WarcraftDurotanVon Christie GoldenDie offizielle Vorgeschichte zum Kinofilm

Dieses Buch ist Chris Metzen gewidmet, meinem Blizzard-Bruder, der mir im Jahr 2000 erstmals Durotan anvertraute und mir die Chance gab, Draka zu erschaffen. Dass ich sie nun wieder besuchen und helfen darf, ein neues Publikum mit ihnen vertraut zu machen, ist eine wahre Ehre, wie ich sie mir damals nicht hätte vorstellen können.

Prolog

Die rote Spur dampfte im Schnee, und Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, brüllte triumphierend. Dies war seine erste Jagd – das erste Mal, dass er eine Waffe auf ein lebendes Wesen geschleudert hatte, um es zu töten, – und das Blut bewies, dass sein Speer sein Ziel gefunden hatte. In Erwartung von Lobesworten drehte er sich zu seinem Vater herum, seine schmale Brust stolzgeschwellt, doch der Ausdruck auf dem Gesicht des Frostwolfhäuptlings verwirrte ihn.

Garad schüttelte den Kopf. Sein langes, schwarzglänzendes Haar fiel offen und ungezähmt über seine breiten, mächtigen Schultern. Er saß auf Eis, seinem großen, weißen Wolf, und seine kleinen, dunklen Augen wirkten grimmig, als er sprach.

„Du hast sein Herz verfehlt, Durotan. Frostwölfe brauchen keinen zweiten Versuch.“

Enttäuschung und Scham trieben dem jungen Orc heißes Blut ins Gesicht. „Es … tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe, Vater“, sagte er und setzte sich so gerade hin, wie es auf dem Rücken seines eigenen Wolfes, Scharfzahn, möglich war.

Garad benutzte seine Knie und Hände im dichten Fell an Eis’ Nacken, um das Tier neben Scharfzahn zu lenken und seinen Sohn zu mustern. „Dein erster Wurf war nicht tödlich“, sagte er. „Das heißt nicht, dass du mich enttäuscht hast.“

Durotan blickte unsicher zu seinem Vater auf. „Es ist meine Aufgabe, dir Dinge beizubringen, Durotan“, fuhr Garad fort. „Eines Tages wirst du, falls es der Wille der Geister ist, Häuptling sein, und ich möchte nicht, dass du sie unnötig beleidigst.“

Er deutete in die Richtung der Blutspur. „Steig ab und komm mit, dann erkläre ich es dir. Drek’Thar, du und Weisohr begleitet uns. Ihr anderen, wartet, bis ich euch rufe.“

Durotan war noch immer beschämt, aber er war auch verwirrt und neugierig. Seinem Vater fraglos gehorchend, rutschte er von Scharfzahns Rücken und gab dem riesigen Wolf einen Klaps. Niemand wusste, ob die Frostwölfe wegen ihrer Farbe als Reittiere gewählt worden waren, oder ob der Klan sich nach ihrem schneeweißen Fell benannt hatte; diese Antwort hatte die Zeit verschluckt. Scharfzahn bellte und leckte seinem jungen Meister das Gesicht.

Drek’Thar war der Schamanenälteste der Frostwölfe: ein Orc mit einer engen Verbindung zu den Geistern von Erde, Luft, Feuer, Wasser und Leben. Den Legenden der Frostwölfe nach lebten diese Geister weit im Norden – am Rand der Welt, dem Sitz der Geister. Drek’Thar war nicht wirklich alt, aber älter als Durotan, und bereits mehrere Jahre vor dessen Geburt war er in einer Schlacht geblendet worden. Ein Reitwolf des angreifenden Klans hatte nach seinem Gesicht geschnappt; das Tier hatte den Orc nur halb erwischt, aber das hatte gereicht. Ein Auge war von einem Zahn durchstoßen worden, das andere hatte kurze Zeit später seine Sehkraft verloren. Durotan konnte noch immer die dünnen, hellen Narben unter dem Stoffstreifen sehen, hinter dem Drek’Thar seine zerstörten Augen verbarg.

Doch obwohl er etwas verloren hatte, hatte er auch etwas dazugewonnen. Kurz nachdem er blind geworden war, hatte Drek’Thar zusätzliche Sinne entwickelt, um diesen Verlust wettzumachen. Nun konnte er die Geister mit einer Klarheit wahrnehmen, die unerreicht war unter den jüngeren Schamanen, welche er ausbildete. Hin und wieder schickten die Geister ihm sogar Visionen von ihrem Sitz am Rand der Welt, so hoch oben, wie es nur nach Norden ging.

Drek’Thar war alles andere als hilflos, und solange er seinen geliebten und gut abgerichteten Wolf, Weisohr, ritt, konnte er jeden Ort erreichen, der auch für einen andern Orc erreichbar war.

Vater, Sohn und Schamane setzten ihren Weg durch den tiefen Schnee fort und folgten der Blutspur. Durotan war in einem Schneesturm auf die Welt gekommen, was angeblich Gutes für die Zukunft eines Frostwolfes bedeutete. Sein Zuhause war der Frostfeuergrat, wo sich der Schnee vor der Helligkeit der Sommermonate widerwillig zurückzog, nur, um später seine unvermeidliche Rückkehr zu feiern. Niemand konnte sagen, wie lange der Frostwolfklan diesen unwirtlichen Ort schon seine Heimat nannte; solange sich irgendjemand zurückerinnern konnte, waren sie hier gewesen. „Schon immer“, wie einer der älteren Frostwolforcs Durotan erklärt hatte, als er alt genug war, um sich darüber zu wundern.

Doch die Nacht rückte näher, und die Kälte nahm zu. Selbst Durotans dicke, warme Stiefel und das Grollhuf-Leder spendeten keine Wärme mehr, und seine Füße begannen, taub zu werden. Zudem frischte der Wind auf und stach wie ein Dolch durch Durotans dicken Fellmantel. Er zitterte, als er weiterstapfte und darauf wartete, dass sein Vater weitersprach. Das Blut im Schnee dampfte nicht länger und begann zu gefrieren.

Die rote Spur führte über eine weite, windgepeitschte Schneefläche auf einen graugrünen Farbfleck zu: eine Baumgruppe am Fuß des Altvaterberges, dem höchsten Gipfel in einem Gebirgszug, welcher sich Hunderte Meilen nach Süden erstreckte. Die Überlieferungen aus den Schriftrollen besagten, dass der Altvaterberg der Wächter des Klans war; er streckte seine steinernen Arme aus, um eine schützende Barriere zwischen dem Frostfeuergrat und den Südlanden zu errichten. Der Geruch von sauberem Schnee und frischen Kiefernnadeln erfüllte Durotans Nase, während die Welt ringsum schwieg.

„Unangenehm, nicht wahr? Dieser lange Marsch durch den Schnee“, sagte Garad schließlich.

Durotan fragte sich, was die richtige Antwort auf diese Frage war. „Ein Frostwolf beschwert sich nicht.“

„Nein. Aber … es ist trotzdem unangenehm.“ Garad lächelte auf seinen Sohn hinab, die Lippen um seine Hauer gekrümmt. Durotan stellte fest, dass er dieses Lächeln erwiderte, und er nickte leicht, während er sich entspannte.

Garad streckte die Hand aus und berührte das Fell am Mantel seines Sohnes. „Der Grollhuf. Ein starkes Tier. Der Geist des Lebens hat ihm ein schweres Fell, eine dicke Haut und darunter viele Schichten Fett geschenkt, damit er in diesem Land überleben kann. Ist er aber verletzt, bewegt er sich zu langsam, um sich warm zu halten. Er fällt hinter der Herde zurück, die anderen können ihn also auch nicht wärmen. Die Kälte trifft ihn.“

Garad deutete auf die Spuren; Durotan konnte sehen, dass das Tier gestolpert war, als es sich weitergeschleppt hatte.

„Er ist verwirrt, hat Schmerzen. Hat Angst. Er ist nur ein Tier, Durotan. Er hat es nicht verdient, das zu fühlen. Zu leiden.“ Garads Gesicht wurde hart. „Manche Orc-Klans sind grausam. Nur zu gerne quälen und foltern sie ihre Beute … und ihre Feinde. Ein Frostwolf empfindet keine Freude, wenn andere leiden. Nicht einmal, wenn es unsere Feinde sind – und ganz sicher nicht, wenn es um ein einfaches Tier geht, das uns die Nahrung zum Leben schenkt.“

Durotan spürte, wie eine erneute Woge der Scham in seinen Wangen brannte. Diesmal schämte er sich aber nicht für sich selbst oder für seinen schlecht gezielten Wurf, sondern dafür, dass er nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war. Dass sein Speer das Ziel verfehlt hatte, war wirklich schlecht – doch nicht, weil es ihn zu einem schlechteren Jäger machte. Es war schlecht, weil der Grollhuf deswegen unnötig leiden musste.

„Ich … verstehe“, sagte er. „Es tut mir leid.“

„Entschuldige dich nicht bei mir“, erwiderte Garad. „Ich bin nicht derjenige, der Schmerzen leidet.“

Die Blutflecken waren nun frischer: große, scharlachrote Lachen in den Einbuchtungen, die die ungleichmäßigen Schritte des Grollhufs hinterlassen hatten. Sie führten weiter, an den Kiefern vorbei und hinter einen Haufen schneegekrönter Felsen.

Dort fanden sie das Tier.

Durotan hatte ein Bullenkalb verwundet. Vorhin, als sich der junge Orc in seinem ersten echten Blutrausch verloren hatte, war ihm das Tier riesig erschienen, doch jetzt sah er, dass es – er – noch nicht voll ausgewachsen war. Dennoch war es so groß wie drei Orcs, sein Körper in struppiges Fell gehüllt. Sein Atem stieg in schnell aufeinanderfolgenden weißen Wolken auf, und seine Zunge hing zwischen stumpfen, gelben Zähnen hervor. Kleine, tief im Schädel liegende Augen öffneten sich, als es die Orcs roch, und es versuchte, sich aufzurichten. Doch dadurch erreichte es nur, dass sich Durotans schlecht gezielter Speer noch tiefer bohrte und matschiger, roter Schnee aufwirbelte. Durotans Magen zog sich zusammen, als das Kalb vor Schmerzen und Trotz schrie.

Der junge Orc wusste, was er jetzt zu tun hatte. Sein Vater hatte ihn auf die Jagd vorbereitet, indem er ihm die inneren Organe der Grollhufe beschrieben und erklärt hatte, wie man ein solches Tier am besten ausnahm. Durotan zögerte nicht. Er rannte so schnell auf das Kalb zu, wie es im Schnee möglich war, griff nach dem Speer und riss ihn aus der Wunde. Anschließend rammte er die Waffe direkt und sauber ins Herz des Tieres und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen.

Der Grollhuf schauderte, als er starb, dann entspannten sich seine Muskeln zu stiller Reglosigkeit, während heißes Blut sein Fell und den Schnee tränkte. Drek’Thar trat an Garads Seite, der hinter Durotan zurückgeblieben war. Der Schamane neigte den Kopf und lauschte, als der Vater den Sohn erwartungsvoll anblickte.

Durotan blickte zu ihnen hinüber, dann auf das Tier hinab, das er getötet hatte, und schließlich in sein Herz, so, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Er kniete sich in den blutigen Schnee neben den Grollhuf, streifte den fellbedeckten Handschuh ab und legte die nackten Finger auf die Seite des Kalbs. Es war noch warm.

Er fühlte sich ein wenig unbehaglich, während er sprach, und er hoffte, dass seine Worte akzeptabel waren. „Geist des Grollhufs, ich, Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, danke dir für dein Leben. Dein Fleisch wird meinem Volk helfen, den Winter zu überleben. Deine Haut und dein Fell werden uns warmhalten. Wir … ich bin dir dankbar.“

Er hielt inne und schluckte. „Es tut mir leid, dass deine letzten Augenblicke voll Schmerz und Angst waren. Das nächste Mal werde ich besser sein. Ich werde mein Ziel direkt und sauber treffen – so, wie mein Vater es mich gelehrt hat.“ Während er sprach, wurden ihm das lebensrettende Gewicht seines Mantels und das Gefühl der Stiefel um seine Füße viel deutlicher bewusst, und er empfand neue Dankbarkeit dafür, dass er diese Dinge hatte. Als er zu seinem Vater und zu Drek’Thar aufblickte, nickten sie anerkennend.

„Ein Frostwolf ist ein geschickter Jäger und ein mächtiger Krieger“, sagte Garad. „Aber er ist nie grausam, wenn er es nicht sein muss.“

„Ich bin ein Frostwolf“, erklärte Durotan stolz.

Garad lächelte und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. „Ja“, sagte er. „Das bist du.“

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