Für Claudine.


Und für Ali,

den sie nie kennengelernt hat.


1

DIE TREPPE IM DENKMAL

In der Nacht, als Jake Djones erfuhr, dass seine Eltern irgendwo in der Zeit verschollen waren, tobte einer der schwersten Stürme, die England je gesehen hatte. Einzig der längst vergessene Hurrikan von 1703 hatte London mit ähnlich schweren Regenfällen und erbarmungslosen Sturmböen heimgesucht.

Mitten im Herzen des tobenden Unwetters schlingerte ein alter dunkelblauer Bentley über die Tower Bridge hinüber zum Nordufer der immer stärker anschwellenden Themse. Die Scheinwerfer des Wagens waren auf Fernlicht gestellt, und die Wischerblätter zuckten mit maximaler Geschwindigkeit unter dem Ansturm des Wassers hin und her.

Auf der breiten ledernen Rückbank saß ein vierzehnjähriger Junge mit olivfarbenem Teint, dunklen Locken und klugem, unerschrockenem Blick. Er trug seine Schuluniform: einen einfachen Blazer, eine schwarze Hose und abgetragene Lederschuhe. Neben ihm lag eine mit Büchern und Schreibheften vollgestopfte Schultasche. Auf dem zerfledderten Adressanhänger stand, mit einem dicken Filzstift geschrieben, der Name Jake Djones.

Jake war nervös. Seine braunen Augen musterten die beiden Gestalten hinter der gläsernen Trennscheibe. Links auf dem Beifahrersitz saß ein groß gewachsener Schnösel in schwarzem Anzug und Zylinder. Der Fahrer zu seiner Rechten trug eine Chauffeuruniform. Sie tuschelten leise miteinander, obwohl Jake hinter der Glasscheibe ohnehin nicht hören konnte, was sie redeten.

Die beiden Männer hatten ihn erst vor dreißig Minuten gekidnappt.

Jake war gerade auf dem Nachhauseweg von der Schule gewesen, als die zwei Fremden im Greenwich Park, in der Nähe der Londoner Sternwarte, plötzlich aus dem Schatten der Sträucher getreten waren, um ihm zu verkünden, er müsse sie in einer äußerst dringenden Angelegenheit begleiten. Als Jake eher zurückhaltend reagiert hatte, hatten sie versucht, ihn mit dem Hinweis zu beschwichtigen, dass dort, wo sie ihn hinbringen würden, bereits seine Tante auf ihn warte. Misstrauisch hatte er weiter nachgefragt, bis der Regen einsetzte – zuerst nur ein paar Tropfen, dann eine regelrechte Sintflut. Seine Entführer hatten die Gelegenheit genutzt und ihm ganz schnell ein Stück Stoff auf den Mund gepresst. Jake hatte einen stechenden Geruch wahrgenommen, dann waren ihm die Beine weggesackt, und schließlich war er auf der Rückbank des Bentley wieder zu sich gekommen.

Ein Donnerknall erschütterte die Tower Bridge bis ins Fundament, und Jake spürte Panik in sich aufsteigen. Er sah sich im Inneren des Wagens um. Alle Oberflächen waren mit dunklem Leder ausgekleidet; das Auto musste einmal der Inbegriff einer Luxuskarosse gewesen sein, hatte aber eindeutig schon bessere Tage gesehen. Die Türen (Jake hatte, kurz nachdem er aufgewacht war, vergeblich versucht, sie zu öffnen) hatten elegant geschwungene Griffe aus massivem Gold. Er beugte sich vor und inspizierte einen davon genauer. In der Mitte entdeckte er ein fein detailliertes Emblem: eine Sanduhr, um die zwei Planeten kreisten.

Der Mann mit dem Zylinder warf Jake über die Schulter einen missbilligenden Blick zu. Jake starrte ihm unbeirrt in die von der Krempe beschatteten Augen, bis der Mann sich schließlich umdrehte und seine Aufmerksamkeit wieder der Straße widmete.

Der alte Bentley hatte die Tower Bridge inzwischen überquert und schlängelte sich nun durch das Straßenlabyrinth der Londoner City, bis sie Fish Hill erreichten und auf einen kleinen, kopfsteingepflasterten Platz einbogen, der im Schatten einer gigantischen steinernen Säule lag.

Jake bestaunte das aus weiß schimmerndem Kalkstein errichtete Bauwerk, das sich von einem mächtigen würfelförmigen Sockel in den stürmischen Himmel erhob. Auf der Spitze, die sich eine halbe Meile weit über ihren Köpfen zu befinden schien, glaubte er eine vergoldete Urne zu erkennen, und Jake fiel ein, dass er das seltsame Denkmal schon einmal gesehen hatte. Auf dem Rückweg von einem Ausflug zum Dungeon, dem Londoner Gruselkabinett, waren er und seine Eltern zufällig über diesen Platz gekommen, und Jakes Vater hatte ihm den geschichtlichen Hintergrund der Säule erklärt, die alle nur »das Monument« nannten: Ende des siebzehnten Jahrhunderts war sie von Sir Christopher Wren als Denkmal für den großen Brand von London erbaut worden. Über eine Wendeltreppe im Inneren konnte man bis zu der goldenen Spitze gelangen und von dort die Aussicht über die Stadt genießen. Sie waren hineingegangen, und Jake hätte nichts lieber getan, als ebenjene Spitze zu erklimmen, genauso wie sein Vater. Aber seine Mutter, normalerweise für jeden Spaß zu haben, war plötzlich nervös geworden und hatte darauf bestanden, dass sie noch vor der Hauptverkehrszeit nach Hause fuhren. Jake erinnerte sich ebenfalls, wie seine Eltern ihn daraufhin von dem Platz weggeschleift hatten und er sich immer wieder umgedreht hatte, um wie hypnotisiert das imposante Bauwerk anzustarren.

Der Mann im Zylinder stieg aus dem Wagen und spannte seinen Regenschirm auf, den er mit einiger Kraft festhalten musste, damit der Sturm ihn nicht sofort davonblies. Er öffnete Jakes Tür und blickte ihm fest in die Augen. »Folge mir. Und denke nicht einmal daran wegzulaufen«, sagte er.

Jake beäugte seinen Häscher misstrauisch. Der Mann hatte ein markantes Gesicht mit stolzer Adlernase und hohen Wangenknochen. Der Blick seiner dunklen Augen war ebenso arrogant wie undurchdringlich, und er war elegant gekleidet: seidig schimmernder Zylinder, weißes Hemd, schwarze Krawatte, ein dunkler Cutaway, der perfekt zu seinem schmalen Körperbau passte, eine enge Stresemannhose mit dezenten Nadelstreifen und fein säuberlich polierte Lederschuhe.

Es gab einen Blitz, gefolgt von einer weiteren Sturmböe, die sie mit Regen übergoss.

»Beeil dich!«, herrschte der Mann Jake an. »Wir gehören zu den Guten. Ehrenwort

Jake warf sich seine Schultasche über die Schulter und kletterte zögernd aus dem Wagen.

Der Mann packte ihn am Oberarm und klopfte an die Scheibe der Fahrertür, woraufhin das Fenster sich mit einem elektrischen Summen einen Spaltbreit öffnete. »Fahr sofort los und hol Ihre Majestät ab.«

»Wird gemacht.«

»Und vergiss Miss St. Honoré nicht. Sie ist im Britischen Museum, wahrscheinlich in der Ägyptischen Sammlung.«

»Ägyptische Sammlung«, wiederholte der Chauffeur und nickte.

»Und, Norland, wir legen in einer halben Stunde ab. Pünktlich auf die Minute, verstanden? Keine Extratouren also, weder ins Wettbüro noch zu irgendeiner deiner Lieblingsspelunken.«

Der Chauffeur schien irritiert über die bissige Bemerkung, verbarg seinen Ärger aber hinter einem perfekt gespielten Lächeln. »Ablegen in einer halben Stunde, alles klar«, sagte er und schloss das Fenster.

Ein Adrenalinstoß durchflutete Jakes Körper. Sein Puls raste doppelt so schnell wie normal – dann riss er sich los und rannte, so schnell er konnte, quer über den Platz.

Der groß gewachsene Mann reagierte sofort. »Halten Sie ihn auf!«, brüllte er einer Gruppe von Büroangestellten zu, die gerade auf dem Weg zur U-Bahn war. Seine Erscheinung strahlte eine derartige Autorität aus, dass die Leute nicht einmal auf die Idee kamen, dass er der Verbrecher sein könnte und nicht Jake.

Als sie sich ihm in den Weg stellten, wirbelte Jake herum und lief in die Gegenrichtung – wo er im nächsten Augenblick frontal mit dem Mann zusammenprallte, dem er soeben erst entronnen war. Mit einem lauten Krachen schlug Jakes Stirn gegen den Unterkiefer des Kidnappers.

Sein Verfolger taumelte ein paar Schritte zurück, der Regenschirm wirbelte davon, dann verloren seine langen, dünnen Beine den Bodenkontakt, und er fiel hintenüber in eine tiefe Pfütze. Der Zylinder rollte hinüber zum Sockel des Denkmals, und aus dem Augenwinkel sah Jake, wie der Regenschirm Richtung St.-Pauls-Kathedrale davonsegelte.

Jake ließ alle Vorsicht fahren und lief auf den am Boden liegenden Knoten aus Gliedmaßen und verdreckter Kleidung zu. Auch der Chauffeur war aus dem Bentley gesprungen, und die Passanten standen vor Schreck wie angewurzelt da.

Jake blickte hinunter auf den bewegungslosen Körper. »Ist Ihnen etwas passiert?«, fragte er.

Endlich bewegte sich der Kopf des schlaksigen Mannes. Ganz langsam setzte er sich auf und strich sich mit feingliedrigen Fingern die Haare aus der Stirn, als wäre nichts geschehen.

Jake seufzte erleichtert. »Ich wusste nicht, dass Sie hinter mir sind. Ist Ihnen nun was passiert?«, wiederholte er leise und streckte dem Mann eine Hand hin, um ihm auf die Beine zu helfen.

Letzterer ignorierte ihn einfach und wandte sich stattdessen an seinen Chauffeur. »Was stehst du hier noch rum? Ich wiederhole: Wir legen in dreißig Minuten ab!«, keifte er, um dann den Rest seiner Wut an den verdutzten Büroangestellten auszulassen: »Habt ihr noch nie jemanden hinfallen sehen?«

Sein Ton war so gallig, dass die Angesprochenen unverzüglich aus ihrer Erstarrung erwachten und sich eilig aus dem Staub machten. Der Chauffeur hatte sich unterdessen wieder ans Steuer gesetzt und ließ den Motor an, woraufhin der Bentley um eine Ecke verschwand und Jake mit seinem Entführer allein am Fuß des Denkmals zurückblieb.

Aus irgendeinem Grund verspürte er nicht mehr den Wunsch wegzurennen. Stattdessen hob er den Zylinder auf, strich ihn glatt und hielt ihn dem seltsamen Gentleman hin.

»Ich habe dir doch gesagt, dass wir zu den Guten gehören!«, knurrte der durch zusammengebissene Zähne und rappelte sich mühsam hoch. Er riss Jake den Zylinder aus der Hand und setzte ihn auf. »Wenn du mir nicht glaubst, kann deine Tante dich ja aufklären, sobald sie hier ist.«

»Meine Tante?«, fragte Jake kopfschüttelnd. »Was hat sie damit zu tun?«

»Zu den Erklärungen kommen wir später. Folge mir jetzt!« Mit diesen Worten ging der Mann hinüber zum Sockel des Monuments, zog einen erstaunlich großen Schlüssel aus der Westentasche und steckte ihn in einen Spalt zwischen den Kalksteinen.

Jake fragte sich, was zum Teufel der Kerl da machte, da entdeckte er den nahezu unsichtbaren Umriss einer Tür – einer Geheimtür im Sockel der Säule.

Der Mann drehte den Schlüssel, und mit einem Rumpeln schwang die steinerne Tür auf. Der Raum dahinter wurde schwach vom flackernden Licht einer Wachskerze erleuchtet.

Jakes Anspannung wich; fasziniert reckte er den Kopf und spähte hinein: Am anderen Ende der kleinen Kammer befand sich eine breite, offensichtlich sehr alte Wendeltreppe, die nach unten führte.

»Schnell! Schnell jetzt!«, bellte der Mann. »Drinnen wirst du alle deine Antworten bekommen. Und auch erfahren, wo sich deine Eltern aufhalten.«

Jake horchte auf. »Mei … meine Eltern?«, fragte er. »Was ist mit ihnen passiert?«

»Folge mir einfach, und du wirst es erfahren.«

Jake rührte sich nicht von der Stelle. Er atmete einmal tief durch und sagte dann mit fester Stimme: »Sie entführen mich aus dem Greenwich Park, verfrachten mich in ein Auto und bringen mich hierher. Ich denke, das sollte für ein paar Jahre Gefängnis reichen, und jetzt hätte ich gern ein paar Fragen beantwortet! Und zwar zuallererst, was mit meinen Eltern ist.«

Der Mann rollte die Augen. »Wenn du so freundlich wärst, ins Trockene zu kommen und mir zu gestatten, mich umzuziehen« – er deutete auf einen langen Riss in seiner Hose –, »erzähle ich es dir.«

»Wer sind Sie überhaupt?«, bohrte Jake weiter nach.

Der Mann seufzte leise. »Mein Name ist Jupitus Cole. Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu tun. Ganz im Gegenteil. Ich versuche nur zu helfen. Wir mussten dich entführen, weil du sicherer bist, wenn du mit uns kommst. Wenn du mir jetzt den Gefallen tun würdest, mich nach unten zu begleiten …«

Jake, in dem jetzt die Abenteuerlust erwachte, war absolut fasziniert von diesem exzentrischen Mann, von der Geheimtür, von der mysteriösen Treppe. Aber er gab nicht nach. »Was soll das heißen, ›nach unten‹?«

»Das Büro ist unten. Das Büro, verdammt!«, schnauzte Jupitus ihn an. »Wenn du endlich mitkommen würdest, könnten wir alles Weitere klären!« Seine Augen bohrten sich in Jakes. »Es geht hier um Leben und Tod, verstehst du? Leben und Tod. Du kannst jederzeit wieder gehen. Aber ich garantiere dir, es wird das Letzte sein, wonach dir der Sinn stehen wird.«

Jakes Blick wanderte zwischen Mr Cole und der nach unten führenden Treppe hin und her. Er hatte ohnehin schon alle Mühe, seine Neugier im Zaum zu halten, und etwas an der Art des Mannes, vielleicht seine unbeirrbare Entschlossenheit, fegte schließlich alle Zweifel beiseite.

»Ich werde mich mal von einem Psychologen durchchecken lassen müssen«, murmelte Jake und betrat die Kammer. Knirschend schloss sich die Tür hinter ihm, und er spürte, wie ihm von der Treppe ein kalter Luftzug entgegenschlug.

»Und jetzt folge mir«, sagte Jupitus leise, dann machten sie sich auf den Weg nach unten.


2

DAS LONDONER BÜRO

Mit von den Wänden widerhallenden Schritten eilte Jupitus die Stufen hinunter, und Jake folgte ihm. In regelmäßigen Abständen wurde die Treppe von Gaslaternen beleuchtet, deren flackerndes Licht auf alte Wandmalereien fiel. Die Farben waren verblichen und teilweise abgeplatzt, doch es war eindeutig zu erkennen, was sie darstellten: Momentaufnahmen aller großen Zivilisationen der Menschheitsgeschichte, von Szenen aus dem alten Ägypten, dem Assyrischen Reich, dem antiken Griechenland über Persien, Rom und Byzanz bis hin zum Indien der Moguln, den Ottomanen und schließlich dem mittelalterlichen Europa. Jake war vollkommen hingerissen von den Abbildungen der Könige und Helden, der prächtigen Festzüge, der geschichtsträchtigen Schlachten und Expeditionen.

»Die wurden von Rembrandt gemalt«, erklärte Jupitus sachlich, »als das Londoner Büro im Jahr 1667 hierher umzog. Schon mal von Rembrandt gehört?«

»Klar …«, antwortete Jake nach kurzem Zögern.

Jupitus warf ihm einen herablassenden Blick zu.

»Ich mag Bilder«, erklärte Jake. »Alte Bilder, auf denen man sich vorstellen kann, wie die Leute damals gelebt haben.«

Er war selbst überrascht, sich das sagen zu hören. Normalerweise behielt er seine Liebe zur Malerei für sich, aber irgendwie hatte er das Gefühl, sich vor diesem seltsamen Snob rechtfertigen zu müssen. Genauso wie vor seinen Freunden, die seine Begeisterung für die alten Schinken nicht teilten. Vielleicht, dachte Jake manchmal, weil sie nicht genug Fantasie hatten. Oft ging er allein in die Gemäldegalerie in Dulwich, stellte sich mit halb geschlossenen Augen ganz dicht vor die Bilder und stellte sich vor, er wäre dort, in einem anderen Zeitalter. Meistens kam dann ein übel gelaunter Museumswärter angelaufen und forderte ihn auf, gefälligst den vorgeschriebenen Mindestabstand einzuhalten, was Jake auch tat. Aber nur, um zu warten, bis der Aufseher wieder verschwunden war, und dann von Neuem in die Szene einzutauchen.

Sie hatten das Ende der Treppe erreicht und standen nun vor einer massiven Tür, in deren Mitte Jake ein Messingschild sah, in das das gleiche Symbol eingraviert war wie in die goldenen Türgriffe des alten Bentley: eine Sanduhr, die von zwei Planeten umkreist wurde. Das Emblem wirkte auf Jake altmodisch und modern zugleich – irgendwie erinnerte es ihn an Elektronen, die einen Atomkern umkreisten.

Jupitus musterte Jake mit ernstem Gesicht. »Nicht vielen wird die Ehre zuteil, vor dieser Tür stehen zu dürfen, und diejenigen, die eintreten, finden ihr Leben danach unwiderruflich verändert. Nur als kleine Vorwarnung.«

Jake nickte kurz, dann stemmte Jupitus die Tür auf, und sie traten ein.

»Ich bin gleich wieder bei dir. In der Zwischenzeit setz dich irgendwohin, wo du nicht im Weg bist.« Er deutete auf einen Stuhl neben der Tür. »Hört alle gut zu, wir haben noch exakt fünfundzwanzig Minuten!«, verkündete er. Dann verschwand er mit langen, schnellen Schritten in seinem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Jakes Augen leuchteten nur so vor Staunen.

Der Raum, in dem er sich befand, hatte etwas von einer alten, ehrwürdigen Bibliothek. Keine öffentliche wie die in seiner Schule, sondern eine mit alten, wertvollen Büchern, eine, für die man eine Genehmigung brauchte, um überhaupt hineinzukommen. Diese hier war riesig: Sie hatte zwei Stockwerke, Wendeltreppen führten zu den verschiedenen Ebenen, die nur so überquollen mit Regalen voll schwerer alter Folianten. Hoch über diesen Regalen spannte sich ein gläsernes Dach, dessen metallene Verstrebungen unter der Wucht des Sturms ächzten und pfiffen.

Über die gesamte Länge des Raumes erstreckte sich ein hölzerner Tisch, der von flimmernden grünen Schreiblampen erhellt wurde. Alte Land-und Seekarten, Manuskripte, Pläne und Diagramme lagen darauf ausgebreitet, dazwischen standen mehrere antike Globen, die Jakes Blick unwillkürlich auf sich zogen.

Die Bibliothek brummte nur so vor Geschäftigkeit. Männer, die eine Art Matrosenuniform trugen, verstauten ebenso schnell wie geschickt alle möglichen Ausrüstungsgegenstände in großen hölzernen Kisten.

Jake ignorierte Jupitus’ Anweisung und ging, immer noch mit der Schultasche über der Schulter, hinüber zu dem langen Tisch. Der Globus direkt vor seiner Nase musste der älteste Gegenstand sein, den Jake jemals aus solcher Nähe gesehen hatte. Die Ländernamen waren in altmodischer Schrift von Hand geschrieben. Jake beugte sich näher heran und erkannte die Nordsee, darin Großbritannien wie ein Juwel im Meer, etwas darunter Spanien, das in dieser Darstellung beinahe dieselbe Fläche einnahm wie Asien und in dessen Mitte ein Ehrfurcht gebietend aussehender Kaiser oder König abgebildet war. Den amerikanischen Kontinent zierten lediglich ein paar Wälder und Gebirgszüge.

Jake sah noch genauer hin: Ganz unten, wo der Atlantische Ozean in die antarktische See überging, zwischen zwei halb verblassten Delfinen und einer alten Galeone, entdeckte er, gerade noch erkennbar, eine Jahreszahl: 1493.

»Wenn Sie so freundlich wären, Sir …«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Einer der uniformierten Männer stand mit einer Kiste unterm Arm hinter ihm. Als Jake zur Seite trat, nahm er den Globus vom Tisch und verstaute ihn in der Kiste, die er sorgfältig mit Stroh ausgepolstert hatte. Den Deckel verschloss er mit Hammer und Nägeln.

Jake beobachtete, wie der Mann die Kiste zu einem breiten Durchgang auf der anderen Seite der Bibliothek brachte, um sie dort mit einer ganzen Anzahl weiterer Kisten auf einen Gepäckwagen zu laden, der umgehend losfuhr und in einem langen Korridor verschwand.

Da erregte noch etwas Jakes Aufmerksamkeit: Hinter einem holzgetäfelten Raumteiler saß an einem Schreibtisch ein Junge mit strubbeligem braunem Haar und roten Wangen. Er trug eine dicke Brille, deren Nasensteg notdürftig von Klebeband zusammengehalten wurde, und – obwohl er in Jakes Alter war – einen braun karierten Anzug, der ihn wie einen verschrobenen Professor aussehen ließ. Auf seiner Schulter saß ein Papagei, dessen dichtes Gefieder in allen Farben des Regenbogens schimmerte, von orangefarben über purpurrot bis zu einem dunklen Türkisblau.

Der Junge tippte eifrig auf etwas, das aussah wie eine altmodische Schreibmaschine, aber das Gerät hatte weniger Tasten, auf denen sich statt Buchstaben eigenartige Symbole befanden. Aus der Rückseite ragte ein kristallener Stab, wahrscheinlich eine Antenne, der bei jedem Anschlag knisternd Funken sprühte. Nach ein paar Dutzend Anschlägen drehte der Junge an einem Rad seitlich an der Maschine, dann ging die Prozedur wieder von vorn los.

»Entschuldige, aber du stehst mir im Licht«, sagte er ohne aufzublicken zu Jake. »Wenn ich das hier nicht in fünf Minuten fertig habe, bin ich erledigt.«

Jake stellte sich auf die andere Seite des Schreibtischs.

Der Junge schaute kurz auf, musterte Jake einen Moment lang und schob dann seine Brille zurecht, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Neben der Schreibmaschine stand eine Schale mit Erdnüssen, von denen er sich immer wieder eine Handvoll in den Mund stopfte.

Jakes Magen knurrte; seit Mittag hatte er nichts mehr gegessen.

»Nimm dir schon welche, wenn’s sein muss«, sagte der Junge, der das Knurren anscheinend gehört hatte. »Aber beiß dir nicht die Zähne aus.« Er hatte eine lupenreine Aussprache, wie der Nachrichtensprecher eines Radiosenders.

Jake warf ihm einen fragenden Blick zu und nahm sich schließlich ein paar Nüsse. Ihm fiel auf, dass der Papagei ihn genau beobachtete.

»Ist er zahm?«, fragte Jake und streckte eine Hand aus, woraufhin der Vogel einen markerschütternden Schrei ausstieß und mit wild schlagenden Flügeln sein Gefieder aufplusterte, sodass Jake unwillkürlich einen Satz nach hinten machte.

»Mr Drake ist nicht gut auf Fremde zu sprechen«, ließ der Junge ihn wissen. »Kommt ursprünglich von der Karibikinsel Mustique; das hiesige Klima scheint ihn ein wenig reizbar zu machen. Wenn ich du wäre, würde ich Mr Coles Rat befolgen und mich wieder dort drüben hinsetzen.«

Jake kehrte – unter dem wachsamen Blick von Mr Drake – zu dem Stuhl neben der Tür zurück, und der Junge tippte, halblaut vor sich hin murmelnd, weiter auf seiner Maschine herum.

Jake dachte an die Ereignisse der vergangenen Woche zurück. Bis vor einer Stunde schien alles noch völlig normal gewesen zu sein …

Jake Djones lebte mit seinen Eltern in einem kleinen Doppelhaus in einer ganz gewöhnlichen Straße in einem ganz gewöhnlichen Teil Südlondons. Das Haus hatte drei kleine Schlafzimmer, ein Bad und einen immer noch nicht fertigen Wintergarten. Des Weiteren gab es ein Arbeitszimmer, das Jakes Vater etwas überzogen »das Kommunikationscenter« nannte, denn in Wahrheit war dieses in vier Wände gefasste Kabellabyrinth eher so etwas wie eine Abstellkammer für alte Computer und sonstige ausrangierte Hardware.

Ihren Lebensunterhalt verdienten Alan und Miriam Djones mit einem kleinen Sanitärgeschäft an der Haupteinkaufsstraße. An den Wochenenden versuchte Miriam sich an selbst ausgedachten Kochrezepten, und Alan betätigte sich als Heimwerker, was jedes Mal in Katastrophen wie durchgeschmorten Herdplatten und geplatzten Rohrleitungen endete.

Jakes Schule war genauso durchschnittlich wie das Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Sie lag gleich hinter dem Greenwich Park, nur fünfzehn Minuten zu Fuß von seinem Zuhause entfernt, und es gab dort ein paar gute Lehrer und viele ziemlich schlechte. Jake hasste Mathe, dafür war er gut in Geografie und hervorragend in Basketball, übte begeistert für jedes Theaterstück, das in der Schule aufgeführt wurde, bekam dann aber meistens doch nur eine Sprechrolle im Chor. Was ihn jedoch vor allem anderen faszinierte, war Geschichte, waren mächtige und geheimnisumwitterte Persönlichkeiten, Könige und Herrscher wie die auf den Wandgemälden, die er gerade eben gesehen hatte, doch leider gehörte sein Geschichtslehrer nicht zu den guten …

Zum letzten Mal hatte Jake seine Eltern vor vier Tagen gesehen. Sie hatten ihm eine Nachricht hinterlassen, er solle auf dem Heimweg von der Schule noch kurz im Laden vorbeischauen. Als Jake dort angekommen war, hatte er ihn geöffnet, aber verlassen vorgefunden und beschlossen zu warten.

Der Sanitärladen lief nicht gut, und Jake fragte sich oft, wie seine Eltern sich überhaupt über Wasser hielten. Sie hatten das Geschäft kurz nach Jakes Geburt eröffnet und schlugen sich seit dem ersten Tag mehr schlecht als recht durch. Wie einer der vielen unzufriedenen Kunden es einmal ausgedrückt hatte: »Sie haben einfach kein Händchen für Dinge, die mit Keramik zu tun haben!«

Jake war ähnlicher Meinung. Seine Mutter führte den Laden vollkommen chaotisch, verlor ständig Unterlagen und Belege und manchmal sogar ganze Badezimmereinrichtungen. Sein Vater war meistens bei den Kunden vor Ort und versuchte ebenjene Badezimmereinrichtungen – wenn sie nicht zuvor verloren gegangen waren – zu installieren. Er war eine imposante Erscheinung, kräftig gebaut und weit über eins achtzig groß. Jake konnte ihn sich eigentlich kaum in diesen winzigen Vorstadtbadezimmern vorstellen – nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch wegen seiner ausufernden Persönlichkeit.

Während er so da gesessen und gewartet hatte, waren plötzlich zwei Gestalten in den Ausstellungsraum geplatzt.

»Da bist du ja, Schatz!«, hatte seine Mutter ihn keuchend begrüßt und sich die widerspenstigen dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht gewischt. Rein äußerlich war sie das genaue Gegenteil von Jakes hellhäutigem Vater mit dem unbändigen blonden Haar und dem nicht wegzudenkenden Bartschatten im Gesicht. Sie hatte denselben olivfarbenen Teint wie Jake und eine warme, fast schon sinnliche Ausstrahlung. Ihre großen Augen wurden von langen Wimpern umrahmt, und direkt über dem Mundwinkel hatte sie ein kleines Muttermal.

»Desaster bei Dolores Devises. Die Überlaufrohre in ihrem Bad sind nicht dicht«, hatte Miriam seufzend mit einem Seitenblick auf Alan gesagt. »Ich musste ihr ihr Geld zurückgeben.«

»Ich könnte ein ganzes Jahr damit verbringen, ihr Badezimmer zu reparieren«, hatte sein Vater mit einem amüsierten Grinsen erwidert, »und diese Dolores Devises würde immer noch rummeckern wie eine alte Ziege!«

Es war eine Pause gefolgt, und dann waren Jakes Eltern, wie jedes Mal, in schallendes Gelächter ausgebrochen. Sie hatten beide einen unerschütterlichen und absolut ansteckenden Humor; praktisch alles konnte sie zum Lachen bringen, am allermeisten aber ein bestimmter Schlag von Kunden: arrogante Managertypen und affektierte Yuppiedamen wie Dolores Devises.

Alan und Miriam zogen es vor, über die Dinge zu lachen, anstatt sich von ihnen runterziehen zu lassen.

»Wir müssen mal wieder für ein paar Tage verschwinden, Schatz, leider«, hatte seine Mutter dann zu Jake gesagt und versucht, möglichst beiläufig zu klingen.

Jake war enttäuscht gewesen, und Miriam hatte kleinlaut hinzugefügt: »Meine Schuld. Hab mal wieder nicht daran gedacht, mir das Datum aufzuschreiben. Eine Messe in Birmingham, unvorstellbar langweilig, aber wir müssen hin. Der Vertreter hat gemeint, wir sollten mal unser ›Sortiment erweitern‹.«

»Granit und Sandstein sind total in im Moment«, hatte Alan gut gelaunt erklärt.

»Wir fahren heute, gleich von hier.« Miriam hatte auf einen roten Koffer hinter der Theke gedeutet und vorsichtig gesagt: »Rose wird nach dir sehen, solange wir weg sind. Das geht doch in Ordnung, Jake, oder?«

Eigentlich hatte Jake nicken wollen, aber es war eher ein Schulterzucken daraus geworden. Vor drei Jahren hatten seine Eltern angefangen, diese Messen zu besuchen, zuerst nur einmal im Jahr, aber in diesem Jahr waren sie schon zweimal bei einer gewesen und hatten ihre Abreise beide Male erst in allerletzter Sekunde angekündigt.

»Freitagnachmittag sind wir wieder zurück«, hatte seine Mutter mit einem Lächeln erklärt und Jakes dicke Locken zerzaust. »Und dann unternehmen wir was Tolles zusammen!«

»Wir haben ein paar Überraschungen geplant«, hatte sein Vater hinzugefügt.

Miriam hatte ihre Arme um Jake geschlungen und ihn fest an sich gedrückt. »Wir lieben dich so sehr!«

Jake hatte sich eine Weile drücken lassen und sich dann losgemacht. Er hatte gerade seinen Schulblazer wieder glatt gestrichen, da hatte sein Vater ihn ebenfalls in eine kräftige Umarmung geschlossen.

»Pass auf dich auf, Jake«, hatte er gesagt, und Jake hatte sich ein weiteres Mal befreien müssen.

»Danke. Amüsiert euch gut, ihr beiden«, hatte Jake gemurmelt und ohne sich noch einmal umzudrehen den Laden verlassen, um seinen Nachhauseweg fortzusetzen.

Nachdenklich hatte er den Greenwich Park durchquert und sich auf eine Bank gesetzt. Es tat ihm leid, dass er sich nicht richtig von seinen Eltern verabschiedet hatte, aber er hatte ihnen eben eine kleine Lektion erteilen wollen, damit sie ihn in Zukunft früher über ihre Geschäftsreisen informierten – eine sturmfreie Bude zu haben, war ja schön und gut, aber Jake wollte das nächste Mal einfach früher Bescheid wissen.

Nach einer Stunde hatte er dann aber doch noch mal das Bedürfnis verspürt, sie zu sehen, bevor sie abfuhren, und war zurück zum Laden gegangen. Doch es war zu spät gewesen. Das Geschäft war geschlossen, die Lichter im Schaufenster aus, der rote Koffer nicht mehr da.

Wie versprochen war Alans Schwester Rose noch am selben Abend gekommen. Jake mochte sie sehr, denn Rose nahm nie ein Blatt vor den Mund; sie war exzentrisch und äußerst unterhaltsam. Sie trug jede Menge klimpernden Schmuck, den sie von ihren Weltreisen mitgebracht hatte, unterhielt sich gern und ausgiebig mit den unterschiedlichsten Leuten, auch und gerade, wenn sie sie eben erst kennengelernt hatte, und sagte oft zu Jake: »Das Leben ist so kurz, man muss es in vollen Zügen genießen!«

Die Tage mit ihr waren unterhaltsam und abwechslungsreich gewesen, und Freitagnachmittag direkt nach Schulschluss war Jake wie ein Blitz aus dem Schulgebäude geschossen, denn an diesem Tag hatten seine Eltern von der Messe zurückkommen sollen. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause und war ein weiteres Mal durch den Greenwich Park gehastet. Er hatte gerade die wie eine Armee heranrollenden schwarzen Sturmwolken am Horizont gesehen, da waren Jupitus Cole und Norland, der Chauffeur, plötzlich vor der Königlichen Sternwarte aufgetaucht.

Erst Tage danach sollte Jake die besondere Bedeutung dieses Ortes bewusst werden: Im Jahr 1668 hatte Robert Hooke dort, zusammen mit anderen Gelehrten von der eben erst gegründeten Royal Society, seine intensiven astronomischen Beobachtungen begonnen, die Jahrhunderte später ihren Teil zur Entdeckung der Verbindung zwischen Raum und Zeit beitragen sollten.

Diese Begegnung war kaum eine Stunde her, und jetzt saß Jake hier in dieser mehr als ungewöhnlichen Bibliothek und wartete darauf, sein Leben schon bald »unwiderruflich verändert vorzufinden«, wie Jupitus Cole es genannt hatte.

Unvermittelt schwang die Bürotür auf. »Sie können jetzt reinkommen, Mr Djones«, sagte sein »Gastgeber« knapp.

Jake stand auf. Er wollte gerade auf die Tür zugehen, als er merkte, dass alle im Raum ihn unverwandt anstarrten, um sich dann, als er genauso unverwandt zurückstarrte, schnell wieder an die Arbeit zu machen. Dann betrat er Jupitus Coles Büro.


3

SCHIFFE UND DIAMANTEN

Schließ die Tür«, befahl Jupitus. Er saß bereits wieder am Schreibtisch und schrieb eifrig mit seinem Füller. Jupitus hatte frische Sachen angezogen, die beinahe identisch waren mit denen, die er zuvor getragen hatte: weißes Hemd, schwarze Krawatte, dunkles, tailliertes Jackett und eine Hose mit grauen Nadelstreifen. Die nassen Kleidungsstücke lagen neben ihm auf dem Boden.

Jake sah sich in dem mit Holz getäfelten Büro um. Es war eine regelrechte Schatzkammer, randvoll mit erlesenen Kostbarkeiten: In einer Ecke stand die Marmorbüste eines römischen Kaisers, in einer Vitrine waren Schwerter und andere antike Waffen ausgestellt, auf dem Parkettboden lag ein Tigerfell, das riesige Maul weit aufgerissen, an den Wänden hingen Gemälde mit Porträts von Adligen und Königen, außerdem gab es weitere Globen und Landkarten. Neben dem prasselnden Kamin stand ein riesenhafter ausgestopfter Vogel mit einem beeindruckend großen Schnabel, der Jakes besondere Aufmerksamkeit erregte.

»Ist das …?«

»Ein Dodo, genau«, sagte Jupitus, ohne von seinen Papieren aufzublicken. »Einer der Letzten, die auf unserer Erde gewandelt sind. Aber damit ist es nun, wie man deutlich erkennen kann, auch für ihn vorbei. Und du fragst dich wahrscheinlich, was du hier eigentlich machst und wer wir alle sind.«

»Noch viel mehr als das: Vor allem möchte ich wissen, woher Sie meine Eltern kennen«, erwiderte Jake.

»Zuerst muss ich mir deine Augen mal ansehen«, entgegnete Jupitus, ohne auf Jakes Worte einzugehen.

»Meine Augen …?«

Jupitus öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und zog ein fein gearbeitetes Instrument aus dunklem Holz mit silbern glänzenden Metallteilen daran hervor. Für Jake sah es aus wie eine dieser Lupen, mit denen Juweliere teure Edelsteine untersuchen. Jupitus streifte den Riemen über den Kopf, schob das Okular über sein rechtes Auge und kam um den Tisch herum.

»Setz dich auf diesen Stuhl«, befahl er.

»Mit meinen Augen ist alles in Ordnung.«

Jupitus reagierte nicht, sondern wartete, bis Jake tat, wie er ihn geheißen hatte, und schließlich setzte Jake sich zögernd hin.

»Stell das hier ab«, sagte Jupitus und deutete auf Jakes Schultasche.

Jake nahm die Tasche von der Schulter und legte sie auf den Tisch.

Mit einem Drehregler schaltete Jupitus eine kleine Lampe an dem Gerät ein und hob Jakes Kinn. »Augen möglichst weit auf, bitte«, sagte er und beugte sich nach vorn, um Jakes rechte Pupille zu inspizieren.

»Was soll das Ganze?«

»Schhhh!« Jupitus zog eine Grimasse und wechselte zu Jakes linkem Auge. »Und jetzt schließe deine Augen, so schnell du kannst.«

Jake gehorchte, und Jupitus richtete die Lichtquelle an dem Gerät abwechselnd auf seine geschlossenen Lider.

»Jetzt sag mir, was für Formen du siehst.«

»Formen? Ich sehe rein gar nichts.«

»Natürlich tust du das! Du siehst Umrisse. Umrisse verschiedener Größe, aber alle mit derselben Form – Rechtecke, Quadrate, Kreise, was siehst du? Schau genau hin.«

Jake konzentrierte sich, und tatsächlich sah er etwas. »Hmm, sieht irgendwie aus wie … Diamanten.«

»Diamanten? Wirklich? Keine Rechtecke oder Quadrate?«, fragte Jupitus ungläubig.

»Ja doch! Diamanten. Jede Menge.«

Jupitus wirkte wütend, als hätte Jake ihn beleidigt. »Sind sie symmetrisch geformt, klar definiert oder verschwommen?«, bohrte er nach.

»Die Umrisse sind klar, würde ich sagen.«

Bebend holte Jupitus tief Atem. »Du Glückspilz«, sagte er kaum hörbar, zog das Instrument vom Kopf und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

»Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir reisen nach Frankreich. Per Schiff. Du musst uns begleiten.«

Jake lachte nur. »Wie bitte? Frankreich? Heute Nacht noch?«

»Ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich. Aber wir haben alles, was du brauchst: Kleidung, Essen, egal was. Wirst du leicht seekrank? Es könnte eine stürmische Überfahrt werden.«

»Nein, aber trotzdem, ich meine … Wer sind Sie und Ihre Leute überhaupt?«

Jupitus schaute ihn verächtlich an. »Vielleicht bleibst du ja lieber in London, an dieser langweiligen, drittklassigen Schule. Stures Lernen tagaus, tagein, Geschichtsdaten und Formeln.« Mit einer lässigen Geste zog er ein Schulbuch aus Jakes Tasche und blätterte es durch. »Wozu? Um sinnlose Prüfungen zu bestehen? Einen höheren ›Bildungsweg‹ einzuschlagen, damit du einen geisttötenden Beruf ergreifen und ein langweiliges, bedeutungsloses Leben führen kannst, an dessen Ende ein ebenso bedeutungsloser Tod wartet?«

Jake schüttelte heftig den Kopf. Er verstand überhaupt nichts mehr.

Mit einem lauten Knall klappte Jupitus das Buch zu und stopfte es zurück in die Schultasche. »Wenn du Bildung willst, ist die Welt der Ort, um sie zu erlangen: Unsere Erde ist weit reichhaltiger und komplexer, als du es dir selbst in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst!«

Jake betrachtete den Mann vor ihm. Irgendwie hatte dieser letzte Satz etwas in ihm angerührt. »Na ja, es geht hier ja wohl nicht nur um meine Schule …«, begann er. »Meine Eltern wären wohl kaum begeistert, wenn ich mit einem Haufen wildfremder Leute einfach so nach Frankreich verschwinden würde. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie scheinen mir alle nicht ganz richtig im Kopf … Diese seltsamen Klamotten, die Sie tragen, und die komische Art, wie Sie sprechen.« Jake versuchte ruhig zu bleiben, aber seine Hände zitterten.

»Deine Eltern, sagst du? Es geschieht um ihretwillen, dass ich dich bitte, mit uns zu kommen. Sie sind verschollen, musst du wissen.«

»Was?«, keuchte Jake. »Wie meinen Sie das?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in Sicherheit. Sie haben eine zähe Natur, die beiden, und haben im Lauf der Jahre einiges an gefährlichen Situationen gemeistert. Tatsache ist jedoch, dass wir den Kontakt zu ihnen verloren haben, und das seit drei Tagen. Wir beginnen uns Sorgen zu machen.«

Jakes Kopf drehte sich. »Entschuldigung, aber ich verstehe nicht ganz. Woher kennen Sie meine Eltern überhaupt?«

Jupitus bedachte Jake mit einem kühlen Blick, bevor er antwortete. »Wir arbeiten für dieselbe Organisation«, sagte er und deutete mit ausladender Geste auf sein Büro. »Diese Organisation.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann lachte Jake laut los. »Wissen Sie, Sie haben gerade einen Fehler gemacht. Meine Eltern verkaufen Badezimmereinrichtungen: Waschbecken, Bidets, Badewannen. Während wir uns hier unterhalten, kommen sie gerade von einer Messe aus Birmingham zurück. Und das hätten Sie natürlich gewusst, wenn Sie meine Eltern tatsächlich kennen …«

»Alan und Miriam Djones«, unterbrach Jupitus, »fünfundvierzig beziehungsweise dreiundvierzig Jahre alt. Hochzeit auf der griechischen Insel Rhodos in einem an der Küste gelegenen Orangenhain. Ich gehörte zu den geladenen Gästen. Unvergesslicher Tag«, fügte er ohne jede erkennbare Leidenschaft hinzu. »Der Name ›Djones‹ mit stummem ›D‹ ist selbstredend ungewöhnlich. Ein Sohn« – Jupitus deutete beiläufig auf Jake –, »Jake Archie Djones, vierzehn Jahre, hat keine Ahnung, wer er ist. Ein weiterer Sohn, Philip Leonardo Djones, ist vor drei Jahren im Alter von fünfzehn Jahren verstorben.«

»Halten Sie die Klappe!«, rief Jake und sprang, außer sich vor Wut, auf die Füße.

Jupitus hatte mit geradezu widerwärtiger Nonchalance das einzige Thema angesprochen, das Jake heilig war: seinen älteren Bruder Philip.

»Ich werde hier sofort verschwinden! Von wegen, mit dem Schiff nach Frankreich fahren, mir neugierig in die Augen starren … Sie sind doch total durchgeknallt!« Er warf Jupitus einen wütenden Blick zu, packte seine Schultasche und stürmte mit bebenden Lippen auf die Tür zu. Es kostete ihn einige Kraft, seine Selbstbeherrschung zu wahren.

»Wenn du jetzt gehst, wirst du deine Eltern vielleicht nie wiedersehen!«, verkündete Jupitus mit solchem Nachdruck, dass Jake wie vom Blitz getroffen stehen blieb.

»Wie dir bereits gesagt wurde, wird auch deine Tante hierherkommen«, fügte Jupitus ihn etwas sanfterem Ton hinzu. »Sie wird uns begleiten und kann dir alles erklären. Ihr rechtzeitiges Erscheinen vorausgesetzt, natürlich. Pünktlichkeit war noch nie ihre Stärke.«

Jake drehte sich um. Er war jetzt so verwirrt, dass er kaum noch denken konnte.

»Wenn du deine Eltern wiedersehen willst, wenn du am Leben bleiben willst, hast du in der Tat keine andere Wahl, als mit uns zu kommen«, beendete Jupitus seinen Vortrag mit ernster Stimme.

Jake war schwindelig, aber er hatte zumindest seine Sprache wiedergefunden: »Wo genau in Frankreich fahren Sie hin?«

Zum ersten Mal sah Jupitus Jake mit einem Anflug von Respekt an. »An einen Ort, an dem du mit Sicherheit noch nie in deinem Leben gewesen bist.«

An der Tür ertönte ein lautes Klopfen. »Captain Macintyre«, verkündete eine geschäftsmäßige Stimme.

»Herein«, befahl Jupitus.

Die Tür öffnete sich, und ein stämmiger Mann in der Uniform eines Kapitäns zur See trat ein. Er nickte Jake kurz zu und wandte sich dann an Jupitus.

»Mister Cole, wenn Sie einen Moment erübrigen könnten, damit wir die Koordinaten besprechen können.« Macintyre breitete eine Karte auf Jupitus’ Schreibtisch aus. Sie sah alt aus; die Küste Großbritanniens, die Nordsee und der Ärmelkanal waren darauf zu sehen.

»Wenn wir den üblichen im Osten gelegenen Horizontpunkt nehmen, Sir, könnten wir, so fürchte ich, abgefangen werden«, sagte Macintyre und deutete auf ein Symbol, das aussah wie ein Stern. »Von wirklich jedem, der zur gleichen Zeit dorthin unterwegs ist. Deshalb würde ich vorschlagen, Sir, diesen hier zu nehmen, Südsüdost.«

Ein weiteres Klopfen kam von der immer noch offen stehenden Tür. Ein Matrose salutierte, eine leere Kiste unter den Arm geklemmt. »Verzeihen Sie die Störung, Mister Cole, Sir. Was soll ich aus Ihrem Büro mitnehmen?«, fragte er höflich.

Jupitus ging zu einer Glasvitrine mit alten Büchern darin, öffnete sie und sagte: »Den Galileo natürlich, Newton … und packen Sie auch den Shakespeare ein.«

Er zog ein Buch heraus, und Jake reckte den Hals, um zu sehen, um welches es sich handelte. »Macbeth, neues Stück für das Globe« stand mit verblasster blauer Tinte auf dem Einband geschrieben. Als Jakes Blick auf die ebenfalls handgeschriebene Unterschrift fiel, lief ihm ein Schauer über den Rücken: William Shakespeare.

Jupitus reichte dem Matrosen das Buch. »Was soll’s? Packen Sie einfach alle ein! Gott allein weiß, wann wir wieder zurück sein werden.« Dann nahm er ein Gemälde von der Wand, schloss den dahinterliegenden Safe auf, zog mehrere Bündel uralt aussehender Geldscheine heraus und warf sie in einen Koffer. Als Nächstes fischte er einen prall gefüllten Lederbeutel aus dem Tresor und leerte den Inhalt in seine Hand – funkelnde Diamanten, Smaragde und Turmaline, die er in seine altmodische Geldbörse stopfte, welche er daraufhin ebenfalls in den Koffer warf.

Schließlich holte er den letzten Gegenstand hervor – ein kleines furniertes Holzkästchen, das er mit größter Vorsicht behandelte. Drei Objekte lagen in dem mit Samt ausgekleideten Inneren: in der Mitte ein silbrig glänzendes Gerät, in etwa so groß wie ein Ei, mit einer Unzahl von winzigen Rädchen und Hebeln daran, und links und rechts daneben zwei kleine Fläschchen. Das eine schien aus gewöhnlichem Glas zu bestehen, war glatt und schmucklos; eine graue Flüssigkeit befand sich darin. Das andere hatte wunderschöne Gravuren und musste aus Kristall oder etwas Ähnlichem hergestellt sein. Es beinhaltete eine golden schimmernde Flüssigkeit. Behutsam nahm Jupitus die Kristallphiole heraus und hielt sie ans Licht. Sie war zu einem Viertel gefüllt und glitzerte ätherisch.

Erst jetzt bemerkte er, dass Jake immer noch im Büro war. »Das wäre alles, Mister Djones«, sagte er knapp.

»Ich … Wo soll ich …?«, fragte Jake.

»Warte einfach auf weitere Anweisungen.«

Jake nickte, und noch während er das Büro verließ, sprach Jupitus schon weiter: »Ganz recht, Macintyre, wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, die Koordinaten. Südsüdost …«


4

DIE ESCAPE

Immer noch verwirrt stolperte Jake zurück in die Bibliothek. Seine Gedanken waren ein heilloses Durcheinander. Die eine Hälfte von ihm, die logische Hälfte, wollte nichts wie weg von diesem verrückten Ort. Wollte seine Tante anrufen, seine Eltern finden, den ganzen Vorfall melden und wieder so etwas wie Normalität herstellen. Die andere Hälfte drängte ihn zu bleiben: herauszufinden, wer diese Leute waren, woher dieser Jupitus seine Eltern kannte und vor allem, weshalb er von seinem Bruder Philip wusste.

Vor beinahe drei Jahren war Philip auf einer Klassenfahrt gewesen: Klettern in den Pyrenäen. Er war damals vierzehn, so alt wie Jake jetzt. Expeditionen waren seine große Leidenschaft – Bergsteigen, Segeln, Kanufahren – und seine Abenteuerlust war unstillbar. Er sehnte sich danach, Wüsten zu durchwandern, Dschungel und Urwälder und unbekannte Orte zu entdecken.

Auf jener Klassenfahrt hatte er sich allein aus dem Staub gemacht, nachts und ohne Erlaubnis, um einen berüchtigten Gipfel zu besteigen, und war nie zurückgekehrt. Die Bergrettung hatte alle Schluchten und Felsspalten abgesucht, aber Philips Leiche wurde nie gefunden. Sein Lachen, das stets das Haus der Djones erfüllte hatte, war verstummt. An seine Stelle war bedrückendes Schweigen getreten, das nur dann und wann vom Klingeln des Telefons unterbrochen wurde. Dann war für einen Moment ein Hoffnungsschimmer in ihren von den vielen durchwachten Nächten übermüdeten Augen aufgeflackert, nur um jedes Mal wieder enttäuscht zu werden, sobald Jakes Eltern den Hörer abhoben. Jake war damals elf gewesen, und der Verlust hatte eine tiefe, unheilbare Wunde hinterlassen.

Doch Jakes Eltern waren stark, und nach dem ersten Schock hatten sie versucht, ihr Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken, hatten sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um die Stimmung irgendwie aufzuheitern. Doch auch wenn Jake ihre Bemühungen durchaus zu schätzen wusste, hatten sie ihn doch nicht darüber hinwegtrösten können, dass seine Eltern sich von nun an so sehr in ihre Arbeit stürzten und immer öfter zu diesen verdammten Messen fuhren.

Die Tür zum Treppenhaus ging auf, und drei Gestalten traten ein: als Erstes Norland, der rotgesichtige Chauffeur, der sich mit ein paar elegant aussehenden Koffern und mehreren Hutschachteln abmühte. Hinter ihm folgte eine groß gewachsene, elitär wirkende Dame im langen Pelzmantel, an dessen Saum samtig schimmernde Tierschwänze baumelten. Sie musste die Lady sein, die Jupitus als »Ihre Majestät« bezeichnet hatte. Gemeinsam mit Norland durchschritt sie die Bibliothek und verschwand im Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite.

Die Dritte war ein Mädchen, bei deren Anblick Jake der Atem stockte. Sein Mund fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an, und seine Augen wurden groß vor Staunen. Das Mädchen hatte einen wachen Blick, ein verspieltes Lächeln um die Lippen, lange goldene Locken fielen über ihre Schultern, und ihre großen Augen, deren Farbe irgendetwas zwischen Blau und Indigo sein mochte, sprühten nur so vor Leben. Sie war zierlich und strahlte eine ruhelose, unbändige Energie aus.

Mit ein paar schnellen Blicken schien sie alles in sich aufzunehmen und die Lage zu analysieren. Als sie Jake sah, eilte sie sogleich auf ihn zu.

»Was ist los? Weißt du was darüber? Nous partons tout de suite? Müssen wir zu einem Einsatz?«

Jake schmolz dahin – ihr französischer Akzent war absolut bezaubernd, und sie plapperte einfach drauflos, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen. Er versuchte, sich ein souveränes Lächeln abzuringen, brachte aber nur ein schiefes Grinsen zustande.

»Zuerst war ich ein wenig sauer, als Mr Norland im Museum auftauchte. Ich hatte noch so viel zu tun«, sprach sie weiter, und Jake wurde schwindelig beim Anblick ihrer leuchtenden Augen. »Ich bin mit meinen Nachforschungen über Tutanchamun gerade an einem wichtigen Punkt angelangt: Il a été assassiné. Ganz ohne Zweifel. Er wurde ermordet. Die forensischen Beweise sind unwiderlegbar.«

Die Art, wie sie sich ohne jede Furcht auch auf die schwierigsten Wörter seiner Muttersprache stürzte, beeindruckte Jake.

»Ich bin sicher, es war dieser allseits hoch geschätzte Buchhalter Horemheb. Und dann kommt Norland und sagt mir, wir müssten sofort los. Hat dir Mister Cole vielleicht irgendwas erzählt?«

»Ähm … nicht direkt«, stammelte Jake und fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar. »Das hier ist alles ziemlich neu für mich.«

Aber das Mädchen hörte schon gar nicht mehr zu und schaute hinüber zu Jupitus’ Bürotür. Der Griff bewegte sich, als würde sie jeden Moment aufschwingen. Dann rief sie zu dem Jungen mit dem Papageien auf der Schulter hinüber, der immer noch wie wild auf seiner seltsamen Schreibmaschine herumtippte: »Charlie, kannst du mir nicht sagen, was los ist?«

»Wenn ich das tue, müsste ich dich danach leider umbringen«, gab er trocken zurück.

Da schien ihr ein Gedanke zu kommen, und sie wandte sich mit gerunzelter Stirn wieder an Jake. »Du hast gesagt, das alles wäre neu für dich?«

Jake nickte.

»Mon Dieu!«, rief sie. »Du musst der Sohn von Alan und Miriam sein!« Sie sah Jake von oben bis unten an und ging einmal im Kreis um ihn herum, um ihn von allen Seiten zu begutachten. »Jetzt sehe ich die Ähnlichkeit. Du hast die Augen deiner Mutter, ganz ohne Zweifel.«

»Ja … ähm … genau. Jake … Normalerweise nennen mich die Leute Jake«, erwiderte er.

»Topaz St. Honoré. Enchantée«, sagte sie und schüttelte Jake erfreut die Hand. Dann veränderte sich ihr Ton wieder. »Auf dem Weg hierher hat Norland mir das mit deinen Eltern erzählt: Mach dir bitte keine Sorgen um sie, sie sind die besten Agenten in der ganzen Organisation und außerdem die nettesten.«

»Ja … schön …«, hörte Jake sich sagen.

»Wie alt bist du? Ich hätte mir dich jünger vorgestellt.«

Jake spürte einen Kloß im Hals und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Tatsächlich? Ich … ich bin fast fünfzehn. Nun ja, nächstes Jahr werde ich fünfzehn. Und du?«, fragte er.

»Beinahe sechzehn. Noch zwei Wochen.«

»Und … und du kommst aus Frankreich?«

»Bien sûr. Wenn auch aus einer anderen Zeit.«

Jake nickte wissend, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon sie redete. Da flog die Bürotür auf.

»Wir haben keine Zeit mehr!«, rief Jupitus. »Nehmt, was immer ihr gerade in der Hand habt, und schifft euch unverzüglich auf der Escape ein!«

»Mister Cole, Sir. Darf ich den Grund für unsere plötzliche Abreise erfahren?«, fragte das Mädchen Topaz und folgte Jupitus durch die Bibliothek.

»Befehl vom Hauptquartier. Wir müssen unverzüglich zum Nullpunkt zurückkehren.« Er gab Charlie den Zettel, auf den er vorhin eilig etwas mit Füller geschrieben hatte. »Telegrafier das an Kommandantin Goethe. Schreib ihr, dass wir auf dem Weg sind, dann pack deine Sachen zusammen.«

»Wurde unser Standort entdeckt?«, bohrte Topaz nach. »Besteht irgendein Zusammenhang zwischen der momentanen Situation und dem Verschwinden der Agenten Djones und Djones?«, fragte sie im Flüsterton weiter, damit Jake es nicht mitbekam.

»Ich tappe ebenso im Dunkeln wie ihr.«

»Ist zu erwarten, dass wir auf einen Einsatz geschickt werden, sobald wir den Nullpunkt erreichen?«

»Ich weiß es nicht.«

Alle stürzten sich in hektische Betriebsamkeit, die uniformierten Männer packten eilig die noch übrigen Kisten und verschwanden damit im Durchgang, und inmitten all des Aufruhrs stand Jake wie angewurzelt.

»Verzeihung, aber was ist mit meiner Tante? Kommt sie jetzt mit oder nicht?«, fragte er Jupitus.

»Sie ist zu spät, und uns läuft die Zeit davon. Sie wurde gewarnt.«

»Ich kann nicht ohne sie mitkommen.«

»Nun, das musst du aber. Um deiner Eltern willen. Anker lichten in drei Minuten.« Dann war Jupitus weg.

Der Junge mit der Brille kam herüber, die eigenartige Schreibmaschine unter den Arm geklemmt, Mr Drake aufgeregt flatternd auf seiner Schulter. »Charlie Chieverley, angenehm«, sagte er zu Jake. »Mister Cole hat recht. In London zu bleiben ist keine Option. Dein weiteres Schicksal wäre mehr als ungewiss. Viel besser, du kommst mit uns«, sprach er weiter, und Mr Drake krächzte, als wollte er Charlies Worte bekräftigen.

Jake fühlte sich, als stünde er an einem Scheideweg. Er dachte an seine Eltern, an seine Tante, an das verrückte Abenteuer, zu dem er gerade eingeladen worden war, und an die Alternative hierzubleiben. »In Ordnung«, sagte er schließlich.

Topaz ergriff Jakes Hand und führte ihn im Eilschritt quer durch die Bibliothek und hinein in einen langen, gewundenen Korridor. An den Wänden waren noch mehr von den alten verblassten Malereien, wie Jake sie auf der Treppe, die von dem Denkmal herunterführte, gesehen hatte – Momentaufnahmen der Geschichte, Zeugnisse längst vergangener Zivilisationen. Eines davon erweckte sein ganz besonderes Interesse. Eine Galeone, die durch einen Sturm auf eine felsige Küste zusegelte, war darauf abgebildet.

»Keine Zeit«, meinte Topaz nur und zog ihn weiter, schneller und immer schneller auf den Ausgang zu, bis sie schließlich unter dem stürmischen Himmel hinaus ins Freie traten.

Jake brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie standen auf einer Kaimauer neben der Themse, krachend schlugen die Wellen gegen die Ufermauern unter ihnen, aber das eigentlich Interessante war das am Kai vertäute Schiff, das mit beängstigender Kraft an seinen Leinen riss. Es war ein robuster, von Wind und Wetter gezeichneter Dreimaster von der Bauart einer alten spanischen Galeone, ganz ähnlich dem, das Jake vorhin auf dem Wandgemälde gesehen hatte. Jahrhunderte zuvor waren heldenhafte Entdecker mit Schiffen wie diesem aufgebrochen, um die Neue Welt zu erforschen. Am Bug prangte eine goldene Galionsfigur, eine Kriegsgöttin, die mit leuchtendem Blick die Arme in Richtung der See streckte. Darunter entdeckte Jake den durch das Meerwasser und die Spuren unzähliger Fahrten beinahe unkenntlich gemachten Namen des Schiffes: Escape.

»Alle Mann an Bord!«, brüllte Jupitus.

In der Hoffnung, vielleicht doch noch seine Tante auftauchen zu sehen, blickte Jake noch einmal zurück auf den Ausgang des Tunnels, und auch Jupitus verharrte noch einen Moment auf dem Kai. Mit ernstem Gesicht betrachtete er den stürmischen Fluss, dessen tosende Wellen im Licht der zuckenden Blitze gleißten und schimmerten. »Gehab dich wohl, geliebtes England«, flüsterte er. Dann rief er: »Leinen los!«, und sprang an Bord.

Genau in diesem Moment kam neben der London Bridge mit quietschenden Reifen ein Taxi zum Stehen.

»Sie kommen zurecht?«, fragte der Fahrer. »Wegen des Sturms, meine ich.«

Eine Frau kam keuchend aus der Beifahrertür herausgeklettert. Sie trug einen langen afghanischen Hirtenmantel, einen Seidenschal um den Kopf, um ihre rote Korkenzieherlockenmähne zu bändigen, und eine große Reisetasche über der Schulter. »Glauben Sie mir, ich habe schon Schlimmeres erlebt«, antwortete sie und schlug die Tür hinter sich zu. »Stellen Sie sich bei Gelegenheit mal während eines Gewitters wie diesem mitten auf ein Schlachtfeld, kurz bevor die preußische Kavallerie angreift. Dann wissen Sie, was ein richtiger Sturm ist! Und behalten Sie das Wechselgeld. Dort, wo ich hingehe, werd ich’s nicht brauchen«, sagte sie noch und reichte dem Fahrer ein Bündel Scheine.

»Wenn Sie es sagen, Madam«, erwiderte der Taxifahrer mit sichtlich erfreutem Gesichtsausdruck.

Aber die Frau hörte ihn nicht mehr, denn sie lief bereits mit wehendem Mantel die Stufen zur Kaimauer hinunter, wo sie plötzlich, bleich vor Schreck, stehen blieb. »Wartet auf mich!«

Jake horchte auf – die Stimme war unverkennbar. Sofort rannte er zur Reling.

»Rose!«, rief er, so laut er konnte, und fuchtelte so wild mit den Armen, dass er beinahe über die Reling gefallen wäre. »Du musst springen!«

Mehrere Crewmitglieder eilten an Jakes Seite und schrien durcheinander.

Rose atmete einmal tief durch. »Okay, okay. Ich versuch’s.« Sie warf ihre Reisetasche in hohem Bogen durch die Luft; einer der Matrosen fing sie auf. Dann nahm sie ein paar Schritte Anlauf und rannte los. Mit einem Schrei stieß sie sich vom Pier ab, aber der Sprung war zu kurz – Rose krachte gegen den Rumpf und bekam gerade noch mit einer Hand die Reling zu fassen.

Ihr Griff lockerte sich bereits, da packte einer der Matrosen sie am Arm. Die Adern an seinem Hals traten hervor, als wollten sie platzen, und er zog die Frau an Bord.

Rose sank aufs Deck und blieb liegen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich wie eine Ziehharmonika, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich blickte sie lachend zu Jake auf. »Gott sei Dank hab ich’s noch rechtzeitig geschafft!«

Die Matrosen hatten ihr kaum auf die Beine geholfen, da warf sie schon die Arme um Jakes Hals. »Du musst ja völlig durcheinander sein, du Ärmster«, keuchte sie, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich, und sie stand stocksteif da.

Jake drehte sich um und sah Jupitus Cole, der hinter ihnen stand. »Rosalind Djones. Immer für einen dramatischen Auftritt gut, nicht wahr?« Mit durchdringendem Blick starrte er sie an. »Wir wären auch ohne Sie losgefahren.«

Rose reckte ihr Kinn vor. »Freut mich auch, Sie zu sehen – nach fünfzehn Jahren«, gab sie gereizt zurück. »Dafür, dass ich gerade mal eine Stunde Zeit hatte, mein ganzes Leben in diese Reisetasche hier zu packen, bin ich eigentlich ziemlich früh dran, finde ich.«

Jake beobachtete die beiden. Sie schienen einander ungefähr so anziehend zu finden wie zwei gleichpolige Magneten.

Da beugte Rose sich näher an Jupitus heran. »Am Telefon wollten Sie es ja nicht sagen«, flüsterte sie ihm ins Ohr, damit Jake nichts hörte, »aber könnten Sie mir jetzt endlich verraten, wo Alan und Miriam eigentlich hingeschickt wurden?«

Jake spitzte angestrengt die Ohren.

»Wie ich bereits erwähnte«, erwiderte Jupitus aalglatt, »ist diese Information streng geheim …«

»Streng geheim? Papperlapapp! Diese Ausrede hat bei mir noch nie funktioniert. Wo sind sie?«, insistierte Rose. »Erzählen Sie mir nicht, Sie wären es nicht selbst gewesen, der sie auf diesen Einsatz geschickt hat!«

»Auf diesen Einsatz geschickt?!«, rief Jupitus entrüstet aus. »Nichts läge mir ferner, als Alan und Miriam Djones wieder in den Dienst der Organisation zu nehmen!«

»Sagen Sie mir einfach, wo sie sind«, ließ Rose nicht locker. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und blickte Jupitus direkt in die Augen. »Sagen Sie es mir!«

»In Venedig«, antwortete Jupitus schließlich mit einem Seufzen. »Im Jahr 1506.«

Rose begrub das Gesicht in den Händen, und Jakes Verstand drehte sich wie ein Jahrmarktkarussell. Was in aller Welt konnten die Worte dieses Mr Cole zu bedeuten haben?

Jupitus bedachte Rose mit einem dünnlippigen Lächeln. »Willkommen an Bord«, sagte er und warf einen Blick auf seine Uhr. »Dinner und Atomium in dreißig Minuten.« Damit drehte er sich um und stolzierte auf eine schmale Treppe zu, die unter Deck führte. »Und in der Zwischenzeit erklären Sie dem Jungen besser, wer er ist und warum er hier ist. Er glaubt mir kein Wort. Alle Mann auf die Stationen«, fügte er noch hinzu und verschwand.

Die Escape nahm Fahrt auf und segelte auf die Tower Bridge zu. Jake nahm seine Tante beiseite. »Rose, was ist hier eigentlich los? Ich verstehe kein Wort von dem, was hier geredet wird. Wo sind Mom und Dad?«

Rose wühlte in ihrer Reisetasche und zog ein verknittertes Taschentuch heraus, mit dem sie sich den Schweiß von der Stirn tupfte. »Nie hätte ich geglaubt, jemals wieder einen Fuß auf diese alten, vermoderten Schiffsplanken zu setzen. Fünfzehn Jahre ist es jetzt her«, sagte sie und blickte sich um.

»Du warst schon mal auf diesem Schiff?«, fragte Jake verdutzt.

»O ja! Ich war damals kaum älter als du und habe eine ganze Menge Zeit damit verbracht, von genau dieser Stelle aus aufs Meer hinauszuschauen«, erinnerte sie sich. »Unsere letzte Reise führte nach Istanbul. Oder vielmehr Konstantinopel, wie es damals noch hieß. War ein gefährliches Unterfangen.«

Sie blickte auf, während der Sturm weitertobte und der Regen mit neuerlicher Wucht auf sie niederprasselte.

»Lass uns unter Deck gehen, und ich werde versuchen, dir alles zu erklären«, sagte Rose und nahm Jake am Arm, während Captain Macintyre die Escape die Themse hinauf in Richtung Ärmelkanal steuerte.


5

DINNER UND ATOMIUM

Im Salon war es warm und gemütlich. Die alten Holzbohlen verschwanden fast unter einer Unzahl kleiner Teppiche und Läufer, die schweren Eichenholztische, an denen die Zeit unübersehbare Spuren hinterlassen hatte, quollen über von Seekarten und Navigationsinstrumenten, und an den Wänden hingen Porträts von tollkühnen Seefahrern und Entdeckern. Später sollte Jake herausfinden, dass es sich bei der Escape um eine Galeone aus dem siebzehnten Jahrhundert handelte, die im viktorianischen Zeitalter etwas modernisiert worden war und ein neues Herz in Form einer Dampfmaschine eingepflanzt bekommen hatte.

Rose führte Jake hinüber zu einem der Sofas neben der Feuerstelle. Sie legte die Tasche ab, schob ihre Armreifen zurecht und begann nach einem tiefen Atemzug mit ihrer Geschichte.

»Vor vielen Jahren, Jake, kurz bevor du geboren wurdest, haben deine Eltern eine Entscheidung getroffen. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten sie, nun ja, wie soll ich sagen, ein ungewöhnliches, ein aufregendes Leben voller Abenteuer und Entdeckungen.« Sie hielt einen Moment inne und dachte mit funkelnden Augen zurück. »Aber es war auch ein Leben, das enorme Gefahren mit sich brachte, und als Philip zur Welt kam, fragten sie sich, wie lange sie noch so weitermachen konnten. Als dann drei Jahre später du geboren wurdest, war die Frage ein für alle Mal entschieden. Sie beschlossen – und es war die schwierigste Entscheidung, die sie jemals getroffen haben –, ein ›normales‹ Leben zu führen. Und ich konnte diese Entscheidung nur unterstützen.«

Jake schaute seine Tante an und wartete darauf, dass sie die Bombe endlich platzen ließ.

»Sie haben etwas vor dir geheim gehalten. Aber dieses Geheimnis lässt sich nicht länger bewahren. Die momentane Lage lässt uns keine andere Wahl.« Rose atmete noch einmal tief durch und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Du hast eine besondere Fähigkeit, Jake. Eine Gabe, wenn man so will. Eine Macht, über die nur sehr wenige verfügen. Und du hast sie, ohne es selbst zu wissen, schon seit deiner Geburt. Deine Eltern haben sie, ich habe sie, und jeder auf diesem Schiff hat sie, in mehr oder weniger starker Ausprägung.«

»Eine besondere Fähigkeit?«, fragte Jake.

»Zuerst sag mir eins: Hat Jupitus deine Augen untersucht? Ich meine, mit einem Instrument?«

»Ja, gleich nachdem wir in die Bibliothek kamen.«

»Und hast du was gesehen?«

»Diamanten. Ich habe Diamanten gesehen.«

Rose schnappte vor Freude nach Luft und ergriff Jakes Hand. »Diamanten, wirklich? Wie wunderbar! Waren ihre Umrisse scharf, klar zu erkennen?«

»Ja, ich glaube, das waren sie.«

»Oberste Kategorie, kein Zweifel!« Rose klatschte in die Hände. »Wie bei deinen Eltern und mir. So was wird nicht zwangsläufig vererbt, musst du wissen. Diese Begabung ist selten, äußerst selten.«

»Und was für eine Begabung ist das?«

Rose blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie immer noch allein waren. »Es bedeutet, dass deine Gabe reiner ist als bei den meisten anderen. Diamanten besitzen große Kraft, und wenn sie scharf sind, sind sie sogar noch stärker«, vertraute sie ihm an. »Was würde Cole nicht dafür geben, wenn er Diamanten sehen könnte.«

»Jetzt sag’s mir schon! Was hat das alles zu bedeuten?«

Rose bedachte Jake mit einem ernsten Blick. »Du kannst in die Vergangenheit reisen. Wie andere Leute an fremde Orte. Und wenn du Diamanten gesehen hast, bedeutet das, dass du in jede Zeit reisen kannst, ganz wie es dir beliebt. So weit zurück, wie du willst.«

Jake sah seine Tante an und konnte ein Lachen nicht unterdrücken; aber es war ein nervöses, unsicheres Lachen. Ob sie genauso verrückt war wie alle anderen an Bord?

»Ich habe nicht gesagt, dass es leicht ist. Keine Reise ist einfach. Allein, einmal quer durch London zu fahren, kann schon kompliziert genug sein. An einen anderen Ort und gleichzeitig in eine andere Zeit zu reisen jedoch ist das Schwierigste, das man sich überhaupt nur vorstellen kann. Und du kannst es. Im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen auf der Welt.«

Jake blickte Rose tief in die Augen. Er schüttelte den Kopf, wollte ihr sagen, dass er endgültig genug hatte von all dem Unsinn, aber ihre Miene blieb ungerührt.

»Ich weiß, du musst eine Menge Fragen haben«, sprach sie weiter, »aber du wirst es schon bald genug selbst erleben. Denn heute Nacht gehen wir auf eine solche Reise.«

»Nach Frankreich?«

»In die Normandie, genauer gesagt. Wenn auch nicht in die Normandie der heutigen Zeit. Wir reisen ins Jahr 1820. Zum Nullpunkt, verstehst du?«

»Zum Nullpunkt?«

»Zum Hauptquartier des Geheimdienstes der Geschichtshüter, der Organisation, für die all die Leute hier arbeiten. Die Leute auf der Escape und noch viele, viele andere. Die Agenten des Geheimdienstes stammen aus allen Teilen der Welt und aus jeder Epoche. Die Geschichtshüter sind eine wichtige Organisation, vielleicht die wichtigste, die jemals existiert hat.«

Jake spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief und die Härchen in seinem Nacken sich aufstellten vor Aufregung, aber er beschloss, hart zu bleiben. »Rose«, sagte er, »sosehr es mir auch gefallen würde, durch die Zeit zu reisen, wie du es nennst, aber ich muss jetzt …«

»Klingt alles ziemlich lächerlich, ich weiß. Und frag mich bitte nicht nach dem wissenschaftlichen Hintergrund, denn davon habe ich keinen blassen Schimmer. Jupitus kann es dir viel besser erklären als ich. Oder frag Charlie Chieverley, er ist der Wissenschaftler hier an Bord. Ich weiß nur, dass es irgendwas mit unseren Atomen zu tun hat. Sie haben so eine Art Geschichtsgedächtnis, erinnern sich an jeden Moment und jede Begebenheit, die sich je zugetragen hat.«

Jake fielen plötzlich die geheimnisvollen Worte wieder ein, die er an Deck gehört hatte. »Als Jupitus 1506 sagte, was genau hat er damit gemeint?«, fragte er nervös.

»Was hat er gesagt?«, fragte Rose zurück, wich seinem Blick aus und fingerte nervös an ihren Armreifen herum.

»1506«, wiederholte Jake. »Sag jetzt nicht, Jupitus hätte nicht das Jahr 1506 erwähnt.«

Rose kicherte verlegen. »Ja, ich glaube, das hat er, aber darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Deine Eltern sind immer wieder mal für eine Weile verschwunden. Es war einfach ihre Art, sich von ihrer Intuition leiten zu lassen.«

»1506?« Jake schüttelte den Kopf. »Du willst mir erzählen, dass das das Jahr ist, in dem sie sich gerade aufhalten?«

Rose legte Jake die Hände auf die Schultern und blickte ihm direkt in die Augen. »Wir werden sie finden«, versprach sie mit ruhiger, fester Stimme, »ganz bestimmt.«

In diesem Moment wusste Jake, dass Rose die Wahrheit sagte. Er hatte keine Ahnung, was genau es mit diesen Zeitreisen auf sich hatte, aber er wusste, fühlte es in seinem Bauch, dass ihre Geschichte stimmte. Und noch etwas begriff Jake in diesem Moment, und es war eine beunruhigende Erkenntnis: dass seine Eltern in der Tat verschollen waren.

Die Salontür flog auf, und die Dame mit dem Pelzmantel platzte herein. Als sie Jake und Rose erblickte, blieb sie abrupt stehen.

»Verzeihung. Ich dachte, es wäre bereits Zeit für das Dinner«, sagte sie irritiert.

»Es müsste jeden Moment so weit sein«, erwiderte Rose. »Wie geht es dir, Océane? Du hast dich kein bisschen verändert.«

»Und du siehst … immer noch genauso aus wie früher«, gab Océane nach kurzem Überlegen zurück. »Vielleicht ein paar mehr Ringe unter den Augen.«

»Und du hast immer noch dieses unnachahmliche Talent für Komplimente«, gab Rose gut gelaunt zurück. »Das ist übrigens mein Neffe Jake.«

»Océane Noire«, sagte die Lady herablassend. »Es macht euch doch nichts aus, wenn ich bleibe? Meine Kajüte ist der reinste Eisschrank, wie üblich.« Sie setzte sich geziert auf die Chaiselongue, zündete sich einen Zigarillo an und blickte betont interessiert durch eins der Fenster hinaus aufs Meer.

In diesem Moment betraten zwei Mannschaftsmitglieder den Salon und deckten eilig die Tafel in der Mitte des Raums. Hinter ihnen folgten die übrigen Passagiere: Charlie Chieverley mit Mr Drake, dem Papagei, eine strahlende Topaz St. Honoré und Jupitus Cole.

Jake bemerkte, wie Océanes Laune sich sofort besserte, als Jupitus in den Salon stolziert kam. Unverzüglich drückte sie ihren Zigarillo aus, richtete ihre Frisur und durchschritt mit einem vielsagenden Lächeln in Jupitus’ Richtung den Salon, um sich dann direkt neben ihn zu setzen.

Doch leider war die ganze Inszenierung vollkommen umsonst, denn Jupitus war weit weg in seiner eigenen Welt, versunken in Seekarten und Tabellen.

Da fiel Jake ein Instrument auf, das an Schnüren befestigt von der Salondecke hing. Es bestand aus drei goldenen, konzentrischen Ringen, alle in einem unterschiedlichen Winkel geneigt, und in der Mitte schwebte eine Kugel. An jedem der Ringe befanden sich Markierungen, manche davon erkannte Jake als Ziffern, dazwischen entdeckte er aber auch eine Vielzahl rätselhafter Symbole, die ihm rein gar nichts sagten.

»Das ist der Konstantor«, wisperte Rose. »Er bringt uns zum Horizontpunkt. Eine ziemlich wichtige Apparatur. Auf dem Deck ist noch einer. Siehst du, wie er sich bewegt?«

Jake schaute genauer hin. Rose hatte recht: Beinahe unmerklich schienen die goldenen Ringe sich einem gemeinsamen Äquator zu nähern.

»Wenn alle drei sich in dieselbe Ebene gedreht haben, sind wir am Horizontpunkt, und dann geht der Spaß erst richtig los. Das erste Mal vergisst man nie. Die beste Achterbahnfahrt, die man sich überhaupt nur vorstellen kann.«

Jupitus warf einen Blick auf seine Uhr und lief rot an vor Zorn. »Norland!«, brüllte er die Treppe hinunter. »Trägst du jetzt das Dinner auf oder nicht?!« Im Salon wurde es totenstill, als er noch hinzufügte: »Was für ein Nichtsnutz! Wozu braucht man einen Butler, der nicht einmal in der Lage ist, sich an vereinbarte Zeiten zu halten?«

Erstaunlich unbeeindruckt kam Norland aus der Kombüse herauf. Er zog an den Seilen des Speiseaufzugs, öffnete die Klappe, zog einen Stapel Teller heraus und verteilte die saftig gebratenen Hühnerkeulen darauf.

Unterdessen hatten die Passagiere Platz genommen; Jake saß zwischen Rose und Océane und direkt gegenüber von Topaz und Charlie.

Océane warf einen kurzen Blick auf die Gemüseplatte in der Mitte. »Ach, diese schreckliche englische Esskultur«, seufzte sie gelangweilt, aber niemand schenkte ihr Beachtung.

Während Jake sein Huhn verspeiste – das zum Köstlichsten gehörte, das er jemals gegessen hatte –, lauschte er gespannt auf die Gesprächsfetzen, die ihm an die Ohren drangen: Topaz fragte Mr Cole nach den Ereignissen in Byzanz, als er dort auf der Seidenstraße gegen die Chinesen gekämpft hatte, doch Jupitus spielte alles in seinem üblichen, unterkühlten Tonfall herunter, auch wenn er sich doch ein wenig geschmeichelt zu fühlen schien von dem Titel, den ihm seine Taten eingebracht hatten – Held der Türken.

Océane war ganz entzückt von Jupitus’ Geschichte und gab im Gegenzug eine ihrer eigenen zum Besten über die »ganz und gar inakzeptablen Zustände«, die sie in Paris hatte ertragen müssen, als sie sich einer »wilden Horde« von Anhängern der Französischen Revolution gegenüber gesehen hatte, »ohne auch nur eine Nagelfeile zur Hand«, um sich zu verteidigen.

Schließlich nutzte Norland – nachdem er ebenfalls Platz genommen und sich selbst die größte Portion genommen hatte – diese Anekdote als Überleitung zu einer reichlich langatmigen Geschichte, die darin gipfelte, wie er in den Tagen Kaiser Josephs II. Mozart höchstpersönlich am Flügel gehört hatte.

Jede der Geschichten wurde in so beiläufigem Tonfall vorgetragen, als ginge es lediglich um Urlaubserlebnisse auf Mallorca. Für Jake allerdings fühlte sich alles an wie ein Traum oder als säße er in einem Theaterstück. Und doch … Was für eine ungeheure Vorstellung, wie fesselnd und verlockend, tatsächlich durch die Zeit reisen zu können! Rose hatte behauptet, er würde es früh genug selbst erleben, und jetzt konnte Jake es kaum mehr erwarten.

Ab und zu blickte er hinüber zu dem strahlenden, selbstbewussten Mädchen, das ihm gegenübersaß. Sie war anders als alle Mädchen, die er bisher getroffen hatte. In seinem Zimmer hingen ein paar Poster von Persönlichkeiten und Fantasiegestalten, die ihn faszinierten, und eine davon hatte es ihm ganz besonders angetan: Es war ein Mädchen, eine Prinzessin und Kriegerin – so stellte Jake es sich zumindest vor –, ihr Gesicht war blass und schön, ihr Blick erhaben und schüchtern zugleich; sie trug ein Diadem im Haar und eine glänzende Rüstung, und hinter ihr erstreckte sich eine düstere Landschaft mit Bergen und Schlössern und drohenden Sturmwolken darüber. Irgendwie erinnerte Topaz ihn an dieses Mädchen, so geheimnisvoll, so schön und mutig.

Mutig? Jake erschrak über sich selbst. Noch nie hatte er einen Gedanken daran verschwendet, ob ein Mädchen mutig wirkte oder nicht. Doch je länger er die Unterhaltung zwischen Topaz und Charlie beobachtete, desto mehr verlor er sich in ihren blauen Augen. Sie schienen zu leuchten von tausend Emotionen, die dahinter zu erkennen waren: Aufregung, Glück, Ungeduld und Erstaunen, alles zugleich. Im einen Moment schweiften Topaz’ Gedanken ab, und ihre Augenfarbe veränderte sich von Indigo zu einem dunklen Ultramarin, erfüllt von tiefster Trauer, dann, nur einen Moment später, brach sie in schallendes Gelächter aus, als Charlie einen einäugigen Papageienhändler nachmachte, den er in Tanger gesehen hatte.

Und während all dieser Unterhaltungen richteten die Anwesenden immer wieder einen erwartungsvollen Blick nach oben auf den golden schimmernden Konstantor und dessen sich langsam drehende Ringe.

Als alle fertig gegessen hatten, stand Jupitus auf und ging hinüber zu einer Kommode, auf der das furnierte Kästchen stand, das er so behutsam aus dem Safe im Londoner Büro geholt hatte. Als Erstes nahm er das silberne Gerät mit den Rädchen und winzigen Hebeln daran heraus, dann das Fläschchen mit der grauen Flüssigkeit und als Letztes ganz, ganz vorsichtig die Kristallphiole mit dem golden schimmernden Fluidum.

»Was passiert jetzt als Nächstes?«, flüsterte Jake Rose zu und fragte sich, warum alle plötzlich so still waren.

»Dieses kleine Ding da ist die Horizontschale.«

Jake sah, wie Jupitus die Hebel und Rädchen an dem Instrument sorgfältig ausrichtete.

»Er gibt das genaue Datum ein, zu dem wir reisen wollen«, erläuterte Charlie. »Gleich wird er einen Tropfen von jeder der beiden Flüssigkeiten in die Schale geben, die sie dann in einem bestimmten Verhältnis miteinander verschmilzt – einem sehr exakt einzuhaltenden Verhältnis. Wir nehmen jeder einen Schluck davon, und ab geht’s in die Tiefen der Geschichte.«

»Das Gerät verschmilzt die Flüssigkeiten miteinander?«, fragte Jake, der nicht ganz sicher war, ob er richtig verstanden hatte.

»Ganz genau. Auf molekularer Ebene«, antwortete Charlie und schob seine Brille zurecht. »Nimm einen bestimmten Anteil von dem goldenen Fluidum, und er bringt dich ins Jahr 1750. Ein bisschen mehr davon, und du findest dich an einer Frühstückstafel im alten Rom wieder. Vorausgesetzt natürlich, man hat die Kraft dazu – das heißt die Fähigkeit und die erforderliche Härte –, um durch die Zeit zu reisen. Glaub nicht, jeder könnte davon trinken und wäre schon unterwegs in die Vergangenheit. Das können nur sehr wenige Auserwählte, diejenigen mit Formen in den Augen, Diamanten oder Rechtecken. Und noch wenigere können an jeden Punkt der Zeit zurückreisen, der ihnen beliebt. Vor Christi Geburt und noch weiter.«

»Und was sind das für Flüssigkeiten?«, frage Jake, während Jupitus die beiden Fläschchen öffnete und je einen Tropfen daraus in einen kleinen Trichter an der Oberseite der Horizontschale goss.

»Bei der grauen handelt es sich um eine gewöhnliche Tinktur, aber die goldene …«

»… ist Atomium«, beendete Rose mit ehrfürchtiger Stimme den Satz.

»Atomium?«, wiederholte Jake. Das Wort klang faszinierend.

»Eine der seltensten Substanzen der Welt«, erklärte Charlie. »Ohne Atomium wäre das, was wir hier tun, überhaupt nicht möglich. Aber sei gewarnt: Es schmeckt wie etwas, das dein Dad in den Tank seines Autos schütten würde.«

Jupitus trat von der Horizontschale zurück, und alle anderen machten ebenfalls einen Schritt nach hinten. Océane hielt sich sogar schützend die porzellanweißen Hände vors Gesicht, und Jake war wie gebannt, während Rose ihn an der Hand mit sich zog.

»Die Schale wird ziemlich heiß«, erklärte sie.

Dann sah Jake, wie die Schale allmählich zu glühen begann und schließlich orangerot leuchtete wie geschmolzenes Metall. Selbst von der anderen Seite des Salons konnte er die enorme Hitze spüren, die von dem winzigen Gerät ausging, bevor es mit einem leichten Zittern und Pfeifen wieder in seinen Ursprungszustand zurückkehrte.

Weitere drei Minuten verstrichen, bis Jupitus es mit einer Stoffserviette um die Finger zur Hand nahm und es aufschraubte. Die Flüssigkeit darin funkelte wie gleißendes Sonnenlicht. Jupitus schüttete die wie flüssige Kristalle glitzernde Lösung in eine Wasserkaraffe, rührte das Gemisch mit einem langen Silberlöffel um und goss es in sieben kleine Kelche, die Norland auf einem Tablett bereitgestellt hatte.

»Auf unsere Reise!«, sagte Jupitus feierlich und hob seinen Kelch.

»Auf unsere Reise«, wiederholten alle im Chor.

Rose beäugte ihren Trunk. »Tja, ich schätze, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Auf meine Rückkehr zum Geheimdienst der Geschichtshüter also!«, sagte sie und leerte das Gefäß in einem Zug.

Charlie hingegen ließ eine kleine Pfütze am Boden seines Kelchs übrig und hielt ihn Mr Drake hin, wovon der Papagei offensichtlich wenig begeistert war und den Schnabel prompt in seinem Gefieder vergrub.

»Na komm schon. Inzwischen weißt du doch, wie es läuft«, redete Charlie ihm gut zu und zog eine Cashewnuss aus seiner Westentasche.

Mr Drake gehorchte zögernd, leckte den Kelch leer und holte sich dann mit einem heiseren Krächzen seine Belohnung.

»Bring den Rest des Atomiums Captain Macintyre und der Crew«, wies Jupitus Norland an, der mit der Karaffe auf dem Tablett verschwand.

Nach und nach richteten sich alle Augen auf Jake.

»Bon voyage, mein lieber Neffe«, sagte Rose. »Viel Glück für deine erste Reise.«

Jake hörte, wie alle anderen ihm zutoasteten, nur Jupitus murmelte etwas Unverständliches, und Océane sagte gar nichts. Er hob seinen Kelch, sah das Emblem mit der von zwei Planeten umkreisten Sanduhr darauf, nahm noch einmal einen tiefen Atemzug und trank – woraufhin er sofort einen so heftigen Hustenanfall bekam, dass Charlie ihm auf den Rücken klopfen musste.

»Mr Chieverley!«, rief Jupitus. »Sehen Sie zu, dass Sie in seiner Nähe sind, wenn wir den Horizontpunkt erreichen.« Er deutete mit dem Finger auf Jake. »Es ist sein erstes Mal, und ich möchte kein unnötiges Drama erleben.« Jupitus warf einen Blick auf den Konstantor und schaute dann auf seine Uhr. »Noch eine Stunde bis zum Horizontpunkt«, verkündete er, verließ den Salon und knallte die Tür hinter sich zu.

»Merkst du schon was?«, fragte Charlie Chieverley, als er mit Jake hinaus aufs Deck trat. Jake schüttelte den Kopf, und Charlie schaute auf seine Uhr. »Es ist jetzt beinahe eine Stunde her, dass wir das Atomium genommen haben. Du wirst bald was spüren.«

Die Escape fuhr jetzt über das offene Meer auf einen vom Mondlicht erhellten Fleck Wassers zu, den sie doch nie erreichen würde. Der Regen hatte aufgehört, aber es wehte immer noch eine steife Brise.

Charlies Art beeindruckte Jake. Er verfügte über einen trockenen Humor und kam Jake eher vor wie ein weltgewandter Erwachsener denn wie ein halbwüchsiger Junge. Wenn Charlie etwas nicht passte, dachte Jake, sagte er das, geradeheraus und ohne Umschweife, und Menschen, die den Mut besaßen, das zu tun, hatte er schon immer bewundert.

»Nur damit ich das alles richtig verstehe: Man nimmt also die zwei Flüssigkeiten, Atomium und diese graue Tink …«

»Auf das Atomium kommt es an. Das Zeug ist unfassbar selten.«

»Und das Mischungsverhältnis bestimmt, an welchen Zeitpunkt der Geschichte man reist?«

»Kurz gesagt, ja.«

»Aber wie stellt dieses Atomium das an?«

»Genau das ist die Frage!«, rief Charlie begeistert und rückte wieder einmal seine Brille zurecht. »Es verschafft unseren Atomen Zugang zum Flux Temporum, einem Netz aus allen Zeitströmen der Erdgeschichte, das sämtliche Zeitalter miteinander verbindet. Das Atomium klopft sozusagen bei jedem einzelnen deiner Atome an und macht eine komplette Bestandsaufnahme. Ein einziger menschlicher Körper hat mehr Atome, als du dir auch nur annähernd vorstellen kannst. Im Querschnitt eines einzigen Haares – und ich spreche hier von seinem Durchmesser, wohlgemerkt, nicht von der Länge – drängen sich Hunderte Milliarden davon zusammen. Und jedes einzelne wird im Lauf der kosmischen Entwicklung immer wieder recycelt. Ein paar Tausend deiner Atome könnten durchaus einmal Shakespeares gewesen sein, andere wiederum haben früher mal zu Dschingis Khan oder Julius Cäsar gehört, wieder andere stammen von einem Igel, der irgendwann in Norwegen gelebt hat.«

Jake versuchte, Charlies Ausführungen zu folgen, während er mit leuchtendem Blick weitersprudelte: »Das ist das eine. Aber auch jedes einzelne Atom ist absolut außergewöhnlich und verhält sich wie ein eigenständiges Mini-Universum. Stell dir Folgendes vor: Wenn man ein Atom auf die Größe der St.-Pauls-Kathedrale in London aufblasen würde, wäre sein Kern immer noch kaum größer als eine Erbse. Und was ist mit dem ganzen Raum dazwischen? Was ist da drin?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Jake mit einem verlegenen Lächeln.

Charlie beugte sich ganz dicht an ihn heran und nahm seine Brille ab, um dem Moment der Enthüllung mehr Dramatik zu verleihen: »Geschichte! Nichts anderes als die gesamte Erdgeschichte befindet sich darin.«

Wieder spürte Jake, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, und noch mehr Fragen stiegen in ihm auf. »Und der Horizontpunkt?«, fragte er. »Was hat es damit auf sich?«

»Es gibt viele Horizontpunkte. Sie sind über die ganze Erde verteilt, und an jedem davon konzentriert sich in ganz bestimmter Weise magnetische Energie … Du weißt doch, dass die Erde ein Magnetfeld hat, oder? Jedenfalls, die Horizontpunkte stellen die Energie zur Verfügung, die das Atomium braucht, um seinen Job zu erledigen. Wir benutzen allerdings nur die, die weit draußen auf dem Meer liegen. Mit den Festland-Horizontpunkten gibt es zu viele Probleme.«

Jake bemühte sich, diese schwer verständlichen Erklärungen zu verstehen. »Rose hat davon gesprochen, dass nur sehr wenige Menschen durch die Zeit reisen können. Aber wir bestehen doch alle aus Atomen, warum kann es dann nicht jeder?«

Charlie grinste. »Das ist die Frage, die niemand beantworten kann«, sagte er mit offensichtlichem Gefallen an diesem unlösbaren Rätsel. »Niemand weiß, woher wir die Kraft dazu nehmen, aber Tatsache ist, dass wer keine Formen sieht, auch nicht in die Vergangenheit reisen kann.«

»Und was ist mit dem Schiff, der Takelage, den Tellern und Tassen? Wie kriegen die das hin?«

»Ganz zu schweigen von unseren Klamotten. Wäre nicht besonders lustig, wenn wir im Adamskostüm ankommen würden«, meinte Charlie mit einem Augenzwinkern. »Aber wenn wir in der Gruppe reisen, vergrößern wir dadurch unser Spektrum.« Er deutete mit einer ausladenden Geste auf das Schiff. »Auf telepathischem Weg sozusagen nehmen wir all das hier mit: die Escape, alles was sich auf ihr befindet und sogar etwas von dem Meerwasser unter ihrem Kiel. Die besten unter den Hütern, also normalerweise die Diamanten, zu denen ich glücklicherweise gehöre«, wie er nicht ohne Eitelkeit anmerkte, »transportieren das meiste. Nicht nur unbelebte Materie, sondern auch die anderen Hüter, die weniger begabten.«

»Hat Mr Cole dich deshalb gebeten, in meiner Nähe zu bleiben?«

»Nachdem du ebenfalls ein Diamant bist, wie mir gesagt wurde, dürftest du keine Probleme mit der Reise haben, aber beim ersten Mal ist es immer besser, vorsichtig zu sein«, antwortete Charlie flüsternd. Er blickte sich schnell um, und seine Stimme wurde noch leiser. »Als ich sagte, die Diamanten transportieren die anderen Hüter, meinte ich damit die Rechtecke und die Unscharfen. Ohne wenigstens einen Diamanten an Bord ist es fast nicht möglich, einen erwähnenswerten Zeitsprung zu machen.«

Auch wenn Jake immer noch nicht wirklich verstand, wie das Ganze funktionierte, war er doch auch ein wenig stolz darauf, ein »Diamant« zu sein. »Wenn wir also in die Vergangenheit reisen können«, fragte er weiter, »können wir uns dann auch selbst besuchen, als wir noch jünger waren zum Beispiel?«

Charlie schaute ihn an, als hätte Jake den Verstand verloren. »Du liest zu viel Science-Fiction, mein Guter. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Leben kein bisschen von dem aller anderen Erdenbürger: Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Wir können uns immer nur an einem Ort aufhalten, und zwar in der Gegenwart, wo auch immer die gerade ist. Sieh mal« – Charlie hielt sein Handgelenk hoch und deutete auf seine Armbanduhr (die wie seine Brille ziemlich mitgenommen aussah und mit Klebeband repariert war) –, »diese Ziffern hier auf der kleinen Anzeige in der Mitte, das ist mein Alter. Vierzehn Jahre, sieben Monate und zwei Tage. Und ganz egal in welcher Epoche ich mich gerade aufhalte, diese Uhr zählt die Tage mit und addiert sie. An meinem Geburtstag spielt sie dann eine kleine Melodie, Beethovens Fünfte.« Er tätschelte die Uhr und pfiff sein Geburtstagslied, hörte aber abrupt auf, als er sah, dass bereits etwas Neues Jakes Aufmerksamkeit in Beschlag genommen hatte: Topaz St. Honoré war an Deck gekommen.

Jake blinzelte, und sein Mund wurde wieder trocken, während er beobachtete, wie sie auf den Bug zuschwebte.

»O weh«, kommentierte Charlie, »das nächste Herz, das an unserer Sphinx zu Bruch geht.«

Jake errötete ertappt.

»Auf fast alle Jungs hat sie diese Wirkung«, tröstete Charlie ihn.

»Äh, nein, überhaupt nicht …«, widersprach Jake. »Sie hat nur so etwas … Geheimnisvolles an sich. Kommt sie aus der Normandie?«, versuchte er das Gespräch von sich wegzulenken.

»Ja, seit Nathans Familie sie adoptiert hat. Die meiste Zeit lebt sie mit ihnen zusammen am Nullpunkt. Natürlich streiten die beiden ständig miteinander, so wie alle Geschwister.«

»Nathan?«, fragte Jake.

»Nathan Wylder. Du wirst ihn kennenlernen, wenn wir ankommen. Das heißt, zuerst wirst du ihn hören, er hat nämlich das lauteste Organ seit dem Niedergang des Osmanischen Reichs. Amerikaner. Wurde während des Bürgerkriegs geboren.« Dann fügte er mit mehr Bewunderung als Neid in der Stimme hinzu: »Er ist ein Held durch und durch.«

Jakes Gedanken waren immer noch bei Topaz. »Sie wurde adoptiert? Was ist mit ihrer Familie passiert?«

Charlie beugte sich ganz dicht an Jake heran. »Das ist eine lange und traurige Geschichte. Niemand spricht je darüber«, flüsterte er ihm ins Ohr und musterte Jake dann mit zusammengekniffenen Augen. »Spürst du das Atomium jetzt?«

Jake nickte. Es hatte ganz plötzlich angefangen – ein Pochen im Kopf, begleitet von einem Gefühl, als würde er schweben, ohne dass seine Füße sich vom Deck lösten, und binnen Sekunden war es noch zehnmal stärker, nein, schlimmer geworden.

Er taumelte ein paar Schritte nach vorn. Da ergriff Charlie seinen Arm und führte ihn zu einer schmalen Sitzbank.

»Setz dich. Das Schlimmste ist bald vorbei.«

Jake schaute hinaus aufs Wasser. Er wusste, dass es das Meer war, und doch erkannte er es irgendwie nicht. Ihm war weder warm noch kalt, und die Geräusche um ihn herum schienen aus großer Ferne zu kommen.

Einer nach dem anderen betraten jetzt auch die übrigen Passagiere das Deck, um sich bereit zu machen. Océane Noir ließ den Blick über die Wellen schweifen, als wären sie ihr Privatbesitz. Mit einem lauten Seufzer legte sie Jupitus eine Hand auf die Schulter, aber der ignorierte sie einfach.

»Noch fünf Minuten!«, kündigte der Kapitän an.

Jake drehte den Kopf und erblickte den zweiten Konstantor neben dem großen hölzernen Steuerrad. Er sah dem unten im Salon verblüffend ähnlich, war aber etwas größer und aus robusterem Metall gefertigt. Die drei glänzenden Goldringe drehten sich nun beinahe in derselben Ebene.

»Drei Minuten!«

Kopfschmerzen und Übelkeit waren mittlerweile vorüber, und Jake spürte nur noch freudige Erregung. Als Topaz sich in seine Richtung drehte und ihn anlächelte, sah er plötzlich etwas … Bilder, nein, Szenen, die er noch nie zuvor erblickt hatte, stürmten auf ihn ein: marschierende Armeen, Königreiche, großartige, halb fertige Kathedralen, schillernde Paläste, Mondschein, Kerzenlicht, Gebirgspässe, Heldentaten und Abenteuer. Etwas war in ihm aufgebrochen, und ein Gefühl von der Erhabenheit der Welt durchströmte ihn.

»Eine Minute …«

An Deck wurde es totenstill. Charlie rückte etwas näher an Jake heran, während Rose auf der anderen Seite seine Hand fest umklammerte. Alle Augen waren in gespannter Erwartung auf den Flecken Mondschein vor ihnen gerichtet.

»Zehn, neun, acht, sieben, sechs …«, zählte Captain Macintyre so leise, dass Jake ihn kaum hörte.

Jake hielt den Atem an. Wie aus dem Nichts erhob sich ein Wirbelwind, ein rasender Taifun, der sie alle einhüllte, Farben blitzten auf, und Rose und Charlie drückten sich so nahe an Jake, wie sie nur konnten. Dann hörte er wie in Zeitlupe den Knall einer Explosion, Diamanten schossen durch die Luft, wurden wie bei einem Vulkanausbruch in alle Himmelsrichtungen geschleudert, und der Vulkan war – Jake selbst. Doch schon im nächsten Moment stieg auch er in den Himmel auf wie eine Rakete, erhob sich über das Schiff, über das Meer.

Er kannte den Ausdruck »außerkörperliche Erfahrung«, aber wie die meisten Menschen hatte er noch nie selbst eine gehabt. Jake wusste, dass er mit beiden Füßen immer noch fest auf dem Deck stand, doch gleichzeitig fühlte er sich, als fliege er hoch über den Wolken und blicke auf sich selbst hinab.

Die Diamanten rasten auf den Rand seines Gesichtsfelds zu, und die Farben blitzten mit unbeschreiblicher Intensität, als er schließlich ein Geräusch wie von einem Überschallknall hörte.

Und mit einem Mal war alles wieder normal. Jake befand sich wieder auf dem Deck, Tante Rose neben ihm, und lauter Jubel brach aus, als alle einander zu dem erfolgreich absolvierten Zeitsprung beglückwünschten.

Charlie drehte sich zu Jake um und schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise«, sagte er. »Willkommen im Jahr 1820.«


6

DIE GESCHICHTE LEBT

Jake war vollkommen erschöpft von den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden, aber er war fest entschlossen, so lange wach zu bleiben, bis er einen handfesten Beweis dafür hatte, dass er sich tatsächlich in einem anderen Jahrhundert befand. So stand er reglos am Bug, und seine Lider wurden schwerer und schwerer.

Alle außer dem Kapitän waren unter Deck gegangen, um sich auszuruhen. Rose hatte noch eine ganze Weile mit ihm an der Reling ausgeharrt, doch als sie begonnen hatte, immer ausgiebiger zu gähnen, hatte Jake vorgeschlagen, sie solle es sich doch im Salon auf einem der Sofas neben dem prasselnden Feuer gemütlich machen. Rose hatte Jakes Anregung dankbar aufgegriffen und ihm noch eine Wolldecke gebracht, dann war sie mit den Worten »Wahrscheinlich kann ich sowieso nicht schlafen« unter Deck verschwunden. Kaum eine Minute später hatte Jake von unten ihr lautes Schnarchen gehört.

In die warme Decke gewickelt schaute Jake hinaus auf die wogende See und die flimmernden Lichter der Küste. Er dachte an seine Eltern, und eine eigenartige Mischung von Gefühlen rumorte dabei in seinem Innern. Natürlich machte er sich Sorgen, aber irgendwie fühlte er sich auch von ihnen verraten. Immerhin hatten sie ihn belogen, hatten behauptet, sie würden eine Messe für Sanitäreinrichtungen in Birmingham besuchen. Stattdessen waren sie nicht nur zu einer Reise quer durch England aufgebrochen, sondern sogar quer durch die Jahrhunderte.

Jake schüttelte den Kopf und versuchte, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. »Bestimmt gibt es eine plausible Erklärung für alles«, sagte er laut zu sich selbst und widmete sich wieder dem grandiosen Anblick, der sich ihm bot. Seit dem Verschwinden seines Bruders hatte er auf schmerzvolle Weise gelernt, dunkle Gedanken rasch aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.

Allmählich erstarb die kühle, erfrischende Brise, und binnen Minuten trat ein tropisch warmer Wind an ihre Stelle. Eine übermächtige Schläfrigkeit befiel Jake, und er setzte sich aufs Deck. Schon wenige Momente später lag er auf der Seite, seine Schultasche als Kissen unterm Kopf, und starrte weiter hinaus auf die See. Dann schlief er ein.

Etwa zur selben Zeit an diesem frühen Morgen des Jahres 1820 bewegte sich in der Nähe des normannischen Dorfes Verre eine maskierte Gestalt vorsichtig zwischen den in kunstvolle Formen geschnittenen Hecken eines weitläufigen Barockgartens, in dessen Mitte ein imposantes Château thronte. Irgendwo zwischen den Schatten blieb die Gestalt schließlich stehen und beobachtete aus der Deckung heraus das Gebäude.

Ein Wächter mit einer Laterne patrouillierte auf dem Grundstück. Der Maskenmann wartete, bis die Wache um eine Ecke herum verschwunden war, dann schlich er über die Wiese auf das Château zu und kletterte an den kräftigen Ästen des Blauregens hinauf zu einem Fenster im ersten Stock. In dem Zimmer ging ein Mädchen nervös auf und ab. Der Eindringling drückte das Fenster auf, sprang über das Sims und riss sich die Maske vom Gesicht.

»Nathan! Gott sei’s gedankt. Ich glaubte schon, du würdest es nicht mehr schaffen!«, rief das junge Mädchen und überschüttete ihn mit Küssen.

Doch Nathan reagierte nicht. Er war daran gewöhnt, dass junge Damen in dieser Weise auf ihn reagierten. Er war sechzehn Jahre alt, hatte einen athletischen Körperbau und ein souveränes Funkeln in den Augen – mit anderen Worten: Er sah einfach umwerfend aus. Außerdem war er stets nach der neuesten Mode gekleidet.

Nathan blickte sich in dem überreich mit Goldtapeten und fliederfarbenen Seidengirlanden geschmückten Schlafzimmer um. »Hoppla«, sagte er mit einem melodischen, amerikanischen Akzent. »Etwas überladen, finde ich. Isabella, dein zukünftiger Gemahl scheint Geld mit Geschmack zu verwechseln.«

»Er wird niemals mein Gemahl sein! Wenn ich morgen nicht mit ihm vor den Traualtar trete, so sagte er, würde er mich zwingen – nötigenfalls mit vorgehaltener Waffe! Und sieh nur, dieses schreckliche Kleid, das ich vor dem Altar tragen soll!« Isabella reckte angewidert das Kinn in Richtung einer Ankleidepuppe, auf die ein wallendes Hochzeitsgewand drapiert war.

»Dieser Mann ist doch wirklich ein Monster!«, rief Nathan erschüttert. »Weiß er denn nicht, dass die Chemisette schon seit Noahs Zeiten nicht mehr in Mode ist?! Wir müssen dich unbedingt von hier wegschaffen.«

Lautlos kletterte er wieder nach unten und hielt dabei die atemlose Isabella auf einem Arm, als würde sie nicht mehr wiegen als die Blätter des Blauregens, an dem er sich festhielt.

»Ich möchte einen Mann wie dich heiraten, Nathan, der stark ist und ein Held«, seufzte sie.

»Isabella, Schatz, haben wir dieses Thema nicht schon oft genug besprochen? Ich wäre ein schrecklicher Ehemann. Ich mag ja unwiderstehlich sein, aber ich bin ebenso unzuverlässig, unreif – einfach zum Aus-der-Haut-Fahren. Es wäre die reinste Verschwendung.« Mit diesen Worten setzte er sie auf der weichen Erde ab. »Wir müssen schnell machen. Hier wimmelt es nur so von Wachen.«

Wenige Minuten später eilten sie quer über die Koppel auf Nathans Pferd zu, das am Waldrand wartete, als plötzlich eine Stimme aus dem Dickicht brach. »Meine Vorahnung hat mich also nicht getäuscht«, brummte sie in einem ländlichen Dialekt. »Gehorsam ist immer noch ein Fremdwort für dich.«

Isabella erzitterte, als ein fettleibiger, rotgesichtiger Adliger zwischen den Bäumen hervortrat und alles andere als erfreut aussah. Begleitet wurde er von einer grimmig dreinschauenden Wache, die das Pferd ihres Herrn an den Zügeln hielt. »Weshalb ich entsprechende Vorkehrungen getroffen habe.«

»Ah, mein lieber Chevalier Boucicault!«, begrüßte Nathan ihn, ohne das geringste Anzeichen von Nervosität zu zeigen. »Welch glücklicher Zufall, Euch hier anzutreffen. Eure Vorahnung hat sich voll und ganz bestätigt: Signorina Montefiore hat in der Tat Bedenken bezüglich ihrer bevorstehenden Heirat. Sie nimmt Anstoß an Eurem Benehmen, ganz zu schweigen von Eurer Kleidergröße.«

Der Chevalier streckte eine Hand aus, und der Wächter legte eine Pistole hinein. »Très amusant«, erwiderte er höhnisch und überprüfte, ob die Waffe korrekt geladen war.

»Und da wir gerade beim Thema sind – sosehr ich Eure Bemühungen, Eure Garderobe betreffend, auch zu schätzen weiß«, sprach Nathan ungerührt weiter und deutete auf die Weste des Chevalier, »muss ich doch darauf hinweisen, dass auch diese Streifen Euch nicht helfen werden. Sie sind sogar überaus nutzlos bei einem Körperbau wie dem Euren.«

Isabella riss die Augen weit auf, als der Chevalier den Hahn seiner Pistole spannte und den Lauf auf Nathans Kopf richtete.

Der Junge reagierte so schnell, dass seine Bewegungen kaum zu sehen waren: Wie aus dem Nichts schoss sein Rapier nach vorn, Funken flogen auf, die Pistole entglitt dem Griff des Chevalier, wirbelte durch die Luft und landete direkt in Nathans Hand.

»Verschwinden wir!«, rief er Isabella zu, sprang auf seine imposante schwarze Stute und zog Isabella mit einer Hand hinter sich in den Sattel.

»Arrêtez! Voleur!«, schrie der Chevalier hinter ihnen her, während sie über die Wiese davonpreschten, und er schaffte es in erstaunlich kurzer Zeit, sein eigenes Reittier zu besteigen, um sofort die Verfolgung aufzunehmen.

»Halt dich gut fest!«, riet Nathan seiner Begleiterin, während sie auf einem schmalen Pfad hinein in den dichten Nadelwald galoppierten.

»Vorsicht, Nathan!«, schrie Isabella, als direkt vor ihnen ein dicker Ast im morgendlichen Nebel auftauchte.

Nathan feuerte die Pistole des Chevalier ab, und der ungebärdige Ast zerbarst in tausend Splitter. Mit höchstmöglicher Geschwindigkeit hasteten sie weiter, während Nathan die nun wertlos gewordene Pistole von sich schleuderte.

Der rotköpfige Chevalier schlug unterdessen so lange mit der Reitgerte auf sein Pferd ein, bis er endlich gleichauf mit den Flüchtigen war.

Nathan zog erneut sein Rapier, begutachtete in der auf Hochglanz polierten Klinge noch kurz seine weißen Zähne, und richtete dann die Waffe auf den Chevalier. In wildem Galopp kreuzten die beiden ihre Degen, die in der frühmorgendlichen Sonne funkelten und blitzten, während Isabella keuchend nach Luft schnappte und sich eine Hand vors Gesicht hielt, um ihren Kopf vor den Ästen der vorbeirasenden Bäume zu schützen.

»Ich muss Euch warnen!«, rief Nathan seinem Gegner zu. »Meine letzte Niederlage in einem Duell datiert auf das Jahr 1812. Damals war ich acht, und mein Gegner war der Chevalier d’Éon, den nicht wenige für den größten Fechter aller Zeiten halten. Eure Chancen stehen also nicht allzu gut, mein Freund.« Und noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, führte er den ersten Stoß.

Boucicaults Oberkörper kippte zur Seite, und es ertönte ein lauter Knall, als sein Kopf gegen einen dicken Kiefernast krachte. Der Chevalier segelte in hohem Bogen durch die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall auf seinem Hinterteil.

»Adieu, mon ami!«, rief Nathan ihm nach und steckte sein Rapier zurück in die Scheide. »Und lasst es Euch noch einmal gesagt sein: Wir schreiben das Jahr 1820! Ein gepflegtes Äußeres ist nicht länger nur ratsam, sondern eine absolute Notwendigkeit.«

Auf einer Klippe hoch über dem Meer, wo ein Einheimischer ihn und seine Begleiterin bereits mit einer Kutsche erwartete, brachte Nathan etwa eine halbe Stunde später seine Stute zum Stehen. Nathan stieg ab, half Isabella aus dem Sattel und lief hinüber zu dem Kutscher, mit dem er sich kurz in gebrochenem Französisch unterhielt. Schließlich überreichte er ihm die Zügel seines Pferdes sowie eine Handvoll Goldmünzen und kehrte zu Isabella zurück.

»Das hier ist Jacques. Er wird dich zurück nach Mailand bringen, zu deiner Familie. Dies ist also der Moment des Abschieds, wie es so schön heißt.«

»Aber Nathan«, flehte Isabella mit Tränen in den Augen. »Weshalb nur? Ich verstehe das nicht! Kann ich nicht mit dir kommen?«

»Nein, das kannst du nicht. Ich bedaure.« Sein weicher Charleston-Dialekt war jetzt noch deutlicher zu hören. »In einer Stunde muss ich zur Arbeit.«

»Ja, ich weiß, dein alberner Beruf«, schmollte Isabella. »Um was geht es dabei eigentlich, bei diesem … deinem großen Geheimnis?«

Nathan atmete einmal tief durch und beschloss, nicht zu antworten. Stattdessen küsste er Isabella auf die Stirn. »Du wirst schneller über mich hinwegkommen, als du glaubst«, sagte er, nicht ohne einen Anflug von Traurigkeit in der Stimme.

»Aber Nathan«, erwiderte Isabella, »ich liebe dich!«

»Und ich liebe das Abenteuer!«, gab er zurück, drehte sich um und rannte auf den Rand der Klippe zu, wo er sich mit weit ausgebreiteten Armen in den Abgrund stürzte.

Isabella schaute ihm verdutzt hinterher. Tränen glitzerten auf ihren Wangen, während Nathan mit kräftigen Zügen hinaus in den Nebel schwamm.

Jake erwachte, als ihm der Duft von frischgebackenem Teig in die Nase stieg. Der Horizont verfärbte sich bereits mit den tiefen Blau-und Rosatönen der Morgendämmerung. Neben sich erblickte Jake einen Teller mit dampfenden Croissants.

»Am liebsten würde man sterben, nicht wahr?«, sagte eine Stimme hinter ihm. Es war Charlie, der mit einem Teleskopfernrohr hinaus aufs Meer schaute. »Selbst wenn man gut drauf ist, beschert einem das Atomium einen Kater, der sich gewaschen hat, aber das erste Mal ist der reinste Albtraum. Nimm dir was von dem Orangensaft«, schlug er vor und deutete auf ein Porzellankännchen neben dem Teller. »Und vergiss die Croissants nicht. Die Füllung ist ein Gedicht und außerdem leicht wie Luft.«

Jake fühlte sich in der Tat schrecklich. Seine Kehle war rau wie Sandpapier, seine Muskeln schmerzten, und sein Schädel dröhnte. Er nahm einen Schluck von dem Orangensaft und fühlte sich danach immerhin kräftig genug, um sich aufzusetzen.

»Ein Ostindienfahrer, wenn mich nicht alles täuscht«, murmelte Charlie. »Niederländer, würde ich meinen. Wahrscheinlich auf dem Weg nach Ceylon oder Bombay.«

Im ersten Moment verstand Jake nicht, wovon Charlie redete, doch dann erblickte er zwischen den Stützen der Reling hindurch eine verschwommene Silhouette am Horizont. Sofort sprang er auf die Füße. »Ist das, ist das wirklich …?«

Ein Schiff pflügte durch die unter der scharlachroten Sonne erstrahlenden Wellen. Über die gesamte Länge des majestätischen Rumpfes erstreckten sich kleine, rechteckige Kanonenöffnungen, drei Masten mit steil angestellten, vom Wind geblähten Segeln ragten in den Himmel, und obwohl das Schiff weit entfernt war, konnte Jake Bewegung an Deck sehen.

»Könnte ich mal kurz dein Fernrohr haben?«, fragte er. Charlie reichte ihm das Teleskop, und Jake inspizierte fasziniert den Dreimaster. Er war so aufgeregt, dass seine Hände zitterten. Am Heck stand eine Gruppe Matrosen in Uniform – weites weißes Hemd, enge Hose und kniehohe Stiefel –, die gerade das letzte Segel hissten. Befehligt wurden sie von einem Mann in einem auffälligen, langen blauen Mantel, der Jake – wohl wegen des Dreispitzes auf seinem Kopf – an Admiral Nelson erinnerte.

Nun hatte Jake endlich den Beweis, auf den er gewartet hatte, und der Anblick machte ihn sprachlos. Platzend vor Neugier nahm er weitere Teile des Schiffs in Augenschein. Irgendwo an der Reling entdeckte er einen Schiffsjungen, der gerade einen Eimer schmutzigen Wassers ins Meer kippte; am Bug standen auf einer etwas erhöhten Plattform drei Gentlemen in langen Gehröcken, jeder auf einen vornehmen Spazierstock gestützt. Neben ihnen stand, etwas vornüber gebeugt, ein Matrose, der seinerseits mit einem Fernrohr das Meer absuchte. Instinktiv trat Jake ein paar Schritte zurück in die Schatten zwischen den Deckaufbauten, um von dem Mann im Ausguck nicht in seiner Schuluniform entdeckt zu werden.

»Pass doch auf, du trittst auf die Croissants!«, schimpfte Charlie.

Jake blickte an sich hinunter und sah die Brösel unter seinen Schuhsohlen. »Entschuldigung«, meinte er geistesabwesend und richtete seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Ostindienfahrer, »aber das Schiff da drüben ist einfach der Hammer!«

»Wenn du mal in diese Richtung schauen würdest«, erwiderte Charlie und deutete auf den Bug der Escape, »könntest du bald noch was ganz anderes sehen.«

»Was denn?«

»Schau’s dir einfach an«, antwortete Charlie mit einem Zwinkern und verschwand unter Deck.


7

DAS SCHLOSS IM MEER

Jake stand geduldig am Bug der Escape und wartete. Nach und nach konnte er die Umrisse einer nebelverhüllten Küstenlinie erkennen. Direkt davor hob sich ein blasses Dreieck vom Festland ab. Im ersten Moment sah die Silhouette aus wie ein Riese in einer Mönchskutte, der mit großen Schritten durchs Meer auf sie zukam. Doch als Jake genauer hinsah, erkannte er, dass es sich um eine kegelförmige Insel handelte, gedrungen und grau wie Granit. Er hob Charlies Fernrohr, das er immer noch in der Hand hielt, wieder ans Auge, um das seltsame Eiland genauer zu betrachten.

Die breite Basis des Dreiecks bestand aus natürlichem Fels, aber gleich darüber erhob sich eine Vielzahl von offensichtlich von Menschenhand errichteten Mauern und Gebilden, auf-und nebeneinandergestapelt wie Bauklötze, die eine Pyramide bildeten.

»Hier ist es«, verkündete eine gedämpfte Stimme hinter ihm. »Mont Saint-Michel. Das Hauptquartier des Geheimdienstes der Geschichtshüter.« Topaz, die eins von Charlies Croissants kaute, trat neben ihn an den Bug.

Für Franzosen war Essen ja bekanntlich eine Kunstform, fiel Jake in diesem Moment ein, selbst der Verzehr von Frühstücksgebäck, und Topaz bildete da keine Ausnahme: Sogar die Art, wie sie die Krümel mit der Fingerspitze von ihren Lippen pflückte, war bezaubernd.

Während die Insel vor ihnen langsam größer wurde, erzählte ihm Topaz alles, was sie darüber wusste. »Der Ruhm dieser Festung reicht zurück bis ins Jahr 808, was auch der Grund ist, warum der Geheimdienst sie zu seinem Hauptquartier gewählt hat. In den über tausend Jahren, die sie existiert, wurden ihre Mauern kein einziges Mal überrannt.«

Mont Saint-Michel war aber nicht nur wegen der geografischen Lage der ideale Ort für das Hauptquartier, sondern auch wegen der historischen, wie Topaz weiter erklärte.

»Die Zwanzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts sind eine vergleichsweise friedliche Zeit«, führte sie aus. »Die blutigen Unruhen der beiden vergangenen Jahrhunderte haben sich gelegt. Der englische Bürgerkrieg, der österreichische Erbfolgekrieg und, nicht zu vergessen, die glorreiche französische Revolution sind vorüber. Das Vermächtnis Napoleons hat, ob beabsichtigt oder nicht, diesem Teil Europas einen gewissen Frieden gebracht.«

Außerdem war dieses Jahrzehnt noch verschont von den Tücken der Moderne, wie sie weiter berichtete. All die notwendigen Übel der bald anbrechenden industriellen Revolution waren noch nicht erfunden, und die Entwicklung der Dampfmaschine, die eines Tages zur »teuflischsten aller Erfindungen«, wie sie es ausdrückte, führen würde, steckte mehr oder weniger noch in den Kinderschuhen.

»Die Moderne ist zwar ganz merveilleux«, sagte sie, »doch die Gefahren lauern an jeder Ecke. Aber hier, im Jahr 1820, sind wir davon noch verschont.«

Nach diesem kurzen Crashkurs in Geschichte lächelte Topaz Jake freundlich an und stopfte sich das letzte Stückchen Croissant in den Mund. »Jetzt weißt du, warum sich der Nullpunkt genau hier und nirgendwo anders befindet.«

Jake wurde noch nicht ganz schlau aus Topaz’ Ausführungen. »Das Hauptquartier bleibt also die ganze Zeit über im Jahr 1820?«

»In diesem Jahrzehnt, ja. Aber am Silvesterabend des Jahres 1829 besteigen alle ein Schiff, reisen über den nächsten Horizontpunkt zurück zum 1. Januar 1820 und segeln dann erneut zur Insel, wo sie wieder die nächsten zehn Jahre bleiben, und immer so weiter. Klingt ziemlich verrückt, ich weiß, aber irgendwie scheint es zu funktionieren.«

Jake beschloss abzuwarten, ob sich die Dinge mit der Zeit nicht vielleicht von selbst erklären würden.

Die Insel war mittlerweile deutlich zu erkennen, und er reckte den Kopf, um all die Türme und Spitzen, Strebebogen, Säulengänge und Rundbogenfenster zu bewundern. Von überall her drang das Geschrei von Seevögeln an seine Ohren, die im Schatten der Festung hin und her huschten.

Auch Mr Drake hatte, wenig erfreut, die neue Gesellschaft bemerkt und schien zu versuchen, alles auf einmal mit seinen wachsamen Knopfaugen im Blick zu behalten.

Auf einer Landzunge vor ihnen stand eine kleine Gruppe von Leuten, um sie in Empfang zu nehmen. Der Ostindienfahrer und seine Besatzung waren eigentlich Beweis genug dafür gewesen, dass Jake sich in einem anderen Zeitalter befand, doch das mehr als ungewöhnliche Willkommenskomitee verscheuchte auch noch die letzten Zweifel.

Jake hatte schon oft Menschen in altertümlicher Kleidung gesehen, in Filmen beispielsweise oder auf Kostümfesten, aber sie hatten nie restlos überzeugend gewirkt, nie schienen sie wirklich einer anderen Ära anzugehören, immer hatten sie zu aufpoliert und künstlich ausgesehen. Doch das hier war etwas anderes: Diese Leute waren echt.

Jake erkannte Kleidung aus jeder Epoche, vom viktorianischen Zeitalter bis zu den Tagen Elisabeths I. und noch weiter zurück. Er sah einen Mann mittleren Alters – in einem leuchtend roten Frack mit einem ebensolchen Zylinder –, bei dem sich eine elegant aussehende Lady in einem unglaublich ausladenden, rüschenbesetzten Reifrock untergehakt hatte. Der Gentleman gleich neben ihnen trug ein schwarzes Wams, das strenge Gesicht von einer weißen Halskrause umrahmt.

Die beeindruckendste Erscheinung jedoch war eine groß gewachsene Frau, die an der Spitze der Gruppe stand. Sie hatte große, silbrig blaue Augen, das lange stahlgraue Haar von der stolzen Stirn nach hinten gekämmt. Jake schätzte, dass sie mindestens fünfzig sein musste, aber irgendwie hatte sie es geschafft, sich die feinen Gesichtszüge ihrer Jugend zu bewahren. Ein dunkelblauer Marine-Umhang hing über ihren straffen Schultern, und neben ihr stand vollkommen reglos ein großer Windhund mit seidig schimmerndem Fell und glänzenden Augen.

Ein sanftes Lächeln umspielte die Lippen in ihrem nachdenklichen Gesicht, während sie einen nach dem anderen die Neuankömmlinge musterte. Als Jake an der Reihe war, spürte er, wie ihn eine Art erwartungsvoller Nervosität überfiel.

»Die Dame ist eine uralte Freundin von mir«, sagte Rose und trat neben Jake und Topaz an die Reling. »Galliana Goethe. Sie ist die Chefin hier und Kommandantin der Geschichtshüter.«

Inzwischen wurde die Escape bereits am Pier vertäut und eine Laufplanke ausgelegt, damit die Passagiere von Bord gehen konnten.

»Verzeihung«, meinte Océane und drängelte sich nach vorn. »Ich muss schnellstmöglich aus diesen schrecklichen neumodischen Kleidern heraus und will rasch noch in die Kostümschneiderei.« Mit diesen Worten warf sie ihren Fuchsmantel über die Schulter und schritt eilig über die Planke.

Topaz folgte ihr, und die Stimme des Mannes im roten Frack dröhnte: »Da ist sie ja endlich! Da ist unser Mädchen!«

»Truman, brüll nicht immer so«, ermahnte seine Frau ihn sichtlich gereizt.

»Das sind die Wylders, Truman und Betty«, erläuterte Rose. »Sie sind Nathans Eltern und Topaz’ Vormunde. Truman ist ein genauso eingebildeter Gockel wie sein Sohn, aber sie ist absolut hinreißend. Natürlich kommen beide aus vollkommen verschiedenen Jahrhunderten.«

Jake beobachtete, wie Topaz das Paar mit einer Umarmung begrüßte.

»Wie geht es dir, Liebes?«, fragte Betty und schlang liebevoll die Arme um sie. »Hattest du eine gute Überfahrt?«

»Lass dich mal ansehen«, polterte Truman und packte Topaz an den Schultern. »Groß bist du geworden. Siehst du, wie sie gewachsen ist, Betty? Was für ein Lulatsch für eine Vierzehnjährige!«

»Fünfzehn.«

»Fünfzehn? Du bist doch noch keine fünfzehn! Ist sie schon fünfzehn?«

»Fast sechzehn.«

»Sieh mal einer an – wie doch die Zeit vergeht! Noch gar nicht lange her, da warst du erst sechs.«

Topaz und Betty rollten die Augen.

»Da fällt mir auf, wie still hier alles ist«, sagte Topaz und ließ den Blick über den Rest des Begrüßungskomitees schweifen. »Ist Seine Großmäuligkeit heute unpässlich?«

»Nathan ist zu einer Mission aufgebrochen, um seine neueste amour fou zu retten«, seufzte Betty kopfschüttelnd. »Bestimmt hat die Ärmste sich Hals über Kopf in ihn verliebt, ohne auch nur zu ahnen, dass er sie genauso fallen lassen wird wie alle anderen.«

Nun ging Rose über die Laufplanke, Jake hinter ihr her, und Gallianas Gesicht erstrahlte.

»Es ist eine schiere Ewigkeit her!«, sagte sie und umarmte Rose.

Aus der Nähe sah Jake, dass Gallianas Umhang mit den verschiedensten Motiven, mit Sonnen, Monden, Uhren und Phoenixen bestickt war.

»Es ist tatsächlich eine Ewigkeit her«, erwiderte Rose, »aber du siehst hinreißend aus wie immer!«

»Bist du sicher, dass du nicht abgerissen sagen wolltest?«, gab Galliana zurück. »Ich habe drei Tage kaum geschlafen und mit Sicherheit dicke Tränensäcke unter den Augen.«

»Und selbst wenn – deine hohen Wangenknochen verbergen sie perfekt.«

Galliana schmunzelte, und Jake sah die Lachfältchen um ihre funkelnden blauen Augen.

»Sag nicht, dass das immer noch Juno ist …«, meinte Rose mit einem Blick auf den Windhund.

»Das hier ist Junos Enkeltochter Olivia«, erklärte Galliana und fuhr mit der Hand durch das seidige Fell des Hundes. »Mit jeder Generation werden sie noch ein Stückchen klüger.« Dann wandte sie sich an Jake. »Und das hier muss dein Neffe Jake sein.«

Obwohl Jake sich irgendwie eingeschüchtert fühlte von dieser stattlichen Frau, hielt er ihr lächelnd die Hand hin und sagte mit fester Stimme: »Schön, Sie kennenzulernen.«

»Und was für gute Manieren«, erwiderte Galliana und schüttelte ihm die Hand. »Du dürftest eine Menge zu verdauen haben nach deiner ersten Reise. Und sei ganz unbesorgt, wir werden deine Eltern finden.« Da fiel Gallianas Blick auf etwas, das sich vom Meer her näherte, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Was in aller Welt …?«

Gemurmel erhob sich, als auch die anderen den Schwimmer erblickt hatten, der sich durch die Wellen auf den Kai zukämpfte. Lediglich Topaz wusste sofort, um wen es sich handelte, und schüttelte genervt den Kopf.

»Ahoi auch!«, rief Nathan mit einem breiten Grinsen und kletterte aus dem Wasser. Er musste über eine Stunde in voller Montur durchs Meer geschwommen sein, dennoch wirkte er, als wäre das für ihn die leichteste Übung der Welt. Er schüttelte lediglich sein langes Haar und warf einen kurzen Blick in den kleinen Spiegel, den er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.

Mit staunendem Blick beobachtete Jake, wie Nathan den Pier entlangschlenderte. Es war verblüffend: Dieser Junge konnte höchstens zwei Jahre älter sein als er selbst, und dennoch strotzte er nur so vor Selbstvertrauen. Zugegeben, er hatte auch etwas Arrogantes an sich, aber überall, wo er auftauchte, dachte Jake, mussten die Leute von seiner positiven Ausstrahlung hingerissen sein.

»Bitte verzeiht mein Zuspätkommen«, verkündete Nathan mit lauter Stimme, »aber ich musste eine junge Maid vor einem Schicksal bewahren, das noch schlimmer gewesen wäre als selbst der Tod.«

Galliana schien ebenso wenig beeindruckt wie Topaz. »Darf ich Euch daran erinnern, Agent Wylder, dass in dieser Organisation kein Platz ist für persönlich motivierte Heldentaten, ganz egal wie verlockend die Belohnung auch sein mag? In Lebensgefahr begibt man sich, wenn es schon sein muss, ausschließlich aufgrund einer dienstlichen Verpflichtung. Habt Ihr mich verstanden?«

»Kristallklar«, erwiderte Nathan und sonnte sich in der Aufmerksamkeit. »Aber seid versichert, dass es bei der Angelegenheit nicht um persönliche Motive ging. Die betreffende Dame reagierte lediglich etwas … übereifrig. Wie so viele«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu.

»Mon Dieu!«, schnaubte Topaz verächtlich. »Die Bescheidenheit meines Bruders kennt ja keine Grenzen.«

Nathans Blick wanderte zu Topaz. »Du bist also in einem Stück zurück, ja?«, fragte er beiläufig.

»Sieht ganz so aus«, erwiderte Topaz schnippisch.

»Deine Haare sind … anders.«

»Offen.«

»Hübsch. Irgendwie weicher.«

Das war die ganze Begrüßung der Geschwister.

»Ich weiß, dass ihr alle müde sein müsst, aber Zeit ist von größter Bedeutung«, sagte Galliana an alle gewandt. »Wir treffen uns pünktlich um zehn Uhr im Prunksaal. Zu der Besprechung hat jeder von euch zu erscheinen.«

Dann begann die Versammlung sich aufzulösen.

»Agenten Wylder und St. Honoré …?«, rief Galliana zu Nathan und Topaz hinüber. »Würdet ihr Jake das Schloss zeigen und ihm erklären, was wir hier tun?«

»Jake?!«, rief Nathan aus. »Jake Djones?«, wiederholte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Warum hat mir niemand gesagt, dass du hier bist? Mein Name ist Nathan Wylder. Wahrscheinlich hast du bereits viele Geschichten über mich gehört, und höchstwahrscheinlich sind auch alle davon wahr«, sprudelte er drauflos, um dann in ernsterem Tonfall weiterzusprechen: »Wir werden deine Eltern finden, und wenn es das Letzte ist, was wir tun!«

»Kommandantin«, unterbrach Topaz, »vielleicht sollte ich lieber allein mit Jake gehen. Wenn wir es zusammen versuchen, vermiese ich Nathan nur die Show.«

»Oh bitte«, widersprach Nathan, »niemals könntest du mir die Show vermiesen, und wenn du es auch noch so sehr versuchst.«

»Genug davon«, ging Galliana verärgert dazwischen. »Das gilt für euch beide. Ich wünsche, dass unser neuer Mitarbeiter ein vollständiges Bild bekommt. Und, Jake, finde dich mit den anderen um zehn Uhr im Prunksaal ein. Ich möchte, dass du dabei bist, damit du verstehst, was hier gerade im Gange ist.«

Jake nickte. Am liebsten hätte er Galliana sofort mit allen möglichen Fragen bestürmt, doch gleichzeitig spürte er, dass er damit wohl würde warten müssen. Außerdem hatte Topaz ihn bereits am Arm genommen und führte ihn zum Eingang des Schlosses.

Am Fuß des Berges befanden sich zwei große, mit dicken Eisennieten besetzte Torflügel, an deren Vorderseite ein mittlerweile wohlvertrautes Symbol eingraviert war: die Sanduhr mit den zwei Planeten. Doch dieses hier war weit feiner gearbeitet und detailreicher, und man konnte erkennen, dass es sich bei den beiden Planeten jeweils um die Erde handelte. Außerdem sah Jake, dass das Häuflein im unteren Kolben der Sanduhr exakt dieselbe Form wie Mont Saint-Michel hatte.

»Bereit?«, fragte Topaz.

Jake nickte. Er war mehr als bereit.

Topaz drückte die mächtige Klinke, und die Tür schwang mit einem hohlen Ächzen auf.


8

AM NULLPUNKT

Sie gingen eine breite Treppe hinauf, hinein ins Herz der mittelalterlichen Festung. Links und rechts der Stufen prangten lebensgroße Porträts aus allen Epochen der Geschichte, von denen Gesichter mit ernstem Blick auf sie herunterstarrten.

»Das hier ist die Ahnenreihe aller Kommandanten des Geheimdienstes«, erklärte Topaz, während Jake die Gemälde betrachtete. »Dieser Mann hier« – sie deutete auf eine geheimnisvolle Gestalt mit Turban, die vor einer düsteren, tropisch anmutenden Landschaft abgebildet war – »ist Sejanus Poppoloe, der Gründer. Ein Wissenschaftler und Forscher aus Brügge in Belgien und ein echter Visionär. Er war es, der das Atomium und den Flux Temporum entdeckte und die erste Karte mit allen einhundertsieben Horizontpunkten Europas darauf angefertigt hat. Er starb am englischen Hof von Königin Elisabeth I., zweihundert Jahre vor seiner Geburt, nachdem er mit dem Schiff in ihre Zeit zurückgereist war.«

Jake hatte das Gefühl, als würde Sejanus Poppoloes stechender Blick ihn verfolgen, während sie weitergingen.

Am Ende der Treppe angekommen, wandten sie sich nach rechts und traten durch einen bogenförmigen Durchgang hinaus auf einen Balkon, von dem aus sie auf eine geräumige Höhle blickten. Sie war auf einer Seite zum Meer hin offen und diente der Organisation als perfekt geschützter Hafen.

»Das ist der Ort, an dem sich der Großteil der Flotte der Geschichtshüter die meiste Zeit aufhält.« Topaz deutete auf die Schiffe. »Im Moment sind das die Campana, eine venezianische Handelsgaleere, die Avatara, eine indische Buhm, und die Windlicht, eine chinesische Dschunke aus der Yuan-Dynastie, die eigens dafür konzipiert wurde, den Taifunen im Südchinesischen Meer standzuhalten, den schlimmsten aller bekannten Stürme«, erklärte sie kenntnisreich. Ihre Stimme hallte durch die Höhle. »Dann die Barco Dorado – ein spanisches Kriegsschiff –, eines der wenigen noch existierenden aus der einstigen Armada – und die Stratagème, eins der allerersten Unterseeboote. Ein niederländischer Klipper und ein Atlantiksegler werden gerade im Hafen von Brest generalüberholt. Wollen wir weiter?«

Als Topaz gerade durch den Torbogen verschwand, fasste Nathan Jake am Arm: »Nur falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Sie liebt es, dem Klang ihrer eigenen Stimme zu lauschen.«

Sie gingen über den Flur und traten durch eine weitere Tür in ein großes Gewölbe.

»Die Rüstkammer«, verkündete Nathan begeistert und übernahm nun seinerseits die Rolle des Fremdenführers.

In der Mitte des Gewölbes standen zwei Podeste, die Jake an Boxringe erinnerten und in denen gerade ein paar Agenten in Helm und Rüstung ihr Kampftraining absolvierten. Jeder Quadratzentimeter der Wände darum herum war mit glitzernden Waffen behängt.

»Griechisch, römisch, keltisch, byzantinisch« – Nathan deutete auf die verschiedenen Bereiche – »Kreuzfahrer, frühes Mittelalter, Renaissance, Aufklärung, industrielle Revolution und so weiter. Katapulte, Schleudern, Armbrüste, Langbogen. Degen, Säbel, Langschwerter, Breitschwerter. Äxte, Speere, Lanzen, Keulen, Dolche, Hellebarden …«

»Ich glaube, mittlerweile hat Jake es kapiert«, unterbrach Topaz entnervt. »Jede Menge Metall mit einer Schneide daran.«

»Aber keine Schusswaffen oder Sprengstoffe, wie dir wahrscheinlich aufgefallen ist«, fügte Nathan mit einer nach oben gezogenen Augenbraue hinzu.

Jake war es ganz und gar nicht aufgefallen, aber er nickte trotzdem.

»Sprengstoffe kann man nämlich nicht durch den Flux Temporum transportieren«, erklärte Topaz. »Wenn sie irgendwie doch auf das Schiff gelangen würden, könnten die instabilen Elemente sich mit unseren Atomen vermischen und …«

»Adieu, du schöne Welt!« Nathan ahmte das Geräusch einer Explosion nach. »Schon mal mit einem Langbogen geschossen?«, fragte er Jake und nahm einen von der Wand.

»Er möchte ein bisschen angeben, weißt du? Dabei ist er nicht einmal besonders gut damit«, erläuterte Topaz.

»Nein, ich … glaube nicht«, beantwortete Jake zögernd Nathans Frage.

Nathan legte einen Pfeil auf die Sehne, zielte auf eine Scheibe in einer weit entfernten Ecke des Gewölbes und schoss.

Alle drei kniffen die Augen zusammen, um zu sehen, wie genau er getroffen hatte: ins Schwarze, wenn auch nicht genau in die Mitte.

Seufzend nahm Topaz selbst einen Bogen zur Hand und ließ die Sehne schwirren. Ihr Pfeil schlug exakt im Zentrum der Scheibe ein. Doch damit nicht genug: Sie schoss noch einen Pfeil ab und dann noch einen und noch einen und noch einen.

Nathan spähte hinüber zu der Zielscheibe, auf die Topaz mit ihren Pfeilen ein perfekt rechtwinkliges, absolut symmetrisches »T« geschrieben hatte. Einen Augenblick lang suchte er noch nach eventuellen Makeln und wandte sich dann entschuldigend an Jake: »Sie ist nur eifersüchtig, weil ich im Moment als der beste Agent der Organisation gelte.«

»Wie viele Agenten sind es denn insgesamt?«, fragte Jake in dem Versuch, die Anspannung zwischen den beiden zu lösen.

»Es sind immer um die vierzig Agenten aktiv«, antwortete Topaz, »und Dutzende von Hilfskräften wie Schiffsbesatzungen und so weiter. Ungefähr ein Drittel der Agenten hat seine Operationsbasis im Pekinger Büro im China der Ming-Dynastie. Sie kümmern sich um die östliche Hemisphäre, aber unterstehen selbstverständlich genauso Gallianas Oberbefehl wie wir.«

»Und die Agenten, die sich um die westliche Hemisphäre kümmern, die leben alle hier auf dieser Insel?«, fragte Jake weiter.

»Ça dépend«, erwiderte Topaz mit einem Achselzucken. »Kommt darauf an, wie viele gefährliche Umtriebe gerade im Gange sind. In ruhigen Phasen kehren die meisten in ihre eigene Zeit zurück. Außer Nathan und mir natürlich.«

»Wir beide sitzen hier zusammen fest«, meinte Nathan mit einem Zwinkern. »Du solltest Jake auch nicht verschweigen, dass es unter all diesen Agenten nur etwa zehn echte Asse wie uns gibt.«

Topaz erklärte Jake, was Nathan damit meinte: »Einige wenige, und das sind immer wir, die jüngeren Agenten, verfügen über die größte Kraft. Daher auch unser Name: die Herkulen. Er bedeutet, dass wir größere Zeitreisen machen können, und das mit weniger Anstrengung. Je älter ein Agent wird, desto stärker lassen seine Fähigkeiten nach. Auf die Diamanten trifft das zwar weniger zu, aber auch sie werden im Lauf der Zeit schwächer und unflexibler. Die älteren Agenten …«

»Die Ehemaligen«, kommentierte Nathan spöttisch.

» … sind die Koordinatoren. Ihre Hauptaufgabe ist es, sich ums Tagesgeschäft zu kümmern. Aber die Starken, die Diamanten, so wie deine Eltern, können, wenn nötig, weiterhin Einsätze durchführen.«

»Interessant an dieser Stelle ist jedoch«, mischte Nathan sich erneut ein, »dass Jupitus Cole, der weder ein Diamant noch besonders jung ist, nie an Tatkraft verloren zu haben scheint. Er kann noch immer mal eben hinüber ins alte Mesopotamien hüpfen, und das ohne die geringsten Verschleißerscheinungen.«

»Wie dem auch sei«, fuhr Topaz fort, »eine weitere Aufgabe der Koordinatoren ist es, in geheimer Abstimmung den Oberbefehlshaber der Geschichtshüter zu wählen. Kommandantin Goethe hat den Posten jetzt seit drei Jahren inne.«

»War ein verflucht knappes Abstimmungsergebnis«, vertraute Nathan Jake an. »Und unser Mr Cole war nicht besonders glücklich darüber, kann ich dir sagen.«

Dann verließen sie die Rüstkammer und erklommen die Stufen hinauf zur nächsten Ebene.

»Der Kommunikationsraum«, sagte Topaz und führte sie durch eine weitere Tür. An einer Wand aufgereiht standen vier antik anmutende Schreibtische. Zwei Männer und zwei Frauen, alle in Kleidung aus dem neunzehnten Jahrhundert, saßen davor und nickten den Neuankömmlingen kurz zu. Jeder hatte ein Instrument vor sich, das genauso aussah wie die eigenartige Schreibmaschine, auf der Charlie im Londoner Büro so eifrig herumgetippt hatte – bis hin zu dem unverwechselbaren Kristallstab auf der Rückseite, der knisternd und summend Miniaturblitze verschoss. Mit einem Federkiel in der Hand schrieben sie Nachrichten auf Pergament.

»Dechiffrierung«, erklärte Topaz. »Die Geräte hier sind sogenannte Meslith-Schreiber. Sie sind nach ihrem Erfinder Vladimir Meslith benannt. Mit ihrer Hilfe kann man Botschaften durch die Zeit schicken und empfangen. Wirklich wichtige Botschaften allerdings, die direkt für die Kommandantin bestimmt sind, kommen da drüben an, im Meslith-Nukleus.« Sie deutete auf einen dicken Glasschrank, in dem ein weiteres, ungewöhnlich aussehendes Gerät stand. Es war viel größer und komplizierter als die anderen, der Kristallstab dicker und länger. An der Rückseite befand sich eine komplizierte Anordnung von Zahnrädchen, kleinen Hebeln und Wellen, die mit zwei Federkielen verbunden waren, die über je einer Pergamentrolle schwebten und nur darauf warteten, eingehende Nachrichten darauf niederzuschreiben.

»Von jeder Übertragung, die hier ankommt, werden zwei Ausfertigungen erstellt. Eine kommt in die Ablage unter dem Nukleus, die andere wird über ein Rohrsystem ins Quartier der Kommandantin direkt unter uns gesendet.«

»Über ein Rohrsystem?«, fragte Jake verwundert.

»Exakt. Vergiss alles, was du über moderne Kommunikationssysteme weißt«, erklärte Nathan, während er in der dicken Glasscheibe vor ihnen sein Spiegelbild bewunderte. »Alles null und nichtig hier im Jahr 1820. Es dauert noch über fünfzig Jahre, bis mit Strom auch nur halbwegs etwas anzufangen sein wird.«

»Ich persönlich finde die Meslith-Kommunikation ja weitaus bezaubernder«, kommentierte Topaz. »Seht mal, gerade kommt eine Nachricht rein.« Sie deutete auf die Maschine, deren Kristallantenne mit einem Mal so hell leuchtete wie brennender Phosphor, was eine mechanische Kettenreaktion auslöste, an deren Ende die beiden Federkiele standen, die die Pergamentbogen mit dem Nachrichtentext beschrieben. Der eine Bogen landete auf einer Ablage unter der Maschine, der andere wurde von einer Vorrichtung zusammengerollt und über eine Rohrleitung, die im Boden verschwand, sofort weitergeleitet.

»Die Kommandantin wird sie sogleich erhalten«, sagte Topaz und wandte sich Augen rollend an Nathan, der immer noch wie hypnotisiert sein Spiegelbild anstarrte. »Wenn wir dann vielleicht weitergehen könnten? Ich meine, natürlich erst, nachdem du deine wilde Mähne ausreichend bewundert hast …«

»Es liegt an der Haarspülung, die Vater mir gegeben hat«, erwiderte Nathan seufzend. »Ich begreife einfach nicht, was alle mit diesem Jojobaöl haben.«

Als sie den Kommunikationsraum wieder verlassen hatten, fiel Jakes Blick auf eine Standuhr im Treppenhaus. Bis zur Versammlung im Prunksaal waren es nur noch zwanzig Minuten, und er fragte sich ein wenig nervös, welche neuerlichen Enthüllungen dort auf ihn warten mochten.

Unterdessen führten Nathan und Topaz ihn in den nächsten, mehr als ungewöhnlichen Raum.

»Die Bibliothek der Gesichter«, verkündete Topaz.

Ehrfürchtig blickte Jake die Halle entlang. Auf der rechten Seite und an der gegenüberliegenden Wand standen Regale mit großen, in Leder gebundenen Büchern darin, die linke Wand war übersät mit Porträts. Jedes davon war etwa dreißig mal dreißig Zentimeter groß und sah aus wie das Werk eines alten Meisters. Der Anblick dieser tausend Gesichter allein, wie sie ihn alle anstarrten, wäre schon beeindruckend genug gewesen, aber die Bilderwand barg noch ein weiteres Geheimnis: Nach zehn Sekunden erklang eine Glocke, und mit einem mechanischen Rattern drehten sich die Gemälde, und ein weiteres Porträt kam zum Vorschein. Dies wiederholte sich nach wiederum zehn Sekunden, und jedes Porträt wurde durch ein drittes ersetzt, bis sich mit einer letzten Umdrehung wieder der gleiche Anblick bot wie zu Anfang.

»Die Gesichter an dieser Wand«, erklärte Nathan, »stellen Menschen aus allen Epochen dar, die der Geheimdienst im Moment entweder für wichtig oder für gefährlich hält. In den Büchern« – er nahm eines aus dem Regal und blätterte die dicken, leicht rissigen Seiten um – »ist praktisch jede Person verzeichnet, die jemals gelebt hat.«

»Pssst!«, zischte es aus einer dunklen Ecke am gegenüberliegenden Ende der Bibliothek. Im spärlichen Licht sah Jake hinter einem großen Schreibpult mit einem Stapel Bücher darauf eine Gestalt sitzen. Sie musste in den Fünfzigern sein und trug ein schwarzes Barockkleid mit bauschigen Rüschenärmeln und weißem Kragen. Ihr Haar wurde von einer perfekt sitzenden Haube bedeckt, und auf der Nase hatte sie eine Halbmondbrille.

»Das ist die Leiterin der Bibliothek, Lydia Wunderbar«, sagte Nathan, so leise er konnte. »Sie sieht zwar aus, als hätte sie einen Stock verschluckt, aber du solltest sie mal auf der Tanzfläche sehen!«

Die letzte Station ihres Schnellrundgangs war die Kostümschneiderei. Von allen Räumen, die Jake seit dem letzten Abend bestaunt hatte, war dieses höhlenartige, mindestens fünf Stockwerke hohe Gewölbe mit seinem zylindrischen Grundriss und den prächtigen Galerien das eindrucksvollste. Es befand sich in einem der großen runden Türme, die Jake vom Schiff aus gesehen hatte. Auf jeder der Ebenen, die über Treppen und einen etwas klapprig wirkenden Aufzug in der Mitte miteinander verbunden waren, wurde eine Unzahl von Kleidungsstücken, Hüten und anderen Accessoires bereitgehalten.

»Hier findest du Gewänder aus jedem Abschnitt der Menschheitsgeschichte«, übernahm Topaz wieder. »Auf der untersten Ebene fängt es mit dem neunzehnten, zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert an, und je weiter du nach oben kommst, desto weiter geht es zurück in der Zeit. Es gibt hier alles vom alten Ägypten über das Mexiko der Inka bis hin zum modernen Moskau, und jedes einzelne Kleidungsstück ist absolut authentisch. Wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, ist die Kostümschneiderei Nathans absoluter Lieblingsort im Schloss – nirgendwo sonst gibt es so viele Spiegel wie hier. Nicht einmal in seiner eigenen Suite.«

»Tja, was soll ich sagen? Ich fühle mich nun mal zu schönen Dingen hingezogen«, gab Nathan ungerührt zurück.

Jake staunte mit großen Augen. Auf der Ebene über ihnen ließ sich Océane Noire gerade mit einem besonders extravaganten Kleid ausstaffieren. Die Schneider waren im Moment damit beschäftigt, ihren Reifrock mit zwei extra breiten Krinolinen sogar noch ausladender zu machen, als er ohnehin schon war. Als sie fertig waren, warf Océane sich in Pose und begutachtete das Ergebnis im Spiegel. »Hmm, ich finde, sie könnten doch ein wenig breiter sein. Nein, viel breiter sogar, ganz bestimmt!«, hörte Jake sie sagen, woraufhin die Schneider die untauglichen Accessoires umgehend wieder entfernten.

»Guten Morgen, Signore Gondolfino. Mein neues Jackett passt ganz hervorragend«, sagte Nathan mit breitem amerikanischem Akzent zu einem äußerst geschmackvoll gekleideten Mann, der gerade, ein Monokel in der Hand, zwischen den Garderobenstangen hervortrat.

»Signore Luigi Gondolfino«, erklärte Nathan feierlich. »Leiter der Kostümschneiderei und ein wahres Modegenie, wie ich anmerken darf.«

Ein Lächeln breitete sich über Signore Gondolfinos faltiges Gesicht aus, während er auf sie zugehumpelt kam. »Mademoiselle St. Honoré, seid Ihr das?«, fragte er mit leicht zitternder Stimme. »Mit jedem neuen Monat seht Ihr noch bezaubernder aus, muss ich sagen. Wie war es in London? Wie viele Herzen habt Ihr diesmal gebrochen?«

»Alle Londoner Herzen sind noch intakt.«

»Welch ein Unsinn! Ihr müsst Herzen brechen, das ist Eure heilige Pflicht!«

»Wie geht es Euch, Signore Gondolfino?«, mischte Nathan sich wieder ein. »Ich wollte Euch nur sagen, dass der neue Redingote mit den Pelerinen ein absoluter Traum ist.«

Das Lächeln verschwand aus Signore Gondolfinos Gesicht, als er sich, das Monokel vors Auge geklemmt, Nathan zuwandte. »Ah, ja, du bist’s. Willst du etwas zurückgeben?« Nathans amerikanische Großmäuligkeit war eindeutig zu viel für Gondolfinos europäisch-kultiviertes Gemüt.

»Nein, ich wollte Euch lediglich … ein Kompliment machen«, erwiderte Nathan. Zum ersten Mal seit Jake ihn kennengelernt hatte, schien Nathan ein wenig verunsichert.

»Das hier ist übrigens Jake Djones«, warf Topaz ein. »Der Sohn von Alan und Miriam Djones. Er hat sich uns gestern erst angeschlossen.«

Signore Gondolfino ergriff Jakes Hand und hielt sie mit seinen gebrechlichen Fingern erstaunlich fest umschlossen. »Es ist mir die höchste Ehre, Euch kennenzulernen. Alles wird in Ordnung kommen. Eure Eltern sind zäh.«

Auf Signore Gondolfinos Bemerkung hin stellte Jake sich vor, wie seine Eltern zu Hause in London in der Küche standen, einander nervös an den Händen hielten und darauf warteten, dass er nach Hause kam. Vielleicht waren sie mittlerweile ja wieder in England, während er sich hier, fast zweihundert Jahre in der Vergangenheit, anschickte, nach ihnen zu suchen?

Und Signore Gondolfinos Worte waren es auch, die ihn sogleich wieder aus seinen Gedanken rissen.

»Diese neuzeitlichen Gewänder … wie einfallslos, wie überaus uncharmant«, schimpfte er und musterte durch das Monokel Jakes Schuluniform. »Nichts gegen Euch, junger Mann, natürlich«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

»So habe ich es auch gar nicht verstanden«, erwiderte Jake ebenfalls mit einem Lächeln. Vor allem die Hose seiner Schuluniform hatte er schon immer gehasst. Der Stoff kratzte, und sie war viel zu warm, selbst im tiefsten Winter schwitzte er ständig darin.

»Später«, versicherte ihm Gondolfino, »werden wir etwas Passenderes für Euch finden. Etwas Elegantes. Bel viso … Euer Gesicht verlangt geradezu danach.«

Plötzlich ertönten überall auf der Insel laute Glocken.

»Zehn Uhr!«, rief Nathan. »Zeit zu gehen.«

Die drei verabschiedeten sich von Signore Gondolfino, und während sie die Schneiderei verließen, ließ Jake noch einmal den Blick über die fantastischen Gewänder schweifen. Dann liefen sie eilig den Weg zurück, den sie gekommen waren, durch Treppenhäuser und über lange Korridore zu dem Flügel des Schlosses, in dem sich der Prunksaal befand.

Jakes Gedanken arbeiteten unaufhörlich; einerseits fand er es überaus schmeichelhaft, dass so viele hier seine Eltern kannten und so große Stücke auf sie hielten; andererseits veranlasste ihn jede Erwähnung ihres Namens zu neuer Sorge. Außerdem konnte er sich immer noch keinen Reim darauf machen, für was für eine Art Geheimorganisation seine Eltern die ganze Zeit über heimlich gearbeitet hatten. Natürlich hatte er inzwischen einiges erfahren, aber die eine alles überschattende Frage war nach wie vor unbeantwortet.

»Ich will ja nicht unterbelichtet erscheinen«, sagte er, während sie auf eine große Doppeltür am Ende eines Flurs zugingen, »aber was genau macht ihr hier alle eigentlich? Ich meine, dieser Geheimdienst der Geschichtshüter … Wozu ist der gut?«

Nathan und Topaz blieben abrupt stehen und drehten sich zu Jake um. Nathan nickte mit einem stolzen Lächeln. »Das ist eine gute Frage«, sagte er. Dann straffte er die Schultern und verkündete voll Inbrunst: »Wir retten die Geschichte. Wir riskieren Kopf und Kragen für nichts Geringeres als dafür, den Lauf der Geschichte zu bewahren.«

»Ja, ich glaube, das habe ich bereits begriffen«, erwiderte Jake. Nach dieser Antwort war er kein bisschen schlauer. »Aber wie? Auf welche Art und Weise stellt ihr das an?«

»Du hast wahrscheinlich immer geglaubt, Geschichte wäre etwas Abgeschlossenes«, erklärte Topaz. »Erledigt und der Vergangenheit angehörig.«

»Ist das nicht genau das, was das Wort Geschichte bedeutet?«, fragte Jake.

Nathan schüttelte lachend den Kopf.

»Pas du tout«, erwiderte Topaz mit ihrem weichen französischen Akzent. »Ganz und gar nicht. Die Geschichte verändert sich stetig. Sie verläuft nicht in einer geraden Linie, musst du wissen. Sie ist weit komplizierter als das, ein sich stets im Wandel befindendes Gefüge.«

Jake hörte aufmerksam zu.

»Und weil das so ist, weil sie nie wirklich abgeschlossen ist«, fuhr Topaz fort, »gibt es Leute, die ständig versuchen, sie zu verändern. Und zwar zum Schlimmeren. Stell dir vor, es wäre Tamerlan gelungen, ganz Asien zu unterwerfen, oder Robespierre hätte Europa in einen einzigen, großen Polizeistaat verwandelt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte …«

Es war das erste Mal, dass Jake Topaz so feierlich und ernst sprechen hörte.

»Wie wir alle aus dem Geschichtsunterricht in der Schule wissen, gab es schon viel zu viele schreckliche Katastrophen. Und das, was wir tun, ist nichts anderes, als zu versuchen, die Zukunft zu schützen, so gut wir nur können.«

Jake nickte eifrig, und sein Blick wanderte zu Nathan. Selbst er sah jetzt ernst aus. Doch sofort kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück, und mit einem Schulterklopfen sagte er zu Jake: »Gehen wir rein und sehen uns an, was der ganze Trubel zu bedeuten hat!«

Mit diesen Worten stieß er die Doppeltüren auf, und sie gingen hindurch.


9

CODE PURPUR

Der Prunksaal war ein großer, heller Raum mit vier riesigen Fenstern zum Meer hin. In der Mitte stand ein langer Konferenztisch mit Stühlen davor. Norland füllte gerade die Wassergläser und stellte je eins an jeden Sitzplatz.

Während sie warteten, bis die anderen eingetroffen waren, erzählte Topaz Jake, dass der Prunksaal im Jahr 1670 im Geheimen von Louis Le Vau – dem gefeiertsten französischen Architekten dieser Zeit, der auch das Schloss von Versailles gebaut hatte – entworfen und eingerichtet worden war, und dass Magnesia Hypoteca, die verehrte Gemahlin des siebten Kommandanten des Geheimdienstes, einmal über die großen Fenster gesagt haben soll: »Dies sind die Augen, die die ganze Welt sehen.«

Jake wusste genau, was sie meinte: Der Ausblick war atemberaubend. Er hatte das Gefühl, über den gesamten Ärmelkanal bis zum Atlantik sehen zu können.

Inzwischen betraten einer nach dem anderen auch die übrigen Geschichtshüter den Prunksaal. Die meisten von ihnen hatten sich frische Kleider angezogen. Charlie Chieverley trug eine Kniehose, einen Frack und einen karierten Schal um den Hals, was Jake an das Kostüm erinnerte, das er selbst bei einer Schultheateraufführung von Oliver! getragen hatte. Jupitus Cole, der wie immer die Etikette hochhielt, trug seinen vornehmsten Gesellschaftsanzug, an dessen Revers eine goldene Anstecknadel mit dem Emblem der Geschichtshüter prangte. Truman Wylder erschien im seidenen Smoking, und Océane Noires Pelerinen waren mittlerweile so breit, dass sie sich seitwärts durch die Eingangstür in den Saal zwängen musste. Außerdem waren noch etwa fünfzehn weitere Personen zugegen, die meisten davon im Erwachsenenalter und in Kleidung, die aus allen Jahrhunderten stammte.

»Weil wir hier am Nullpunkt im Verborgenen leben, dürfen alle Kleidung aus der Zeit tragen, aus der sie kommen«, erklärte Topaz. »C’est jolie, n’est-ce pas?«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

Fasziniert beobachtete Jake, wie alle feierlich ihre Plätze einnahmen, und fühlte sich ein weiteres Mal an seine eigene kleine Galerie faszinierender Persönlichkeiten zu Hause in London erinnert. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass Menschen, die ihr Leben nach ihren eigenen Regeln lebten, die Welt reicher und interessanter machten, und die Gruppe, die sich hier gerade versammelte, war mit Abstand die außergewöhnlichste und skurrilste, die er je gesehen hatte.

»Hier ist noch ein freier Stuhl für dich«, rief Nathan vom anderen Ende des Tisches, und Jake nahm gegenüber von Nathan Platz. Er saß zwischen Charlie und einem Mann, der mit seinem breitkrempigen Hut und den langen Rüschenärmeln aussah wie einer der drei Musketiere. Selbst immer noch in Schuluniform und mit Schultasche auf dem Rücken, fühlte er sich nicht gerade wohl in dieser illustren Gesellschaft.

»Kein Grund zur Verunsicherung«, meinte Nathan quer über den Konferenztisch hinweg zu Jake, »das sind alles nur Weicheier hier.«

»Entschuldigung, habe ich was verpasst? Ich habe die Glocken nicht gehört. Haben sie schon geläutet?«, ertönte Roses Stimme von der Tür, während sie mit klimpernden Armreifen hereingeeilt kam. Mit ihrem Hirtenmantel, dem Batikkleid und der Reisetasche über der Schulter wirkte sie sogar noch mehr fehl am Platz als Jake. »O je, und jetzt bekomme ich nicht mal mehr einen Sitzplatz«, murmelte sie und blickte hilflos die Stuhlreihen entlang.

»Moment!«, ertönte Nathans Stimme. Er stand auf, holte einen Ersatzstuhl herbei und schob ihn zwischen Jupitus und Océane – sehr zum Missfallen der Letzteren, die Rose indigniert den Rücken zudrehte und sich mit einem lauten Schnauben die Nase putzte.

Mit einem Ruck drehten sich alle Augen wieder zur Tür, als Olivia, Gallianas Windhündin, leichten Schrittes hereingetippelt kam. Sie umrundete einmal den Tisch, hüpfte auf ein kleines Podest neben dem Stuhl der Kommandantin und schaute mit leuchtenden Augen in die Runde.

Schließlich betrat auch Galliana Goethe den Saal. Sie stellte sich hinter ihren Stuhl, fasste mit beiden Händen die Lehne und sagte: »Einen guten Morgen allerseits. Als Erstes möchte ich, vor allem im Namen derer, die noch nicht das Vergnügen hatten, ihn kennenzulernen, den jüngsten Neuzugang unserer Organisation begrüßen: Mr Jake Djones. Bitte tut das Eure, um Mr Djones’ Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten. Er dürfte in den letzten Tagen sicherlich schon genug zu verdauen gehabt haben.«

Ein allgemeines Willkommensgemurmel erhob sich, Rose lächelte Jake stolz an, und Jupitus warf ihm einen schnellen Blick aus dem Augenwinkel zu.

»Lasst mich gleich zur Sache kommen«, fuhr Galliana fort. »Wie die meisten von euch bereits wissen, werden zwei unserer Agenten vermisst. Zwei Wochen lang hatten wir von Mont Saint-Michel aus Gerüchte in diversen Meslith-Kanälen verfolgt, in denen immer wieder von einem ›katastrophalen‹ Ereignis die Rede war. Venedig wurde mehrmals erwähnt, und der Juli des Jahres 1506.«

»Und diese Gerüchte waren glaubhaft?«, fragte Jupitus, ohne irgendjemanden dabei direkt anzusehen.

Galliana hielt kurz inne, dann erwiderte sie seufzend: »Auf jeden Fall glaubhaft genug, dass ich mich veranlasst sah, sie vor Ort überprüfen zu lassen, weshalb Alan und Miriam Djones vor vier Tagen an Bord der Mystère zu einem routinemäßigen Aufklärungseinsatz entsandt wurden.«

Wieder fühlte Jake einen gewissen Zorn in sich aufwallen, weil seine Eltern ihn derart getäuscht hatten. Einigen der Anwesenden schien das nicht zu entgehen, und sie bedachten Jake mit fragenden Blicken.

»Am Tag nach ihrer Ankunft in Venedig erhielten wir folgendes Meslith-Kommuniqué«, fuhr Galliana fort, setzte ihre Brille auf und las von einem Stück Pergament: »Code Purpur …«

Ein lautes Keuchen ertönte im Saal, beunruhigte Blicke schossen hin und her. Selbst der sonst so kühle Mr Cole nahm hastig einen Schluck aus seinem Wasserglas und verschluckte sich prompt daran.

Jake schien der Einzige zu sein, dem die beiden Worte rein gar nichts sagten, weshalb Charlie ihm ins Ohr flüsterte: »Code Purpur ist nach Orange und Rot die höchste Alarmstufe.«

»Code Purpur«, wiederholte Galliana und las weiter: »Findet Gipfel von Superia. Höchste Gefahr. Bekräftige: Code Purpur.« Nach diesen Worten nahm sie ihre Brille ab und reichte Jupitus das Stück Pergament, der es, mit wie immer undurchdringlichem Gesichtsausdruck, aufmerksam studierte.

»Dieses Kommuniqué erreichte uns vor drei Tagen … seitdem haben wir nichts mehr von den Agenten Djones und Djones gehört.« Galliana machte erneut eine kurze Pause, weil aller Augen sich auf Jake gerichtet hatten. »Als Sicherheitsvorkehrung habe ich die vorübergehende Schließung des Londoner Büros angeordnet, bis der Kontakt zu ihnen wiederhergestellt ist.«

»Ihr meint, falls die beiden sich gezwungen sahen, ein paar Geheimnisse auszuplaudern?«, hakte Jupitus boshaft nach.

»Ihr wisst genau, warum«, erwiderte die Kommandantin knapp. »Unsere Statuten legen eindeutig fest, dass sich im Falle eines Code Purpur alle in Europa tätigen Agenten auf Mont Saint-Michel einzufinden haben und gleichzeitig alle europäischen Büros vorübergehend geschlossen werden. Ich habe lediglich das Protokoll befolgt, das ist alles.«

»Sir, darf ich?«, fragte Topaz und streckte eine Hand in Jupitus’ Richtung, der ihr daraufhin das Kommuniqué reichte. »Findet Gipfel von Superia«, wiederholte sie laut. »Was ist dieses Superia? Könnte es sich dabei um einen Berg handeln?«

In den Gesichtern der anwesenden Agenten spiegelte sich dieselbe Ratlosigkeit wie in dem ihren.

»Wenn dem so ist«, antwortete Galliana, »haben wir nicht die geringste Ahnung, wo er sich befindet.«

»Ich persönlich zumindest«, ließ Jupitus sich vernehmen, »habe noch nie davon gehört.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er eigentlich gemeint hatte: »Und wenn ich diesen Ort nicht kenne, kennt ihn niemand.«

»Wäre es denkbar, dass dieser Code Purpur oder das Verschwinden der beiden Agenten auf irgendeine Weise mit Zeldt und der Schwarzen Armee in Verbindung stehen?«, fragte Nathan.

Jake hatte in diesem Moment zufällig in Topaz’ Richtung geschaut, und auch wenn es kaum zu sehen gewesen war: Bei der Erwähnung des Namens »Zeldt« war ein Schatten über ihre Augen gehuscht, und ihre Mundwinkel hatten kurz gezittert.

»Darauf gibt es, zumindest bis jetzt, noch keine greifbaren Hinweise. Wie ihr alle wisst, wurde Zeldt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Die letzte Sichtung geschah im Holland des Jahres 1689, seither gilt er offiziell als tot«, beantwortete Galliana Nathans Frage in geschäftsmäßigem Ton. »Nach sorgfältiger Erwägung aller Optionen …«

»Doch sicherlich«, unterbrach Jupitus, »waren die Agenten Djones und Djones der Meinung, Zeldt wäre involviert, was auch der Grund dafür war, dass sie sich freiwillig gemeldet haben. Oder etwa nicht?«

»Sie haben sich nicht freiwillig gemeldet. Ich habe ihnen den Einsatz angeboten.« Galliana fixierte Jupitus mit kaltem, hartem Blick. »So wie bei den beiden Einsätzen zuvor. Immerhin sind und bleiben sie zwei unserer besten Agenten.« Mit diesen Worten kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Nach sorgfältiger Erwägung aller Optionen bleibt mir nichts anderes übrig, als ein weiteres Aufklärungsteam nach Venedig zu entsenden; Auslaufen heute Nachmittag.«

Topaz’ Hand schoss als erste nach oben. »Kommandantin. Hiermit bitte ich um Erlaubnis, teilnehmen zu dürfen.«

Nathan stand auf und warf seine vollen kastanienbraunen Haare zurück. »Ich gehe selbstverständlich davon aus, ebenfalls Teil des Teams zu sein …«

»Ihr nehmt beide an dem Einsatz teil, gemeinsam mit Agent Charlie Chieverley«, verkündete Galliana. »Topaz, Ihr werdet die Gruppe führen.«

»Vielen Dank, Kommandantin. Ich werde Euch nicht enttäuschen«, erwiderte Topaz aufgeregt.

Nathans Kiefer klappte nach unten. »Das kann nicht Euer Ernst sein«, stammelte er und hob die Hand. »Kommandantin, ist die Aufgabenverteilung bezüglich dieses Einsatzes in irgendeiner Weise verhandelbar? Immerhin bin ich der Erfahrenere von uns beiden, sowohl was das Alter angeht als auch …«

»Gerade mal zwei Monate«, warf Topaz ein.

»… als auch die Zahl der Einsätze. Und den Erfolg meiner letzten Mission in der Türkei muss ich, wie ich glaube, in diesem Zusammenhang nicht eigens erwähnen.«

Galliana bedachte Nathan mit einem vernichtenden Blick. »Nein. Die Aufgabenverteilung ist nicht verhandelbar.« Sie wandte sich wieder an den Rest der Versammlung. »Gibt es noch irgendwelche Fragen?«

Jake spürte, wie sein Herz unter dem Blazer pochte, als er ebenfalls die Hand hob. Alle Augen drehten sich in seine Richtung.

»Ich … ich möchte mich freiwillig zu dem Einsatz melden«, sagte er so leise, dass alle die Ohren spitzen mussten, um ihn zu verstehen.

Spätestens seit sie den Sanitärladen eröffnet hatten, hatte Jake sich immer wieder Sorgen um seine Eltern gemacht, doch seit den letzten drei Jahren, seit dem Verschwinden seines Bruders, war sein Wunsch, ja, das Bedürfnis, ihnen beizustehen, um ein Hundertfaches gewachsen.

»Steh er auf!«, polterte Truman Wylder und fuchtelte mit seinem Spazierstock. »Man versteht ja kein Wort hier hinten.«

Jake erhob sich und blickte in die Runde ernster Gesichter, die ihrerseits völlig ungerührt zurückstarrten auf diesen halbwüchsigen, gelockten Jungen in Schuluniform. Jake holte tief Luft. Er wusste: Worauf es jetzt ankam, war, sie wissen zu lassen, dass er kein Kind mehr war, und er wiederholte mit fester, lauter Stimme: »Ich sagte, ich möchte mich freiwillig zu diesem Einsatz melden.«

Ein paar der Anwesenden murmelten verlegen etwas in sich hinein, und Océane ließ ein leises Kichern hören, was ihr sofort einen strafenden Blick von Rose einbrachte.

»Das ist sehr mutig von dir, Jake«, sagte Galliana mit einem Lächeln, »aber …«

»Nachdem es sich bei den Vermissten um meine Eltern handelt, glaube ich, dass ich auf jeden Fall Teil des Teams sein sollte. Und ich … bin der Überzeugung, dass ich durchaus etwas zum Gelingen der Unternehmung beitragen kann …« Jake kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis nach einem passenden Zitat aus einem seiner Lieblingsfilme, aber es wollte ihm partout keins einfallen.

Noch mehr Gemurmel. Jupitus schien völlig entgeistert über Jakes Dreistigkeit, aber Galliana blieb ganz ruhig und fuhr in ruhigem, gemessenem Ton fort: »Danke, Mr Djones. Wir wissen Euren Mut und Eure Anteilnahme zu schätzen, aber schon die Reise allein ist überaus gefährlich, und wir müssen Euch hier belassen, in Sicherheit.«

Schamröte stieg Jake ins Gesicht – oder war es Wut? –, und er setzte sich zögernd wieder hin.

»Noch weitere Fragen?«

»Ich habe in der Tat eine«, sagte Jupitus und nahm noch einen Schluck von seinem Wasserglas. »Eigentlich ist es mehr eine Feststellung denn eine Frage. Würdet Ihr nicht mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass dieser Vorfall eines mit aller Deutlichkeit zeigt: Es ist an der Zeit, Alan und Miriam Djones’ Berechtigung, als Agenten im Feldeinsatz zu operieren, zu widerrufen? Sie mögen ja zu ihrer Zeit ordentliche Dienste geleistet haben, aber in ihrem jetzigen Alter und nach zehnjähriger Inaktivität können sie wohl kaum noch als herausragende Agenten eingestuft werden. Auch wenn sie Diamanten sind, dürften ihre Kräfte mittlerweile beträchtlich dahingeschmolzen sein.«

Jake und Rose wären beinahe von ihren Stühlen aufgesprungen vor Zorn, und Rose rief: »Ihr wagt es? Mein Bruder hat für diese Organisation mehr als einmal sein Leben riskiert. Und bei einer Gelegenheit, wie Ihr anscheinend bequemerweise vergessen habt, um Euch zu retten! Gott allein weiß, was ihn auf diese törichte Idee gebracht hat.«

Jupitus’ Haltung versteifte sich ein wenig, aber er sprach in vollkommen ruhigem Ton weiter: »Ich versuche nur, praktisch zu denken und das auszusprechen, was viele hier am Tisch im Stillen denken. Aber Rosalind Djones muss natürlich, wie immer, aus allem ein Drama machen«, fügte er mit kaum verhohlener Geringschätzung hinzu.

»Genug jetzt. Von euch beiden!«, unterbrach Galliana. »Alan und Miriam Djones haben nicht nur nichts von ihrer Tatkraft eingebüßt, sie waren sogar die einzigen Agenten, die ich für diese Mission überhaupt in Erwägung zog. Und, Mr Cole, ich muss Euch wohl kaum daran erinnern, dass Ihr im selben Alter seid wie Alan.«

Jupitus zog verärgert die Mundwinkel nach unten.

»Peux-je dire quelque chose?« Océane hielt ihre mit vielen Ringen geschmückte Hand in die Luft. »Dürfte ich eine kleine Frage stellen?«

Alle am Tisch bereiteten sich auf irgendeine selbstsüchtige Nichtigkeit vor, die Océane glaubte loswerden zu müssen, und sie wurden nicht enttäuscht.

»Wie Ihr alle wisst, findet diese Woche ein Ball zu Ehren meines anniversaire statt, meines Geburtstags, und ich möchte fragen, ob die mit diesem Code Purpur einhergehenden Veränderungen sich, Gott behüte, womöglich auf die Feierlichkeiten auswirken könnten. Die Vorbereitungen haben sechs lange und zermürbende Monate in Anspruch genommen … Ich musste sogar einen Aufenthalt in London auf mich nehmen, um angemessenen Schmuck kaufen zu können.«

Ein paar Leute äußerten murmelnd ihr Unverständnis, und Rose schüttelte ungläubig den Kopf, nur Galliana ließ sich nichts anmerken.

»Tatsächlich«, sagte sie, »wird das Fest stattfinden wie geplant. Wie wir alle wissen, müssen wir unser Hauptquartier gelegentlich für die Leute vom Festland öffnen, um keinen Verdacht zu erwecken.«

Océane klatschte erfreut in die Hände. »Parfait! Parfait!«, jauchzte sie entzückt.

»Die Versammlung ist hiermit geschlossen«, verkündete Galliana schließlich. »Das berufene Team wird heute Nachmittag pünktlich um zwei Uhr auslaufen. Ihr werdet ins Venedig des Jahres 1506 reisen und euch dort an der Banchina dei Ognissanti mit Paolo Cozzo, unserem Kontaktmann im Italien des sechzehnten Jahrhunderts, treffen. Das wäre alles.«

Alle erhoben sich und machten sich auf den Weg, den Prunksaal zu verlassen.

»Jake, dürfte ich kurz mit dir sprechen?«, fragte Galliana. »Und ihr drei« – sie nickte Topaz, Nathan und Charlie zu – »könntet ihr so lange dort drüben warten? Ich wünsche, nachher noch mit euch zu sprechen.«

Sie nickten gehorsam. »Sie führt die Gruppe an! Das werde ich mir jetzt bis ans Ende aller Tage anhören dürfen«, murmelte Nathan, während er gemeinsam mit den anderen ein Stück zur Seite trat.

Galliana ging mit Jake zu einem der großen Fenster. »Ich hoffe, du findest dich einigermaßen zurecht?«

Jake nickte.

»Es gibt etwas, das ich dir anvertrauen möchte«, sprach Galliana weiter. »Ich tue das, weil ich nicht will, dass du schlecht von deinen Eltern denkst. Wie du ja mittlerweile weißt, haben sie sich nach deiner Geburt aus der Organisation zurückgezogen. Doch dann gab es einen triftigen Grund, aus dem sie vor drei Jahren zurückkehrten …« Galliana zögerte kurz, bevor sie weitersprach. »Sie hofften, endlich herauszufinden, was mit deinem Bruder Philip geschehen ist, um sein Andenken ein für alle Mal ruhen lassen zu können.«

Jake schnappte nach Luft. »Wie meinen Sie das? Er starb bei einem Kletterunfall.«

Galliana legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Als dein Bruder verschwand, war er im Auftrag unserer Organisation unterwegs. Deine Eltern haben noch versucht, ihn aufzuhalten, aber wir können uns unserer Bestimmung nicht erwehren. Der innere Drang ist zu stark.«

Jake wurde schwindelig, und er musste sich am Fenstersims festhalten. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Philip wurde ins Amsterdam des Jahres 1689 gesandt, um einen der größten und ältesten Feinde der Geschichtshüter aufzuspüren, Prinz Xander Zeldt«, antwortete Galliana. »Philip hatte eine Verschwörung aufgedeckt, in deren Zuge drei europäische Staatsoberhäupter ermordet werden sollten. Niemand weiß, was dann geschah – die Mordanschläge fanden nie statt, und Zeldt wurde nie wieder gesehen. Was auf deinen Bruder leider ebenso zutrifft. Wir glauben, dass er sein Leben verloren hat, als er seine Pflicht erfüllte, doch seine Leiche wurde nie gefunden. Die Wirren der Geschichte sind ein sehr unüberschaubarer Ort, wie du dir vorstellen kannst. Dort einen Vermissten aufzuspüren, ist äußerst schwierig.«

Es entstand eine lange Pause, während der Jake versuchte, die neuen Informationen zu verdauen.

»Was genau wollen Sie mir damit sagen?«, fragte er schließlich mit bebender Stimme. »Dass Philip vielleicht noch am Leben ist?«

»Es ist zumindest möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte Galliana.

Das war zu viel für Jake. Seine Lippen begannen zu zittern, sein Atem ging stoßweise, und schließlich konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten.

Als die drei anderen jungen Agenten seinen Schmerz sahen, kamen sie rasch zu ihm, und Topaz legte ihm einen Arm um die Schulter.

»Ist ja gut«, sagte sie. »Es wird alles gut werden.«

Jake nickte. »Schon okay«, sagte er unter seinen Schluchzern. »Mir fehlt nichts. Ich weiß selbst nicht, warum ich weine. Schließlich bin ich kein kleiner Junge mehr …« Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Wenn du mit uns zusammen bist, musst du nicht so tun, als wärst du schon erwachsen«, tröstete sie ihn. »Wir verstehen voll und ganz, dass du durcheinander bist.«

»Ich habe gerade kein Taschentuch einstecken, hast du eins?«, flüsterte Charlie Nathan zu.

Nathan zögerte kurz, dann zog er ein mit feinster Rüsche verziertes Seidentaschentuch aus der Westentasche. »Chinesische Seide«, erklärte er, reichte es Jake und zuckte erschrocken zusammen, als dieser nicht ein-, sondern dreimal hineinschnäuzte.

»Danke«, sagte Jake schließlich und hielt es Nathan hin.

»Ich bitte dich«, protestierte Nathan, »es gehört dir. Behalt es als Andenken.«

Nachdem Jake sich wieder beruhigt hatte, sprach Galliana weiter.

»Es tut mir leid, dass diese Neuigkeiten über deinen Bruder dich so aus der Fassung gebracht haben. Tatsache ist, dass niemand von uns weiß, was genau geschehen ist, und vielleicht werden wir es nie erfahren. Aber deine Eltern sind nur deshalb wieder in die Dienste der Organisation getreten, um es herauszufinden, und ich hoffe, du verstehst das.«

Jake nickte, und Galliana legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du musst ziemlich erschöpft sein. Norland wird dich in dein Gemach führen.« Mit diesen Worten brachte sie Jake zur Tür, wo Norland ihn bereits mit einem Lächeln erwartete.

Jake wollte gerade den Prunksaal verlassen, da drehte er sich auf der Türschwelle noch einmal um. »Dieser Code Purpur, der verheißt nichts Gutes, oder?«, fragte er.

Galliana war nicht die Frau, die ihre Worte in Watte packte: »Ich fürchte, er weist auf eine Bedrohung von katastrophalen Ausmaßen hin. Ich habe eine solche Situation nur ein einziges Mal erlebt, und die ging nicht gut aus.«

»Und dieser Prinz … Zeldt oder wie auch immer sein Name war – was genau hat er getan?«

Galliana blickte Jake kurz nachdenklich an und erklärte dann: »Das ist eine lange Geschichte. Für den Moment soll es genügen, wenn du weißt, dass einst alle Hüter zu den Guten gehörten. Vor langer Zeit stand Zeldts Familie noch im Dienst der Organisation, doch nun sind sie unsere Feinde.« Sie schwieg kurz. »Falls du dich entscheiden solltest, dich uns anzuschließen – was ich dir nur nach reiflicher Erwägung deinerseits empfehlen kann –, wirst du den Rest noch früh genug erfahren.«

Jake nickte, doch Galliana war noch nicht fertig: »Noch ein Letztes, Jake. Wenn die Vergangenheit einmal passiert ist, müssen wir sie ruhen lassen. Unter keinen Umständen dürfen wir versuchen, sie zu verändern. Wir können die Toten nicht zurückholen, Kriege verhindern oder Katastrophen aufhalten, wenn sie bereits passiert sind. Wir können und sollten den großen Brand von London nicht verhindern und auch nicht den Untergang der Titanic, ganz gleich wie unsere Gefühle diesbezüglich auch aussehen mögen.« An dieser Stelle wurde ihr Tonfall todernst. »Die Geschichte ist heilig. Die Vergangenheit mag voller Schrecken sein, aber eines darfst du nie vergessen, Jake: Alles könnte noch tausendmal schlimmer sein. Das ist das Ziel, das Zeldt und seinesgleichen verfolgen – eine Welt voll unvorstellbarer Grausamkeit. Und um das zu erreichen, wollen sie die Geschichte zerstören.« Ihre Augen brannten nun regelrecht von einem inneren Feuer. »Das ist der Grund dafür, dass wir uns ihnen entgegenstellen: um neuerliche Schrecken zu verhindern, um zu schützen, was sich in unserer zerbrechlichen Vergangenheit ereignet hat. Dafür gibt es die Geschichtshüter.«

Galliana gab Jake einen Moment Zeit, ihre Worte zu verdauen, dann sagte sie: »Und jetzt geh dich ein wenig ausruhen.«

Jake nickte den anderen als Verabschiedung kurz zu.

»Vergiss nicht, zum Kai zu kommen, wenn wir ablegen«, sagte Topaz mit einem Lächeln.

Jake nickte noch einmal, dann wandte er sich um und folgte Norland zu seinen Gemächern.

Galliana blickte den beiden noch einen Moment lang hinterher, dann schloss sie die Doppeltür und wandte sich wieder den drei Agenten zu, die bei den Fenstern warteten.

»Kommandantin«, fragte Topaz, »worüber wolltet Ihr mit uns sprechen?«

Galliana atmete einmal tief durch. »Es gibt noch eine weitere Anweisung bezüglich eures Einsatzes, und sie ist von größter Dringlichkeit. Sie richtet sich vor allem an Euch, Topaz, doch ist es ebenso wichtig, dass auch die anderen Teilnehmenden die Wichtigkeit verstehen …«


10

REISEZIEL A.D. 1506

Norland geleitete Jake zu einem der Türme. »Wie Ihnen vielleicht bereits aufgefallen ist, gibt es schrecklich viele Stufen auf dieser kleinen Insel«, sagte er gut gelaunt und schnitt dabei eine Grimasse. »Uns Ältere hält das ganz schön auf Trab.«

»Sie leben die meiste Zeit über hier, oder?«, fragte Jake höflich.

»Hier und in London. Mister Cole hat mich gern in seiner Nähe. Damit ich aufpassen kann, dass er seinen Kopf nicht auf dem Nachttisch liegen lässt, wenn er in der Früh aus dem Haus geht.« Norland prustete laut los vor Lachen, und seine rosigen Wangen wurden noch röter. Jake fand den Scherz zwar nicht ganz so lustig wie der Butler selbst, lächelte aber freundlich.

»Und Sie nehmen auch an den Einsätzen teil und reisen in andere Epochen der Geschichte?«

»Ich? Oh, nein, Sir. Es gab Probleme mit meiner Tatkraft, als ich jünger war … Die Formen in meinen Augen, wissen Sie, ich sah nur Sechsen und Siebenen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Es ist wundervoll, zu den Geschichtshütern zu gehören, in welcher Funktion auch immer.«

Da fiel Jake etwas ein, das er auf der Escape gehört hatte. »Sagten Sie nicht, Sie wären einmal in Österreich gewesen? Hätten Mozart auf dem Piano spielen hören …?«

»Ach, du meine Güte, Sie haben aber ein gutes Gedächtnis, Sir! Sie haben selbstverständlich vollkommen recht, doch diese Gelegenheit sollte mein erster und einziger Einsatz als Geheimagent bleiben. Dennoch war es ganz wunderbar«, antwortete Norland, und seine Augen wurden feucht, als er an jene Tage zurückdachte. »All die Pracht und die Herrlichkeit am habsburgischen Hof, all die Bälle und Tänze und die hochgestellten Persönlichkeiten mit ihren gepuderten Perücken …« Er machte eine Verbeugung, als fordere er eine Hofdame zum Tanz auf, und wischte sich die Tränen der Rührung vom Gesicht.

»So, hier wären wir«, sagte er schließlich, als sie vor einer schweren Eichenholztür angekommen waren. »Dieses hier war das Lieblingsgemach Ihrer Eltern. Sie waren ganz vernarrt in das Licht.« Er führte Jake in ein kleines, rundes, gleich unterm Dach eines der Schlosstürme gelegenes Zimmer. »Ich gehe davon aus, dass Sie vorhaben, später wieder nach unten zu kommen, um die anderen zu verabschieden. Bis dahin – fühlen Sie sich wie zu Hause.«

Norland wandte sich zum Gehen und blieb im Türrahmen noch einmal stehen. »Da es mir gerade einfällt: Diese Sache mit der Entführung tut mir aufrichtig leid. Es war nicht böse gemeint.«

»Schon in Ordnung«, gab Jake mit einem Zwinkern zurück. »War mal was anderes als diese langweiligen Freitagnachmittage.«

Der Butler wirkte immer noch ein wenig bedrückt. »Sie verzeihen mir doch, oder? Ich habe nur meine Befehle befolgt, Sir, wie Sie sicherlich verstehen werden.«

»Klar, vergeben und vergessen«, erwiderte Jake.

»Tatsächlich? Sie sind ein absoluter Gentleman!«, rief Norland erleichtert aus. »Wir beide werden bestens miteinander auskommen, das weiß ich jetzt schon«, fügte er seinerseits mit einem Zwinkern hinzu und schloss die Tür hinter sich.

Jake stellte seine Schultasche ab und sah sich um. Das Dachkämmerchen bot gerade genug Platz für das frischbezogene Himmelbett mit den dicken Kissen darauf und einen antiken, handbemalten Schrank.

Gedankenverloren ließ er sich auf das Bett fallen, streckte sich aus und starrte an die weiß getünchte Decke. Galliana hatte gesagt, er solle sich ausruhen, aber sein Kopf war viel zu voll von neuen Eindrücken, und außerdem hörte er Lärm von draußen: Es war Nathan, der Befehle erteilte. Jake stand wieder auf, öffnete das Fenster und schaute hinaus.

Der Anlegesteg lag direkt unterhalb seines Dachkämmerchens. Die Escape war verschwunden – wahrscheinlich in den geheimen Hafen im hohlen Inneren der Insel –, und an ihrer Stelle lag ein anderes, kleineres Schiff vor Anker; es war die Campana, die Topaz ihm zuvor gezeigt hatte. Ihr Rumpf war in einem kräftigen Ockerton lackiert, das Vorschiff stieg steil an, und sie hatte das für eine Galeere typische quadratische Segel. Nathan, der, wenn er Befehle brüllte, noch mehr wie ein Amerikaner klang, beaufsichtigte gerade ein paar Matrosen, die das Schiff beluden.

Jake ließ das Fenster offen und ging zum Schrank hinüber. Als er ihn öffnete, wurde er mit einem Schlag leichenblass: Er hatte erwartet, ihn leer vorzufinden, aber das war er nicht – und den Gegenstand, den er darin erblickte, kannte er nur allzu gut: Es war ein roter Koffer, der Koffer, den seine Eltern im Laden dabeigehabt hatten, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Jake nahm ihn, legte ihn aufs Bett und öffnete den Deckel. Sofort erkannte er die Sachen seiner Eltern, die sie angeblich für einen Kurztrip zu einer Sanitärmesse in Birmingham gepackt hatten, und neuerliche Furcht ergriff ihn. Er zog an dem Reißverschluss des Dokumentenfachs und nahm die beiden Pässe heraus, aus denen ihn die Gesichter seiner Eltern anblickten, wie sie verlegen in die Linse eines Fotoautomaten am Bahnhof von Greenwich lächelten.

Er konnte sich bestens an den Tag erinnern. Alan und Miriam hatten fünf Versuche gebraucht, um ein ordentliches Foto zustande zu kriegen, weil sie immer wieder in albernes Gekicher ausgebrochen waren, und die genervten Kommentare eines hinter ihnen wartenden Pendlers hatten alles nur noch schlimmer gemacht.

Als Jake so zwischen den Gesichtern seiner Mom und seines Dads hin und her blickte, wurde es ihm bewusster denn je – seine Eltern waren verschollen. Nicht nur irgendwo in Europa, sondern in der Zeit selbst. Jake wusste, dass sie ihre Pässe im Italien des sechzehnten Jahrhunderts zwar nicht brauchen würden, aber die Tatsache, dass er ihre Ausweise hier in Händen hielt, unterstrich ihre verzweifelte Lage: Was, wenn sie im Gefängnis saßen oder getrennt wurden? Was, wenn sie vielleicht schon …? Jake rannte zurück zum Fenster. Er brauchte dringend frische Luft.

Unter ihm waren die Matrosen immer noch damit beschäftigt, die Campana zu beladen, aber Nathan war nirgendwo mehr zu sehen.

Jake musste auf dieses Schiff. Er musste sich den anderen anschließen und bei der Suche nach seinen Eltern helfen.

Ich rede noch einmal mit Galliana, überlegte er. Sie muss verstehen, wie wichtig mir das ist. Ich habe schon meinen Bruder verloren. Sie kann nicht von mir erwarten, auch noch tatenlos zuzusehen, wie ich meine Eltern verliere.

Jake dachte an die betretenen Gesichter zurück, als er darum gebeten hatte, an dem Aufklärungseinsatz teilnehmen zu dürfen, und schüttelte den Kopf. Er wusste, was alle sich wahrscheinlich gedacht hatten: Jake hatte keinen blassen Schimmer von den Geschichtshütern und dem, was sie taten. Trotzdem musste er mit. Vielleicht war ja sogar sein Bruder noch am Leben.

Da kam ihm ein Gedanke: »Ich könnte mich als blinder Passagier an Bord schmuggeln«, flüsterte er. »Ich muss mich nur so lange verstecken, bis wir auf hoher See sind. Sie werden sich kaum die Zeit nehmen, mich wieder zurückzubringen. Dann brauche ich sie nur noch dazu zu überreden, mir was von dem Atomium zu geben, und ich bin dabei!«

Jake war nicht gerade wohl bei dem Gedanken, seine neuen Freunde zu täuschen, aber die Alternative war weit schlimmer. Er steckte die Pässe in die Brusttasche seines Blazers, hob seine Schultasche vom Boden auf und nahm eins der Bücher heraus: das Geschichtsbuch, über das Jupitus sich so verächtlich ausgelassen hatte. Jake blätterte es kurz durch und betrachtete die Illustrationen historischer Momente. Sein ganzes Leben lang hatte er sich gefragt, wie es wäre, dabei zu sein, in der Welt zu leben, die auf diesen Seiten lediglich in Vierfarbdruck wiedergegeben war. Er warf das Buch aufs Bett, ließ auch die Schultasche liegen und rannte los.

Er versuchte, den Weg zurück durch das Labyrinth aus Fluren und Treppen zu finden, musste mehrmals umkehren, wenn er sich getäuscht hatte, und erreichte schließlich die Rüstkammer, von der aus er zurück zur Haupttreppe gelangte. Wieder fühlte er sich von dem undurchdringlichen Blick Sejanus Poppoloes, des vor langer Zeit verstorbenen Gründers der Geschichtshüter, verfolgt, rannte weiter und öffnete vorsichtig das nietenbesetzte Tor, das zum Anlegesteg führte.

Glücklicherweise war keine Menschenseele in Sicht, und die Campana lag verlassen vor ihm. Jakes Herz pochte wie wild, während er sich auf Zehenspitzen vorwärtsschlich, auf das Schiff zu. Er wollte gerade die Laufplanke überqueren, als eine donnernde Stimme ertönte.

»Na, schon gut eingelebt?«, fragte Nathan, der plötzlich an Deck auftauchte und gemächlich seinen Umhang zuknöpfte.

Jake machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten. Nathan trug jetzt vollkommen andere Kleidung als noch vorhin: ein eng sitzendes Jackett und eine ebensolche Kniehose aus dunkelblauem Wildleder, dazu hohe, wunderbar weich aussehende Lederstiefel. An seiner Hüfte hing ein glänzender Degen, und um den Kopf hatte er sich ein Tuch gebunden, das ihn ein bisschen wie einen Piraten aussehen ließ.

»Ja, ganz gut«, antwortete Jake. »Das willst du für die Reise anziehen?«

»Die Mode im Italien des frühen sechzehnten Jahrhunderts ist eine komplizierte Angelegenheit«, erwiderte Nathan und steckte sich einen kleinen Diamanten ins Ohr, »aber ich würde sagen, ich habe die Balance ganz gut hingekriegt. Findest du nicht?«

»Sieht sehr authentisch aus«, stimmte Jake zu, auch wenn er keine Ahnung hatte, was für eine Art von Balance Nathan gemeint hatte. »Und ihr fahrt mit dem Schiff hier?«, schob er schnell hinterher, um Nathan davon abzuhalten, ihn zu fragen, was genau er hier eigentlich machte.

»Der alte Holzeimer mag äußerlich nicht viel hermachen, aber er hat uns noch nie im Stich gelassen«, antwortete Nathan und gab dem Mast einen kräftigen Klaps. »Der Legende nach hat Christoph Columbus sich auf diesem Schiff selbst das Segeln beigebracht.« Er sprang auf den Steg. »Jetzt muss ich den Rest meiner Garderobe zusammenstellen. Das Geheimnis eines bestechenden Aussehens – überall und zu jeder Gelegenheit – ist nämlich Folgendes: Variationsmöglichkeiten!« Mit diesen Worten schritt er zurück ins Schloss.

Nachdem Nathan verschwunden war, atmete Jake noch einmal kurz durch, tat so, als wolle er sich das Schiff nur ansehen, überquerte die Laufplanke und ging an Deck. Nur für den Fall, dass jemand ihn beobachtete, verbrachte er extra viel Zeit damit, die Segel zu begutachten, den Mast und das Steuerrad, bevor er sich ein letztes Mal verstohlen umsah und über die knarrenden Stufen des nächstbesten Niedergangs unter Deck verschwand.

Unten angekommen, begann er sofort mit der Suche nach einem geeigneten Versteck. Es gab eine kleine Kombüse mit zwei Ausgängen, von denen der eine zu einer gemütlichen Kabine im Bug führte, in der Topaz’ Reisekoffer stand, und der andere zu einer winzigen Kajüte mit einer einfachen Holzpritsche darin, auf der sich Nathans Schrankkoffer stapelten.

In diesem Moment hörte Jake ein dumpfes Geräusch oben an Deck. Es wurde weitere Ladung an Bord gebracht. Dann erklang erneut Nathans Stimme: »Das wäre alles. Bringt die Koffer einfach in meine Kajüte. Ich werde die Sachen selbst auspacken. Aber Vorsicht, der Mantel in dieser Kiste da hat einmal Karl dem Großen gehört!«

Jake hörte Schritte unter Deck kommen und dann einen Aufschrei, als einer der Träger ein schweres Gepäckstück fallen ließ, gefolgt von einem gemurmelten »Gott sei Dank hat der amerikanische Lackaffe das nicht gesehen«.

Jake konnte sich gerade noch hinter der Tür verstecken, als die beiden Träger hereinkamen und den Rest von Nathans Schrankkoffern in die Kajüte schleppten.

»Wozu braucht dieser halbwüchsige Geck das alles überhaupt?«, fragte der andere, dann gingen sie zurück an Deck, und Jake hörte, wie sie das Schiff verließen.

»Ich kann das unmöglich tun«, murmelte Jake und verließ Nathans Kajüte. Er hatte kaum den Niedergang erreicht, da kehrte er wieder um, zog die Ausweise seiner Eltern aus der Brusttasche und betrachtete die Passbilder. »Und wenn es den anderen nicht wichtig genug ist, sie zu retten …?«, fragte er sich, und seine Entschlossenheit war wieder da. Genau in diesem Moment entdeckte er eine Luke im Boden. Jake öffnete sie und sah eine Leiter, die hinunter in den schummrigen Schiffsbauch führte.

Wie die Escape war auch die Campana mit einem Dampfantrieb ausgestattet worden, und Jake sah im düsteren Zwielicht die Umrisse einer Maschine, die ihn entfernt an einen alten Kohleofen erinnerte. Zwischen Stapeln von Brennholz und Proviantkisten gab es jede Menge dunkler Ecken – es war das perfekte Versteck! Mucksmäuschenstill kletterte Jake die Leiter hinunter und schloss die Luke hinter sich. Mit ausgestreckten Armen tastete er sich durch die nachtschwarze Finsternis vor zum Bug und kauerte sich zwischen ein paar Kisten.

Da fiel ihm ein, dass er immer noch seine »uncharmante« Schuluniform trug, und ein gewisses Gefühl des Bedauerns überkam ihn, weil er den Termin mit Signore Gondolfino verpassen würde. Mehr denn je sehnte er sich danach, Teil dieser eleganten, magischen Welt zu sein, in die er hineingeraten war.

Ein paar Minuten später hörte Jake die gedämpften Stimmen von Menschen, die sich am Kai versammelten, dann spürte er ein leichtes Schaukeln, als die Agenten an Bord gingen. Nathan hielt eine kurze Stegreifrede, die hauptsächlich aus Formulierungen wie »Ruhm und Ehre« und »zum Wohl der Menschheit« zu bestehen schien, dann gab Topaz den Befehl zum Segelsetzen, und mit einem letzten Ruck glitt die Campana vom Steg weg.

Jake wurde mulmig zumute: Er musste die anderen wissen lassen, dass er an Bord war, und das am besten sofort.

Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen schloss er in der undurchdringlichen Dunkelheit des Schiffsbauchs die Augen und stellte sich seine Eltern vor, wie sie in irgendeinem Kerker saßen und halb verhungert auf ihren Folterknecht warteten. Er dachte an seinen Bruder Philip, wie er ihn jedes Mal, wenn Jake traurig war, aufgemuntert hatte. Während eines verregneten Campingurlaubs in Südengland war er sogar einmal die ganze Nacht lang wach geblieben, um Jake vor dem Bösen Riesen zu beschützen, der seiner Meinung nach im Wald lauerte. Nicht alle älteren Brüder waren so nett zu ihren jüngeren Geschwistern, aber Philip war eben der beste Bruder, den man sich nur wünschen konnte. Gewesen, dachte Jake düster.

Mit jeder Seemeile, die die Campana zwischen sich und die Insel brachte, rumorte es stärker in Jakes Bauch, und er konnte förmlich hören, wie seine Tante Rose durchs Schloss lief und sich fragte: »Wohin zum Teufel ist Jake bloß verschwunden? Wird wohl eingenickt sein …«

Etwa eine Stunde später waren ihm sämtliche Gliedmaßen eingeschlafen, und Jake fühlte sich mehr als nur ein bisschen seekrank. Aus der Kombüse hörte er die Stimmen von Nathan, Topaz und Charlie Chieverley. Jemand kochte gerade etwas zu essen, und Jake stiegen so verführerische Düfte in die Nase, dass sein Magen laut zu knurren begann.

Er verlagerte sein Gewicht etwas, um das Taubheitsgefühl in seinen Beinen zu bekämpfen, da sah er, wie zwei kleine gelbe Augen ihn aus der Finsternis anstarrten. Jake erschrak so heftig, dass er einen lauten Schrei ausstieß und einen Satz nach hinten machte, was einen Stapel Kisten zum Einsturz brachte. Keuchend spähte er in die Düsternis des Schiffsrumpfs, bis er die gelben Augen wieder entdeckte, wie sie gerade in einer noch dunkleren Ecke des Frachtraums verschwanden.

»Ratten! Ich hasse Ratten!«, fluchte Jake.

Da fiel ihm auf, dass die Stimmen der anderen verstummt waren.

Schon öffnete sich knarrend die Luke über ihm, und Nathan kam mit gezogenem Degen die Leiter heruntergeklettert. »Gebt Euch zu erkennen, oder tretet Eurem Schöpfer gegenüber!«, rief er breitbeinig dastehend.

Jake kam mühsam auf die Beine und hob die Hände über den Kopf.

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragte Nathan wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Jake stand in der Kombüse und blickte nervös zwischen drei ihn unfreundlich anstarrenden Augenpaaren hin und her (insgesamt waren es vier, wenn man Mr Drake mitzählte). Topaz und Charlie hatten, wie Nathan, Garderobe aus dem sechzehnten Jahrhundert angelegt. Topaz sah umwerfend aus in dem cremefarbenen Seidengewand mit dem rechteckigen Kragenausschnitt und den Trompetenärmeln. Charlie, der, egal was er anzog, immer aussah wie ein etwas verrückter Wissenschaftler, trug ein Wams und eine Strumpfhose mit kleinen roten Karos darauf, dazu ein Filzbarett mit angesteckter Feder.

»Denkst du, das alles hier wäre nur ein Spiel?«, tobte Nathan. »Wir sind auf dem Weg zu einem Einsatz. Es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Nicht nur Menschenleben, ganze Zivilisationen!«, fügte er mit extra viel Pathos hinzu.

»Ich wollte nur …«

»Du wolltest nur was?«

Nathan war nicht wiederzuerkennen. Er hatte nichts mehr von dem gut gelaunten Charmeur, den Jake bei seiner Ankunft kennengelernt hatte.

»Ich wollte nur meine Eltern finden.«

»Das ist nicht deine Aufgabe«, erwiderte Nathan. »Wir müssen ihn zurück zur Insel bringen«, sagte er nachdrücklich zu den anderen.

»Ce n’est pas possible. Wir sind kaum noch zwanzig Seemeilen vom Horizontpunkt entfernt.« Topaz deutete auf den Konstantor, der über dem Esstisch hing. »Wir verlieren einen ganzen Tag.«

»Nun, daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Er würde nur alles vermasseln. Charlie, wende das Schiff!«

»Topaz hat recht. Wir verlieren einen ganzen Tag«, entgegnete Charlie und ging zur Kochstelle zurück, wo er drei Pfannen gleichzeitig auf dem Feuer hatte. Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk wendete er die in einer davon schmorenden Champignons.

Wieder schlug Nathan zornig auf den Tisch. »Ein Frischling wie er kann noch keine so weite Reise machen! Es geht hier nicht um einen kleinen Spaziergang ins Jahr 1805, sondern um einen Sprung über mehr als drei Jahrhunderte hinweg. Wenn er explodiert, sind wir alle geliefert!«

Jake blickte Nathan entsetzt an. Hatte er tatsächlich soeben »explodiert« gesagt?

»Und außerdem, seht ihn euch doch an«, wetterte Nathan weiter. »Er trägt eine Schuluniform. Könnte etwas auffällig sein, meint ihr nicht?«

»Ach, komm schon. Du hast genug modischen Schnickschnack in deiner Kajüte, um eine ganze Armee damit auszustaffieren«, konterte Topaz.

Doch Nathan blieb hart. »Dann setzen wir ihn eben im Ruderboot aus. Er wird den Weg zurück schon finden.«

»Rede nicht solchen Unsinn!«, widersprach Topaz. »Wie soll er das allein denn schaffen?«

»Das ist wohl kaum unser Problem.«

»Nathan, er ist ein Diamant. Oberste Kategorie, wie Jupitus Cole selbst gesagt hat. Er wird nicht explodieren. Außerdem bin ich die Anführerin dieser Gruppe und treffe die Entscheidungen.« Mit diesen Worten drehte sie sich zu Jake um und sagte: »Du kannst an Bord der Campana bleiben. Aber wenn wir in Venedig sind, hältst du dich im Hintergrund, verstanden?«

Jake nickte und blickte den dreien ernst ins Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich mich an Bord geschmuggelt habe. Es war ein Fehler. Aber ich verspreche, dass ich von jetzt an alles tun werde, um euch zu helfen.«

Topaz’ strenger Gesichtsausdruck wurde etwas milder, und Nathan ließ sich achselzuckend in seinen Stuhl fallen. »Oberste Kategorie?«, murmelte er. »Wer hätte das gedacht …«

»Was genau bedeutet … ›explodieren‹?«, fragte Jake kleinlaut.

»Solange sich dein Körper noch nicht ausreichend an hohe Konzentrationen von Atomium angepasst hat, was eine ganze Weile dauern kann«, erklärte Charlie und blickte von seinen Pfannen auf, »kannst du im Flux Temporum hängen bleiben. Deine Atome zerfallen in Millionen kleinster Partikel – du gehst hoch wie eine Wasserstoffbombe und nimmst uns alle mit ins Nirwana.« Er zog eine Auflaufform aus dem Rohr und kostete den Inhalt. »Ein Gedicht, dieses Zucchini-Soufflé. Ich glaube, dieses Mal habe ich mich glatt selbst übertroffen.«

Jake hatte zwar keinen sonderlichen Appetit, aber mit dem Menü, das Charlie da mal eben nebenbei gezaubert hatte, hätte er locker jeden Kochwettbewerb gewonnen. Es bestand aus Kirschtomaten-Bruschetta, gefüllten Zwergpaprika mit marinierten Champignons und einer Himbeertorte mit Sahnebaiser als Nachtisch. Wie sich herausstellte, war Charlie strikter Vegetarier und hatte das Kochen am kaiserlichen Hof Napoleons gelernt.

Nachdem der Tisch abgeräumt war, stellte Topaz ein kleines Kästchen auf den Tisch, und es trat Totenstille ein. Sie öffnete den Deckel, nahm die Phiole mit dem Atomium und die Horizontschale heraus. Die letzte halbe Stunde hatte Jake damit verbracht, sich vorzustellen, wie er explodierte, und sich gefragt, wie blutig ein solcher Tod wohl aussehen würde.

Das Atomium schmeckte widerlich, wie ausgelaufene Batterieflüssigkeit, dachte Jake, und seine Wirkung setzte schneller und heftiger ein als beim letzten Mal – er hatte es kaum geschluckt, da kippte Jake auch schon rückwärts vom Stuhl. Er kam erst wieder zu Bewusstsein, als er Charlies piksende Finger zwischen den Rippen spürte.

»Wach auf. Du kannst jetzt nicht schlafen. Wach auf.«

Jake versuchte, seinen Blick fest auf die Gesichter über ihm zu heften.

»Wach endlich auf! Jetzt zu schlafen ist verdammt gefährlich.«

»Sind wir schon da? In Venedig?«, fragte Jake und verlor erneut das Bewusstsein.

Nathan nickte Charlie kurz zu, der Jake daraufhin ein Glas mit eiskaltem Wasser ins Gesicht kippte.

Mit einem lauten Keuchen fuhr Jake hoch. »Ich will nicht explodieren!«, schrie er. Zwei Minuten später war er wieder weg, und so ging es noch eine halbe Stunde weiter, bis Topaz schließlich vom Deck herunterrief: »Noch fünf Minuten bis zum Horizontpunkt!«

Jakes Befinden änderte sich schlagartig. Mit plötzlich aufwallender Energie schnellte er vom Boden hoch, rief »Wir fliegen, wir fliegen!« und tanzte im Kreuzschritt durch die Kombüse.

Nathan wandte, als schämte er sich für ihn, den Blick ab, und Mr Drake folgte seinem Beispiel.

»Ich muss mit Topaz sprechen!«, verkündete Jake und stürmte an Deck, wo er sie wie der Filmheld, als der er sich in diesem Augenblick fühlte, leidenschaftlich in die Arme schloss.

Topaz schnappte verblüfft nach Luft und lächelte verlegen. Inzwischen war auch Charlie an Deck gekommen und schüttelte nur verdutzt den Kopf.

Jake wollte Topaz gerade küssen – da hatten sie den Horizontpunkt erreicht, und wie beim ersten Mal hatte er das Gefühl, wie eine Rakete in die Höhe zu schießen. Sein Alter Ego – oder was auch immer es war – raste auf den Rand der Erdatmosphäre zu, dorthin, wo das zarte Blau zu tiefem Schwarz wurde, und unter sich sah Jake das Mittelmeer, wie es sich an Frankreich, Spanien und den italienischen Stiefel schmiegte, schräg darüber, unter einer gigantischen Nebelbank, lagen die Britischen Inseln, genau wie im Wetterbericht im Fernsehen. Dann hatte seine Flugbahn den Zenit überschritten, und er stürzte wieder aufs Wasser zu. Jake sah sich selbst auf dem Deck der Campana, wie er Topaz umklammert hielt, dann brach er auf dem Deck der alten Galeere zusammen, schüttelte und krümmte sich vor Lachen.

Charlie warf einen Blick auf seine Uhr und tippte lächelnd auf die Datumsanzeige. »Wir sind da: 15. Juli 1506.«

Es war stockfinstere Nacht und ziemlich heiß. Das Meer war spiegelglatt und am Firmament glitzerten Myriaden von Sternen. Jakes Kopf dröhnte wie nie zuvor in seinem Leben, und ihm wurde die Peinlichkeit seiner Situation bewusst: Er wollte lieber sterben als Topaz in die Augen sehen. Nach kurzem Überlegen entschied er sich gegen beide Optionen und zog stattdessen seinen Blazer aus, um wenigstens die Hitze ein wenig besser ertragen zu können. Vorsichtig setzte er sich auf die Holzplanken und blickte achtern auf die sich zurückziehende See.

Es war pechschwarze Nacht, alle auf Mont Saint-Michel schliefen tief und fest. Das gelegentliche Flackern einer Kerzenflamme war die einzige Bewegung in der absoluten Stille auf den verlassenen Gängen und Treppenhäusern des Schlosses. Auch die Seevögel schliefen stumm in ihren Nestern zwischen den dunklen Granittürmen und -rondellen.

Eine Gestalt in einer dunkelblauen Kutte trat mit einem Kerzenleuchter in der Hand aus dem Zwielicht eines Bogengangs und schlich auf Zehenspitzen zur Eingangstür des Kommunikationsraums. Die Gestalt – es war unmöglich zu sagen, ob Mann oder Frau – hielt kurz inne und sah sich um, dann öffnete sie vorsichtig die quietschende Tür und schlüpfte hinein.

Der Raum war in gespenstisches Mondlicht getaucht. In der Mitte der Glasschrank mit dem Meslith-Nukleus, daneben, an der Wand entlang aufgereiht, die vier anderen Meslith-Maschinen. Die Gestalt setzte sich an einen der Schreiber und begann zu tippen. Die Kristallantenne des Geräts sprühte zuckende Funken, deren Licht wie Sternschnuppenschweife über die Wände des Raums tanzte. Flüsternd wiederholte der Eindringling die Worte der Nachricht, die er soeben auf den Weg geschickt hatte:

»Agenten ankommen fünfzehnter Juli, Banchina dei Ognissanti, Venedig …«

Zufrieden mit dem Ergebnis seiner Arbeit erhob sich der blaue Schatten, schob den Stuhl unter das Pult zurück, wischte die Tastatur des Meslith-Schreibers mit einem Taschentuch ab und stahl sich davon.

Noch während er über die Flure des Schlosses huschte, machte das Signal sich auf die Reise durch Raum und Zeit, sprang zu dem Blitzableiter, der aus dem höchsten Turm des Schlosses ragte, und von dort – noch heller jetzt, sodass selbst die dunklen Wolken am Nachthimmel kurz in seinem Licht erstrahlten – in den Flux Temporum. Durch Billiarden von Atomen unbelebter Materie fand es seinen Weg durch die Jahrhunderte, um schließlich die Antenne eines anderen Meslith-Schreibers zum Flackern zu bringen, der auf einem Tisch vor einem Fenster stand, das über die Dächer eines schlafenden, spätmittelalterlichen Venedig blickte. Ein Mann wurde von dem zuckenden Lichtschein geweckt, und die lange Narbe, die über eine Seite seines kahlrasierten Schädels verlief, glänzte violett im Schimmer der glühenden Antenne. Schwerfällig erhob er sich von seinem Strohlager und rief einen Befehl.

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