Niemand wußte genau, wann Mr. Hallinan in New Brewster einzog. Lonny Dewitt, der es eigentlich hätte wissen müssen, bestätigte, daß M. Hallinan am 3. Dezember um 3.30 Uhr nachmittags starb, aber was den Tag seiner Ankunft betraf, konnte niemand eine genaue Angabe machen.
Es war einfach so, daß niemand in dem leeren Einfamilienhaus am Melonenhügel wohnte, und dann war er einfach da, bereit und willens, seine Freundlichkeit über die ganze Vorstadtgemeinschaft zu verbreiten.
Daisy Moncrieff, New Brewsters unermüdliche Gastgeberin, war die erste, die mit Mr. Hallinan Verbindung aufnahm. Vor zwei Tagen hatte sie in dem Haus am Melonenhügel Licht gesehen, und heute früh hatte sie beschlossen, sich die Neuankömmlinge näher anzusehen, um ihren Platz in der Gesellschaft von New Brewster zu bestimmen. Sie hüllte sich in einen leichten Schal — es war nämlich ein ziemlich kühler Oktobertag — verließ ihr Haus und begab sich zu Fuß die Copperbeech Straße bis zum Melonenhügel hinauf.
Der Name stand bereits auf dem Briefkasten: DAVIS HALLINAN. Das deutete darauf hin, daß die Neuankömmlinge doch schon längere Zeit hier wohnten, dachte Mrs. Moncrieff. Vielleicht waren sie sogar beleidigt, weil ihre Einladung erst so spät kam. Sie zuckte die Achseln und betätigte den Klopfer.
Ein hochgewachsener Mann in mittleren Jahren erschien und lächelte freundlich. So war Mrs. Moncrieff die erste Einwohnerin von New Brewster, die jener seltsamen Wärme teilhaftig wurde, die Davis Hallinan bis zu seinem seltsamen Tod in New Brewster ausstrahlte. Seine Augen waren groß, und ein warmes Licht glänzte in ihnen. Sein Haar war ergraut, und er trug es in einer langen gepflegten Mähne.
„Guten Morgen, ich bin Mrs. Moncrieff — Daisy Moncrieff, aus dem großen Haus unten an der Copperbeech Road. Sie müssen Mr. Hallinan sein. Darf ich hereinkommen?“
„Äh — bitte nicht, Mrs. Moncrieff. Hier sieht es noch chaotisch aus. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir auf der Terrasse bleiben?“
Er schloß die Tür hinter sich — später behauptete Mrs. Moncrieff, sie hätte das Innere des Hauses flüchtig gesehen und unbemalte Wände und staubbedeckte rohe Fußböden erblickt — und schob ihr einen rostigen Gartenstuhl zurecht.
„Ist Ihre Frau zu Hause, Mr. Hallinan?“
„Hier bin nur ich — ich bin alleinstehend.“
„Oh.“ Mrs. Moncrieff verstand es geschickt, mit einem Lächeln darüber hinwegzugehen, daß sie das höchst unpassend fand. In New Brewster war jedermann verheiratet. Allein der Gedanke, daß ein Junggeselle oder ein Witwer sich hier niederlassen könnte, war seltsam … aber eigentlich gar nicht unangenehm, fügte sie in Gedanken und über sich selbst überrascht hinzu.
„Der Zweck meines Kommens war, Sie für heute abend einzuladen, damit Sie ein paar von Ihren neuen Nachbarn kennenlernen — wenn Sie Zeit haben, heißt das. Ich gebe heute abend eine Cocktailparty, gegen sechs, und wir würden uns freuen, wenn Sie kommen würden.“
Seine Augen blitzten freundlich. „Aber natürlich, Mrs. Moncrieff. Ich freue mich jetzt schon darauf.“
Die „Hautevolee“ von New Brewster wartete schon kurz nach sechs voll Ungeduld im Hause der Moncrieff, aber es wurde beinahe 6.15 Uhr, bis Mr. Hallinan eintraf. Bis dahin war dank Daisy Moncrieffs Geschick als Gastgeberin schon jeder Anwesende mit etwas zu trinken und einer Anzahl Vermutungen über den geheimnisvollen Junggesellen am Berg versehen.
„Ich bin sicher, daß er ein Schriftsteller ist“, sagte Martha Weede zu Dudley Heyer. „Daisy sagt, er sei groß und gutaussehend und strahle geradezu Persönlichkeit aus. Vermutlich ist er nur für ein paar Monate hier — gerade lange genug, um uns alle kennen zu lernen, und dann wird er ein Buch über uns schreiben.“
„Hm, ja“, sagte Heyer. Er war Werbefachmann und fuhr jeden Morgen mit dem Vorortzug nach Ney York, wo er in der Madison Avenue tätig war. Er hatte ein Magengeschwür und war sich seiner Rolle als ,Typ’ sehr wohl bewußt. „Ja, dann wird er einen Roman über die vorstädtische Dekadenz schreiben, oder vielleicht auch ein paar beißende Essays für The New Yorker. Ich kenne den Schlag.“
In diesem Augenblick tauchte Daisy Moncrieff mit Davis Hallinan im Schlepptau auf, und die Unterhaltung verstummte abrupt, während alle Gäste ihm entgegenstarrten. Im nächsten Augenblick war die Gruppe sich ihres gemeinsamen faux pas bewußt und begann wieder zu plaudern, während Daisy sich zwischen ihren Gästen bewegte, um ihr Opfer vorzustellen.
„Dudley, das ist Mr. Davis Hallinan. Mr. Hallinan, ich möchte Ihnen Dudley Heyer, einen der talentiertesten Männer von New Brewster, vorstellen.“
„Ja? — Was machen Sie denn, Mr. Heyer?“
„Ich arbeite in der Werbung. Aber lassen Sie sich nichts erzählen — dazu gehört wirklich kein Talent. Nur einfach der Wunsch, das Publikum hinters Licht zu führen. Aber wie steht es mit Ihnen? Was machen Sie denn?“
Mr. Hallinan ging nicht auf die Frage ein. „Ich habe die Werbung immer schon für ein Feld gehalten, das schöpferische Initiative erfordert, Mr. Heyer. Aber ich habe natürlich nie aus eigener Anschauung …“
„Nun, ich schon. Und ich sage Ihnen, es ist verheerend.“ Heyer spürte, wie sein Gesicht sich rötete, als hätte er bereits zuviel getrunken. Er wurde redselig und empfand Hallinans Anwesenheit seltsam beruhigend. Er beugte sich zu ihm herüber und meinte: „Nur zu Ihnen gesagt, Hallinan, ich würde mein ganzes Bankkonto dafür geben, einmal zu Hause bleiben zu dürfen und zu schreiben. Nur schreiben. Ich würde gerne einen Roman schreiben. Aber ich habe nicht den Mumm dazu, das ist das Ärgerliche. Ich weiß, daß am nächsten Ersten wieder ein Scheck über vierzehnhundert Dollar auf meinem Schreibtisch liegt, und ich wage einfach nicht, das aufzugeben. Also schreibe ich meinen Roman nur hier oben im Kopf und ärgere mich.“ Er hielt inne und merkte, daß er zuviel gesagt hatte und daß seine Augen fiebrig glänzten.
Hallinan lächelte gütig. „Es ist immer traurig, ein verborgenes Talent zu sehen, Mr. Heyer. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück.“
In diesem Augenblick tauchte Daisy Moncrieff auf, hakte sich bei Hallinan ein und führte ihn weg. Heyer, wieder alleingelassen, blickte auf den flauschigen Teppich hinunter.
Warum habe ich ihm jetzt alles das gesagt? fragte er sich. Eine Minute nachdem er Hallinans Bekanntschaft gemacht hatte, hatte er seinen größten Kummer auf ihn abgeladen — etwas, das er noch keinem Menschen in ganz New Brewster, nicht einmal seiner Frau, anvertraut hatte.
Und doch — es hatte irgendwie eine @kathartische Wirkung auf ihn gehabt, dachte Heyer. Hallinan hatte seinen ganzen Kummer und seinen inneren Kampf sozusagen in sich aufgesogen, und Heyer fühlte sich jetzt erleichtert und gereinigt.
Lys und Leslie Erwin befanden sich wie gewöhnlich an den entgegengesetzten Enden des Saales. Mrs. Moncrieff stieß zuerst auf Lys und stellte ihr Mr. Hallinan vor.
Lys sah ihn an und zog sich impulsiv das Kleid höher. „Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Hallinan. Ich möchte Ihnen gern meinen Mann vorstellen. Leslie! Würdest du ‘mal herkommen, bitte?“
Leslie Erwin kam näher. Er war zwanzig Jahre älter als seine Frau und Träger der schönsten Hörner in ganz New Brewster, wie allgemein bekannt war — ein Gehörn übrigens, das beinahe jede Woche ein paar neue Spitzen bekam.
„Les, das ist Mr. Hallinan. Mr. Hallinan, ich darf Ihnen meinen Mann vorstellen.“
Mr. Hallinan verbeugte sich höflich vor beiden. „Sehr erfreut.“
„Ebenfalls“, nickte Erwin. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …“
„Das Ekel“, sagte Lys Erwin, als ihr Ehegespons sich an seinen Platz an der Bar zurückgezogen hatte. „Ich glaube, er würde sich lieber eine Kugel durch den Kopf jagen, als zwei Minuten mit mir in der Öffentlichkeit gesehen zu werden.“ Sie sah Hallinan verbittert an. „Verdiene ich diese Behandlung vielleicht?“
Mr. Hallinan runzelte mitfühlend die Stirn. „Haben Sie Kinder, Mrs. Erwin?“
„Ha! Das würde er nie wollen — bei meinem Ruf! Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe vielleicht etwas zu viel getrunken.“
„Ich verstehe, Mrs. Erwin.“
„Ich weiß. Seltsam, ich kenne Sie kaum, und doch kann ich Sie gut leiden. Sie scheinen mich wirklich zu verstehen.“ Sie griff nach seinem Ärmel. „Ich brauche Sie nur anzusehen, da weiß ich schon, daß Sie mich anders einschätzen als die anderen. Ich bin nicht wirklich schlecht, oder? Ich langweile mich nur maßlos.“
„Langeweile ist ein großes Übel“, stellte Mr. Hallinan fest.
„Das kann man wohl sagen. Und Leslie hilft mir in dieser Beziehung wirklich gar nicht. Immer seine Zeitung — und wenn er einmal nicht liest, dann redet er mit seinem Makler.“ Sie sah sich um. „In einer Minute wird man anfangen, über uns zu reden, Mr. Hallinan. Jedesmal, wenn ich mich mit einem Mann unterhalte, fangen sie an zu flüstern. Aber Sie müssen mir etwas versprechen …“
„Wenn ich kann.“
„Irgendwann — bald — müssen wir einmal zusammenkommen. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Gott, ich möchte mit jemandem sprechen — jemand, der wirklich versteht, weshalb ich so bin. Wollen Sie?“
„Aber natürlich, Mrs. Erwin. Bald.“ Er löste sachte ihre Hand von seinem Ärmel, hielt sie einen Augenblick fest und ließ sie dann los. Sie lächelte ihm hoffnungsvoll zu, und er nickte.
„Aber jetzt muß ich die anderen Gäste kennenlernen. Es war mir ein Vergnügen, Mrs. Erwin.“
Er ging weiter und ließ Lys mitten im Saal stehen. Sie atmete tief ein und zog sich das Kleid wieder etwas weiter herunter.
Wenigstens ist ein vernünftiger Mann in dieser Stadt, dachte sie. An Hallinan war etwas so — so Gütiges, Freundliches, Verständnisvolles.
Verständnis — das ist es, was ich brauche. Sie fragte sich, ob sie wohl nachmittags dem Haus auf dem Melonenhügel einen kleinen Besuch abstatten konnte, ohne daß es einen zu großen Skandal gab.
Mr. Hallinan erfuhr inzwischen von Martha Weede, wie sie ihren Mann um seine Intelligenz beneidete, und Lys Erwin hatte unterdessen Gelegenheit, Dudley Heyer zu sagen, daß Mr. Hallinan ein sehr freundlicher und verständnisvoller Mensch sei. Und Heyer, der noch nie an jemand ein gutes Haar gelassen hatte, stimmte zu.
Und später, während Mr. Hallinan von Leslie Erwin sich ein Klagelied über die eheliche Untreue seiner Frau anhörte, sagte Martha Weede zu Lys Erwin, „er ist so sanft — beinahe wie ein Heiliger.“
Und während Harold Dewitt seiner Angst Ausdruck verlieh, daß sein schweigsamer neunjähriger Sohn Lonny in irgendeiner Beziehung nicht ganz normal war, weil er gar nicht den richtigen Kontakt zu seinen Spielgefährten fand, meinte Leslie Erwin gegenüber Daisy Moncrieff: „Der Mann ist bestimmt ein Psychiater. Er weiß, wie man mit einem Menschen spricht. Binnen zwei Minuten habe ich ihm meinen ganzen Kummer erzählt. Ich fühle mich jetzt wie erneuert.“
Mrs. Moncrieff nickte. „Ich weiß, was Sie meinen. Als ich ihn heute morgen einlud, unterhielten wir uns eine Weile auf seiner Terrasse.“
„Nun“, meinte Erwin, „wenn er Psychiater ist, wird er hier eine Menge Arbeit finden. Hier gibt es doch keinen einzigen Menschen, der nicht seinen kleinen Tick hat. Nehmen Sie zum Beispiel Heyer dort drüben — der hat seine Magengeschwüre auch nicht aus reinem Glück bekommen. Und dieser Hohlkopf Martha Weede — mit einem Professor von der Columbia Universität verheiratet, der nicht weiß, worüber er mit ihr reden soll. Und meine Frau ist natürlich auch eine ziemlich konfuse Person.“
„Wir haben alle unsere Probleme“, seufzte Mrs. Moncrieff. „Aber mir ist jedenfalls viel wohler, seit ich mit Mr. Hallinan gesprochen habe. Ja, viel besser.“
Als Lys am nächsten Morgen aufwachte, war ein Teil der seltsamen Abgeklärtheit des vergangenen Abends von ihr gewichen. Ich muß mit Mr. Hallinan reden, dachte sie.
Sie war am vergangenen Abend mit ihrem Mann nach Hause gefahren und sogar einigermaßen höflich zu ihm gewesen. Und Leslie seinerseits war das auch gewesen. Es war direkt ungewöhnlich.
„Dieser Hallinan“, hatte er gesagt, „ein großartiger Bursche.“
„Du hast auch mit ihm gesprochen?“
„Hm. Habe ihm eine Menge erzählt. Vielleicht sogar zuviel. Aber mir ist seitdem wohler.“
„Seltsam“, sagte sie, „mir auch. Ein eigenartiger Mensch, nicht? Wandert auf der Party herum und hört sich die Wehwehchen von jedem an. Gestern abend hat man ihm bestimmt sämtliche Neurosen von ganz New Brewster auf den Rücken geladen.“
„Schien ihn aber nicht zu bedrücken. Je mehr er mit den Leuten sprach, desto freundlicher und gelöster kam er mir vor. Auf uns hat er ja auch seine Wirkung gehabt. Du siehst ganz entspannt aus, Lys, besser als seit Monaten.“
„Das bin ich auch. All das Häßliche und Böse ist von mir genommen.“
Und so hatte sie sich auch noch am nächsten Morgen gefühlt. Lys wachte auf, blinzelte, blickte auf das leere Bett neben sich. Leslie war schon lange auf dem Weg zur Stadt. Sie wußte, daß sie wieder mit Hallinan sprechen mußte. Sie war noch nicht alles losgeworden. Da war immer noch etwas von dem Gift in ihr, das unter Mr. Hallinans Warme dahinschmelzen würde.
Sie zog sich ungeduldig an, braute sich einen Kaffee und ging aus dem Haus; die Copperbeech Road hinunter, am Haus der Moncrieffs vorbei, wo Daisy und ihr steifer Mann Fred damit beschäftigt waren, die Aschenbecher vom vergangenen Abend auszuleeren, und dann den Melonenhügel hinauf zu dem kleinen Häuschen.
Mr. Hallinan kam in einem karierten Morgenmantel an die Tür. Er wirkte ziemlich müde, beinahe verkatert. Die Lider seiner dunklen Augen waren geschwollen, und auf seinen Wangen war ein leichter Anflug von Stoppeln zu sehen.
„Ja, Mrs. Erwin?“
„Oh — guten Morgen, Mr. Hallinan. Ich — ich wollte Sie sprechen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht — das heißt …“
„Schon gut, Mrs. Erwin. Aber ich bin leider wirklich noch sehr müde von gestern abend, und ich wäre jetzt bestimmt kein besonders guter. Gesellschafter.“
„Aber Sie sagten doch, Sie würden heute allein mit mir sprechen. Und — oh, da ist noch soviel, was ich Ihnen sagen muß.“
Ein Schatten von — Furcht, Panik, Angst? — strich über sein Gesicht. „Nein“, sagte er hastig. „Nicht noch mehr — nicht jetzt. Ich muß heute ruhen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie erst am Mittwoch wiederkämen?“
„Aber natürlich nicht, Mr. Hallinan. Ich möchte wirklich nicht stören.“
Sie wandte sich um und ging den Hügel hinab. Er hat gestern abend zuviel von unseren Sorgen in sieb aufgenommen, dachte sie. Er hat sie aufgesogen wie ein Schwamm, und heute muß er sie verdauen …
Oh, was denke ich?
Sie erreichte den Fuß des Hügels, wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und ging schnell nach Hause.
Und das entwickelte sich in New Brewster zu einer Routine. In den sechs Wochen bis zu seinem Tode war Mr. Hallinan eine feste Einrichtung bei allen Zusammenkünften der Gesellschaft — stets makellos gekleidet, stets mit einem freundlichen Lächeln um die Lippen, stets imstande, die geheimen Triebe und Ängste, die in den Seelen seiner Nachbarn lauerten, hervorzuholen.
Und jedesmal am Tage nach solchen Veranstaltungen war Mr. Hallinan nicht zu sprechen und wies freundlich, aber fest, einen jeden Besucher ab. Was er allein in dem Haus auf dem Melonenhügel tat, wußte niemand. Im Laufe der Zeit wurde den Leuten bewußt, daß niemand besonders viel über Mr. Hallinan wußte.
Er kannte sie alle, das schon, wußte um den einen Ehebruch vor zwanzig Jahren, der heute noch auf Daisy Moncrieffs Gewissen lastete, kannte den Schmerz, der in Dudley Heyers Herz wühlte, den blassen Neid, der in Martha Weede glitzerte, die Einsamkeit Lys Erwins und die Wut ihres Mannes — all dies und noch vieles andere wußte er, aber von ihm wußte niemand mehr als seinen Namen.
Gegen Ende November erlebten einige Mitglieder der Gemeinschaft, wie sich ihre Gefühle für Mr. Hallinan plötzlich umkehrten — vielleicht weil sie seines dauernden Mitgefühls für ihre Sorgen müde waren. Dudley Heyer, Carl Weede und einige andere Männer waren es, die diesen Umschwung einleiteten.
„Ich traue dem Burschen einfach nicht“, sagte Heyer. Er klopfte die Asche aus seiner Pfeife. „Er lungert dauernd herum und hört sich den Klatsch an und bringt die schmutzige Wäsche zum Vorschein — aber wofür zum Teufel? Was hat er denn davon?“
„Vielleicht möchte er ein Heiliger werden und übt schon darauf“, bemerkte Carl Weede ruhig. „Selbstverleugnung.“
„Die Frauen schwören ja alle auf ihn“, sagte Leslie Erwin. „Lys hat sich völlig verändert, seit er hier ist.“
„Das kann man wohl sagen“, meinte Aiken Muir trocken, und alle lachten — Leslie eingeschlossen, der die Spitze wohl bemerkt hatte.
„Ich weiß nur, daß ich es gründlich satt habe, diesen Beichtvater um mich herum zu haben“, sagte Heyer. „Ich behaupte, daß er doch irgendein privates Motiv mit diesem Getue verfolgt. Wenn er uns genügend ausgepumpt hat, wird er ein Buch schreiben, und ganz Amerika wird über New Brewster reden. Ich habe jedenfalls mit meiner Frau gesprochen, und er bekommt keine Einladung zu unserer Party am Montag.“
Auf der Party der Heyers am Montag herrschte eine seltsame Kälte. Die üblichen Leute waren da — alle außer Mr. Hallinan. Die Party wurde kein Erfolg. Einige, die nicht wußten, daß Mr. Hallinan nicht eingeladen worden war, warteten voll Hoffnung darauf, mit ihm sprechen zu können und gingen tatsächlich früher weg, als ihnen klar wurde, daß er nicht kommen würde.
„Wir hätten ihn einladen sollen“, sagte Ruth Heyer, nachdem der letzte Gast gegangen war.
Heyer schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin froh, daß wir es nicht getan haben.“
„Aber dieser arme Mann war ganz allein in seinem Haus, während wir uns hier vergnügten. Du meinst doch nicht, daß er beleidigt sein wird? Ich meine — uns jetzt von sich aus schneiden wird?“
„Das ist mir egal“, sagte Heyer finster.
Sein Mißtrauen Mr. Hallinan gegenüber verbreitete sich über das ganze Gemeinwesen. Zuerst waren es die Muirs, dann die Harkers, die Heyers Beispiel folgten und ihn nicht einluden. Er machte immer noch seine üblichen nachmittäglichen Spaziergänge, und wer ihn traf, bemerkte einen seltsam gequälten Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er auch immer noch freundlich lächelte und keinerlei verbitterte Bemerkungen machte.
Und dann nahmen sich am 3. Dezember, einem Mittwoch, Roy Heyer, neun Jahre alt und Philip Moncrieff, zehn Jahre alt, Lonny Dewitt, seinerseits neun Jahre alt, unmittelbar außerhalb der Schule von New Brewster vor. Mr. Hallinan tauchte gerade am anderen Ende der Straße auf.
Lonny war ein seltsamer schweigsamer Junge, die Verzweiflung seiner Eltern und der ewige Prügelknabe seiner Klassenkameraden. Er war zurückhaltend, redete nur wenig, wurde meist in irgendeine Ecke gedrängt und blieb dann auch dort. Die Leute schüttelten den Kopf, wenn sie ihn auf der Straße sahen.
Roy Heyer und Philip Moncrieff hatten beschlossen, Lonny heute zum Reden zu bringen.
Sie schlugen ein paar Minuten auf ihn ein, dann sahen sie Mr. Hallinan kommen und rannten davon. Ihr Opfer blieb leise weinend auf der Schultreppe liegen.
Lonny blickte auf, als der Mann nähertrat.
„Haben sie dich geschlagen, wie? Ich sehe sie davonlaufen.“
Lonny weinte weiter. Er dachte: an diesem Mann ist etwas Eigenartiges. Aber er will mir helfen, will freundlich zumir sein.
„Du bist Lonny Dewitt, denke ich. Warum weinst du? Komm, Lonny, hör auf zu weinen. Sie haben dir doch nicht so weh getan.“
„Ich mag nicht reden“, sagte Lonny.
„Aber ich bin dein Freund. Ich will dir helfen.“
Lonny sah genauer hin und spürte plötzlich, daß der Mann die Wahrheit sagte. Er wollte Lonny helfen. Mehr als das, er mußte Lonny helfen. Verzweifelt. Er bettelte förmlich. „Sag mir, weshalb du weinst“, bat Mr. Hallinan noch einmal.
Okay, dachte Lonny, ich will es dir sagen!
Und er öffnete die Schleusen. Neun Jahre der Unterdrückung und der Qual ergossen sich in einer einzigen Woge über Hallinan.
Ich bin allein, und sie hassen mich, weil ich alles mit dem Kopf mache! Sie verstehen mich nicht, und sie denken, ich bin seltsam, sie hassen mich! Ich sehe, wie sie mich ansehen, und sie denken seltsame Dinge über mich, weil ich mit meinem Geist zu ihnen sprechen will und sie nur Worte hören können, und ich hasse sie, hasse sie, hasse, hasse …
Lonny hielt plötzlich inne. Er hatte alles herausgelassen, und jetzt war ihm besser. Er war von all dem Gift, das er seit Jahren in sich herumgetragen hatte, gereinigt. Aber Mr. Hallinan sah seltsam aus. Er war ganz bleich, und er taumelte.
Bestürzt tastete Lonny mit seinem Geist nach dem großen Mann. Und hörte:
Zu viel, viel zuviel. Hätte nie dem Jungen nahekommen dürfen. Welch eine Ironie des Schicksals: ich, der perfekte Empath, der Mann, den ein innerer Zwang zum Mitfühlen treibt, von einem Kind, das senden mußte, überladen und ausgebrannt!
… wie wenn man einen Hochspannungsdraht anfaßt!
… er, der telepathische Sender! Ich, der telepathische Empfänger!
Aber der Sender war zu stark!
Und seine letzten bitteren Gedanken: Ich — war — ein — Blutegel …
„Bitte, Mr. Hallinan“, sagte Lonny laut. „Werden Sie nicht krank. Ich will Ihnen noch mehr sagen. Bitte, Mr. Hallinan!“
Schweigen.
Lonny empfing noch ein paar wortlose Begriffe und wußte, daß er den ersten Menschen gefunden und verloren hatte, der wie er war.
Mr. Hallinans Augen schlossen sich, und er fiel vornüber auf die Straße. Lonny wußte, daß es vorbei war, und daß er und die Leute von New Brewster nie wieder mit Mr. Hallinan sprechen würden. Aber nur um ganz sicherzugehen, griff er nach Mr. Hallinans schlaffem Handgelenk.
Er ließ es sofort wieder los. Das Gelenk fühlte sich wie ein Eisklumpen an. Eisig kalt. Lonny blickte den Toten starr an.
„Ach — das ist ja der liebe Mr. Hallinan“, sagte eine Frauenstimme. „Ist er …“
Und Lonny, der die Rückkehr der Einsamkeit spürte, begann wieder leise zu weinen.