, dass wir es brauchen. Tungdil berührte die Platten. Auch auf die Gefahr hin, die Ahnen zu erzürnen, entschied er sich, Stücke davon herauszubrechen und einzustecken. Mit Djerůns Kräften war es ein Leichtes, und bald hatten sie genügend zusammen, um daraus die Intarsien der Axt fertigen zu können. Nur Eisen fehlte ihnen noch. Tungdil betrachtete die Axt, die Lot-Ionan ihm geschenkt hatte. Notfalls werde ich sie einschmelzen.
Nachdem sie lange durch das verlassene Reich der Fünften marschiert waren, gab Boïndil plötzlich das Zeichen zum Anhalten. »Vor uns ist etwas«, begründete er seine Entscheidung, und seine Haltung wurde lauernd. »Ich rieche den Gestank von Bestien, aber Orks sind es keine.«
Tungdil schnupperte und bemerkte die Duftspur, die in der Luft lag. »Sie müssen vor uns sein.« Er blickte zu Narmora, die nur nickte und sich anschickte, den Gang zu erkunden.
»Kommt nur her! Hier steht ein Zwerg, der sich nicht vor euch fürchtet!«, schallte plötzlich eine laute Stimme durch den Gang, dann prallten Waffen und Schilde scheppernd zusammen, und dünne Schreie erklangen. »Ich mag der Letzte sein und euch unterliegen, aber von euch nehme ich sicher vier Dutzend mit. Vraccas ist mit mir!«
Diese Stimme kenne ich, dachte Tungdil, doch bevor es ihm einfiel, kam ihm jemand zuvor.
»Gandogar!«, rief Goïmgar überglücklich. »Mein König, halte aus! Ich komme!« Er warf seinen schweren Mantel ab, packte den Schild, riss sein Schwert aus der Scheide und stürmte vorwärts.
»Schau sich einer mal den Schimmerbart an«, wunderte sich Rodario. »Der kann richtig Mut aufbringen. Woher hat er den nur genommen?«
»Ho, das hätte ich nicht geglaubt. Aber wir sollten ihn nicht allein gehen lassen«, sagte Ingrimmsch, und die Vorfreude auf ein ordentliches Gefecht mit Tions Geschöpfen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Und du, Langer, kennst meine Spielregeln. Pass du nur schön auf den Einäugigen auf, damit er mir nicht in den Rücken fällt.« Auch er warf den hinderlichen Mantel ab und schaute abwartend zu Tungdil.
Der zog seine Axt in der Erwartung, dass der König der Vierten seinen Beistand verdiente. »Helfen wir unseren Rivalen brüderlich und schlagen den Feinden die Köpfe ab«, verkündete er und rannte los.
Sie gelangten in eine kleinere, spärlich beleuchtete Halle, die mit haarigen, buckligen bogglinhaften Bestien gefüllt war. Kreischend schwangen sie Keulen und schartige Schwerter und drängten in ihren zu großen Rüstungen die Steinstufen hinauf, die zu einer goldenen Statue von Vraccas führten.
Davor stand Gandogar in seiner schweren Rüstung wie ein Abbild des Gottes. Er führte seine Doppelklingenaxt mit beiden Händen, holte weit aus und mähte die erste Reihe der Angreifer mit einem Schlag nieder. Die Diamanten auf seinem Helm warfen Lichtreflexionen an die Wände und die Säulen und verliehen ihm durchaus etwas Überirdisches.
Rechts und links der Treppe lagen die enthaupteten oder verwundeten Bestien, die aus zehn Schritt Höhe herabgestürzt waren. Das hell- und dunkelgrüne Blut rann die Stiegen hinab und machte sie glitschig, was den Feinden den Sturm zusätzlich erschwerte.
Doch sie gaben nicht auf; krakeelend schoben sie sich die Stufen hinauf, begierig, in die vorderste Linie zu gelangen, nur um von der sausenden Klinge Gandogars in den Tod geschickt zu werden.
Boïndil hatte alle überholt und blies in sein Rufhorn, um die Meute auf sich aufmerksam zu machen.
»Ho! Hier kommt noch ein Zwerg!« Irre lachend warf er sich in die Menge und verwandelte sich in den wütenden Ingrimmsch, dem sich kein Schutz widersetzen konnte. Die Beile fanden wie von selbst eine Lücke in den Rüstungen oder trafen ungeschützte Stellen, und schon nach seinem ersten Angriffsschlag lagen sechs Feinde zuckend am Boden.
Er fräste sich vorwärts und zog eine Schneise hinter sich, in die Tungdil und die anderen stießen. Selbst der ansonsten zögerliche Goïmgar begab sich in die Schlacht. Zum ersten Mal hatte er ein Ziel vor Augen, für das sich die Anstrengung, ja sogar das Sterben lohnte.
Bavragor war es im Getümmel gelungen, seine Lederfessel abzustreifen. Da er keine Waffen besaß, zerriss er die ersten Angreifer mit den bloßen Händen, wühlte sich mit seinen blutigen, kräftigen Fingern durch ihr Fleisch und verletzte sie tödlich. Schwertstiche ließen ihn unbeeindruckt, schließlich nahm er zwei Streitkolben vom Boden auf und drosch mit unheiliger Stärke um sich.
Djerůns Keule schleuderte die Wesen, die ihm gerade bis an die Knie reichten, durch die Luft; sie schlugen zwischen ihren Artgenossen ein und rissen etliche durch die Wucht des Aufpralls in den Tod.
»Die Treppe hinauf«, befahl Tungdil, der gesehen hatte, dass Gandogar in Bedrängnis geriet. Er schien der einzige Überlebende seiner Gruppe zu sein; jedenfalls konnte er in dem Durcheinander aus Leibern keine weiteren Zwerge ausmachen.
Sie droschen sich vereint durch die Bestien. Djerůn blieb am Fuß der Treppe stehen und verteidigte den Aufgang mit mörderischer Gewalt gegen nachrückende Bogglins, während die Menschen und Zwerge die Gegner von hinten angriffen, bis die letzten auf den Stufen fielen und sie keuchend vor dem König der Vierten standen.
Gandogar sah schrecklich aus, abgehärmt, blass, müde. Zwei tiefe Schnitte, die von einer mächtigen Waffe stammen mussten, durchzogen sein blutverkrustetes Kettenhemd.
»Mein König!«, grüßte ihn Goïmgar freudig und nahm sich die Zeit, vor ihm auf ein Knie zu sinken.
Tungdil nickte ihm knapp zu. »Wo sind die anderen?«
»Tot«, antwortete er, mit der Fassung ringend. »Lasst uns zuerst von hier verschwinden, ehe die …«
Fünf Gestalten schoben sich von der anderen Seite in die Halle, vier Schritt hoch, breit, hässlicher und widerwärtiger als die Orks und umso stärker.
»Oger!«, jauchzte Ingrimmsch. »Jetzt wird es richtig lustig! Heja, Langer, das kleine Gesocks lasse ich dir.« Er schlug die flachen Seiten seiner Waffen zusammen und leckte sich über die Lippen. »Die da sind genau meine Kragenweite.«
Die kleineren Bestien wichen zurück und bildeten bereitwillig eine Gasse für die Oger.
»Ihr lauft, ich und Djerůn halten sie auf. Darüber wird nicht gestritten«, ordnete Andôkai an. »Mal sehen, was ich mit meinem Rest von Magie erreiche.«
Sie steckte ihr Schwert ein und murmelte Zauberformeln, als sich aus der Felswand neben dem Heiligtum ein basaltener Gigant rumpelnd aus dem Fleisch des Berges riss. Das lang gezogene steinerne Gesicht mit den Augenlöchern richtete sich auf die Maga, die Faust stieß auf sie nieder.
Andôkai bemerkte die Gefahr und leitete ihre magischen Kräfte gegen den unerwartet aufgetauchten Angreifer. Es gelang ihr, den Hieb aufzuhalten, doch sie ging dabei in die Knie. »Ein Golem«, keuchte sie. »Sie haben einen Magus. Sucht und tötet ihn, bevor meine Kräfte vollends schwinden und ich die Kreatur nicht aufzuhalten vermag.«
Als die überlebenden Bogglins sahen, dass die zuerst so überragenden Feinde Schwäche zeigten, kreischten sie schrill und feuerten sich gegenseitig an, bis sie als Masse aus Armen, Beinen, gefletschten Zähnen und wirbelnden Waffen heranschwappten, um ihr Kampfglück ein weiteres Mal auf die Probe zu stellen.
Die anstürmende Menge trieb Djerůn langsam die Stufen hinauf, bis er sein Visier öffnete und die ersten Reihen der Bestien in violettes Licht tauchte. Wieder erklang der furchtbare, drohende Laut. Ängstlich fiepend zuckten sie vor dem Krieger zurück, der die Gelegenheit sogleich nutzte, mit Schwert und Streitkolben gleichzeitig zu attackieren und den verlorenen Raum zurückzuerobern.
»Da drüben ist er!«, rief Narmora und deutete auf eine menschengroße Gestalt in einer Robe, wie sie die Famuli Nôd’onns trugen. Er stand einhundert Schritt von ihnen entfernt, umgeben von einer Horde kräftiger Orks, die ihm als Leibwache dienten. Anhand seiner Bewegungen erkannten sie, dass er den zum Leben erweckten Golem gegen Andôkai dirigierte.
»Scheint, als wollte man uns davon abhalten, bis zur Esse zu gelangen«, sagte Tungdil. Der Magus fürchtet die Feuerklinge. Wir sind auf dem rechten Weg.
Gandogar schaute auf die nicht enden wollende Zahl der Ungeheuer, die eine lebendige Wand bildeten. »Es ist aussichtslos. Das Tor zur Esse befindet sich am Ende der anschließenden Halle und ist mit Vraccas’ Runen gegen das Eindringen der Bestien gesichert«, erklärte er knapp. »Wir waren kurz davor, doch die Gegner haben uns aufgelauert. Sie wussten, dass wir kommen.«
Tungdil dachte fieberhaft nach. »Einer von uns beiden muss mit denjenigen, die von Bedeutung für die Entstehung der Feuerklinge sind, durch das Tor gelangen«, verkündete er. »Ich hatte niemals die Absicht, den Thron zu erlangen, Gandogar, ich schenke ihn dir. Mir geht es einzig um das Wohl des Geborgenen Landes und unseres Volkes.« Er sah ihm fest in die Augen. »Versprich, dass du dafür zusammen mit Narmora und der Feuerklinge gegen Nôd’onn ziehen wirst. Sie werden dir erklären, wieso sie wichtig ist.«
Gandogar neigte den Kopf. »Bei Vraccas und Giselbart Eisenauge, in dessen Reich wir stehen, ich schwöre, dass ich nicht eher ruhen werde, bis Nôd’onn tot ist.« Sie reichten sich die Hände. »Aber du wirst dabei an meiner Seite sein«, setzte er hinzu.
Sie wandten sich gemeinsam zu den Stufen um und hoben ihre Waffen. Tungdil setzte sein Horn an die Lippen und blies zum Angriff.
Djerůn setzte einen Fuß vor den anderen und bildete die Spitze des Ausfalls. Die Zwerge flankierten ihn, dahinter folgten Rodario mit den Fackeln und Furgas, der ihn und die wertvollen Flammen vor den Angriffen der Bogglins beschützte.
Währenddessen setzte sich Andôkai auf den Stufen noch immer gegen den Golem zur Wehr. Die Attacken gaben ihr keine Gelegenheit, den Magus anzugreifen und damit die Wurzel des Übels auszuschalten. »Rasch! Mehr als ein bis zwei Zauber sind mir nicht mehr möglich«, rief sie angestrengt.
»Ich kümmere mich darum«, verkündete Narmora und sprang aus dem Stand auf die Schulter Djerůns, stieß sich ab und flog fünf Schritte durch die Halle, ehe sie auf dem Kopf eines Bogglins landete und sich erneut abdrückte. Sie benutzte die Schädel und Schultern der überrumpelten Feinde wie Trittsteine und überwand so die Distanz zum Zauberer, doch kurz bevor sie ihn erreichte, traf sie ein Dolch in den Unterschenkel. Sie trat fehl und verschwand in der johlenden Menge.
»Narmora!«, schrie Furgas entsetzt und vernachlässigte seine Aufgabe als Bewacher. Die Bestien setzten sofort nach und drangen auf Rodario ein.
»Hinfort!«, schrie er sie an und drosch mit den Fackeln nach ihnen. Kreischend wichen sie vor der Hitze zurück, Funken stoben auf, und die Getroffenen standen augenblicklich in Flammen und taumelten davon. Das Drachenfeuer verbrannte die Kreaturen Tions in Windeseile zu Asche.
Seine Verteidigung verlief erfolgreich, dafür verloschen die Lichtquellen und wurden von den Schwertern der Bogglins zerstört, sodass er plötzlich mit nur einer einzigen Fackel dastand. »Furgas!«, machte er seinen Freund auf seine Lage aufmerksam. »Zu Hilfe!«
Doch Furgas beobachtete voller Sorge die Stelle, an der seine Gefährtin verschwunden war.
»Furgas, verdammt!«
Balyndis scherte aus der Reihe aus und übernahm es, die Bestien auf Abstand zum Schauspieler zu halten.
Plötzlich trat die Halbalbin wie aus dem Nichts hinter dem ersten Leibwächter des Magus hervor und trennte ihm mit einem üblen Hieb ihrer Waffen den Kopf ab. Bevor sich die anderen Orks auf die neue Lage einstellen konnten, starben auch sie.
»Beeindruckend«, kommentierte der Magus wütend und richtete seinen Stab gegen sie, »dennoch nicht gut genug!«
Ein breiter Strahl schoss auf Narmora zu, sie wich zur Seite aus, aber die Energien folgten ihren Bewegungen.
Ehe sie getroffen wurde, prallten sie unvermittelt gegen ein unsichtbares Hindernis und lösten sich auf. Gleich darauf zuckte ein breiter Blitz vom Heiligtum herüber und schlug knisternd in den Mann ein. Das Gleißen endete erst, als der Magus zu einem schmorenden, stinkenden Bündel verbrannt war. Im nächsten Augenblick zerfiel der Golem in Einzelteile. Die schweren Brocken erschlugen Dutzende der Bestien und drei der Oger, die sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnten.
Die beiden übrigen Oger hielten inne; schließlich wichen sie aus Angst vor der siegreichen Magierin in die nächste Halle zurück und verschwanden aus ihrer Sicht.
Narmora hob den Arm grüßend in Richtung Andôkais; diese erwiderte die Geste und zog in einer fließenden Bewegung ihr Schwert. Mehr besaß sie nicht mehr, um sich zu verteidigen.
»Na, also. Narmora lebt. Würdest du mir nun bitte wieder zur Hand gehen, oder hast du jemand anderen dazu auserkoren, die Hauptrolle im nächsten Stück zu spielen, und willst mich einen heldenhaften Tod finden lassen?«, sagte Rodario liebenswürdig zu Furgas.
Andôkai stürmte die Stufen des Heiligtums herab; ihre Klinge wütete schrecklich gegen die Feinde.
»Verflucht, die feigen Oger verschwinden! Deine Herrin verdirbt mir alles«, ärgerte sich Boïndil und stürzte sich umso wütender auf die flüchtenden Bogglins. »Wenigstens habe ich mit denen meinen Spaß.«
Er rannte ihnen hinterher, ohne auf die Warnungen Tungdils zu achten; die Beile schlugen in die Hälse der Feinde, und er scheuchte sie wie eine Herde Schweine vor sich her. Auf der Schwelle zur anschließenden Halle blieb er wie angewurzelt stehen.
»Was ist? Hat dich die Vernunft ereilt?«, fragte Goïmgar gehässig, während sie zu Ingrimmsch aufschlossen. Dann aber erstarrten auch sie.
»Diese Szene lassen wir auch weg«, raunte Rodario mit trockenem Mund. »Sie gefällt mir nicht.«
Die Ausmaße des Raumes betrugen sicherlich dreitausend Schritt in der Länge und zweitausend in der Breite; die verlassenen Hochöfen, Rampen und Seilzüge, die umherstehenden oder umgestürzten Schlacke- und Roheisenpfannen und die Kohlehalden verrieten, was die Fünften hier einst trieben.
Wo früher Eisen und Stahl entstanden, lagerte nun eine Streitmacht von mindestens eintausend Orks, Bogglins und Trollen, die ihnen den Zugang zur Esse verwehrten.
Schon trafen die in die Flucht geschlagenen Bogglins und Oger auf die ersten Reihen der Bestien und berichteten hastig, was sich in der anderen Halle zugetragen hatte. Ein Ruck lief durch die Masse, die Ersten standen auf und packten grölend ihre Waffen, um sich kampfbereit zu machen.
»Das ist …« Boïndil wusste nicht, was er zu diesem Anblick sagen sollte, und seine Arme mit den Beilen senkten sich kapitulierend. Dieses grauenvolle Heer bedeutete für ihren tapferen Haufen mehr als eine »große Herausforderung«, von der er so gern sprach. Selbst er sah ein, dass es für sie kein Durchkommen gab.
»Könnt Ihr auf die andere Seite schweben und uns mitnehmen, so wie Ihr es bei Goïmgar tatet, um ihn zu retten?«, schlug Tungdil der Maga heiser vor.
»Ich bin vom Gefecht gegen den Golem und den Magus erschöpft, meine Magie ist verbraucht.« Andôkai schaute mit bitterer Miene über die Ungeheuer. »Hätte ich geahnt, was uns erwartet, hätte ich mich vorhin zurückgehalten. Und selbst dann …«
»Lasst uns nach Hause gehen«, bat Goïmgar flehentlich und wandte sich an Gandogar. »Mein König, du bist …«
Tungdil brachte ihn mit einem Blick zum Verstummen. »Wir können nicht gehen. Allenfalls sterben wir bei dem Versuch, unser Ziel zu erreichen«, sagte er, und sein Kopf senkte sich trotzig. »Außer uns kann keiner mehr an diesen Ort vordringen, wir sind das letzte Aufgebot gegen Nôd’onn.«
»Wir bleiben.« Gandogar nickte zu Goïmgars Entsetzen. »Ich stehe euch bei.« Er hob die doppelköpfige Streitaxt.
»Wir sind Zwerge«, setzte Ingrimmsch grollend hinzu, der sich wieder gefangen hatte. Auch er neigte den Kopf, zog ihn zwischen die Schultern und holte tief Luft. »Wir werden niemals aufgeben!«, schrie er den Bestien entgegen, schlug die Axtrücken gegeneinander und ließ das Klirren durch die Erzschmelze fliegen. »Hört ihr das, ihr Scheusale!? Das ist der Laut eures Untergangs.«
Tungdil betete stumm zu Vraccas. »Der Kampf durch die Reihen ist das Einzige, was mir einfällt.« Er schaute in die Gesichter seiner Begleiter. »Vermutlich werden nicht alle von uns auf der anderen Seite der Halle ankommen. Achtet darauf, dass die Richtigen zur Esse gelangen.« Er schaute zu Balyndis. »Ich bin entbehrlich, ich werde mein Leben geben, damit das Geborgene Land mit all seinen Völkern weiterhin hoffen kann.«
Furgas küsste Narmora leidenschaftlich und mit Tränen in den Augen; sie gehörte zu denen, die unter allen Umständen durchkommen mussten. Sie strich ihm zärtlich übers Gesicht.
»Eins zu Hundert«, schätzte Boïndil die Verhältnisse ab. »Es hätte schlimmer kommen können.« Dieses Mal übernahm er es, das Horn zu blasen und ein altes Zwergensignal erschallen zu lassen, das von den Gegnern mit aufforderndem Rufen erwidert wurde. »Wer zuerst auf der anderen Seite ankommt«, knurrte er, »hat gewonnen.«
Nach fünfhundert Schritten hatten sie sich festgekämpft, es ging weder vorwärts noch rückwärts.
Eingekreist von den widerlichsten Kreaturen, standen sie Schulter an Schulter und mussten sich darauf beschränken, ihr Leben zu verteidigen, bis die Arme zu schwer würden, um den Attacken länger standzuhalten.
Schlimm genug war, dass sie Rodario auf den ersten zehn Schritten einbüßten; er verschwand zunächst unbemerkt zwischen den Rüstungen der Orks, und zu spät merkte Tungdil, dass der Schauspieler Opfer eines Schlages geworden war.
Damit verloren sie das notwendige Drachenfeuer, um die Esse anzufachen.
Ich bin so dicht vor meinem Ziel, Vraccas. »Wir müssen umkehren«, rief er über die Schulter. »Rodario und die letzte Fackel gingen verloren.«
Andôkai setzte zu einer Entgegnung an, als helle Flammen am Durchgang emporloderten.
»Zurück«, hörten sie eine krächzende, herrische Stimme. »Sie gehören mir.«
Die Bestien verstummten abrupt; sie stoben augenblicklich auseinander und bildeten eine Gasse, um Platz zu schaffen. Tungdil erkannte die feiste Gestalt in der malachitfarbenen Robe wieder, die sich nach vorne schob, und der letzte Hauch Hoffnung, der sich mit zwergischem Trotz gehalten hatte, verflüchtigte sich.
»Nôd’onn«, ging das Raunen ehrfürchtig durch die Reihen der Ungeheuer, die gebannt auf ihn starrten. Einige verneigten sich oder fielen vor ihm auf die Knie.
»Ich dachte mir, dass ich euch bei der Esse antreffe«, begrüßte er sie schnarrend und musste husten. Ein hellroter Speichelklumpen klatschte dem nächsten Bogglin ins Gesicht, der ihn freudig ableckte. »Daher sandte ich meine Diener, um euch aufzulauern.« Schritt für Schritt kam er auf sie zu. »Das Vergnügen, euch eigenhändig zu vernichten, wollte ich mir nicht entgehen lassen.«
Ein Ork sprang diensteilig vor, riss sein Schwert heraus. »Ich tue es für dich, Herr!«, quiekte er.
»Unwürdiger!« Der Magus reckte seine Hand; es blitzte kurz auf, und ein Flammenstrahl traf den Ork, der sofort brannte und blind umhertaumelte, bis er ohnmächtig vor Schmerzen auf den Steinboden fiel. »Weichet!«, befahl er wieder. »Macht Platz, damit ich sie mit meinen Kräften vernichten kann, ohne euch zu schaden.« Das bleiche Gesicht war unter der Kapuze, die er trug, nur mehr als heller Fleck zu erkennen.
»Ich werde es versuchen«, flüsterte Andôkai Tungdil zu. »Ihr lauft los.« Sie wischte sich die blonden Haare aus dem herben Antlitz, packte ihr Schwert und setzte zu einem Sprung an, hielt aber inne.
Tungdil bemerkte ihr Zögern. »Was ist?«
Sie wirkte irritiert. »Er hat seinen Stab nicht dabei. Der echte Nôd’onn würde seinen Stab niemals ablegen, so wenig wie ich mein Schwert anderen überließe. Es ist eine Täuschung …«
»Bei allen Göttern! Es ist Rodario!«, raunte ihr Furgas zu und bemühte sich, nicht zu glücklich zu wirken und die Maskerade des Freundes zu verraten. »Was immer er auch von uns verlangt, wir müssen sein Spiel mitspielen.«
Der Zwerg machte große Augen. Die Verwandlung in den Verräter gelang dem Mann ebenso vollendet wie damals im Theater, doch dieses Mal stand er vor einem Publikum, das ihn aufspießen würde, wenn sein Können zu gering wäre. Wie hat er das geschafft?
»Und ihr«, wandte er sich krächzend an sie, »werdet leiden. Ich gewähre euch die Gnade, bis ans Tor der Schmiede zu gehen und das ersehnte Portal zu berühren, ehe ihr in tausende kleiner Stücke zerrissen werdet! Ist das nicht grausam?!«, rief er laut, und die Bestien um ihn herum brüllten ihre Zustimmung.
Die Masse teilte sich hinter der Gruppe und gewährte ihnen einen schmalen Korridor, der bis zum verschlossenen Einlass führte. Der verkleidete Rodario folgte ihnen schwankend, hustete und krächzte die wüstesten Drohungen, die mit frenetischem Gekreisch seiner Rotte begrüßt wurden.
Sie waren zehn Schritt von dem Eingang entfernt, als der Schauspieler noch stärker taumelte und nach vorn stürzte.
»Bleibt«, hielt Tungdil Narmora und Furgas zurück, die ihm aufhelfen wollten. »Das würde ihn und uns verraten.«
Mühsam stemmte er sich auf. Ein Helm rollte unter seinem Fuß hervor, und das linke Bein erschien plötzlich ein gutes Stück kürzer. Die behelfsmäßige Stelze, die dazu gedient hatte, die Größe des wahren Magus nachzuahmen, war dahin und der Schwindel aufgeflogen. Dennoch benötigten die Kreaturen eine Zeit lang, bis sie die Zusammenhänge erfassten.
»Das ist nicht der Herr!«, belferte ein Ork und sprang mit erhobener Waffe vor. Rodario humpelte in die Reihen seiner Freunde zurück, das Gefecht begann von neuem.
»Wo ist die Fackel?«, wollte Tungdil wissen.
Der Schauspieler hielt sich die Seite und spuckte erneut Blut, das von einer echten Verletzung und nicht von einem Farbstoff stammte. Mit einem verzerrten Grinsen hielt er eine kleine Sturmlampe hoch, deren Docht glomm. »Das war besser. Nôd’onn hätte mit einer Fackel dämlich ausgesehen.«
Sie schlugen und fochten sich mit neuem Mut bis zum Portal durch, während die Orks die kleineren Wesen nach hinten scheuchten und einen brachialen Angriff unternahmen. Dieses Mal sollten die Menschen und Zwerge nicht mehr zu retten sein.
Nacheinander wurden sie von den Beilen, Schwertern und Äxten getroffen, die kleinere und größere Wunden schlugen, doch eisern hielten die Zwerge ihre Position. Tungdil bemühte sich, die Runen zu entziffern, die ihnen Einlass verschaffen sollten. Dieses Mal aber versagte sein Wissen.
»Ich verstehe sie nicht«, rief er Andôkai verzweifelt zu. »Es muss ein Rätsel sein.«
»Wie ungelegen«, meinte Rodario gepresst. Er lehnte sich gegen das Tor, weil die Beine ihn nicht mehr tragen wollten. »Nun, mein Verlust wird euch nicht allzu sehr schmerzen. Aber das Geborgene Land, das sei noch angemerkt, verliert einen formidablen Mimen«, ächzte er und schloss die Augen. Sein Körper erschlaffte und sank auf die Sturmlampe; der Docht drohte zu ersticken.
»Nein«, wisperte Gandogar, der den Tod des Schauspielers aus dem Augenwinkel verfolgte. »Die Flamme! Sie darf nicht verlöschen!« Er wandte sich um und versuchte sie zu retten, als sich ein gewaltiger Ork in die Bresche schob und brüllend sein gezacktes Schwert gegen den Rücken des abgelenkten Zwerges schwang.
»Mein König!«, schrie Goïmgar warnend, aber erkannte, dass es seinem Herrscher nichts mehr nützen würde. Kurzerhand warf er sich in den Schlag, den Schild nach vorn gereckt und den Kopf eingezogen.
Die Schneide traf singend auf den Rand des Schildes. Die Wucht des Treffers drückte ihn nach unten, sodass der Zwerg bis zum Hals sichtbar wurde.
Der Ork schnaubte ihm seinen stinkenden Atem entgegen, dass sein Bart wehte, und zeigte ihm die gewaltigen Hauer. Dann zog er die lange Klinge von rechts nach links und nutzte die Schildkante als Führungslinie.
Goïmgar hielt ihm sein Kurzschwert entgegen. Klirrend zerbrach sein Eisen unter der Kraft des Angreifers, und im nächsten Augenblick glitt die Schneide durch Haut, Sehnen, Muskeln und Wirbel.
Goïmgars abgetrennter Schädel fiel nach rechts, sein zuckender Torso stürzte nach links gegen Balyndis, die vor Wut aufschrie und umso wilder kämpfte.
Gandogar drehte sich um und sah Goïmgar für ihn sterben. Als der Kopf des Toten auf den Boden schlug, erlosch die Lampe, ein dünner Rauchfaden kräuselte zur Hallendecke hinauf. »Zu Tion mit dir!« Gandogar spaltete den Mörder Goïmgars vom Kopf bis zum Nabel.
Der Tod der beiden Gefährten und das Verlöschen des Drachenfeuers lähmten die Arme der Übriggebliebenen, ihre Gegenwehr wurde schwächer und schwächer.
»Hast du uns so weit kommen lassen, um uns zu vernichten, Vraccas?«, rief Tungdil anklagend, während er einem Ork seine Axt in den geöffneten Rachen schlug.
Da ertönte ein erlösendes Knarren, und der rechte Torflügel schob sich unvermittelt zurück.
Ein lautes, dunkles Horn ertönte und wiederholte die Melodie, die Boïndil zu Anfang ihres Angriffs hatte erklingen lassen, dann stapften gedrungene Gestalten aus dem Portal und warfen sich gegen die Ungeheuer. Ihre Äxte und Kriegshämmer wüteten gnadenlos.
Tungdil benötigte mehrere Augenblicke, bis er sie als Zwerge erkannte.
Einer von ihnen, dessen polierte Rüstung hell leuchtete, was nur durch das Blitzen der Diamanten an seinem Waffengurt übertroffen wurde, nickte auf das geöffnete Tor.
»Rasch. Wir können es nicht lange aufhalten«, befahl er, und seine tiefe Stimme ließ Tungdil schaudern.
Er hatte ihn erkannt, denn nach dem langen Weg durch das Reich der Fünften hatten sie mehr als einmal seine in Gold und Vraccassium getriebenen Züge an den Wänden prangen sehen. Es war Giselbart Eisenauge, der Stammvater der Fünften.
»Du bist …«
»Später«, unterband der Urahne jedes weitere Wort. »Rein mit euch.«
Tungdil kam der Aufforderung nach, Furgas legte sich Rodario über die Schulter, Gandogar trug die Leiche Goïmgars. Als sie sich auf der anderen Seite befanden, beendeten die Fünften ihren Ausfall, und das Tor zur Schmiede schwang zu. Bald darauf hörten sie das wütende Trommeln der Bestien, die mit ihrer blinden Wut dennoch nichts ausrichten konnten.
»Ich grüße euch«, sagte Giselbart ernst, »wer immer ihr auch seid. Ich hoffe, euer Auftauchen bedeutet Gutes.«
Sie blickten auf insgesamt zehn Zwerge mit bleichen Gesichtern, deren Augen leicht abwesend wirkten, als befänden sie sich in Trance. Sie trugen herrlich gearbeitete Rüstungen. Ihre Bärte reichten bis auf den Gürtel, und die Entschlossenheit, die Vraccas seinem Volk mitgegeben hatte, war von jedem Antlitz abzulesen.
»Wir sind die Letzten der Fünften, die den Horden des Bösen seit dem Niedergang meines Reiches vor nunmehr elfhundert Zyklen trotzen«, erklärte Giselbart, der von allen den erhabensten Eindruck machte. »Wir fielen gegen die Albae und wurden durch das Tote Land zurück ins Leben gebracht, doch anstelle ihm zu dienen, stellten wir uns gegen es.«
Tungdil warf einen raschen Blick auf Bavragor, der von oben bis unten mit dem Blut von Orks und Bogglins bedeckt war; in allen Grüntönen rann es von seinen Unterarmen herab und tropfte auf den Boden.
»Auch wenn wir nur noch schwer zu töten waren, so verloren die meisten von uns ihr Leben doch endgültig, und wir zogen uns zur Esse zurück, dem Heiligsten, was unser Stamm besitzt.« Er schaute Tungdil in die Augen.
»Und ihr verspürt keinen Hass gegen andere Zwerge oder alles Leben?«, fragte er misstrauisch nach.
Giselbart schüttelte den Kopf. »Wir haben gelernt. Elfhundert Zyklen reichen aus, um den Hass in sich zum Schweigen zu bringen.« Sein Blick richtete sich auf den Eingang. »Lange beschränkten sich die Kreaturen darauf, uns zu bewachen, doch seit einigen Sonnenumläufen versuchen sie, die Esse zu erobern. Ihr seid vermutlich der Grund für ihr Verhalten, oder?«
»Ja, das mag sein.« In aller Eile stellte er sich und seine Begleiter vor, um danach eine kurze Zusammenfassung von dem zu geben, was sich im Geborgenen Land tat und was der Grund ihres Auftauchens war. »Aber die Hoffnung ist verloren. Das Drachenfeuer, das wir mitbrachten, um die Esse in Gang zu setzen, ist vor dem Tor verloschen.«
Giselbart legte ihm eine Hand auf die Schulter und zeigte ein freundliches Lächeln in dem tausende von Zyklen alten Gesicht, das nur aus Falten und Furchen zu bestehen schien. »Nein, bewahre dir die Zuversicht, Tungdil Goldhand, denn die Glut brennt hell und heiß wie immer.« Er horchte auf. »Wir haben sie von Anfang an gegen die Eindringlinge verteidigt. Vraccas muss gewusst haben, dass wir sie eines Tages noch einmal dringend brauchen würden.« Er und seine Begleiter traten zur Seite, damit sie die Schmiede in Gänze sahen.
Sie war gut fünfzig Schritt lang und maß dreißig in der Breite. Zwanzig erloschene Essen standen in zwei Reihen nebeneinander, die vierfache Anzahl von Ambossen kam hinzu. Sie waren um eine besonders große Feuerstelle angeordnet, deren Glut weißlich glomm.
Zwischen den unzähligen Säulen, welche die achtzig Schritt hohe Decke trugen, hingen Zangen, Hämmer, Feilen, Meißel und andere Schmiedewerkzeuge sauber aufgereiht. Der Boden war mit feinem Sand ausgestreut. An der Decke und den oberen Wänden hatte sich eine dicke Rußschicht gebildet; Steinstufen führten zu dem Rauchabzug hinauf.
Durch mehrere Öffnungen im Fels liefen Eisenketten, die über Umlenkrollen und Flaschenzüge mit Blasebälgen neben den Essen sowie Schleifsteinen verbunden waren; offenbar funktionierten sie nach einem ähnlichen Prinzip wie die Hebevorrichtungen der Loren.
Tungdil konnte sich vorstellen, wie die Fünften einst hier schmiedeten und die schönsten Rüstungen und besten Waffen des Geborgenen Landes schufen. Er atmete auf und bat Vraccas stumm um Verzeihung für seinen Zweifel. »Das ist die erste gute Wendung, seit wir von zu Hause aufgebrochen sind«, sagte er voller Freude. Nichts war vergebens, dabei standen wir knapp davor, uns aufzugeben.
»Rodario! Er lebt!«, sagte Furgas freudig. »Ich höre sein Herz schlagen.«
»Lass mich nach ihm sehen.« Andôkai warf ihr Haar zurück, kniete sich neben den Verletzten und schaute nach der Wunde, um sie mit Branntwein aus dem Trinkschlauch Bavragors zu reinigen und Schlimmeres zu verhindern. »Ein leichter Stich in die Seite und ein Schlag ins Gesicht«, stellte sie fest.
Er schlug ruckartig die Augen auf. »Meinen Dank, ehrenwerte Maga«, presste er durch die Zähne hervor. Der Alkohol auf der frischen Wunde verursachte ein scharfes Brennen. »Ich hätte den Ork bitten sollen, mich auf den Mund zu treffen, damit Ihr mich mit Euren Lippen zurück ins Diesseits küsstet.«
»Wenn du ein Krieger wärst, sähen die Dinge anders aus«, antwortete sie erstaunlich freundlich auf sein Werben.
»Ein Schauspieler ist vieles, auch ein Krieger.«
»Letztlich ist es vorgetäuscht.«
»Im Gemüt bin ich ein Kämpfer. Reicht Euch das nicht?«
»Das ist wohl wahr«, nickte sie. »Aber dein Gemächt hat mir zu viele Schlachten im ganzen Land geschlagen, als dass ich dem Träger vertrauen könnte, dass er niemals die Seiten wechselt, wenn sich eine Gelegenheit bietet.« Andôkai blinzelte ihn mit ihren blauen Augen an und tätschelte seine Wange. »Bleib bei den Frauen, die dich verehren, großer Junge.«
Giselbart deutete auf eine Nische in der Schmiede. »Legt euch hin und ruht euch aus. Das Portal wird nicht fallen, dafür sorgen wir«, sagte er zu Tungdil. »Genehmigt euch so viel Schlaf, wie ihr benötigt, und dann machen wir uns ans Werk. Es gibt vieles vorzubereiten.«
»Was meinst du damit?«
Er lachte gutmütig. »Erst werdet ihr euch erholen. Zu essen können wir euch leider nichts bieten, aber die Unterkunft ist wenigstens sicher.«
Keiner murrte, als es ans Ausruhen ging, und selbst Boïndil war erschöpft genug, dass er sich die Gedanken über das Dasein der Fünften als Untote ersparte. Sie hatten ihr Leben auf diese Weise bewahrt und bewiesen, dass sie alles andere als bösartig waren.
Tungdil trat zu Gandogar, der stumm neben den Überresten Goïmgars saß. Er hatte seinen ramponierten Helm abgenommen, sodass das braune Haar auf seine breiten Schultern fiel. »Er hat sein Leben für mich gegeben«, meinte er nachdenklich. »Ohne zu zögern stellte er sich gegen den Ork, obwohl er genau wusste, dass er ihm nicht gewachsen war. Das hätte ich ihm nicht zugetraut.« Er schaute zu Tungdil. »Als du dir Goïmgar wähltest, freute ich mich, weil ich zu wissen glaubte, wie sehr er ein Künstler und wie wenig er ein Zwerg wäre. Er hat bewiesen, dass er mehr Zwerg war, als ich annahm.«
Tungdil nahm das Säckchen mit den Diamanten und legte es in die Hände des Königs. »Jetzt ist es an dir, seine Aufgabe zu übernehmen.«
»Das werde ich, auch wenn ich weit hinter seinen Fertigkeiten als Handwerker zurückstehe.«
Tungdil zögerte. »Es wird dir nicht gefallen, was ich dir noch zu sagen habe, Gandogar. Es geht um Bislipur.« In wenigen Worten erzählte er ihm vom Plan des Großkönigs und der Heimtücke des Hinkenden. Zum Beweis seiner Anschuldigungen präsentierte er das Kropfband, das sie Swerd abgenommen hatten.
Der König erkannte es auf der Stelle wieder. »So sehr ich meine Augen gegen deine Vorwürfe verschließen möchte, das widerliche Schmuckstück spricht für sich. Der Gnom wäre niemals imstande gewesen, ohne den Auftrag seines Herrn zu handeln.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Was hat ihn so verblendet? Wie konnte er mich so verblenden?«
»Du willst keinen Krieg mehr gegen die Elben führen?«
»Einen Krieg? Jetzt, wo es so schlimm um das Geborgene Land bestellt ist?« Er holte tief Luft. »Ganz im Gegenteil, Tungdil. Ich erkenne endlich die Wahrheit, die in den Worten des Großkönigs Gundrabur lag. Wir haben unterwegs zu viel gesehen und erlebt, um weiterhin gegen die Spitzohren ziehen zu wollen. Wir brauchen ein Bündnis mit ihnen.« Er hob die Augenbrauen. »Ich sagte nicht, dass wir sie zu unseren Brüdern machen und sie von nun an mögen sollen. Der Verrat an den Fünften …«
»Es gab keinen Verrat durch die Elben«, unterbrach sie ein Zwerg, der in ihrer unmittelbaren Nähe gestanden und einen Teil ihrer Unterredung mit angehört hatte. Seinen dichten schwarzen Bart hatte er zu kunstvollen Zöpfen geflochten; sie baumelten bis auf seine Brust.
»Sicher gab es den«, beharrte er. »Ich habe die Zeilen gesehen, die ihre Schuld bezeugen.«
»Die Zeilen, die Bislipur dir gab?«, erinnerte ihn Tungdil.
Der fremde Zwerg lächelte schwach. »Ich bin Glandallin Hammerschlag aus dem Clan der Hammerschlags und war im Gegensatz zu dir an diesem trüben Tag dabei, als der Steinerne Torweg durch Verrat fiel.«
»Also doch die Elben?«, mutmaßte Gandogar stur.
»Eines Zwerges«, sagte Glandallin ruhig, während die Zwerge und Balyndis fassungslos auf ihn starrten. »Es war Glamdolin Starkarm aus dem Clan der Starkarme, der die Losung zum ersten Mal nannte und die Riegel öffnete.«
»Weshalb?«
»Er wartete schon sehr lange auf die Gunst des Augenblicks. An jenem schrecklichen Morgen täuschte er vor, unter dem rätselhaften Fieber zu leiden, das die Albae uns brachten, und im Laufe der Schlacht achteten wir nicht weiter auf ihn. Er schlich sich vors Tor und gab das Land den Horden preis. Er war es auch, der den Albae einen geheimen Pfad in unsere Stollen wies, um uns hinterrücks anzugreifen.«
»Ich verstehe nicht …«
»Er war ein Dritter«, machte es Glandallin kurz. »Glamdolin war ein Dritter, ein Zwergentöter, der sich in unseren Stamm einschlich und sich voller Schläue maskierte, um uns in unserem geschwächten Zustand dem Untergang zu weihen. Er starb durch meine Hand, aber er erhob sich wieder durch die Macht des Toten Landes und nannte ihnen die Losung ein zweites Mal. Wir haben ihn nach unserem zweiten Erwachen verhört; danach verlor er seinen Schädel und verging endgültig.«
»Schreib das für mich auf«, raunte Rodario Furgas zu. »Das Stück wird ein Kassenerfolg ohnegleichen!«
»Die Elben haben nichts damit zu tun?« Tungdil freute sich darüber, da es ihnen den Weg zu einem Bündnis erleichterte. Bislipurs Vorhaben ist gescheitert!
Sie begruben die Überreste Goïmgars in einer Ecke der Schmiede unter einem Stapel Steine und sandten seine Seele zu Vraccas. Sobald sie sich ausgeruht hatten, begannen sie mit den Vorbereitungen, um die Feuerklinge zu schmieden.
»Die Klinge sei aus dem reinsten, härtesten Stahl, die Widerhaken am anderen Ende seien aus Stein, der Griff aus Sigurdazienholz, die Intarsien und Runen aus allen edlen Metallen, die sich in den Bergen finden; die Schneide aber sei mit Diamanten besetzt«, zitierte Tungdil die alten Verse und nahm die Abschrift mit den Runen heraus, die als Vorlage dienen sollten.
Säuberlich legten sie alles Gold, Silber, Palandium und Vraccassium auf den Tisch, das Säckchen mit den Diamanten gesellte sich ebenso hinzu wie das Stück Sigurdazienholz, aus dem der Griff bestehen sollte. Roheisen für die Klinge und den Granit für die Widerhaken brachten die Fünften.
Plötzlich wusste Tungdil, was sie vergessen hatten, und er schalt sich wegen seiner Gedankenlosigkeit. »Es fehlt uns Tionium!«, rief er entsetzt. »Habt ihr das?«
»Nicht hier«, antwortete Glandallin nach einigem Zögern. »Wir geben uns mit dem Metall Tions nicht gern ab und verwenden es nur äußerst selten.«
Narmora streifte ein Amulett von ihrem Hals und legte es auf den Tisch. »Es besteht aus reinem Tionium. Meine Mutter gab es mir, um mich vor den Mächten des Guten zu beschützen. Da ich mich für die andere Seite entschlossen habe, benötige ich es nicht mehr«, erklärte sie. »Ich hoffe, es reicht aus.«
Tungdil bedachte sie mit einem anerkennenden Blick; ihre Taten ließen ihn alle Vorbehalte und Gefühle der Ablehnung vergessen. »Nun wirst du schon zweifach wichtig für das Geborgene Land. Auch wenn wir die Waffe schmieden, gebührt dir der ganze Dank der Völker. Unsere Kunst nützt nichts ohne dich.«
»Das Volk meiner Mutter trägt Schuld an vielem Leid, das im Geborgenen Land herrscht. Es ist nur rechtens, wenn ich davon ein wenig zurückzahle«, erwiderte sie, das Lob ablehnend.
Er blickte zu der Esse, die leicht glomm. »Können wir beginnen?«
»Nein, so einfach ist es nicht«, widersprach Giselbart. »Sie glüht noch, aber die Hitze wird nicht ausreichen. Die Apparaturen, die den großen Blasebalg bewegen, um der Esse Drachenbrodem Leben einzuhauchen, sind eingerostet und nicht mehr zu bewegen.«
»Welch ein Glück!« Furgas erhob sich. »Ich dachte schon, ich bin nichts anderes als der Gefährte jener Frau, die das Geborgene Land rettet«, lachte er, und die anderen stimmten ein. »Endlich kann ich meine Fertigkeiten als Magister technicus unter Beweis stellen.«
Narmora küsste ihn, nahm eine Axt und übte mit Ingrimmsch die unterschiedlichsten Manöver. Andôkai saß auf ihrem Lager, Djerůn hockte unbeweglich wie immer neben ihr. Tungdil wartete aus irgendeinem Grund darauf, dass es hinter dem Stahlgesicht zu leuchten begann.
»Du fragst dich, was sich hinter der Maske verbirgt?«, meinte Narmora, als sie eine Pause einlegte. Sie nahm sich von dem Wasser und trank es durstig.
Er wandte sich ihr zu. »Du klingst, als ob du es wüsstest.«
Narmora lehnte sich an den Felsen und atmete tief; die Übungsstunden strengten sie an, denn Ingrimmsch verlangte ihr alles ab. »Meine Mutter erzählte mir von einem Wesen, dem König unter den Bestien und allen Geschöpfen Tions und Samusins. Es ist der Jäger aller, das Raubtier der eigenen Art, es vernichtet die Schwachen und ringt mit den Starken, um sie noch stärker zu machen oder sie zu töten, wenn sie es nicht verdienen zu herrschen.« Sie tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Seine Augen sollen blauviolett leuchten, und sein Anblick reicht aus, um die Schwächsten davonlaufen zu lassen. Sie fürchten ihn alle, den Sohn Samusins.« Narmora grinste. »Ich hatte unwahrscheinliche Angst, wenn sie diese Geschichte erzählte, wie du dir vorstellen kannst.« Sie vermied es, in die Richtung des Gepanzerten zu schauen. »Was viel schlimmer ist: Nun weiß ich, dass es ihn gibt.«
Es ergab einen Sinn. Andôkai, als Anhängerin des Gottes Samusin, würde es als Ehre empfinden, mit einer Kreatur durch die Gegend zu ziehen, die der Sage nach der Sohn ihres Gottes war. Ob die Maga und Djerůn tatsächlich mehr verband als das Verhältnis Herrin und Untergebener, wollte Tungdil nicht wissen. »Dann ist es kein Wunder, dass die Bogglins vor ihm geflüchtet sind.«
»Jeder würde vor ihm flüchten, Bestie oder nicht.« Narmora stand auf, um weiter zu üben.
Er beobachtete, wie Balyndis eine Esse mit gewöhnlichem Feuer in Gang setzte, das Kettenhemd und das Lederwams auszog und sich eine Lederschürze vor Bauch und Brust band; die Unterwäsche verdeckte wenig von ihrer Haut. Er schlenderte zu ihr, die Neugier trieb ihn. »Was machst du?«
»Stahl.« Sie bat ihn, die Bändel hinter ihrem Rücken zu verknoten. Er trat hinter sie und erhaschte zum ersten Mal einen Blick auf die nackte Haut einer Zwergin. Sie war rosig und von einem dünnen, hellen Flaum überzogen. Da sie wie alle unterwegs kaum Gelegenheit gehabt hatte, sich zu waschen, ging ein intensiver, aber keineswegs schlechter Duft von ihr aus, weniger sauber, aber sehr anregend. »Da wir nicht an die Hochöfen kommen, um aus dem Roheisen Stahl zu machen, behelfe ich mich mit einem einfachen Kniff.«
Seine Hände hatten den Knoten schon lange fertig gebunden, doch nun legten sich seine Finger wie von selbst an ihre kräftige Hüfte. Die Haut fühlte sich glatt und warm an, er ertastete die feinen Härchen.
»Komm nach vorn, damit du siehst, was ich mache.« Er folgte ihrem Wunsch. »Um die Verunreinigungen auszutreiben, gebe ich das Metall in eine flache Pfanne und erhitze es. Der größte Teil der Verunreinigungen verbrennt dabei. Der Nachteil ist, dass wir so nur geringe Mengen Stahl herstellen können. Für einen Axtkopf sollte es genug sein.« Geduldig stand sie da und beobachtete, wie die Temperatur höher wurde und das Metall schmolz. »Hast du so etwas nicht gemacht?«
»Nein«, sagte er bedauernd. »Ich war nur Schmied.«
»Wie viele Schläge brauchst du für einen Hufnagel?«
»Wenn ich mich anstrenge, sieben, wenn ich gedankenlos bin, neun.«
»Das ist sehr gut, Tungdil«, lächelte sie ihn an, und er schmolz wie das Eisen. »Du bist darin so gut wie ich.«
»Und wie lange brauchst du für eine Axt?«
»Wenn ich mich anstrenge, sieben, wenn ich gedankenlos bin, neun«, antwortete sie. »Umläufe natürlich, nicht Schläge. Aber da wir wenig Zeit haben und ich keine Pause machen werden, müsste es in fünf Umläufen zu schaffen sein, ohne dass die Güte darunter leidet.« Sie deutete zum Portal. »Giselbart möchte etwas von dir. Er steht da und winkt.«
Tungdil hob die Hand zum Zeichen, dass er sich auf den Weg machte. »Findest du es nicht auch seltsam, Zwergen zu begegnen, die älter als alles sind, was wir kennen, von den Gebirgen einmal abgesehen?«
»Ich finde es seltsam, dass sie ihre Seelen an das Tote Land verloren haben«, entgegnete sie. »Seltsam und traurig. Ich wünschte, wir könnten ihnen helfen, ihre Seelen zurückzubekommen.«
»Das vermag Vraccas, wir nicht. Und ich bedauere es sehr.« Er lief zu Giselbart, der mit sorgenvoller Miene auf ihn wartete.
»Die Bestien bereiten sich auf einen Angriff vor.«
Tungdil betrachtete die massiven Türen aus Eisen und Bändern, die von den Runen ihres Gottes zusätzlich geschützt wurden. »Sagtest du nicht, die Esse sei sicher?«
»Sie war es, weil sie wohl keinen Grund hatten, sie unbedingt einnehmen zu wollen. Aber da ihr hier seid und die Waffe schmiedet, die Nôd’onns und ihren Fall bedeutet, haben sie ihre Ansichten geändert.« Er zeigte ihm ein verborgenes Guckloch, und Tungdil spähte hinaus.
Aus dem ungeordneten Haufen war innerhalb eines Sonnenumlaufs ein organisiertes Heer geworden, das von Albae geleitet wurde.
Die Oger schafften umgerissene Säulen und Stalaktiten herbei, um sie als Rammböcke zu benutzen. Hinter ihnen rotteten sich verschiedene Abteilungen zusammen, die an Apparaten herumschraubten, aus denen Seilzüge werden könnten.
»Das sieht nicht gut aus. Ich berichte es meinen Freunden«, entschied er. »Welche Verteidigungseinrichtungen haben wir?«
Wortlos hob Giselbart seine Axt.
»Mehr nicht?«
Er hob eine zweite Axt und grinste böse. »Ich verstehe, dass dir das nicht ausreicht. Wir …«
Plötzlich hörten sie gedämpfte Schreie und das Scheppern von Rüstungen; die Oger brüllten auf, die Orks quiekten alarmiert, und die Bogglins kreischten in heller Aufregung.
Was geht da draußen vor? Schnell presste Tungdil sein Auge ans Guckloch und sah, wie die Feuer des Lagers erstarben und zwergengroße Krieger mit aschweißen Gesichtern zwischen den Ungeheuern umhersprangen und etliche niederstreckten; sie zielten dabei auf die Köpfe, um keine Untoten zu schaffen.
Der Überfall währte nicht lange. Sobald die Flammen von neuem entfacht waren, fand sich von den Angreifern keine Spur mehr.
Die Geister der gestorbenen Zwerge! Er erinnerte sich ganz genau an die bleichen Erscheinungen, die ihnen die rätselhafte Warnung gesendet hatten. Dieses Mal fielen sie über diejenigen her, die ihre Ermahnung missachteten und sich weiterhin in ihrem Reich aufhielten. »Weißt du etwas über die Geister der Ahnen?«
»Geister? Nein. Aber solange sie auf unserer Seite kämpfen, habe ich nichts gegen sie«, meinte er und ging los, um den anderen von dem bevorstehenden Angriff der Truppen Nôd’onns zu berichten. Diejenigen, die nichts mit dem Schmieden und den Vorbereitungen zu tun hatten, begannen damit, Steine aus den Wänden zu brechen und sie vor dem Portal aufzustapeln.
Zuerst ging es darum, die Orks draußen zu halten. Darüber, wie sie mit der Feuerklinge hinausgelangen würden, würden sie sich später Gedanken machen.
Furgas schaffte es, die in ihn gesetzten Erwartungen noch zu übertreffen. Er hatte nur einen Sonnenumlauf gebraucht, um hinter die Funktionsweise der Ausgleichgewichte des Blasebalgs zu kommen, und verglich das System gern mit dem des Bühnenvorhangs.
Die schadhaften Stellen hatte er bald entdeckt; beim Ausbessern improvisierte er so sicher, wie er es sonst unter den Brettern des Podiums tat, falls eine Vorrichtung während der Theateraufführung versagte. Auch die Schleifsteine drehten sich wieder.
Währenddessen schichteten die anderen Stein um Stein auf, denn die Ungeheuer unternahmen bereits den ersten Eroberungsversuch, wobei sich die Stalaktiten als zu fragil erwiesen und an dem Portal barsten.
Am zweiten Umlauf beschäftigte sich Gandogar unter den widrigsten Umständen mit dem Schleifen der Diamanten; die Werkzeuge Goïmgars halfen ihm dabei immerhin ein wenig. Bavragor hockte an einem Tisch und formte mit seinen Arbeitsgeräten die Widerhaken aus dem Stein; seine Hände bewegten sich mechanisch und ruckartig wie die einer Puppe.
Giselbart bereitete die Schmelzformen für die Edelmetalle vor, während Balyndis sich anschickte, die Axt samt der unterarmlangen Halterung zu formen.
Dazu hatte sie sich in den mittleren Teil begeben, wo die Esse Drachenbrodem stand. Mit jedem Seufzer des mechanisch betriebenen Blasebalgs fauchten die Kohlen, und gelegentlich zuckten weiße Flämmchen auf.
Die Zwergin nutzte drei unterschiedlich geformte Ambosse gleichzeitig; zielsicher wählte sie aus der Reihe von Wolfsmaulzangen, Biberzangen, Winkelzangen und etwa siebzig weiteren die passende aus, um die in der Glut erhitzten Stahlstücke herauszuziehen, sie grob in Form zu schlagen und wieder in ihr heißes Bett zu schieben, wenn die Temperatur nicht mehr passte.
Eine solche Schmiede hatte Tungdil noch nie gesehen. Hatte er sich bei Lot-Ionan mit vier unterschiedlichen Hämmern zufrieden gegeben, so hingen hier fünfzig mit den unterschiedlichsten Köpfen. Dazu kamen Meißel, Feilen, Eisensägen und weitere Werkzeuge, mit denen die Zwergin als Meisterin sicher hantierte.
»Komm, hilf mir«, verlangte sie unerwartet und drückte ihm eine Zange in die Hand. »Schlage das Stahlstück flach, ungefähr so dick wie eine Messerklinge. Danach trennst du es mit dem Keil und schmiedest die Stücke übereinander zusammen.«
Tungdil tat, wie ihm geheißen, ergriff eine der langen Zangen und näherte sich den weiß leuchtenden Kohlenstücken, die eine nie gekannte Hitze ausstrahlten.
Als er das Stück aus der Esse nahm, glühte es weiß. Mit raschen Schlägen walzte er es aus, und legte es wieder zurück in die Esse.
Sobald es glühte, holte er es heraus, trennte es in der Mitte, legte die Stücke übereinander und schmiedete sie mit kräftigen Schlägen zu einem Stück zusammen.
Sein Herz jubelte, als er nach so langer Zeit wieder den Schmiedehammer führte und das geliebte Klingen hörte. Das war die Magie der Zwerge, durch ihre Fertigkeit entfalteten sich geheimnisvolle Kräfte im Metall, die ein Magus niemals verstehen würde.
Er blickte zufrieden zu ihr hinüber; ihre Schläge erklangen gleichzeitig, ohne dass sie sich abgesprochen hatten.
Dann legte er sein Werkstück zurück. »Ich gehe zu den anderen und helfe Steine schleppen, ehe sie murren, ich würde deine Arbeit zunichte machen«, erklärte er. »Wie viele Lagen wird die Axt haben, wenn sie fertig ist?«
Sie hämmerte weiter. »Um die dreihundert. Der Stahl ist sehr gut, er wird es mitmachen. Danke für deine Hilfe.«
Tungdil winkte ihr zu und schloss sich den Steineschleppern an. Die Fünften brauchten so gut wie keine Rast, ihre untoten Körper verlangten nicht danach, aber Boïndil und Tungdil teilten sich ihre Kräfte genau ein; ihr Proviant ging allmählich zur Neige, und Nachschub gab es keinen.
»Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, welche Weitsicht Vraccas besaß, als er die Wege von so vielen verschiedenen Leuten sich kreuzen ließ«, sagte Ingrimmsch irgendwann.
»Wie meinst du das?« Der Zwerg verblüffte Tungdil mit Überlegungen, die er ihm nicht zugetraut hätte.
Er wandte ihm sein mittlerweile tief gebräuntes, bärtiges Zwergengesicht zu. »Jeder von uns hat seine Aufgabe zu leisten, um die Feuerklinge zu schmieden. Ohne dich hätten wir niemals den Vorsatz gefasst, ohne die Zwerge hätten wir sie niemals schaffen können, ohne den Schauspieler wären wir nicht lebend durch die Schweineschnauzen gelangt. Furgas repariert die Vorrichtungen, und das Spitzohr wird die Waffe letztlich gegen das Böse führen.« Er setzte sich auf einen Stein. »Wir sind die beste Truppe für diese Expedition …«
»Was ist mit Goïmgar?«
»Mh … Na, ohne ihn hätte Gandogar sein Leben verloren.«
»Du hast dich und deinen Bruder vergessen. Ihr habt uns mit euren Beilen Wege durch die Reihen der Feinde gebahnt, wo andere aufgegeben hätten«, sagte er bestimmt. »Ohne euch wären wir nicht bis zur Esse gelangt.« Er klopfte ihm auf den Rücken.
Ingrimmsch grinste. »Wer hätte gedacht, dass wir aus dem Gelehrten einen echten Zwerg machen? Na, es müssen die guten Veranlagungen sein. Wir haben sie nach der Zeit bei den Langen aus ihrem Schlummer geholt und ordentlich aufpoliert.« Er schlug spielerisch nach ihm. »Du kannst inzwischen sogar richtig gut kämpfen.«
»Meine Veranlagungen«, wiederholte er behutsam. Im Stillen dachte er daran, dass er nach wie vor nicht wusste, welchem Stamm er angehörte.
Boïndil hatte ausnahmsweise ein Gespür für seine Sorgen. »Keine Sorge. Wenn die Vierten dich nicht wollen, nehmen wir dich gern in unsere Reihen auf«, versprach er ihm augenzwinkernd. »Ich wäre immer bereit zu behaupten, dass du der nichteheliche Vetter meiner unbekannten Tante vierunddreißigsten Grades wärst.« Sie lachten.
Giselbart kam von dem Guckloch zurück, durch das er in regelmäßigen Abständen nach draußen blickte, um die Lage zu überprüfen, und seine Miene verhieß nichts Gutes. »Sie haben sich neue Rammböcke gebaut. Dieses Mal könnten sie Erfolg haben, fürchte ich.«
»Gibt es einen anderen Weg hinaus?«, erkundigte sich Tungdil. »Der Trick mit dem falschen Magus wird nicht noch einmal funktionieren.« Sein Blick fiel auf den Abzug der Esse. »Was ist damit?«
»Ho, der Gelehrte hat einfach die besten Gedanken«, lobte ihn Ingrimmsch.
»Es könnte gelingen, aber es wird ein schwieriger Aufstieg.«
»Den wir meistern«, sagte Tungdil sofort. »Nichts wird uns mehr daran hindern, das Geborgene Land zu befreien, schon gar nicht jetzt, wo wir die Feuerklinge so gut wie fertig geschmiedet haben.«
Es krachte, als wollte der Berg über ihnen einstürzen.
Das Portal erbebte, Gesteinsbrocken rieselten herab, und das Metall der Torflügel gab einen leidenden Laut von sich. Der Angriff hatte begonnen.
Drei Sonnenumläufe lang dröhnte unablässig der Schlag gegen das Portal durch die Schmiede, und die Anstrengungen der Bestien zeigten Erfolge. Das harte Eisen des Tores hatte sich verbogen, und an manchen Stellen war es kurz davor zu bersten und der enormen Gewalt nachzugeben.
Tungdil schuftete inzwischen auch an der Esse und schmiedete Eisenstangen, um sie auf der Rückseite der Türflügel zu befestigen und diese damit zu stabilisieren, was auf Dauer jedoch nicht gegen die Bemühungen der Angreifer ausreichen würde.
Balyndis kam indessen gut voran und stand vor dem Abschluss der Grobarbeiten. Giselbart trieb die Linien für die Intarsien und die Runen in den warmen Stahl. Gandogar hatte seine Edelsteine an der notdürftig eingerichteten Schleifbank in Form gebracht und sie spitz zulaufen lassen, damit sie sich bei einem Schlag durch die Haut des Magus bohrten. Die Widerhaken, die Bavragor aus schwarzem Granit formte, waren so lang wie der Zeigefinger einer Männerhand geworden und standen bereit, eingesetzt zu werden.
Das Stück Sigurdazienholz wurde von Tungdil nach Narmoras Anweisungen in Form gebracht. Mit Eisensäge, Feile und Schleifstein passten sie das Holz, das sich beinahe so hart wie Metall verhielt, ihren Fingern an. Das Glattschleifen überließ er ihr und kümmerte sich sogleich wieder um die Verstrebungen am Tor. Nach vier Sonnenumläufen waren die Widerhaken eingesetzt, und die Diamanten wurden entlang der Schneide in den erhitzten Stahl eingebracht.
Balyndis arbeitete hoch konzentriert, jeder Schlag musste sitzen, das Material kannte keine Nachsicht mit ihr. Täte sie nur einen falschen Handgriff an entscheidender Stelle, wäre die Feuerklinge verloren, und sie müssten von vorn beginnen. Diese Zeit aber besaßen sie nicht. Das stete, glockentonartige Rumpeln machte es den Handwerkern nicht leicht, ihre Gedanken beisammenzuhalten.
Giselbart bereitete sich darauf vor, die Edelmetalle zu einer einzigen Legierung zu schmelzen, was in einer normalen Glut nicht gelingen würde. Der Vorgang faszinierte die Zwerge, sie standen staunend um die Schmelzgefäße, in denen dunkelgelbes Gold, schimmerndes Silber, rotgelbes Vraccassium, weißliches Palandium und das münzgroße Stück schwarzes Tionium brodelten.
Nacheinander nahm er die Behältnisse und schüttete die Flüssigkeiten behutsam in die glockenförmige Gussbirne, ein Gefäß, das im Inneren mit gepresstem Sand ausgekleidet war. Als er das schwarze Metall einfüllte, zischte es unheilvoll; seine Bosheit, die es von seinem Schöpfer Tion erhalten hatte, verband sich schwer mit der Reinheit des Palandiums.
Da krachte es wieder, Eisenträger gaben aufkreischend nach, und der Rammbock schob einen Flügel einen halben Schritt weit auf. Sofort quetschte sich ein Bogglin hindurch und schaute sich mit großen Augen um. Er fiepte aufgeregt.
»Ho, du kleines hässliches Ferkel!«, begrüßte Ingrimmsch ihn glücklich und rannte los. Endlich erhielt er wieder die Gelegenheit, seiner Wut freien Lauf zu lassen. »Zum Lohn für deinen Mut erhältst du eines meiner Beile!«
»Ihm nach«, befahl Tungdil rasch. »Narmora, du bleibst zurück.« Balyndis und Giselbart, Andôkai und Djerůn begaben sich zum Portal, um Boïndil, wenn auch gegen seinen Willen, gegen die ersten Widersacher beizustehen.
Die Säulen krachten weiter und heftiger gegen das Tor. Schon sahen die Bestien die Stunde des Sieges näher rücken und verdreifachten ihre Anstrengungen. Dann war der Spalt breit genug, dass ein Ork hindurchpasste. Pfeile flogen zu ihnen herein, fügten ihnen aber glücklicherweise nicht mehr als Kratzer zu.
Tungdil erkannte, dass sie die Bresche halten würden, wenn der Durchgang nicht breiter werden würde. Ich treibe euch mit Drachenfeuer zurück. Er rannte zur Esse Drachenbrodem, warf noch mehr Kohlen darauf und fachte die Glut mit dem Blasebalg unaufhörlich an, bis sie grellweiß glühte.
Schnell gab er ein paar Schaufeln der feinsten Stücke in eine fahrbare Esse und rollte damit zum Eingang. Entschlossen nahm er eine ordentliche Schippe voll davon und schleuderte sie mit Schwung über die Köpfe und Schilde der ersten gegnerischen Reihe.
Der feurige Regen prasselte auf die Bestien nieder und fiel auch durch die Ringe der Kettenhemden; er rieselte in den Nacken hinab und traf die Gesichter der Ungeheuer. Lautes Schmerzengeheul setzte ein, das sich nach der zweiten Ladung verstärkte. Es stank nach schmorendem Leder, verbrannten Haaren und kokelnder Haut. Kaum hoben die Orks die Schilde, um sich dagegen zu schützen, schlugen ihnen die Zwerge die Äxte und Hämmer in den Unterleib.
Furgas eilte mit Nachschub heran, bis sich die Orks zurückzogen und darauf beschränkten, wieder Pfeile abzuschießen.
»Es wird nicht lange dauern, und sie bauen einen Schildwall«, schätzte Andôkai. »Wir müssen weg. Früher oder später gelangen sie in die Schmiede.«
Gemeinsam versuchten sie den Eingang zu verschließen, doch die Bestien waren schlau genug, Keile einzuschlagen, die dies verhinderten.
Andôkai hat Recht. Wir sollten besser gleich von hier verschwinden. Tungdil kehrte zur Esse zurück. »Wie lange braucht es, bis die Legierung fertig ist?«, wollte er von Giselbart wissen.
»Sie muss einen halben Umlauf kochen, damit sich das Tionium mit dem Palandium verbindet, nur dann werden die anderen Metalle in das Gemenge aufgenommen«, erklärte er. »Danach kann ich die Rillen ausgießen, doch es wird lange dauern, bis es abgekühlt ist. Hält das Tor?«
»Es muss«, knurrte Tungdil entschlossen. »Und es wird.«
Nôd’onns Diener aber gaben keine Ruhe mehr. Sie stürmten unentwegt, und es kam, wie die Maga es vorausgesagt hatte. Sie formten einen Schildwall über ihren Köpfen gegen die glühende Kohle, während sie erneut angriffen.
Zwei Zwergen aus dem Stamm der Fünften schlugen sie die Häupter ab und töteten sie damit endgültig. Die Zahl der Verteidiger sank gefährlich, und ein neuer Rammbock nahm seine Arbeit auf. Das Böse selbst, der Schrecken aus dem Norden, peitschte sie an.
»Es ist so weit.« Nach langem, zermürbendem Warten begann Giselbart die vorgeprägten Linien und zwergischen Symbole mit dem Gemenge aus den Metallen des Berges zu füllen. Die Flüssigkeit war von einer Farbe, die Tungdil nicht bestimmen konnte; es war ein Zwischenton aus Orange und Gelb mit einem seltsamen Funkeln und schwarzen Punkten darin. Wie Wasser rann sie in die vorgesehenen Stellen, als wüsste sie von selbst, wohin sie gehörte. Die Menge ging genau auf, nichts war zu wenig oder zu viel.
»Geschafft«, atmete der Stammvater auf. »Nun wird es einen halben Umlauf dauern, bis es ausgekühlt ist. Danach können wir den Kopf auf den Griff setzen und verkeilen. Es …«
Der Rammbock durchbrach das geschundene Eisen am Tor. Hastig zogen die Angreifer das Säulenende wieder heraus und stießen kurz darauf ein Stück oberhalb des Lochs erneut zu, um die fassgroße Lücke zu erweitern. Sie bauten sich einen zweiten Eingang.
Tungdil atmete tief ein. Seine Arme taten weh, er hatte Hunger wie noch nie zuvor in seinem Leben, und am liebsten hätte er einen ganzen Umlauf lang geschlafen. Dennoch hob er die Axt. »Halten wir sie auf, bis das Metall sich abgekühlt hat.«
Er ignorierte seine Schmerzen im Rücken und in den Schultern, da er als ihr Anführer ein gutes Beispiel geben wollte. Gandogar unterwarf sich vorbildlich seinen Anweisungen und fügte sich als Teil der Gruppe ein, ohne die Führung für sich zu beanspruchen. Das rechnete Tungdil ihm hoch an.
»Oink, oink!«, brüllte Ingrimmsch, dessen Begeisterung am Kampf niemals zu enden schien, und hackte auf die eindringenden Orks ein, dass die Splitter ihrer Rüstungen und die Fetzen ihres Fleisches nur so flogen.
Doch auch sein Einsatz vermochte immer weniger auszurichten. Je länger der Kampf dauerte, umso mehr gewannen die Angreifer die Oberhand. Nur Djerůn und den kaum zu überwindenden Fünften war es zu verdanken, dass sie das inzwischen zu einem Drittel geöffnete Tor überhaupt noch gegen die Horden hielten. Die Zeit arbeitete gegen sie.
Giselbart erschien an Tungdils Seite. »Ihr könnt gehen, die Intarsien der Feuerklinge sind erkaltet genug.« Er hob seine Axt. »Wir halten sie so lange auf, bis ihr weit genug in den Abzug gestiegen seid, danach schließen wir die Abzugsklappen und zerstören den Mechanismus. Das sollte ausreichen, um euch einen entsprechenden Vorsprung zu verschaffen. Bis sie die Klappen von Hand geöffnet haben, werden Sonnenumläufe vergehen.«
Er nickte und befahl seinen Freunden den Rückzug.
Der fertig gestellte Axtkopf lag auf dem großen Amboss und leuchtete im Schein von Drachenbrodem geheimnisvoll. Die Diamanten funkelten, die Einlegearbeiten und Runen schimmerten warm und pulsierten beseelt vom Feuer der Esse.
»Seht, was wir mit dem Segen von Vraccas möglich gemacht haben.« Voller Respekt betrachtete Tungdil das gemeinsame Werk.
»Und nun vollenden wir es«, sagte er feierlich zu Balyndis, die den Griff nahm und ihn in die unterarmlange geschlossene Halterung schob. Ihr Gesicht wurde bleich.
»Vraccas stehe uns bei, es ist zu klein«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wir haben zu viel abgeschnitten, das Holz wackelt, es passt nicht! Beim ersten Schlag fliegt der Kopf davon. Ich verstehe das nicht, wir haben es genau …«
Nacheinander leuchteten die Runen auf. Stiel und Stahl erstrahlten, dann verdickte sich das Holz von selbst, es knackte und knirschte und presste sich in den Hohlraum, bis es mit dem Eisenkopf eine Einheit bildete.
Tungdil nahm dies als Zeichen, dass sie ihre Aufgabe zur Zufriedenheit ihres Gottes bewältigt hatten. Seine Finger glitten über das Metall, es war ein gutes Gefühl. Nur widerstrebend reichte er die Feuerklinge an Narmora weiter; am liebsten hätte er die Axt selbst geführt.
Giselbart griff nach der Waffe. »Darf ich?«, fragte er mit bebender Stimme.
»Sicher. Ohne euch wäre sie nicht geschmiedet worden.«
Der Stammvater der Fünften hielt sie zunächst nur ehrfürchtig, ehe er einige Probeschwünge damit vollführte und sie feierlich der Halbalbin übergab.
»Nun ergibt es einen Sinn … all die Zyklen des Ausharrens, des Kampfes, die Qualen des Untodes«, sprach er bewegt. »Vraccas sei Dank und Ehre.« Er reichte ihnen allen die Hand, Tungdils Finger hielt er etwas länger. »Besiedelt die Hallen neu, wenn ihr das Böse aus dem Geborgenen Land vertrieben habt. Lasst das Fünfte Zwergenreich nicht länger von Bestien beherrscht sein.« Seine Augen wurden durchdringend. »Versprich es mir, Tungdil Goldhand!«
Er konnte nicht anders, er nickte, gebannt von den erschreckend fanatischen Augen des Stammvaters der Fünften.
Giselbart nahm seinen diamantbesetzten Waffengurt ab und legte ihn dem Zwerg um. »Behalte ihn als Andenken an die Fünften und verbreite die Kunde, dass wir unser Reich bis zum letzten Mann verteidigt haben, über unseren Tod hinaus.«
Tungdil schluckte. »Dein Geschenk ist zu viel der Ehre.«
»Es gebührt dir, nach allem, was ich hörte und sah, wie keinem anderen.« Sie umarmten sich wie Freunde, dann stand der Abschied bevor.
»Wir gehen«, wies Tungdil sie an. Er schaute zu den schmalen Treppen, die nach oben zum Eingang des Schlotes führten und in der Dunkelheit verschwanden, und danach zum Tor, wo die letzten Fünften einen harten Kampf gegen die Orks fochten.
»Und was wird aus euch?«, wollte Boïndil von Giselbart wissen.
Der reckte sich und schaute zum Portal. »Wir bleiben und verteidigen eure Flucht, bis sie uns überwältigen und endlich die Köpfe abschlagen, damit unser Dasein beendet ist«, verkündete er voller Stolz. »Geht! Die Stufen werden im oberen Teil des Kamins schmaler, Djerůn wird aufpassen müssen, damit er nicht fehltritt und stürzt.«
Narmora setzte sich an die Spitze, um mit ihrer Geschicklichkeit die Festigkeit der Stufen zu prüfen, danach folgten die Menschen und Zwerge; der Krieger bildete den Schluss. Nur Bavragor stand neben der Esse, einen neuen Kriegshammer gepackt, und rührte sich nicht.
»Kommst du?«, bat ihn Tungdil behutsam.
Er schüttelte den Kopf. »Ich sagte, dass ich auszog, um niemals mehr zurückzukehren und ein ruhmreiches Ende zu finden. Es ist so weit. Ich bin dort angekommen, wo ich hinwollte.« Er blieb völlig gelassen; die Unruhe, an der er seit seiner Verwandlung in einen Untoten litt, fiel von ihm ab. Sein rotbraunes Auge richtete sich auf Tungdil. »Ich danke dir, dass du mich mitgenommen hast und an dem Unterfangen teilhaben ließest.«
»Ich gab dir mein Wort.«
»Du hättest es jederzeit zurückziehen können, niemand hätte es dir übel genommen, wenn du den singenden Säufer abgelehnt hättest, doch du tatest es nicht.« Er kam näher und blickte ihm ins Gesicht. »Ich habe mein Lebenswerk mit einer Arbeit abgeschlossen, die von keinem anderen übertroffen werden kann. Jedenfalls hoffe ich, dass man keine zweite Feuerklinge mehr im Geborgenen Land benötigen wird.«
»Du lässt dich nicht mehr umstimmen, Freund?«
Bavragor lachte, es war ein freundlicher Klang, in dem die alte Heiterkeit seiner Lieder wohnte. »Zwerg sein und sich umstimmen lassen, passt das zusammen? Meine Entscheidung fiel vor etlichen Umläufen.« Er nickte in Richtung des Tores. »Ich muss zu ihnen. Mein Tod vollzieht sich in der Gemeinsamkeit mit den Ahnen der Fünften, den Ehrwürdigsten und Ältesten unseres Volkes. Was kann ich noch mehr verlangen?« Seine schwieligen Finger schlossen sich um Tungdils. »Du bist ein guter Zwerg, nur darauf kommt es an, nicht auf die Abstammung. Vergiss mich nicht. Und den kleinen Schimmerbart auch nicht.«
Sie umarmten sich, und Tungdil schämte sich seiner Tränen nicht. Er ließ einen weiteren Freund zurück, den er in diesem Leben nicht mehr sehen würde.
»Wie könnte ich? Nein, Bavragor Hammerfaust, ich werde dich nicht vergessen.« Er bedachte das Grab Goïmgars mit einem langen Blick. »Ich werde keinen von euch vergessen.«
Der Steinmetz lächelte ihm zu und stapfte zum Tor, um den Fünften beizustehen. Nach zwei Schritten blieb er noch einmal stehen, sein Auge suchte Ingrimmsch. »Richte Boïndil aus, dass ich ihm seine Tat vergebe«, sagte er leise.
Tungdil sah ihn überrascht an. »Er wird es mir nicht glauben, wenn ich es ihm einfach nur so sage. Er wird denken, ich hätte es mir ausgedacht, um seinem Gewissen Erleichterung zu verschaffen.«
»Dann sage ihm, ich hätte verstanden, dass er meine Schwester ebenso sehr liebte wie ich. Ich habe es gehasst, sie zu verlieren. Da ich den Umstand nicht hassen konnte, hasste ich den, der die Axt führte. Trauer und Schmerz wurden durch Hass verdrängt, so war es leichter zu leben. Ich wusste immer, dass es ein Unfall war und dass er sie geliebt hat.« Er lachte leise. »Der Tod scheint weiser zu machen, Tungdil. Vraccas sei mit euch und vor allem mit dir.«
Mit einem Lied auf den Lippen stürzte er sich gegen die Übermacht; sein Streithammer zerschmetterte das Knie eines Orks und kurz darauf dessen Schädel, und sein Gesang riss dabei nicht ab.
Tungdil schluckte und folgte den Gefährten, die sich inzwischen schon weit nach oben gearbeitet hatte. Narmora schickte sich soeben an, den Schlot zu betreten.
Die Lieder Bavragors begleiteten sie lange bei ihrem Aufstieg in den dunklen Schacht hinauf, bis Giselbart die Vorrichtungen in Gang setzte und sich die schweren Stahlplatten vor den Abzug schoben. Danach ertönte ein klirrendes Geräusch, Ketten rasselten und wickelten sich ab, der Mechanismus war zerstört.
Als das Rasseln endete, hörten sie Bavragor immer noch, viel gedämpfter und leiser, doch er war noch da.
Sie schwiegen und lauschten kletternd seinen Gesängen, die vom Heldentum der Zwerge und der Glorie des Krieges gegen die Orks handelten. Er verhöhnte die Übermacht, er reizte und provozierte sie, lockte sie in den Tod.
Dann verstummte seine Stimme.
»Es ist alles frei. Wir und die Berge sind weit und breit die Einzigen«, rief Narmora hinab. Tungdil sah kurz ihre schlanke Silhouette, die sich als schwarzer Umriss vom Hellgrau des Himmels abhob, dann verschwand sie wieder.
Einer nach dem anderen schoben sie sich aus dem Schlot, der an seinem oberen Ende breit genug war, um ein kleines Haus darin verschwinden zu lassen.
Der Zwerg erklomm die letzten Stufen mit müden, schweren Beinen. Bei dreitausend hatte er aufgehört, die dunkelgrauen, vom Ruß verschmierten Stiegen zu zählen, die sich an den Wänden des Kamins in die Höhe schraubten. Ihr Aufstieg war gelungen, niemand von ihnen war ausgerutscht oder in Gefahr geraten abzustürzen; selbst Djerůn hatte trotz seiner Rüstung keine Schwierigkeiten gehabt.
Wir sind entkommen. Tungdil verließ den Schutz des Rauchabzugs und stand auf einer schneebedeckten Erhebung inmitten des Grauen Gebirges. Der eisige Wind spielte mit seinem Bart und ließ den Zwerg schaudern.
Die Aussicht auf die unzähligen Schluchten und Täler brachte ihn zum Staunen. Er betrachtete den mächtigen Gipfel der Großen Klinge, er sah die Spitze der legendären Drachenzunge und die schroffen Abhänge der Goldwand. Erhaben und majestätisch wuchsen sie in die Wolken, windumtost, schneeverweht, ewig während. Gewaltsam riss er sich von dem Panorama los, das wohl nur die Wenigsten in dieser einzigartigen Weise zu Gesicht bekamen.
Tungdil schickte die Halbalbin als Späherin vor. Diese Entscheidung fiel ihm nicht leicht: Auf der einen Seite war sie zu bedeutend, um sie in Gefahr zu bringen, auf der anderen Seite verfügte sie über die besten Voraussetzungen, sich auf unsicherem Gebiet eher gefahrlos zu bewegen. Ihr schien es weitaus weniger auszumachen als Furgas, der vor Sorge beinahe krank wurde. Und so stapften sie auf der Route, die Narmora ihnen vorgab, durch den Schnee.
Es ging über glitzernde Gletscherbrücken hinweg, vorbei an Steilwänden, die senkrecht in die Höhe aufragten, und tiefen Abgründen. Mitunter mussten sie über abgegangene Gerölllawinen steigen oder unter Steinbogen durchwandern, die aussahen, als ob sie sogleich einstürzten.
Noch immer sprachen sie kein Wort, die Müdigkeit und das Erlebte lähmten ihre Zungen, und jeder konzentrierte sich einzig darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht zu straucheln.
In Gedanken war Tungdil bei Giselbart und Bavragor. Er sah sie gegen die Orks und Albae kämpfen, und wenn er die Augen schloss und sich konzentrierte, hörte er den Gesang des Steinmetzen noch immer. Der singende Säufer, dachte er traurig.
Abends drängten sie sich in eine Höhle, in der sie Schutz vor dem zunehmenden Wind suchten, und entzündeten eine Fackel, die Licht spendete. Ingrimmsch schien die Kälte nichts auszumachen. Andôkai schüttelte die Schneeschicht von ihrem Mantel ab, zog ihn enger um sich und lehnte sich ermattet gegen den nackten Felsen. Fluchend schloss sie die blauen Augen.
»Ich muss so schnell wie möglich wieder auf ein Stück Land, in dem sich ein magisches Feld befindet«, sagte sie und brach damit das anhaltende Schweigen. »Meine Kräfte sind aufgezehrt. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas geschehen kann. Es ist kein sehr angenehmes Gefühl.«
»Und vor allem brauchen wir Eure Magie sicherlich noch.« Tungdil nahm fröstelnd den Plan zur Hand, auf dem die unterschiedlichen Eingänge eingezeichnet waren. »Da Nôd’onn um die Tunnel weiß, wird es schwierig. Er kann sich denken, dass wir sie benutzen wollen, um nach Hause zurückzukehren.« Sein aufmerksamer Blick wanderte über die Zeichnung und blieb an einem Einstiegspunkt hängen, der sich zweihundert Meilen von ihnen entfernt befand. Das ist es! Damit rechnet er nicht. »Wir gehen nach Âlandur.«
»Was? Zu den Spitzohren?!«, begehrte Boïndil auf, der sich gerade vorsichtig das Eis aus dem Bart rieb. »Warum?«
»Der Tunneleingang liegt in dem Teil des Elbenreiches, der vermutlich noch nicht gefallen ist«, erklärte er seine Entscheidung. »Und wir werden sie bitten, mit uns gegen Nôd’onn zu ziehen, wie Großkönig Gundrabur es wollte. Oder hast du einen besseren Vorschlag, Boïndil?«
»Nein«, gab Ingrimmsch zögernd zu. »Ich … muss mich nur erst an den Gedanken gewöhnen. Es sind unsere Feinde … an und für sich.«
»Mir ergeht es nicht anders.« Balyndis nickte zustimmend und reckte die Hände gegen die Flamme der Fackel.
»Es ist erstaunlich, wie einfach es einem fällt, etwas nicht zu mögen«, merkte Rodario philosophisch an und drückte auf seinem Bauch herum, aus dem laute Knurrgeräusche drangen. Er hatte großen Hunger, und niemand in der Höhle erging es anders. In seiner Not brach er sich einen Eiszapfen ab und lutschte daran.
»Die Götter haben uns zu verschieden gemacht. Sitalia, die Schöpferin der Elben, ließ die Spitzohren das Oberirdische und das Grün lieben, Vraccas gab uns die Höhlenwelten der Berge.« Die Schmiedin zog die Beine an. »Sie schauen auf uns herab, sie verachten uns, weil wir nicht so schön sind wie sie.«
»Und dafür verachtet ihr sie?«, schätzte der Schauspieler. »Also muss nur einer mit dem Verachten aufhören, und schon hat der andere keinen Grund mehr. So einfach ist das, Feindschaft beendet.« Er grinste und hielt sich die verletzte Stelle. »Verfluchter Ork! Habt ihr noch Feinde, wo meine Beratung euch helfen könnte?«
»Die Dritten«, sagte Ingrimmsch langsam. »Der Stamm Lorimbur, wie du von Giselbart gehört hast. Aber mit ihnen werde ich niemals Frieden schließen.« Seine Faust ballte sich. »Jetzt erst recht nicht, wo ich die Wahrheit über den Untergang der Fünften erfahren habe.«
Rodario setzte sich aufrecht gegen die Wand. »Und was hat es mit dieser Feindschaft auf sich? Wir Menschen wissen leider viel zu wenig über die Zwerge, wie ich merke.« Er nahm sein Schreibzeug zur Hand. »Aber bitte nur die kurze Fassung, meine Tinte ist bald leer.«
Balyndis grinste. »Wir hassen sie.«
Seine Feder verharrte. »Das war zu kurz, begnadete Schmiedin aus dem Stamm der Ersten«, lächelte er hinreißend.
»Das dachte ich mir fast.« Und sie hob an, die ganze Geschichte zu erzählen.
»Vraccas schuf die Stammväter der Fünf Stämme, und ein jeder von ihnen erhielt von ihm einen Namen. Aber der Begründer des Dritten Stammes wollte seinen Namen nicht und wählte sich einen eigenen. Fortan nannte er sich Lorimbur.
Vraccas erteilte jedem der vier Stämme eine besondere Gabe, die Zünfte der Steinmetzen, Edelsteinschleifer, Eisenschmiede und Goldschmiede entstanden. Aber zu Lorimbur sagte er: ›Du hast dir deinen Namen selbst gesucht, also lerne selbst, etwas zu tun. Von mir wirst du keine Gabe mehr erhalten‹
Lorimbur gab sich Mühe, etwas zu erlernen, ging bei seinen vier Brüdern in die Lehre, doch nichts wollte ihm gelingen. Das Eisen zersprang, das Gold verbrannte, die Edelsteine splitterten, und der Stein zerbarst unter seinen Fingern.
Und so wurde er eifersüchtig auf seine Brüder. In seinem heimtückischen Herzen erwuchs der Hass gegen alle Zwerge.
Im Verborgenen widmete er sich allein der Kampfeskunst. Nicht nur, um Feinde des Geborgenen Landes zu erschlagen, sondern auch um darin der Beste von allen zu werden und sie auszurotten, damit es keinen mehr seiner Art gab, der besser war als er.«
Rodario schrieb alles mit. »Das ist großes Theater«, murmelte er vor sich hin. »Das ist Stoff für die nächsten einhundert Zyklen.«
Balyndis räusperte sich. »Nun weißt du, warum wir die Dritten fürchten. Ihnen ist nicht zu trauen.«
Andôkai versuchte, eine bequemere Haltung am Felsen einzunehmen. »Die Dritten sind mir im Augenblick gleichgültig. Die Elben sind es, die sich zunächst von uns überzeugen lassen müssen«, sagte sie. »Ihr Fürst Liútasil ist bekannt dafür, dass er keine neuen Freundschaften schließt. Dass ausgerechnet Zwerge ihn um Beistand bitten, wird es nicht einfacher machen.« Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Tungdil lächelte, die Schatten betrachtend, die sie im Schein der Fackel warfen. »Ich habe durch unsere Reise gelernt, dass vieles möglich ist, an das ich zuerst nicht geglaubt habe. Das gibt mir Zuversicht, bei den Elben erfolgreich zu sein.«
Balyndis ließ sich von Narmora die Feuerklinge geben. Vorsichtig entfernte sie mit der Feile überstehende Reste der Einlegearbeiten, danach begann sie das Metall zu polieren. Fasziniert schaute Tungdil ihr dabei zu, bis sie ihre Tätigkeit unterbrach.
»Meine Finger«, sagte sie entschuldigend. »Es ist zu kalt, um genau zu arbeiten.«
Er äugte zu Furgas und Narmora, die sich unter die Decke verkrochen hatten. »Du kannst gern näher zu mir kommen, wenn dir kalt ist«, bot er ihr an. Sein Mund wurde plötzlich trocken.
Sie rutschte zu ihm und drückte sich an ihn. »Warm wie an einer Esse«, seufzte sie zufrieden.
Vorsichtig legte er ihr einen Arm um die Schulter. Balyndis’ Nähe schenkte ihm ein mehr als gutes Gefühl.
Sie wanderten sehr schnell, und sobald sich das Gelände dazu anbot, verfielen sie in Laufmarsch und durchquerten die südlichen Ausläufer des Grauen Gebirges zügig. Bald kamen sie in den hügeligen Teil Gauragars und ließen die mächtigen Gipfel hinter sich.
Zur Unterhaltung blieb ihnen kaum Gelegenheit, das Laufen strengte sie zu sehr an. Als Tungdil Ingrimmsch die letzten Worte Bavragors ausrichtete, sagte der Krieger nichts, aber seine Lippen wurden zu dünnen Strichen, und seine Augen schimmerten feucht.
Unterwegs umgingen sie Siedlungen so weit es ging, nur einmal schickten sie Furgas und Rodario als fahrende Schuhflicker zu einem Gehöft, um Proviant zu kaufen. Rodario hätte sich lieber als verarmter Adeliger ausgegeben, doch Tungdil bestand darauf, dass sie so wenig Aufsehen wie möglich erregten.
Es schmeckte nicht sonderlich gut; das Tote Land verdarb das kümmerliche Getreide, die verschrumpelten Winteräpfel und das harte Brot lagen wie Blei in ihren Mägen, aber es reichte aus, um ihnen einen Teil ihrer körperlichen Kräfte zurückzugeben. Ihren Durst stillten sie mit geschmolzenem Schnee, dessen Geschmack besser war als das Wasser aus dem Boden.
Djerůn erlegte eine ausgezehrte Hirschkuh, deren Fleisch sie nach kurzem Rösten über dem Feuer hungrig verschlangen. Den schimmeligen Beigeschmack versuchten sie zu ignorieren.
Orks trafen sie keine mehr. Aus der Freude darüber wurde nach sieben Sonnenumläufen offene Verwunderung; nicht einmal ein Bogglin kreuzte ihren Weg, obwohl sie sich auf dem Terrain des Toten Landes befanden.
Es sollte eigentlich von Ungeheuern nur so wimmeln. Das erschien Tungdil derart merkwürdig, dass er Furgas und Rodario in eine Stadt schickte, um in Erfahrung zu bringen, was sich zutrug.
Sie kehrten mit erschreckenden Neuigkeiten zurück.
»Sie wurden abberufen«, sagte der Mime und unterstützte seine Erzählung wie immer gestenreich, um die passende Theatralik zu erreichen. »Die Lager, in denen die Orks sich auf die Eroberung der Menschenreiche sammelten, stehen leer, weil sie zu tausenden nach Süden marschieren. Es geht um die Einnahme einer Felsenfestung, hat man uns berichtet.« Er machte ein angestrengtes Gesicht. »Verflucht, wie hieß der Ort noch gleich?«
»Im Süden? Dann kann es nur Ogertod gewesen sein«, rief Ingrimmsch aufgeregt. »Ha, die Schweinchen brauchen tausende, um das Reich der Zweiten niederzuwerfen, habt ihr das gehört?! Oh, ich wäre gern dort, um unseren Brüdern und Schwestern zu helfen!«
»Nein, der Name war es nicht«, widersprach Rodario zu ihrem Erstaunen. »Dunkel … Braun … Verdammich, dabei konnte ich meine Texte stets memorieren. Es hatte etwas mit Ochsen zu tun.« Er fuchtelte mit den Händen. »Schnell, das Ding, das man über ihre Nacken legt.«
»Joch!«, riet Balyndis.
Tungdil fügte sich den Rest zusammen. »Das Schwarzjoch! Sie belagern das Schwarzjoch!«
Andôkai grübelte. »Das sagt mir nichts. Was hat es damit auf sich?«
»Es ist ein Tafelberg, den die Dritten in eine Festung verwandelten, um gegen die anderen Zwergenstämme Krieg zu führen. Der Berg liegt mitten im Geborgenen Land.« Aber wozu brauchen sie die vielen Orks?
»Vielleicht haben sich bedeutende Menschen dorthin geflüchtet, die Nôd’onn unbedingt in seine Hand bekommen möchte?«, schlug Narmora vor. »Die Könige von Gauragar und Idoslân vielleicht?«
Tungdil erinnerte sich, dass er Balendilín und Gundrabur von seiner Entdeckung berichtet hatte, konnte sich aber nicht erklären, weshalb sie sich an den verfluchten Ort begeben hatten. »Wir schauen nach, was sie am Schwarzjoch wollen, es liegt ohnehin auf unserer Strecke.«
Sie marschierten weiter.
Nach zwölf Sonnenumläufen seit ihrem Aufbruch aus dem Reich der Fünften betraten sie den Boden Âlandurs. Dazu brauchte Tungdil nicht einmal in die Karte zu schauen, die Natur zeigte es ihnen.
Sie durchliefen ein flaches, schneebedecktes Tal und sahen von weitem das satte Grün der Buchen, Eichen und Ahorne; davor stand eine schützende Wand aus Nadelbäumen. Der Anblick der intensiven Farben und lebendigen Pflanzen bewies ihnen, dass das letzte der Elbenreiche entgegen aller Gerüchte nicht gegen die Horden Nôd’onns gefallen war und sich unbeugsam hielt. Die Macht des Toten Landes endete hier.
»Dass ich mich einmal über den Anblick von Bäumen freuen würde«, meinte Ingrimmsch. Das Wissen, die vielen Tage über in totem Land unterwegs gewesen zu sein, drückte auch auf sein Gemüt. Seine Augen schweiften über die Stämme, die sich eng aneinander reihten, eine natürliche Palisade gegen jegliche Eindringlinge bildend. Sogleich langte er nach seinen Beilen. »Scheint, als müssten wir uns da einen Weg hindurchhacken.«
»Und den Anstoß zum Krieg gegen die Elben geben?«, meinte Andôkai. »Wir gebrauchen keine einzige Waffe, wenn wir den Wald betreten. Unser Eindringen wird nicht lange unbemerkt bleiben.« Auch sie betrachtete das vor ihnen liegende Terrain. »Wir sind bereits bemerkt worden«, verbesserte sie, als vier hoch gewachsene Gestalten aus dem Schutz der Bäume traten. Pfeile lagen schussbereit auf den Sehnen ihrer Langbögen. »Wer möchte mit ihnen reden?«
»Ich«, sagte Tungdil sofort. Er machte einen Schritt nach vorn und legte seine Axt so deutlich ab, dass die Elben es sehen mussten. Dann schritt er langsam auf sie zu.
»Die Wälder Âlandurs haben schon vieles gesehen«, hallte ihm die Stimme eines Wächters entgegen, »aber einen Unterirdischen noch nicht. Bleib stehen. Was willst du?«
Er betrachtete die vier vom Volk des Waldes. Sie trugen weiße Lederrüstungen und weiße Pelzumhänge, an ihrer Seite baumelte ein Schwert. Ihre langen hellen Haare lagen offen auf den Schultern, und für Tungdil sahen sie mit ihren ebenmäßigen Zügen fast gleich aus. Er mochte sie nicht.
»Ich bin Tungdil Goldhand vom Stamm der Vierten und mit meinen Freunden ausgezogen, um die Feuerklinge zu schmieden, die Nôd’onn den Zweifachen vernichten wird«, entgegnete er mit fester Stimme. »Gute Freunde sind bereits für dieses Ziel gestorben. Nun wollten wir darum bitten, dass ihr uns Zugang zu eurem Zuhause gewährt.«
»Wozu? Nôd’onn wirst du hier nicht finden.«
»In eurem Reich gibt es einen Eingang zu einem Höhlenlabyrinth meines Volkes. Wir möchten unter der Erde entlang zum Schwarzjoch«, erklärte er knapp. »Der Magus soll sich dort aufhalten.«
»Und ihr wollt ihn mit der Feuerklinge, was auch immer das sein möge, töten? Ihr Hand voll Krieger?«, fragte der Elb ungläubig. »Ich denke, dass ihr von Nôd’onn geschickt wurdet.«
»Ein feiner Plan wäre das!«, entfuhr es Tungdil aufgebracht, der dem langen Gesicht am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte. »Der Verräter schickt Zwerge zu Spitzohren, sicherlich, bei meinem Bart, das ergibt Sinn. Ihr würdet uns schließlich sofort mit offenen Armen empfangen, weil sich unsere Völker so sehr lieben, und wir könnten uns bei euch leicht einschleichen, um euch an Nôd’onn zu verraten.«
»Hei, der Magus ist gewitzt, was?!«, sagte Balyndis leise und mürrisch, aber nicht leise genug.
Tungdil musste grinsen, und wenn er sich nicht sehr täuschte, so huschte über eines der schlanken, hübschen Elbengesichter ein kleines Lächeln. Er mochte sie trotzdem nicht wirklich leiden. »Was können wir tun, um euch von unseren guten Absichten zu überzeugen?«
Die Elben berieten sich in ihrer Sprache. »Nichts. Ihr werdet warten«, kam die unfreundliche Antwort. »Solltet ihr unser Land betreten wollen, werdet ihr sterben.« Mit diesen Worten verschwanden sie zwischen den mächtigen Stämmen.
»Immerhin«, grinste der Zwilling und kreuzte die Arme vor der breiten Brust. »Wir haben sie verunsichert.«
Sie machten aus der Not eine Tugend und rasteten. Umherliegende Äste dienten ihnen als Brennholz für ein wärmendes Feuer. So verging viel Zeit, und die Sonne senkte sich schon hinter den Tannen herab, als die Elben wieder auftauchten. Sie brachten zwanzig Krieger und einen ranghohen Elbenkämpfer mit sich, wie sie an dessen Rüstung aus schimmerndem Palandium erkannten.
»Meine Späher berichteten mir von einer seltsamen Gruppe und einem noch seltsameren Vorhaben«, sprach er, und Vorsicht schwang in seiner Stimme mit. Sein Antlitz war makellos und eine Spur zu hübsch, sodass er überheblich wirkte. Die offenen dunkelroten Haare rahmten sein Gesicht ein und betonten die dunkelblauen Augen. »Lasst mich sehen, ob ihr die Wahrheit sagt.«
Er hob die Arme, seine Finger formten Zeichen in die Luft, und augenblicklich reagierte Andôkai, in dem sie zu einem Verteidigungsspruch anhob.
Der Elb sah es und brach seine Vorbereitungen verwundert ab. »Ihr scheint in der Lage zu sein, Magie zu nutzen. Dafür kommen nicht viele Kurzlebige infrage. Man berichtete uns, dass sie allesamt das Opfer von Nôd’onn wurden.« Er musterte sie. »Euer Äußeres gleicht der Frau, die man Andôkai nannte.«
»Ich bin Andôkai die Stürmische.« Sie deutete eine Verbeugung an. »Ich wäre in einem magischen Zweikampf kaum eine Herausforderung, Fürst Liútasil, denn unsere Reise schwächte mich.« Sie tippte gegen den Griff ihres Schwertes. »Aber da meine kämpferischen Fertigkeiten über einen gewissen Ruf Verfügungen, wäre ich dazu bereit, mit dir die Klinge zu kreuzen und auf diese Weise meine Echtheit unter Beweis zu stellen.«
Tungdil hob die Augenbrauen. Die Späher haben tatsächlich ihren obersten Herrscher zu uns gebracht.
Liútasil lachte, sanft, freundlich, dennoch überlegen. »Ihr seid die Maga, daran zweifle ich nun nicht mehr, aber trotzdem werde ich mich absichern. Die Albae haben schon zu viele Listen versucht, um uns zu überwinden.« Seine Finger vollführten anmutige Gesten, bis sich ein goldenes Leuchten aus ihnen löste und die Gruppe umhüllte.
Die Erschöpfung, die Tungdil in jedem einzelnen Knochen spürte, verschwand von einem Lidschlag auf den nächsten, selbst sein Hunger verebbte. Dafür hörte er das schmerzerfüllte Aufstöhnen von Narmora und den schrecklichen Laut, den Djerůn am Stadttor von sich gegeben hatte.
Die Elben legten auf sie an, knirschend spannten sich die Sehnen, die Augen nahmen Maß.
Der Fürst ließ die Arme sinken. »Nun, Andôkai, Ihr habt zwei Gefährten unter Euch, denen ich nicht erlauben werde, Âlandurs Wälder zu betreten«, sagte er achtsam.
»Wir wissen, dass sie nicht zu den Geschöpfen Palandiells und Vraccas’ gehören, sondern ihre Vorfahren unter den Kreaturen Tions und Samusins haben«, erhob Tungdil die Stimme. »Sie stehen auf unserer Seite und sind unentbehrlich, um Nôd’onn zu vernichten.« Er deutete auf die Halbalbin. »Sie muss die Feuerklinge führen, und er ist den Kampfkünsten meines Freundes Boïndil beinahe ebenbürtig.« Er griff zu der kleinen Flunkerei, damit sich der Zwerg geschmeichelt fühlte. »Sein Anblick reicht aus, um Ungeheuer in die Flucht zu schlagen.«
Liútasil schwieg und dachte nach, während ein Elb unaufhörlich leise, aber bestimmt auf ihn einredete.
»Ihr seid wirklich eine ungewöhnliche Reisegesellschaft«, sprach er, und am Ton erkannte der Zwerg, dass sich der Elb zu einer für sie guten Entscheidung durchgerungen hatte. »Ich kann daher nicht anders, als euch zu glauben. Ihr sollt nach Âlandur, um in die Tunnel hinabzusteigen.« Er wollte sich abwenden.
Tungdil sah es als Zeichen, einen weiteren Anlauf zu unternehmen. »Fürst Liútasil, verzeiht, dass ich noch einmal das Wort an Euch richte. Wir wissen, dass Euer Reich von den Albae bedroht wird und in arge Bedrängnis geraten ist. Allein werdet Ihr den Untergang Âlandurs nicht aufhalten können, doch wenn Ihr uns helft, Nôd’onn zu besiegen und damit den Herrscher des Toten Landes zu vernichten, habt auch Ihr wieder eine Gelegenheit, Euer Land zurückzuerobern. Wir helfen Euch dabei.«
Ernst blickte der Elb den Zwerg an. »Dein Angebot ehrt dich. Doch um unser Land zurückzuerobern, bedarf es mehr als ein paar Äxte und Beile.«
»Er meinte nicht uns, die Ihr hier seht«, stellte Gandogar richtig. »Er meinte die Clans vom Stamm der Vierten, deren König ich bin. Und auch die Clans der Zweiten werden sich gewiss nicht verweigern, den Albae ihre Schneiden in die Körper zu rammen.«
»Darin haben wir Erfahrung«, fühlte sich Boïndil verpflichtet hinzuzufügen. »Wir haben die Reste Grünhains von ihnen gesäubert.«
Jetzt konnte Liútasil seine Überraschung nicht mehr verbergen. »Ein Zwergenkönig? Nun, bin ich neugierig geworden und will mehr von euch erfahren«, gestand er. »Lasst uns darüber reden, warum erbitterte Feinde der Elben helfen sollten, das Reich ihrer Gegner vor dem Untergang zu bewahren.«
Er schritt voran, die Gruppe folgte ihm, und die Elbeneskorte nahm sie in die Mitte.
»Das war weise«, sagte Tungdil zu Gandogar.
Gandogar lächelte. »Es war das einzig Richtige, auch wenn es mir selbst nicht ganz behagt, aber nur so können wir die Elben davon überzeugen, dass wir die Zwietracht begraben werden.«
Sie schoben sich um die Baumstämme. Nur Djerůn tat sich mit seiner Rüstung schwer hindurchzugelangen. Auf einen elbischen Befehl Liútasils hin neigten sich die Tannen zur Seite und erleichterten ihm das Vorwärtskommen.
Nachdem sie den Wall hinter sich gelassen hatten, betraten sie den dahinterliegenden Laubwald, der seine Blätter trotz des Winters nicht abwarf und dessen Äste unter der Last des Schnees nicht brachen. Stolz zeigten die riesigen Eichen, Buchen und Ahorne ihre Pracht, wie sie zumindest Tungdil und Ingrimmsch aus Grünhain kannten, ehe das Tote Land sich den Forst genommen und den Bäumen den Hass auf das Leben eingegeben hatte.
Sie staunten darüber, wie gewaltig ein Baum werden konnte; zehn ausgewachsene Männer reichten nicht aus, um mit ausgestreckten Armen einen Kreis um einen Stamm zu bilden.
Inmitten des Waldes herrschten Friede und Ruhe, die schlechten Erinnerungen fielen nach und nach von ihnen ab, und mit jedem Schritt, den sie taten, entspannten sie sich.
Gegen Einbruch der Dunkelheit schritten sie auf ein Gebäude zu, das Tungdil an die immensen Hallen seines Volkes erinnerte. Doch hier bildeten die Bäume die Pfeiler, und in zweihundert Schritt Höhe fügten sich die Kronen zu einem schützenden Dach zusammen, das vor Schnee und Regen schützte. Das Licht von unendlich vielen Glühwürmchen sorgte für angenehme Helligkeit.
Die Elben vervollständigten die natürliche Anmut und Erhabenheit der Natur mit ihrer filigranen Architektur. Tungdil erinnerte sich wieder an die geschwungenen Holzbögen und die sorgsam geglätteten Balken mit den vielen elbischen Runen und Zeichen Grünhains.
Der uneroberte Teil Âlandurs war ein Beispiel vollendeter Harmonie. Das Sternenlicht beschien kunstvolle Mosaiken aus hauchdünnen Gold- und Palandiumplättchen zwischen den Stämmen, die funkelten und flirrten. Bald durchschritten sie die Halle aus Bäumen und bewegten sich auf ein Runenmosaik zu, das ihnen mit seiner Pracht den Atem raubte.
»Ich kann die Spitzohren zwar noch immer nicht wirklich leiden, aber das«, meinte Balyndis und zeigte verstohlen auf die Arbeiten, »können sie wirklich gut.«
»Häuser aus Bäumen«, meinte Ingrimmsch zweifelnd. »Ich würde mich darin nicht wohl fühlen. Ein fester Fels über dem Kopf ist mir lieber, er übersteht einen Sturm sicher, und er brennt nicht.«
»Es sei denn, es wäre ein Vulkan«, meinte Rodario besserwisserisch.
»Ein Berg brennt dennoch nicht, es ist die Lava«, korrigierte ihn Tungdil leise.
»Aber was ist denn Lava anderes als …« Der Mime sah den bösen Blick Narmoras und verstummte. »Ein Disput mit einem Zwerg ergibt sowieso keinen Sinn«, fügte er an.
Die Elben, an denen sie vorbeigingen, sahen ihnen staunend hinterher. Niemals begaben sich Zwerge in ihr Reich, und noch niemals hatten sie Zwerge gesehen.
»Sie sehen alle gleich aus«, sprach Boïndil seine Gedanken laut aus, wenn auch in der Sprache seines Volkes. »Lange Gesichter, kein bisschen Bart und diese Eingebildetheit, die ihnen angeboren zu sein scheint. Sie denken sicher, dass das Geborgene Land dankbar sein müsste, dass sie hier leben.« Er schüttelte sich, sein schwarzer Zopf hüpfte hin und her. »Auch wenn sie mit dem Verrat der Fünften nichts zu tun haben, es wird dauern, bis ich mich an sie gewöhnt habe.« Die Schmiedin nickte zustimmend.
Tungdil, die Hände an den Gürtel Giselbarts gelegt, war froh, dass Lot-Ionan ihn aufgezogen hatte; die grundsätzliche Ablehnung gegen die Elben schlummerte zwar in seinem Herzen, doch es fiel ihm weniger schwer, diese Hürde zu überwinden.
Liútasil erreichte seinen hölzernen Thron, der mit Intarsien aus Palandium reich verziert war; Bernstein und Halbedelsteine rundeten das Bild ab. Den Gästen wurden Hocker gebracht, nur Djerůn blieb stehen.
Rodario hörte gar nicht mehr auf zu schreiben, machte Skizzen und bewunderte das Gesehene mit immer neuerlichen Ausrufen. Furgas beschränkte sich auf stilles Staunen, während Narmora sich sichtlich unwohl fühlte; das dunkle Erbe ihrer Mutter machte ihr zu schaffen. Ihre Lippen waren zu dünnen Strichen geworden, sie klammerte sich an die Sitzfläche und wirkte fahrig.
Liútasil gab einige Anweisungen, die zögernd ausgeführt wurden. Schließlich brachte man den mehr als ungewöhnlichen Gästen Brot, Wasser und andere Dinge, die ohne Zweifel zum Essen gedacht waren. Misstrauisch kostete Ingrimmsch.
»Schluck es einfach, ganz egal, ob es dir schmeckt oder nicht«, riet ihm Tungdil scharf. »Wage es nicht, dein Gesicht zu verziehen oder den Bissen auszuspucken.«
In dem faltigen Zwergengesicht, das erste Ansätze von Abscheu gezeigt hatte, entstand ein schiefes Lächeln; Boïndil würgte das, was er im Mund hatte, lautstark hinunter und langte nach dem Wasser, um den Geschmack hinabzuspülen. »Nicht das Gelbe«, warnte er Balyndis leise und beschränkte sich auf das Brot.
Während sie sich stärkten, gesellten sich weitere Elben zu ihnen, die sich rechts und links von ihrem Herrscher auf geschnitzten Stühlen niederließen und sie unverhohlen musterten.
Rodario nahm etwas von dem Wasser, um seine kaum noch vorhandene Tinte zu verdünnen. »So hält sie länger«, zwinkerte er.
»Nun«, hob der Elbenfürst an, »lasst uns über das sprechen, was euch nach Âlandur führte. Wir wollen auch noch die letzte Kleinigkeit eurer Abenteuer erfahren, damit wir eine Entscheidung treffen können. Sprecht die Wahrheit, denn eine Lüge würden wir sofort erkennen.«
Ich muss es schaffen, sie zu überzeugen. Nach einem kurzen Blick in die Runde erhob sich Tungdil. Er schaute in die aufmerksamen Gesichter der Wesen, die bis vor wenigen Sonnenumläufen als ärgste Widersacher seines Volkes angesehen wurden, doch das Treffen mit Giselbart hatte die Lage verändert. Jetzt lag es in seinen Händen, jenes Bündnis zu schmieden, von welchem der Großkönig Gundrabur geträumt hatte. Sei ein Gelehrter, mahnte er sich selbst. Seine Aufregung wuchs, er musste erst einen Schluck Wasser nehmen, dann begann er seinen Bericht, eine Hand an den Gurt des Fünften gelegt.
Er redete und redete, sah die Sterne hinter dem Mosaikfenster wandern, sah, wie aus dem schwarzen Himmel ein dunkelblauer wurde, wie die Gestirne verblassten und der Morgenröte wichen, und als die Sonne sich vollends über dem Geborgenen Land erhob und durch die grauen Schneewolken schien, endete seine Erzählung.
Liútasil hatte seine dunkelblauen Augen nicht einen Moment abgewandt, sondern die ganze Zeit über aufmerksam zugehört. »So wurde aus dem Wettstreit um den Thron des Großkönigs ein viel bedeutenderes Unterfangen«, sagte er langsam. »Ihr habt viel erlebt, man sieht es euren Gesichtern an.«
»Das ist wahr gesprochen, wir haben sehr viel erlebt und überlebt.« Andôkai stand auf, ihre Augen blitzten, ihr stürmisches Temperament ertrug das Warten nicht länger. »Es bleibt uns keine Zeit mehr. Wir haben genug geredet, Fürst Liútasil. Entscheidungen sind zu fällen, um überhaupt noch etwas an den Geschicken unseres Landes verändern zu können.« Sie trat einen Schritt nach vorn und war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst. »Wie entscheidest du dich, Liútasil?« Ihr Blick schweifte herausfordernd über sein feines Antlitz. »Wie entscheiden sich die Elben?«
»Ich fasse es nicht!« Boïndil wollte gar nicht mehr aufhören, sich aufzuregen, und schwang sich in Lore. »Bedenkzeit! Die Spitzohren haben sich Bedenkzeit erbeten! Wenn ich das nur höre! Wie lange wollen sie denn denken? Wenn Nôd’onn gewonnen hat und die Albae ihren Wald niederbrennen, ist es zu spät.« Wütend hieb er gegen den Haltegriff. »Ich könnte vier El… Orks in der Mitte durchhauen!«
Der Großkönig wird enttäuscht sein. Tungdil begab sich ernüchtert neben ihn auf den Sitz. »Mir ergeht es ebenso wie dir«, gestand er. »Ich habe geglaubt, Liútasil setzt sich gegen die Stimmen der Zauderer mit einem Machtwort durch, aber da habe ich mich wohl geirrt.«
Furgas betrachtete derweil die Schienen und lief einige Schritte in den Tunnel, um den Zustand der Gleise zu prüfen. »Es sieht gut aus. Sie sind zwar verrostet, doch ihre Festigkeit haben sie nicht verloren. Die Holzbalken sind hart wie Eisen.« Zufrieden kehrte er zu ihnen zurück und setzte sich neben Narmora. »Unsere Fahrt kann beginnen.«
Sie hatten die Nacht bei den Elben verbracht und in den weichsten Betten geschlafen, die es im Geborgenen Land gab, was den Menschen zwar gefiel, aber den Zwergen bereitete das ungewohnte Lager Kreuzschmerzen. Nach einem einfachen Mahl suchten Tungdil und seine Gefährten den Einstieg zu den Tunneln und fanden ihn; der Öffnungsmechanismus am Felsen, der unter einem dicken Farn verborgen lag, funktionierte tadellos. Sie stiegen hinab und fanden eine einfache Gleisanlage mit vier Loren.
»So.« Rodario verstaute seine Schreibutensilien. »Ich habe den Elben keinen sehr rühmlichen Auftritt in dem Theaterstück verpasst«, verkündete er zufrieden und strahlte. »Das Geborgene Land soll ruhig wissen, dass sie sich aus dem Kampf um die Heimat herausgehalten haben.«
»Immerhin haben wir den Eingang zu dem Tunnel gefunden«, versuchte Balyndis die schlechte Stimmung zu heben.
Ingrimmsch prüfte die Schärfe seiner Beile. »Ja, immerhin. Wir werden sehen, ob wir mit dem Gefährt weit kommen oder ob wir in den Leibern von Schweineschnauzen stecken bleiben, die in den Stollen auf uns warten.« Ein bösartiges Grinsen entstand auf seinem Gesicht. »Das wird endlich wieder ein Schlachtfest nach meinem Geschmack. Ich schlage uns den Weg schon frei.« Wie immer blickte er in solchen Augenblicken zu Djerůn, um ihn wortlos daran zu erinnern, dass der Krieger im Kampf gefälligst die zweite Geige zu spielen habe.
Tungdil betrachtete Narmora, die viel ruhiger wirkte, seit sie Âlandurs Land verlassen hatten. »Geht es wieder?«
Sie lächelte. »Es war zu viel Elbisches um mich herum, das Erbe meiner Mutter machte es mir schwer, mich dort wohl zu fühlen.«
Er räusperte sich. »Bist du … aufgeregt?«
»Weil meine große Stunde näher rückt?« Sie fasste Furgas’ Hand. »Aufregung ist das falsche Wort, noch spüre ich nichts davon. Sie wird kommen, wenn ich dem Magus gegenüberstehe. Läuft alles so, wie wir es geplant haben, müsste es uns gelingen.«
»Genau! Wir preschen mitten durch die hinteren Linien, und ehe sich die Schweineschnauzen erklären können, was geschieht, hackst du dem Zauberer die Axt in den Leib«, meinte Ingrimmsch. »Das ist todsicher.«
»Um ehrlich zu sein, dachte ich an etwas Gewagteres«, offenbarte sie ihr Vorhaben. »Ich werde ich mich als Albin ausgeben, leichter kann es nicht gehen. Auf diese Weise gelange ich an seinen Leibwachen und seinen Famuli vorüber, ohne einen Verdacht zu wecken.«
»Verstehe das nicht falsch«, sagte Andôkai zweifelnd, »aber warum sollte er sich mit einer gewöhnlichen Albin abgeben?«
Narmora zurrte ihr Kopftuch fest. »Mir wird schon etwas einfallen.«
Natürlich! Tungdil grinste, er erinnerte sich an eine Geschichte, die er in Lot-Ionans Bibliothek gelesen hatte. Die Helden nutzten darin einen einfachen, aber wirkungsvollen Trick, der auch bei ihnen funktionieren könnte. »Weil sie ihm Gefangene bringt, auf die er sehnsüchtig wartet.«
»Und wer soll das sein?«, wunderte sich Boïndil, bis ihm der Einfall kam, dass er selbst gemeint sein könnte. »Was? Wir sollen uns in die Hand der Bestien begeben?«, protestierte er. »Bei meinem Bart, nein, wir schlagen uns zu Nôd’onn durch!«
»Ich erinnere dich ungern an das Erlebnis im Reich der Fünften«, schaltete sich Rodario zuckersüß ein, »doch da vermochten deine Beile nichts gegen die Übermacht auszurichten.«
»Eben«, nickte Tungdil. Sieh es ein, mein Freund. »Rodario, Furgas und Andôkai werden sich als Söldner ausgeben, mit deren Hilfe sie uns geschnappt hat. Djerůn wird in der Nähe warten, seine Gestalt würde uns sofort verraten.«
»Der Plan ist riskant, aber gut«, stimmte Andôkai ernst zu. »Ich bin dafür.«
Rodario tippte sich gegen die Unterlippe. »Ich könnte schwören, ich habe von diesem Einfall schon mal irgendwo gelesen.«
»Das Buch hieß Der Tod Herengards und handelte von einem Anschlag. Die Helden gingen genau so vor wie wir und hatten damit Erfolg«, lüftete Tungdil das Geheimnis.
»Du hast es aus einem Buch?«, begehrte Boïndil auf. »Ich …«
»Ich sagte doch schon bei unserem ersten Zusammentreffen, dass Lesen wichtig ist, erinnerst du dich?«, feixte er und schlug ihm auf die Schulter. »Jetzt siehst du, was ich gemeint habe. Stimmen wir darüber ab?«
Die Abstimmung ergab nur eine Gegenstimme. Beleidigt, dass man nicht auf ihn hören wollte, schmollte Ingrimmsch und jauchzte anfangs nicht einmal, als die Lore die Gefälle hinabrauschte.
Tungdil aber behielt für sich, dass die Helden der Geschichte nach der Ermordung Herengards von seinen Leibwachen getötet wurden. Doch die Idee war gut.
Wieder rollten sie unter dem Geborgenen Land hindurch. Ihr Ziel war das Schwarzjoch, wo sich die Streitmacht aus Orks und sämtlichen Wesen sammelte, die Nôd’onn folgten.
Unterwegs machten sie eine seltsame Entdeckung.
Sie durchfuhren einen Abschnitt, in dem die Leichen von mindestens zweihundert Orks rechts und links neben der Trasse lagen; ihre Loren standen verteilt um sie herum. Da sie wegen des Schwungs nicht anhalten wollten, beschränkten sie sich darauf, im Vorbeihuschen nach den Bestien zu schauen.
»Das war die Arbeit von Äxten«, brummte Boïndil. »Die Schweineschnauzen sind von Zwergen niedergemäht worden. Es scheint nicht so schlecht um unsere Freunde bestellt zu sein.«
»Warum sollten sie in den Tunneln sein anstatt im Schwarzjoch?« Tungdil betrachtete die Kadaver, die fein säuberlich von der Schiene entfernt worden waren. Jemand hat dafür gesorgt, dass sich uns niemand in den Weg stellt. Er dachte sofort an die Geister der Ahnen, die ihnen schon zweimal begegnet waren. »Die Geister! Sie haben uns im Reich der Fünften geholfen und tun es wieder.«
Balyndis deutete auf eine Nische, in der eine zusammengekrümmte kleinere Gestalt lag. Ein Orkspeer ragte aus der Seite. »Das ist ein toter Zwerg, keine Spukgestalt!«, machte sie ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam. »Einen Geist kann man nicht umbringen.«
»Was wäre, wenn Zwerge in den Stollen leben?«, schaltete sich Furgas ein. »Ich habe deutlich gesehen, dass die Gleise ab einem bestimmten Punkt unserer Reise ohne Rost waren, als würden sie öfter benützt.«
Andere Zwerge. Da kein Stamm seines Volkes die Loren in Anspruch genommen hatte, fand Tungdil nur eine vage Erklärung für das Geschehen. Unbemerkt von den alten Stämmen haben sich Zwerge in den Röhren niedergelassen und eine eigene Gemeinschaft gebildet!
Nun ergriff Aufregung jede Faser seines Körpers. Es konnte durchaus sein, dass in den hunderten von Zyklen die Verstoßenen der Zwergenstämme durch einen glücklichen Umstand auf die Röhren aufmerksam geworden waren und sich ihr eigenes Reich geschaffen hatten. Ist es möglich, dass sie hier und unter ihresgleichen geblieben sind, anstatt nach Hause zurückzukehren?
»Schnell, Papier und Feder«, verlangte er von Rodario, der ihm das Gewünschte überließ, woraufhin Tungdil hastig und mit furchtbarer Schrift, weil der Karren so sehr ruckte, eine Nachricht schrieb, in der er ihnen für die Hilfe dankte. Als sie an einem Stalagmiten vorübersausten, spießte er den Zettel darauf.
»Was sollte das?«, wollte Andôkai wissen. »Eine Botschaft an die Ahnen?«
»Keine Ahnen«, entgegnete er. »Wenn meine Annahme stimmt, sind es Zwerge, Ausgestoßene aus allen Zwergenreichen, die sich ihr eigenes Herrschaftsgebiet eingerichtet haben. Wir und die Orks sind darin eingedrungen.« In aller Kürze erklärte er ihnen, wie er auf diese Vermutung kam. »Sie haben uns mehrfach gewarnt, erinnert euch. Das Klopfen, der Einbruch des Stollens, ihr Auftreten in der Steinhalle. Sie wollten, dass wir ihr Reich verlassen, denke ich.«
»Ha, ich verstehe! Als die Orks auftauchten, haben sie nicht länger gezögert und sind uns zu Hilfe gekommen, anstatt uns weiterhin verjagen zu wollen. Blut ist eben doch dicker als Wasser. Großartig, einfach großartig!« Rodario nahm seine Utensilien augenblicklich wieder an sich. »Gib her. Das muss ich notieren.«
»Die Reise brachte so viel Neues«, sagte Balyndis leise. »Wenn am Ende das Gute überwiegt, bin ich zufrieden.«
»Es wird«, beruhigte er sie. Als die Lore um die Ecke ratterte und der Stalagmit gerade aus dem Sichtfeld verschwand, glaubte er, eine Gestalt gesehen zu haben, die nach dem Zettel griff.
Als sie die Trasse durch das einstige Lios Nudin führte, nutzte Andôkai die Gelegenheit, um neue magische Kräfte zu schöpfen. Sie schloss die Augen, und nicht lange darauf begannen die Wände des Tunnels zu glühen, das Gestein erhellte sich, zeigte ihnen seine Einschlüsse und Maserungen. Andôkai atmete schneller, das Leuchten wurde stärker und wurde gleißend, bis es abrupt endete.
Zögernd öffnete sie die Lider, neigte ihren Kopf nach rechts und übergab sich mehrfach über den Rand der Lore.
»Was ist?« Tungdil wollte die Reise unterbrechen, aber sie winkte ihm zu, dass er weiterfahren solle.
»Nur zu, es ist nichts. Nôd’onn hat die Felder beinahe völlig unbrauchbar für mich gemacht.« Sie lehnte sich zurück, Balyndis reichte ihr einen Wasserschlauch. »Noch geht es, aber mehr Energie kann ich nicht aufnehmen, sonst wird es mich umbringen.« Ihre Lippen pressten sich aufeinander, sie rang mit einer neuen Übelkeitsattacke.
Nach zwei Sonnenumläufen, an einer Stelle, an der zwei Trassen kurz nach einer Weiche parallel nebeneinander her liefen, zischte plötzlich eine zweite Lore heran und schob sich auf gleiche Höhe mit der ihren. Das Dutzend Orks, das darin hockte, schaute genauso verdutzt auf die Zwerge und Menschen wie diese zu den Feinden.
Ingrimmsch überwand seine Überraschung als Erster und tat das, was man von ihm erwartete.
»Oink, oink! Schweinchen!«, schrie er voller Begeisterung, und die Beile flogen ihn seine Hände. »Sie gehören mir!«
Ehe ihn jemand zurückhalten konnte, machte er einen gewaltigen Satz in das Vehikel der Bestien, landete mitten unter ihnen und wütete mit seinen Waffen. Da er in seinem Kampfrausch zuerst den Bremser tötete und sich dann um die weiteren Gegner kümmerte, kam die Lore nicht zum Stehen, sondern rollte in voller Fahrt weiter die Schienen entlang.
Sie zischten unter einer Reihe von Stalaktiten hindurch, was Boïndil zu seinen Gunsten ausnutzte. Geschickt brachte er einen unvorsichtigen Ork dazu, dem zuckenden Beil so unglücklich auszuweichen, dass sein Gesicht mit einem der Kalkgesteine kollidierte. Eine Blutwolke sprühte auf, und das Ungeheuer wurde unter dem gehässigen Gelächter des Zwergs aus dem Karren gerissen.
Ingrimmsch mähte sich durch die Reihen der Grünhäute, die sich mehr schlecht als recht zur Wehr setzten; die Überraschung und die beengten Verhältnisse spielten dem Zwerg in die Hände. Sein freudiges Lachen, das Knurren und seine Schreie mischten sich ins Rattern der Lore. Endlich stand er vor dem letzten seiner Widersacher, einem kräftig gebauten Exemplar mit einer besseren Rüstung.
»Nein! Lass den Anführer leben!«, rief Tungdil. »Wir müssen ihn befragen.«
Aber der Zwilling war vollends in seinem Kriegsrausch versunken. Schon fuhren die Beile auf den Ork hernieder, der beide Angriffe nicht gleichzeitig abwehren konnte.
Andôkai gab Djerůn einen Befehl. Er reckte seinen gepanzerten Arm, packte die todgeweihte Bestie im Genick und hievte ihn wie ein Lastkran zu ihnen, wo er ihm das Schwert an die Kehle setzte. Der Wiederstand erstarb auf der Stelle.
»He! Das ist Betrug!« Boïndil hopste unerschrocken zurück auf seinen Platz wollte sich zum Heck des Karrens begeben, um dem Ork den Schädel zu spalten, doch Andôkai stellte sich ihm in den Weg.
»Nimm Vernunft an, Boïndil. Meine magischen Kräfte sind erholt genug, um dich gegen deinen Willen ruhig zu stellen«, warnte sie ihn mit eisigem Blick. »Erst müssen wir erfahren, was sich über unseren Köpfen tut.«
Deutlich erkannten sie, wie die Urteilskraft Ingrimmschs mit dem Wahn rang. Keuchend ließ er sich auf die Holzbank sinken, die Einsicht hatte gesiegt. »Von mir aus. Ich hatte meinen Spaß und werde bald noch mehr haben.«
Tungdil wandte sich dem Ork zu, seine Augen suchten ihren Gefangenen zu ergründen. »Was geschieht am Schwarzjoch?«, fragte er die Kreatur in der eigenen Sprache.
»Ich sage dir nichts, Unterirdischer«, ächzte er.
Der Zwerg langte nach Djerůns Visier und öffnete es. Violettes Licht fiel in das hässliche Gesicht des Gefangenen, das sich nun zu einer Maske des Entsetzens und der puren Angst wandelte. »Möchtest du es ihm sagen?« Er vermied es, in das Antlitz des Kriegers zu blicken; der kurze Eindruck in der Oase würde ihm sein ganzes Leben lang reichen. »Oder soll er dir zuerst einen Arm abbeißen?«
Der Ork quiekte in den schrillsten Tönen eine Bezeichnung, die er nicht verstand. »Nein, halte ihn zurück!«
»Was wollt ihr am Schwarzjoch?«
»Wir belagern die Unterirdischen, die sich dort versteckt halten«, berichtete er mit sich überschlagender Stimme. »Nôd’onn will sie vernichtet sehen.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht. Er will es eben!«
»Ist er dort?«
Der Ork schwieg, wobei er Djerůn nicht aus den Augen ließ.
Tungdil konnte seine Angst riechen. »Ist er der Magus am Tafelberg?«, wiederholte er seine Frage. Da immer noch nichts geschah, übernahm der Krieger die Initiative. Sein Kopf schnellte vor, und es krachte laut.
Der Ork jaulte auf und starrte auf den blutenden Stumpf, wo eben noch sein Unterarm gewesen war. »Er ist da! Er ist da!«, brüllte er die Antwort voller Schmerzen heraus.
»Wann wird der Angriff beginnen?«, verlangte Tungdil unbarmherzig zu wissen.
»Ich kann es nicht sagen. Ich soll mit meinen Soldaten in vier Umläufen dort sein«, stöhnte das Ungeheuer und versuchte, das hervorschießende grüne Blut mit seiner unverletzten Hand zu stoppen, aber der Druck war zu groß. »Mehr …«
Djerůn schien ausgehungert zu sein, und die Aussicht auf ein frisches Mahl machte ihn gierig. Er wartete nicht auf die Erlaubnis von Andôkai oder Tungdil, sondern stürzte sich auf den Ork, um ihn zu töten und den zuckenden Leichnam aufzufressen. Da er es mit dem Rücken zu den anderen tat, sah wieder niemand sein Gesicht.
Die Maga gab ihm eine Anweisung. Augenblicklich ließ er von dem Kadaver ab, schloss sein Visier und hockte sich hin. Die Vorderseite und der Helm waren grün gefärbt, und es stank widerlich nach den Innereien des zerfetzten Orks.
»Wirf ihn hinaus«, befahl sie ihm. Djerůn schleuderte die Überreste der Grünhaut aus der Lore.
»Wenn wir ihn nicht brauchten …«, sagte Ingrimmsch dumpf und beließ es bei seiner Andeutung. »Es ist ein dressiertes Raubtier, mehr nicht.« Er schaute zu Andôkai. »Hoffentlich ist dir dein Gott gewogen genug, dich immer die Macht über ihn haben zu lassen.« Der Zwerg verstaute seine Beile. »Falls nicht, sag mir Bescheid, und ich stehe dir bei.«
Sie verzichtete auf eine Antwort.
Der Sohn Samusins frisst die Schöpfungen seines Vaters. Tungdil betrachtete gebannt die eiserne Dämonenfratze, hinter der es immer noch blauviolett loderte, als brennte dort ein unlöschbares Feuer, dann warf er Narmora einen Blick zu. »Wenn die Orks innerhalb von vier Sonnenumläufen dort sein müssen, sollten wir es auch sein.« Er wandte sich wieder nach vorn. Der Fahrtwind wirbelte ihm frische Luft zu und trieb ihm den Gestank des toten Orks aus der Nase. Bald schon entscheidet sich, ob das Geborgene Land vom Übel befreit wird oder ihm zum Opfer fällt.
Unterwegs fanden sie einen Trupp von fünfzig Orks, der tot in den Röhren lag, abgeschlachtet von ihren unsichtbaren Schutzmächten, die sich ihnen weiterhin nicht zeigen wollten.
Unbehelligt verließen sie die Tunnel, um ganz in der Nähe des Schwarzjochs im ehemaligen Gauragar an die Oberfläche zu treten.
Tungdil erkannte die Gegend gleich wieder. »Wir müssen in diese Richtung.« Er führte sie den sanften Hügel hinauf, von dem aus er den Tafelberg zum ersten Mal erblickt hatte. Vorsichtig krochen sie auf die Spitze der Erhebung, um nicht von Wachen gesehen zu werden. Noch waren sie nicht für ihre Maskerade bereit.
»Bei Vraccas!«, raunte er. »Wir kommen gerade rechzeitig.«
Der finstere Tannenwald um den Tafelberg herum war verschwunden. Stattdessen erhoben sich hölzerne Konstrukte um das Schwarzjoch, auf deren Plattformen kleine Punkte hin und her liefen. Die Orks bauten Schwindel erregende Rampen, um Einstiege in den Berg zu entdecken oder auf den flachen Gipfel zu gelangen und von oben in die Festung einzudringen. Vermutlich hatten sie sich zuvor an den Hängen die Köpfe eingerannt oder waren zu Dutzenden von dem wütenden Fels abgeschüttelt worden.
Der düstere Felsbrocken wirkt ohne die Tannen drum herum noch bedrohlicher.
Gelegentlich ergoss sich aus verborgenen Öffnungen schwarze, dampfende Flüssigkeit und schwappte über die anstürmenden Orks am Boden, die darin vergingen. An einer anderen Stelle schnellten glühende Kugeln aus den Rillen, die nach kurzem Flug mitten in den Pulks der Angreifer aufschlugen. Die Blasen zerbarsten und setzten das Petroleum frei, um in ihrem Umkreis alles in Feuer zu hüllen.
Sie haben die alten Verteidigungsvorrichtungen zum Leben erweckt.
Doch es mochten noch so viele Bestien ihr Leben lassen, nichts brachte die Truppen Nôd’onns zum Aufgeben. Wie die Ameisen schwärmten sie in dem flachen Land umher, immer auf der Suche nach etwas, was sich beim Bau von weiteren Belagerungsgeräten verwenden ließe.
Die Oger spalteten die Tannen in zwei Hälften, fügten sie aneinander und bildeten auf diese Weise Türme und Rampen, die von den Verteidigern bislang jedoch rechzeitig genug in Brand geschossen oder mit langen Eisenketten zum Einsturz gebracht wurden, ehe sie von den Orks zum Sturm gegen den Berg genutzt werden konnten.
Geduldig sammelten die gigantischen Wesen die Überreste ein und setzten daraus neue Rampen zusammen, während die Orks darauf drängten, endlich in die Festung zu gelangen.
»Welch eine Ironie«, sagte Tungdil zu Balyndis und Boïndil, ohne den Blick vom Tafelberg zu nehmen. »Die Dritten erbauten sie gegen die anderen Stämme, und ausgerechnet dieser Ort dient nun dazu, uns Zwerge vor dem Untergang zu bewahren.« Die alten Zeilen, die er in der Nische gefunden hatte, kamen ihm in den Sinn. Einst erweckt von den Drei gegen den Willen der Drei. Erneut gefärbt vom Blut aller Kinder. Was sie wohl bedeuten?
»Wie viele werden es sein?«, meinte die Schmiedin, die mit großen Augen auf das Gewimmel starrte.
In einer Meile Abstand zum Fuß des Schwarzjochs hatten die Angreifer ringförmig ihr Lager errichtet. Schlecht aufgebaute Zelte schützten sie leidlich vor dem Schnee und dem Wind, und hier und da stiegen schwarze Wolken in den Himmel.
»Achtzigtausend, wenn es reicht«, schätzte Ingrimmsch besonnen, dann klopfte er Tungdil auf die Schulter. »Du hattest Recht. Dein Plan ist in diesem Fall der bessere, auch wenn er aus einem Buch ist. Ich könnte die Beile nicht so schnell aus den Wänsten der Schweineschnauzen ziehen, wie sie auf uns einstürmen.«
Rodario wies nach Westen. »Seht einmal dort drüben, das könnte Nôd’onns Unterkunft sein.« Sie entdeckten ein prunkvolles malachitfarbenes Zelt, das von den Ausmaßen alle anderen übertraf. »Als Magus würde ich darin wohnen wollen und nicht in den schäbigen Zelten des Pöbels.«
»Du hattest schon immer Dünkel«, meinte Furgas. »Wärst du als Adeliger zur Welt gekommen, hätten dich deine Untertanen längst aufgeknüpft.«
»Und du hättest ihnen eine Konstruktion ersonnen, damit es lange dauert, bis ich stürbe, ich weiß.« Sie grinsten sich verstehend an.
»Übrigens.« Furgas machte sie auf eine Stelle abseits des eigentlichen Kampfgeschehens aufmerksam, wo die Oger einen fahrbaren Turm errichteten, der weitaus stabiler aussah und beinahe zweihundert Schritt Höhe erreichte. »Damit werden sie ihr Ziel erreichen«, vermutete er. »Sie haben zum Schutz gegen die Brandgeschosse Ziegel vor den Streben befestigt.«
Hunderte Orks sprangen herbei und erklommen die verschiedenen Plattformen. Pfeil- und Speerkatapulte wurden geladen und feuerbereit gemacht. Die Oger vollendeten derweil ihre letzten Handgriffe und stemmten sich in die Speichen, um den Turm an den Berg zu rollen. Überall dröhnten schrille Hörner auf und gaben das Signal zu einem gemeinsamen Angriff.
»Es wird höchste Zeit«, beschloss Tungdil. »Bring Nôd’onn seine Gefangenen, Narmora.«
Sie nickte entschlossen und legte ihre Albrüstung an.
Innerhalb von wenigen Lidschlägen wurde aus der Frau eines der gefürchtetesten Wesen des Geborgenen Landes. Sie veränderte nicht nur ihre Kleidung; mit jedem Stück Rüstung, das sie anlegte, wandelte sich ihr Antlitz, es verlor an Farbe, nahm härtere und vor allem grausamere Züge an. Sie zog das rote Kopftuch ab und fuhr sich durch die schwarzen Haare. Dann erhob sie sich. »Und nun das Wichtigste«, sagte sie mit dunkler Stimme. Ihre Augen trübten sich ein, das Weiß verschwand und wich der Schwärze, durch die sich die Albae tagsüber verrieten.
Wenn ich es nicht besser wüsste. Tungdil hätte sie von einem echten Alb nicht mehr unterscheiden können, und damit sollte es ihnen gelingen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. »Vollkommen, Narmora.«
Andôkai legte ihr das schlichte dunkelblaue Kristallamulett um, das sie in der Oase einem Alb abgenommen hatte. »Es wird dich vor den magischen Angriffen Nôd’onns bewahren«, erklärte sie. »Nur zur Sicherheit, da ich nicht weiß, ob wir getrennt werden und du dich auf eigene Faust durchschlagen musst.«
Sie lächelte die Maga an. »Wartet hier. Ich gehe und besorge den Söldnern ihre Rüstungen.« Lautlos huschte sie davon und verschwand nach wenigen Schritten aus ihrem Sichtfeld.
Tungdil bemerkte, dass Balyndis die Hände um den Griff ihrer Axt gelegt hatte. »Sie ist … unheimlich geworden«, verteidigte sie ihre unbewusste Geste. »Düster, drohend. Wie ein richtiger Alb.«
»Was machen wir, wenn ihre dunkle Seite es sich anders überlegt?«, sprach Ingrimmsch seine Bedenken offen aus. »Sie hat die Feuerklinge und die Macht, Nôd’onn zu vernichten. Mit dem Amulett ist sie auch gegen die Magie der Zauberin immun geworden. Wie sollen wir sie denn notfalls klein kriegen, wenn sie uns verrät?«
»Verrät? Niemals! Sie ist Narmora«, beruhigte Furgas sie, er klang energisch und verteidigend. »Und sie ist eine Schauspielerin. Ganz gleich, was sie unterwegs sagt und wie sie sich verhält, zweifelt nicht an ihr. Sie hätte längst genügend Möglichkeiten gehabt, uns zu …«
Narmora kehrte zurück, blutverschmierte Rüstungen einer unvorsichtigen Patrouille mit sich tragend. Sie warf ihre Beute in den Schnee. »Ihr müsst sie ein wenig abreiben«, war alles, was sie sagte.
Nachdem Rodario noch »einige spezielle Vorbereitungen« getroffen hatte, wie er es nannte, traten sie den gefährlichsten Weg ihrer ganzen Reise an.
Tungdil, Balyndis und Boïndil liefen in der Mitte, umgeben von den scheinbaren Söldnern, die ihre Gesichter unter den stinkenden Helmen verbargen. Narmora bildete die Spitze, die mit Lumpen umhüllte Feuerklinge auf dem Rücken tragend. Djerůn wartete auf dem Hügel und hielt sich bereit, auf ein Zeichen seiner Herrin hin zu ihnen zu stoßen und durch sein Erscheinen für Wirbel zu sorgen.
Vor allem Boïndil tat sich schwer, ohne seine geliebten Beile zu sein und dazu noch die Hände gefesselt zu haben, aber er sah ein, dass es keine andere Möglichkeit gab, an Nôd’onn heranzukommen. »Wie geht das Buch eigentlich aus?«, fiel ihm die ungemütliche Frage doch noch ein.
Rodario öffnete den Mund, aber Tungdil kam ihm zuvor. »Gut. Es geht gut aus«, behauptete er und schickte dem Schauspieler einen bittenden Blick. Der rollte mit den Augen, schwieg aber glücklicherweise.
»Umso besser«, brummte Ingrimmsch und beließ es dabei.
Ihre Waffen hatte Furgas in einem Sack verstaut und hielt ihn so, dass er ihn den Zwergen jederzeit zuwerfen konnte. Die Lederriemen um die Handgelenke der Gefangenen würden bei der geringsten Kraftaufwendung reißen und sie freigeben. Es ging einzig um den Schein.
Im Zwielicht des Nachmittags betraten sie das Lager.
Die Wachen, drei Orks und vier Bogglins, ließen sie passieren, nachdem Narmora sie einfach nur finster anblickte und ihnen sagte, dass sie zu Nôd’onn wollte, um die Gefangenen persönlich abzuliefern.
Einer der Bogglins eilte davon, um den Magus vom Kommen der heldenhaften Albin zu unterrichten. Zielstrebig eilten sie zwischen den Zelten entlang und steuerten genau dorthin, wo der Bote verschwunden war.
»Ich hatte Recht«, kam es dumpf unter Rodarios Helm hervor. »Das konnte nur die Feldunterkunft Nôd’onns sein.«
»Schweig«, herrschte ihn die Albin mit ihrer veränderten, dunklen Stimme an, und der Mime verstummte abrupt.
Näher und näher rückten die dunkelgrünen Leinwände, hinter denen sich das Böse befand, bis sie nur noch zwanzig Schritt vom Eingang entfernt waren. Da glitten die Stoffbahnen auseinander, und ein alter Bekannter trat ins Freie: spitze Ohren, ebenmäßige Gesichtszüge und lange blonde Haare. »Sinthoras«, entfuhr es Tungdil entsetzt.
Boïndil beugte sich zu ihm herüber. »Stand der auch im Buch?«, raunte er.
Der Alb lächelte falsch. Sein Oberkörper steckte in einer schweren, schwarzen Rüstung aus Tionium, seine Beine wurden durch einen knielangen Eisenrock aus Kettengliedern desselben Metalls geschützt. Er hatte sich zum harten Kampf gerüstet. »Es ist mir immer wieder eine Freude, wenn wir uns begegnen«, grüßte er den Zwerg und verneigte sich, danach betrachtete er Narmora. »Ich beglückwünsche dich zu deinem Fang …«
»Morana«, half sie sich mit einem Albaenamen aus.
»Morana«, wiederholte Sinthoras. »Tion muss dich mehr mögen als mich oder Caphalor, denn wir hetzten die Unterirdischen quer durch das Geborgene Land, ohne sie zu erwischen.« Seine grausam kalten Augen wanderten über die Zahl der Gruppe, es war nicht auszumachen, wen genau er anblickte. »Immerhin haben wir ihnen Verluste zugefügt, wie ich sehe.«
»Es reichte aber nicht aus, sie zu fangen«, meinte sie verächtlich. Sie hatte sich dazu entschlossen, die unfreundliche Albin zu spielen und sich von ihm nicht einschüchtern zu lassen.
»Nein, leider«, seufzte Sinthoras gespielt leidend. »Geh und überlasse sie mir. Ich führe sie zu Nôd’onn.«
Narmora bewegte sich nicht. »Ich habe sie gefangen, und ich will mir das Lob des Magus abholen, wie du es getan hättest.«
Sinthoras umrundete sie einmal, lauernd. »Du bist mutig, junge Albin. Wie kommt es, dass ich deinen Namen noch nie hörte?«
»Dsôn Balsur ist groß genug, um einander nicht zu begegnen.«
»So, du kommst aus Dsôn Balsur? Ich kenne jede Ecke unseres Reiches, denn schließlich war ich es, der es schuf.« Er blieb vor ihr stehen. »Wie heißt deine Mutter? Wie heißt dein Vater? Wo lebst du, Morana?«
»Es geht dich nichts an«, antwortete sie unerschrocken. »Geh und melde mich Nôd’onn oder verschwinde.«
»Der Meister schläft.«
»Dann geh und wecke ihn.«
Tungdil saß der Schreck noch immer in den Gliedern. Was sollen wir tun? An ihm vorbeilaufen? Um an ihm vorbeizukommen, werden einige von uns sterben, fürchtete er und schaute zum Eingang des nahen Zeltes. Zu lange konnten sie nicht warten, sonst würden sie noch mehr Aufmerksamkeit wecken und den Anschlag auf Nôd’onn mehr als erschweren. Wir müssen es riskieren.
»Hörst du das, Caphalor?«, Sinthoras hob den Kopf und lachte. »Sie hat zu viel Mut. Es könnte eines Tages ihr Tod sein.«
»Ich hätte ihr schon lange Respekt beigebracht«, kam die Antwort in ihrem Rücken.
Erschrocken drehte sich Rodario um. Seine etwas zu groß geratene Rüstung schepperte, und die Lanzenspitze verfehlte Balyndis’ Kopf um Haaresbreite.
Hinter ihnen stand ein Alb mit langen schwarzen Haaren, den Tungdil von seinem Erlebnis aus Gutenauen und aus dem Reich der Ersten kannte. Seine Gedanken überschlugen sich, er wusste nicht, was sie machen sollten.
»Ich kannte eine Morana, aber sie ist schon lange tot und sah zu Lebzeiten anders aus«, sagte Caphalor, und die schwarzen Augenlöcher hefteten sich auf die Albin. Er trug eine tioniumverstärkte Lederrüstung, die alles Licht absorbierte. »Du bist nicht aus Dsôn Balsur.« Er legte seine spindeldürren Finger an den Griff seiner Kurzschwerter. »Aber woher bist du dann, und warum hast du gelogen?«
Nun wurde auch Ingrimmsch unruhig, seine Augen huschten hin und her, er suchte Tungdils Blick und wartete auf einen Befehl.
Sollen wir angreifen? Aber sie sind zu stark. Tungdil war ratlos. Sie waren unversehens zwischen die Albae geraten, und wie es aussah, hatten weder Sinthoras noch Caphalor vor, Narmora mit ihren Gefangenen zu dem Magus zu führen.
»Euer Spiel ist langweilig. Wenn ihr mich nicht zu dem Magus bringt, rufe ich ihn eben«, sagte sie mit leichtem Zittern in der Stimme. Die Furcht hatte sie trotz aller Schauspielkunst gepackt. Sie rief laut nach Nôd’onn.
Die Albae lachten.
»Du hast einfach kein Glück, Morana«, sagte Sinthoras heiter. »Ich habe dich angelogen. Der Magus ist bei den Truppen, dort, wo der Turm ist. Wir wollten gerade zu ihm. Mein Speer trank zu lange kein Zwergenblut mehr.«
»Beim Turm?« Sie schaute zu den Zwergen und den Söldnern. »Dann werde ich sie eben hintreiben.« Sie machte Anstalten, an Sinthoras vorbeizugehen, als er blitzschnell sein Schwert zog, um es an ihre Kehle zu legen. Narmora parierte den Schlag jedoch mit ihrer Waffe. »Wenn du es noch einmal versuchst, stirbst du«, sagte sie drohend zu ihm.
Ein Messer schwirrte über die Köpfe der Zwerge hinweg, die geschliffene Spitze bohrte sich unter die Achsel der Halbalbin, und sie schrie auf.
»Die Morana, die ich kannte«, sagte Caphalor finster, »klang auch anders als du.«
Außer sich vor Wut stieß Furgas nach dem Angreifer. Der Alb wich dem Speer elegant aus, zog dabei seine Kurzschwerter und schlug zum Schein nach dem Kopf des Mannes. Furgas fiel auf die Finte herein, und noch während er versuchte, die erwartete Attacke oben abzuwehren, trafen ihn die Klingen des Schwarzhaarigen in den Leib. Ächzend sank er zusammen.
»Schnell!«, rief Tungdil zu Rodario, der seinen Schrecken erst überwinden musste und ihnen den Sack mit den Waffen zuwarf. Die Zwerge zerrissen ihre Fesseln, packten ihre Äxte und stürzten sich auf die verhassten Gegner.
Rodario wich vor dem lächelnden Sinthoras zurück, Boïndil sprang dazwischen, und seine Beile wirbelten hin und her.
»So, Schwarzauge, Zwergenblut wolltest du deinem Zahnstocher zu trinken geben?« Er attackierte ihn auf Hüfthöhe und zwang ihn damit von dem Schauspieler weg. Das gab Rodario die Zeit, die er benötigte. »Das trifft sich gut. Meine Beile dürstet es nach Spitzohrensaft.« Zwischen den beiden entbrannte ein heftiges Gefecht, Balyndis sprang ihm bei und achtete nicht auf sein Gezeter, dass er den Alb allein besiegen wolle.
Andôkai übernahm es zusammen mit Tungdil, Caphalor zu beschäftigen, während die verletzte Narmora nach ihrem Gefährten schaute.
Sie hatte Glück gehabt. Das Wurfgeschoss hatte sie neben der Ader getroffen, sodass sie nicht mehr davontrug als eine leicht blutende Fleischwunde. Aber um Furgas stand es schlimmer. Sein Atem ging flach, er hechelte und versuchte kraftlos, das Visier zu öffnen, um frische Luft zu bekommen.
»Liebster«, versuchte sie ihn zu beruhigen, während sie auf seine Wunde drückte, um die Blutung zu stillen. Ihre Augen verwandelten sich zurück und wurden menschlich. Doch es gelang ihr nicht, den Blutfluss zu bändigen. Mit einem wütenden Schrei schnellte sie in die Höhe, drängte Andôkai zur Seite und beharkte den Alb mit einer Reihe von Angriffen. »Überlass ihn mir! Kümmere dich um Furgas«, bat sie die Maga knapp. »Er stirbt sonst.« Und ihre Augen wurden wieder schwarz.
Andôkai nickte und zog sich zurück.
»Wie rührend«, sagte Caphalor mit beißendem Hohn. »Sorge dich nicht, denn ich sende dich zu deinem Gefährten. Doch zuerst«, er wich ihrem Angriff aus und trat Tungdil dabei elegant gegen die Brust, dass der sich auf den Hosenboden setzte, »möchte ich ein wenig Spaß mit dir haben.«
Wieder parierte er ihren Schlag und drosch ihr die Faust ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts und schaffte es, unter seinen Stichen abzutauchen; dafür bekam sie sein Knie auf die Nase. Im Reflex zuckte sie zurück und bewegte sich geradewegs in die Reichweite seiner Klinge hinein.
Tungdil zögerte nicht. Er warf seine Axt, auch wenn er keine zweite dabeihatte und gegen den Ratschlag des Zwillings handelte.
Die Axt flog, ihr Pfeifen warnte Caphalor jedoch vor der Gefahr.
Ohne dass der Zwerg erkennen konnte, wie er es anstellte, fing er die Waffe am Stiel auf und schleuderte sie zurück. Aus dieser Bewegung heraus wirbelte er um Narmora herum und zog ihr die Beine weg, um ihr mit seinen Schwertern im Fallen den Tod zu bringen.
Dem Zwerg gelang es nicht mehr auszuweichen, doch die Axt prallte glücklicherweise mit der stumpfen Seite gegen seine Brust. Die Rippen knackten, und es schmerzte höllisch.
»Zurück, Caphalor! Sie ist mein«, dröhnte eine heisere Stimme. Der Alb hielt inne und starrte auf Nôd’onn, der wie aus dem Nichts erschienen war.
»Herr? Ihr …«
Der Augenblick der Ablenkung genügte Narmora, ihrem über sie gebeugten Gegner die Spitzen ihrer Waffen von unten in den Hals zu rammen. Beinahe vollständig enthauptet stach er ein letztes Mal nach ihr und verletzte sie am Hals, dann kippte er vornüber und begrub sie unter sich.
Ein grässlicher Schrei ertönte. Sinthoras sah den Tod seines Freundes mit an und verstand, dass es sich nicht um den wahren Magus handelte, der für die fatale Ablenkung gesorgt hatte. Er überschlug seine Chancen, sie zu besiegen, und entschloss sich zu einem Rückzug. Gegen die Kräfte der Maga konnte er allein und ohne sein Schutzamulett nicht bestehen. »Wir sehen uns wieder. Euer Tod wird meinen Namen tragen!« Mit diesen Worten rannte er zurück in das Prunkzelt.
Tungdil und seine Gefährten verfolgten ihn und standen letztlich in einer leeren Unterkunft. Verflucht, der Alb hat es geschafft, uns zu täuschen.
Währenddessen blieb Rodario, der sich einmal mehr angemaßt hatte, Nôd’onn zu sein, auf dem Platz zurück, sandte die herbeieilenden Ungeheuer zurück an die Front und wies sie an, jeden Feigling in der Truppe sofort niederzumetzeln. »Um die Verräterin kümmere ich mich selbst. Seht her!« Er reckte die Hand gegen Andôkai und murmelte unverständliche Silben. Andôkai spielte mit und ließ sich in den Staub sinken. Die Orks und Bogglins verneigten sich beeindruckt und kehrten um, um seinen Willen zu erfüllen.
»Einfaches Publikum ist ein Segen der Götter«, murmelte Rodario erleichtert unter der Kutte hervor. Sein Herz klopfte bis zum Hals. »Sie sind weg, es sieht keiner zu uns«, rief er ihr zu und stellte sich vor die verletzte Narmora, um sie mit seinem weiten Gewand zu verdecken. »Rasch, versorge sie.« Sie kroch zu der Halbalbin und wirkte heilende Magie, um ihre Wunden zu schließen. »Übrigens, Ihr habt durchaus Talent«, meinte der Mime, über die Schulter sprechend. »Ich habe selten auf der Bühne jemanden so schön umsinken sehen.«
»Sei still, Schwätzer«, zischte sie und konzentrierte sich.
In aller Eile und so unauffällig wie möglich trugen sie die Verletzten und den toten Alb ins Zelt und beratschlagten im Verborgenen. Ingrimmsch stand am Eingang und hielt Wache.
»Sinthoras ist geflüchtet, um den Magus vor uns zu warnen«, schätzte Tungdil und betrachtete den regungslosen Körper Furgas’, den Andôkai in einen Heilschlaf versetzt hatte, ohne den er die schwere Verletzung nicht überleben würde. Narmora hielt seine Hand, dabei zitterte sie selbst am ganzen Leib. Ihr Hals glitzerte dunkelrot von ihrem eigenen Blut.
»Es wird unser Vorhaben nicht einfacher machen«, meinte Andôkai und sah sich im Zelt um. »Aber wir haben eine Albaerüstung.« Kurzerhand zog sie den toten Alb aus und legte sich die Rüstungsteile an. Sie saßen an manchen Stellen zu knapp, an anderen zu weit, aber mit einem geschlossenen Helm und in der Begleitung Narmoras sollte eine erste Täuschung gelingen. »Nôd’onn wird den Unterschied im Kampfgetümmel zu spät bemerken.«
»Rodario, du musst uns als falscher Nôd’onn dorthin bringen, wo sich der echte befindet. Schaffst du das?«, legte Tungdil seinen neuen Plan zurecht.
»Sicher. Es macht Spaß, ein gefürchteter Magus zu sein«, grinste er und zog die Riemen um die Helme zurecht, die ihn größer machten. Dann schob er die mit Luft gefüllten Ledersäcke in Position, um die Fettleibigkeit Nôd’onns nachzuahmen, und vergaß auch nicht, seinen Flammenwerfer zu überprüfen. »Der Tanz kann beginnen, die geschätzten und verachteten Spectatores warten.«
»Hüte dich davor, zu übertrieben zu sein, sonst werden sie dich schneller in Fetzen reißen, als wir es verhindern können. Wenn uns jemand aufhalten sollte: Wir«, Tungdil deutete auf Balyndis und Boïndil, »sind von dir magisch beherrschte Überläufer, die den Orks den Weg in den Berg zeigen wollen.«
Andôkai nahm den Helm von Furgas und setzte ihn auf. Er passte nicht recht zu der aufwändig gearbeiteten Rüstung, aber anders ging es nicht.
»Verdammt«, stieß Ingrimmsch aus und schaute durch eine Spalte im Stoff. »Sie haben den Turm in Stellung gebracht! Das wird dieses Mal böse enden.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, ich sehe den Magus! Er steht auf der mittleren Plattform und …« Betroffen schwieg er.
Sie eilten zum Durchgang, um mit eigenen Augen zu sehen, was Nôd’onn tat.
Der Tafelberg erbebte unter den Gewalten, mit denen der Magus an ihm rüttelte. Schwarze Blitze schossen aus dem Onyx und strichen über das Gestein. Das Knacken und Knistern hörten sie bis ins Lager.
Das Schwarzjoch leistete hartnäckig Widerstand, der Fels weigerte sich zu bersten, bis die Magie mit Macht in ihn hineinfuhr und ihn sprengte.
Gerölllawinen donnerten staubumtost nach unten, die schützenden Vorsprünge brachen weg und gaben die Stollen dahinter frei, die ins Innere des Tafelberges führten.
Die Mannschaften des Turmes fuhren sofort die Rampen aus; aus jeder Etage schoben sie die eilig zusammengezimmerten Brücken und legten sie an die entstandenen Löcher. Noch während die breiten Stege ausgefahren wurden, rannten die ersten Orks darauf entlang und sprangen in die Gänge, wo sie von den Äxten der Zwerge empfangen wurden.
Nôd’onn wartete, bis die Mehrzahl der ersten Angreifer von den Plattformen in die Festung gestürmt war, dann setzte er sich gemächlich in Bewegung, um ins Innere zu gelangen.
Jetzt wissen wir wenigstens, wo er ist. Tungdil atmete tief durch. »Wir lassen Furgas hier, einen sichereren Ort gibt es im weiten Umkreis wohl kaum«, entschied er. »Seid ihr beiden bereit?«
Narmora und Rodario nickten.
Als sie durch die Reihen der ehrfürchtig niederknienden Bestien schritten, die mit ihrem tumben Verstand auf ihre Maskerade hereinfielen, hatte Boïndil unvermittelt das Gefühl, dass sie in der Aufregung etwas Wichtiges vergessen hatten. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, worum es sich handeln mochte. *
Sie blieben hoch wachsam, immer damit rechnend, dass Sinthoras auftauchte und sie aus dem Hinterhalt attackierte. Ihr Vorteil bestand darin, dass er in diesem Getümmel keinen sauberen Bogenschuss abgeben konnte, so musste er dicht an sie herankommen. Doch der Alb ließ sich nicht blicken.
Ungehindert erreichten sie den vordersten und größten der insgesamt fünf Belagerungstürme, erklommen die breiten Treppen, die zu den Plattformen führten, und benutzten die gleiche Rampe, über die Nôd’onn eben noch geschritten war.
Wie durch ein Wunder gelangten sie unversehrt durch den Stein- und Pfeilschauer, den die Verteidiger von oben gegen sie sandten, in das Innere des Schwarzjochs. Schon von weitem drang der Kampflärm zu ihnen, das Gebrüll der Orks mischte sich mit dem Krachen der Schwerter, Keulen und Äxte.
»Ich sorge dafür, dass sie keinen Nachschub erhalten«, sagte Andôkai und wandte sich dem gigantischen Turm zu, wo Oger an den Seitenwänden hinaufkletterten, um von der Spitze bis auf das Plateau des Tafelberges zu gelangen. Die Tunnel waren zu klein für sie, daher wollten sie den flachen Rücken der imposanten Erhebung erklimmen, um die Verteidiger anzugreifen und zu vernichten.
»Verausgabe dich nicht zu sehr«, warnte Tungdil sie, aufmerksam um sich spähend, ob ein Ork auftauchte. »Wir sind gegen Nôd’onn auf deine Kräfte sicherlich angewiesen.«
»Es braucht nicht viel.« Die blonde Maga zeichnete blau leuchtende Runen in die Luft, die sich zu einer Kugel verbanden. Das magische Gebilde flog fauchend in die unterste Etage des Turmes und barst auf einen Befehl Andôkais hin auseinander.
Es pfiff wie bei einem starken Sturm, die Böe zerriss die Halteseile und knickte die dicken Stämme, als wären es dürre Zweige. Die erste Plattform wurde durch die Kraft des Windes zerbrochen, woraufhin die Konstruktion ihre Stabilität verlor und sich ächzend nach links neigte.
Unter dem immensen Druck brachen weitere Streben, und die Oger fielen wie abgeschüttelte Käfer und mit den Armen rudernd hinab, mitten in das schwarze Gewimmel aus Orks, Bogglins und anderen Kreaturen. Schließlich stürzte der Belagerungsturm in sich zusammen und begrub hunderte von Ungeheuern unter sich. Das entsetzte Brüllen und Kreischen klang wie Musik in ihren Ohren. Die Trümmer lagen genau vor dem Zugang zum Berg, und die kleineren Belagerungstürme würden erst herangeschafft werden können, wenn die störenden Überreste weggeräumt wären.
»Das wird sie eine Weile beschäftigen«, sagte Andôkai zufrieden.
»Wir müssen uns einen Weg zu dem Verräter bahnen«, befahl Tungdil und gab sein Dasein als williger Sklave Nôd’onns auf. »Schluss mit dem Mummenschanz, ehe dich die Zwerge für den echten Magus halten und dich voller Freude zerteilen.«
Rodario stieg von seinen improvisierten Stelzen und legte die Robe ab, unter der er eine Rüstung trug. Eilig verstaute er die Utensilien in seinem Rucksack.
Balyndis hatte das Treiben vor den Hängen des Tafelberges beobachtet, wo nun eine dicke Staubwolke aufstieg. »Es kommen noch mehr«, alarmierte sie die Übrigen. »Wir müssen uns beeilen! Bei Vraccas, will es denn gar kein Ende nehmen?«
Tungdil beschäftigte angesichts der Vielzahl der Bestien eine ganz andere Frage. Es müssten alle Zwergenstämme und Heere des Geborgenen Landes gegen sie antreten, um sie zu vernichten. Er stellte sich neben die Schmiedin und fasste ihre Hand. Die Berührung gab ihm neue Zuversicht und Kraft. »Erst Nôd’onn, danach sehen wir weiter«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr.
Sie drehten sich um, die Waffen schlagbereit erhoben, und bereiteten sich vor, die Orks vor ihnen im Tunnel von hinten anzugreifen, worauf sich vor allem Boïndil freute.
»Oink, oink, oink«, raunte er, die Augen glommen, und der Kriegswahn nahm von seinem Verstand Besitz. »So liebe ich es. Der Tunnel schmal, der Feinde viel. Ho, Vraccas, die ersten zehn sind für meinen Bruder, der Rest ist für dich.«
»Was auch geschieht, Narmora muss beschützt werden, bis wir zu Nôd’onn gelangen«, schwor ihr Anführer sie ein. »Alles Weitere muss sie erledigen.«
Gandogar packte seine Doppelklingenaxt. »Notfalls gebe ich mein Leben für sie. Der Tod des Magus ist das Wichtigste für das Geborgenen Land.«
Rodario hielt sich vornehm zurück und machte keinen Hehl daraus, dass er mehr in der hinteren Reihe zu finden sein würde. Eilends warf er einen Blick hinaus, während seine Gefährten auf die Orks zuliefen.
»Wartet mal!« Er betrachtete die Banner der aus Osten anrückenden Streitmacht. »Das sind die Farben von … Ido?«, wunderte er sich laut. »Ist Prinz Mallen größenwahnsinnig geworden?« Er erkannte immer mehr Flaggen in dem eindrucksvollen Heer. Das sind Streiter aller Königreiche des Geborgenen Landes!
Voller Erstaunen beobachtete er, dass sich die ersten Reihen der anrückenden Streitmacht gegen die überrumpelten Nachschubtruppen Nôd’onns warfen und sie niedermachten.
Es dauerte, bis die Bestien begriffen, dass sich kein Freund näherte, sondern eine zweite Front entstanden war. Ganz in der Nähe verdunkelten Pfeilschauer den Himmel; zu hunderten stiegen die Geschosse in den Himmel, glitzerten in der Sonne und stürzten Tod bringend in die Reihen der Bestien. Noch mehr unerwartete Gegner stellten sich den Horden des Bösen entgegen. Brandbomben flogen surrend durch die Luft, barsten inmitten der Orks und hüllten sie in Feuer. Panik brach unter den Bestien aus.
»Die Elben! Hervorragend«, jubelte Rodario und rief seinen Kampfgefährten die Neuigkeit zu.
Gandogar grinste. »Die Menschen und die Spitzohren scheinen ihren Mut wieder gefunden zu haben.«
»Lasst uns endlich anfangen«, drängte es Boïndil, das Blut der Orks spritzen zu lassen. »Irgendwo vor uns wartet Nôd’onn darauf, von uns vernichtet zu werden.«
Zuversichtlich stürmten sie los.
Die Gegner zu besiegen stellte sich als sehr einfach heraus. Die Orks leisteten der plötzlich erfolgten Attacke kaum Widerstand, und ehe sie sich organisieren konnten, starben vierzig Ungeheuer. Die Freunde standen mitten auf einer Gangkreuzung, von Zwergen war nichts zu sehen.
»Ho, das war ein Spaß! Wohin müssen wir, Tungdil?«, keuchte Ingrimmsch glücklich. »Du kennst dich aus, wohin wird der Magus wohl gegangen sein?«
»Vermutlich wird er seine Truppen dort unterstützen, wo sie aus eigener Kraft nicht weiterkommen«, überlegte er fieberhaft und hoffte, dass die Wände des verfluchten Schwarzjochs wieder zu ihm sprächen, doch es tat sich nichts. »Mir will kein bestimmter Ort einfallen«, stieß er verzweifelt hervor. »Es ist …«
Ein dumpfes Grollen brachte den Fels unter ihren Füßen zum Beben. Die Wände des linken Ganges erhellten sich und spiegelten das Feuer, das am Ende des Stollens aufloderte und wieder erlosch.
Wortlos rannten sie in den Tunnel. Der Geruch von verbranntem Fleisch lag in der Luft; der fette, schwarze Qualm brannte in ihren Augen und brachte sie zum Husten.
Sie gelangten in die erste von drei aufeinander folgenden Hallen. Die Räume wurden nur von grob geschliffenen, dünnen Steinwänden getrennt, die mit aneinander gereihten, neun Schritt hohen Bogendurchgängen versehen waren und es ihnen ermöglichten, von der ersten bis in die letzte Halle zu sehen.
Überall schlugen sich die Zwerge mit den Eindringlingen. Sie verteidigten ein breites Tor an der Stirnseite der letzten Halle, von wo das Klirren am lautesten ertönte. Die zahlreichen Clanbanner der Zweiten und Vierten wehten neben denen der Ersten.
Nachlässig gearbeitete schwarze Säulen trugen die fünfzig Schritt hohe Decke; brüchige Wendeltreppen ohne sicherndes Geländer wanden sich um die Stützen herum und führten nach oben. Etwa von der Mitte der Pfeiler spannten sich Brücken quer durch den Raum, auf denen ebenfalls hart gekämpft wurde.
»Weiter. Er muss hier sein«, meinte Tungdil entschlossen.
Zunächst fielen sie in dem Getümmel nicht besonders auf, doch das änderte sich, als sie die hintere Halle erreichten und Nôd’onn entdeckten. Er lief hoch oben auf einer Brücke entlang und schaute auf die Verteidiger herab, die sich immer weiter zum Tor zurückzogen.
»Da! Er will sie sicherlich mit seiner Magie angreifen.« Boïndil setzte sich an die Spitze und stürmte auf die Säule zu, deren Treppen sie auf die Brücke brachten. Doch das Schicksal hatte für sie eine andere Auseinandersetzung vorgesehen.
Ein schwarzer Pfeil sirrte von rechts heran. Die Spitze bohrte sich in Tungdils Oberschenkel, das nachfolgende Brennen ließ ihn stöhnen.
»Euer aller Tod heißt Sinthoras«, spie der Alb ihnen entgegen. Er führte eine Horde von fünfzig kräftigen Orks an, und seine Finger legten bereits das nächste Geschoss auf die Sehne. »Ich werde euere Leben nehmen, und das Land raubt euch die Seelen.«
Mir raubt es sie gewiss nicht. Der zweite Pfeil flog heran. Tungdil blieb gerade noch Zeit, seinen Schild hochzureißen, der dem gefiederten Tod den Großteil seiner Wucht nahm.
Fluchend stürmte Sinthoras auf sie zu und befahl den Angriff.
»Rasch, Narmora und Boïndil, die Treppe hinauf«, befahl Tungdil. »Vernichtet Nôd’onn, so lange er uns noch nicht bemerkt hat. Wir halten euch den Rücken frei.« Gepresst stöhnend brach er den Schaft des Pfeils, der in seinem Bein steckte, entzwei und bereitete sich auf den Zusammenprall mit den Gegnern vor. Vraccas, lass es ein gutes Ende nehmen, sandte er ein Stoßgebet an seinen Gott und holte aus, auf die Knie des ersten Orks zielend.
Teile der Steintritte platzten ab. Die Dritten hatten das Material nicht gut gewählt, es war im Lauf der Zyklen rissig geworden und machte den Aufstieg des Zwergs und der Halbalbin zu einem gefährlichen Unterfangen.
Sie umrundeten den Pfeiler und schraubten sich höher und höher, ohne nach den Kämpfenden zu schauen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der kolossalen Gestalt in der malachitfarbenen Robe, die gelegentlich in ihrem Blickfeld erschien. Die Luft wurde wärmer, der Geruch von Blut und Orkinnereien schwebte allgegenwärtig in der Halle.
Als sie den Absatz erreichten, der sie auf die Brücke führte, wuchs ein Famulus wie aus dem Nichts vor ihnen in die Höhe. Er hatte unbemerkt im Schatten des Pfeilers gestanden.
»Was willst du hier?«, fragte er Narmora schroff, die er offenbar für eine Albin hielt. »Du sollst die Orks anführen und nicht …«
Boïndil sprang um die Ecke und schlug ihm zuerst das linke Beil ins Gemächt, danach hackte er dem Magieschüler in die rechte Seite, sodass er gegen die Säule stürzte und zusammensackte.
»Die Überraschung ist der Feind der Zauberer«, grinste er seine Begleiterin an. Er lugte um den Vorsprung. »Nôd’onn ist allein. Ich bleibe hier, damit er keinen Verdacht schöpft.« Sein Blick suchte den ihren. Narmoras Augen hatten sich wegen der Dunkelheit und dem schützenden Berg zurückverwandelt. »Ich werde zur Stelle sein, wenn du in Schwierigkeiten gerätst.« Ingrimmsch zögerte. »Fühlst du dich stark genug?«
Narmora entfernte die Lumpen von der Feuerklinge und lockerte sie in der Halterung, damit sie die Waffe sofort greifen konnte. »Du hast Sorgen, dass meine dunkle Seite mich zur Verräterin macht?«
Er nickte. »Ja.«
»Nun, Boïndil Zweiklinge, du bist ehrlich zu mir«, sie beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter, »aber sollte ich tatsächlich eine Überläuferin sein, kämen deine Bedenken ein wenig spät.« Ihr Gesicht hatte die Härte und die Grausamkeit ihrer albischen Natur nicht verloren, sie wirkte Furcht einflößender denn je zuvor.
Nervös rieb er die Beilköpfe aneinander, ihr Gerede und ihr Gehabe bescherten ihm Unruhe. »Tu was, damit ich weiß, wie es weitergeht«, verlangte er mürrisch.
Sie lächelte und trat aus der Deckung der Säule. »So soll es geschehen. Ich gehe und tue etwas.« Ihre Züge blieben ausdruckslos.
Nôd’onn stand in der Mitte der Brücke. Er streckte seinen rechten Arm aus und beschrieb erste Runen, um einen vernichtenden Zauber gegen die beharrlich kämpfenden Zwerge des ersten und zweiten Stammes zu schleudern. Die aufgequollene Linke hielt den Zauberstab aus weißem Ahorn, der silbrig schwarze Onyx am oberen Ende glomm Unheil verkündend.
Sich anzuschleichen wäre auf der Brücke nicht geglückt, ein offener Angriff fruchtete ebenso wenig. Also blieb Narmora nur die List, um in die Reichweite des gefährlichsten und mächtigsten Magus des Geborgenen Landes zu kommen.
Sie presste sich eine Hand an die Halswunde, wo ihr getrocknetes Blut noch haftete, und tat so, als wäre sie verwundet. Sie gab sich Mühe, so echt wie möglich zu spielen, und setzte taumelnd und wankend einen Fuß vor den anderen.
»Meister«, ächzte sie. »Sie haben den Belagerungsturm zerstört … Andôkai …«
Er hielt inne, und sein Kopf wandte sich ihr zu. Durch die schnelle Bewegung schwabbelte das aufgedunsene Gesicht, als befände sich unter der wächsernen Haut Wasser und kein Fleisch. »Andôkai?«, krächzte er. »Wo hast du sie gesehen?«
»Sie ist draußen, Meister, vor dem Berg, und setzt unseren Truppen mit ihren Zaubern zu«, sprach sie angestrengt und wankte weiterhin auf den fetten Mann zu. Zehn Schritte trennten sie noch von ihm. Zehn unendlich weite Schritte. »Was sollen wir gegen sie tun?«
Nôd’onn wandte sich ihr nun vollends zu. Sie sah seinen feisten Leib, die aufgeschwemmten Züge, die nichts mehr mit dem Gesicht Nudins gemein hatten, und das Blut, das aus seinen Poren trat, wo es sich in dünnen Rinnsalen sammelte und in die Robe sickerte. Der Stoff starrte vor Schmutz, überall zeichneten sich braune Flecken ab, mal glitzerten sie feucht, mal waren sie eingetrocknet. Der Magus stank Übelkeit erregend.
»Ihr könnt nichts gegen sie ausrichten«, sagte er zu ihr mit seiner zweifachen Stimme. »Bring mich an den Ort, wo sie euch zuletzt angegriffen hat, ich kümmere mich selbst um sie. Ihrer Magie seid ihr nicht gewachsen. Geh voraus.«
Fünf Schritte.
Ich muss näher an ihn herankommen. Narmora blieb stehen und brach in die Knie. »Meister, ich bin schwer verletzt. Könntet Ihr mir zuerst die Gnade erweisen, mich von den Wunden zu heilen, damit ich Euch mit ganzer Kraft dienen kann?«
»Dazu ist später Zeit«, schmetterte er ihr Gesuch ab. »Steh auf und …« Sein Blick fiel auf die Gruppe um Tungdil und Gandogar, die sich erbittert gegen die Orks und Sinthoras zur Wehr setzten. »Sie? Wie ist das möglich? Ich dachte, die Artefakte …« Er verstummte und sammelte seine Konzentration. »Umso besser.«
Als er die Augen schloss, handelte die Halbalbin, denn eine bessere Gelegenheit würde sich wahrscheinlich nicht mehr ergeben.
Langsam und lautlos erhob sie sich, um ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen, dann setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den nächsten.
Vier Schritte, drei Schritte, zwei Schritte, ihre Hand legte sich an den Griff der Feuerklinge. Noch einen Schritt …
»Meister, Obacht!«, hallte ein warnender Ruf über die Brücke.
Narmora riss die Axt aus der Halterung und schlug zu. Da lenkte Nôd’onn den gegen Tungdil gedachten Zauber auf sie.
Narmora hatte das Gefühl, sie blicke unmittelbar in die Sonne, so grell leuchtete es vor ihren Augen auf. Die Helligkeit blendete sie schmerzhaft, sie wurde von den Füßen gehoben und in gerade Linie nach hinten geschleudert. Blind landete sie auf der Brücke, doch ihre Finger gaben die Feuerklinge trotz der Härte des Aufschlags nicht frei.
Sie wusste, dass es ihr nicht gelungen war, Nôd’onn zu treffen, dazu musste sie nichts sehen. Aber wieso lebe ich noch? Sie tastete sich vorsichtig ab und berührte das Schutzamulett, dass Andôkai ihr gegeben hatte. Deshalb!
»Erledige das«, hörte sie den Magus sagen, »und bring mir die Axt.« Das scharfe Klacken, das vom Zauberstab herrührte, wenn das Ende auf den Steinboden traf, entfernte sich.
Ihre Sicht kehrte zurück, verschwommen erkannte sie die malachitfarbene Robe am anderen Ende der Brücke. Stöhnend stemmte sie sich auf, um hinter dem Feind herzurennen, ihn einzuholen und zu stellen. Das Amulett gab ihr Sicherheit.
Ein dunkler Schatten sprang unvermittelt über sie hinweg und kam drei Schritte elegant vor ihr auf. Die Spitzen zweier Kurzschwerter reckten sich ihr entgegen.
»Das Tote Land gab mir eine Gelegenheit, mich an dir zu rächen«, begrüßte sie Caphalor; die schwere Verletzung, die sie ihm am Hals zugefügt hatte, war deutlich sichtbar.
»Wir haben dir vorhin nicht den Kopf von den Schultern geschlagen«, erwiderte Narmora kalt, »um dir zu zeigen, wie wenig wir uns vor dir fürchten. Du bist leicht zu schlagen.« Sie hob die Feuerklinge. Wenn er ihre Angst spürte, hätte er gewonnen. »Dieses Mal wirst du nicht noch einmal aufstehen.«
Caphalor fletschte die Zähne und begann seine Attacken. Narmora spürte bald, dass sie mit der Geschwindigkeit des untoten Kriegers nicht lange mithalten könnte. Daher erwiderte sie die Angriffe mit einem Ausfall und traf ihn sogar. Die Axt grub sich in die linke Schulter. Mehr geschah nicht.
Der Alb sprang zurück und hob die Waffen. »Ich werde dich verzehren, und mit deinem Blut male ich ein Bild von deinem zerstückelten Körper«, versprach er ihr und setzte ihr nach. Dabei drängte er sie so geschickt zurück, dass sie gefährlich nahe an den Brückenrand geriet. Im letzten Augenblick bemerkte sie, dass sie nur mehr eine Handbreit Stein von der Tiefe trennte.
Caphalor tauchte blitzartig ab und schlug nach ihrem Unterschenkel. Sie sprang über ihn, wirbelte einmal um die eigene Achse und schlug dabei nach seinem Hals, um ihn dieses Mal endgültig zu vernichten.
Er ließ sich fallen, rollte sich auf den Rücken und stieß mit den Kurzschwertern senkrecht nach oben, als sie sich vorbeugte, den Streich mit der Feuerklinge führend.
Die Schneide der Axt schrammte Funken stiebend über den Steinboden der Brücke, ehe sie seitlich in den Hals des Albs eindrang und das Vernichtungswerk vollendete. Caphalors Augen weiteten sich überrascht.
Aber auch er hatte getroffen.
Narmora hing aufgespießt auf seinen Kurzschwertern, die sich durch die Rüstung unterhalb der Schultergelenke in ihre Brust gebohrt hatten. Die Schmerzen raubten ihr schier den Verstand. Durch einen dunklen Schleier sah sie, wie das Schutzamulett von ihrem Hals fiel; das durchschnittene Bändchen und der Kristall prallten auf den Alb und trudelten in die Tiefe.
Ich muss … Sie versuchte zu rufen und auf sich aufmerksam zu machen, aber es gelang ihr nicht. Sie war zu schwach und die beiden neuerlichen Verwundungen zu schwer. Narmora spürte genau, wie die Ohnmacht in sie hineinkroch, und konnte doch nichts dagegen unternehmen.
Sie verlor das Bewusstsein, ihre Knie gaben nach, und sie sackte auf den Kadaver Caphalors, dessen Kurzschwerter und steife Arme sie immer noch gefangen hielten. Ihr wurde eisig kalt. Unfähig, irgendeine Bewegung zu machen, kauerte sie über ihrem Angreifer.
Furgas … Ihre Kraft schwand, die Finger, die sich um den Griff der Feuerklinge klammerten, öffneten sich gegen ihren Willen. Die Axt fiel klirrend auf die Brücke, prallte ab und rutschte über die Kante in die Tiefe.
Tungdil hatte den Kampf Narmoras mitverfolgt, ohne von unten eingreifen zu können. Ihr Ende zu sehen versetzte ihn in rasende Wut.
Nôd’onn umrundete unterdessen die weiter von ihnen entfernte Säule nach unten und würde in wenigen Augenblicken bei ihnen sein. Ohne die Feuerklinge ist jeder Widerstand gegen den Magus sinnlos.
»Ich hole die Axt«, rief er Balyndis zu. »Haltet mir die Orks vom Leib und gebt auf Nôd’onn Acht! Andôkai muss ihn beschäftigen, bis ich zurückkehre.«
Sie nickte grimmig und fällte die Bestie, die sich gerade auf ihn stürzen wollte, mit einem einzigen Schlag. »Geh!«
Tungdil löste sich aus dem Scharmützel und gab den Kriegern der Ersten, Zweiten und Vierten mit seinem Horn auf der anderen Seite der Halle das Signal, dass er ihre Unterstützung benötigte. Vereinzelt schmetterten sie ihre Antworten, und an manchen Stellen nahm das Klirren der Waffen an Intensität zu. Die Ablenkung würde hoffentlich dazu führen, dass sich die Orks weniger um ihn scherten.
»Vraccas, wenn du willst, dass im Geborgenen Land weiterhin dein Name verehrt wird, steh mir bei«, betete er knapp und stürzte sich in das Dickicht aus stinkenden Rüstungen und Beinen.
Er verzichtete darauf, den Wald mit seiner Axt zu lichten und auf sich aufmerksam zu machen, sondern bemühte sich, in gebeugter Haltung möglichst ohne Widerstand zwischen den Bestien hindurchzugelangen. Einem Gnom wie Swerd wäre das leicht gefallen, einem gedrungenen Zwerg aber bereitete es Schwierigkeiten.
Gelegentlich bemerkten sie ihn, doch ehe sie ihn greifen konnten, hatte er sich wieder davongemacht. Zweimal musste er seine Waffe einsetzen, um eine grünhäutige Hand zu kappen, die ihn festhalten wollte.
So gelangte er zu der Stelle, wo er die Feuerklinge nach ihrem Fall von der Brücke hatte verschwinden sehen. Seine Augen suchten aufmerksam den Boden ab, doch sie war verschwunden.
»Ho, Tungdil! Ich habe etwas für dich«, rief ihm jemand von hinten zu. Er wandte sich um, sah gerade noch einen Zwergenkörper verschwinden und die Intarsien am Kopf der Feuerklinge aufblinken. »Komm und hol es dir.«
Ein schlechter Zeitpunkt für einen Scherz. Mit seinem schmerzenden Bein machte er sich an die Verfolgung und verließ im Schutz einer Säule die Horde Orks, die weiterhin gegen die Zwergenkrieger anrannten und sich kaum um das scherten, was in ihren Rücken vorging.
Zu seiner Überraschung stand er jenem Zwerg gegenüber, mit dem er am wenigsten gerechnet hatte und der ihm nun die Axt entgegenhielt. »Du?«
»Möchtest du sie?«, fragte Bislipur lauernd, den ein Sturz aus großer Höhe grässlich entstellt hatte. Sein ganzer Körper war deformiert, und den Anblick seines zerschmetterten Gesichts mit der klaffenden Wunde im Schädel konnte Tungdil kaum ertragen.
»Du bist für deine Machenschaften bestraft worden, wie ich sehe«, erwiderte er finster und hielt seine eigene Axt angriffsbereit. Das Tote Land hat ihn. »Gandogar …«
»Gandogar ist mir gleichgültig.«
»Dein Herr, für den du auf hinterlistige Weise den Thron des Großkönigs erringen wolltest, ist dir unversehens gleichgültig?«
»Nicht unversehens, sondern schon immer. Mein Bestreben war es, denjenigen auf den Thron zu setzen, den ich lenken und leiten kann, wie es mir gefällt«, sagte er und ließ die Axt spielerisch kreisen. »Der Krieg gegen die Elben, das war mein Ziel. Dafür habe ich Gandogars Vater und seinen Bruder getötet und es den Elben in die Schuhe geschoben, um seinen Hass zu schüren.« Er lachte und deutete auf die Kämpfe um sie herum. »Die Spitzohren benötige ich nicht mehr. Und es läuft sogar besser, als ich erwartet habe.« Bislipur erkannte den Unglauben in den Augen seines Gegenübers. »Ich bin ein Dritter, Tungdil. Genau wie du.«
»Nein«, wisperte er. Die Gefechte und das Geschrei verblassten, er sah einzig das überlegene Lächeln des Zwergs vor sich, mit dem er sich anfangs auf unerklärliche Weise verbunden gefühlt hatte. »Ich bin kein Dritter … Ich bin ein Vierter.«
»Wie ich?!«, lachte er ihn aus. »Wir sind dazu bestimmt, uns an den anderen zu rächen, Tungdil. Sie haben Lorimbur und uns nichts gelehrt, sie haben uns verspottet, weil sie sich für etwas Besseres hielten. Ihr Können machte sie überheblich wie die Elben. Erinnere dich, was sie mit dir anstellten.« Er kam näher. »Der feine Balendilín und der edle Gundrabur, sie haben dich benutzt, weil es ihnen in den Kram passte! Meinst du, sie hätten sich um dich gesorgt, wenn sie dich nicht für ihre Posse benötigt hätten? Du säßest noch immer bei Lot-Ionan und wärst ihnen gleichgültig, sie hätten den Brief einfach weggeworfen.« Sein Blick wirkte hypnotisch, die Worte fraßen sich in Tungdils Verstand fest. »Verabscheuungswürdig, so sind sie alle. Deshalb müssen sie sterben.«
»Nein«, wagte er zögernd Widerspruch. »Balyndis …«
Bislipur lachte meckernd. »Ein Weib, das du magst? Was wird sie tun, wenn sie erfährt, dass du ein Zwergentöter und Verräter bist wie ich? Deine Zukunft ist bei den Dritten, nicht hier. Hier ist nur der Tod.«
»Ein Verräter …« Fassungslos starrte er auf das Gemetzel in der Halle. Erst jetzt erkannte er die Tragweite der Worte. »Du warst es! Du hast die Bestien in die Zwergenreiche geführt …«
»Ich habe in Nôd’onn jemanden gefunden, der ein viel größerer Verbündeter ist. Ich versprach ihm, dass sich die Dritten ihm nicht in den Weg stellen würden, wenn er die anderen Stämme dafür vernichtete. Die Gelegenheit musste ich einfach nutzen.«
Tungdil schluckte, seine Hände umfassten den Stiel fester. »Du bist wahnsinnig. Du hast das Geborgene Land in die Hand des Bösen gegeben, nur um …«
»Nein!«, schrie Bislipur unvermittelt. »Nicht ›nur‹, sondern um unsere Bestimmung zu erfüllen, um endlich das zu vollenden, was unser Stamm seit tausenden von Zyklen versucht. Ein größeres Ziel gibt es für uns beide nicht! Uns gehören alle Gebirge, wenn sie nicht mehr sind.«
»Rede nicht, als beträfe es mich. Ich bin ausgezogen, um Nôd’onn aufzuhalten und die Zwergenstämme zu retten. Ich kann kein Dritter sein!«, schrie er verzweifelt.
»Doch, du bist einer von uns«, blieb Bislipur überzeugt. »Ich sah es sofort, als du in die Halle tratest, aber du verleugnest den Hass in deinem Herzen. Lausche in dich hinein, und du wirst die Wahrheit meiner Worte erkennen.«
»Die Wahrheit aus dem Mund eines Verräters?« Tungdil blickte ihn verächtlich an und holte tief Luft. »Gib mir die Feuerklinge.«
Er blickte lauernd. »Um was damit zu tun?«
»Nôd’onn zu vernichten. Gandogar und die anderen werden entscheiden, was mit dir geschieht.«
»Dann wirst du sie mir abnehmen müssen. Du hast den Tod gewählt, Tungdil. Sehr schade«, meinte Bislipur bedauernd und klopfte auf die Axt. »Wenn man bedenkt, dass du so viele Entbehrungen auf dich genommen hast, nur um deine eigene Hinrichtungswaffe zu schmieden …«
Ohne Vorwarnung attackierte Tungdil den Verräter, aber sein Angriff wurde abgeblockt. Bald entspann sich ein heftiges Gefecht zwischen den Zwergen, doch keiner gewann die Oberhand.
»Du willst deine Abstammung immer noch verleugnen?«, meinte der Hinkende höhnisch. »Wie sonst hättest du in der kurzen Zeit so gut zu kämpfen gelernt, wenn es dir nicht vererbt worden wäre?«
»Nein!«, schrie Tungdil wütend und schlug zu. »Ich will kein Dritter sein!«
Bislipur hielt dagegen und zertrümmerte Tungdils Waffe. Der Holzschaft brach ab, der schwere Kopf trudelte gegen den Nasenschutz seines Helms und ließ ihn Sternchen sehen.
Sofort setzte sein Gegner nach. Tungdil wich aus und stürzte dabei, im Fallen streckte er die Hände aus und riss ihn mit sich.
Sie wälzten sich am Boden, und Bislipur verlor schließlich die Feuerklinge. Stattdessen zückte er einen Dolch und rammte ihn tief in den Oberarm seines Widersachers. Tungdil keuchte auf und antwortete mit einem Stich seines Messers in Bislipurs Hals.
»Du kannst mich nicht mehr töten«, lachte er ihn aus. »Das hat Balendilín schon vor dir versucht und ist an dem Toten Land gescheitert, wie du siehst.« Er schlug ihm wuchtig ins Gesicht, dass der Helm davonflog, und wand sich unter ihm hervor. Ein harter Tritt, und Tungdil verlor sein Messer. »Es ist ein ungleicher Kampf, den du dazu noch verlieren wirst.«
Seine Finger griffen in Tungdils Haare und rissen ihn in die Höhe.
»Weil du einer von uns bist, frage ich dich ein letztes Mal«, schnarrte er. »Möchtest du mit dem Abschaum zu Grunde gehen, oder kehrst du mit mir ins Reich der Dritten zurück, um unseren Triumph zu feiern?«
Waffenlos wie Tungdil nun war, blieb ihm nur ein letzter Versuch. Er ertastete das Halsband Swerds in seinem kleinen Lederbeutel, riss er heraus und legte es dem verblüfften Bislipur um.
»Das Band des Gnoms? Was soll das? Nur zu, versuche, mich zu erwürgen! Denkst du, ich brauche noch Luft zum Atmen?«
»Was du brauchst, ist dein Kopf.« Tungdil stieß ihn zurück und verlor dabei ein gutes Büschel Haare. Dabei schnappte er sich den Silberdraht vom Gürtel. »Und genau den nehme ich dir.«
Ruckartig zog er die Schlinge zusammen. Die Lasche verkleinerte sich, und gleichzeitig schnürte sich der Hals immer tiefer ein. Nun verstand Bislipur, was er beabsichtigte.
Er krächzte unverständlich, weil sein Kehlkopf bereits zerdrückt war, und wollte den Dolch in Tungdil rammen, da verengte dieser den Draht mit einem Ruck. Das silberne Kropfband glitt durch die Haut, durchschnitt Bislipurs Wirbel, und als der Draht ganz durch die Öse lief und die Lasche sich auflöste, fiel der Kopf des Verräters abgetrennt zu Boden. Der Verschluss des widerlichen Halsbands öffnete sich und zersprang, der Zauber war gebrochen.
Zum Triumphieren blieb Tungdil keine Zeit. Er hob die Feuerklinge auf und rannte, so schnell es ihm seine Verletzungen erlaubten, zurück zu seinen Freunden, um ihnen gegen Nôd’onn beizustehen.
Nun fehlte ihnen nur noch ein Feind der Zwerge, der die Waffe gegen den Magus führen würde.
Die Orks wichen zur Seite und machten Nôd’onn Platz, der Kampf wurde unterbrochen.
»Andôkai«, sagte er krächzend und neigte seinen aufgedunsenen Kopf. »Es wäre besser gewesen, du hättest mich unterstützt, anstatt dich in nutzlosem Widerstand aufzureiben. Wenn die Gefahr aus dem Westen kommt, brauchen wir alle Kräfte.«
»Du bist die Gefahr, Nudin«, erwiderte sie, den Abwehrzauber mit ihren letzten Kräften aufrecht haltend, weil sie nichts riskieren wollte. »In dir lebt ein dämonisches Wesen, das dich diese verworrenen Dinge denken lässt, das dich lenkt und benutzt.«
»Es ist mein Freund, es ist der Freund des Geborgenen Landes«, widersprach er verzweifelt. »Ihr versteht es nicht! Warum?«
Sie nickte. »Da stimme ich dir zu, wir verstehen es nicht. Tod und Verderben über die Menschen, Zwerge und Elben zu bringen erscheint mir ein zu großer Preis für einen angeblichen Schutz vor einem Feind, der nur in deinem verblendeten Verstand existiert, Nudin.«
»Ich bin Nôd’onn!«, schrie er sie mit schriller Stimme an. »Ihr werdet erkennen, dass mein Freund und ich Recht hatten, wenn wir euch alle vor dem bewahren, was aus dem Westen kommt. Legt die Waffen nieder, und ich schone euch.« Seine zweifache Stimme nahm einen beschwörenden Tonfall an, er schien von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt. »Ich tue das alles doch nur, weil ihr mich dazu zwingt. Hättet ihr eure Macht freiwillig abgetreten, wäre es nicht zu diesen Kriegen gekommen.«
Andôkai hob ihr Schwert, die Schneide blitzte auf. »Du hast zu viel Leid über uns gebracht, als dass wir dir Glauben schenken könnten.«
»Dann«, sagte er bekümmert, »müssen wir es zu Ende bringen. Ihr hattet die Wahl.« Eine einzige Geste genügte, und ihre Schutzwand barst mit einem hellen Geräusch.
Sinthoras sprang augenblicklich nach vorn und stach mit seinem Speer nach ihr. Sie parierte den Angriff und wurde daraufhin von drei Orks gleichzeitig attackiert, die sie von den Zwergen abdrängten.
Plötzlich ragte der Alb wie aus dem Nichts neben ihr in die Höhe, sein Speer stieß genau auf ihre Körpermitte zu … und prallte von einem polierten Schild ab.
Violettes Licht flammte über Sinthoras auf, ein grollendes Knurren erklang, dann hackte Djerůns Schwert nach dem Alb, der es gerade noch schaffte, den Schaft seiner Waffe in die Höhe zu reißen.
Kein Holz der Welt, vermutlich nicht einmal das einer Sigurdazie, hätte diesem Schlag standgehalten, und so zerteilte die Klinge des riesigen Schwertes zuerst den Speer und danach den entgeisterten Sinthoras, um ihm mit einer bogenförmigen Bewegung den Kopf von den Schultern zu schlagen. Tot, gespalten und geköpft stürzte er auf den Stein.
Die Orks wichen ängstlich quiekend vor dem König der Bestien zurück, der sich brüllend aufrichtete, das Visier geöffnet und sein wahres Antlitz in dem grellen Licht verbergend. Die Furcht vor ihm verschaffte den Freunden die dringend benötigte Atempause.
Tungdil tauchte humpelnd an Andôkais Seite auf, in den Händen die Feuerklinge haltend. »Hier ist sie.« Er deutete auf Djerůn. »Ist er eine Bestie und ein Feind der Zwerge?«, wollte er schnaufend wissen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Möchtest du ihm die Feuerklinge anvertrauen?«
»Haben wir denn eine Wahl?« Er warf sie ihm zu.
Djerůn rammte sein Schwert kurzerhand durch zwei Orks und ließ es stecken, um die Hand freizuhaben und die Axt zu fangen.
Bringen wir es zu einer Entscheidung. Tungdil nahm sein Horn und blies laut hinein; die Zwerge des Ersten, Zweiten und Vierten Stammes antworteten ihm mit Hörnerklang und Jubelrufen. »Für das Geborgene Land, im Namen von Vraccas!«, rief er und stürmte gegen den Magus; seine Freunde folgten ihm, Balyndis und Gandogar befanden sich unmittelbar an seiner Seite.
Sie hieben sich durch die Orks und Bogglins, dass es nur so spritzte, und endlich war Djerůn so nahe heran, dass er nach einem knappen Befehl der Maga einen Angriff gegen Nôd’onn wagte. Andôkai schuf einen grellen Blitz, der zu nichts anderem diente, als den Magus zu blenden.
Unvermittelt stand der Krieger vor dem irritierten Nôd’onn und schlug mit solcher Wucht zu, dass die Feuerklinge von hinten in den ungepanzerten Körper eindrang und vorn wieder austrat. Ein Schwall stinkender schwarzer Flüssigkeit ergoss sich über die Umstehenden.
Der Magus brüllte laut, und noch während sein Schrei durch die Hallen gellte, schlossen sich seine Wunden bereits wieder.
»Nein«, raunte Tungdil entsetzt. »Das … sie hätte ihn töten müssen!«
Nôd’onn sprach einen Zauber gegen den gigantischen Kämpfer, der von schwarzen Blitzen getroffen in die Orks stürzte und sich nicht mehr regte. »Selbst das wollte euch nicht gelingen!«, rief ihnen der Mann entgegen, an dem nur noch die zerfetzte Robe von der Verletzung zeugte.
Es soll nicht umsonst gewesen sein! Wütend führte Tungdil seinen Angriff fort, und während seine Freude alles unternahmen, um den Magus zu beschäftigen, was ihnen zusehends schwerer fiel, suchte er zum zweiten Mal nach der Feuerklinge.
Hastig entwand er sie den steifen, eisernen Fingern Djerůns. Ein eigenartiges Kribbeln lief durch seine Finger. Was …?
Die Intarsien glommen auf, die Diamanten strahlten und funkelten wie tausend Sonnen. Zuerst glaubte er, er sei ein Opfer von Nôd’onns Zaubersprüchen geworden, doch dann begriff er, dass die Wirkung einzig von der Axt ausging, die zu spüren schien, dass ihre einzigartigen Kräfte gegen den Dämon gefordert waren.
Bei Vraccas, ich bin ein Dritter, verstand er die Bedeutung des Geschehens und erkannte seine Herkunft. Aber meine Abstammung wird zu Gutem führen, das schwöre ich.
Er packte den Stiel und rannte mit leicht eingezogenem Kopf auf den Magus zu. Die Orks, die sich ihm in den Weg stellten und die er mit der schimmernden Schneide traf, vergingen in einem aufflammenden weißen Feuer. Bei jedem Schlag zog die Waffe einen gleißenden Schweif hinter sich her, und Tungdil spürte die Hitze, die von ihm ausging. Es war die gleiche, die er von der Esse im Reich der Fünften kannte.
Nôd’onn bemerkte die Gefahr sofort. Seine bislang so selbstsichere Miene veränderte sich und nahm einen Ausdruck immenser Furcht an. Die Zaubersprüche, die er gegen den anstürmenden Zwerg sandte, vergingen; die Runen der Feuerklinge beschützten ihren Träger und ließen nicht zu, dass ihm etwas geschah.
»Wenn du mich tötest, wirst du das Geborgene Land vernichten! Die Gefahr, die ihr nicht aufzuhalten vermögt, macht sich bereit, um uns aus dem Westen anzugreifen«, prophezeite er und stieß mit der Spitze des Ahornstabes nach ihm. Tungdil wehrte den Angriff ab und sprang ganz nah an den Mann heran. »Du wirst seinen Untergang verschulden. Du musst mich leben lassen!«
Tungdil zerschlug den Ahornstab; der Onyx auf dem oberen Ende barst, und die dunklen Edelsteinsplitter regneten zu Boden.
»Nein. Wir beschützen das Geborgene Land selbst, so wie wir es vor dir beschützen«, entgegnete Tungdil grimmig und schlug zu. Für Lot-Ionan, Frala und ihre Töchter.
Die Ausweichbewegung des feisten Mannes erfolgte zu spät, und selbst hastig gewirkte Magie konnte den Hieb nicht mehr aufhalten. Die Schutzsymbole flirrten in der Luft und wurden von der Feuerklinge vernichtet. Dann fuhr die diamantenbesetzte Schneide in Nôd’onns Wanst.
Der Bauch platzte wie eine überreife Frucht. Innereien, Magen, Darm, die Lunge, alles Menschliche ergoss sich als halb zersetzter Brei mit ungeheurem Druck auf den Boden. Ein fingergroßer Malachitsplitter wurde von der widerlichen Flut davongespült.
Aus dem sprühenden Blut löste sich ein schimmernder Nebel, in dem es schwarz, silbern und rot flackerte. Er dehnte sich rasch aus, wuchs fünf Schritt in die Höhe und nahm allmählich Konturen an.
Zwei schwarze Augenhöhlen entstanden, aus denen faustgroße leuchtende Sterne voller Bosheit und Hass rot glühend auf den Zwerg hinabstarrten. Dann wandten sie sich blitzschnell zu Andôkai.
Der Dämon hat sich ein neues Opfer gesucht!
Der wirbelnde Dunst flog zielstrebig auf die Maga zu, die vor ihm zurückwich. Ihr Schwert glitt wirkungslos durch ihn hindurch. Jetzt verkleinerte er sich wieder, einzelne durchsichtige Arme entstanden und umschlossen die blonde Frau.
»Tungdil!« Sie ächzte auf, schwankte und brach in die Knie, während die ersten tastenden Nebelfinger ihre Kiefer auseinander drückten. Das Wesen machte sich bereit, in eine neue Trägerin zu fahren, dieses Mal ohne deren Einverständnis.
Tungdil sprang an ihre Seite, und als der flirrende, lebendige Nebel in ihre Mundhöhle sickern wollte, schlug der Zwerg zu.
Die Runen der Klinge schimmerten auf, und die Feuerklinge zerteilte das Gespinst. Ein lautes Zischen ertönte, der Nebel zog sich wie ein verletztes Tier zurück, aber Tungdil setzte ihm nach. Die Hiebe der Feuerklinge trennten kleinere Schwaden ab, die verblassend durch die Halle trudelten und sich auflösten, doch der Rest des Dämons blieb bestehen und schien zur Decke ausweichen zu wollen.
Dann eben auf andere Weise. Tungdil stieg auf eine umgestürzte Säule, ignorierte seine schmerzenden Wunden im Bein und am Arm, rannte auf ihr entlang und drückte sich mit viel Schwung ab, die Waffe zum Schlag erhoben. »Vraccas!«
Sein gut gezielter Sprung brachte ihn ins Zentrum des Nebels, die Schneide traf. Sämtliche Runen erstrahlten in hellem Schimmer und schufen einen gleißenden Schweif hinter dem Axtkopf. Die Diamanten flammten grell auf.
Einen Augenblick hing Tungdil im Innern des Dämons und hatte das Gefühl, bei seinem Flug langsamer zu werden, dann erklang ein Geräusch wie von reißendem Leinen, und ein lautes Stöhnen folgte.
Tungdil landete auf der anderen Seite des Nebels und stürzte, doch das Kettenhemd bewahrte ihn vor Schrammen. Habe ich es geschafft? Er blickte über die Schulter und sah das Loch, das er in den Nebel geschlagen hatte. Der Dunst sank zu Boden und verfärbte sich, er wurde grau, dann schwarz und löste sich schließlich ganz auf. Nichts erinnerte mehr an ihn.
Niemand im Schwarzjoch regte sich. Freund und Feind standen da und starrten. Sie alle hatten beobachtet, wie Nôd’onn durch seine Hand getötet und der Dämon vernichtet worden war. Es war grabesstill.
Einer der Albae, der die Horden eben noch gegen die Zwerge getrieben hatte, griff aufschreiend nach seinem Schutzkristall. Im nächsten Augenblick verging das Amulett in einer gewaltigen Explosion und zerriss den Krieger. Die Geschenke des Magus vernichteten sich selbst, ein Alb starb nach dem anderen, und auch einige Orkanführer verloren ihr Leben.
Ein lautes Horn erklang und schmetterte das Signal zum Angriff, die Zwergenkrieger der drei Stämme wollten nicht länger warten.
Die Bogglins wandten sich als Erste zur heillosen Flucht, die Orks folgten ihnen, doch die Zwerge hetzten sie vor sich her und holten sie spätestens bei den engen Tunneln wieder ein. Schonung und Mitleid gab es nicht. Das Krachen und Scheppern der wütenden Äxte schallte hinauf bis zur Decke der Halle.
Tungdil stemmte sich in die Höhe. Balyndis stand neben ihm und half ihm beim Aufstehen. »Du hast es geschafft!«, freute sie sich und drückte ihm einen langen Kuss auf den Mund.
Dies hatte er sich sehr lange herbeigesehnt, und doch empfand er nur wenig Freude dabei. Die Gewissheit plagte ihn. »Weil ich ein Dritter bin«, fügte er bitter hinzu. Ein Lorimbur, ein Zwergentöter.
Sie nickte. »Vraccas sei Dank, dass es so ist. Wie hätten wir den Nôd’onn sonst besiegen können?«, lächelte sie. »Du bist ein echter Zwerg, durch und durch, deine Abstammung spielt für mich keine Rolle. Mein Herz sagt mir, dass ich dir vertrauen kann. Nur darauf kommt es mir an.«
Dankbar drückte er ihre Hand. Ich hoffe, dass die anderen es genauso sehen.
Andôkai befand sich oben auf der Brücke und kümmerte sich um die verletzte Narmora und den verwundeten Boïndil, der gegen Caphalor nicht bestanden hatte; mehrere Zwerge halfen ihr dabei. Djerůn stand schon wieder, das Visier seines Helmes hatte er geschlossen und machte immer noch ein Geheimnis aus seinem Gesicht.
Die ersten zwergischen Heilkundigen näherten sich ihnen mit Wasser, Salben und Verbänden, um nach ihren Wunden zu schauen. Nachdem die Anspannung des Kampfes von ihm abgefallen war, spürte Tungdil, wo es überall wehtat. Dankbar ließ er die Prozeduren über sich ergehen, die Feuerklinge unter den Gürtel Giselbart Eisenauges gehakt.
Zeit zum Ausruhen blieb ihm keine. Rodario lief mit sorgenvollem Gesicht zu ihm.
»Ich weiß, der Zeitpunkt kommt ungünstig, tapferer und verwundeter Held des Geborgenen Landes, aber wir müssen nach Furgas sehen«, bat er. »Er liegt immer noch im Zelt und …«
»Ein Held?« Tungdil grinste. Was aus einem Gelehrten nicht alles werden kann. Ich hoffe, dass Frala und Lot-Ionan mich sehen können. Er stand auf, prüfte den Sitz seiner Verbände. »Wenn ich ein Held bin, muss ich wohl weiterkämpfen, wie es in den Büchern steht.«
»Verdammte Albae, sie sind wie die Schatten. Ich habe das Spitzohr nicht kommen hören. Er hat mich hinterrücks niedergestochen.« Boïndil, einen breiten weißen Verband über der Brust, hinkte die Stufen hinab und feixte. »Genau. Wie es in den Büchern steht, Gelehrter. Mein Bruder wäre stolz auf dich.«
»Gut, dass du da bist.« Tungdil klopfte ihm vorsichtig auf die Schulter und fühlte eine enorme Erleichterung. Ein weiterer toter Gefährte hätte ihm noch gefehlt. »Dann sehen wir nach Furgas.«
Tungdil, Rodario, Balyndis, Boïndil und Djerůn eilten die Stufen hinab, Andôkai holte sie nach einigen Schritten ein. Sie hatten es gemeinsam als Fremde begonnen, und sie wollten es gemeinsam als Freunde zu Ende bringen.
Ein kühler Wind wehte über das Plateau, doch die Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke brachen, wärmten und gaben einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Frühling.
»Aus dem Berg, der einst das Verhängnis für die Zwerge werden sollte, entsteht an diesem Tag ein Ort der Hoffnung und der Zuversicht, dass das Geborgene Land in neuer Gemeinsamkeit erblühen und erstarken wird.« Gandogar ließ den Blick über den Rücken des Tafelberges schweifen und betrachtete die bunt gemischte Versammlung, die sich eingefunden hatte.
Vor einem halben Zyklus hätte er jeden für verrückt erklären lassen, der ihm vorausgesagt hätte, dass die Elben, Menschen und Zwerge auf dem stumpfen Gipfel des Schwarzjochs zusammenfanden, wohlgemerkt nach einer Schlacht, an der alle drei Völker teilgenommen hatten, doch nicht als Gegner.
Prinz Mallen von Ido saß neben Elbenfürst Liútasil von Âlandur, es folgten Balendilín Einarm vom Clan der Starkfinger aus dem Stamm der Zweiten und Xamtys II. Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne vom Stamm der Ersten. Dahinter hatten sich die Menschenkönige der verbliebenen sechs Reiche eingefunden, und nicht zuletzt befand sich auch Andôkai die Stürmische unter ihnen.
In gebührendem Abstand zu den Herrschern standen die besten Krieger der Schlacht, Menschen, Zwerge und Elben, nebeneinander auf dem Plateau und lauschten, was ihre Führer besprachen. Gandogar erkannte auch Tungdil und Balyndis unter ihnen. Djerůn ragte wie ein Fels aus der Masse heraus.
»Nôd’onn, die Kreatur, die aus Nudin dem Wissbegierigen und einem Wesen entstand, das aus dem Norden kam, ist besiegt und vernichtet. Die Macht des Toten Landes ist gebrochen, und die Natur kehrt zu ihren alten Gesetzen zurück«, fuhr er fort. »Das gelang uns nur, weil die Menschen, die Elben und die Zwergenstämme zueinander standen und im Augenblick der Bedrohung nach langer Zeit ihre althergebrachten Abneigungen und ihren Hass vergaßen, um das Böse zu besiegen.« Er hob die Arme. »Und es gelang! Kann es ein besseres Zeichen dafür geben, unsere Feindschaften zu begraben?«
Er schwieg eine Weile, um seine Worte wirken zu lassen.
»Ihr, Prinz Mallen von Ido, habt die Streiter der Königreiche nach der Niederlage in Porista zusammengeführt und ein Heer gebildet, um zum Schwarzjoch aufzubrechen und den Versuch zu wagen, Nôd’onn niederzuwerfen«, sagte er zu dem blonden Mann, dann wandte er sich Liútasil zu. »Ihr, Liútasil, Fürst der Elben Âlandurs, vernahmt unsere Worte, als wir Euch um Hilfe baten, und kamt trotz der Bedenken, die Ihr in Eurem Herzen trugt.« Er schaute zu den Zwergen. »Und ihr, meine Stammesbrüder und -Schwestern, habt euch an unsere Gemeinschaft und die Aufgabe erinnert, die uns Vraccas einst gab.« Er ballte die Faust. »Wir haben das Geborgene Land beschützt.«
Die Krieger aller Völker trommelten gegen ihre Schilde und schlugen ihre Waffen aneinander.
»Der Hass muss aus unseren Herzen verschwinden, die Kriege gehören der Vergangenheit an und sollen vergessen werden. Und wisset, dass von heute an die Chroniken des Friedens, der Anteilnahme und der Freundschaft in unserem Land geschrieben werden.« Er reckte seine Axt in die Höhe, die Herrscher und Fürsten erhoben sich, und gemeinsam schworen sich die Königreiche Freundschaft.
Dieses Mal brandete lauter Jubel auf, Balyndis küsste Tungdil in ihrem Überschwang, froh und glücklich über den Ausgang des Abenteuers, dessen Verlauf sie bis zum Schluss nicht hätte vorhersagen können. »Du kannst stolz auf dich sein«, sagte sie zu ihm.
»Dass ich ein Dritter bin?«, meinte er halb verächtlich, halb belustigt.
»Nein. Dass du der erste Dritte bist, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die anderen Zwergenstämme zu retten, anstatt sie zu vernichten«, lächelte sie ihn an. »Hör auf mit diesen Gedanken, sondern freue dich, dass wir mit dem Leben davongekommen sind.«
Er dachte an Narmora und Furgas, die im Schwarzjoch den heilenden Händen der Wundheiler überlassen worden waren. Beinahe wären sie im Tode wieder zu einem Paar vereint worden, nur der letzte Rest der Gabe Andôkais und die Heilkräuter bewahrten sie vor dem Einzug ins Jenseits. Und er gedachte ihrer Toten. Ich grüße euch, Bavragor und Goïmgar! Ihr werdet in der Schmiede von Vraccas stehen.
Gandogar streckte die Hand nach ihm aus, und der Schreck fuhr ihm in die Glieder. »Da steht der Zwerg, dem wir alle wohl am meisten zu danken haben. Tungdil Goldhand, trete vor.«
Unsicher kam er der Aufforderung nach.
»Seht! Ohne ihn, seine Schläue, seine Hartnäckigkeit und seinen Glauben an das Gelingen unseres Unterfangens stünden wir alle nicht hier, sondern wären tot oder Diener Nôd’onns.«
Tungdil glaubte zu fühlen, wie ihn sämtliche Augenpaare auf dem Plateau anstarrten; er wurde rot und unglaublich verlegen. So klammerte er sich an den Axtkopf der Feuerklinge, die ihm Sicherheit gab.
»Wir können die Schuld, in der wir alle bei dir stehen, niemals begleichen«, sprach der König der Vierten mit fester Stimme. »Ich verspreche dir, Tungdil, dass ich dir bis an dein Lebensende jeden Wunsch erfüllen werde, den ich zu erfüllen imstande bin.«
Das schmale, anmutige Gesicht Liútasils wandte sich ihm zu. »Wir Elben zählen nicht zu den innigsten Freunden deines Volkes, Tungdil Goldhand, aber wir wissen, was Dankbarkeit ist. Was immer du begehrst, wir geben es dir.«
Der Reihe nach leisteten die Menschenkönige ähnliche Gelöbnisse, und die Verlegenheit des Zwergs stieg ins Grenzenlose.
»Nein, wartet, ihr Herrscher, Fürsten und Könige«, hob er abwehrend die Hände.
Boïndil verdrehte die Augen. »Da, seine Gelehrtenzunge redet gleich wieder los, hört ihr?«
Tungdil atmete tief ein. »Ich will nichts von euch. Was ich von euch verlangen könnte, habt ihr mir bereits gegeben: Ihr schwort, dass die Völker des Geborgenen Landes sich nur noch zu gemeinsamen Festen und nicht mehr zu gegenseitigen Kriegen sehen. Mehr möchte ich nicht. Was nützt mir alles Gold, wenn die Feindschaft in unserer Heimat fortbestehen würde? Ich nehme Euren Dank auch im Namen von Bavragor Hammerfaust aus dem Clan der Hammerfäuste vom Stamm der Zweiten und Goïmgar Schimmerbart vom Clan der Schimmerbärte aus dem Stamm der Vierten entgegen, die wie ich ihr Leben einsetzten, aber es verloren. Ohne sie wäre die Feuerklinge niemals entstanden.«
Der Elb neigte seinen dunkelroten Schopf vor dem Zwerg. »Du sprichst wie ein weiser Herrscher, Tungdil Goldhand. Sobald du denkst, wir seien dabei, wieder in die alten Gewohnheiten zu verfallen, was den Umgang miteinander angeht, komm zu uns und erinnere uns an diesen Tag. Der Ewige Wald steht dir jederzeit offen.«
Wieder donnerten die Krieger gegen die Schilde, Hörner wurden geblasen, die Jubelrufe wollten nicht enden, und schnell kehrte Tungdil an die Seite von Balyndis zurück.
»Zeig deine Zunge«, verlangte Boïndil gespielt mürrisch. »Sie hat doch einen Knoten bekommen, oder?«
Tungdil grinste. Es hatte ihm Spaß gemacht, seine Redekunst zu zeigen, die Lot-Ionan ihm beigebracht hatte.
Die Versammlung wurde aufgelöst, die Truppen der Menschen, Zwerge und Elben gingen ins Innere des Berges, feierten zusammen ihren Sieg und begannen mit der ersten vorsichtigen Annäherung.
Balendilín und Gandogar gesellten sich zu ihnen. »Welch ein Glückstag«, meinte der Einarmige fröhlich. »Wer hätte gedacht, dass es für uns alle so gut endet?« Er schlug Tungdil auf die Schulter. »Vraccas hat seinen besten Zwerg geschickt, und wenn einer das Gegenteil behauptet, werde ich ihn zu einem Wettlauf herausfordern.« Er lachte, und die anderen stimmten mit ein. Tungdils Lachen gelang nicht ganz, was von Gandogar sofort bemerkt wurde.
»Was hast du?«
»Es ist nichts.«
»Doch, es ist etwas. Ist es der Umstand, dass du denkst, ein Dritter zu sein?«
»Ich bin ein Dritter, wie sonst hätte die Feuerklinge ihre Macht entwickelt?«
»So sei ein Dritter und diene uns als Beweis, dass nicht alle aus diesem Stamm Ausgeburten an Hinterhältigkeit sein müssen, wie es Bislipur und Glamdolin waren«, sprach Balendilín feierlich. »Wirst du zu uns zurückkehren, oder folgst du dem Herzen?«, blinzelte er verschmitzt.
»Ich gehe mit Balyndis, ja, aber nicht zu den Ersten«, bestätigte er die Vermutung feixend. »Unsere Vorliebe für die Esse und die Erfahrungen der Reise haben uns aneinander geschmiedet. Wir reisen ins Reich der Fünften. Boïndil begleitet uns, und unterwegs wird Boëndal zu uns stoßen. Ich habe Giselbart Eisenauge ein Versprechen gegeben, und ich werde es halten.«
Der aufsteigende Wind trug ihnen den Geruch von Fäule herüber. Er stammte vom Schlachtfeld rings um das Schwarzjoch, wo die toten Orks, Oger, Bogglins und Albae lagen. Sie waren von den vereinten Streitmächten der Elben und Menschen vernichtet worden, und die wenigen Orks, die ihnen entkommen waren, bedeuteten keine Gefahr mehr. Ohne die Macht des Toten Landes waren sie zu Kadavern geworden. Die Sonne taute ihre gefrorenen Leichen auf, die Zersetzung begann, ehe der Frost sie die Nacht über konservierte.
»Es wird lange dauern, bis wir alle bestattet haben«, sagte Gandogar betrübt. »Ich hoffe, dass der Boden so viel Tod verträgt.«
Rodario näherte sich ihnen, einmal mehr notierte er sich, was er sah und hörte. »Ein sehr schöner Schluss für ein Theaterstück, nur die vielen Leichen, die lassen wir weg. Das ist auf der Bühne ohnehin nicht umsetzbar.« Er reichte Tungdil die Hand. »Es war mir eine Ehre, mit dir gereist zu sein. Wenn du nach Mifurdania kommen solltest, schau ins Curiosum, das es bald wieder geben wird.« Er zwinkerte ihm zu. »Du hast als Hauptfigur natürlich freien Eintritt. Und Balyndis auch.«
»Wann brecht ihr auf?«
»Sobald mein Technicus und meine Albin wieder auf einem Pferd sitzen können. Das wird in zwei Wochen sein. Man hat uns Unterkunft gewährt.«
Andôkai gesellte sich zu ihnen. »Djerůn und ich verabschieden uns ebenso«, sagte sie in die Runde. »Ich muss in meinem Reich nach dem Rechten sehen und so schnell wie möglich eine neue Schule aufbauen.«
»Weshalb die Eile, meine Schöne?«, neckte sie Rodario.
Sie blieb ernst. »Ich möchte die Freude ungern trüben.«
»Nur zu. Bei diesem grandiosen Erfolg ist es kaum möglich«, sagte er übertrieben heiter und gelöst.
»Darauf würde ich nicht wetten.« Ihre Lippen wurden schmal. »Was ist, wenn in Nôd’onns Worten ein Funken Wahrheit steckte?«
»Die Gefahr aus dem Westen?«, lachte der Mime ungläubig. »Seid Ihr auf den Trick hereingefallen, geschätzte Maga? Ihr enttäuscht mich.«
»Sagen wir einfach, dass ich wachsam bleiben werde.« Sie legte eine Hand auf Tungdils Oberarm. »Der wichtigste Mann mit der passenden Waffe sitzt jedenfalls in der Nähe des Tores, an dem das Übel klopfen wird, sollte Nudin sich nicht getäuscht haben.« Jetzt lächelte Andôkai doch. »Du schaffst es notfalls auch allein, bei deinem Dickschädel, Tungdil.«
Sie verabschiedeten sich mit einer langen Umarmung voneinander, nur Rodario ging leer aus. Er zog eine Schnute und stakste davon, nur um sich auf halbem Weg umzudrehen und ihnen zuzuwinken. »Geht nur, bezaubernde Maga. Wie Ihr sagtet, ich suche mir Frauen, die mich schätzen. Ha, und wie die mich schätzen!«
Andôkai ging, Djerůn folgte ihr wie immer. Die anderen blickten dem seltsamen Paar hinterher und hingen ihren Gedanken nach, bis sich Balendilín räusperte.
»Ich gehe ebenfalls, liebe Freunde. Ich muss die nächste Versammlung der Zwergenstämme vorbereiten, die bald stattfinden wird.« Er nickte Gandogar zu. »Es gibt keinen Zweifel daran, wer zum Großkönig gewählt werden wird, nachdem du aus dem Schatten Bislipurs getreten bist. Du hast dich bewährt und wirst Gundrabur ein guter Nachfolger sein.«
»Selbst ich würde ihn wählen«, grinste Tungdil. Der König der Vierten schlug in die dargebotene Hand ein und schüttelte sie fest. Die Ergriffenheit stand in seinem Gesicht. »Denkt daran, dass jeder Stamm einhundert seiner besten Krieger und Handwerker ins Reich der Fünften entsendet, damit Balyndis und ich nicht so einsam sind und wir den Steinernen Torweg schließen. Das Graue Gebirge soll mit neuem Leben erfüllt werden«, erinnerte er sie und hatte dabei Giselbarts Bitte an ihn genau im Gedächtnis. »Die Hallen dürfen nicht länger verwaist sein. Ich werde sehen, ob die Zwerge in den Schnelltunneln mit sich reden lassen. Vielleicht möchten sie ein neues, besseres Zuhause als die zugigen Stollen.«
»Auf jeden Fall werden wir sie fragen«, stimmte ihm Gandogar zu.
»So bilden sich neue Stämme, ohne dass Vraccas sie schaffen muss. Und was machen wir mit dem Stamm der Dritten?«, wollte Balendilín wissen.
Tungdil schaute vom Schwarzjoch in Richtung Osten zum Schwarzen Gebirge, wo sich das Reich der Nachfahren Lorimburs befand.
»Ich bin sicherlich nicht der Einzige von ihnen, der keinen Hass im Herzen trägt«, antwortete er leise. »Wenn wir im Reich der Fünften Ordnung geschaffen haben, gehe ich zu ihnen und rede mit ihnen.« Er schaute in die Gesichter der Könige. »Es war mir ernst, als ich mir von euch allen Frieden wünschte. Davon möchte ich die Dritten nicht ausschließen.«
Balyndis lächelte und fasste seine Hand, er drückte sie.
Nach und nach verschwanden die Menschen, Elben und Zwerge vom Plateau. Balyndis und Tungdil blieben, bis die Sonne sank, die Nachtgestirne über dem Geborgenen Land aufgingen und die Luft klirrend kalt wurde, denn noch regierte der Winter.
Ihre Finger hatten sich noch immer nicht voneinander gelöst, und er dachte nicht im Traum daran, die Schmiedin herzugeben.
Eine Sternschnuppe zog ihre leuchtende Spur von Osten nach Westen, ihr Schweif wandelte sich von weiß zu rot, je näher sie nach Westen kam, dann leuchtete sie grell und löste sich auf. Zurück blieben dunkelrote Pünktchen, die langsam verglühten und Tungdil an Bluttropfen erinnerten.
»War das ein gutes oder ein schlechtes Omen?«, fragte ihn Balyndis verunsichert.
Er zuckte mit den Achseln, trat hinter sie und schlang seine Arme um sie. »Ein gutes«, antwortete er nach einer Weile und streichelte ihren Bartflaum.
»Woher weißt du das?«
Seine Augen wanderten durch die Dunkelheit und sahen vereinzelte Lichtflecke der Siedlungen aufleuchten. Er freute sich über die Stille, die ihnen der Frieden gebracht hatte. Der Zwerg war auf den Frühling gespannt, wenn das Geborgene Land zum ersten Mal wieder überall grünen und blühen würde. Zum ersten Mal seit mehr als eintausend Zyklen.
»Wir haben so viel Schlechtes erlebt, da kann es nur etwas Gutes bedeuten«, raunte er in ihr Ohr. »Der Schweif war rot, wie die Farbe der Liebe, also mach dir keine Sorgen. Komm, wir gehen zu den anderen. Mir ist nach langer Zeit wieder nach feiern zumute.«
Hand in Hand liefen sie über das Schwarzjoch, das seinen Schrecken für die Zwergenstämme verloren hatte.
Während sie die Stiegen ins Innere hinabgingen, tauchte von ihnen unbemerkt ein zweiter, stürzender Himmelskörper auf.
Zischend schoss auch er in Richtung Westen. Ohne zu verglühen, sank er weiter in Richtung Boden, durchstieß die Wolkendecke, einen tiefroten Schweif hinter sich her ziehend, und verschwand am Horizont hinter dem Gebirge der Ersten. Als er mit einem dumpfen Grollen einschlug, erbebte das Geborgene Land ganz sanft, und auch der Tafelberg schüttelte sich.
Dann war es vorüber …